Französische Planungsleitbilder für Straßenbahnsysteme im Vergleich zu Deutschland

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fachbereich D der Bergischen Universität Wuppertal

vorgelegt von Dipl.-Ing. Christoph Groneck Mai 2007

Vorwort

Diese Dissertation kann wie folgt zitiert werden: urn:nbn:de:hbz:468-20070643 [http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn%3Anbn%3Ade%3Ahbz%3A468-20070643]

2 Vorwort

Vorwort

3 Vorwort

Seit Mitte der achtziger Jahre werden in grundsätzliche Konzeptansätze französischer Frankreich mit großem Erfolg neue Straßen- Straßenbahnplanung untersucht sowie Stärken bahnsysteme wiedereingeführt, nachdem das und Schwächen ihrer Planungsleitbilder formu- Verkehrsmittel Straßenbahn seit den sechziger liert. Aufbauend auf diese Analyse lassen sich Jahren aus Frankreichs Städten nahezu voll- die für die großflächige Wiederkehr der Stra- ständig verschwunden war. Mitte 2006 exis- ßenbahn in Frankreich verantwortlichen Er- tierten bereits elf Netze der zweiten Gene- folgsfaktoren herausstellen. Ziel ist dabei die ration, weitere werden folgen. Damit stellt Beantwortung der Frage, ob die Umsetzung Frankreich knapp ein Viertel aller seit 1980 von Straßenbahnplanungen in Frankreich zu weltweit völlig neu eröffneten Straßenbahnbe- Lösungsansätzen führte, die von hiesigen ver- triebe. Diese Entwicklung erregte großes Auf- kehrstechnischen Leitbildern abweichen, auf sehen. Deutschland übertragbar sind und für die zu- künftige Weiterentwicklung des Verkehrssys- Nach ersten politischen Grundsatzentscheidun- tems Straßenbahn positive Impulse geben gen in den siebziger Jahren begann die Wie- könnten. dereinführung von Straßenbahnsystemen zu- nächst zögerlich. Seit Mitte der neunziger Kapitel 1 befasst sich mit der Entwicklung und Jahre wurden die Planungs- und Realisierungs- Organisation des ÖPNV in Frankreich. Dabei prozesse dann aber immer dynamischer. Der- wird zum Ersten die Organisations- und Finan- zeit stehen in zwei weiteren Städten die Bauar- zierungsstruktur des ÖPNV bis hin zu rechtli- beiten für neue Straßenbahnsysteme kurz vor chen Grundlagen erläutert, zum Zweiten auf dem Abschluss, anderswo existieren weit fort- die Geschichte des Verkehrsmittels Straßen- geschrittene Planungen. Fast alle größeren bahn von den Anfängen bis zu den Stilllegun- Stadtregionen werden in absehbarer Zeit wie- gen der Systeme der ersten Generation einge- der spurgeführte städtische Nahverkehrssys- gangen und zum Dritten die Entwicklung nach teme besitzen. dem zweiten Weltkrieg bis hin zu den für die Wiedereinführung neuer Straßenbahnsysteme Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? entscheidenden Ereignissen nachgezeichnet. Offensichtlich haben sich die verkehrspoliti- schen Leitbilder für den städtischen Nahver- Kapitel 2 enthält die vertiefte Analyse der kehr in Frankreich in den letzten zwanzig Jah- neuen Straßenbahnnetze Frankreichs. Einge- ren fundamental verschoben. Ist dies allein gangen wird auf technische und städtebaulich- dem Umstand geschuldet, dass die neuen gestalterische Leitbilder, auf Baukosten und Straßenbahnsysteme in ihrer Rolle als Ver- Bauleistung, auf die Betriebsgestaltung sowie kehrsmittel überzeugen konnten, sprich ge- auf die Fahrgastzahlen und durch die Straßen- genüber vorhergehenden reinen Bussystemen bahn erreichten Fahrgaststeigerungen. Anhand für eine Steigerung der Fahrgastzahlen oder von Beispielen wird veranschaulicht, wie in eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit sor- Frankreich neue Straßenbahnstrecken städte- gen konnten, oder waren weitere Faktoren baulich vorteilhaft integriert werden konnten entscheidend? Wie konnten die Politik und die und damit nicht nur zu Verkehrs-, sondern Bevölkerung für das vormals als antiquiert gleichzeitig auch zu Städtebauprojekten wur- geltende Verkehrsmittel Straßenbahn neu be- den. geistert werden? Welche Rolle spielt in diesem In Kapitel 3 erfolgt ein Schwenk nach Kontext die in Frankreich sehr starke Berück- Deutschland. Der Schwerpunkt der Betrach- sichtigung einer sensiblen bis extravaganten tung ist hierbei zunächst die Analyse des Pro- Einfügung neuer Straßenbahnstrecken in städ- zesses zur Realisierung von Stadtbahnsyste- tische Räume? men in vielen deutschen Ballungsräumen nach Diese Arbeit analysiert den Prozess der Wie- dem Zweiten Weltkrieg, welcher im selben dereinführung des Verkehrssystems Straßen- Zeitraum wie der Prozess der Abschaffung fast bahn in Frankreich und trägt die Gründe dafür aller Straßenbahnsysteme in Frankreich statt- zusammen, warum und wie die Straßenbahn in fand. Dabei wird auch der Frage nachgegan- Frankreich vom Auslaufmodell zu einer allseits gen, warum sich der öffentliche Nahverkehr in anerkannten Antwort auf städtische Verkehrs- beiden Ländern in den fünfziger und sechziger probleme werden konnte. Dabei werden Jahren derart unterschiedlich entwickelte. 4 Vorwort

Gleichzeitig wird aufgezeigt, warum und in auf französische Planungen Ansätze für eine welcher Form sich die Strategien zum Bau von Veränderung entsprechender Richtlinien he- Stadtbahnnetzen in Deutschland sowie die rausgearbeitet. deutlich später entwickelten Strategien zur Das vierte Kapitel fasst schließlich die Analyse- Wiedereinführung von Straßenbahnsystemen ergebnisse und Erkenntnisse dieser Arbeit in Frankreich so wesentlich unterscheiden und prägnant zusammen. Wesentlich dabei ist ein welche Konsequenzen dies auf das hiesige Überblick darüber, was die neuen französi- Richtlinienwerk hat. Im Schwerpunkt steht da- schen Straßenbahnsysteme erfolgreich machte, bei der Kontrast zwischen dem in Deutschland vor allem aber die Darstellung, welche franzö- lange Zeit praktizierten Ansatz eines schnell- sischen Planungsleitbilder für den Bau und Be- bahngerechten, technisch orientieren Ausbaus trieb von Straßenbahnsystemen von hiesigen von Stadtbahnen sowie dem französischen Vorgehensweisen abweichen und welche da- Leitbild einer integrierten Planung von Stra- von als verfolgenswert zur weiteren Entwick- ßenbahn und Städtebau. Dabei wird aufge- lung des Verkehrssystems Straßenbahn hier- zeigt, inwieweit grundsätzliche planerische zulande erscheinen. Leitbilder in Deutschland von Planungskon- zepten beeinflusst sind, die heute vielfach nicht Christoph Groneck, im Mai 2007 mehr gültig sind. Gleichzeitig werden mit Blick

5 Inhalt

6 Inhalt

Inhalt

7 Inhalt

Vorwort ...... 3 Inhalt ...... 7 1 ÖPNV in Frankreich...... 11 1.1 Organisation des ÖPNV ...... 12 1.1.1 Vorbemerkungen ...... 12 1.1.2 Städte und Gemeinden...... 12 1.1.3 Aufgabenträger ...... 14 1.1.4 Betreiber...... 15 1.1.5 Finanzierung des Nahverkehrs ...... 17 1.1.6 Gesamtverkehrsplanung...... 20 1.1.7 Planungsrecht ...... 20 1.2 Die Straßenbahnen der ersten Generation...... 22 1.2.1 Nicht elektrische Straßenbahnen ...... 22 1.2.2 Elektrische Straßenbahnen ...... 22 1.2.3 Stilllegungen ...... 26 1.2.4 Gründe für die Abschaffung der Straßenbahn ...... 28 1.2.5 Die erhaltenen Betriebe...... 32 1.3 Stadtverkehr nach dem zweiten Weltkrieg...... 34 1.3.1 Vorbemerkungen ...... 34 1.3.2 Neue Metrosysteme ...... 36 1.3.3 Wiederkehr der Straßenbahn ...... 37 1.3.4 Netzentwicklung ...... 42 1.3.5 Bauzeiten...... 50 1.3.6 Gescheiterte Projekte...... 50 1.3.7 Die Tramways sur Pneus ...... 52 1.3.8 -Trains ...... 55 1.3.9 Ausblick ...... 57 2 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme ...... 59 2.1 Vorbemerkungen ...... 60 2.2 Bauliche und gestalterische Leitbilder ...... 61 2.2.1 Systemcharakteristik ...... 61 2.2.2 Straßenbahn und Städtebau ...... 64 2.2.3 Die Rolle des Fahrzeugdesigns...... 70 2.2.4 Gestaltung der Trassen ...... 72 2.2.5 Gestaltung der Haltestellen...... 82 2.2.6 Gestaltung der Energieversorgungsanlagen...... 88 2.3 Baukosten...... 92 2.4 Betriebliche Leitbilder...... 96 2.4.1 Fahrplanangebot ...... 96 2.4.2 Zuglängen und Taktintervalle...... 97 2.4.3 Reisegeschwindigkeit ...... 98 2.4.4 Haltestellenabstände...... 99 2.4.5 Netzhierarchisierung ...... 100 2.4.6 Kapazität ...... 104 2.5 Kostendeckungsgrad ...... 105 2.6 Fahrgastzahlen und Verkehrsaufkommen...... 109 2.6.1 Grundsätzliche Entwicklung ...... 109 2.6.2 Fahrgastzahlen ...... 110 2.6.3 Nutzerfrequenz...... 113

8 Inhalt

2.6.4 Anteil der Straßenbahn am Gesamtaufkommen...... 115 2.6.5 Prognosegenauigkeiten...... 116 2.6.6 Modal Split...... 117 3 Stadtbahnen in Deutschland...... 123 3.1 Entwicklung der Stadtbahnen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg...... 124 3.2 Städtebauliche Gestaltung von Straßenbahnanlagen in Deutschland...... 139 3.2.1 Vorbemerkungen...... 139 3.2.2 BOStrab...... 139 3.2.3 BOStrab Trassierungsrichtlinien ...... 141 3.2.4 EAÖ ...... 144 3.2.5 Standardisierte Bewertung ...... 150 4 Schlussbetrachtungen...... 155 4.1 Neue Straßenbahnsysteme in Frankreich – wegweisend? ...... 156 4.2 Analyse-Ergebnisse...... 161 4.3 Auf Deutschland übertragbare Ansätze ...... 163 4.3.1 Vorbemerkungen...... 163 4.3.2 Finanzierung ...... 163 4.3.3 Hierarchisierung ...... 166 4.3.4 Gestaltung ...... 170 5 Anhang ...... 177 5.1 Die neuen Straßenbahnsysteme...... 178 5.1.1 Nantes ...... 178 5.1.2 Grenoble...... 180 5.1.3 Paris...... 182 5.1.4 Straßburg ...... 184 5.1.5 Rouen ...... 186 5.1.6 Montpellier...... 188 5.1.7 Orléans ...... 190 5.1.8 Lyon...... 192 5.1.9 Bordeaux...... 194 5.2 Fahrzeugeinsatz ...... 196 5.2.1 Allgemeines ...... 196 5.2.2 TFS ...... 197 5.2.3 TFS 2 ...... 199 5.2.4 Eurotram ...... 202 5.2.5 Citadis...... 205 5.2.6 Incentro AT6/5L ...... 209 5.3 Quellen...... 212 5.3.1 Periodika ...... 212 5.3.2 Unterlagen der Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen ...... 213 5.3.3 Unterlagen der Fahrzeugindustrie ...... 214 5.3.4 Offizielle Organisationen; Statistische Daten ...... 214 5.3.5 Bücher/Ausarbeitungen...... 215 5.3.6 Internetseiten (Auswahl)...... 216 5.4 Abbildungen...... 217 5.5 Tabellen ...... 218 5.6 Lebenslauf des Promovenden ...... 220

9 ÖPNV in Frankreich

10 ÖPNV in Frankreich

1 ÖPNV in Frankreich

11 ÖPNV in Frankreich

triebe verstanden, was jedoch nicht zutrifft. Im 1.1 Organisation des ÖPNV Gegensatz etwa zu Großbritannien ist der öf- fentliche Nahverkehr in Frankreich nicht dere- 1.1.1 Vorbemerkungen guliert. Zwar sind die Verkehrsunternehmen Zum Verständnis der Entwicklungsprozesse in Frankreichs in den allermeisten Fällen privat- der Nahverkehrslandschaft Frankreichs ist die rechtliche Organisationen, jedoch werden so- Kenntnis der im Vergleich zu Deutschland wohl das Angebot als auch die Planung voll- deutlich anderen organisatorischen und finan- ständig von öffentlichen Aufgabenträgern koor- ziellen Rahmenbedingungen unabdingbar. Ins- diniert, die eine sehr machtvolle Position besit- besondere die Finanzierung des Nahverkehrs zen und dazu befähigt sind, ein integriertes Verkehrssystem auch für große Stadt-Umland-

Stadt Einwohner Differenz Gemeinden Differenz PTU 1999 1999/1990 PTU 1999 1999/1990 Lyon 1.167.532 +2,9% 55 ±0 Lille 1.091.438 +2,3% 86 ±0 Marseille 798.430 -0,3% 1 ±0 Toulouse 701.976 +13,0% 53 ±0 Bordeaux 659.998 +5,7% 27 ±0 Nantes 548.741 +11,5% 21 +2 Straßburg 454.513 +6,5% 27 -2 Rouen 390.283 +1,2% 33 ±0 Grenoble 374.922 +2,2% 23 ±0 Rennes 357.920 +17,3% 33 +5 Nizza 342.738 +0,1% 1 ±0 Valenciennes 333.001 +0,2% 65 +8 Montpellier 320.523 +13,6% 15 ±0 Toulon 299.741 +0,4% 8 ±0 Saint-Étienne 288.385 -8,0% 15 +1 Tours 281.114 +4,7% 19 ±0 Orleans 264.464 +9,5% 20 +2 Angers 259.957 +18,8% 30 +15 Nancy 258.268 +0,7% 20 ±0

Tab. 1: Transporträume über 250.000 Einwohner (ohne Paris)1 wird in Frankreich auf völlig andere Weise ge- Räume zu schaffen. Die folgenden Ausfüh- handhabt, wobei der Schwerpunkt auf der ge- rungen beleuchten die Grundzüge französi- regelten Betriebskostenfinanzierung liegt. scher Nahverkehrsplanung. Daneben unterscheiden sich aber insbesondere auch die Organisationsstrukturen bei der Pla- 1.1.2 Städte und Gemeinden nung und Erbringung der Verkehrsleistung. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Frank- Das französische Modell wird hierzulande oft reich keine zu Deutschland vergleichbare Ge- als vollständige Privatisierung der Verkehrsbe- bietsreform, wodurch die Zahl der Gemeinden trotz der um rund zwanzig Millionen Personen 1 CERTU: Mobilité et Transport; http://www.certu.fr geringeren Gesamtbevölkerung etwa sechsmal

12 ÖPNV in Frankreich so hoch ist. Aus diesem Grund bestehen die Ballungsraumes ist daher in der Regel etwas verstädterten Räume in Frankreich in der Regel kleiner als die Gesamtagglomeration. Dieser aus einer relativ kleinen Kernstadt und Sachverhalt wird in der Statistik durch die An- daneben sehr vielen einzelnen Vorortgemein- gabe des Périmètre de transport urbain (PTU), den, welche zwar selbstständig, aber integraler des Verkehrsraumes für den öffentlichen Per- Bestandteil der Stadtlandschaft sind. Um die- sonennahverkehr, berücksichtigt. Die Trans- sen Sachverhalt zu berücksichtigen, gibt es in porträume sind damit die Räume, welche bei Frankreich in der kommunalen Struktur und einer Betrachtung des öffentlichen Nahver- der offiziellen Statistik den Begriff der Aires ur- kehrs von größter Relevanz sind. Sie umfassen baines, der städtischen Ballungsräume. Hierbei in den größeren Ballungsräumen manchmal werden in Ballungsräumen die Kernstadt sowie fünfzig und mehr zusammengeschlossene die umliegenden verstädterten Randgemeinden Kommunen. Die meisten Transporträume be- als zusammengehöriger Agglomerationsraum finden sich noch im Wachstum, wobei nicht betrachtet. Aus dem selben Sachverhalt erge- nur die Einwohnerzahl der zusammengeschlos- ben sich auch die in der Literatur teilweise er- senen Kommunen wächst, sondern teilweise heblich voneinander abweichenden Einwohner- auch neue Kommunen hinzukommen (vgl. Tab. zahlen französischer Städte, je nachdem, ob 1). Durch die Definition der Transporträume ist die eigentliche Kernstadt oder aber der Bal- in Hinsicht auf das öffentliche Verkehrsangebot lungsraum betrachtet wird. eine sehr gute Vergleichbarkeit städtischer Ballungsräume gegeben.2 Für diese Vergleich- Die französische Verwaltungsstruktur baut auf barkeit zuträglich ist darüber hinaus die Raum- der Gemeinde als kleinste Verwaltungseinheit struktur der französischen Städtelandschaft, da auf. Für alle nicht ausdrücklich durch die De- fast alle Ballungsräume isoliert voneinander partements oder den Staat übernommenen liegen und die Zwischenräume meist sehr dünn Aufgaben besitzen die Gemeinden die Pla- besiedelt sind. nungshoheit. Zur Organisation von gemeinde- übergreifenden Maßnahmen und Aufgaben Unterschieden werden muss in Frankreich können die Gemeinden jedoch Planungsver- weiterhin zwischen der Île de France, dem bände bzw. organisatorische Behörden, soge- Großraum Paris, sowie der Provinz. Dabei um- nannte Autorités organisatrices, gründen. Da- fasst die Provinz neben vielen weiteren grö- mit ist der Agglomerationsgedanke nicht nur ßeren Ballungsräumen auch die drei Metro- ein statischer Kunstgriff, er findet sich auch in polräume Lille, Lyon und Marseille mit jeweils den Verwaltungsstrukturen wieder. Nur 37% mehr als einer Million Einwohnern. Der Bal- der organisatorischen Stadtbehörden sind mit lungsraum Paris nimmt sowohl aufgrund seiner einzelnen Gemeinden identisch. Meist handelt Größe als auch seiner politischen Bedeutung es sich hierbei um kleinere Landstädte abseits als Hauptstadt eines zentralistisch aufgebauten der größeren Ballungsräume. Die restlichen Staates eine Sonderrolle ein. Auch im Ver- umfassen teilweise große Gemeindeverbände kehrswesen werden hier seitens des französi- bis in das regionale Stadtumland hinein. Der Wirkungsbereich der Planungsverbände liegt 2 Bei deutsch-französischen Vergleichen muss aufgrund vorwiegend in drei Sachgebieten: Neben den der unterschiedlichen stadtstrukturell-administrativen Bereichen Abfall- und Wasserwirtschaft obliegt Voraussetzungen ein Kompromiss gefunden werden. Am ihnen die Organisation eines einheitlichen öf- ehesten bietet sich hierbei die Gegenüberstellung franzö- fentlichen Personennahverkehrs innerhalb des sischer Transporträume und deutscher Städte ohne Um- landkommunen an, da hierzulande kommunale Verkehrs- gesamten Ballungsraumes. unternehmen oftmals einen auf ihr jeweiliges Stadtgebiet Zu beachten ist allerdings zusätzlich, dass die beschränkten Wirkungskreis haben und die Stadtgebiete deutscher Großstädte aus raumstruktureller Sicht meist im Gemeindeverband zusammengeschlossenen vergleichbar mit den Grenzen französischer Transport- Agglomerationsräume oft auch dünn besiedelte räume sind. Einige große deutsche Verkehrsunternehmen Randgemeinden umfassen, welche nicht mehr operieren allerdings auch in größerem Stil über kommu- von städtischen, sondern von regionalen öf- nale Grenzen hinweg (z.B. Rheinbahn AG Düsseldorf), bei fentlichen Verkehren oder auch überhaupt gar entsprechenden Vergleichen sind daher im Einzelfall auch andere Eingangsdaten zugrunde zu legen. Soweit keine nicht angedient werden. Das Verkehrsgebiet anderen Vermerke angegeben sind, wird in dieser Arbeit für den öffentlichen Personennahverkehr eines erstere Strategie verfolgt.

13 ÖPNV in Frankreich schen Staates in weitaus größerem Maße als in öffentlichen Nahverkehrs inklusive des Aus- der Provinz administrative Aufgaben wahrge- gleichs der Betriebskostenunterdeckung. Ge- nommen. Die Sonderrolle von Paris im Stadt- bunden sind die Verbände in gewissen Fragen verkehr wird durch das Vorhandensein des wie der Tarifgestaltung allerdings an Grenz- dichten Metronetzes seit Anfang des 20. Jahr- werte, welche vom französischen Staat jährlich hunderts verstärkt. Heute werden im Groß- neu festgelegt werden. raum Paris im öffentlichen Personennahverkehr Die wichtige Rolle der Aufgabenträger ist durch mehr Personen befördert als in allen anderen zwei Gesetze maßgeblich verankert4. Das Ori- städtischen Räumen Frankreichs zusammen. In entierungsgesetz für den Binnenverkehr5 von den folgenden Ausführungen wird der Raum 1982 bestätigt die grundsätzliche Verantwor- Paris aufgrund seiner Sonderrolle im Regelfall tung der Städte für die Organisation des öf- nicht betrachtet. fentlichen Verkehrs. Betont wird der Grundsatz des Rechtes auf Mobilität für alle Bevölke- 1.1.3 Aufgabenträger rungsgruppen und die freie Wahl des Benut- Seit den siebziger Jahren des vergangenen zers zwischen den verschiedenen Verkehrs- Jahrhunderts erfolgte in den Ballungsräumen mitteln. Seitdem ist für den Regelfall auch eine entsprechend der Verantwortung der Stadt- Ausschreibung der Netze rechtlich verankert. räume für die Organisation des öffentlichen Gleichfalls gibt es aber keine Regelungen für Personennahverkehrs die Bildung von Zweck- Mindeststandards der öffentlichen Verkehrsbe- verbänden bzw. Aufgabenträgern für den öf- dienung, welche durch die Aufgabenträger fentlichen Personennahverkehr. Die Planungs- garantiert werden müssen. Ebenfalls für die verbände fungieren oft unter der Bezeichnung Organisation des öffentlichen Nahverkehrs und Syndicat mixte des transports en commun der Stärkung der städtischen Aufgabenträger (SMTC), sind aber in ihrer Struktur örtlich ver- von Bedeutung war daneben das ebenfalls im schieden. Entscheidungsprozesse werden Jahre 1982 verabschiedete Gesetz für Rechte durch ein Komitee verabschiedet, welches aus und Freiheiten der Kommunen. Die Grundlage Repräsentanten der Kernstadt und des über- dieses Gesetzes ist die Förderung der Dezent- geordneten Departements als Vertreter der ralisierung. Abgeschafft wurden Teile der Umlandgemeinden besteht. Oft umfassen die staatlichen Aufsicht. Damit ging eine Kompe- Gremien jeweils die gleiche Anzahl gewählter tenzübertragung und gleichzeitig auch die da- Vertreter von Stadt und Departement, dazu für notwendige Umschichtung personeller und kommt ein Präsident, der vielfach alternierend finanzieller Mittel auf tiefer liegendere Verwal- gestellt wird. Dies bedingt, dass im Planungs- tungsebenen einher. gremium abwechselnd die Kernstadt und das Die Betriebsführung der Nahverkehrsnetze Umland bestimmend sind. wird im allgemeinen vertraglich privaten Un- Die Planungsverbände koordinieren im öffentli- ternehmen anvertraut. In der Regel werden chen Auftrag die Organisation und Ausgestal- die Netze ausschließlich an einen Betreiber tung des städtischen öffentlichen Nahverkehrs. vergeben. Nur 10% der Planungsverbände Dabei unterliegt ihnen ein weitreichender betreiben den ÖPNV in Eigenregie. Dies trifft Kompetenzbereich3. Er reicht von der Abgren- vorwiegend auf kleinere Stadträume zu. Die zung des Verkehrsgebietes über Liniennetz-, Anzahl der Eigenbetriebe hat in den letzten Fahrplan- und Fahrpreisgestaltung bis hin zur Jahren an Bedeutung verloren. Planung, Bau und Verwaltung der Infrastruk- Für die Entscheidung über die Art der Durch- tur. Auch grundsätzliche Leitlinien der Ver- führung des Transportangebotes sowie even- kehrsplanung, beispielsweise die Frage, welche tuelle Ausschreibung sind die Aufgabenträger Art von öffentlichem Verkehrsmittel in der je- weiligen Stadtregion zum Einsatz kommen soll, werden von diesen Verbänden festgelegt. 4 vgl. dazu BUEHRER, Claudine; NICKEL, Bernhard E.; Daneben koordinieren sie die Finanzierung des QUIDORT, Michel und SCHMIDT, Hartmut: Organisation und Finanzierung des ÖPNV in Frankreich; Der Nahver- kehr 5/1994 3 vgl. dazu GART: Les Autorités organisatrices de trans- port; http://www.gart.org 5 Loi d’orientation pour les transports intérieurs (LOTI)

14 ÖPNV in Frankreich alleinverantwortlich. Die Verkehrsbetriebe vom gleichen Betreiber durchgeführt werden, selbst können dagegen nur begrenzt autonom aufgrund fehlender Durchgangstarife aber agieren. Sie besitzen für festgelegte zu erbrin- trotzdem separate Fahrpreise gelten. Weiterhin gende Leistungen privatrechtliche Konzessio- gibt es einige Fälle, in denen die Transportre- nen und haben sich bei der Ausgestaltung ih- gion (PTU) auch Gemeinden umfasst, welche res Angebotes an die Weisungen der Zweck- nicht im Planungsverband vertreten sind. Diese verbände zu halten. Hoheitliche Konzessionen beteiligen sich dann in der Regel auch nicht an im deutschen Sinne bestehen nicht. Dabei ist der Finanzierung des Angebotes. Als Folge er- der Planungsprozess des Angebotes in der Re- gibt sich für die betroffenen Linien dann meist gel aber ein wechselseitiger Prozess, der von eine Herauslösung aus dem allgemeinen Tarif- Betreiber und Planungsverband zusammen schema bzw. die Berechnung von Zuschlägen durchgeführt wird. Zu beachten ist, dass sich auf den regulären Fahrpreis6. im Regelfall nicht nur die ortsfesten Anlagen, sondern auch die Fahrzeuge im Besitz der Auf- 1.1.4 Betreiber gabenträger befinden. Der Betreiber über- Seit den fünfziger Jahren des vergangenen nimmt die Anlagen zwar mit Vertragsbeginn, Jahrhunderts wurden die historischen lokalen hat diese bei Beendigung des Vertragsverhält- Betreibergesellschaften für den Stadtverkehr nisses aber auch wieder in einem adäquaten aufgrund ihrer teilweise schon in den zwanzi- Zustand zurückzugeben. Die Vertragsgestal- ger Jahren einsetzenden Finanzprobleme nach tung zwischen Planungsverband und Verkehrs- und nach durch neue Verbundgesellschaften betrieb ist unterschiedlich. Sie reicht von der ersetzt. Inzwischen agieren landesweit in den einfachen Entschädigung für die Erbringung größeren Stadtregionen nur noch einige we- von Dienstleistungen bis hin zur Übertragung nige private Unternehmungen mit Zweigfilia- finanzieller Risiken auf den Betreiber. Zu un- len. Gerade in den Großstädten hält die Öf- terscheiden sind drei Arten von Übereinkom- fentlichkeit häufig Anteile am Kapital der pri- men: Entweder trägt einer der beiden Ver- vaten Gesellschaften. Werden Anteile erwor- tragspartner sowohl das finanzielle Risiko der ben, so müssen diese im Bereich von 50% bis Betriebskosten als auch jenes der Fahrkarten- 80% des Gesamtkapitals liegen. Der private erlöse, oder aber die Betriebsführung wird Betreiber mutiert dann quasi zum öffentlichen über einen Pauschalpreis vergeben, womit das Unternehmen. Daneben kommt wie geschildert Verkehrsunternehmen die betrieblichen Risi- in wenigen Stadträumen der Betrieb in Eigen- ken, der Aufgabenträger aber die Einnahmeri- regie zur Anwendung. Es sind damit drei For- siken trägt. Trägt das Verkehrsunternehmen men von Verkehrsbetrieben zu unterscheiden: beide Risiken, so muss der Aufgabenträger le- Private und gemischtwirtschaftliche Unterneh- diglich einen Pauschalbeitrag entsprechend men sowie Regiebetriebe. Gut zwei Drittel aller gewünschter Tarif- und Liniennetzgestaltung Betriebe sind rein privatwirtschaftlich organi- entrichten. siert, bei 20% handelt es sich um gemischt- In den Zuständigkeitsbereich der städtischen wirtschaftliche Betriebe. Betreiberwechsel sind Aufgabenträger fällt nicht der überörtliche Ver- aufgrund der engen Zusammenarbeit von Auf- kehr. Regionale Busleistungen werden von den gabenträger und Betreiber und den sich daraus Departements organisiert. Der Eisenbahnver- ergebenden Synergien selten. kehr wiederum liegt in der Verantwortung des 80% des Marktes der städtischen öffentlichen Staates. Allerdings wurden in den vergangenen Personenbeförderung in Frankreich wird von Jahren die Kompetenzen der neu eingeführten drei Oligopolisten beherrscht. Hierbei handelt Regionen zur eigenverantwortlichen Bestellung es sich um Keolis (40% der Netze), Transdev von Verkehrsleistungen im Schienenpersonen- (24% der Netze) und CGEA Connex (16% der nahverkehr erhöht. Verkehrsverbünde zwi- schen den Netzen des lokalen Verkehrs und der Eisenbahn gibt es lediglich in Paris. Verein- zelte Räume haben Tarifkooperationen organi- siert. Es gibt aber durchaus auch Fälle, in de- 6 Ein solcher Fall existiert beispielsweise in Lyon, wo die nen zwar regionale und städtische Busverkehre PTU 62, das Planungsgremium aber nur 55 Gemeinden umfasst.

15 ÖPNV in Frankreich

Dunkerque Calais Lille Henin-Carvin Boulogne Valenciennes Bethune Lens Douai Maubeuge Le Havre Amiens Thionville Rouen Metz Caen Reims Brest Straßburg St-Brieuc Troyes Nancy Lorient Rennes Le Mans Orléans Mülhausen Belfort St-Nazaire Angers Dijon Montbeliard Tours Nantes Bourges Besancon Poitiers

Lyon La Rochelle Clermont-Ferrand Annecy Limoges Chambery Angoulème St-Etienne Grenoble

Bordeaux Valence

Nîmes Avignon Nizza Montpellier Aix Antibes Bayonne Marseille Cannes Toulon Toulouse Pau Perpignan Keolis Transdev La Possession CGEA Connex St-Denis de la Réunion Agir Regie/Andere

Abb. 1: ÖPNV-Betreiber in den Großstädten, 20008

Netze)7. Zum 31. Dezember 2000 fielen von 65 quasi als Subunternehmer fungieren zu lassen. Stadträumen mit mehr als 100.000 Einwohnern Von einem wirklichen Wettbewerb kann bei der lediglich zwölf nicht in den Bedienungsbereich Aufteilung des Marktes auf wenige Oligo- der Oligopolisten. Zwischen den drei großen polisten nur im Ansatz die Rede sein. Im Konkurrenten bestehen inzwischen vielfältige Hinblick auf die Kontinuität und Qualität des Verflechtungen. So kam es in der Vergangen- Angebotes hat Frankreich mit seiner Orga- heit bei Betreiberwechseln mehrfach zu dem nisationsstruktur aber durchaus sehr gute Er- Sachverhalt, dass der neue Betreiber Verträge fahrungen und Ergebnisse erzielt. mit dem alten Betreiber abschloss, mit dem Tab. 2 und Abb. 1 zeigen die Präsenz der gro- Ziel ortskundiges Personal des alten Betreibers ßen Nahverkehrskonzerne in den Nahverkehrs- zu übernehmen und somit den alten Betreiber räumen (PTU) mit mehr als 100.000 Einwoh- nern ohne Paris zum 31. Dezember 2000. 7 MEYER, Olivier: Groupes de transports de personnes; http://www.transbus.org

16 ÖPNV in Frankreich

Betreiber Netze der größten Sparkasse Frankreichs. Es handelt sich um ein halbstaatliches Unternehmen. 2001 Keolis 21 wurde Transdev mit dem Pariser Verkehrsun- Transdev 16 ternehmen RATP verbunden. CGEA Connex 14 Der rein private Betreiber CGEA-Connex der 12 Agir 7 Vivendi-Gruppe, unlängst in Veolia Transport umbenannt, betreibt in Frankreich 42 Nahver- Andere/Regie 5 kehrsnetze, so in Bordeaux, Le Havre, Nancy, 8 Tab. 2: ÖPNV-Betreiber in den Großstädten, 2000 Nizza, Rouen und Toulon. Veolia ist weltweit in der Fahrgastbeförderung führender Privatkon- 9 Keolis betreibt in Caen, Lyon, Lille und Rennes zern. Sowohl Bus- als auch Schienenverkehre schienengebunden Stadtverkehr. Weitere Net- werden in Großbritannien, Deutschland, den ze dieses Betreibers finden sich u.a. in Besan- Niederlanden, Portugal, Skandinavien und Aus- con, Brest, Dijon und Tours. Insgesamt wird tralien organisiert. Im Jahr 2005 wurden insge- städtischer ÖPNV in sieben Ländern durchge- samt 72.302 Angestellte beschäftigt, davon führt, rund 200 Zweigfilialen beschäftigen 26.812 in Frankreich. Der Vivendi-Konzern 30.800 Angestellte. Keolis umfasst die beiden selbst ist hauptsächlich in der Wasserver- ehemaligen Gruppen VIA-GTI sowie Cariane. sorgung tätig. Das Schwergewicht von VIA lag im städtischen Für das städtische Transportwesen ist darüber Personennahverkehr, wohingegen Cariane Teil hinaus noch die Firma Agir von Bedeutung, der französischen Eisenbahn SNCF war. Noch welche die Verkehrsleistung in einigen kleine- heute ist Keolis eine Tochtergesellschaft der ren Großstädten erbringt. Die einzelnen Filialen SNCF und damit mehrheitlich ein Unternehmen von Agir sind meist gemischtwirtschaftlich or- der öffentlichen Hand. ganisiert. Vorwiegend im Bereich der Über- Die meisten Städte, die seit den achtziger landverkehre agiert daneben als großer Wett- Jahren ein neues Straßenbahnsystem einge- bewerber die Gruppe Verney mit insgesamt 10 führt haben, gehören zur Transdev-Gruppe . 23.000 Fahrzeugen. Das Leistungsvolumen von Transdev ist wie Keolis weltweit tätig, neben Verney umfasst zu 45% Regionalverkehr, zu je Frankreich in fünf weiteren Ländern. 2005 20% Schüler- und touristischen Verkehr sowie umfasste der Fuhrpark 9.540 Busse, 940 Stra- in geringerem Maße zu 15% auch städtischen ßenbahnen und 92 Metros, die Zahl der Ange- Verkehr. Im ländlichen Bereich agieren stellten lag bei 25.975 Personen. In Frankreich daneben eine Vielzahl von Kleinunternehmun- werden rund 80 städtische und über 40 regio- gen. Hier ist im Unterschied zum Stadtverkehr nale Netze bedient, darunter Orléans, Nantes, bei der Vergabe die Aufteilung der Netze auf Straßburg, Grenoble, Montpellier und Valen- Teilnetze oder gar einzelne Linien üblich, wo- ciennes. Viele aktuelle Straßenbahnprojekte mit Kleinunternehmen eine Chance zur Markt- sind auf einen Erfahrungsaustausch innerhalb teilnahme erhalten. Der Eisenbahnverkehr dieser Gruppe zurückzuführen. In diesem wurde dagegen in Frankreich von der Privati- Sachverhalt bestätigt sich, dass durch Initiati- sierung bisher ausgeklammert. Alleiniger ven von Seiten des Betreibers auch durchaus Betreiber ist die französische Staatsbahn SNCF. Einfluss auf die Zweckverbände getätigt wer- den kann.11 Transdev ist eine Tochter der CDC, 1.1.5 Finanzierung des Nahverkehrs Ein Standbein der Finanzierung des öffentli-

chen Personennahverkehrs sind auch in Frank- 8 CERTU: La presence des groupes de transport et de reich naturgemäß die Einnahmen aus dem l’association Agir dans les PTU de plus de 100.000 habi- tants; http://www.certu.fr Fahrkartenverkauf. Allerdings kann wie in

9 Deutschland kein großstädtisches Nahverkehrs- vgl. http://www.keolis.fr netz in seiner Gesamtheit allein auf dieser 10 vgl. http://www.transdev.fr Finanzgrundlage kostendeckend betrieben wer- 11 Lediglich in Rouen, Bordeaux (beide CGEA-Connex),

Lyon (KEOLIS) und Paris entstanden neue Straßenbahn- netze in Zusammenarbeit mit anderen Betreibern. 12 vgl. http://www.veolia.com

17 ÖPNV in Frankreich den. Der Ausgleich der Betriebskostenunter- Personennahverkehrs teilweise von den Be- deckung der öffentlichen Verkehrsbetriebe günstigten übernommen werden soll. Begüns- erfolgt in Frankreich jedoch anders als in tigte sind wiederum in großem Maße städtische Deutschland durch eine von den Kommunen zu Arbeitgeber. Diese werden einerseits durch erhebende Transportsteuer, dem Versement öffentliche Verkehrsmittel für Kunden und An- transport (VT). Diese ist das wichtigste finan- gestellte erreichbar gemacht und sparen an- zielle Instrument sowohl zum Betrieb als auch dererseits Aufwendungen zur Anlage von sonst zum Bau von Anlagen des öffentlichen Perso- notwendigen Parkplätzen oder Zweigfilialen. nennahverkehrs. In den letzten Jahren ist das absolute Auf- Die Einführung der Transportsteuer geht auf kommen aus der Transportsteuer stark ange- einen 1971 in Paris durchgeführten Versuch stiegen (vgl. Tab. 3). Dies weist auf die stei- zurück13. 1973 wurde der Geltungsbereich gende Bereitschaft der Kommunen hin, den auch auf die Provinz erweitert. Zunächst durf- öffentlichen Personennahverkehr verstärkt zu ten alle Stadträume mit mehr als 300.000 Ein- fördern. Nach wie vor liegen die Erträge aus wohnern die Abgabe erheben. Diese Bevölke- dem Versement Transport in der Region Paris rungsschwelle wurde bis 1992 sukzessive auf höher als in allen anderen Ballungsräumen 20.000 Einwohner gesenkt. 1995 besaßen 190 zusammen. Kommunalverbände das Recht auf Erhebung Die Erträge der Transportsteuer müssen von der Transportsteuer, 90% machten von dieser den Kommunen zweckgebunden für die Finan- Möglichkeit auch Gebrauch. Ob die Trans- zierung des öffentlichen Personennahverkehrs portsteuer zur Anwendung kommt, kann von verwendet werden. Stadt und Aufgabenträger der jeweiligen Stadtregion selbst beschlossen können gemeinsam über den detaillierten Ein- werden. Wird sie erhoben, so sind Arbeitgeber satz der Finanzmittel entscheiden. Möglich sind mit mehr als neun Beschäftigten steuerpflich- sowohl Betriebskostenzuschüsse als auch die tig. Der Steuersatz kann vom Kommunalver- Finanzierung neuer Infrastruktur. Alle Städte, band ebenfalls selbst festgelegt werden, wobei welche über spurgeführte öffentliche Verkehrs- allerdings gewisse Grenzwerte zu beachten mittel verfügen oder solche derzeit bauen, ma- sind. Bei Kommunen mit weniger als 100.000 chen von der Möglichkeit einer erhöhten Einwohnern liegt der Maximalsatz bei 0,55%, Transportsteuer Gebrauch (vgl. Tab. 4). bei solchen mit mehr als 100.000 Einwohnern bei 1,05% des Lohnes je Beschäftigtem. Wird ein hochwertiger öffentlicher Personennahver- Jahr Île de France Provinz kehr auf Eigentrasse angeboten oder sollen 1994 1.527 Mio € 1.291 Mio € Baumaßnahmen für ein solches System durch- geführt werden, so kann die Transportsteuer 1995 1.537 Mio € 1.355 Mio € bis auf 1,75% der Lohnsumme angehoben 1996 1.699 Mio € 1.433 Mio € werden. In der Île de France, der Region Paris, 1997 1.809 Mio € 1.473 Mio € beträgt der Höchstsatz der Transportsteuer abweichend zur Provinz 2,2%. In gewissen 1998 1.935 Mio € 1.555 Mio € Fällen können die Unternehmen die Steuer 1999 2.002 Mio € 1.646 Mio € zurückerstattet bekommen, beispielsweise 2000 2.105 Mio € 1.677 Mio € wenn sie eigene Transporte für ihre Beleg- schaft organisieren. Juristisch baut die Nahver- 2001 2.189 Mio € 1.844 Mio € kehrsabgabe auf der Überlegung auf, dass der Tab. 3: Bruttoaufkommen aus dem VT14 volkswirtschaftliche Nutzen des öffentlichen

13 zur Transportsteuer vgl. folgende Aufsätze: HASS-

KLAU, Carmen und CRAMPTON, Graham; How other countries see and appraise light rail invest- 14 DIRECTION DES TRANSPORTS TERRESTRES: Le ments?; Tramway & Urban Transit 3/1999 und BUEHRER, versement transport (VT); Claudine; NICKEL, Bernhard E.; QUIDORT, Michel und http://www.transports.equipement.gouv.fr SCHMIDT, Hartmut: Organisation und Finanzierung des (Statistik des französischen Verkehrsministeriums, Stand ÖPNV in Frankreich; Der Nahverkehr 5/1994 November 2006)

18 ÖPNV in Frankreich

Rate Stadt besonderen Erscheinungsbildes von Anlagen des öffentlichen Personennahverkehrs die- 1,75% Rennes, Straßburg, Rouen, Toulouse, nen17. Einzige Maßgabe ist, dass das Verkehrs- Montpellier, Marseille, Grenoble, Or- unternehmen insgesamt mit schwarzen Zahlen léans, Valenciennes operiert, was durch die Höhe der Steuererträge 1,7% Lille gewährleistet werden kann. 1,65% Caen Daneben steht den Städten mit der Trans- 1,63% Nantes, Lyon portsteuer aber auch ein Instrument zur Ver- fügung, welches die Finanzierung neuer Infra- 1,5% Saint-Étienne struktur ohne unübersehbare finanzielle Risi- 1,45% Toulon ken erlaubt. Durch die feste Finanzgrundlage 1,4% Bordeaux, Mülhausen, Nancy ist es für die Aufgabenträger möglich, Anleihen auf dem freien Kapitalmarkt aufzunehmen, um 1,2% Nizza damit beispielsweise Ausbauprojekte im Schie- 1,0% Clermont-Ferrand, Tours nennetz zu finanzieren. Diese können dann Tab. 4: Satz des VT in großen Transporträumen im den finanziellen Möglichkeiten nach abge- Jahre 200015 schrieben werden, ohne dass Defizite entste- hen, deren Tilgung ungeklärt wäre. Durch die Transportsteuer steht den Planungs- Neben dem Versement transport gibt es dar- verbänden eine planbare Investitionsgrundlage über hinaus noch weitere Subventionen für zur Verfügung. Betriebskosten lassen sich zu- den öffentlichen Personennahverkehr. Zu nen- sammen mit den Fahrgeldeinnahmen vollstän- nen sind die Bezuschussung von Zeitkarten für dig abdecken. Der laufende Betrieb verursacht die Belegschaft seitens größerer Unternehmen, so keine weitere Kostenunterdeckung, für wel- eine Strategie, die vergleichbar mit hiesigen che unsichere Querverbund- oder sonstige Job-Tickets ist. Auch können die Städte wei- Ausgleichslösungen gefunden werden müssen. tere Finanzmittel aus den lokalen Gewerbe-, Zusätzlich sind Finanzmittel vorhanden, welche Grund- und Wohnsteuern zur weiteren Finan- nach freiem Gusto der Aufgabenträger für An- zierung des öffentlichen Nahverkehrs einset- gebotsverbesserungen verwendet werden kön- zen. Dies wird in den meisten Stadträumen nen. Der Aufgabenträger befindet sich damit praktiziert und oft an die Beibehaltung politisch im Gegensatz zu Deutschland nicht in der Rolle erwünschter niedriger Tarife gekoppelt. eines defizitären Bittstellers, welcher immer auf Transferleistungen angewiesen ist, die von Zusätzlich zu den Steuer- und Fahrgeldein- Seiten der Politik willkürlich festgesetzt werden nahmen gibt es für Neubauprojekte weitere Fi- können16. Gleichzeitig besteht auch nicht die nanzierungsmöglichkeiten. Einmalinvestitionen Pflicht nach weitestgehend möglicher Rationa- wurden bisher in Teilen auch vom Staat sowie lisierung. Im öffentlichen Nahverkehr, wo der jeweiligen Stadt und Region finanziell ge- Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität fördert. Dies ist aber freilich in dem Kontext zu wie Taktverdichtungen trotz dadurch erzielba- sehen, dass der Bau neuer Straßenbahnstre- rer Fahrgaststeigerungen meist finanzielle cken in Frankreich meist auch zu Aufwertun- Mehrbelastungen bedeuten, ist dies ein ent- gen von Stadtquartieren genutzt wird. Ein Teil scheidender Faktor. Überschüssige Mittel aus der Kosten sind daher nicht unbedingt dem der Transportsteuer können durchaus auch für Verkehrsunternehmen und seinem Ziel des im weitesten Sinne ökonomisch unrationale Baus einer Verkehrstrasse zuzurechnen, son- Maßnahmen verwendet werden, welche der dern fallen vielmehr in den Bereich von städte- Kundenzufriedenheit oder der Erzielung eines baulichen Gestaltungsmaßnahmen.

15 DUMONT, François: Palmarès 2001 des transports 17 Als Beispiel sei der Verzicht auf Reklame an den urbains; La Vie du Rail 05.12.2001 Fahrzeugen zur Erzielung eines eigenen hochwertigen 16 vgl. dazu GRONECK, Christoph: Defizite, die keine sind Corporate Designs genannt. Derartige Bestrebungen – Positiver volkswirtschaftlicher Nutzen des ÖPNV contra werden hierzulande sehr häufig mit der Notwendigkeit Finanzierung der Betriebskosten; nachrichtenblatt 3/2002 möglichst weit reichender Rationalisierung verworfen.

19 ÖPNV in Frankreich

Bis dato lag die staatliche Förderung für Infra- • Verbesserung der Organisation des ruhen- strukturprojekte in einer Höhe von maximal den Verkehrs, 30% der Bausumme, teilweise aber auch noch • Verminderung der Lärmemissionen des in- deutlich darunter. Inzwischen sind die staat- nerstädtischen Güterverkehrs, lichen Subventionen weitgehend weggefallen. Dadurch mussten einige laufende Projekte im • Unterstützung und Ausbau von Maßnah- Realisierungszeitraum gedehnt werden, es kam men der Arbeitgeber, in deren Belegschaft jedoch bislang nicht zur Aufgabe von Projek- die Nutzung des ÖPNV oder Car-Sharing zu ten. Es zeigt sich damit, dass die bisherige fördern. staatliche Förderung mit im Schnitt etwa 20% Die Verkehrsentwicklungspläne enthalten Ziel- Bezuschussung nicht den wesentlichen Faktor werte, wie der Modal Split zwischen den ein- zur Finanzierung von Bauvorhaben darstellte. zelnen Verkehrsträgern in Zukunft verändert Dies verdeutlicht die Wichtigkeit des örtlichen werden soll. Daneben werden aber auch klar Finanzierungselementes in Form der Trans- definierte Projekte im organisatorischen und portsteuer. baulichen Bereich aufgeführt. Als Beispiele seien genannt Infrastrukturvorhaben im öf- 1.1.6 Gesamtverkehrsplanung fentlichen Personennahverkehr, Verbesserun- gen räumlicher oder zeitlicher Natur im Bus- Grundlage für die Gesamtverkehrsplanung in netz, Ausbau von Radwegen, Bewirtschaftung den französischen Ballungsräumen sind die von Parkplätzen sowie Maßnahmen zur För- städtischen Verkehrsentwicklungspläne, ge- derung der Vernetzung der einzelnen Ver- nannt Plan de déplacements urbain (PDU). Mit kehrsträger. dem Gesetz zur Luftreinhaltung vom 30. De- zember 1996 wurden alle größeren städtischen Das zweite grundsätzliche Planwerk bezüglich Agglomerationen dazu verpflichtet, einen sol- des Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur ist der chen Plan auszufertigen. Inzwischen liegen die Contrat de plan. Hierbei handelt es sich um Verkehrsentwicklungspläne in vielen Ballungs- Verträge zwischen dem französischen Staat räumen vor. und den einzelnen Regionen, welche die finan- zielle Förderung öffentlicher Projekte regeln. Grundlegendes Ziel des PDU ist es, die Nut- Koordiniert wird der Contrat de plan durch die zung des Automobils in den Ballungsräumen zu Aufgabenträger. Eine Aufstellung des Planes ist reduzieren und Verkehrsmittel des Umweltver- für alle Regionen verbindlich. Der aktuelle bundes zu fördern. Durch die im Verkehrsent- Contrat de plan bezieht sich auf den Zeitraum wicklungsplan zusammengefassten Maßnah- von 2000 bis 2006. men sollen die Lebensqualität im städtischen Raum erhöht, Umweltbelastungen für die Be- 1.1.7 Planungsrecht völkerung vermindert und nicht zuletzt auch eine nachhaltige Weiterentwicklung der Öko- Die Realisierung größerer öffentlicher Infra- nomie, des Handels und der Ausbildungsstät- strukturprojekte im Verkehrsbereich kennt in ten gefördert werden. Gesetzlich geregelt sind Frankreich wie auch in Deutschland einen um- sechs maßgebliche Sachgebiete, welche durch fangreichen gesetzlich geregelten Verfahrens- den PDU abgedeckt werden müssen:18 ablauf. Dieser baut auf mehreren Schritten auf:19 • Reduzierung des MIV-Aufkommens, • études préalables • Weiterentwicklung des ÖPNV sowie Förde- Vorstudien, volkswirtschaftliche Grundbe- rung von Fuß- und Radverkehr, trachtung eines Projektes, • Optimierung der Benutzung der existieren- • concertation préalable den Straßeninfrastruktur. Beteiligung von Bürgern und Interessenten,

18 vgl. hierzu LA MÉTRO: The main aspects of the Urban 19 vgl. hierzu WANSBEEK, Cornelis J. und GÖBEL, Stefan: Mobility Plan (PDU); Nahverkehrsplanung in der Île de France (Großraum http://www.la-metro.org Paris); stadtverkehr 2/2002

20 ÖPNV in Frankreich

• schéma de principe grundsätzlich zur Verwirklichung des Projektes Entwurfsplanung auf Grundlage der ersten von Enteignungen Gebrauch gemacht werden. Schritte, Verabschiedung durch Beschluss Dabei gibt es zunächst eine Phase der Ver- des Aufgabenträgers, handlungen, scheitert diese, wird enteignet. Da in der Verhandlungsphase eine größere Chance • enquête préalable de la déclaration d’utilité zur Erzielung hoher Ablösesummen besteht als publique in der Enteignungsphase, werden Grund- und Prüfung der Planung und von Einwendun- Bodenangelegenheiten häufig bereits auf die- gen, ggf. Forderungen von Änderungen, sem Wege geregelt. vergleichbar mit dem Planfeststellungsver- fahren, • déclaration d’utilité publique (DUP) Feststellung des öffentlichen Nutzens, wird erklärt, wenn die vorangegangene Prüfung erfolgreich beendet wurde, • avant projet Vorprojekt, steht nach Verabschiedung der DUP, nach nochmaliger Bestätigung des Aufgabenträgers können Detailplanung bzw. Baubeginn erfolgen. Für die oft sehr kurzen Realisierungszeiträume vieler Maßnahmen mitverantwortlich ist die im französischen Recht stärker verankerte Beto- nung des volkswirtschaftlichem vor dem indivi- duellen Nutzen. Maßgeblicher Schritt ist die Feststellung des Gemeinwohles, also des volkswirtschaftlichen Nutzens, im Zuge der Erteilung der DUP. Anschließend kann ein Pro- jekt in der Regel nicht mehr durch einzelne Einsprüche verzögert oder gestoppt werden. Die Dauer der Erteilung der DUP ist unter- schiedlich. Meist wird dieser Verwaltungsakt ohne größere Verzögerung durchgeführt. In manchen Fällen führen Einwände, insbeson- dere von Seiten der Träger öffentlicher Be- lange, aber durchaus auch zu einem längeren Verfahren.20 Wurde einem Projekt der volkswirtschaftliche Nutzen attestiert, darf

20 So nahm die Erteilung der DUP für die Neueinführung der Straßenbahn in Orléans etwa ein Jahr in Anspruch. Das Problem stellte dabei die Querung der Loire durch die Straßenbahn dar. Hier nutzt das neue Verkehrsmittel die zentrale, 200 Jahre alte George-V-Brücke. Durch die Planung eines besonderen Bahnkörpers verbleiben auf dieser nur noch zwei schmale Straßenfahrbahnen, weiterhin musste die Brücke naturgemäß mit einer Oberleitung versehen werden. In der Folge kam es zu Interventionen der Heeresleitung, welche die Benutzung der Brücke durch Panzer gefährdet sah. Schließlich entschärfte sich das Problem dadurch, dass für den Straßenverkehr im Zuge des Straßenbahnprojektes eine völlig neue Loire-Querung westlich der Innenstadt errichtet wurde.

21 ÖPNV in Frankreich

erster Linie der in vielen Ausführungen zur 1.2 Die Straßenbahnen der ersten Anwendung gebrachte Dampfbetrieb. Hier ka- Generation men Lokomotiven oder auch Dampftriebwagen vergleichbar mit den Konstruktionen der Se- 1.2.1 Nicht elektrische Straßenbahnen kundäreisenbahnen zum Einsatz, welche für Die erste Pferdestraßenbahn der Welt wurde den Stadtverkehr modifiziert und deren An- 1828 in Baltimore eröffnet. Erst über zwanzig triebe und Schornsteine oft unter Blenden ver- Jahre später erreichte das Verkehrsmittel Stra- steckt wurden. In Hinsicht auf Schall- und ßenbahn den europäischen Kontinent. Die Schadstoffemissionen erwies sich der Dampf- erste Anwendung in Frankreich und gleichzeitig betrieb innerhalb der Städte aber als proble- auch in Europa war eine 1854 in Paris eröff- matisch. Daneben gab es daher auch Versuche nete Teststrecke. Es folgte als zweite französi- mit Antriebsarten ohne unmittelbare Schad- sche Stadt im Jahre 1867 Lille. 1873 bestanden stoffemission. Dies war zum einen der feuer- in Paris bereits 22 Linien. Bis zum Ende des lose Dampfbetrieb, bei dem die Fahrzeuge Jahrhunderts führten sehr viele weitere franzö- über stationäre Dampfmaschinen in Depotbe- sische Städte Pferdestraßenbahnen ein. Damit reichen mit Dampf versorgt wurden. Eine begann die Geschichte des schienengebunde- zweite in Frankreich bedeutsame Spielart war nen Stadtverkehrs in Frankreich.21 der nach seinem Erfinder Louis Mékarski be- nannte Druckluftantrieb. Bei dieser ab 1875 Die Vorteile der Pferdestraßenbahn gegenüber zum Einsatz kommenden Technik wurde den im gleichen Zeitraum verwendeten Pferde- Druckluft stationär über Generatoren erzeugt omnibussen lagen in dem sehr geringen Roll- und über Rohrleitungen im Streckennetz ver- widerstand zwischen Rad und Schiene und teilt. Eine erste Testanwendung des Systems damit in einer großen Energieeinsparung sowie gab es in Paris. Größter Anwender wurde ne- in dem erheblich besseren Fahrkomfort und ben weiteren die Stadt Nantes. Hier war die der höheren Reisegeschwindigkeit. Allerdings Druckluftstraßenbahn bis zum Jahr 1917 in erwiesen sich die Pferdestraßenbahnen sehr Betrieb. In Deutschland gab es Straßenbahnen schnell in ihrer Leistungsfähigkeit als begrenzt. dieses Systems nie. Die Bewältigung größerer Steigungen war nicht möglich. Für das Ziehen von Straßenbahnen verwendete Pferde konnten nur wenige Stun- den am Tag eingesetzt werden und waren nach einigen Jahren nicht mehr für diese Auf- gabe geeignet. Weiterhin führte die Betreuung der Pferde zu einem großen Personalaufwand. In der Folgezeit entstanden daher recht schnell neben der aufwändigen Pferdetraktion weitere Antriebsarten im Stadtverkehr. Ziel war ein ökonomischerer Bahnbetrieb, der Aspekten der Sicherheit, der Stadtverträglichkeit, der techni- schen Ausgereiftheit sowie der einfachen Be- dienbarkeit genügen musste. Zu nennen ist in Abb. 2: Druckluftstraßenbahn in Nantes

21 Die Geschichte französischer Straßenbahnen wurde 1.2.2 Elektrische Straßenbahnen von mehreren eisenbahnhistorischen Verbänden doku- 1879 stellte Werner von Siemens die erste Lo- mentiert. Zu nennen ist insbesondere die Fédération des Amis des Chemins de fer Secondaires (FACS-UNECTO) komotive mit elektrischer Traktion vor. Die und die L'Association du Musée des Transports Urbains daraufhin in einem kürzesten Zeitraum einset- Interurbains et Ruraux (AMTUIR). Vgl. hierzu auch zende Entwicklung der elektrischen Straßen- DUQUENNE, Raymond: 40 ans de tramways an France et bahn revolutionierte den Stadtverkehr. So au Bénélux; http://www.trains-fr.org; stand nun erstmals eine technisch praktikable CHLASTACZ, Michel: Quand la France roulait en tram; La Vie du Rail 19.08.1998 und und emissionsfreie Traktionsart für Stadtver- AMTUIR: Les transports urbains à travers le temps: les kehrsmittel zur Verfügung. Schwierig zeigte Tramways; http://www.cnam.fr/hebergement/amtuir/ sich in der Anfangsphase der elektrischen

22 ÖPNV in Frankreich

Traktion aber die Energieübertragung auf das Akkumulatorstraßenbahnen zum Ersatz der Fahrzeug sowie die Leitung der elektrischen Pferde- oder Dampftraktion eingesetzt. An- Energie über weitere Distanzen. Versuche schließend setzte sich die elektrische Traktion wurden daher zunächst auch mit dem Batte- aber endgültig durch. riebetrieb gemacht, so in Paris bereits ab 1888. Seit den neunziger Jahren des vorletzten Jahr- Die Probleme mit den Batterien waren aber hunderts erfolgte in Frankreich sehr schnell die bereits in der Anfangszeit dieselben, welche bis Inbetriebnahme von elektrischen Straßenbahn- heute einen Durchbruch der Akkumulatortech- systemen (vgl. Abb. 3 und Abb. 6). Viele dieser nologie im Verkehrsbereich verhindern: Das Netze gingen auf vorlaufende Dampf- oder hohe Gewicht, die geringe Lebensdauer sowie Pferdestraßenbahnen zurück. Am Anfang des die begrenzte Reichweite. Daneben kam es in zwanzigsten Jahrhunderts waren schließlich in der Anfangszeit zu weiteren technischen Prob- nahezu allen städtischen Räumen Frankreichs lemen bis hin zu solchen, welche die Sicherheit und auch in vielen kleinstädtischen Touristen- der Fahrgäste durch freiwerdende Elektrizität zentren wie Thermalbädern lokale elektrische betrafen. Gleichwohl wurden bis zur Jahrhun- Schienenverkehre anzutreffen. PRENTICE nennt, dertwende in mehreren französischen Städten ohne Berücksichtigung der nach 1980 entstan-

1970 Eröffnungen Stilllegungen 1965

1960

1955

1950

1945

1940

1935

1930

1925

1920

1915

1910

1905

1900

1895

1890 01234567891011121314

Abb. 3: Eröffnungen und Stilllegungen elektrischer Straßenbahnen

23 ÖPNV in Frankreich

Abb. 4: Die französischen Tramways waren nicht nur Straßenbahnen im eigentlichen Sinne, sondern auch Klein- oder Lokalbahnen, in manchen Fällen auch mit der Besonderheit des Zahnradantriebes, so in Laon. Das Foto zeigt Triebwagen 1 am 23. April 1962 in der Oberstadt von Laon. Seit Februar 1989 gibt es hier vom im Tal liegenden Bahnhof aus eine Kabinenbahn namens POMA denen neuen Netze, insgesamt 115 elektrisch 18 Systeme. Zwischen 1897 und 1902 folgte betriebene Straßenbahnsysteme in Frank- dann die Eröffnung von insgesamt 61 Syste- reich22. Der Umfang der Systeme war teilweise men. Anschließend verringerte sich die Bau- erheblich, er reichte bis zu Gesamtlängen von leistung auf etwa zwei bis drei zusätzliche mehreren hundert Kilometern. Viele dieser Systeme pro Jahr, um mit dem Beginn des Systeme waren straßenbahnähnliche elektrisch ersten Weltkrieges zum Stillstand zu kommen. betriebene Kleinbahnen zur Erschließung von Das Maximum an gleichzeitig existenten Be- Stadtumlandgebieten. trieben war 1913 mit einer Zahl von 105 Sys- temen erreicht. Nach 1913 folgten vor 1980 Das erste elektrifizierte städtische Straßen- dann nur noch lediglich neun neue Betriebe, bahnnetz in Frankreich wurde 1890 in Cler- darunter zwei in den fünfziger Jahren elektrifi- mont-Ferrand eröffnet. Ab 1892 setzte dann zierte meterspurige kleinbahnartige Zahnrad- ein Boom beim Bau elektrischer Nahverkehrs- bahnen in der Mont-Blanc-Region, die noch bahnen ein: 1894 existierten 11, 1896 bereits heute in Betrieb stehen. Zur Energieübertragung kamen neben der 22 PRENTICE, John R.: French Tramway Systems; Oberleitung auch verschiedene Spielarten von http://www.tramways.freeserve.co.uk Unterleitungen zur Anwendung. Zunächst er- Von den insgesamt 115 Systemen waren lediglich 23 in gaben sich diese daraus, dass noch keine an- Normalspur ausgeführt, darunter der Betrieb von Marseil- wendungsreifen Oberleitungskonstruktionen le mit einer leicht abweichenden Spurweite von 1.430 zur Verfügung standen. Später wurden dann mm. Die restlichen 92 Netze waren schmalspurig, davon aber wie auch im Ausland in einigen Städten 91 meterspurig und ein Netz mit einer Spurweiter von 600 mm. Sieben Meterspursysteme wurden abschnitts- elektrische Unterleitungen aus ästhetischen weise oder insgesamt im Zahnradbetrieb befahren. Erwägungen verwendet, so in Paris, Lille, Bor-

24 ÖPNV in Frankreich

Abb. 5: In acht großen Ballungsräumen Frankreichs gab es Straßenbahnnetze mit mehr als 100 km Streckenlänge, nicht selten in verschiedene Betreiber und manchmal auch verschiedene Spurweiten differenziert. So gab es in Lille neben der noch heute vorhandenen meterspurigen Mongy-Straßenbahn auch bis 1966 das regelspurige Stadtnetz der CGIT. Aufnahme vom 23. April 1962 deaux und anderen. Selbst kleinere, aber zer Landstriche forciert werden. In der Frühzeit mondäne Städte wie Monte Carlo griffen auf waren die Euphorie und die Erwartungen, die Unterleitungen zurück. In Nizza führten Karne- an den Bahnbau geknüpft wurden, enorm. Der valsumzüge mit hohen Wagen zur Wahl einer Aufwand, der dazu getrieben wurde, ist aus solchen Stromzuführung im Innenstadtbereich. dem heutigen Blickwinkel vielfach nicht mehr nachvollziehbar.23 Daneben gab es 84 weitere Straßenbahn- oder Überlandbahnnetze, welche über ihren ge- samten Betriebszeitraum hinweg nicht elekt- risch betrieben wurden. Viele dieser Systeme 23 So umfasste beispielsweise das zur Jahrhundertwende waren Dampf- oder Pferdestraßenbahnen, es entstandene Netz einer Überlandbahngesellschaft aus gab aber auch hier unkonventionelle Antriebs- Nizza sieben Linien mit 187 km Strecke und nicht arten über Diesel, Benzin bis hin zur Druckluft. wenigen aufwändigen Kunstbauwerken in das bergige und äußerst dünn besiedelte Hinterland. Gerade auf den Alle diese Bahnen waren schmalspurig und Überlandstrecken war das Verkehrsaufkommen vielfach sind heute sämtlich nicht mehr in Betrieb. bescheiden. Lediglich vier Personenzüge pro Tag und Richtung waren keine Seltenheit, dazu kam meist noch Nach den zunächst in einem sehr kurzen Zeit- Güterverkehr mit unterschiedlicher Verkehrsbedeutung. raum während der Gründerzeit entstandenen In Lyon gab es zwei elektrische Überlandbahnstrecken, Netzen innerhalb der Großstädte dehnten sich eine davon über 60 km lang, welche trotz eines die Straßenbahnbetriebe weit in das Umland Fahrplanangebotes von nur zwei täglichen Zugpaaren mit technisch aufwändigen Zweisystemfahrzeugen für den aus. Ziel war es, wenig entwickelte Gebiete Gleich- und Wechselstrombetrieb betrieben wurden. Vgl. durch eine erstmalige Verkehrsanbindung mit hierzu NAUMANN, Thomas: Damals an der Cote d’Azur; Verkehrsmitteln der Neuzeit am technischen Straßenbahn-Magazin 9/2001 und VON MACH, Stefan: Fortschritt partizipieren zu lassen. Insgesamt Eine Bahn mit eigenem Gesicht – Die neue Tramway von sollte damit die ökonomische Entwicklung gan- Lyon; Straßenbahn-Magazin 11/2002 25 ÖPNV in Frankreich

120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Abb. 6: Elektrische Straßenbahnbetriebe in Frankreich

Ihre Blütezeit hatten die französischen Stra- ersten Weltkrieges wurden dann innerhalb des ßenbahnen in der ersten Hälfte des zwanzigs- Jahres 1914 elf Systeme, ein danach nie ten Jahrhunderts. In Paris gab es zu dieser Zeit wieder erreichter Maximalwert, stillgelegt. In bis zu 114 Straßenbahnlinien. Noch Mitte der den zwanziger Jahren lassen sich sechs, in den dreißiger Jahre existierten rund siebzig Stra- dreißiger Jahren sogar 29 Einstellungen, davon ßenbahnbetriebe mit einer Länge von rund zehn im Jahre 1935 zusammenzählen. Bei den 3.400 km. 600 km lagen in Paris und seinen komplett stillgelegten Betrieben dieser Zeit Vorstädten, 350 in und um Lyon. Auch in Bor- handelte es sich noch nahezu ausnahmslos um deaux, Grenoble, Lille, Marseille, Nizza und elektrische, straßenbahnähnliche Überland- Straßburg gab es jeweils mehr als hundert bahnnetze mit oft sehr geringen Betriebsleis- Streckenkilometer. Diese großen Betriebe der tungen oder aber um Straßenbahnnetze in Provinz repräsentierten alleine 1.430 km Linie. Kleinstädten, welche aufgrund von Kriegsschä- Die jährliche Beförderungsleistung der Stra- den sowie den Auswirkungen von Inflation und ßenbahnen lag in den dreißiger Jahren bei 1,6 Wirtschaftskrise ihren Betrieb nicht mehr auf- Milliarden Fahrgästen, davon rund 700 Millio- recht erhalten konnten25. Aber auch die größe- nen in Paris. Über die Strecken verkehrten ren Betriebe fingen bereits in den dreißiger 6.000 Trieb- und 4.000 Beiwagen.24 Jahren damit an, ihre Streckennetze zu redu- zieren. Hier wurden ebenfalls zunächst vorwie- 1.2.3 Stilllegungen gend Vorortbahnen stillgelegt. Viele der elekt-

Die Ära der elektrischen Nahverkehrsbahnen endete in Frankreich äußerst früh. Bereits 1908 25 Die geringe Verkehrsbedeutung vieler dieser Netze war mit dem nur 0,3 km langen 600 mm- lässt sich am Beispiel des am wenigsten frequentierte Schmalspurbetrieb von Évian-les-Bains die ers- Straßenbahnsystem Frankreichs überhaupt von Virialles- te Einstellung zu verzeichnen. Zum Beginn des Saint-Symphorién veranschaulichen. Auf dem bis 1933 in Betrieb stehendem Netz wurden jährlich lediglich 59.000

Fahrgäste gezählt. Dies entspricht noch nicht einmal dem 24 nach CHLASTACZ, Michel: Quand la France roulait en täglichen (!) Aufkommen heutiger Straßenbahnnetze wie tram; La Vie du Rail 19.08.1998 in Grenoble oder Straßburg

26 ÖPNV in Frankreich rischen und in der Regel meterspurigen Stre- gung über neue Bustechnologien noch nach- cken im Überlandverkehr waren damit nur zwei vollziehbar ist, waren nun aber auch Ballungs- bis drei Jahrzehnte in Betrieb. räume mit mehreren Hunderttausend Einwoh- nern betroffen (vgl. Tab. 5). In Struktur und Größe vergleichbare Stadträume in Deutsch- land sowie im Benelux-Raum fingen im gleich- en Zeitraum an, ihre Straßenbahnnetze mittels neuer Großraumfahrzeuge und der Anlage eigener Bahnkörper, später dann vielfach auch durch den Bau von Tunnelanlagen, auszubau- en und zu modernisieren (vgl. Kap. 3.1). Eine vergleichbare gegensteuernde Entwicklung der Modernisierung größerer Netze ab den fünf- ziger Jahren hat es in Frankreich nicht gege- ben. 26 Zwischen 1948 und 1953 gab es dreißig Be- Abb. 7: Paris besaß bis zur frühen Stillegung triebseinstellungen. 1960 waren nur noch 15 1937/38 eines der größten und meistfrequentier- Systeme übrig, bis 1971 verringerte sich diese ten Straßenbahnnetze Europas Zahl dann auf sechs. Diese sechs Betriebe, da- Einschneidend war die Abschaffung des über von drei Straßenbahnnetze im engeren Sinne 600 km langen Straßenbahnnetzes in Paris. in Saint-Étienne, Marseille und Lille sowie drei Hier gab es bereits 1929 eine Absichtserklä- elektrische Kleinbahnen im Alpenraum, sind rung zur Stilllegung aller Straßenbahnen inner- auch heute noch existent. halb der fünf Folgejahre. Daraufhin kam es mit leichten Verzögerungen 1937 im inneren Stadtgebiet sowie 1938 in den Vororten zur Einstellung der letzten Strecken. Allerdings konnte Paris zu diesem Zeitpunkt schon auf ein engmaschig ausgebautes Metronetz zurück- greifen. Dieses war seit den zur Weltausstel- lung 1900 eröffneten ersten Strecken stetig erweitert worden und wies in den dreißiger Jahren im Pariser Kernstadtbereich schon im wesentlichen seine heutige Ausdehnung auf. Innerhalb der anderen größeren Agglomeratio- nen besaßen die Straßenbahnen Anfang der dreißiger Jahre noch eine herausragende Be- Abb. 8: Im Osten Frankreichs hielten sich einige deutung für den Stadtverkehr. Doch auch hier Betriebe noch bis in die sechziger Jahre, so jener sind bereits vor dem zweiten Weltkrieg mit von Hagendingen/Hagondange nördlich von Metz. Das 1964 stillgelegte Straßenbahnsystem war kurzer zeitlicher Verschiebung Bestrebungen eines der wenigen Normalspurnetze Frankreichs. erkennbar, dem Pariser Beispiel zu folgen und Straßenbahnen einzustellen. Als Ersatz war in vielen Fällen der Oberleitungsbus angedacht. Durch den Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurden viele Einstellungsplanungen jedoch zu- nächst nicht forciert.

Die große Stilllegungswelle der städtischen 26 Die Kurzsichtigkeit dieser Einstellungen zeigt sich auch Straßenbahnbetriebe setzte dann aber bald darin, dass von den zwanzig Städten, die noch nach 1954 nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ein. ihre Straßenbahnen stilllegten (vgl. Tab. 5), heute zwölf Während die Abschaffung von Straßenbahnen Städte wieder über neue kommunale schienengebundene in Klein- und Mittelstädten aufgrund der Verfü- Verkehrssysteme verfügen oder gerade derartige Systeme bauen.

27 ÖPNV in Frankreich

Datum Stadt 15.04.1955 Toulon 10.10.1955 Perpignan 30.01.1956 Lyon (Stadtnetz) 17.03.1956 Clermont-Ferrand 27.05.1956 Saint-Quentin 03.03.1957 Versailles 17.03.1957 Colmar (Stadtnetz) 02.05.1957 Mülhausen

07.07.1957 Toulouse Abb. 9: Trotz des im nationalen Vergleich sehr 07.12.1957 Bordeaux guten Ausbauszustandes konnten sich auch die 25.01.1958 Nantes Straßenbahnbetriebe des Elsass nach dem zweiten Weltkrieg nicht behaupten. In Straßburg war die 02.12.1958 Nancy 1960 vollzogene Stilllegung der Straßenbahn je- doch letztendlich nur eine Episode, hier feierte 34 30.04.1960 Straßburg Jahre später die Straßenbahn moderner Prägung 31.12.1960 Colmar (Überlandnetz) ihren endgültigen Durchbruch. Das Bild zeigt die Linie 14 am 10. Juli 1959 auf der Place Kléber. 01.12.1961 Dijon 31.01.1964 Hagondange 1.2.4 Gründe für die Abschaffung der Straßenbahn 29.01.1964 Lille (Stadtnetz) Die Abschaffung der Straßenbahn in Frankreich 02.07.1964 Valenciennes nach dem zweiten Weltkrieg folgt verkehrspo- 25.01.1971 Laon litischen Leitbildern, die sich auch in allen an- 01.02.1971 Langres deren Ländern Westeuropas nachweisen las- sen. Gleichwohl haben Entwicklungsprozesse, 27 Tab. 5: Stillgelegte Straßenbahnsysteme ab 1955 die schon weitaus früher in den dreißiger Jah- ren begonnen haben, die Konsequenz dieser Zunächst wichen die Straßenbahnen vielerorts Entwicklung begünstigt. Obussystemen. Wie anderswo in Westeuropa stellte aber auch in Frankreich der Oberlei- Für die flächendeckende und frühe Abschaf- tungsbus nur ein kurzzeitiges Intermezzo im fung der Straßenbahnnetze auch in großen Stadtverkehr dar und war in vielen Fällen in Ballungsräumen wird von den Experten wie den siebziger Jahren schon wieder abgeschafft MULLER nicht zuletzt die französische Autoin- 28 worden. Heute gibt es Obuslinien noch in dustrie verantwortlich gemacht . Diese unter- Limoges, Lyon, Nancy und Saint-Étienne. stützte schon früh den Trend zum eigenen Durch den weiteren Ausbau der neuen Stra- Kraftfahrzeug und die Abschaffung von Stra- ßenbahnnetze der zweiten Generation wird der ßenbahnen, die dem Wachstum des Kraftfahr- Umfang der Obusnetze in Zukunft voraussicht- zeugverkehrs in den Städten als Hindernis ent- lich weiter dezimiert werden, so endete in den gegen zu stehen schienen. Durch den wach- letzten Jahren der elektrische Busbetrieb in senden Beschäftigungseffekt der Autoindustrie Grenoble und Marseille. Seit den sechziger und einer Vielzahl von sekundären Zulieferern Jahren setzte sich schließlich der Dieselbus als und Dienstleistungsunternehmen gewann die Hauptverkehrsträger des öffentlichen Verkehrs- Lobby der Kraftfahrzeugbauer mit der Zeit ein wesens in Frankreich durch. immer größeres politisches Gewicht. Schon zwischen den beiden Weltkriegen war die Höchstgeschwindigkeit von Straßenbahnen auf

27 DUQUENNE, Raymond: 40 ans de tramways an France et au Bénélux; 28 vgl. hierzu MULLER, Georges: Generation Tram; http://www.trains-fr.org Editions Oberlin; Strasbourg 2000

28 ÖPNV in Frankreich

Abb. 10: Straßenbahn mit einfachstem Ausbauzustand in Grenoble, 1948 vier Jahre vor der Gesamtstille- gung. Das Bild lässt erahnen, warum man nach dem zweiten Weltkrieg in den allermeisten Fällen den Aufwand einer Modernisierung der Straßenbahnsysteme scheute.

30 km/h beschränkt worden. Diese Regelung Als nachteiliger Effekt hinzu kam, dass viele mutet unter dem Sachverhalt, dass für Omni- Straßenbahnstrecken gerade im Überland- busse gleichzeitig eine Höchstgeschwindigkeit bahnbereich zum Anfang des Jahrhunderts in von 45 km/h galt, als noch abstruser an. Sol- kürzester Zeit und einfachster Trassierung che eindeutigen, administrativen Benachteili- häufig eingleisig in Seitenlage von Straßen ge- gungen werden von Beobachtern als Einfluss- baut worden waren. Um die Jahrhundertwende nahmen seitens der Autoindustrie zur Ab- reichte eine solche Trassierung in Hinsicht auf schaffung der Straßenbahn interpretiert. Aber den Verkehr sonstiger Fahrzeuge auf den auch andere übergeordnete Interessengruppen Landstraßen aus. Sehr schnell kam aber in den trugen zur Bevorzugung des Busverkehrs bei. dreißiger Jahren schon ein nennenswerter So forderte das Militär, dass Stadtverkehrs- Kraftfahrzeugverkehr auf, so dass die ur- mittel im Ernstfall auch für Truppentransporte sprüngliche Straßenbahninfrastruktur den Be- verwendbar sein sollten. Dieser Forderung ent- langen des Kraftfahrzeugverkehrs bald in hoh- sprachen Omnibusse, nicht aber an ihre Trasse em Maße entgegenstand.29 Um ausreichende gebundene Straßenbahnen. Paradoxerweise Verkehrssicherheit und Fahrgeschwindigkeiten führte aber gerade dieser Sachverhalt dazu, ermöglichen zu können, hätten die Strecken dass einige Straßenbahnnetze, deren Stille- zweigleisig oder aber auf besonderem Bahn- gung eigentlich schon in den vierziger Jahren körper ausgebaut werden müssen. Dafür stan- vorgesehen war, durch den zweiten Weltkrieg den aber keine Finanzmittel zur Verfügung. Im aufgeschoben wurde, da während des Krieges aufgrund der Beschlagnahmung von Omnibus- 29 So versechsfachte die französische Autoindustrie ihre sen durch das Militär die Straßenbahn auf ein- Produktion von 40.000 Autos in 1920 auf 254.000 im mal wieder zum Hauptlastträger des öffentli- Jahre 1929; vgl. hierzu POLANSCHÜTZ, Axel: Die chen Verkehrs wurde und alle noch brauchba- Entwicklung der Automobilfirma Citroën von ihren ren Wagen und Streckenführungen nochmals Anfängen bis 1939; http://www.geocities.com/Paris/2038/Narizin/ für einen kurzen Zeitraum reaktiviert wurden. CitGeschichte/

29 ÖPNV in Frankreich

Gegenteil zeigte sich bereits in den zwanziger tenaufwändig geworden war, unterstützten Jahren, dass die hochgesteckten Erwartungen vielmehr auch die Verkehrsbetriebe selbst die beim Bau von Überlandbahnen in der Anfangs- Abkehr von der Straßenbahn. Dies wurde da- phase des Jahrhunderts meist nicht erfüllt durch begünstigt, dass die für den Busverkehr werden konnten und das tatsächlich beförderte benötigten Straßen von der öffentlichen Hand Fahrgastaufkommen weit hinter die Prognosen unterhalten wurden, wohingegen Bahnbetriebe zurückfiel. Damit mussten viele Straßenbahn- für ihre Schieneninfrastruktur selbst aufkom- betriebe schon ohne externe Einflüsse des men mussten. Ebenso hatten die in den fünfzi- Straßenverkehrs in finanzielle Schwierigkeiten ger Jahren zur Verfügung stehenden Straßen- kommen. Wegen dieser frühen Kostende- bahnzüge meist keine größere Fahrgastkapazi- ckungsprobleme blieben Modernisierungen in tät als Busse, so dass der heute wesentliche den dreißiger Jahren weitgehend aus. Lediglich Vorteil des Straßenbahn- gegenüber dem Bus- die Ligne d’Aix in Marseille, der Train Bleu in verkehr, der bessere Personalwirkungsgrad, Lyon sowie die elsässischen Überlandbahnen nicht zum Tragen kam. Für die dringend not- von Straßburg, Colmar und Mülhausen wurden wendigen Erneuerungen der Gleisanlagen und während dieses Zeitraums gründlich renoviert. Straßenbahnfahrzeuge waren keine finanziellen Ansonsten blieben weitgehend die Erstfahrzeu- Mittel vorhanden. Die Entscheidung der Ver- ge aus der Jahrhundertwende im Einsatz. Eine kehrsunternehmen musste deshalb alleine aus zweite elektrische Fahrzeuggeneration wie die ökonomischer Sicht zwangsläufig von der Bahn damals in Deutschland zum Einsatz kommen- zum Bus gehen. den leistungsstärkeren Zwei- und Vierachser in Ein Fortbestand der Straßenbahnsysteme Ganzstahlbauweise hat es damit in Frankreich Frankreichs nach dem zweiten Weltkrieg hätte mit wenigen Ausnahmen nicht gegeben. damit nur durch Entscheidungen in der kom- Ruinöse Konkurrenzkämpfe zwischen rivalisie- munalen Verkehrspolitik zur Finanzierung und renden städtischen Verkehrsunternehmen in zum Ausbau der Netze gewährleistet werden der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun- können. In der französischen Politik besaß der derts spielten mancherorts diesem Entwick- öffentliche Stadtverkehr nach dem zweiten lungsprozess zusätzlich in die Hände. Damit Weltkrieg jedoch einen sehr untergeordneten untergruben sich die Verkehrsbetriebe seit den Stellenwert. Das verkehrspolitische Leitbild sah zwanziger Jahren teilweise untereinander ihre Straßenbahnen zu diesem Zeitpunkt als eine ökonomischen Grundlagen. Zwar wurde in Er- veraltete Transporttechnologie an. Gefördert kenntnis dieser negativen Situation schon früh wurden in weitreichendem Umfang der private mit der Fusion von Straßenbahnbetrieben be- Kraftfahrzeugverkehr sowie der Ausbau der gonnen, doch drängten nur wenig später neue städtischen Straßeninfrastruktur bis hin zu Busunternehmen auf den Markt, welche ge- großzügigen Stadtautobahnen. Kraftstoff und genüber den Straßenbahnunternehmen keine Steuern waren preiswert, das Automobil wurde konzessionsrechtlichen Einschränkungen zu zum Leitbild der Freiheit und für die Masse der beachten hatten. Bevölkerung finanzierbar. Negative Folgen ei- nes wachsenden Straßenverkehrs auf die Schon in den dreißiger Jahren konnten durch Städte wurden noch nicht vollständig abgese- diese Entwicklung viele Unternehmen ihren hen und verdrängt. Abgewirtschaftete und Straßenbahnbahnbetrieb nicht mehr kostende- veraltete Straßenbahnfahrzeuge aus der Jahr- ckend durchführen. Dies ist ein wesentlicher hundertwende führten in der Politik sowie der Unterschied zu Deutschland, wo die Verkehrs- öffentlichen Meinung zur Entwertung der Gunst betriebe in den Großstädten teilweise noch bis des Verkehrssystems Straßenbahn als Ganzes. in die sechziger Jahre hinein keine Defizite Als öffentliches Verkehrsmittel des Fortschrittes aufwiesen und somit in Bezug auf die Moderni- wurde der Bus angesehen. Die Bevorzugung sierung ihrer Straßenbahnsysteme ganz anders des Busses auch in der Wahrnehmung der argumentieren konnten. Nicht zuletzt aus die- Fahrgäste ergab sich nicht zuletzt daraus, dass sem Grund blieben Diskussionen über einen auch Bevölkerungsschichten, die sich noch kein Ausbau der französischen Netze in den fünfzi- eigenes Kraftfahrzeug leisten konnten, durch ger Jahren aus. Da der Straßenbahnbetrieb mit den Bus gewissermaßen am Straßenverkehr dem veralteten Material zu personal- und kos-

30 ÖPNV in Frankreich teilnehmen konnten. Daneben stand aber Zwar lag auch in Deutschland das Hauptau- hauptsächlich die Einschätzung, dass der Bus genmerk beim Ausbau der Verkehrsinfrastruk- den wachsenden Individualverkehr in weitaus tur in den Städten nach dem zweiten Weltkrieg geringerem Maße zu behindern schien als in der Förderung des MIV, aber eben auch in spurgeführte Straßenbahnen. der Förderung des ÖPNV. Zunehmender Stra- ßenverkehr und daraus resultierende Ver- Frankreich Deutschland kehrsprobleme führten schon in den fünfziger Jahren dazu, in den großen deutschen Bal- 90 lungsräumen die Diskussion über städtische Schienenverkehre in der zweiten Ebene aufzu- 80 nehmen. Schnell lag das Augenmerk auf dem 70 Erhalt der Straßenbahnnetze und der Schaf- fung von Unterpflasterstraßenbahnen in den 60 Stadtzentren. Bereits in den sechziger Jahren starteten Städte wie Köln und Essen mit dem 50 Bau unterirdischer Straßenbahnstrecken. In Kap. 3.1 werden die Grundzüge dieser Ent- 40 wicklung nachgezeichnet.

30 Im Gegensatz zu Frankreich wurden in Deutschland auch frühzeitig Finanzierungstöpfe 20 zum Ausbau der städtischen Verkehrsinfra- struktur geschaffen.31 Schon in den sechziger 10 Jahren stellte der Staat den Städten hierzu Einnahmen aus der Mineralölsteuer zur Verfü- 0 gung und erhöhte den Umfang dieser Trans- ferleistungen sukzessive. Bereits 1967, vier Jahre vor der Einführung des noch heute exi- stenten Gemeindeverkehrsfinanzierungsgeset- zes (GvfG), wurde diese Finanzquelle zu 40% Abb. 11: Großstädte mit kommunalem Schienen- für Vorhaben des ÖPNV zweckgebunden. Zu verkehr in Frankreich und Deutschland 30 den Transferleistungen des Bundes kommen noch solche der Länder, so dass die Städte bei Zwar sind diese verkehrspolitischen Leitbilder Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur in auch in Deutschland nicht unbekannt, doch Deutschland nur noch Eigenmittel in Höhe von wurden sie hinsichtlich des Zusammenspiels rund 10% beisteuern müssen. Dies hat die von individuellem und öffentlichem Verkehr mit Modernisierung der Straßenbahnnetze in den einer grundsätzlich anderen Nuancierung letzten vierzig Jahren bis hin zur Errichtung durchgeführt. Bekanntermaßen wurde auch in von schnellbahnartig ausgebauten U- und Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg Stadtbahnsystemen überhaupt erst möglich durchaus eine größere Zahl Straßenbahnsys- gemacht. In Frankreich gab es ähnliche Finan- teme stillgelegt, doch waren hier nur in gerin- zierungsinstrumente erst deutlich später. gem Maße die Großstädte betroffen (vgl. Abb. 11). Statt dessen begann schon in den fünfzi- ger Jahren eine gegensteuernde Entwicklung, da viele Städte den Wert eines spurgeführten Massenverkehrsmittels erkannten und den Ausbau ihrer Nahverkehrsnetze forcierten.

30 Einbezogen sind Städte in Deutschland bzw. Transport- räume in Frankreich, die zum 1. Januar 2001 mehr als 31 vgl. hierzu HAEFELI, Ueli: Der finanzielle Handlungs- 100.000 Einwohner hatten. Metrosysteme gehen in die spielraum städtischer Verkehrspolitik; Wuppertal Papers Aufzählung mit ein. In Deutschland beziehen sich alle Nr. 85; Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie; Angaben auf das heutige Staatsgebiet. September 1998

31 ÖPNV in Frankreich

verbliebenen Halbmesserlinie mitsamt der End- 1.2.5 Die erhaltenen Betriebe station schon Ende des 19. Jahrhunderts in Bei den nach den Stillegungen verbleibenden Tieflage angelegt wurde, unterblieb eine Ge- drei städtischen Straßenbahnnetzen Frank- samtstillegung. reichs handelt es sich um jene von Lille, Saint- Bei den drei erhaltenen Netzen finden sich Étienne und Marseille. Diese Systeme, jeweils damit bereits die Aspekte wieder, die heute in nur noch Restfragmente einst weitaus größerer Frankreich als wesentlich bei der Neueinfüh- Netze, sind von ihrer Charakteristik her völlig rung von Straßenbahnsystemen gesehen wer- unterschiedlich. Bei dem meterspurigen Betrieb den – wenn auch nicht alle in jedem Netz ge- von Lille handelt es sich um eine städteverbin- meinsam, so doch in jedem Netz jeweils Teilas- dende Linie mit zwei Streckenästen. Die Stra- pekte: ßenbahn wurde bei der Anlage der durch sie befahrenen Boulevards Anfang des zwanzigs- • Führung über Eigentrassen (Lille), ten Jahrhunderts gleich mit projektiert und er- • Rentabilität und städtische Integration hielt einen eigenen Bahnkörper. Hier sicherten (Saint-Étienne), die großzügige Trassierung und eine in den fünfziger Jahren durchgeführte Modernisierung • Abgasfreiheit (Marseille). der Straßenbahn die Existenz. Der Betrieb von Daneben bestehen die drei erwähnten elektri- Saint-Étienne ist ebenfalls meterspurig und sche Kleinbahnen im Alpenraum, welche keine umfasst lediglich eine Linie. Diese verläuft je- Straßenbahnen im eigentlichen Sinne darstel- doch durch die städtische Hauptachse, wo- len, aber in Frankreich stellenweise auch als durch auf kurzer Streckenlänge ein hohes ge- Tramways bezeichnet werden. Sie umfassen bündeltes Fahrgastaufkommen auftritt. Die ein meterspuriges Netz um Chamonix nahe des einzige normalspurige Straßenbahn Frank- Mont Blanc, bestehend aus der seit 1901 reichs, welche die Stilllegungswelle überlebte, elektrifizierten Verbindung von St-Gervais über ist jene von Marseille. Allerdings wurde auch Chamonix und Vallorcine ins schweizerische dort praktisch das gesamte Netz aus den Stra- Martigny sowie den beiden Zahnradbahnen ßen entfernt, die Streckenlänge schrumpfte Chamonix – Mer de Glace (Chemin de Fer de von 178 km in den dreißiger Jahren auf nur Montenvers) sowie St-Gervais – Nid d’Aigle noch 3 km. Da aber das stadtseitige Ende der (Tramway du Mont Blanc).

Abb. 12: Lille – Erhalt dank großzügiger Trassierung auf eigenem Bahnkörper

32 ÖPNV in Frankreich

Abb. 13: Marseille – Erhalt dank Tunnel in der Innenstadt

Abb. 14: Saint-Étienne – Erhalt wegen Führung entlang der Hauptachse einer Bandstadt 33 ÖPNV in Frankreich

Schon in den siebziger Jahren setzte aber eine 1.3 Stadtverkehr nach dem weitere Entwicklung ein, welche den öffentli- zweiten Weltkrieg chen Nahverkehr in Frankreich revolutionieren sollte: die Neueinführung von spurgeführten 1.3.1 Vorbemerkungen Massenverkehrsmitteln. Handelte es sich dabei Die Entwicklung des städtischen öffentlichen zunächst um Metrosysteme in den großen Transportwesens ist seit den fünfziger Jahren Ballungsräumen, so kamen seit den achtziger in den meisten französischen Städten im Jahren die neuen Straßenbahnsysteme in mit- Grunde genommen sehr einheitlich verlaufen. telgroßen Städten hinzu. Seitdem befindet sich Im Anschluss an die Stilllegung der Straßen- der öffentliche Nahverkehr in einer Phase des bahnnetze in den städtischen Ballungsräumen Aufschwungs. Zwischen 1984 und 1999 er- der französischen Provinz setzte eine organisa- höhte sich in ganz Frankreich die Zahl der er- torische Umstrukturierung des öffentlichen schlossenen Einwohner um 5,5% und die der Nahverkehrs ein. Durch die Bildung von bedienten Stadtumlandgemeinden um 19%. Zweckverbänden für die Planung von Nahver- Gleichzeitig nahm die Linienlänge um 44% und kehrsleistungen und den Ersatz der alten die Kilometerleistung um 30% zu. Diese Ange- Verkehrsunternehmen durch neue Konzerne botsverbesserungen führten im selben Zeit- kann seit Mitte der siebziger Jahre erstmals raum zu einem Fahrgastzuwachs von 15,5%.34 seit dem zweiten Weltkrieg wieder eine Die französische Statistik kennt den Begriff nennenswerte Weiterentwicklung des öffent- Transport en commun en site propre (TCSP), lichen Personennahverkehrs in Frankreich aus- was übersetzt soviel wie öffentliches städti- gemacht werden. So wurden seitdem in vielen sches Massenverkehrsmittel auf Eigentrasse Städten die Busnetze durch neue Fahrzeuge, bedeutet. Die TCSP umfassen neben Straßen- dichtere Fahrtenangebote und neue Linien bahnen auch Metros und daneben Busverkehre attraktiver gestaltet. Freilich wurde eine Trend- auf Eigentrasse sowie die Tramways sur pneus wende zum öffentlichen Verkehr hin dadurch (TSP). Bei letzteren handelt es sich um die per noch nicht oder nur ansatzweise erreicht. Zwar Monoschiene spurgeführten Bussysteme, oft konnten einige Städte durchaus steigende auch als Straßenbahn auf Gummireifen be- Fahrgastzahlen aufweisen, allerdings durchweg zeichnet. Ende 2006 gab es in Frankreich drei auf niedrigem Niveau.32 Nach wie sind bei klassische Metrosysteme, vier automatische vielen französischen Bussystemen Löcher im Kleinprofilmetros nach System VAL und drei Fahrplan außerhalb der Hauptverkehrszeiten Tramways sur pneus. Dazu kamen vierzehn sowie fehlende Taktfahrpläne selbst auf Linien, städtische Straßenbahnsysteme, davon die drei welche über den ganzen Tag hinweg mehrmals alten Systeme von Marseille, Lille und Saint- pro Stunde verkehren, auffallend. Dazu kom- Étienne sowie elf neu eingeführte Betriebe in men meist auch äußerst spärliche bzw. nicht Nantes, Grenoble, Paris, Straßburg, Rouen, vorhandene Verkehre an Wochenenden und in Montpellier, Orléans, Lyon, Bordeaux, Mülhau- den Abendstunden.33 sen und Valenciennes. In Paris umfasst das System drei räumlich bisher getrennte Be- triebsbereiche. Die Straßenbahn von Marseille 32 In Grenoble konnten beispielsweise nach der Gründung war Ende 2006 wegen Modernisierungsmaß- des Aufgabenträgers durch umfangreiche Angebotsver- nahmen außer Betrieb. besserungen im Busnetz die Fahrgastzahlen zwischen 1973 und 1982 von 16,9 Millionen auf 38,9 Millionen ge- steigert werden. Dies entspricht allerdings noch immer lediglich 104 Fahrten pro Einwohner und Jahr. Erst durch die später neueingeführte Straßenbahn wurde diese Zahl nochmals um die Hälfte gesteigert. Nach MULLER, Liniennetz eingeführt (Réseau de Soirée). Dann gibt es Georges: Die Renaissance der Straßenbahn in Grenoble; neben der unverändert verkehrenden Straßenbahnlinie stadtverkehr 9/1987 lediglich drei Abendbuslinien (für einen Stadtraum mit 33 So verkehrte die Buslinie 1 in Orléans nach Fahrplan mehr als 250.000 Einwohnern!). 2004 ganztägig zwei- bis dreimal pro Stunde, weist aber 34 LEBRETON, Joël und BEAUCIRE, Francis: Transports bei 32 täglichen Abfahrten 28 (!) verschiedene Abfahrts- publics et gouvernance urbaine; Éditions Milan; Toulouse minuten auf. In den Abendstunden wird der Betrieb im 2000 Gesamtnetz deutlich eingeschränkt und ein spezielles 34 ÖPNV in Frankreich

Lille Valenciennes

Rouen Reims Paris Straßburg Caen Nancy

Rennes Le Mans Mülhausen Orléans

Nantes Angers

Lyon Clermont-Ferrand

Saint Etienne Grenoble

Bordeaux

Montpellier Nizza Marseille Toulon Toulouse

Betrieb Planung/Bau Metro VAL Tram TSP

Abb. 15: Spurgeführte Massenverkehrsmittel in Frankreich

35 ÖPNV in Frankreich

konnten für erhebliche Fahrgastzuwächse im 1.3.2 Neue Metrosysteme ÖPNV sorgen. Seitdem projektierten eine In den sechziger und siebziger Jahren war in ganze weitere Reihe Städte den Bau von VAL- den großen Ballungsräumen Frankreichs die Metros. Abgesehen von der kurzen Verbin- völlig unabhängig verlaufende U-Bahn Ziel der dungsbahn am Pariser Flughafen Orly konnten Planungen. Dabei sind bei den französischen bis heute Toulouse 1994 und Rennes 2002 ein Metrosystemen zwei Spielarten zu unterschei- derartiges System in Betrieb nehmen. Weitere den: Zum einen die auf Eisenbahntechnologie neue Metrosysteme sind in Frankreich derzeit basierende konventionelle schwere Metro und nicht geplant, einige bestehende Betriebe daneben die vollautomatische VAL-Minimetro.35 verfolgen jedoch Erweiterungsvorhaben. Die Abkürzung VAL steht für Véhicule automa- tique léger, also leichtes automatisches Beför- derungsmittel. Sie lässt sich aber auch aus der ersten Anwendungsstrecke Villeneuve d’Asq – Lille ableiten. Es handelt sich um eine automa- tische Kleinprofilmetro mittlerer Kapazität. Das System baut auf folgenden Grundprinzipien auf:36 • Vollständig unabhängige und kreuzungsfreie Trassierung,

• Hohe Reisegeschwindigkeiten von über 30 km/h, Abb. 16: Metro Marseille • Kleine Fahrzeuge, • Dichte Taktfolge, • Automatischer Betrieb zur Betriebskostenersparnis, • Kleines Lichtraumprofil zur Baukostenersparnis. Paris besitzt sein Metronetz schon seit der Jahrhundertwende und baut dieses weiterhin kontinuierlich aus. In den siebziger und achtzi- ger Jahren völlig neu eröffnet wurden konven- tionelle schwere U-Bahn-Systeme in Marseille und Lyon sowie das VAL-System in Lille. Alle drei Städte sind Zentren von Ballungsräumen mit jeweils mehr als einer Million Einwohner. Heute stellen diese Metronetze den Hauptlast- träger des ÖPNV in diesen Agglomerationen dar, werden überaus stark nachgefragt und

35 Die Metrosysteme Frankreichs wurden vom Autor dieser Arbeit in einer eigenständigen Veröffentlichung porträtiert, vgl. GRONECK, Christoph: Metros in Frank- reich; Robert Schwandl Verlag 2006 36 Zu den VAL-Metros vgl. z.B. FRENZ, E.: Leicht-Metro System VAL für Lille; stadtverkehr 10/1983; NEU, Jochen: Die Leichtmetro in Lille; stadtverkehr 10/1994; RIEDEL, Abb. 17: Station der VAL-Metro in Lille mit Hans-Ulrich: VAL de Lille – eine Erfolgsgeschichte; Bahnsteigtüren stadtverkehr 6/2000; SAUERWALD, Achim: VAL-Metro Toulouse; stadtverkehr 11-12/1993 u.a.

36 ÖPNV in Frankreich

Abb. 18: Saint-Étienne entwickelte sich im Laufe der Zeit zum Vorbild der Wiedereinführung neuer Straßenbahnsysteme oberirdisch direkt in die Innenstädte. Heute zeigt sich das System, sukzessive modernisiert, stellenweise ähnlich gestalterisch hochwertig wie die neuen Netze.

1.3.3 Wiederkehr der Straßenbahn hemmten Kraftfahrzeugverkehrs auf die Stadt- strukturen wurden sichtbar. Damit reifte die Bereits zum Zeitpunkt der Realisierungsphase Einsicht, dass funktionierende Städte auf der ersten neuen Metrosysteme in den siebzi- komfortable, regelmäßig verkehrende und ger Jahren begannen Überlegungen zur Wie- schnelle öffentliche Verkehrsmittel angewiesen dereinführung von Straßenbahnsystemen. Zu sind. Die Ölkrise sowie die zunehmende Luft- diesem Zeitpunkt war der Stilllegungsprozess verschmutzung rückten daneben die Vorteile städtischer Straßenbahnnetze in Frankreich der elektrischen Traktion im Stadtverkehr in gerade erst abgeschlossen. den Vordergrund. Saint-Étienne mit seiner Die Entwicklung der neuen Straßenbahnsys- stark nachgefragten Straßenbahn wurde zum teme lässt sich bis auf die Ölkrise 1973/74 zu- Vorzeigebeispiel. rückverfolgen. Damals wurden erstmals die In der Folge gab es 1975 einen richtungswei- verkehrspolitischen Leitbilder der Nachkriegs- senden Entschluss des Staates zur finanziellen zeit grundsätzlich überdacht und in Frage ge- Förderung umweltfreundlicher Verkehrsmit- stellt. Negative Auswirkungen eines unge-

37 ÖPNV in Frankreich tel.37 In Großstädten sollten in diesem Zusam- wenngleich als Erstanwender einer Straßen- menhang elektrische, schienengebundene bahn der zweiten Generation mit Nantes eine Nahverkehrsmittel bezuschusst werden. Dies Stadt zum Zuge kam, die zunächst gar nicht betraf zum einen den weiteren Ausbau der anvisiert wurde. Inzwischen hat sich der Metro-Systeme in den großen Ballungsräumen, schienengebundene Stadtverkehr aber auch in daneben aber auch die Wiedereinführung von den acht angeschriebenen Städten wieder oberirdischen Bahnsystemen in den mittelgro- etabliert oder steht vor der Wiedereinführung, ßen Städten. Diese sollten so weit als möglich daneben folgte eine größere Anzahl weiterer auf Eigentrasse geführt und gegenüber dem Stadträume dem Beispiel von Nantes (vgl. Tab. motorisierten Individualverkehr bevorrechtigt 6 und Tab. 7). werden. Treibende Kraft hinter dieser radikalen Kehrtwende in der Verkehrspolitik war der da- Stadt Eröffnungsdatum malige Staatssekretär im Verkehrsministerium, Marcel Cavaillée, welcher 1974 einen nationa- Nantes 07.01.1985 len Wettbewerb zur Ausgestaltung des neuen Grenoble 01.08.1987 spurgeführten Verkehrsmittels auf eigenem Gleiskörper durchführte. Am 27. Februar 1975 Paris/Saint-Denis 06.07.1992 folgte dann der für den Wiedereinführungspro- Straßburg 25.11.1994 zess der Straßenbahn in Frankreich mutmaß- Rouen 17.12.1994 lich entscheidende Schritt. An diesem Tag schickte Cavaillée einen offenen Brief an die Paris/Val de Seine 01.07.1997 Oberbürgermeister großer Städte ohne schie- Montpellier 01.06.2000 nengebundene Massenverkehrsmittel. Empfän- Orléans 20.11.2000 ger waren Bordeaux, Grenoble, Nancy, Nizza, Rouen, Straßburg, Toulon und Toulouse. Diese Lyon 22.12.2000 Städte wurden aufgefordert, über die Einfüh- Bordeaux 21.12.2003 rung neuartiger oberirdischer Straßenbahn- Mülhausen 13.05.2006 netze nachzudenken und erste Entwurfspla- nungen zu erarbeiten. Nachgewiesen werden Valenciennes 16.06.2006 sollten Machbarkeit und eine mögliche Stre- Tab. 6: Eröffnungen neuer Straßenbahnsysteme ckennetzgestaltung. Um eine staatliche Finan- zierungsplanung beginnen zu können, sollten In Hinsicht auf die Wiederentdeckung der die Städte innerhalb eines Quartals bis Juni Straßenbahn in Frankreich lassen sich mehrere 1975 grundlegende Konzepte vorlegen. Als Entwicklungsstufen ausmachen. In der ersten Zeithorizont für eine Realisierung der Vorhaben Stufe wurden infolge der staatlichen Förderung selbst war ein äußerst kurzer Zeitrahmen von Anfang der achtziger Jahre mehrere neue fünf bis zehn Jahren angedacht. Straßenbahnsysteme projektiert. Drei davon Die Reaktion reichte von Zustimmung bis Ab- kamen dann auch zur Ausführung. Anfang lehnung. Einige angesprochene Städte verwie- 1985 konnte als erster neuer Betrieb jener von sen auf konkurrierende Pläne zum Bau von Nantes eröffnet werden. Die neue Straßenbahn Metros oder Kabinenbahnsystemen, andere ist hier vorwiegend als großzügig trassierte ließen Interesse erkennen, ohne sich aber auf ausgeführt. Es folgte 1987 das Netz ein Straßenbahnsystem festlegen zu wollen. in Grenoble, welches für sich in Anspruch Lediglich Grenoble erklärte sich zum Bau einer nehmen kann, das erste vollständig niederflu- Straßenbahn bereit. In der Rückschau erwies rige Straßenbahnsystem der Welt zu sein. Zu- sich Cavaillées Brief dennoch als erfolgreich, letzt konnte nach jahrelangen Verzögerungen 1992 die erste neue Strecke in Paris eröffnet

werden. 37 vgl. hierzu NAUMANN, Thomas: Zurück zur alten Pracht – Nizza entdeckt den neuen Nahverkehr; Straßenbahn- Magazin 9/2001; VOGT, Heinz: Straßenbahngelenktrieb- wagen für Nantes; stadtverkehr 11/12-1984 und AMTUIR: Le renouveau du tramway en France; http://www.cnam.fr/hebergement/amtuir/a_renouv.htm

38 ÖPNV in Frankreich

Stadt Linie Streckenverlauf Länge [km] Stationen Bordeaux A Saint Augustin – Lauriers / La Morlette 12,8 26 B Bougnard – Quinconces 08,8 20 C Gare St-Jean – Quinconces 02,9 07 Σ 24,5 50 Grenoble A Fontaine La Poya – Échirolles Denis Papin 12,7 29 B Cité Internationale – Plaine des Sports 08,8 21 C Seyssins – Condillac 09,3 19 Σ 29,2 60 Lille R Gare Lille Flandres – Roubaix 10,9 23 T Gare Lille Flandres – Tourcoing 11,5 22 Σ 18,6 36 Lyon 1 Montrochet – IUT Feysinne 09,7 22 2 Perrache – Bel Air 14,8 29 Σ 23,9 50 Montpellier 1 Mosson – Odysseum 15,2 28 Mülhausen 1 Gare Centrale – Rattachement 09 2 Coteaux – Nouveau Bassin 14 Σ 11,5 22 Nantes 1 Beaujoire – François Mitterrand 16,5 32 2 Orvault Grand Val – Neustrie 16,2 33 3 Sillon de Bretagne – Hôtel Dieu 06,9 17 Σ 39,1 79 Orléans 1 Fleury, Jules Verne – Hôpital de la Source 17,9 24 Paris T1 Noisy-le-Sec – St-Denis 12,0 26 T2 Issy Val de Seine – La Défense 11,3 13 Σ 23,3 39 Rouen M Boulingrin – Georges Braque / Technopolôle 15,1 31 Saint-Étienne 4 Solaure – Hôpital Nord 09,3 30 Straßburg A Hautepierre – Illkirch Lixembuhl 12,6 22 D Rotonde – Etoile Polygone 03,9 08 B Elsau – Hoenheim Gare 10,2 20 C Elsau – Esplanade 05,7 13 Σ 24,5 46 Valenciennes 1 Dutemple – Université 09,5 19

Tab. 7: Straßenbahnlinien in Frankreich38

38 Stand Oktober 2006; die Summe bezieht sich auf die Streckennetzlänge und die Anzahl der Haltestellen im Gesamtnetz und weicht daher evt. von der Gesamtlinienlänge ab. 39 ÖPNV in Frankreich

hingegen entschied sich für eine Straßenbahn, welche die Innenstadt oberirdisch zentral durchquert. Wie schon zuvor in Grenoble wurde hier die Straßenbahn als Teil eines Ge- samtprojektes zur Revitalisierung der Innen- stadt und zur Stadtverschönerung gesehen. Nirgends zuvor wurden allerdings diese Pla- nungsmaximen, die Straßenbahn als Gesamt- kunstwerk, so konsequent umgesetzt wie hier. Der Erfolg, sowohl in verkehrlicher als auch in ökonomischer und stadtgestalterischer Hin-

sicht, gab dem Planungsleitfaden recht. Hin- Abb. 19: Nantes – Das erste neue System Frank- sichtlich der Neueinführung von Straßenbahn- reichs ist eine leistungsfähige Stadtbahn systemen gilt Straßburg bis heute zu Recht als richtungsweisendes Projekt. Der große Erfolg von Straßburg ermutigte dann endgültig weitere Städte, Straßenbahnen ein- zuführen. Damit gibt es inzwischen eine dritte Entwicklungsstufe. Ganz klar werden heute die Zielsetzungen der Revitalisierung von Innen- städten sowie der Herausdrängung des Auto- verkehrs aus den Zentren als integraler Be- standteil der Straßenbahnplanungen verstan- den. Interessanterweise dauerte es nach der Eröffnung des Straßburger Systems sechs Jahre, bis weitere neue Systeme folgten, dafür Abb. 20: Auch in Paris, genauer gesagt in dessen dann aber gleich mehrere auf einmal: Im Jahre Vorstädten, fahren heute wieder Straßenbahnen 2000 Lyon, Orléans und Montpellier. Nach Bau- verzögerung folgte Ende 2003 Bordeaux. Diese Systeme wurden alle nach der Begutachtung des Straßburger Erfolges planerisch forciert. Dass diese Systeme alle fast gleichzeitig in Betrieb gingen, hängt ferner damit zusammen, dass zwischen 1995 und 2001 genau eine Legislaturperiode der städtischen Vertretungen lag. Im Wahlkampf 1995 konnte das Modell Straßburg als nachahmenswertes Beispiel pro- pagiert werden, anschließend begannen die Städte bei entsprechendem Wahlausgang auch 39 unmittelbar mit der Realisierung. 2006 folgt- en wiederum sechs Jahre später Valenciennes Abb. 21: Rouen – Die stellenweise kreuzungsfrei trassierte und deshalb Métro genannte Bahn ist und Mülhausen. Frankreichs stadtbahnartigste Straßenbahn

Der Erfolg der Ersteinführer mit deren neuen 39 Die steigende Popularität der Straßenbahn in Straßenbahnsystemen führte zur zweiten Ent- politischen Kreisen lässt sich an griffigen Schlüsselthesen wicklungsstufe, in der weitere Städte nach lan- festmachen. So galt lange die Maxime, es sei noch nie ein gen Diskussionen endgültig für neue Straßen- Bürgermeister abgewählt worden, der seiner Stadt ein neues Straßenbahnsystem beschert hatte. Seit den bahnen votierten. Zwei neue Netze kamen so Kommunalwahlen 2001 ist diese Feststellung allerdings im Jahre 1994 hinzu. In Rouen wurde eine fast nicht mehr gültig, kam es in diesen doch zum Wechsel klassische Stadtbahnstrecke mit unterirdischer der politischen Mehrheiten u.a. in Straßburg und Lyon. Führung in der Innenstadt eröffnet. Straßburg Nach HONDIUS, Harry: Translohr – eine gummibereifte Straßenbahn?; stadtverkehr 10/2000

40 ÖPNV in Frankreich

Abb. 22: Straßburg – Die charakteristische, zentrale Haltestelle Homme de Fer

Abb. 23: Grenoble – Modellprojekt für die Einführung eines neuen Straßenbahnsystems in einen historischen Stadtkern

41 ÖPNV in Frankreich

1.3.4 Netzentwicklung Jahr Länge Stationen Neu eröffnete [km] 41 Systeme Nach Abschluss der Stilllegungsaktivitäten um- fassten die drei verbliebenen Straßenbahnbe- vor 27,0 67 triebe Frankreichs im Jahre 1983 vier Linien 1983 und eine Streckennetzlänge von insgesamt 1983 1,5 3 rund 27 km (vgl. Tab. 9). Seitdem wuchs die 1984 - - Netzlänge durch die neu errichteten Systeme bis Ende 2005 auf über 200 km Streckenlänge 1985 10,6 22 Nantes an (vgl. Tab. 10). 1986 - - Zwischen 1980 und 2001 wurden weltweit 37 1987 8,8 21 Grenoble 40 neue Straßenbahnsysteme eingeführt. Davon 1988 - - entfallen fünfzehn auf Nordamerika, acht auf Frankreich und zehn auf das sonstige West- 1989 2,0 2 europa. Frankreich ist damit zusammen mit 1990 3,9 9 den Vereinigten Staaten in der Realisierung 1991 2,3 5 neuer Systeme klar führend (vgl. Abb. 25). 1992 15,1 36 Paris/Bobigny Die Bauleistung pro Jahr zeigt sich sehr unter- 1993 3,7 7 schiedlich. Gegenüber den achtziger Jahren ist während der neunziger Jahre eine deutliche 1994 25,2 48 Straßburg, Zunahme der Länge neu erbauter Strecken zu Rouen erkennen. Den größten Zuwachs brachte das 1995 - - Jahr 2000, in dem über 70 km Neubaustrecke 1996 3,4 7 hinzukamen, also fast ein Drittel aller im Jahre 2006 in Frankreich vorhandenen Straßenbahn- 1997 16,0 23 Paris/Val de Seine strecken. 1998 2,8 5 1999 0,7 1 2000 70,7 129 Montpellier, Orléans, Lyon 2001 0,5 1 2002 - - 2003 17,3 34 Bordeaux 2004 14,0 32 2005 7,3 12 Σ 232,7 464

Abb. 24: Die reine Bauzeit neuer Straßenbahn- Tab. 8: Streckenlängenentwicklung der Straßen- strecken dauert selten länger als anderthalb Jahre bahnstrecken – auf der 1999 im Bau befindlichen zweiten Straß- burger Stammstrecke fahren heute die Linien B/C

41 Stationen, welche durch mehrere Linien im Zuge der selben Gleistrasse bedient werden, sind einfach gezählt; Verknüpfungsstationen mit separaten Haltestellenteilen dagegen mehrfach (z.B. Nantes: Station Commerce mit

separaten Abfahrtstellen der Linien 1 und 2/3; Straßburg: 40 LITRA: Weltweite Renaissance des ; Station Homme de Fer mit separaten Abfahrtsstellen der Pressedienst Nr. 6/99-2; eigene Ergänzungen Linien A/D und B/C).

42 ÖPNV in Frankreich

Stadt Linie Strecke Eröffnung Länge Halte [km] Saint-Étienne 4 Bellevue – Terrasse 1881 5,5 22 Marseille 68 Noailles – Saint-Pierre 1903 3,0 9 Lille R Lille – Croisé Laroche – Roubaix 1909 18,5 36 T Lille – Croisé Laroche – Tourcoing

Tab. 9: Straßenbahnstrecken in Frankreich, Ende 1982

Welt Frankreich

40 35 30 25 20 15 10 5 0

Abb. 25: Neue Straßenbahnsysteme weltweit seit 1980

220

200

180

160

140

120

100

80

60

40

20

0

Abb. 26: Entwicklung der Straßenbahnstrecken in Frankreich [km] 43 ÖPNV in Frankreich

Stadt Linie Strecke Eröffnung Länge Halte [km] Saint-Étienne 4 Bellevue – Solaure 17.02.1983 1,5 3 Nantes 1 Bellevue – Haluchère 07.01.1985 10,6 22 Grenoble A Gares – Grand’Place (Vorlaufbetrieb) 01.08.1987 8,8 14 A Gares –Louis Maissonat 05.09.1987 4 A Louis Maissonat – Fontaine La Poya 01.01.1988 3 Nantes 1 Haluchère – Beaujoire 22.04.1989 2,0 2 Grenoble B Hubert Dubedout – Universités 24.11.1990 3,9 9 Saint-Étienne 4 Terasse – Hôpital Nord 07.12.1991 2,3 5 Paris T1 Bobigny – La Courneuve 8 Mai 1945 06.07.1992 9,1 10 T1 La Courneuve 8 Mai 1945 – Saint-Denis 18.12.1992 11 Nantes 2 Trocardière – Commerce 08.09.1992 6,0 14 2 Commerce – 50 Otages 18.10.1992 1 2 50 Otages – Ecole Centrale 06.09.1993 3,7 7 2 Ecole Centrale – Bourgeonnière 14.03.1994 4,5 2 2 Bourgeonnière – Orvault Grand Val 29.08.1994 6 Straßburg A Hautepierre – Baggersee 25.11.1994 9,8 18 Rouen M Boulingrin – Georges Braque/Sotteville 17.12.1994 10,9 22 Grenoble A Grand’Place – Delaune 11.03.1996 3,4 7 Paris T2 Issy Val de Seine – La Defénse 01.07.1997 11,3 13 Rouen M Hôtel de Ville Sotteville – Technopôle 01.09.1997 4,2 8 M Station Palais de Justice 01.09.1997 - 1 Grenoble A Delaune – Échirolles Denis Papin 02.12.1997 0,5 1 Straßburg A Baggersee – Illkirch Lixembuhl 04.07.1998 2,8 4 D Station Etoile Polygone 31.08.1998 - 1 Grenoble B St-Bruno – Firmin Gautier 01.11.1999 0,7 1 Nantes 1 La Croix-Bonneau – Mendès France 17.04.2000 1,8 3 Montpellier 1 Mosson – Odyssum 03.07.2000 15,2 25 Nantes 1 Mendès France – Francois Mitterand 28.08.2000 3,5 7 3 Commerce – Plaisance 28.08.2000 4,1 10 Straßburg B/C Elsau – Hoenheim Gare/Esplanade 01.09.2000 11,9 24 Orléans 1 Fleury, Jules Verne – La Source, CHRO 20.11.2000 17,9 24 Lyon 1/2 Perrache – IUT Feysinne/ Porte des Alpes 22.12.2000 17,7 38 Grenoble B Firmin Gautier – Europole 02.03.2001 0,5 1 Lyon 2 Porte des Alpes – Bel Air 27.10.2003 4,7 9 Paris T1 Bobigny – Noisy-le-Sec 15.12.2003 2,9 5 Bordeaux A Mériadeck – Lormont/Cenon 21.12.2003 9,6 20 Nantes 3 Plaisance – Sillon de Bretagne 05.04.2004 2,3 5 Bordeaux C Quinconces – Gare Saint-Jean 24.04.2004 2,9 7 Bordeaux B Quinconces – Bougnard 03.07.2004 8,8 20 Nantes 2 Trocardière – Neustrie 29.08.2005 2,2 3 Lyon 1 Perrache – Montrochet 06.09.2005 1,5 3 Bordeaux A Mériadeck – Saint-Augustin 26.09.2005 3,2 6

Tab. 10: Straßenbahnstreckeneröffnungen 1983 bis 2005

44 ÖPNV in Frankreich

Zu den Straßenbahnen kamen, die Pariser Erweiterungen sowie eine völlig neue Linie mit Metro ausgenommen, seit 1977 25 Streckener- insgesamt rund 30 km Länge in Betrieb. Auch öffnungen in den Metro- und VAL-Netzen. In die Pariser Metro wurde während der Nach- Paris gingen zwischen 1970 und 1998 zwanzig kriegszeit von 1952 bis 1970 nicht erweitert.

Stadt Linie Strecke Eröffnung Länge Halte [km] Marseille 1 La Rose – St-Charles 26.11.1977 6,3 8 1 St-Charles – Castellane 11.03.1978 3,0 4 Lyon A Perrache – Laurent-Bonnevay 02.05.1978 8,1 13 B Charpennes – Part Dieu 02.05.1978 1,3 3 C Hôtel de Ville – Croix-Rousse 02.05.1978 0,9 3 B Part Dieu – Jaen Macé 14.09.1981 2,4 3 Marseille 2 Castellane – Joliette 03.03.1984 3,3 6 Lyon C Croix-Rousse – Cuire 08.12.1984 1,5 2 Marseille 2 Castellane – St-Marguerite Dromel 01.02.1986 5,6 3 2 Joliette – Bougainville 14.02.1986 3 Lyon D Gorge de Loup – Grange-Blanche 03.09.1991 6,6 9 Marseille 1 Castellane – La Timone 15.07.1992 1,1 2 Lyon D Grange-Blanche – Gare de Vénnisieux 15.12.1992 4,7 4 D Gorge de Loup – Gare de Vaise 28.04.1997 1,7 2 B Jean Macé – Gerland 04.09.2000 2,4 3 Σ 48,968

Tab. 11: Metrostreckeneröffnungen 1977 bis 2005, ohne Paris

Stadt Linie Strecke Eröffnung Länge Halte [km] Lille 1 Quatre Cantons – Republique 25.04.1983 9,0 13 1 Republique – Calmette 02.05.1984 4,3 5 2 Gare Lille Flandres – St-Philibert 03.04.1989 12,1 18 Paris OV42 Anthony – Orly 01.10.1991 7,2 4 Toulouse A Jolimont – Basso Cambo 26.06.1993 10,0 15 Lille 2 Gare Lille Flandres – Gare Lille Europe 05.05.1994 0,7 1 2 Gare Lille Europe – Fort de Mons 17.03.1995 3,1 4 2 Fort de Mons – Tourcoing Centre 18.08.1999 13,0 16 2 Tourcoing Centre – C.H.Dron 28.10.2000 4,5 5 Rennes A J.F. Kennedy – La Poterie 16.03.2002 8,6 15 Toulouse A Jolimont – Balma-Gramont 20.12.2005 2,3 3 Σ 74,899

Tab. 12: VAL-Eröffnungen 1977 bis 2005

42 Orlyval, Zubringer von der S-Bahn zum Flughafen Orly

45 ÖPNV in Frankreich

Linie Strecke Eröffnung Länge Halte [km] 8 Charenton-Ecoles – Maisons-Alfort Stade 19.09.1970 1,2 2 3 Gambetta – Gallieni 02.04.1971 1,0 2 8 Maison-Alfort Stade – Maison-Alfort Les Juilliottes 27.04.1972 0,6 1 13 Saint-Lazare – Miromesnil 27.06.1973 0,8 1 8 Maison-Alfort Les Juilliottes – Créteil l’Échat 24.09.1973 0,6 1 8 Créteil l’Échat – Créteil Préfecture 10.09.1974 1,2 2 13 Miromesnil – Champs-Elysées Clemenceau 18.02.1975 0,8 1 13 Carrefour Pleyel – Saint-Denis Basilique 20.05.1976 1,6 2 13 Champs-Elysées Clemenceau – Invalides 09.11.1976 0,8 1 13 Porte de Vanves – Châtillon-Montrouge 09.11.1976 2,3 3 7 Porte de la Vilette – Fort d’Aubervilliers 04.10.1979 1,1 2 13 Porte de Clichy – Gabriel Péri Asnières-Gennevilliers 09.05.1980 1,6 2 10 Porte d’Auteuil – Boulogne Jean Jaurès 03.10.1980 0,5 1 10 Boulogne Jean Jaurès – Boulogne Pont de Saint-Cloud 02.10.1981 0,5 1 7 Maison Blanche – Le Kremlin Bicêtre 10.12.1982 0,6 1 7 Le Kremlin Bicêtre – Villejuif Luis Aragon 28.02.1985 1,7 3 5 Eglise de Pantin – Bobigny Pablo Picasso 25.04.1985 1,4 2 7 Fort d’Aubervilliers – La Courneuve 06.05.1987 0,6 1 1 Pont de Neuilly – La Défense 01.04.1992 1,4 2 13 Saint-Denis Basilique – Université de Saint-Denis 25.05.1998 0,8 1 14 Madeleine – Bibliothèque Francois Mitterand 15.10.1998 7,0 7 14 Madeleine – St-Lazare 16.12.2003 0,8 1 Σ 28,9 40

Tab. 13: Metrostreckeneröffnungen in Paris 1970 bis 200543

43 Die Angabe der Streckenlängen wurde, da nur Angaben zur gesamten Linienlänge vorlagen, aus den durchschnitt- lichen Haltestellenabständen einer Linie ermittelt. Da die meisten Strecken im Außenbereich liegen, dürfte die tatsächliche Streckenlänge geringfügig größer sein.

46 ÖPNV in Frankreich

Straßenbahn Metro VAL

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Abb. 27: Neue kommunale Schienenstrecken in Frankreich44

Die Bauleistung kommunaler Schienenstrecken in Deutschland noch bis 1987 in einem in französischen Städten ist damit beachtlich. Schrumpfprozess. So fand die erste Phase der Insbesondere durch die große Zahl völlig neu Wiedereinführung der Straßenbahn in Frank- eingeführter Systeme haben die Projekte eine reich in einem Zeitraum statt, in dem in überaus große Außenwirkung. Ohne RER-S- Deutschland sogar noch bedeutende Straßen- Bahn in Paris wurden in den Jahren 1970 bis bahnsysteme vollständig stillgelegt wurden, so 2005 insgesamt über 370 km Schienenstrecke 1982 in Recklinghausen (Vestische Straßen- in den Städten neu gebaut. Gut die Hälfte bahn) und Bremerhaven, 1984 in Kiel sowie davon entfallen auf Straßenbahnstrecken, der schließlich 1987 in Wuppertal. Rest auf Metros. Die durchschnittliche jährliche Seit 1987 ist in Deutschland die Länge der Bauleistung liegt seit 1970 bei rund elf jährlichen Neubaustrecken größer als die der Streckenkilometern. Dabei ist eine klar steigen- Stilllegungen. Diese Umkehrung fußt in gewis- de Tendenz ersichtlich. In den neunziger Jah- sem Maße auf einer höheren Bauleistung von ren lag der jährliche Zuwachs bei rund 13 Kilo- Neubaustrecken, insbesondere aber auch auf metern pro Jahr. einem deutlich zurückgefahrenen Stilllegungs- Trotzdem ist im binationalen Vergleich die prozess. Der Bau neuer Strecken hat gegen- Bauleistung in Deutschland nach wie vor deut- über der Ersetzung bestehender Führungen lich höher als in Frankreich.45 Alleine in den Vorrang gewonnen. Insgesamt summieren sich alten Bundesländern lag sie in den achtziger Stilllegungen und Neubaustrecken zwischen Jahren bei durchschnittlich gut 18 km pro Jahr, 1982 und 1999 in den alten Bundesländern zu in den neunziger Jahren waren es bereits gut einem Plus von 98,4 km. In den neuen Län- 24 km (vgl. Abb. 28). Freilich muss hierbei dern wuchsen die städtischen Schienennetze berücksichtigt werden, dass im gleichen zwischen 1989 und 1999 um 49,1 Streckenkilo- Zeitraum im Gegensatz zu Frankreich auch meter46. Dies macht zusammen 147,5 km Schienenstrecken stillgelegt wurden. Dadurch Streckenzuwachs. Die Länge der Neubaustrec- befanden sich die kommunalen Schienennetze ken liegt allein zwischen 1982 und 1999 bei 483,7 km, also knapp ein Drittel mehr als in 44 ohne RER Paris (S-Bahn) Frankreich zwischen 1970 und 2001. 45 eigene Untersuchung, Datengrundlage sind die detail- lierten Streckenstatistiken aus: ROGGENKAMP, Helmut: Jahrbuch Schienenverkehr; Verlag Kenning; 1982-1999 46 74,9 km Neubaustrecken und 25,8 km Stilllegungen

47 ÖPNV in Frankreich

Neubaustrecken Neutrassierung bestehender Strecken

40

35

30

25

20

15

10

5

0 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999

Abb. 28: Neue kommunale Schienenstrecken in Deutschland47

Ersatzlose Stilllegung Ersatz durch Neutrassierung

40

35

30

25

20

15

10

5

0 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999

Abb. 29: Stilllgelegte kommunale Strecken in Deutschland48

47 in [km], zwischen 1982 und 1999, alte Bundesländer

48 ÖPNV in Frankreich

Stilllegungen Neueröffnung

40 35 30 25 20 15 10 5 0 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999

Abb. 30: Verhältnis von Stilllegungen und Neueröffnungen in Deutschland49

48 in [km], zwischen 1982 und 1999, alte Bundesländer 49 zwischen 1982 und 1999, alte Bundesländer

49 ÖPNV in Frankreich

1.3.5 Bauzeiten Beachtlich erscheinen aus deutscher Sicht oft die kurzen Zeiträume der Verwirklichung fran- zösischer Infrastrukturprojekte insbesondere im Bezug auf den Bau von Straßenbahnsyste- men.50 Nach der Verabschiedung von Grundsatzbeschlüssen der Aufgabenträger lie- ßen sich die meisten Projekte der jüngeren Vergangenheit in einem sehr kurzen Zeitrah- men von meist rund fünf Jahren durchführen. So benötigte Lyon nur vier Jahre Zeit, um nach einem Grundsatzbeschluss zwei Straßenbahnli- nien mit zusammen knapp 20 km Strecken- länge zu eröffnen. Die absoluten Bauzeiten in- Abb. 31: Straßenbahn Montpellier klusive Vorarbeiten und Unterbrechungen lie- gen bei den rein oberirdisch verlaufenden Net- zen meist bei rund zwei Jahren. Der Zeitraum von meist rund fünf Jahren zur Verwirklichung der meisten neueren Straßen- bahnprojekte lässt sich daneben aus politischer Hinsicht einfach erklären. In Frankreich umfas- sen die Legislaturperioden städtischer Vertre- tungen sechs Jahre. Angestrebt wird in aller Regel, bei der Neueinführung eines städtischen Verkehrsmittels dieses möglichst direkt nach Beginn der Legislaturperiode zu beschließen und bis zum Ende auch fertig zu stellen. Ziel ist es, nach baustellenbedingten Einschränkungen den Bürgern noch während der laufenden Le-

gislaturperiode ein Ergebnis präsentieren zu Abb. 32: Straßenbahn Lyon können, um die Chance einer Wiederwahl zu erhöhen.

1.3.6 Gescheiterte Projekte So erstaunlich sich die Wiedereinführung des Verkehrssystems Straßenbahn in Frankreich oftmals annimmt: Mehrere gescheiterte Pro- jekte zeugen davon, wie schwierig der Prozess letztendlich doch war. Als Beispiel seien ge- nannt Brest, wo eine Volksabstimmung am 14. Oktober 1990 das dortige Straßenbahnprojekt

50 Gemeint ist hier der Zeitraum zwischen Baubeschluss und Eröffnung. Natürlich ist auch Frankreich nicht vor sehr langen vorlaufenden Diskussionsphasen gefeit. Diese Prozesse sind selbst für französische Beobachter meist nur schwer durchschaubar. Vor festen Entschei- dungen kann kaum eine seriöse Aussage darüber getrof- Abb. 33: Straßenbahn Orléans fen werden, wohin der Entscheidungsprozess führt. Oft verlaufen die Diskussionen kontrovers bis zur Entschei- dung und dauern mitunter Jahrzehnte, so etwa in Straß- burg oder Bordeaux.

50 ÖPNV in Frankreich

Stadt Entwurf Beschluss52 DUP Baubeginn Eröffnung Grenoble 1979 1983 3/1985 8/1987 Lyon 1996 11/1996 9/1998 4/1999 12/2000 Montpellier 7/1995 5/1997 4/ 1998 6/2000 Nantes 1974 1980 11/1981 1/1982 1/1985 Orleans 10/1992 5/1995 6/1998 7/1998 9/2000 Paris/Bobigny 1981 4/ 1984 7/1988 5/1990 7/1992 Rouen 1986 1988 11/1991 12/1994 Straßburg 1973 6/1989 6/1991 6/1991 10/1994

Tab. 14: Straßenbahnprojekte und ihre zeitliche Realisierung zu Fall brachte, sowie Reims, wo 1986 das genüber, später wurde in vielen Städten zwi- Projekt im letzten Moment kurz vor der Ver- schen den Alternativen einer konventionellen tragsunterzeichnung politisch gestoppt wurde. Straßenbahn sowie spurgeführten Bussyste- Hier sollte schon 1989 Betriebsaufnahme sein, men diskutiert. Interessant ist dabei eine die Planungen waren sehr weit fortgeschrit- durchaus feststellbare politische Lagerbildung. ten.51 Während die französische Linke meist Stahl- rad-Straßenbahnen favorisiert, tendiert die Weiterhin wurde auch der Ausbau der neuein- Rechte eher zur VAL sowie den spurgeführten geführten Netze nicht überall sofort im ur- Bussystemen.53 Pikant wird dies bei Betrach- sprünglich geplanten Maße durchgeführt: In tung der Argumentationen zu den Vorteilen der Nantes wurde die geplante Linie 2 zunächst ad verschiedenen Betriebsmodi. Viele der gegen- acta gelegt und als Buskorridor ausgebaut. über der Straßenbahn weitaus kostenintensi- Rouen richtete auf einer ursprünglich für die veren VAL zugewandten Kreise favorisieren auf Straßenbahn konzipierten zweiten Achse ein der anderen Seite Bussysteme gegenüber der Bussystem auf Eigentrasse ein. Nantes hat in- Straßenbahn gerade aufgrund des Kostenar- zwischen seine Linie 2 doch noch realisiert, in gumentes. Beobachter verweisen daher dar- Rouen ist dagegen eine Erweiterung des Stra- auf, dass die Ablehnung konventioneller Stra- ßenbahnbetriebes auf absehbare Zeit nicht ßenbahnen aus diversen Kreisen nicht zuletzt mehr geplant. vorwiegend auf der Befürchtung von zu großen Auch können kurze Realisierungszeiten vieler Einschränkungen für den Kraftfahrzeugverkehr neuer Systeme nicht darüber hinweg täuschen, herrühren. Die VAL-Metros stören aufgrund das die Erstlinge teilweise mehrere Jahrzehnte ihrer unabhängigen Führung den Oberflächen- Diskussions- und Planungsphase beanspruch- verkehr nicht, geführte Bussysteme verpflich- ten. In vielen Städten war die Einführung eines öffentlichen Massenverkehrsmittels nicht zu- letzt schon aus ökonomischer Hinsicht im Grunde unumstritten. Oftmals ergaben sich je- 53 So stellte die Grundsatzdiskussion zwischen Metro und doch lange Verzögerungen aus Diskussionen Tram die Hauptthematik der Kommunalwahlen von 1989 um die Wahl des Betriebsmodus. Zunächst in Straßburg dar. In Nantes führte die Wahl eines neuen standen sich meist die konventionelle Straßen- rechten Bürgermeisters während der Bauphase der ersten bahn und die VAL-Metro als Konkurrenten ge- Straßenbahnlinie beinahe zum Abbruch der Arbeiten, gleichzeitig wurde von der Realisierung der vormals geplanten Linie 2 vorerst abgesehen – um dann nach erneutem politischen Wechsel fünf Jahre später doch durchgeführt zu werden. 2001 ging es in Orléans um den 51 vgl. hierzu HUGO, Wolfgang O.: Renaissance de weiteren Straßenbahnausbau contra der Einführung eines Straßenbahn in Frankreich; stadtverkehr 4/1994 und ergänzenden Bussystems. In Le Mans brachte die Rechte TUR: Das Reimser Straßenbahnvorhaben; stadtverkehr trotz der geringen Stadtgröße von weniger als 200.000 10/1986 Einwohnern zur Kommunalwahl von 1989 das Projekt 52 grundsätzliche Absichtserklärung zur Realisierung des einer Metro zur Diskussion. Diese Aufzählung ließe sich Systems durch die entsprechenden städtischen Gremien fortsetzen.

51 ÖPNV in Frankreich ten auf der anderen Seite meist nur in gerin- Gründe dies erfordern. Möglich ist sowohl ein gerem Maße zur Anlage von Eigentrassen. elektrischer als auch ein Dieselbetrieb. Wird auf ganzer Strecke von einer Spurführung Als Beispiele für Städte, die sich lange nicht Gebrauch gemacht, so kann die elektrische zwischen der Systemfrage VAL oder Straßen- Energie über eine Einfachfahrleitung sowie die bahn entscheiden konnten, sind die Städte Führungsschiene zugeführt werden, ansonsten Bordeaux und Toulouse zu nennen. Als viert- ist eine zweipolige Trolleybusfahrleitung erfor- bzw. fünftgrößter Ballungsraum Frankreichs derlich. Im Unterschied dazu setzt das zweite erscheinen beide seit den siebziger Jahren für System, die Bauart Translohr der Lohr-Gruppe, die Einführung spurgeführter innerstädtischer auf eine durchgehende Spurführung. Auch Massenverkehrsmittel prädestiniert. Toulouse wird hier ein modifiziertes Führungsprinzip ein- konnte seine VAL-Metro jedoch erst 1994 in gesetzt, wobei zwei zueinander in V-Form ste- Betrieb nehmen, in Bordeaux wurde die Stra- hende Räder mit je einem Spurkranz diagonal ßenbahn gar erst im Jahre 2003 eröffnet. Auch von beiden Seiten die Leitschiene umklam- basieren erste Entscheidungen zur Wiederein- mern. Das dreiteilige Translohr-Fahrzeug ist 32 führung der Straßenbahn in Straßburg aus m lang und 2,20 m breit. Es fasst 150 Perso- dem Jahre 1973, das System konnte aber erst nen und ist im Gegensatz zum GLT sowohl für über zwanzig Jahre später 1994 eröffnet wer- den Zweirichtungs- als auch den Traktionsbe- den, nachdem zwischenzeitlich ein VAL-Projekt trieb ausgelegt. verfolgt und schließlich verworfen wurde.

1.3.7 Die Tramways sur Pneus Ebenso wie die VAL-Metros sind die Tramways sur pneus (TSP) ein für Frankreich charakteris- tisches Verkehrssystem. Die TSP stellen ein System zwischen herkömmlichen Bussen und Straßenbahnen dar. Sinngemäß könnte man sie sowohl als Straßenbahnen auf Gummireifen oder aber als spurgeführte Busbahnen be- zeichnen. Ob es sich bei den TSP um Straßen- bahnen im eigentlichen Sinne handelt, wird stellenweise kontrovers diskutiert. In Frank- reich werden die Systeme allgemein unter den Tramways mitbetrachtet. Abb. 34: GLT-Prototyp in Paris Die Fahrzeuge der TSP rollen wie Busse auf normalen Gummireifen. Über eine mittig lie- gende Schiene und von beiden Seiten in diese Schiene angreifende Führungsräder werden die Wagen spurgeführt. Dabei dienen die Füh- rungsräder nur der Spurführung, der Lastab- trag geschieht alleine durch die Gummireifen. Derzeit gibt es zwei Spielarten der TSP, die zu- einander nicht kompatibel sind. Das TVR/GLT- System54 von Bombardier kennt 24,48 m lange und 2,49 m lange Einrichtungs-Doppelgelenk- duobusse. Die Führungsräder besitzen beidsei- tig Spurkränze. Ein Wagen fasst 140 Passa- giere. Eine Grundüberlegung des GLT-Systems ist die Möglichkeit, die Fahrzeuge nur dort Abb. 35: Translohr-Prototyp auf der Teststrecke nahe Straßburg spurgeführt fahren zu lassen, wo verkehrliche

54 Train sur Voies Réservées/Guided Light Train

52 ÖPNV in Frankreich

Abb. 36: GLT in Nancy im Streckeneinsatz

Die Motivation beider Hersteller liegt in der sung im spurgeführten Betriebsmodus wurde Entwicklung eines Verkehrssystems, welches das System bereits mehrfach für längere Zeit- an die Qualitätsmerkmale einer Straßenbahn räume stillgelegt. Zum jetzigen Zeitpunkt heranreicht, jedoch zu günstigeren Kosten zu herrschen in den Abschnitten mit Spurführung verwirklichen ist und damit auch für kleinere Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 30 km/h, Städte interessant werden könnte. in den Kurven teilweise sogar auf 10 km/h.55 Das GLT-System steht inzwischen in zwei fran- In der normannischen Hauptstadt Caen fährt zösischen Städten im Einsatz. Erstanwender ist der GLT nach verzögerter Eröffnung am 15. die lothringische Stadt Nancy. Nach Diskussio- und Betriebsbeginn am 18. November 2002 nen u.a. über den Bau von Kabinenbahnen und auf ganzer Länge spurgeführt. Die in Nord- zwischenzeitlicher Einführung eines Trolley- Süd-Richtung verlaufende 15,7 km lange Linie busbetriebes wurde hier am 8. Dezember 2000 mit 34 Stationen verzweigt sich sowohl im eine erste Busbahnlinie eröffnet. Sie ist bei Norden als auch im Süden in jeweils zwei Stre- insgesamt 28 Haltestellen 11,4 km lang. In den ckenäste. Außenbereichen wird abschnittsweise auf Erster Einsatzort des Translohr ist die Stadt Spurführung und Oberleitung verzichtet. Er- Clermont-Ferrand in der Auvergne. Nach wähnenswert ist die Steilstrecke zum Kranken- langer Diskussion wollte man dort zwischen- haus mit einer Längsneigung von rund 130‰. zeitlich ein konventionelles Straßenbahnsystem Am 2. Januar 2001 begann in Nancy der Li- bauen, nicht zuletzt auf Interventionen des nienverkehr. Die Einführung der Busbahn war ortsansässigen und die Stadt prägenden Rei- dann allerdings von großen Pannen über- schattet. Nach mehreren schweren Unfällen und Betriebsstörungen sowohl im nicht spur- 55 geführten Betriebsmodus, bei der Einfädelung zur aktuellen Situation des GLT-Systems vgl. HON- DUIS, Harry: TVR – ein doppelgelenkiger Duobus als in die Spurführung sowie sogar durch Entglei- „Tram“ betrieben; stadtverkehr 10/2006

53 ÖPNV in Frankreich

Abb. 37: GLT in Caen – im Gegensatz zu Nancy wird hier auf ganzer Linie spurgeführt elektrisch gefahren fenherstellers Michelin wurde jedoch am 14. gen. Zum anderen schränkt es die maximale Dezember 2001 endgültig das System Trans- Fahrzeuglänge aufgrund der Bindung an ent- lohr gewählt. Die erste Linie mit 14 km Länge sprechende Vorschriften des Busbetriebes ein. und 30 Haltestellen folgt der städtischen Zuletzt wird auch immer wieder vermerkt, dass Hauptachse in Nord-Süd-Richtung. Ein erster sich der mögliche Verzicht auf eine Eigentrasse Abschnitt ging 2006 in Betrieb. im politischen Diskussionsprozess oft als Pfer- defuß herausstellt. Grundlegende Verminde- Aussagen über die weitere Entwicklung der rungen der Verkehrsfläche für den Kraftfahr- TSP-Systeme erscheinen derzeit kaum seriös zeugverkehr sind vielfach nicht durchsetzbar, zu treffen. Fest steht, dass das System GLT mit da es ja eben auch ohne Eigentrasse geht. Die seinen großen technischen Problemen in Nancy Zukunft wird zeigen, ob die TSP in ihrer Spiel- bisher nicht überzeugen konnte. Insbesondere art als auf gesamter Streckenlänge spurge- das Konzept des Duobetriebes wird inzwischen führte leichte Straßenbahnsysteme wie in Caen unter Experten als nicht zukunftsweisend be- und demnächst in Clermont-Ferrand eine Zu- trachtet.56 Zum einen erkauft es sich seine kunft haben. Hier wiederum nähert sich der Möglichkeit, auf einen durchgehenden Tras- Kostenaufwand zur Realisierung eines solchen senbau zunächst zu verzichten, durch unver- Systems aber wieder den Größenordnungen hältnismäßige betriebliche Erschwernisse ins- eines konventionellen, ausgereiften Straßen- besondere beim Wechsel des Betriebsmodus bahnbetriebes. sowie überteuren, deutlich über dem Preisni- veau von Straßenbahnen liegenden Fahrzeu- Die Konkurrenz zu Busbahnen umfasst auf der anderen Seite in Frankreich nicht nur Stahlrad- 56 vgl. hierzu DEUTSCH, Volker: Clermont-Ferrand ent- Straßenbahnsysteme, sondern auch hochwer- scheidet sich für Translohr; Der Nahverkehr 1-2/2002 tige Bussysteme mit optischer Spurführung.

54 ÖPNV in Frankreich

Diese bauen auf der berührungslosen Spur- direkt nach dem zweiten Weltkrieg noch zur führung durch Markierungen auf der Fahrbahn Bildung eines heute relativ dicht besiedelten und Erfassung derselben durch eine Kamera städtischen Raumes unmittelbar an die Kern- unter dem Fahrzeug auf. Ziel dieser Strategie städte angrenzend, nahm später die Zersiede- ist insbesondere ein spaltfreies Anfahren von lung immer mehr zu. Viele Vorortquartiere Haltestellen, aber auch die Möglichkeit, Bus- zeichnen sich durch eine mangelhafte städte- trassen mit geringerer Breite anlegen zu kön- bauliche Qualität aus. Eine Schaffung von Un- nen. In Betrieb im Fahrgasteinsatz sind solche terzentren im Außenbereich unterblieb. Da- Systeme bereits in Clermont-Ferrand auf der durch stieg gleichzeitig zur Umlandwanderung Léo-Linie (Ligne Expérimentale Est-Ouest) so- die Bedeutung der Kernstädte als Standort von wie in Rouen auf dem TEOR-System (Trans- Arbeitsplätzen und Handel weiter an. Inzwi- ports Est-Ouest de l’Agglomération Rouen- schen besitzen große Städte Einzugsgebiete naise). Die Strecke in Clermont-Ferrand soll von bis zu 100 km Durchmesser. Dadurch ver- voraussichtlich zum Horizont 2010 in eine stärken sich Überlastungserscheinungen im Translohr-Straßenbahn umgebaut werden. Straßennetz ganz erheblich, da das Pendler- aufkommen steigt und die Wege für Pendler 1.3.8 Tram-Trains zunehmend länger werden. Gleichzeitig steht Zu früheren Zeiten gab es in Frankreich eine in Frankreich von wenigen Ausnahmen abge- Vielzahl von Überland- und Vororteisenbahnen, sehen bisher kein mit deutschen Verhältnissen welche zwischen 1940 und 1960 fast alle ver- vergleichbarer Eisenbahnvorortverkehr zur schwunden sind. Heute wird die Aufwertung Verfügung. Die Erschließung der Vorortberei- von schienengebundenen Stadt-Umland-Ver- che durch den öffentlichen Nahverkehr erfolgte kehren nach langem Stillstand vielerorts ernst- bisher meist nur durch Busverkehre. Die vor- haft diskutiert. Vorbild ist das Regionalstadt- handenen Busnetze wuchsen dabei in den ver- bahnnetz von Karlsruhe. Als Oberbegriff für gangenen Jahrzehnten mit der Besiedelung mit geplante Bahnen, die sowohl auf vorhandenen und wurden immer wieder Stück für Stück er- Eisenbahnstrecken als auch über innerstädti- weitert. Dadurch finden sich heute häufig sche Straßenbahngleise fahren sollen, steht lange Linienläufe mit unstetiger Führung und der Begriff Tram-Train. Stellenweise werden zu langen Reisezeiten. Lange Zeit erstreckte unter diesem Sammelbegriff auch aufzuwer- sich der Ausbau der Infrastruktur für das öf- tende konventionelle Eisenbahnverkehre ver- fentliche Verkehrswesen in Frankreich vorwie- standen. gend auf den Eisenbahn-Hochgeschwindig- keitsverkehr sowie Straßenbahn- und U-Bahn- Die Motive einer Verbesserung der Vorortver- Systeme in den Ballungsräumen. Vorortver- kehre in Frankreich liegen vor allem in dem kehre wurden abgesehen vom S-Bahn-System während der letzten fünfzig Jahre zu beo- in Paris nicht gefördert. bachtenden Stadtumlandwanderungsprozess begründet. Verbunden mit der Motorisierung Dieser Entwicklung soll nun entgegengesteuert der Bevölkerung dehnten sich die Städte weit werden. 1999 richtete die Staatsbahn SNCF ein in die Peripherie aus. Zwar beherbergte 1990 neues Direktorium für periurbane Projekte ein. 29% der Gesamtfläche Frankreichs 76,4% der Dieses nennt inzwischen 14 Bauvorhaben in Gesamtbevölkerung, doch lässt sich in den neun Regionen, welche durch die Ausbauver- städtischen Räumen ein verstärkter Wande- träge zwischen Staat und Region für den Zeit- rungsprozess in das Umland feststellen. Bereits raum von 2000 bis 2006 abgedeckt sind (vgl. 1990 lebten 16% der französischen Bevölke- Tab. 15). Zu unterscheiden ist hier zwischen rung in der äußeren Randzone von Ballungs- Zweisystem-Stadtbahnen nach Karlsruher räumen. 60,7% befanden sich in den eigentli- Muster und aufgewerteten Eisenbahnverkeh- chen Kernstädten und direkten Vororten.57 ren. Die Eisenbahnprojekte umfassen sowohl Führte die erste Phase der Umlandwanderung Vorortverkehre mit leichten Fahrzeugen als auch konventionelle S-Bahn-Systeme.

57 DEGAND, Jean-Claude: Die periurbane Herausforde- rung für die städtischen Verkehrsnetze; Der öffentliche Nahverkehr in der Welt 6/2000

55 ÖPNV in Frankreich

Abb. 38: Keine Zweisystemstadtbahn, aber Tram-Train im weitesten Sinne – Straßenbahn auf umgewidmeter Eisenbahntrasse in Paris

Für das Verkehrssystem Zweisystem-Stadtbahn Stadt Projekt Kosten58 wird in Frankreich von etwa 30 bis 40 m lan- gen traktionsfähigen Zügen ausgegangen, die Bondy Zweisystem-Stadtbahn 250 MF zumindest partiell einen niedrigen Boden besit- Sénart Straßenbahn 400 MF zen. Die Breite soll 2,40 m bis 2,65 m und die Grenoble Zweisystem-Stadtbahn 240 MF Höchstgeschwindigkeit 100 km/h betragen. Bezüglich der Einstiegshöhen und der Druck- Lyon Zweisystem-Eisenbahn 100 MF festigkeit muss ein Kompromiss zwischen Stra- Marseille S-Bahn 1667 MF ßenbahn und Eisenbahn gefunden werden, Mülhausen Zweisystem-Stadtbahn 745 MF bisher geht man bei letzterem von 600 kN als ausreichendem Maß aus. Je nach Einsatzbe- Nantes Eisenbahnvorortverkehr 45 MF reich ist eine Eignung für verschiedene Strom- Nizza S-Bahn 955 MF systeme notwendig. In Stadtnetzen handelt es Reims Eisenbahnvorortverkehr 350 MF sich meist um 750 V Gleichstrom, auf Eisen- bahnstrecken kommen in Frankreich sowohl La Rochelle Eisenbahnvorortverkehr 12 MF 1.500 V Gleichstrom als auch 25 kV/50 Hz Rouen S-Bahn 80 MF Wechselstrom zum Einsatz. St-Etienne Zweisystem-Eisenbahn 300 MF Straßburg Zweisystem-Stadtbahn 160 MF Eisenbahnvorortverkehr 890 MF Toulouse Eisenbahnvorortverkehr 350 MF

Tab. 15: Periurbane Projekte59

58 Preisstand 1999, in Mio FRF, nur Infrastruktur

56 ÖPNV in Frankreich

Auch wenn einige Straßenbahnbetriebe bereits Straßenbahn auf tangentiale Verkehrsbezie- bei der Verwendung von Schienenprofilen auf hungen. Beispiele sind neben den von vorne mögliche Zweisystemverkehre Rücksicht ge- herein tangential zur Kernstadt angelegten nommen haben, so ist doch nur ein geringes Straßenbahnstrecken in Paris die aktuellen Maß an Standardisierung vorhanden. Auch Vorhaben in Grenoble und Straßburg. Hier geht zeigt sich, da die ersten Projekte in die Reali- es jeweils darum, die innerstädtischen sierungsphase gehen, der hohe technische Straßenbahnlinien vom Durchgangsverkehr zu Aufwand und die damit verbundenen Kosten entlasten und Kapazitätsprobleme zu mindern. insbesondere bei Mehrsystemprojekten. Dazu Zielgebiete für die geplanten tangentialen Stre- kommt die ungeklärte Frage der Zuständig- cken sind in beiden Fällen größere Universi- keiten im Dunstkreis zwischen Aufgabenträ- tätskomplexe in städtischer Randlage. gern, städtischen Verkehrsbetrieben, Departe- Daneben wird die Straßenbahnlandschaft ments und französischer Staatsbahn. Ob es Frankreichs in den nächsten Jahren aber auch daher in Frankreich zu einem von mancher durch Neueröffnungen von Straßenbahnbetrie- Seite vermuteten Boom an Zweisystemstadt- ben in weiteren Städten ganz deutlich wach- bahnen tatsächlich kommen wird, darf zumin- sen. Damit ist abzusehen, dass in wenigen dest angezweifelt werden. Kritische Beobachter Jahren fast alle größeren Agglomerations- wie CHAINE sprechen von einer Modeerschei- räume wieder über spurgeführte Nahver- nung.60 Auch HONDIUS weist auf die vielfache kehrsmittel verfügen werden. Kurz vor der Zweifelhaftigkeit solcher Projekte aus ökono- Eröffnung oder bereits in der Phase der mischer Sicht hin.61 Dies darf aber nicht dar- Inbetriebnahme stehen neue Systeme in Le über hinwegtäuschen, dass im Eisenbahnvor- Mans und Nizza. Beschlossen wurde der Bau ortverkehr Frankreichs tatsächlich große Po- von Straßenbahnlinien in Angers, Reims und tenziale brach liegen. Die Frage dürfte eher Toulouse. Im fortgeschrittenen Entscheidungs- sein, ob in den meisten Fällen nicht die Einfüh- stadium über die Realisierung von Straßen- rung konventioneller Eisenbahnvorortverkehre bahnsystemen befinden sich die Städte Brest die günstigste Lösung darstellen wird. und Dijon.62 Weitere Städte diskutieren eben- falls, ohne sich dabei jedoch bereits in einer 1.3.9 Ausblick konkreten Projektphase zu befinden. Die in den letzten Jahren neu eröffneten Stra-

ßenbahnbetriebe verfolgen mit Ausnahme von Rouen alle weitere Ausbauplanungen mit un- terschiedlichem Realisierungsstand. Auch die alten Betriebe in Saint-Étienne und Marseille werden erweitert. Zu erwähnen ist, dass im Rahmen der laufenden Projekte verstärkt auch tangentiale Linienführungen verwirklicht wer- den. Die ersten Strecken der neuen Straßen- bahnnetze waren naturgemäß radial auf die Stadtzentren ausgerichtet. Inzwischen besitzen einige Städte jedoch bereits radiale Grund- netze und beginnen mit der Ausweitung der

59 DEGAND, Jean-Claude: Die periurbane Herausforde- rung für die städtischen Verkehrsnetze; Der öffentliche Nahverkehr in der Welt 6/2000 60 CHAINE, Hervé: Zweisystem Stadtbahn in Frankreich – Nur eine Modeerscheinung?; Der öffentliche Nahverkehr in der Welt 6/2000

61 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Nieder- und Mittelflur-Straßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 11- 62 vgl. hierzu GRONECK, Christoph: Chronik der französi- 12/2002 schen Straßenbahnen 2005; Straßenbahn-Jahrbuch 2005

57 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

58 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

59 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Grundsätzlich ähneln diese Argumente ver- 2.1 Vorbemerkungen kehrspolitischen Leitbildern, die hierzulande Alle neu eingeführten Straßenbahnsysteme bereits seit den siebziger Jahren umgesetzt Frankreichs zeichnen sich in ihrem Erschei- werden. Zu nennen sind die während der letz- nungsbild durch ähnliche Grundcharakteristi- ten vierzig Jahren in quasi allen deutschen ken aus. Dies ist vorwiegend darauf zurückzu- Groß- und Mittelstädten eingeführten Fußgän- führen, dass die Prozedur der Neueinrichtung gerzonen sowie der gleichzeitig erfolgte Aus- von Straßenbahnbetrieben nur wenige Schlüs- bau des öffentlichen Nahverkehrs, vielfach selpersonen kennt, deren Vorstellungen nach mittels hoher Investitionen in die Infrastruktur. den großen Erfolgen der ersten neu eingeführ- Die Art und Weise, wie Maßnahmen zur Stär- ten Systeme von den nachfolgenden Anwen- kung des öffentlichen Verkehrs und zur Auf- dern ebenfalls aufgegriffen und weiter verfei- wertung der Innenstädte in Deutschland und nert wurden. Als grundsätzliche Leitlinien der Frankreich durchgeführt wurden, unterschei- Straßenbahnplanungen können vier Bausteine den sich zwischen beiden Ländern allerdings angesehen werden: erheblich. Ein Hauptgrund dafür mag darin lie- gen, dass die Hinwendung in Richtung einer • Site propre mehr umweltorientierten städtischen Verkehrs- Schaffung von bevorrechtigten Eigentras- politik in Frankreich erst viel später stattfand sen, und somit neueren Leitbildern folgte. Die • Axes lourds Schaffung von Fußgängerzonen wurde bei Bündelung der Verkehrsströme auf Haupt- weitem nicht in vergleichbarem Umfang for- achsen, ciert und erst in den letzten Jahren vielfach im • Urbanisme Kontext mit den Straßenbahnplanungen ent- Zusammenführung von Straßenbahnbau deckt. und Stadtplanung, • Park+Ride zwischen den einzelnen Verkehrsmitteln des öffentlichen Restriktionen für den Kraftfahrzeugverkehr Personennahverkehrs. Die erste Straßenbahnlinie stellt in den Stadtzentren bei gleichzeitigem Aus- die neue Strukturachse des öffentlichen Verkehrsnetzes dar, an der sich das gesamte Restnetz ausrichten soll. bau von Parkmöglichkeiten an Straßen- Dabei verkehrt die Straßenbahn in dichtem Takt. Parallele bahnhaltestellen im Außenbereich. Busverkehre sind konsequent zu Zubringerdiensten um- zugestalten. Mit in diesen Hierarchisierungsgedanken Die Argumentation zur Wiedereinführung der einbezogen sind auch regionale Busverkehre sowie der neuen Systeme lesen sich danach auch in den nationale Eisenbahnverkehr. Dazu kommt die Verknüp- verschiedenen Städten ähnlich. Insgesamt las- fung des öffentlichen Verkehrsangebotes mit dem Auto- sen sich dabei drei Hauptgründe für den Bau verkehr. Mehrere Straßenbahnhaltestellen besitzen Park+Ride-Anlagen, es werden spezielle Kombitickets für neuer Straßenbahnnetze nennen: Die Möglich- das Parken und die Benutzung der Straßenbahn angebo- keit einer umfassenden Umstrukturierung des ten. öffentlichen Raumes mit dem Ziel, die Städte 2.) Verschönerung der Stadt: Der Bau der Straßenbahn insbesondere für Fußgänger attraktiver zu ma- bezieht die komplette Umgestaltung und städtebauliche chen, die Neuorientierung des Nahverkehrs- Aufwertung von Straßenzügen mit ein. Allein entlang der ersten Trasse wurden 2.000 Ölbäume gepflanzt und eine netzes mit dem Ziel, Autofahrten in die Innen- Vielzahl gestalterischer Detailmaßnahmen durchgeführt. städte zu reduzieren und die Minderung von Dazu kommen einige Schwerpunktbereiche mit beson- Umweltverschmutzungen in sensiblen Innen- deren gestalterischen Maßnahmen, sogenannten Oeuvres städten durch den Verkehr leiser und elektri- des Arts. Daneben bietet die Straßenbahn einen Ansatz- 63 punkt, bestehende Straßenausbauplanungen zu überden- scher Fahrzeuge. ken und gleichzeitig dem nicht motorisierten Verkehr mehr Platz zuzugestehen. 3.) Umweltschutz: Für die Luftverschmutzung in den Städten zeigt sich vorwiegend der individuelle Kraftfahr- 63 Charakteristisch dafür ist die Argumentation der Stadt zeugverkehr verantwortlich. In vielen französischen Montpellier zu den Gründen der Neueinführung ihrer Städten ist inzwischen der Grad der Luftverschmutzung Straßenbahn, singgemäß zitiert nach MONTPELLIER nicht mehr hinnehmbar. Die elektrisch betriebene Stra- DISTRICT: Le tramway; ßenbahn stellt eine ökologische Antwort auf dieses Prob- http://www.montpellier-district.com: lem dar, sie soll zu weniger Kraftfahrzeugverkehr im Bal- 1.) Restrukturierung des öffentlichen Personennahver- lungsraum führen. kehrs: Es besteht ein klarer Hierarchisierungsgedanke 60 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

insbesondere auf die Außenstrecken zu, als 2.2 Bauliche und Beispiel sei genannt der südliche Abschnitt der gestalterische Leitbilder Linie 1 in Orleans. 2.2.1 Systemcharakteristik Gleichfalls lässt sich bei der Einführung der neuen französischen Straßenbahnsysteme Der Unterschied zwischen deutschen Stadt- schon früh in den Innenstädten eine Hinwen- bahnkonzeptionen der letzten Jahrzehnte so- dung zu einer straßenbahnartigen Trassierung wie der neuen französischen Straßenbahnsys- erkennen.65 Initiator solcher Trassierungspara- teme liegt in den grundsätzlich verschiedenen meter war bereits das zweite neu eingeführte Planungsansätzen der eher technischen Be- Straßenbahnnetz in Grenoble. Dort werden auf trachtung hierzulande und der mehr städte- kürzeren Abschnitten Straßenräume durchfah- baulichen Betrachtung in Frankreich. ren, die eine Breite von weniger als 10 m Die Planungen zum Ausbau der Stadtbahn- aufweisen. Im Innenstadtbereich führt die dor- netze in Deutschland seit Ende der sechziger tige Straßenbahn durch teilweise neu Jahre sahen in den großen Ballungsräumen eingerichtete Fußgängerzonen. Diese Integra- sämtlich U-Bahn-ähnliche Betriebe vor, wobei tion der Straßenbahn in die Innenstädte wurde das Augenmerk auf einer möglichst weit sepa- bald als wesentlicher Konzeptionsgedanke der rierten Trassierung zur Erzielung von hohen neuen Systeme weiter forciert, was sich in der Fahrgeschwindigkeiten und eines konfliktar- baulichen Gestaltung der Anlagen, aber auch men Betriebes lag (vgl. Kap. 3.1). Vielfach in der Betriebsabwicklung niederschlug. wählte man daher beim Ausbau von Straßen- bahnstrecken die Tunnellage. Der städtebau- lichen Integration kommunaler Schienenstre- cken wurde dagegen nur eine geringe Bedeu- tung geschenkt. „Die Ausgestaltung der Anla- gen des ÖPNV im Straßenraum steht oft im Widerspruch zu städtebaulichen Anforderun- gen“, soweit eine Aussage des ILS64 noch aus dem Jahre 2001. Das erste neue französische Straßenbahnsys- tem von Nantes griff durchaus die deutschen 65 Bestrebungen beim Ausbau der Stadtbahn- Sehr gut lässt sich diese Hinwendung zur Straßenbahn in Nantes erkennen, wo das System seit bereits zwanzig netze zur Schaffung möglichst unabhängiger Jahren existiert und immer wieder erweitert wurde. Das Trassen auf. Die dortige Linie 1 weist längere erste Teilstück der ältesten Linie 1 weist nahezu aus- weitgehend unabhängig trassierte Stücke auf schließlich unabhängige und besondere Bahnkörper mit und verkehrt ansonsten meist auf besonderen Schotteroberbau in Straßenmittellage auf. Von 12,6 km Strecke sind 8,65 km (69%) unabhängige sowie 3,8 km Bahnkörpern im Zuge von Hauptverkehrsstra- (30%) besondere Bahnkörper, nur 0,15 km (1%) liegen ßen. Da auch in der Innenstadt breite Boule- im Straßenpflaster. Die jüngere Linie 2 ist dagegen vor vards für die Trasse zur Verfügung standen, allem auf ihrem zweiten Abschnitt nördlich der Loire in ging man aber nicht in den Untergrund. Noch geringerem Maße vom Individualverkehr separiert und mehr in Richtung deutscher Stadtbahn wie besitzt auch einige Abschnitte mit straßenbündigen Bahn- körpern. Nur 7,1 km (51%) liegen auf besonderem Bahn- etwa in Bielefeld und Hannover geht das Sys- körper, 4,15 km (30%) sind lediglich durch Pflasterung tem in Rouen, wo die Innenstadt im Zuge einer oder Markierung gegenüber den Fahrbahnen des Kraft- unterirdischen Stammstrecke durchquert wird. fahrzeugverkehrs abgegrenzt, 1,5% (11%) befinden sich Auch viele Streckenabschnitte der anderen in Fußgängerzonen und 0,75 km (5%) sind vollständig Netze sind über längere Stücke stadtbahnartig straßenbündig. Auf der Linie 3 ist der Anteil straßenbün- diger Bahnkörper nochmals höher. Da diese Reihenfolge und manchmal sogar weitgehend unabhängig mit dem Realisierungszeitraum der Linien identisch ist, vom Kraftfahrzeugverkehr trassiert. Dies trifft lässt sich praktisch ermessen, dass der Stellenwert einer möglichst separat geführten Straßenbahntrasse in der

Planung neuer Strecken im Laufe der Zeit deutlich an Be- 64 Institut für Landes- und Stadtentwicklung des Landes deutung verloren hat. Daten nach DISTRICT DE NRW, Standards im Öffentlichen Verkehr, Papier zum L’AGGLOMÉRATION NANTAISE: Évaluation socio-écono- Workshop am 21. Juni 2001 mique du tramway – Synthèse des études; Nantes 1998

61 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 39, 40: In den Außenbereichen Stadtbahn auf unabhängigem Bahnkörper, in der Fußgängerzone Straßenbahn mit hohem Erschließungsgrad – Beispiel Grenoble

62 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 41: Feinerschließung durch unstetige Linienführung67

Durch die Vermischung der Planungsansätze hend eigener Trasse und größeren Haltestel- stellen die meisten Systeme eine Symbiose aus lenabständen. Straßen- und Stadtbahn dar. In den Innen- Für den Fahrgast hat diese Strategie den gro- städten sowie weiteren Aufkommensschwer- ßen Vorteil, dass im Zulauf auf das Zentrum punkten wie Universitätsgelände oder Verwal- recht hohe Reisegeschwindigkeiten erzielt wer- tungsparks wird zwecks direkter Erschließung, den können, im Zielbereich selbst jedoch eine optischer Präsenz und vorteilhafter städtebau- echte Feinverteilung mit optischer Präsenz und licher Einbindung in den allermeisten Städten kurzen Fußwegen von und zu den Haltestellen auf straßenbahnartige Trassierungsparameter erreicht wird. Problematisch wird diese Art der zurückgegriffen. Gleichzeitig finden sich hier Linienführung bei sehr langen Strecken. Durch kurze Haltestellenabstände und teilweise auch die Strategie, durch recht verschlungene Li- sehr kurvige bzw. unstetige Führungen zur nienführungen möglichst viele Aufkommens- Erreichung einer optimalen Flächenerschlie- schwerpunkte direkt anfahren zu können, ver- ßung (vgl. Abb. 41). Ziel ist es, Einrichtungen längern sich die Fahrzeiten für Durchfahrer. mit größerem Zielverkehr möglichst unmittel- bar anzudienen.66 Auf der anderen Seite finden Betriebstechnisch stellt sich der Verzicht auf sich jedoch außerhalb der Innenstädte meist eigene Trassen in den Innenstädten meist mehr oder wenig stadtbahnartig ausgebaute nicht als Störfaktor dar, da im Wesentlichen Strecken mit gestreckter Führung, durchge- verkehrsberuhigte Bereiche ohne bzw. mit nur geringer Kraftfahrzeugnutzung durchfahren werden. Allerdings geben die innerstädtischen 66 Charakteristisch sind die Streckenführungen zur Er- Gegebenheiten in der Regel die maximal ein- schließung der Hauptbahnhöfe in Grenoble und Orléans.

In beiden Städten schwenkt die Straßenbahn auf den Bahnhofsvorplatz, um nach Bedienung einer zentral 67 Beispiel Orléans La Source, SEMTAO: Le Tram de liegenden Station über einen 180°-Bogen wieder in die l’agglomération Orléanaise; Achse der ursprünglichen Strecke zurückzukehren. http://perso.wanadoo.fr/letram.orleans/

63 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme setzbare Wagenlänge, das Lichtraumprofil so- nächst den Fußgängern“70, so eine Aussage wie eine niedrige Einstiegshöhe vor. Daraus des ehemaligen Bürgermeisters von Nantes, bedingt sich oft der Verzicht auf die Bildung ALAIN CHENARD. Es existiert die Befürchtung, längerer Züge. In Kauf genommen wird auch dass die Städte bei weiterer Zunahme des Au- die Erhöhung von Umlaufzeiten durch geringe toverkehrs ihren individuellen Charakter ver- Geschwindigkeiten im Innenstadtbereich.68 lieren und zu gesichtslosen Ansammlungen von nicht auf die Umgebung bezogenen Bauwerken 2.2.2 Straßenbahn und Städtebau werden. Ein zweites großes Problem ist in Neben ihrer ursächlichen Verkehrsfunktion Frankreich die zunehmende Bildung von in sich steht die französische Straßenbahn als „vec- abgeschlossenen Vorortstrukturen mit teilweise teur de la modernité urbaine“69, also als Ver- bereits ghettoartigen Randerscheinungen. Viele mittler für die städtebauliche Modernisierung. dieser Vororte besitzen große Schwachpunkte Ausländische Besucher sind von der städtebau- in der Infrastruktur, sind in die zugehörige lichen Qualität französischer Straßenbahn- Stadt nicht organisch eingebunden und werden strecken meist sehr angetan. Die herausra- so Siedlungsschwerpunkte von sozial benach- gende Optik ist dabei integraler Bestandteil der teiligten Personengruppen. Dies gab wiederum Gesamtkonzeption. einer weiteren Verwahrlosung Auftrieb. Die städtebauliche Integration neuer Straßen- bahnstrecken geht Hand in Hand mit dem Ziel der Revitalisierung von Innenstädten. Leitge- danke ist in den meisten Fällen, die Straßen- bahn als Initiator für eine attraktiv gestaltete, autoarme und fußgängerfreundliche Innen- stadt zu nutzen. So wurden mit dem Straßen- bahnbau in vielen Städten weitreichende Re- striktionen für den individuellen Kraftfahrzeug- verkehr vorgenommen, bis hin zur Schließung von Hauptverkehrsstraßen und dem Rückbau von Parkmöglichkeiten im großen Stil. Dabei wird offensiv die Sichtweise vertreten, dass das Ziel einer funktionierenden und att- raktiven Innenstadt diametral den Bedürfnis- sen des ungehinderten Kraftfahrzeugverkehrs entgegensteht. Mehr und mehr hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass in den historisch Abb. 42: Rouen – Im Vorort Saint-Etienne-du- Rouvray diente die Einführung der Straßenbahn gewachsenen europäischen Stadträumen zu u.a. der Aufwertung eines Problemviertels. Die wenig Platz für eine autogerechte Gestaltung Trasse wurde optisch ansprechend gestaltet und zur Verfügung steht. „Jede Stadt gehört zu- mit Rasengleis versehen.

68 Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der Straßenbahnlinie A in Grenoble beträgt etwa 20 km/h, der durchschnittliche Haltestellenabstand liegt bei 450 m. Betrachtet man jedoch nur die Innenstadt, liegen die Werte bei 14 km/h bzw. 380 m. In Grenoble wird eine etwa 2 km lange Fußgängerzone von der Straßenbahn zentral durchquert. Im Umkehrschluss ergeben sich für die gut ausgebauten Außenstrecken deutlich höhere Reisegeschwindigkeiten und Haltestellenabstände. 69 LEBRETON, Joël und BEAUCIRE, Francis: Transports 70 Zitat nach WANSBEEK, Cornelis J.: Valenciennes – publics et gouvernance urbaine; Éditions Milan; Toulouse France’s next tramway city; Tramway & Urban Transit 2000; S. 44 6/1999

64 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 43, 44: Lyon – Das Ortszentrum von Bron wurde mit der Einführung der Linie T2 völlig umgestaltet und verkehrsberuhigt. Der Vergleich der Avenue Franklin Roosevelt mit und ohne Straßenbahn zeigt deutlich die Möglichkeit der städtebaulichen Aufwertung eines Straßenraumes durch die Einführung einer Straßenbahntrasse. 65 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 45, 46: Der Bau einer Straßenbahnstrecke bietet enorme gestalterische Chancen und Möglichkeiten – Beispiel der Umgestaltung eines Straßenraumes in Orléans, Avenue de Paris

66 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Die der Straßenbahn zufallende Aufgabe ist in die Lebensqualität im Stadtzentrum deutlich der Gegensteuerung dieser beiden negativen steigern und so auch den urbanen Zusammen- Entwicklungen zu sehen. Sie soll zur Aufwer- halt der ganzen Stadt neu beleben konnte. tung benachteiligter Stadtgebiete dienen, neue Heute besitzen die meisten Straßenbahnsys- urbane Zusammenhänge schaffen und die teme überaus hohe Zustimmungsraten in der Stadt insgesamt wieder lebenswerter machen. Bevölkerung. Damit dient sie also als Werkzeug zur städte- baulichen Erneuerung und wird in dieser Funk- tion von den jeweiligen Städten auch offensiv in der Außendarstellung verwendet.71 Umfangreiche städtebauliche Neugestaltungs- maßnahmen im Zuge des Straßenbahnbaus sind meist nicht nur auf die Stadtmitte, son- dern auch auf die Peripherie ausgerichtet. Be- trachtet wird beim Trassenbau stets der ge- samte öffentliche Raum in einer Sichtweise von unten nach oben, d.h. angefangen beim schwächsten Verkehrsteilnehmer. Die Reihen- folge der Verkehrsarten im Planungsprozess fängt bei dieser Planungsphilosophie mit dem Fußgänger an, es folgen Radverkehr und Stra- ßenbahn. Erst dann kommt der motorisierte Individualverkehr und zuletzt, bei ausreichen- den Platzverhältnissen, eventueller Parkraum für Kraftfahrzeuge. Die Vorgehensweise, Straßenbahnen als In- strument für städtebauliche Aufwertungsmaß- nahmen zu nutzen, kann als großer Erfolg ge- wertet werden. Viele französische Politiker set- zen inzwischen einen modernen und attrakti- ven Nahverkehr mit der Straßenbahn gleich. Insgesamt herrscht ein weitreichender Kon- sens, dass die Innenstädte durch die Straßen- bahnwiedereinführungen enorm gewonnen haben und ehemals vernachlässigte Viertel deutlich aufgewertet werden konnten. Durch das Planungsleitbild, die Stadt auf den Fuß- gänger und nicht das Auto abzustimmen, kam es in den meisten Städten zu großen Bele- Abb. 47, 48: Straßenbahn in der Fußgängerzone bungserscheinungen. Damit wird die Straßen- von Grenoble bahn in vielen Städten auch nicht als Fremd- körper oder notwendiges Übel zur Verkehrser- Natürlich bedeutet die Entscheidung, der Stra- schließung, sondern als integraler Bestandteil ßenbahn zum Nachteil des Kraftfahrzeugver- der Stadt selber verstanden. Viele Straßen- kehrs den nötigen Raum zur Verfügung zu bahnstädte zeigen ein Gefühl des Stolzes ge- stellen, zunächst eine große politische Cou- genüber ihrem neuen Verkehrsmittel, welches rage. Gerade in der Anfangsphase der Projekte waren und sind in vielen Städten sehr kontro- verse Diskussionsphasen zu beobachten. Ne- 71 So findet sich beispielsweise bereits auf der Startseite ben Anrainern, welche sicherlich nicht unbe- der Internetpräsentation von Grenoble der Hinweis, dass rechtigt größere Beeinträchtigungen während das öffentliche Transportwesen in Hinsicht auf die des Baus einer Straßenbahntrasse befürchten, Verbesserung der urbanen Lebensqualität eine entschei- dende Bedeutung besitzt. ist immer wieder der Einzelhandel Initiator von

67 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 49: Besondere Gestaltung auch in der Peripherie – Beispiel Nantes, hier erschließt die Straßenbahn ein in der Entwicklung befindliches Gewerbegebiet

Protestbewegungen. So wurde in Straßburg den Straßenbahnbau beeinträchtigten Anrainer vor Eröffnung der ersten Straßenbahnlinie von und sorgte für finanzielle Entschädigungen. In Straßenbahngegnern prophezeit, das 20% der der Folge kann konstatiert werden, dass in Arbeitsplätze in der Innenstadt verloren gehen Straßburg kein Geschäft aufgrund des Stra- würden und viele Geschäfte im Kernbereich ßenbahnbaus schließen musste.73 Auch andere zuungunsten von Neuansiedlungen im Stadt- Städte können Erhebungen nachweisen, nach umland schließen müssten. Nach Eröffnung der denen neueingeführte Straßenbahnen zu Straßenbahn konnte jedoch festgestellt wer- einem absoluten Zuwachs der Frequentierung den, dass es nicht zu nachteiligen Effekten für von Innenstädten geführt haben. So erfuhren städtische Einzelhändler, sondern ganz im Ge- die beiden durch die Straßenbahn erschlosse- genteil zu einer entgegengesetzten Entwick- nen Zentren in Rouen nördlich und südlich der lung gekommen ist. So führte die Einführung Seine einen deutlichen Aufschwung. 36% der der Straßenbahn in vorher eher herunterge- Straßenbahnkunden besuchen seit Eröffnung kommene Innenstadtstraßen zu einer Bele- der Straßenbahn das Zentrum am nördlichen bung und Prosperierung. In der Folge siedelten Ufer, 39% jenes am südlichen Ufer häufiger als sich hochwertige neue Einzelhandelsgeschäfte vorher.74 Rund 60.000 tägliche Straßenbahn- an. Die Anrainergebäude entlang der Trasse fahrgäste veranschaulichen die Relevanz sol- konnten einen Wertzuwachs um 10% ver- cher Zahlen. zeichnen.72 Ein unabhängiges Komitee vertrat Auch wenn im Zuge neuerer Straßenbahnpro- während der Bauphase die Belange der durch jekte naturgemäß weiterhin kritische Stimmen zu vernehmen sind, lässt sich inzwischen be- 72 Ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen Städten. Vgl. dazu ETP: Economic Impact of Light Rail: 73 nach WANSBEEK, Cornelis J.: Valenciennes – France’s The Results of 15 Urban Areas in France, , UK next tramway city; Tramway & Urban Transit 6/1999 and North America; 2004 sowie CRAMPTON, Graham; HASS-KLAU, Carmen und DEUTSCH, Volker: Bau und 74 HUE, Raymond: Stadtbahn von Rouen – Die Gründe für Betrieb von Stadtbahnen – Die ökonomischen Folgewir- den Erfolg; Der öffentliche Nahverkehr in der Welt kungen; in: Der Nahverkehr 3/2005 5/2000

68 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme reits auch auf Seiten der Einzelhändler ein Umdenken vernehmen. Das Leitbild einer fuß- gängerfreundlichen Innenstadt mit attraktiven Einkaufsmöglichkeiten und einer Straßenbahn, welche potenzielle Kunden bis unmittelbar in diesen zentralen Einkaufsbereich hinein fährt, bietet auch oder gerade für den Handel große Perspektiven einer Attraktivitätssteigerung und somit eines Kundenzuwachses. Bezeichnend ist, dass sich inzwischen auch Vertreter des Einzelhandels ganz eindeutig für die Straßen- bahn aussprechen. Charakteristisch ist die Aus- sage des Präsidenten der lokalen Vereinigung von Ladeninhabern in Saint-Étienne, JEAN- JAQUES RIVEL, welcher konstatiert, die Einzel- händler von Saint-Étienne seihen sehr froh, dass sie ihre Straßenbahn haben, denn sie würde ihnen die Kunden bringen. „Straßen- bahn bedeutet Geschäft.“75 In Saint-Étienne fährt die Straßenbahn durch eine stellenweise nur 11 m breite Hauptgeschäftsstraße, welche die städtische Hauptachse bildet. Straßenbahn Abb. 50, 51: Neben der Aufwertung bestehender und Fußgängerzone würden sich hervorragend Stadtquartiere dient die Straßenbahn zunehmend ergänzen, denn nur ein stadtverträgliches und auch der Erschließung neuer Entwicklungsgebiete, gleichzeitig leistungsfähiges Verkehrsmittel wie teilweise von Beginn der Besiedelung an – Beispiel Cité International in Grenoble die Straßenbahn sei in der Lage, die An- und Abreise großer Menschenmengen in den In- nenstadtraum zu gewährleisten und gleichzei- tig eine urbane Qualität zu erhalten. Autos hätten in einer solch dichten innerstädtischen Struktur keinen Platz. Eine Umfrage brachte das Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einem Ausbau des Straßen- bahnsystems positiv gegenübersteht. Mit dem Bau einer zweiten Linie wird erwartet, dass sich die Stadt und der Einzelhandel im Verlauf dieser Trasse ähnlich günstig weiterentwickeln können wie im Zuge der Existierenden. So gewagt die Wiedereinführung der Straßen- bahn in den Pionierstädten Nantes und Gre- noble war, heute wird sie in Frankreich als „städtebauliche Idee des Jahrhunderts“76 beg- riffen, Zitat wiederum von ALAIN CHENARD bei einem Rückblick. Die Straßenbahn forme die Stadt um, ohne sie zu verletzen.

Abb. 52, 53: Montpellier verfolgt sehr extrava- 75 nach WANSBEEK, Cornelis J.: Valenciennes – France’s gante architektonische Zielvorstellungen. Neben next tramway city; Tramway & Urban Transit 6/1999 futuristischer Bebauung werden unter dem Leitge- danken des örtlich entwickelten Neuen Barock 76 Zitat nach HUGO, Wolfgang O.: Die neue „gelbe Ge- auch an historische Stile angelehnte Gebäude ge- fahr“ – Nantes und die Renaissance der Tram; Straßen- schaffen. Die neue Straßenbahn ist prägender bahn-Magazin 4/2001 Bestandteil der Stadtarchitektur.

69 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.2.3 Die Rolle des Fahrzeugdesigns ser Fahrzeugtyp allerdings im Grunde genom- men selbst überflüssig, da die folgenden Stra- Ein integraler Bestandteil der Gesamtphiloso- ßenbahnstädte wiederum auf individuelle ei- phie neuer französischer Straßenbahnsysteme gene Lösungen zurückgreifen wollten und dies ist der Einsatz besonders gestalteter Fahr- auch taten, so in Straßburg. Inzwischen setzt zeuge. Wert gelegt wird hierbei auf die Fest- man daher auf modulare Fertigungskonzepte stellung, dass durch Maßnahmen zur Schaffung wie beim Citadis. Charakteristische Elemente eines hochwertigen Designs maßgeblich zur können so bei Verwendung gleicher Grund- Identifikation, Zustimmung und Attraktivität komponenten stets nach eigenen Vorstellun- eines Straßenbahnsystems in der Bevölkerung gen gestaltet werden. Zu nennen ist hier ne- beigetragen werden kann. Als beispielhaftes ben der Farbgestaltung und Inneneinrichtung Detail sei die Forderung nach möglichst großen in erster Linie die Ausführung der Wagenköpfe. Fensterflächen genannt, welche die Straßen- Alle drei im Jahre 2000 neu eröffneten Stra- bahn bei der oberirdischen Durchquerung von ßenbahnsysteme Frankreichs, Montpellier80, Hauptgeschäftsstraßen zum Trottoir Roulant, Orléans81 und Lyon82, greifen auf individuelle also zu einem beweglichen Bürgersteig, aus Designkonzepte mit Bezug auf regionale Gege- dem heraus Schaufenstergucken möglich ist, benheiten zurück. macht.77 Beim Kauf von Fahrzeugen geschieht eine universelle Auseinandersetzung zwischen Auch der Fahrzeughersteller Alstom verweist den Fixpunkten Design, Ausgestaltung, Betrieb auf die herausragende Bedeutung des Designs und Kosten. „Deutsche Trams sind zuverlässige von Straßenbahnwagen. Besonders wichtig Produkte. Aber das Design deutscher Trams ist werden derartige Aspekte bei der völligen nicht sorgfältig – mit all diesen grausamen Wi- Neueinführung von Straßenbahnsystemen. Die derstandskästen offen auf dem Dach montiert! Bevölkerung muss in der Wiedereinführungs- Viele deutsche Trams sehen aus wie Massen- phase von den Vorteilen des neuen Verkehrs- produkte; ein Passagier in Frankreich bemerkt mittels und seiner positiven Auswirkung auf die das gleich. So etwas uninspiriertes würden wir Stadtstruktur und das Stadtbild überzeugt in Frankreich nicht gerne kaufen, auch nicht bei den EU-Ausschreibungen“, so die Aussage 80 eines französischen Verkehrsplaners.78 Kennzeichnend für die Gestaltung der Züge für Mont- pellier ist ein sich nach den natürlichen örtlichen Gege- Schon mit dem zweiten neuen französischen benheiten richtendes Design, welches sich gleichzeitig am Straßenbahnbetrieb von Grenoble begann der dortigen städtebaulichen Konzept des Nouveau Baroque orientiert. Durch warme Farben und sanfte, abgerundete Durchbruch der Designerfahrzeuge, die speziell Formen soll ein Erscheinungsbild der mediterranen für örtliche Gegebenheiten entwickelt wurden Wärme erzeugt werden. Die Wagen sind wie das Meer in (vgl. Kap. 1.1.1). Der Straßenbahnwagen von einer blauen Grundfarbe gehalten und mit weißen Grenoble gilt als erstes wesentlich vom Design Schwalben dekoriert. Dabei stehen die für den Mittel- geprägtes Straßenbahnfahrzeug überhaupt, meerraum charakteristischen Schwalben als Vögel des Paradieses und der Jugend. Die innere Fahrzeuggestal- seine Entwicklung erfolgte von Anfang an auch tung soll Behaglichkeit suggerieren. Für die Gestaltung 79 unter Maßgaben der Gestaltung. Durch die zeigen sich die Spitzendesigner Elizabeth Garouste und Forderung nach Individualität machte sich die- Mattia Bonetti verantwortlich. Sie besitzen für ihre Schaffungen im Bereich von Gebrauchsgegenständen

Weltruhm. Garouste und Bonetti sind daneben offizielle 77 Bezeichnend dazu ist folgendes Zitat auf der offiziellen Berater und Schöpfer des Nouveau Baroque. Internetpräsentation der Stadt Straßburg: „Die ange- 81 Für die Fahrzeuge von Orléans wurde der besondere nehmsten Arten, Straßburg zu durchstreifen und seine Farbton Sable de Loire entwickelt. Dieser belegt ein- Schönheit zu entdecken, sind Fuß- oder Radwanderungen drucksvoll die ganzheitlichen Gedankenansätze bei der oder Fahrten mit der futuristischen Straßenbahn mit ihren Gestaltung Frankreichs Straßenbahnen. Er ergibt sich aus großen Fenstern, durch die man die Stadt in besonderer einer sorgfältigen Analyse des farblichen Erscheinungsbil- Weise erleben kann.“ Nach VILLE DE STRASBOURG; Le des der Altstadtbebauung unter der Prämisse, eine dazu site de la Ville de Strasbourg; passende Farbgestaltung zu entwerfen. Straßenbahn und http://www.mairie-strasbourg.fr/D/index.htm Innenstadt wirken heute in der Tat wie aus einem Guss. 78 Zitat nach WANSBEEK, Cornelis J.: Designertram für 82 Die Fahrzeuge für Lyon nehmen in ihrer weißen Gestal- Montpellier; stadtverkehr 1/1999 tung mit unkonventioneller Ausbildung der Köpfe Bezug 79 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und Mit- auf die Seidenraupe, da die Seidenverarbeitung in der telflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2003 Geschichte der Stadt eine wichtige Rolle spielte

70 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme werden. Dabei kann es für die Akzeptanz der neuen Straßenbahn entscheidend sein, wenn durch deren Gestaltung das Bild einer beson- deren Individualität erreicht wird. Ziel ist es, dass sich die Bevölkerung mit ihrem eigenen Straßenbahnsystem, welches es in einer derar- tigen Form sonst nirgendwo gibt, identifizieren kann.83 Im Grunde führte man in Frankreich damit einen Ansatz fort, der vorher schon z.B. in Zürich praktiziert wurde, wo das blau-weiße Design der Straßenbahn tief in der urbanen Identität verwurzelt ist. Die Schaffung einer örtlichen Identität für die

Straßenbahn schließt Werbung auf den Fahr- zeugen selbstverständlich aus. Auf den neuen Abb. 55: Citadis Lyon mit einer sehr eigenwilligen Kopfgestaltung Straßenbahnnetzen war bislang kein einziges Fahrzeug mit kommerzieller Werbung unter- wegs. Ganzreklame mit Folienbeklebung über die Scheiben verbietet sich aufgrund des Konzeptes des Trottoir Roulant von selbst. Durch ein auffallendes und in der Bevölkerung beliebtes Erscheinungsbild soll eine positive Grundhaltung gegenüber dem öffentlichen Personennahverkehr geschaffen werden, um dadurch nicht zuletzt auch die Fahrgastzahlen in den öffentlichen Verkehrsmitteln erheblich zu steigern. Dadurch steht Maßnahmen wie der Verzicht auf Werbung ein direkter Gegen- wert entgegen. Entscheidend dabei ist, dass die Straßenbahn nicht als Verkehrsmittel zwei- ter Klasse wahrgenommen wird, sondern Straßenbahnfahren als chic angesehen wird.

Abb. 54: Designstudie Citadis Montpellier (Linie 2)

Abb. 56: Herausragendes Straßenbahndesign, 83 Individualität kann auch innerhalb eines Netzes ge- „trottoir roulant“, also rollender Bürgersteig, schaffen werden: So wird Montpellier in Zukunft auf durch große Fensterflächen – Beispiel Straßburg seiner zweiten Straßenbahnlinie Fahrzeuge einsetzen, deren Design sich von dem der Wagen der ersten Linie komplett unterscheidet. Bei der Streckenausrüstung wird baulich auf die erste Strecke Bezug genommen, hinsichtlich der Farben aber wiederum die Eigenständig- keit der zweiten Linie betont.

71 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.2.4 Gestaltung der Trassen urbanen Straßenraum. Ausgepflasterte, aber auch mit hoch liegendem Rasen versehene Die beiden grundlegenden Aspekte in Hinsicht Gleiszonen, erlauben Fußgängern flächende- auf die Ausgestaltung der Straßenbahntrassen ckend ein Überschreiten der Trasse. Kreu- liegen in der Schaffung einer möglichst vom zungsbauwerke für Fußgänger in anderen Ver- motorisierten Individualverkehr getrennten kehrsebenen, sei es als Fußgängerbrücke oder Gleiszone sowie dem Erreichen eines städte- auch als Fußgängertunnel, stellen einen abso- baulich möglichst hochwertigen optischen Ein- luten Ausnahmefall dar. Hier zeigt sich eine drucks. Allgemein lassen sich folgende Pla- grundlegend andere Sicherheitsphilosophie als nungsgrundsätze aufführen, welche in nahezu in Deutschland allen französischen Straßenbahnnetzen seit Grenoble zum Einsatz kommen: Inzwischen kann das Rasengleis als Standard- oberbauform französischer Straßenbahnnetze, • Möglichst durchgängige Schaffung von ei- sofern Platz für die Anlage eines besonderen genen Bahnkörpern oder aber Durchfah- Bahnkörpers besteht, bezeichnet werden. In rung von Fußgängerbereichen, engeren Straßenräumen sind die Trassen in • Trassierung sehr oft in Seitenlage, Schaf- der Regel ausgepflastert. Asphalteindeckungen fung einer eigenen Trasse oft auch dann, sind absolut unüblich, offene Oberbauformen wenn daneben nur noch auf einer Seite werden heute nicht mehr realisiert (vgl. Abb. eine einbahnige Fahrbahn für den Straßen- 59). verkehr verbleibt, • Fast ausschließliche Verwendung von Ril- lenschienen, • Gestaltung des Bahnkörpers meist geschlossen in Form von Einpflasterung oder aber als Rasengleis, stellenweise kommen auch andere Gewächse zur Gleis- eindeckung zum Einsatz, • Beim Rasengleis ausschließlich Verwen- dung der Bauart mit hochliegendem Rasen, bei der Rasen und Schienenoberkante bün- dig abschließen,

• Besondere farbliche und gestalterische Ausführung von Gleiseinpflasterungen, viel- fach Verwendung gegenüber von Straßen- fahrbahnen farblich deutlich abgesetzten Pflastersteinen, • Stetige Gestaltung der Straßenräume in Längsachse unter der Prämisse der Verhin- derung optischer Brüche. Es versteht sich von selbst, dass in Hinsicht der verfolgten städtebaulichen Ziele versucht wird, die trennende Wirkung einer Straßenbahn- trasse so weit als möglich zu verhindern. Be- tont wird oft, dass fußläufige Wegebezie- hungen durch den Straßenbahnbau nicht be- Abb. 57, 58: Montpellier – durch Ausnutzung von Geländesprüngen und besondere Materialwahl einträchtigt werden dürfen bzw. diesbezüglich hervorragende Einbindung eines vermeintlich bestehende Barrieren abgebaut werden sollen. städtebaulich nicht integrierbaren Rampenbau- Aus dieser Zielsetzung ergibt sich der Verzicht werks in die zentrale Altstadt auf baulich zu weit separierte Bahnkörper im

72 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Stadt Linie Jahr Oberbau (Anzahl Streckenabschnitte)84 Rasengleis geschlossen offen Grenoble A, 1. BA 1987 - 18 2 A, 2. BA 1996/97 7 1 - B, 1. BA 1990 - 6 3 B, 2. BA 1999/2001 1 1 - Lyon T1 2000 3 15 - T2 2000 6 13 - Montpellier 1 2000 14 13 - Nantes 1, 1. BA 1985 - 6 15 1, 2. BA 1989 - - 2 1, 3. BA 2000 9 2 - 2, 1. BA 1992 - 13 1 2, 2. BA 1993 - 7 - 2, 3. BA 1994 1 7 - 3 2000 1 9 - Orléans 1 2000 12 11 - Paris T1 1992 - 20 - T2 1997 - - 12 Rouen Métro, 1. BA 1994 4 13 5 Métro, 2. BA 1997 5 3 - Straßburg A, 1. BA 1994 6 11 - A, 2. BA 1998 3 1 - B 2000 8 15 -

Tab. 16: Verwendete Oberbauformen

Rasengleis Geschlossener Oberbau Offener Oberbau

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

Abb. 59: Verwendete Oberbauformen

84 Als Streckenabschnitt wird hier jeweils ein Abschnitt zwischen zwei Haltestellen definiert

73 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

kann der Bahnkörper in Ausnahmefällen vom Straßenverkehr benutzt werden, beispielsweise wenn die Fahrbahn durch stehende Fahrzeuge blockiert ist. Andererseits wird diese Form der sanften Separierung aber auch sehr konse- quent betrieben. Oftmals steht in Straßen mit geringerer Verkehrsbedeutung neben dem Bahnkörper der Straßenbahn nur noch eine Einrichtungsfahrspur zur Verfügung. Auch hat die Erstellung eines besonderen Bahnkörpers meist Vorrang vor dem Erhalt von Stellplätzen. Existieren in Deutschland bei engeren Straßen- querschnitten mit Straßenbahnbetrieb meist je eine breite Richtungsfahrbahn mit straßen- bündigem Gleiskörper und beidseitig Stell- plätze, so weisen ähnliche Querschnitte in Frankreich meist einen besonderen Bahnkörper mit geschlossenem Oberbau, eine Straßen- fahrbahn in nur noch einer Richtung und dane- ben nur bei ausreichender Breite noch Stell- plätze auf (vgl. Abb. 65).

Abb. 63: Hochwertige Auspflasterung der Gleiszo- ne in der Fußgängerzone von Montpellier

Abb. 60, 61, 62: Straßenbahntrasse als Grünfläche – sorgfältige Gestaltung in Grenoble

Abseits von Hauptverkehrsstraßen ist meist auch die Separierung von Straßenbahn und Autoverkehr nicht mehr in größerem Maße ausgeprägt. Die besonderen Bahnkörper sind oft nur durch die Verwendung von Pflaster ge- genüber dem Asphalt der Fahrbahn oder durch Markierungen optisch von der Verkehrsfläche des Autoverkehrs abgesetzt. Stellenweise kommen auch aufgepflasterte Bahnkörper zur Abb. 64: Nantes – Details der Gestaltung im Bereich Haltestellenzugang/Kreisverkehr Verwendung. Eine Querung des Bahnkörpers für Kraftfahrzeuge bleibt so möglich. Ebenso

74 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 65, 66: Selbst in engen, gewachsenen Straßenräumen lassen sich durch Beschränkung des Kraftfahrzeugverkehrs in eine Richtung stadtverträgliche besondere Bahnkörper schaffen; die Konse- quenz, wie diese Form der Bevorrechtigung von Straßenbahnstrecken in Frankreich umgesetzt wird, ist beeindruckend und nachahmenswert. Die Bilder zeigen ähnlich breite Straßenräume in Köln mit der klassischen Führung einer Straßenbahntrasse in Mittellage mit seitlichen Parkständen (und Verkehrsbe- hinderungen zwischen MIV und ÖPNV) sowie in Straßburg mit einbahnigem Rückbau der Straße zur Anlage eines besonderen Bahnkörpers, der problemlos noch Anlieferverkehr erlaubt.

75 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 67: Straßburg – In Meinau verläuft die Linie A in Mittellage einer breiten Ausfallstraße. Der Bahn- körper ist so breit, dass Bahnsteige und Abbiegespuren ohne Änderung des Straßenquerschnittes neben den Gleisen Platz finden, so dass es keinerlei optisch störende Versprünge im Straßenquerschnitt gibt. Abseits von Knoten wird der gewonnene Raum dazu genutzt, die Trasse mit Bäumen zu flankieren.

Abb. 68: Straßenbündige Trasse der Linie 3 in Nantes – durch abgestimmte Farben bei der Materialwahl der Straßenraumgestaltung ergibt sich ein sehr hochwertiges Erscheinungsbild

76 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 69: Orléans – Straßenbahnstrecke im Kreisverkehr

Abb. 72: Orléans – In Rasengleis voll integriertes Weichenkreuz

Abb. 70, 71: Besondere Bahnkörper in engen Straßenräumen mit dichter städtischer Bebauung – Beispiele Grenoble und Lyon

77 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Deutlich wird, dass der Ansatz der sanften Se- Wesentlich für eine Verminderung der Unfall- parierung sehr wohl den Anspruch besitzt, die zahlen sind laut den Erfahrungen aus Nantes Straßenbahn vor Beeinträchtigungen durch den folgende Randbedingungen: MIV zu bewahren. Im Gegensatz zur Philoso- • Optische Herausstellung der Trasse z.B. phie des besonderen Bahnkörpers deutscher durch abweichende Pflasterung oder As- Prägung richtet sich die Separierung jedoch phaltfärbung, Stichwort Farbkontraste, meist eben nur gegen den MIV und nicht ge- gen Fußgänger. Dies ist ein wesentlicher Un- • Beschränkung der Breite von parallelen terschied zum hiesigen Planungsrecht, welches Fahrspuren und vergleichbare Maßnahmen bei besonderen Bahnkörpern grundsätzlich mit dem Zweck der Vermeidung von Anrei- eine möglichst weit reichende Separierung ge- zen zu Geschwindigkeitsübertretungen genüber allen Verkehrsteilnehmern fordert beim MIV. und damit linienweite Querbarkeit erschwert Sicherheitsrisiken bezüglich Straßenbahn und bzw. ausschließt (vgl. Kap. 3.2). Fußgängern bei unterschiedlicher Ausgestal- Aus dem Blickwinkel des Städtebaus ist eine tung der Trasse ließen sich dagegen nicht er- derartige Vorgehensweise aufgrund der ver- kennen bzw. stellten kein maßgebliches Prob- minderten Trennwirkung einer Schienentrasse lem dar. natürlich uneingeschränkt begrüßenswert. Da die neusten Strecken in Nantes derselben Trotzdem erscheint gerade dieser Punkt dazu Veröffentlichung nach auch im französischen geeignet, sehr kontroverse Diskussionen er- Vergliche hinsichtlich der Unfallzahlen am zeugen zu können, da weniger Separierung besten abschneide, lassen sich die Ergebnisse vielfach mit weniger Sicherheit gleichgesetzt durchaus in gewisser Weise generalisieren. wird. Aktuelle Erhebungen aus Frankreich kann je- doch dem Argument, ein wenig separierter und für Fußgänger stets querbarer Bahnkörper sei unter Sicherheitsaspekten kritisch zu sehen, nicht gefolgt werden. In Nantes, der Stadt mit dem ältesten und größten der neuen Straßen- bahnnetze Frankreichs, wurde über die ver- gangenen Jahre eine umfassende Analyse aller Verkehrsunfälle mit Straßenbahnbeteiligung durchgeführt.85 Dabei zeigte sich, dass die neuesten Streckenabschnitte die geringsten Unfallraten aufwiesen, die Bilanzen der ältes- ten Strecken jedoch am meisten besorgniserre- gend waren. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass bei den älteren Strecken in weitaus höherem Maße unabhängig trassiert wurde, bei den neueren aber, eben dem Stichwort sanfter Separierung entsprechend, mit minimaler Bar- rierewirkung für Fußgänger (vgl. Fußnote 65 auf S. 61). Offensichtlich führte letztere Form der Trasseneinbindung zu einer besseren Integration der Straßenbahn in den öffentli- chen Raum, auch unter Aspekten der Wahr- nehmbarkeit.

85 vgl.: TAN: Bilan Accidentologie Tramway 2002-2005; Februar 2006

78 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 73, 74: Eigene Bahnkörper und parallel geführte Fuß- und Radwege – Beispiele Grenoble und Montpellier. Die Bahnkörper sind wenig bis gar nicht vom Fußgängerbereich separiert.

79 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 75: Straßenbahnneubaustrecke in Köln anno 2002 – unstetige Ausbildung der Straßenfahrbahnen, unstetige Anordnung der Oberleitungsmasten, keine Berücksichtigung der Straßenlängsachse

Die besonders sorgfältige Gestaltung französi- (Sitzbänke, Automaten, Masten, Wartehäu- scher Straßenbahnneubaustrecken tritt beim schen...), Vergleich mit einigen neueren hiesigen Anla- • Brüche in der Oberbauform (z.B. kurze Ab- gen besonders klar in Erscheinung. Oft sind schnitte mit Schottergleis). hier folgende Mängel zu nennen: In Abb. 75 bis Abb. 82 werden solche Mängel • kein bündiger Abschluss von Schienenkopf, anhand einer im Jahre 2002 eröffneten Zwischenraumbegrünung und seitlichem Neubaustrecke in Köln veranschaulicht. Abschluss der Trasse, dadurch weiterhin optisch bestimmende und beeinträchti- gende Wirkung der Gleise selbst bei Einsatz von begrünten Bahnkörpern, • allgemein rein nach technischen Gesichts- punkten gestaltete Oberleitungsanlagen, • aus städtebaulicher Sicht sowohl in Längs- als auch in Querrichtung völlig willkürliche Anordnung der Oberleitungsmaste (Mittel-, Seiten- und Doppelauslegermaste), • keine Abstimmung von Oberleitung und Straßenbeleuchtung, • äußerst unstetige Ausbildung des Straßen- raumes in Längsrichtung,

Haltestelleneinrichtung bedient sich stilis- • Abb. 76: keine Oberbaugestaltung, Überweg wirkt tisch nicht zueinander passender Einzelteile optisch unruhig

80 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 77: kein gestalterischer Anspruch bei Oberbau und Oberleitung

Abb. 79, 80, 81: Schienenkopf und Rasen nicht bündig, unsaubere Ausgestaltung, dadurch Rasen- gleiseffekt „Gleis = Grünfläche” nicht ersichtlich

Abb. 78: rein technische Ausgestaltung des Ober- baus, Bruch in der Oberbaugestaltung, unstetige Mastfolge

Abb. 82: keine Oberbaugestaltung, Übergang Anrampung und Oberbau nicht bündig

81 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 83: Montpellier- Beispiel einer Haltestelle mit eigenständiger Architektur, hier der Streckenendpunkt Odysseum neben einem Großkino

2.2.5 Gestaltung der Haltestellen Grundsätzliche Zielsetzung bei der Gestaltung von Haltestellen ist der stufenlose Zugang. Be- ginnend mit dem zweiten neuen Straßenbahn- betrieb von Grenoble sind bei allen französi- schen Straßenbahnnetzen der zweiten Genera- tion Wagenbodenhöhe und Bahnsteighöhe auf- einander abgestimmt. In Verbindung mit Zu- gangsrampen zu den Bahnsteigen herrscht flä- chendeckende Behindertengerechtheit. Die un- terirdischen Stationen verfügen über Aufzüge. Die Gleisbereiche von Haltestellen sind meist über die gesamte Länge ausgepflastert, auch Abb. 84: Grenoble – Halt in der Fußgängerzone wenn vor und hinter der Haltestelle andere Oberbauformen wie das Rasengleis zum Ein- satz kommen. Zwischen den Gleisen finden sich in der Regel im Haltestellenbereich auch keine baulichen Absperrungen, so dass durch- gehend ein Fußgängerquerverkehr möglich ist. Dies gilt meist auch für überbaute, also quasi unterirdische Haltestellen wie beispielsweise Perrache in Lyon und Alpexpo in Grenoble.86

86 Erwähnenswert ist das Fehlen jeglicher Absperrung zwischen den Gleisen sogar bei der Tunnelstation unter dem Bahnhof in Straßburg. Die Gleise können begünstigt durch die geringen Bahnsteighöhen von Passanten Abb. 85: Grenoble – die Stationsbereiche sind problemlos gequert werden, was in einem Tunnelbahnhof stets ausgepflastert und stellen damit keine räum- aus Gründen der Betriebssicherheit sicherlich kritisch zu liche Barriere in Platz- und Straßenräumen dar beurteilen ist, zumal für diese Querungsgelegenheit man- gels Umsteigeströme keinerlei Notwendigkeit besteht.

82 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 86: Grenoble – herausragende Haltestellen- gestaltung auch bei Verzicht auf aufwändige bau- liche Anlagen

Meist sind gewöhnliche Zwischenstationen in- nerhalb der einzelnen Netze nach einem ein- heitlichen Gestaltungsbild geschaffen, womit sich ein hoher Wiedererkennungswert ergibt. Verknüpfungsstationen weisen dagegen häufig bemerkenswerte, aufwändigere Ausgestal- tungsmerkmale auf. Oft finden sich wetterge- schützte Umsteigewege bis hin zur kompletten Stationsüberdachung. Auch sind bahnsteigglei- che Korrespondenzen zwischen Bussen und Straßenbahnen bezogen auf die Hauptlast- richtung aus der Innenstadt in die Vororte und umgekehrt verwirklicht. Die Umsteigewege sind in der Regel kurz und höhengleich.87 Die besondere architektonische Gestaltung insbesondere von Verknüpfungspunkten wirft auf der anderen Seite wiederum einen Konflikt zwischen dem optischen Erscheinungsbild und der Praxistauglichkeit hervor. Nicht immer ge- lang es, Forderungen nach Wind- und Nieder- schlagsschutz mit den Maßgaben des Designs in Einklang zu bringen.88

87 Beispiele großer Korrespondenzpunkte mit herausra- gender Gestaltung sind Baggersee in Straßburg, Grand’Place in Grenoble und Hôtel de Ville Sotteville in Rouen. 88 So stellt die charakteristische Überdachung der zentra- len Haltestelle Homme de Fer in Straßburg ein herausra- gendes architektonisches Element und ein unverwechsel- bares Wahrzeichen der Straßburger Straßenbahn dar. Andererseits gewährleistet sie aber aufgrund ihrer großen Höhe und mittigen Aussparung insbesondere bei Schlag- Abb. 87, 88, 89: Der herausragend gestaltete regen nur ungenügenden Witterungsschutz auf dem Verknüpfungspunkt Corum mit Zugang zu den Bahnsteig und deckt den Korrespondenzweg zu der an Ausstellungshallen in Montpellier der selben Stelle kreuzenden zweiten Straßenbahn- stammstrecke nicht mit ab.

83 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 90: Bordeaux, im Bau befindliche P&R-Großanlage Buttinière mit direktem Bahnsteigzugang

Abb. 91: Straßburg – Verknüpfungshaltestelle Hoenheim Gare

Abb. 92, 93: Nantes, Umsteigeknoten Pirmil

84 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 94: Nantes, Umsteigeknoten Le Cardo

Abb. 95: Rouen – Am Einkaufszentrum Saint-Sever liegt statt der Straßenbahn die Straße im Tunnel. Es bestehen so niveaugleiche direkte Wege ohne Abb. 97: Ein Merkmal der Haltestellen in Straßburg kreuzenden Straßenverkehr vom Geschäftsbereich sind die runden Säulen, welche als Standort der zur Haltestelle Fahrgastinformation dienen.

Abb. 96: Straßburg – Zwischengeschoss der Abb. 98: Lyon – standardisierte Haltestelle Straßenbahnstation unter dem Bahnhofsvorplatz

85 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 99: Lyon – Die Haltestelle Part-Dieu ist mit optisch ansprechenden Wartebänken möbliert Abb. 102: Orléans, Detailansicht Bahnsteigkante mit Anrampung in der Fußgängerzone

Abb. 100: Lyon – die besonders gestaltete Schwer- punktstation La Doua-Gaston Berger im Universi- tätsgelände

Abb. 103: Orléans – standardisierte Haltestelle mit Uhrentürmchen

Abb. 101: Die vom Zentrum zur Loire führende Strecke in Orléans ist eingepflastert und kann ab- Abb. 104: Straßburg – Umsteigeanlage Rotonde schnittsweise vom Straßenverkehr mitbenutzt mit eleganter Überdachung werden. Für Fußgänger stehen in der durchfahre- nen Rue Royale Arkadengänge zur Verfügung. An der Station Royale-Châtelet sind die Bahnsteige gleichzeitig Straßenfahrbahn. Ampeln und Schran- ken sichern die Ein- und Aussteigevorgänge. 86 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 105: Neue Verknüpfungshaltestelle in Köln anno 2002 – Umsteiger zwischen Bus und Stadtbahn müssen entweder die Straße queren oder finden den direkten Weg zwischen innenliegendem Bussteig und Bahnsteig Richtung Zentrum (links) durch einen Zaun versperrt. Witterungsschutz für die Umsteiger existiert nicht.

Zusammengefasst liegt die Hauptforderung bei der Haltestellengestaltung auf der Abstimmung der einzelnen Ausrichtungsgegenstände in Hinblick auf Farbe, Material und Design. Funk- tional ist eine günstige Integration der Zu- gangswege selbstverständlich, bei Verknüp- fungsstationen kommt die Forderungen nach einem bahnsteiggleichen Umstieg mit Witte- rungsschutz hinzu. Sicherlich finden diese Rahmendbedingungen auch hierzulande Beachtung. Doch nach wie vor werden Lösungen, die nicht ausreichend auf die genannten Hauptforderungen einge- hen, verwirklicht. Zur Veranschaulichung sei nochmals auf zwei Beispiele aus Köln, Baujahr 2002, verwiesen (vgl. Abb. 105, Abb. 106) Abb. 106: Bahnsteigmobiliar gestalterisch nicht aufeinander abgestimmt

87 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.2.6 Gestaltung der Gleichwohl sind Bestrebungen zu erkennen, Energieversorgungsanlagen gestalterische Beeinträchtigungen von Ober- leitungsanlagen noch weiter zu minimieren. Oberleitungen werden sehr häufig als gestal- Konzeptionsansätze umfassen wie schon zu terisch störendes Element einer Straßenbahn- Zeiten der Jahrhundertwende Unterleitungen trasse eingeschätzt. Verantwortlich hierfür sind und Batteriebetriebe. Das neue Straßenbahn- insbesondere Hochkettenfahrleitungen und zu system von Bordeaux erhielt in der Innenstadt wuchtige bzw. unstetig im Straßenraum ver- eine unterirdische Stromzuführung, Nizza plant teilte Fahrleitungsmasten. Zur Vermeidung op- kurze stromlose Abschnitte über Platzanlagen tisch negativer Effekte greifen französische hinweg, welche durch Batterien überbrückt Straßenbahnbetriebe ausnahmslos auf ge- werden sollen. Das Verhältnis zwischen Auf- wichtsnachgespannte Einfachfahrleitungen zu- wand und Nutzen solcher Maßnahmen ist aber rück. Dadurch konnte eine minimale Beein- umstritten, ebenfalls die Praxistauglichkeit. trächtigung des Stadtbildes erreicht werden. Falls die Fahrleitungen nicht direkt durch Das bei der im Dezember 2003 in Betrieb ge- Quertragwerke an der Bebauung aufgehangen gangenen Straßenbahn von Bordeaux zum Ein- werden können, kommt der Anordnung von satz kommende System APS89 wurde vorlau- Fahrleitungsmasten eine große gestalterische fend in Marseille auf der dortigen Straßenbahn-

Abb. 107: Straßenbahn ohne Oberleitung in Bordeaux

Rolle zu. Auf Beton- oder Stahlgittermasten wird verzichtet. Eine große Bedeutung besitzt die Vermeidung unstetiger Wechsel zwischen

Mittel-, Seiten- und Doppelauslegermasten. 89 Gleichzeitig lassen sich Straßenräume und Zur ausführlichen Systembeschreibung siehe Sichtachsen durch die Positionierung von HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und Mittel- flurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2004, zu Masten sowie ggf. der Integration von Masten ersten Betriebserfahrungen GRONECK, Christoph: Stra- und Straßenbeleuchtung interessant betonen. ßenbahn Bordeaux in Betrieb, stadtverkehr 2/2004

88 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 108: Nantes – Straßenbahn im fußgängerfreundlich gestalteten Bereich, nachgespannte Einfachfahr- leitungen beeinträchtigen die Optik kaum strecke auf seine Praxistauglichkeit und Wirt- werden durch den Zug selbst unter Spannung schaftlichkeit im Betrieb getestet.90 Mit den gesetzt. Der Wechsel der Betriebsmodi zwi- Unterleitungssystemen der Jahrhundertwende, schen Ober- und Unterleitung erfolgt in Halte- die sich technisch nie so recht durchsetzen stellen. konnten, hat das neue System wenig gemein. Die bisherige Betriebserfahrung aus Bordeaux Es handelt sich um eine Stromschiene in lässt Skepsis aufkommen, wenngleich natürlich Gleismitte, die in kurze Abschnitte von jeweils der kurze Betriebszeitraum noch keine ab- rund acht Meter Länge unterteilt ist. Immer schließende Wertung zulässt. Schon vor Betrie- nur die unter dem Zug befindlichen Abschnitte beseröffnung war das Unterleitungssystem überaus umstritten: Zum einen hat sich eine 90 Der Test der Firma SGTE lief zwischen Februar bis April Anlage dieser Form naturgemäß mit Sicher- 1999 nachts auf der Straßenbahn von Marseille zwischen heitsbedenken auseinander zu setzen, zum La Blancarde und Saint-Pierre eingleisig auf 350 m zweiten stellt sich die Frage, ob der optische Strecke. 2001 erfolgte nach Erteilung der Betriebsgeneh- Vorteil gegenüber filigranen nachgespannten migung eine Ausdehnung des Tests für ein Jahr im Fahr- gastbetrieb. Dazu wurde die Teststrecke um weitere 250 Einfachfahrleitungen tatsächlich den notwendi- m in straßenbündiger Lage bis Sainte-Thérèse verlängert. gen hohen finanziellen Zusatzaufwand recht- Anschließend entschied sich Anfang 2002 Bordeaux zur fertigt. Zum dritten muss sich die Betriebstaug- Verwendung dieses Systems auf allen drei Straßenbahn- lichkeit des Systems erst noch erweisen. In der linien in der Innenstadt.

89 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Startphase gab es bei der Straßenbahn Borde- aux immer wieder langandauernde Betriebsstö- rungen. Auf der anderen Seite konnte das Sys- tem inzwischen derart weiterentwickelt wer- den, dass das in Bordeaux vertragsrechtlich geforderte Zuverlässigkeitsniveau fast erreicht ist und dass APS damit offensichtlich auch für andere Städte interessant wird. Unlängst gab es Aufträge zum Bau von Unterleitungs- Straßenbahnen aus Angers und Orléans.

Abb. 111: Detail der Oberleitung in Orléans

Abb. 109: Marseille – die Unterleitung nach System Innorail im Testbetrieb (rechtes Gleis)

Abb. 112: Bordeaux, Einbindung einer Straßen- bahntrasse ohne Oberleitung in eine Platzfläche

Abb. 110: Nantes – filigrane Oberleitungskon- struktion am Kreuzungspunkt Commerce

Abb. 113, 114: Details des Unterleitungssystems von Bordeaux – Systemwechselstelle und Wei- chenbereich

90 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 115, 116: Streckenabschnitte in Bordeaux ohne und mit Oberleitung im Vergleich

91 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Nantes investierte für seine erste Straßen- 2.3 Baukosten bahnstrecke in den achtziger Jahren global, in- Aufgrund der sehr hohen Ansprüche an die klusive Fahrzeuge, umgerechnet gut 10 Millio- städtebauliche Gestaltung sind die Baukosten nen € pro Streckenkilometer. Dieses Preisni- der neuen französischen Straßenbahnstrecken veau wurde in der Folge deutlich überschritten. im internationalen Vergleich hoch. Ein zweiter In Grenoble betrugen die Kilometerkosten nur Grund für die hohen Baukosten liegt anderer- wenige Jahre später mit knapp 24 Millionen € seits aber auch darin, dass die Systeme völlig mehr als das Doppelte. Der Grund für die sehr neu aufgebaut werden mussten und deshalb preisgünstige Realisierung des Projektes von nicht auf vorhandene Infrastruktur im Bereich Nantes ist neben der allgemeinen Preissteige- der Werkstätten und Betriebshöfe zurückge- rung vorwiegend darin zu suchen, dass dort griffen werden konnte. Außerdem mussten eine relativ unproblematische Führung entlang wiederum aufgrund der völligen Neueinführung breiter Straßen oder neben Bahnstrecken ge- größere Teile der neuen Strecken in Stadtzen- wählt wurde. Kosten für städtebauliche Anpas- tren errichtet werden, wo der Bau von spurge- sungsmaßnahmen fielen daher in Nantes nicht führten Nahverkehrsmitteln erfahrungsmäßig in dem Maße an wie in anderen Städten. Da- generell teurer ist als in Außenbereichen. gegen erforderte die Integration der Straßen- bahnstrecke in den Altstadtkern von Grenoble Vergessen werden darf aber auch nicht, dass einen weitaus höheren finanziellen Aufwand. nicht zuletzt durch die hochwertigen gestalteri- schen Standards eine oberirdische Integration Bei den im Jahre 1994 neu eröffneten Syste- der Straßenbahn in die Innenstädte überhaupt men von Straßburg und Rouen ist das Preisni- erst konsensfähig wurde. So gesehen besitzt veau sehr unterschiedlich. Beide Städte greifen der Planungsansatz hochwertige Straßenbahn im Gegensatz zu Grenoble und Nantes im In- durchaus Kostenvorteile gegenüber der Alter- nenstadtbereich auf abschnittsweise unterir- native Unterpflasterstraßenbahn bzw. Stadt- dische Streckenführungen zurück. In Rouen bahn. besteht ein längerer und drei kürzere Tunnel- abschnitte mit insgesamt 2,2 km Länge und fünf Stationen. Diese Bauwerke führten zu sehr hohen Kilometerkosten von über 34 Millionen €. Dagegen ist in Straßburg durch den dortigen Tunnelbau kein besonderer Einfluss auf das Baukostenniveau festzustellen. Die Kilometer- kosten der ersten Stammstrecke inklusive des Tunnelbaus liegen bei rund 23 Millionen €. Sie sind also vergleichbar mit dem Kostenniveau von Grenoble. Allerdings beinhaltet der 1,4 km lange Straßburger Tunnel lediglich ein Stati- onsbauwerk, was darauf hinweist, dass unterir- dische Haltestellen ein maßgeblicher Kosten- faktor von Tunnelstrecken sind. Die ebenfalls im Jahre 1994 von Grund auf modernisierte Straßenbahn von Lille, welche in diesem Zu- sammenhang auch mit diversen unterirdischen Anlagen ausgestattet wurde, erforderte Inves- titionskosten von rund 10 Millionen € pro Kilo- meter. Im Zuge dieses Projektes waren aller- dings nur in geringem Maße Arbeiten mit Abb. 117: Nantes – Aufgrund der unproblema- städtebaulichem Bezug und zur Neugestaltung tischen Trassierung entlang breiter Straßen und von Straßenräumen durchzuführen, da die Bahnstrecken war die Linie 1 recht kostengünstig. Straßenbahn bereits vor ihrer Modernisierung Sie weist aus dem selben Grund im Vergleich zu vielen anderen Systemen eine höhere Reisege- weitgehend auf einem besonderen Bahnkörper schwindigkeit auf. verkehrte.

92 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Die Baukosten der im Jahre 2000 abgeschlos- Straßenbahn und Bus, wie die Straßenbahn auf sen Straßenbahnprojekte betragen global Gummireifen oder optisch spurgeführte Bus- durchgehend weiterhin rund 20 Millionen € pro systeme, neu entwickelt und auf den Markt Kilometer. Relativ preisgünstig war die Wieder- gebracht. Daher bemüht sich die französische einführung der Straßenbahn in Orléans, wo die Straßenbahnindustrie inzwischen um Maßnah- Kilometerkosten nur knapp 17 Millionen € be- men zur Kostensenkung beim Straßenbahnbau. trugen. In Lyon lagen jene der beiden neuen Ziel ist es, ein Straßenbahnsystem auch für Straßenbahnlinien bei 18 bzw. 22 Millionen €, kleinere Ballungsräume finanzierbar zu machen in Montpellier bei 23 €. Auch die zweite, voll- und den Konkurrenzsystemen ihren maßgeb- ständig oberirdisch verlaufende Stammstrecke lichen Vorteil des geringeren Finanzierungsauf- in Straßburg erforderte pro Streckenkilometer wandes zu nehmen. ein Investitionsbudget von 23 Millionen €, war Beachtlich ist ein Experiment zur Reduzierung also insgesamt gesehen nicht kostengünstiger der globalen Kosten eines Straßenbahnsys- als die erste Strecke mit ihrem Tunnelbauwerk. tems, durchgeführt vom französischen Fahr- Die neue Linie 3 in Nantes, welche in ihrem zeughersteller Alstom und der Stadt La Ro- Streckenverlauf weitgehend straßenbündig chelle, welche das Alstom-Werk für den Bau durch recht enge Straßenräume verkehrt, von Straßenbahnzügen beherbergt. Zu diesem kostete sogar 25 Millionen € pro Streckenkilo- Zwecke wurde in La Rochelle eine 1.440 m meter. lange eingleisige Straßenbahnstrecke mit einer Erwähnenswert ist ein Vergleich der Baukosten Zwischenhaltestelle für Experimentierzwecke von Straßenbahn- und Metrosystemen. Für die gebaut. Sie führt vom Rondpoint de l’Europe in globalen Kilometerkosten der verschiedenen einem Gewerbegebiet im Süden der Stadt über spurgeführten Bahnsysteme inklusive Fahr- den Boulevard de la République bis zu den zeugmaterial und städtebaulichen Anpas- Gleisanlagen der SNCF, wo sich auch die sungsmaßnahmen lassen sich folgende Erfah- Werksanlagen von Alstom befinden. Baubeginn rungswerte angeben (vgl. Tab. 17 und Abb. war im September 2000, zum autofreien Tag 118): am 22. September 2001 konnte die Strecke nach nur einem Jahr Bauzeit eröffnet werden. • schwere Metro: 70 Mio € pro Kilometer Die Baukosten betrugen 1,8 Millionen €. Für • VAL: 50 Mio € pro Kilometer den Einsatz auf der Strecke wurde von Alstom • Straßenbahn: 20 Mio € pro Kilometer auf eigene Rechnung ein Standardfahrzeug der Reihe Citadis 300 gebaut. Unterstützt wird das Das im deutschen Sinne stadtbahnartige Sys- Experiment vom Staat und dem zuständigen tem von Rouen mit seinem innerstädtischen Departement. Ziel ist die Entwicklung von Maß- Tunnel liegt hinsichtlich seines Finanzierungs- nahmen zur Senkung der Kosten für den Bau aufwandes etwa in der Mitte zwischen VAL- von einem Kilometer Straßenbahnstrecke Metro und oberirdischer Straßenbahn. Damit inklusive aller Nebenkosten um rund 30% auf lässt sich betonen: Die französischen Straßen- etwa 12 Millionen €. Die Fahrzeuge sollen bahnsysteme mögen als solche teuer sein, im nochmals leichter und preisgünstiger werden.91 Vergleich zur Alternative teilweise im Tunnel verlaufender Stadtbahnen sind sie es nicht. Ob die Versuche tatsächlich in einer nachhal- Dieser Zusammenhang ist wesentlich, denn tigen Verringerung der Baukosten münden, gerade die erhöhten Aufwendungen zur stadt- kann noch nicht abschließend beurteilt werden. verträglichen Einfügung der Trassen sind der Bei den Fahrzeugen zeigt die Preisentwicklung Schlüssel dafür, um auf noch viel teurere derzeit eher wieder nach oben. Dagegen wird Tunnelstrecken verzichten zu können. bei den neuesten Streckenbauprojekten tat- sächlich mit geringeren Baukosten gerechnet. Die gleichwohl hohen Baukosten haben bisher in Frankreich einige grundsätzlich interessierte Städte vom Bau einer Straßenbahn abgehalten.

Gleichzeitig wurden in der jüngeren Vergan- 91 genheit als Konkurrenz zur klassischen Stahl- Zur Experimentiertram von La Rochelle vgl. VON MACH, Stefan: Was so neu ist an der Neuen – Niedrigere rad-Straßenbahn die Mischsysteme zwischen Kosten für die Tram; Straßenbahn-Magazin 3/2002

93 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Stadt System Linie Eröffnung Länge Mio Mio FRF Mio € [km] FRF pro km pro km Grenoble Straßenbahn A, erste Phase 1987 8,8 1.372 155,91 23,77 A, Verlängerung 1996/97 3,9 670 171,79 26,19 B, erste Phase 1990 3,9 812 208,21 31,74 B, Verlängerung 1999/2001 1,2 476 396,67 60,4792 Lille VAL 1 1983/84 13,33.700 278,19 42,41 2, erste Phase 1989 12,1 3.600 297,52 45,36 2, Verlängerung 1995 3,8 1.200 315,79 48,14 2, Verlängerung 1999/2000 17,5 5.760 329,14 50,18 Straßenbahn Modernisierung 1993/94 18,5 1.193 64,49 9,83 Lyon Metro A, B, C 1978/84 14,1 4.750 336,88 51,36 B, Verlängerung 2000 2,4 1.000 416,67 63,52 D, erste Phase 1991 11,3 6.000 530,97 80,95 D, Verlängerung 1997 1,7 1.300 764,71 116,60 Straßenbahn 1 2000 8,21.276 155,61 23,72 2 2000 10,11.152 114,06 17,39 Marseille Metro 1, erste Phase 1977 9,3 3.300 354,84 54,09 1, Verlängerung 1992 1,1 500 454,55 69,30 2 1984/87 8,93.100 348,31 53,10 Montpellier Straßenbahn 1 2000 15,2 2.280 150,00 22,87 Nantes Straßenbahn 1, erste Phase 1985/89 12,6 860 68,25 10,41 1, Verlängerung 2000 5,3 434 81,89 12,48 2, erste Phase 1992 6,0 658 109,67 16,72 2, Verlängerung 1993/94 8,2 900 109,76 16,73 3 2000 4,1645 157,32 23,98 Orléans Straßenbahn 1 2000 17,9 1.972 110,17 16,79 Rennes VAL 1 2002 8,6 2.948 342,79 52,26 Rouen Straßenbahn erste Phase 1994 10,9 2.487 228,17 34,78 Verlängerung 1997 4,2 530 126,19 19,24 Straßburg Straßenbahn A 1994/98 12,61.940 153,97 23,47 B 2000 11,91.846 155,13 23,65 Toulouse VAL A 1993 10,0 3.390 339,00 51,68

Tab. 17: Globalkosten spurgeführter Verkehrssysteme93

92 inkl. zusätzlicher Fahrzeuge für das Gesamtnetz, daher Kostenausreißer 93 Kostenangaben nach GART: TSCP en Service; http://www.gart.org

94 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

125

100

75 Straßenbahn Metro 50 VAL

25

0 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Jahr der Streckeneröffnung

Abb. 118: Kilometerkosten spurgeführter Verkehrssysteme in Mio €

Für Deutschland lassen sich, Ausreißer unbe- rücksichtigt, folgende Kennwerte für Kilome- terkosten (ohne Fahrzeuge) angeben:94 • Straßenbahn in Neubaugebieten oder im Freiraum: 5 Mio €/km • Straßenbahn in Vororten: 10 Mio €/km • Straßenbahn innerhalb des Stadtzentrums: 15 Mio €/km • Tunnelstrecke: 55-70 Mio €/km

Bemerkenswert ist, dass in Frankreich im Ver- gleich zu Deutschland die Baukosten für U- Abb. 119: Straßburg – hohe Baukosten durch weit- Bahn-Strecken etwa gleich hoch angesetzt reichende Gestaltungsmaßnahmen sowie stellen- werden, jene für Straßenbahnen aber deutlich weise unterirdische Führung höher liegen. Dies bestätigt die höheren Auf- wendungen für gestalterische Maßnahmen.

94 GRONECK, Christoph: Straßen-, Stadt- und U-Bahn-Bau im Kostenvergleich; Straßenbahn-Magazin 7/2003

95 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Auf den Straßenbahnnetzen sind Zugfolgen 2.4 Betriebliche Leitbilder von vier Minuten und weniger während der Spitzenstunde nicht unüblich. Alle Straßen- 2.4.1 Fahrplanangebot bahnlinien Frankreichs werden in der Haupt- Neben den baulichen Leitbildern orientieren verkehrszeit mindestens im Achtminutentakt sich Frankreichs neue Straßenbahnen auch in befahren. Auf mehreren Stammstrecken ver- der Betriebs- und Fahrplangestaltung an eige- kehren planmäßig Züge im Zweiminutentakt. nen charakteristischen Leitbildern. Im Ver- Daneben sind aber auch dem Bedarf ange- gleich zu Deutschland lassen sich im französi- passte häufige Taktsprünge oder gar der Ver- schen öffentlichen Personennahverkehr, ganz zicht auf ein einheitlich vertaktetes Angebot Stadt Linie HVZ NVZ Samstag Sonntag SVZ Grenoble A 4 4 bis 7 5 bis 7 12 bis 15 12 bis 20 B 3 3 bis 6 7 11 bis 17 12 bis 26 Lille R 8 11 10 25 30 bis 40 T 8 11 10 25 30 bis 40 R+T 4 5 bis 6 5 12 bis 13 15 bis 20 Lyon 1 7 7 7 bis 10 11 10 bis 15 2 7 7 7 bis 10 11 10 bis 15 Marseille 68 5 5 bis 7 8 14 kein Betrieb Montpellier 1 5 5 7 15 20 Nantes 1 4,5 5 bis 7 7 15 bis 20 15 bis 30 2 3 4 bis 6,5 6,5 bis 7,5 15 bis 20 15 bis 30 3 6 6 7 15 bis 20 15 bis 30 Orleans 1 6 6 bis 10 9 bis 12 20 bis 30 30 Rouen Äste 6 6 bis 10 8 bis 11 20 10 bis 25 Stamm 3 3 bis 5 4 bis 6 10 5 bis 15 Saint-Étienne 4 2 3 bis 4 4 9 bis 13 13 bis 33 Straßburg A 4 4 bis 7 5 bis 8 10 bis 15 10 bis 15 D 4 4 bis 7 5 bis 8 kein Betrieb kein Betrieb A+D 2 2 bis 4 2 bis 5 10 bis 15 10 bis 15 B 6 6 bis 8 7 bis 8 12 bis 16 15 C 6 6 bis 8 7 bis 8 12 bis 16 15 B+C 3 3 bis 4 3 bis 4 6 bis 8 15

Tab. 18: Taktintervalle der französischen Straßenbahnlinien95 besonders im Busverkehr, aber auch bei den nicht unüblich. Problematisch wird diese Vor- spurgeführten Systemen, in weitaus größerem gehensweise während der Schwachlastver- Maße bedarfsorientierte Fahrplangestaltungen kehrszeiten sonntags und abends mit ausge- erkennen, die während der Hauptverkehrszei- dünntem Verkehr. Nur einige Betriebe machen ten oftmals äußerst dichte Fahrtenfolgen, in zu diesen Zeiten von der Verwendung merk- den Schwachlastzeiten dagegen reduzierte An- barer starrer Viertel-, Zwanzigminuten- oder gebote enthalten (vgl. Tab. 18).

95 Stand: Fahrplan Winter 2002/03

96 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 120: Durch die unabhängige Streckenführung inzwischen in Traktion betrieben: Linie T2 in Paris

Halbstundentakte Gebrauch.96 Anderswo gibt wegen der in den meisten Städten vorhande- es trotz reduziertem Angebot überhaupt keinen nen oberirdischen Stammstrecken durch histo- festen Takt oder aber auch nicht merkbare rische Altstadtkerne städtebauliche Bedenken Taktfolgezeiten von oftmals zwischen 11 und gegenüber dem Verkehr längerer Züge. Die 14 Minuten. Nachtverkehre existieren auf den drei Städte mit potenziellem bzw. durchgeführ- Straßenbahnnetzen bisher nicht. tem Langzugbetrieb, Nantes (Linie 1, heute nur noch längere Einzelzüge), Paris (Linie T2) 2.4.2 Zuglängen und Taktintervalle sowie Rouen (bislang nur optional), weisen Zuglängen von mehr als 45 m sind in Frank- bezeichnenderweise die Strecken auf, welche reich Ausnahmefälle. In Verbindung mit den am weitesten stadtbahnartig ausgebaut sind. dichten Taktfolgezeiten erstaunt dies zunächst. Auch durchqueren diese Strecken abweichend Die Möglichkeit, durch große Gefäßgrößen den zu den anderen Systemen die jeweilige Betrieb zu rationalisieren, wird nur teilweise Innenstadt in städtebaulich unproblematischer ausgeschöpft. Peripher- bzw. in Tieflage. Dagegen lehnen die anderen Straßenbahnstädte mit Strecken durch Der Einsatz kurzer Züge bei dichten Taktinter- Fußgängerzonen den Betrieb mit Zügen von vallen kennt zwei Gründe. Zum einen gibt es mehr als 45 m Länge meist kategorisch ab. Andererseits soll durch dichte Fahrtenfolgen 96 aber auch die Attraktivität des Straßenbahn- Herausragende positive Ausnahme ist Nantes, hier wird verkehrs gesteigert werden. Durch die Be- in den Schwachlastzeiten ab dem zentralen Knotenpunkt Commerce ein Sternverkehr mit merkbaren Abfahrts- triebskostenfinanzierung mittels der Trans- zeiten und Anschlüssen in alle Richtungen angeboten. In portsteuer steht die Strategie des Einsatzes diesen Sternverkehr sind sowohl die drei Straßenbahnli- kurzer Züge im dichten Takt in Frankreich auf nien als auch Buslinien einbezogen. sicherer ökonomischer Grundlage. Dies zeigt 97 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Stadt Linie Länge Fahrzeit97 Reisegeschwindigkeit [km] [min] [km/h] Grenoble A 12,7 44 17 B 06,9 24 17 Lille R 10,9 31 21 T 11,5 30 23 Lyon 1 08,2 28 18 2 10,1 28 22 Marseille 68 03,0 13 14 Montpellier 1 15,2 44 21 Nantes 1 16,5 46 20 2 14,0 46 18 3 04,6 18 15 Orléans 1 17,9 50 22 Paris T1 09,1 33 17 T2 11,3 25 32 Rouen M 08,8 26 20 M 09,7 29 20 Saint-Étienne 4 09,3 36 16 Straßburg A 12,6 34 23 D 03,9 14 18 B 10,2 31 20 C 05,7 21 18

Tab. 19: Durchschnittliche Reisegeschwindigkeiten98 eine praktische Auswirkung der grundlegend anderen finanziellen Förderungspraxis von Be- 2.4.3 Reisegeschwindigkeit trieb und Infrastruktur im öffentlichen Ver- Die Reisegeschwindigkeiten der neuen Sys- kehrswesen beiderseits des Rheins: Deutsche teme sind meist nicht überaus hoch. Im Allge- Straßenbahnbetriebe sind aufgrund der unsi- meinen werden Werte um 20 km/h erreicht cheren Betriebskostensubvention eher am Ver- (vgl. Tab. 19). Bei kürzeren Linien mit hohem kehr großer Zugeinheiten sowie kurzen Um- Anteil an straßenbündigen Bahnkörpern wie laufzeiten interessiert. Aus städtebaulicher und beiden Linien in Grenoble sowie der Linie 3 in betrieblicher Hinsicht sind beides Kriterien, Nantes ist die Reisegeschwindigkeit nochmals welche oftmals einen Tunnelbau als beste Op- deutlich geringer. Auf der anderen Seite besit- tion ergeben. Große Vorhaben wurden gleich- zen nicht wenige Linien in den Außenbereichen zeitig in Deutschland durch das Gemeindever- gut ausgebaute Strecken mit weitgehend se- kehrsfinanzierungsgesetz bisher mit bis zu parierten Eigentrassen und höheren möglichen 90% der Baukostensumme bezuschusst, so dass sich insgesamt sehr hohe Anreize zu einem Stadtbahnbetrieb mit möglichst eisen- 97 bahnartigem Ausbauzustand ergeben. Maximalfahrzeit während der Hauptverkehrszeiten, in den Schwachlastzeiten werden i.A. kürzere Fahrzeiten und damit höhere Reisegeschwindigkeiten erreicht 98 Stand Fahrplan Winter 2002/03

98 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 121: Durch gut ausgebaute Trassen in den Außenbereichen – bei durchgehend hohem Gestaltungs- anspruch – stellen die französischen Straßenbahnsysteme durchaus leistungsfähige Stadtbahnsysteme mit hohen Reisegeschwindigkeiten in weiten Abschnitten dar – Beispiel Montpellier

Fahrgeschwindigkeiten. So erreichen die Linie rum und südlicher Trabantenstadt in Orleáns A in Straßburg 23 km/h sowie die Linien T2 in bzw. durch die Nutzung einer Eisenbahnstre- Lyon und 1 in Orléans jeweils 22 km/h. cke in einem nicht geschlossen bebautem Ge- biet in Paris. Im Vergleich zu den Altnetzen Die geringen Reisegeschwindigkeiten relati- von Saint-Étienne und Marseille99 sind die Hal- vieren sich dadurch, dass sie vorwiegend aus testellenabstände bei den neuen Netzen deut- der oberirdischen Führung durch Fußgänger- lich größer, was der Planungsphilosophie einer zonen bedingt sind. Hier wurden die Straßen- leistungsfähigen Stadtbahn entspricht. bahnen meist unmittelbar in das Zielgebiet vieler Fahrgäste integriert und somit die Zu- Besonders gering sind die Haltestellenabstände gangszeiten optimiert. bei den alten Systemen von Saint-Étienne und Marseille mit jeweils unter 400 m. Zusätzlich 2.4.4 Haltestellenabstände bedingt durch die nur teilweise bestehende Direkt mit der Reisegeschwindigkeit zusammen Verfügbarkeit über einen eigenen Bahnkörper hängen die Haltestellenabstände. Sie liegen bei liegen die Reisegeschwindigkeiten hier nur bei den neuen Systemen bei durchschnittlich etwa 14 bzw. 16 km/h. In Marseille wird derzeit im 500 m (vgl. Tab. 20). In den Innenstädten Zuge der Modernisierung der Straßenbahn der werden zur Feinerschließung oft deutlich dich- Haltestellenabstand vergrößert. tere Stationsfolgen realisiert. Dagegen hat in den Außenbereichen meist eine höhere Reise- geschwindigkeit Vorrang vor allzu dicht aufei- nander folgenden Haltestellen. Die Ausreißer

Orléans und Paris mit deutlich größeren Abständen erklären sich durch die Siedlungs- 99 Für Lille lässt sich diese Feststellung nicht treffen, bei struktur mit Freiräumen zwischen Stadtzent- der dortigen Straßenbahn handelt es sich aber auch um eine städteverbindende Schnellstraßenbahn.

99 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Stadt Linie Länge Haltestellen Durchschnittlicher [km] Haltestellenabstand [m] Grenoble A 12,7 29 450 B 06,9 17 430 Lille R 10,9 23 500 T 11,5 22 550 Lyon 1 08,2 19 460 2 10,1 20 510 Marseille 68 03,0 09 380 Montpellier 1 15,2 28 560 Nantes 1 16,5 32 530 2 14,0 30 480 3 04,6 12 420 Orléans 1 17,9 24 780 Paris T1 09,1 21 460 T2 11,3 13 940 Rouen M 08,8 18 520 M 09,7 20 510 Saint-Étienne 4 09,3 30 320 Straßburg A 12,6 22 600 D 03,9 08 560 B 10,2 20 540 C 05,7 13 480

Tab. 20: Durchschnittliche Haltestellenabstände

lungseffekten die Einführung von Zubringer- 2.4.5 Netzhierarchisierung buslinien an das Hauptsystem vor. Gegenüber Spurgeführte Verkehrsmittel bedingen immer reinen Bussystemen, wo meist alle Bedie- eine Bündelung von Fahrgastströmen. Auf- nungsgebiete direkt mit dem zugehörigen grund hoher Kosten zur Herstellung einer Inf- Stadtzentrum verbunden werden, erhöht sich rastruktur lassen sich nur selten wirklich flä- dadurch die Zahl der Umsteiger. Andererseits chendeckende Strukturen schaffen. Dies gilt verbessert sich aber durch den größeren Per- insbesondere für unterirdische Bahnsysteme, sonalwirkungsgrad von spurgeführten Ver- aber auch für Straßen- und Stadtbahnsysteme. kehrssystemen hoher Kapazität die Wirtschaft- Wenngleich die Bauleistung der französischen lichkeit des öffentlichen Verkehrs. Für die Nut- Straßenbahnstädte in den vergangenen zwei zer ergeben sich vielfach trotz Umstieg Jahrzehnten beachtlich war, so sind doch die schnellere Reisezeiten, da innerstädtische Bus- meisten Straßenbahnnetze vom Zustand einer systeme häufig großen Störungsseinflüssen Flächendeckung noch weit entfernt bzw. stre- ausgesetzt sind und in aller Regel nicht oder ben eine Flächendeckung aufgrund ökonomi- nur abschnittsweise über Eigentrassen verfü- scher Gesichtspunkte auch nicht an. gen. Zuletzt ergibt sich auch eine Entlastung Die Philosophie spurgeführter Massenver- von Stadtzentren durch die absolute Reduzie- kehrsmittel sieht zur Förderung von Bünde-

100 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme rung der dort verkehrenden Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs.100 Straßenbahnsysteme stehen ihrer Charakteris- tik nach zwischen Bussystemen und schweren Schnellbahnen. Die Einführung von Zubringer- verkehren zu Straßenbahnlinien unter Aufgabe direkter Busverbindungen wird nicht selten kontrovers diskutiert. Oft wird die Philosophie geäußert, Straßenbahnen seien ein Flächenver- kehrsmittel, welches dementsprechend keine Konzentration auf wenige Hauptrouten in Ver- bindung mit Zubringerverkehren benötigen. Viele Straßenbahnstädte Frankreichs setzen demgegenüber aber auf die Etablierung von Zubringerverkehren, oft im großen Stil. Neue Straßenbahnstrecken auf städtischen Haupt- achsen liefern den Ansatz, parallel verkehrende Buslinien konsequent abzubinden und an gro- ßen Verknüpfungsstationen der Straßenbahn zuzufüttern. In vielen Straßenbahnstädten konnte so die Zahl der in die Innenstadt durchfahrenden Buslinien ganz erheblich redu- ziert werden.101 Auf der anderen Seite wurden in vielen Fällen die wegfallenden Busleistungen in der Innenstadt dafür verwendet, um auf den Zubringerlinien in den Außenbezirken ein ver- dichtetes Angebot mit Verknüpfung zur Stra- ßenbahn anzubieten. So ergibt sich trotz Um- steigezwang für die meisten Benutzergruppen ein weitaus dichteres Fahrtenangebot.

100 In Le Mans verkehren derzeit pro Tag 610 Busse über die zentrale Place de la République. Nach Fertigstellung der Straßenbahn sollen es nur noch 210 Straßenbahn- züge sein. Die Entlastung der Innenstadt vom störenden Busverkehr ist ein wesentliches Argument zum Bau des Systems. 101 Am konsequentesten in der Ausgestaltung von Zubrin- gerverkehren ist Straßburg vorgegangen, wo nur noch Abb. 122, 123, 124: Knoten Grand’Place in zwei städtische Buslinien das innere Zentrum durchque- Grenoble mit bahnsteiggleichem Umstieg, eigen- ren. Möglich wurde die jetzt erfolgte Konfiguration des williger Gestaltung und direktem Zugang zum an- Straßburger Busliniennetzes nach der Fertigstellung des grenzenden Einkaufszentrum nun sternförmigen Straßenbahnnetzes mit zwei Stamm- strecken und fünf Außenstrecken. Vor Eröffnung der Indikator für eine Netzhierarchisierung ist der zweiten Stammstrecke fuhren noch neun Buslinien bis in Umsteigefaktor, also dem Verhältnis zwischen das innere Stadtzentrum hinein, heute sind es nur noch Fahrten und Reisen im Gesamtnetz. Hier lassen zwei. Weitere Städte wie Montpellier werden ihre Bus- netze nach dem weiteren Ausbau der Straßenbahnnetze sich im Vergleich der 28 bedeutsamsten fran- und der Schaffung von zwei oder drei innerstädtischen zösischen Nahverkehrsnetze ohne Paris mit Stammstrecken mutmaßlich genauso umstrukturieren und ohne spurgeführte Verkehrsmittel klare können. Der Erfolg bei den Fahrgastzahlen gibt der Tendenzen erkennen (vgl. Tab. 21). Im Durch- Straßburger Vorgehensweise unbestritten Recht. Auf der anderen Seite blieb das Straßenbahnsystem von Orléans, schnitt werden während einer Reise mit dem wo die Abbindung von Buslinien nicht konsequent durch- öffentlichen Verkehr 1,26 Verkehrsmittel be- geführt wurde, bisher hinsichtlich seiner Fahrgastnach- nutzt. Differenziert nach den angebotenen frage deutlich unter den Erwartungen. 101 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Verkehrsmitteln ergibt sich aber in Städten mit Stadt ÖPNV- Mio Umstei- reinen Bussystemen ein Wert von durch- Verkehrs- ÖPNV- gefaktor schnittlich lediglich 1,19 und in Städten mit mittel Reisen spurgeführten Verkehrsmitteln ein Wert von durchschnittlich 1,40. Dabei ist in der französi- Angers Bus 24.844 1,05 schen Provinz die Anzahl der pro Reise be- Bordeaux Bus 50.293 1,28 nutzten Verkehrsmittel in den beiden Metro- Brest Bus 15.578 1,29 städten Marseille und Lyon mit 1,65 bzw. 1,61 mit Abstand am größten. Die zu Anfang des Caen Bus 18.518 1,19 Jahres 2000 vorhandenen Straßenbahnstädte Clermont- Bus 21.726 1,14 Grenoble, Nantes, Rouen, Saint-Étienne und Ferrand Straßburg liegen etwa gleichauf mit den VAL- Dijon Bus 29.784 1,19 Städten Lille und Toulouse bei durchschnittlich 1,34 Verkehrsmitteln pro Reise. Dünkirchen Bus 12.012 1,08 Grenoble Straßenbahn, 43.174 1,31 Im Idealfall erfolgt eine Bündelung vieler Bus- Bus linien auf einen zentralen Umsteigepunkt, so dass die Umsteigevorgänge räumlich konzent- Le Havre Bus 21.866 1,10 riert werden. Diese Strategie liefert neben An- Lens Bus 4.959 1,14 schlüssen zwischen den Bussen insbesondere Lille Straßenbahn, 77.383 1,37 auch genügend Aufkommen an Umsteigern, Bus, VAL welches eine besondere bauliche Ausgestal- tung der Verknüpfungspunkte rechtfertigt. Lyon Metro, Bus 165.529 1,61 Neben den Zubringerbusverkehren setzen die Marseille Metro, Bus, 89.480 1,65 meisten Systeme auch auf eine Förderung von Straßenbahn Park&Ride im großen Stil. Meistens sind diese Montpellier Bus 27.397 1,25 Anlagen personalbesetzt und damit bewacht. Mülhausen Bus 21.851 1,25 Hervorzuheben sind die vielfach sehr preisgün- stigen Tarife für Park&Ride-Nutzer in der Form Nancy Bus 16.269 1,20 1 Auto = 1 Fahrschein, unabhängig von der Nantes Straßenbahn, 61.559 1,35 Zahl der Mitfahrer. Bus Nizza Bus 29.332 1,30 Orleans Bus 12.531 1,28 Reims Bus 23.605 1,32 Rennes Bus 28.172 1,20 Rouen Straßenbahn, 31.006 1,24 Bus Saint- Straßenbahn, 26.788 1,40 Etienne Bus Straßburg Straßenbahn, 52.572 1,35 Bus Abb. 125: P&R-Anlage Porte des Alpes in Lyon Toulon Bus 21.699 1,05 Toulouse VAL, Bus 57.633 1,33 Tours Bus 21.756 1,17 Valenciennes Bus 17.179 1,21

Tab. 21: Anteil der Umsteiger102

102 CERTU: Mobilité et Transport; http://www.certu.fr 102 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Abb. 126, 127: Umsteigestation Occitanie in Montpellier mit eleganter Dachkonstruktion

103 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.4.6 Kapazität

] Wenngleich mit der Beschränkung auf 30 bis

]

45 m lange Züge eine gegenüber deutschen s [

Stadtbahnnetzen geringere Beförderungskapa- mögen Kapazität Personen [ Taktfolgzeit

zität in Kauf genommen wird, so handelt es [Personen/h] Verkehrsmittel Fassungsver- sich bei den französischen Straßenbahnsyste- men doch um leistungsfähige Verkehrssys- Gelenkbus 180 0110 02.200 teme. Reizt man die Kapazität einer Straßen- Straßenbahn 30 m 120 0180 05.400 bahn mit 45 Meter langen Zügen und einem Straßenbahn 45 m 120 0240 07.200 Zwei- bis Dreiminutentakt voll aus, so ermittelt sich theoretisch eine maximal mögliche Beför- Straßenbahn 60 m 120 0360 10.800 derungsleistung von rund 7.500 Personen (vgl. GLT/TVR 120 0150 04.500 Tab. 22). Praktisch dürfte sich das Maximum VAL Einzelzug 060 0150 09.000 aufgrund von Schwankungen der Fahrgast- ströme bei etwa 5.000 Personen pro Stunde VAL Doppelzug 060 0300 18.000 und Richtung befinden. Dieses liegt damit aber Metro 120 m 090 1.000 45.000 immer noch um etwa das Dreifache höher als 103 die Kapazität eines Gelenkomnibusses. Dazu Tab. 22: Kapazitäten öffentlicher Verkehrsmittel tragen nicht nur die größere Platzkapazität ei- nes Straßenbahnzuges bei, sondern auch die Umgelegt auf die Faustformel, dass das Auf- durch den Bau einer durchgehenden Eigen- kommen in der Spitzenstunde etwa ein Zehntel trasse in Verbindung mit Bevorrechtigungen an des Tagesaufkommens beträgt, ergibt sich bei den Lichtsignalanlagen kürzere realisierbare der Annahme von 5.000 Fahrgästen pro Wagenfolge. Auch im Vergleich zur nur ab- Stunde und Richtung für eine Straßenbahn- schnittsweise spurgeführten und in der Fahr- durchmesserlinie eine praktisch maximale Be- zeuglänge daher eingeschränkten Straßenbahn förderungsleistung von rund 100.000 Fahr- auf Gummireifen besitzt die konventionelle gästen pro Tag. Diese wird auf mehreren fran- Straßenbahn eine fast doppelt so hohe Kapa- zösischen Straßenbahnlinien auch erreicht, zität. Auf der anderen Seite liegt das Platzan- stellenweise stoßen die Systeme bereits an ihre gebot von VAL-Metros aufgrund deren bau- Kapazitätsgrenzen. Damit wird deutlich, dass kostenbedingten Beschränkung in der Fahr- die Straßenbahnen französischer Philosophie, zeuglänge zumindest bei den Systemen mit so vorteilhaft sie als Nahverkehrsmittel für Einzelzugbetrieb nicht deutlich höher als jenes mittelgroße Ballungsräume sind, als primärer der Straßenbahn. Weitaus größer ist nur die Verkehrsträger des öffentlichen Nahverkehrs für Millionenstädte als nicht geeignet erschei- mögliche Beförderungsleistung von schweren 104 U-Bahn-Systemen sowie U-Bahn-ähnlichen nen. Stadtbahnsystemen mit Langzugbetrieb.

103 Fassungsvermögen: Stehplatzdichte 4 Pers/m²; Kapa- zität in einer Richtung 104 So befördern mit Ausnahme der kurzen Zahnradbahn- linie C alle Metrolinien in Lyon trotz relativ kurzer Streckenlänge täglich mehr als 100.000 Fahrgäste. Durch diese Belastung wird eindrucksvoll bestätigt, dass der Bau der Metro verkehrstechnisch wohl begründet war. Abb. 128: Mehrere französische Straßenbahnsys- Konventionelle Straßenbahnen könnten diese Verkehrs- teme haben durch hohe Nachfrage bereits ihre Ka- menge kaum befördern, auf Lyons Metrolinie A sind trotz pazitätsgrenze erreicht. In Montpellier wurden die der um ein Drittel geringeren Streckenlänge mehr als ursprünglich wie auf dem Bild zu sehenden sechs- dreimal soviel Fahrgäste unterwegs wie auf der überlas- achsigen Züge inzwischen zur Bewältigung des teten Straßenbahnlinie A in Straßburg. Fahrgastandrangs zu Achtachsern erweitert. 104 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

kehrsraum beträgt etwa bei der CTS (Straß- 2.5 Kostendeckungsgrad burg), der TAN (Nantes) sowie der TAG (Gre- 1991 erzielten die Aufgabenträger ihre Ein- noble) im Jahre 2005 lediglich 1,20 €. Die TCL nahmen zu 41% aus der Transportsteuer, zu (Lyon) berechnet für ein deutlich größeres Ver- 32% aus Fahrgeldeinnahmen, zu 23% aus lo- kehrsgebiet 1,50 €. Dagegen beträgt der Preis kalen Steuern und zu 4% aus Zahlungen des für ein Einzelticket im VRS (Köln und Bonn) Staates in Form von Baukostenzuschüssen. bereits für innerstädtische Verkehre 2,10 €. Zwischen 1975 und 1992 ging global betrach- Der VRR (Rhein-Ruhr) sowie der VBN (Bre- tet die Kostendeckung des öffentlichen Perso- men) berechnen beispielsweise 2,00 €, eben- nennahverkehrs in französischen Städten zwi- falls für im Vergleich zu den genannten franz- schen 100.000 und 250.000 Einwohnern von ösischen Städten deutlich kleinere Tarifzonen. 90% auf 55,9% zurück105. Damit ist der Ein anderes Bild ergibt sich auch in Frankreich Kostendeckungsgrad französischer Verkehrsun- alleine schon bei reiner Betrachtung der Be- ternehmen im deutsch-französischen Vergleich triebskosten. Klammert man die Unterhalts- in Frankreich niedriger106. und Kapitalkosten für die Strecken aus, so er- Zu beachten ist hierbei aber, dass Anleihen für gibt sich bei den spurgeführten Systemen viel- Infrastrukturmaßnahmen langfristige Kapital- fach eine Vollkostendeckung. In Straßburg kosten verursachen, welche in das Betriebser- trägt die Straßenbahn 129% der Betriebskos- gebnis mit einfließen. In Deutschland sind ein ten. Im Jahre 1999 erzielte die Linie A Einnah- großer Anteil dieser Kosten über Baukostenzu- men von 7,5 € (49 FRF) pro Streckenkilometer. schüsse des Bundes und der Länder abge- Demgegenüber standen Betriebskosten von deckt. So geben die Kölner Verkehrsbetriebe lediglich 5,5 € (36 FRF) pro Streckenkilom- AG (KVB) für 2003 einen Umsatz von 163 eter.108 Auch die automatischen VAL-Metrosys- Millionen € und einen Kostendeckungsgrad von teme sind dank ihres systembedingt geringen 70% an.107 Im Vergleich zum ähnlich großen Personalbedarfes im reinen Betrieb meist Verkehrsraum Lyon (42,5%) erscheint dieses kostendeckend. Ergebnis zunächst deutlich besser. Allerdings Ein Vergleich der 25 größten Transporträume wurden in Köln nur rund 20% der Investitionen Frankreichs ohne Paris liefert zunächst ein aus Eigenmitteln bestritten, der Rest kam aus diffuses Bild (vgl. Tab. 23). Die Kostende- Zuschüssen. ckungsgrade schwanken vor Steuern zwischen Ein weiterer wesentlicher Punkt beim Kosten- 61,5% und 18%. Qualifizierte Aussagen lassen vergleich zwischen Deutschland und Frankreich sich aber durchaus bei Einbeziehung von Fahr- ist das in Frankreich deutlich niedrigere Tarif- gastzahl, Verkehrssystem und Bevölkerungs- niveau. Der Preis eines nicht ermäßigten Ein- zahl treffen (vgl. Abb. 129 und Abb. 130). zelfahrscheins für jeweils den ganzen Ver-

105 BUEHRER, Claudine; NICKEL, Bernhard E.; QUIDORT, Michel und SCHMIDT, Hartmut: Organisation und Finan- zierung des ÖPNV in Frankreich; Der Nahverkehr 5/1994 106 In Deutschland liegt der durchschnittliche Kostende- ckungsgrad aller im VDV zusammengeschlossenen Ver- kehrsunternehmen bei 68,8% und damit deutlich höher als in Frankreich. Große Betreiber mit gut ausgebauten kommunalen Schienennetzen weisen häufig aufgrund ei- ner sehr rationalen und leistungsfähigen Betriebsführung noch bessere Werte auf, so beispielsweise die Kölner Verkehrsbetriebe AG (KVB) mit einem Kostendeckungs- grad von 69,9% oder die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) mit einem solchen von gar 92,1%. Nach KSTA: KVB mit neuem Fahrgast-Rekord; Kölner Stadt-Anzeiger 25.06.2002 und SSB: SSB legt Jahresabschluss 2001 vor; http://www.ssb-ag.de 107 vgl. KVB AG: Geschäftsbericht 2002; Köln 2003 108 Angabe des Betreibers CTS

105 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme Stadt Betriebskosten [Mio €] Betriebseinnahmen [Mio €] Kostendeckungsgrad Einwohner Verkehrs- gebiet Fahrgäste [Mio] Defizit absolut [Mio €] Defizit pro Fahrgast [€] Defizit pro Einwohner [€]

Angers 23,8 10,5 44,1%260.000 25,4 13,3 0,52 51 Bordeaux 88,5 20,9 23,7%672.000 61,7 67,6 1,10 101 Caen 32,6 12,1 37,1%203.000 21,5 20,5 0,95 101 Clermont-Ferrand 25,7 11,3 44,2%269.000 25,5 14,4 0,56 54 Dijon 31,4 13,3 42,5%244.000 33,7 18,1 0,54 74 Grenoble 59,3 26,7 45,0% 380.000 58,2 32,6 0,56 85 Le Havre 27,1 10,5 38,8% 236.000 23,7 16,6 0,70 70 Lens-Liévin 10,7 1,9 18,0%251.000 5,3 8,8 1,66 35 Lille 123,6 62,3 50,4% 1.091.000 103,7 61,3 0,59 56 Lyon 240,1 102,2 42,5% 1.197.000 263,0 137,9 0,52 115 Marseille 150,6 81,4 54,0% 876.000 139,8 69,2 0,49 79 Montpellier 44,5 22,3 50,1% 321.000 39,2 22,2 0,57 69 Mülhausen 22,0 7,1 32,5%218.000 28,6 14,9 0,52 68 Nancy 36,4 12,7 34,9%365.000 16,6 23,7 1,43 65 Nantes 72,6 27,2 37,5% 555.000 81,5 45,4 0,56 82 Nizza 45,7 22,8 49,9%380.000 37,4 22,9 0,61 60 Orleans 34,3 13,8 40,2% 266.000 18,9 20,5 1,08 77 Rennes 50,4 18,8 37,2%365.000 31,1 31,6 1,02 87 Rouen 51,9 18,6 35,9% 390.000 34,8 33,3 0,96 85 Saint-Etienne 37,3 16,8 45,1% 289.000 39,7 20,5 0,52 71 Straßburg 71,5 43,6 61,0% 451.000 74,1 27,9 0,38 62 Toulon 27,3 13,5 49,2%298.000 22,3 13,8 0,62 46 Toulouse 88,5 36,2 40,9% 714.000 74,8 52,3 0,70 73 Tours 29,1 13,5 46,4%288.000 25,5 15,6 0,61 54 Valenciennes 29,4 18,1 61,5%340.000 20,2 11,3 0,56 33

Tab. 23: Betriebseinnahmen- und Ausgaben, Städte mit spurgeführten Systemen sind schattiert109

109 Stand 2001, für Toulouse Daten aus 2000, nach DUMONT, François und NANGERONI, Cécile: Le Palmarès 2001 des Villes 2002; La Vie du Rail 04.12.2002

106 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

125

100

75 Städte mit Bus Städte mit Straßenbahn 50 Städte mit Metro Städte mit VAL

25 Defizit [€] pro Einwohner und Jahr

0 0 250 500 750 1000 1250 1500 Größe der Transportregion (Tsd. Einwohner)

Abb. 129: Defizit pro Einwohner nach Stadtgröße und Angebot

1,5

1,25

1 Städte mit Bus 0,75 Städte mit Straßenbahn Städte mit Metro 0,5 Städte mit VAL

0,25 Defizit [€] pro Fahrgast und Jahr

0 0 250 500 750 1000 1250 1500 Größe der Transportregion (Tsd. Einwohner)

Abb. 130: Defizit pro Fahrgast nach Stadtgröße und Angebot

107 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Aus der Vergleichsanalyse lassen sich mehrere und Jahr in Bezug, so zeigt sich, dass das Schlüsse ziehen. Zum ersten scheint die Größe Defizit pro Fahrgast bei steigendem Fahrgast- eines Ballungsraumes nur einen untergeord- zuspruch sinkt. neten Einfluss auf das relative Betriebskosten- Einen direkten Einfluss auf das Defizit pro defizit zu haben. Zwar scheint das Defizit pro Fahrgast übt wie in Abb. 130 ersichtlich das Einwohner bei größerer Bevölkerungszahl zur Verfügung gestellte Verkehrsangebot aus. leicht zu steigen, doch weisen hier auch einige Tendenziell weisen hier die Städte mit spurge- kleine Städte überaus hohe Kennzahlen auf, so führten Verkehrsmitteln die besseren Werte dass sich kein klares Bild ergibt. Sehr wohl er- auf. Lediglich die Straßenbahnen von Rouen sichtlichen Einfluss auf die Betriebskosten pro und Orléans passen nicht in dieses Bild, beide Einwohner hat aber die Wahl des Verkehrs- Systeme konnten aber aus den verschiedens- systems. Städte mit Straßenbahnen und in ten Gründen bisher keine zu den anderen noch weitaus größerem Maße Städte mit Met- Systemen vergleichbare Nachfrage abgreifen. ros weisen mit wenigen Ausnahmen im Mittel signifikant höhere Betriebskostendefizite pro Es wird deutlich, dass bei einer Betrachtung Einwohner auf als Städte mit reinem Busver- des Defizits immer absolute und relative Werte kehr. Einzige Ausnahme ist die Stadt Lille mit verglichen werden müssen. Von den fünf Ver ihrem VAL-Betrieb, welcher offensichtlich durch kehrsunternehmen mit einem Kostende- seine günstige Personalbilanz tatsächlich einen ckungsgrad von mehr als 50% verfügen vier positiven Einfluss auf die Betriebskostenbilanz über spurgeführte Verkehrssysteme. Straßburg hat. erreicht gar 61%. Allerdings weisen diese vier Städte absolut gesehen aber auch sehr hohe Daraus lässt sich die naheliegende These fol- Betriebsausgaben auf, denen andererseits gern, dass die Bereitstellung eines hochwerti- durch den sehr hohen Fahrgastzuspruch auch gen Verkehrssystems, abgesehen von VAL, ab- hohe Betriebseinnahmen gegenüber stehen. solut gesehen zunächst zu Mehrkosten führt. Durch die Straßenbahnen ließ sich das relative Andererseits bietet die Statistik keine genauen Defizit pro Fahrgast bzw. der Kostendeckungs- Anhaltspunkte, ob sich dieses Verhältnis bei grad nachhaltig steigern, allerdings führten sie Ballungsräumen mit 500.000 und mehr Ein- durch die gleichzeitig auftretenden großen wohnern umkehrt. Das sehr hohe Defizit pro Fahrgaststeigerungen absolut gesehen zu Einwohner in Bordeaux vor der 2003 erfolgten Mehrkosten. Wiedereinführung der Straßenbahn lässt die- sen Schluss durchaus zu. Inzwischen verfügen jedoch alle anderen Stadträume dieser Größen- ordnung in Frankreich wieder über spurgeführ- te Verkehrssysteme, so dass eine sichere Ver- gleichsgrundlage nicht gegeben ist. Die Rechtfertigung zur Einführung hochwerti- ger Verkehrssysteme liegt damit weniger in ökonomischen Erwägungen, sondern im Be- streben, das Fahrgastaufkommen des Öffentli- chen Personennahverkehrs zu steigern. Be- zeichnenderweise gleicht die Abb. 129 mit der Darstellung von Defizit pro Einwohner und Jahr nach Stadtgröße und Verkehrssystem signifi- kant der Abb. 131 in Kap. 2.6, welche ebenfalls nach Stadtgröße und Verkehrssystem differen- ziert die ÖPNV-Fahrten pro Einwohner und Jahr darstellt. Dies zeigt, dass sich das größere relative Defizit in mehr Fahrgästen umschlägt. Noch deutlicher wird diese Aussage durch Abb. 130 veranschaulicht. Setzt man diese wie- derum mit den ÖPNV-Fahrten pro Einwohner

108 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

waren Lyon mit 23,1%, Straßburg mit 46,7% 2.6 Fahrgastzahlen und und Rouen mit 56,9%. Daneben stieg das Auf- Verkehrsaufkommen kommen in Lille (3,7%), Nantes (8,3%), Gre- noble (2,7%) und in geringem Maße in Toulon 2.6.1 Grundsätzliche Entwicklung (0,3%). In allen anderen Ballungsräumen sank Die Entwicklung der Fahrgastzahlen ist in den die Fahrtenfrequenz teilweise beträchtlich. Mit großen Verkehrsräumen mit mehr als 250.000 Ausnahme von Toulon weisen alle Netze mit Einwohnern zwischen 1990 und 1999 sehr un- Wachstum spurgeführte Verkehrsmittel auf. terschiedlich verlaufen. Zieht man veränderte Die beiden Städte mit den mit Abstand höchs- Randbedingungen durch gewachsene oder ten Zuwächsen, Straßburg und Rouen, sind verkleinerte Verkehrsräume in die Betrachtung auch genau die beiden Städte, welche zwi-

Stadt Einwohner Differenz Fahrten pro Differenz PTU 1999 zu 1990 Einwohner 1999 zu 1990 Lyon 1.167.532 +2,9% 219 +23,1 Lille 1.091.438 +2,3% 92 +3,7 Marseille 798.430 -0,3% 172 -15,2 Toulouse 701.976 +13,0% 107 -1,7% Bordeaux 659.998 +5,7% 98 -9,4% Nantes 548.741 +11,5% 150 +8,3% Straßburg 454.513 +6,5% 139 +46,7% Rouen 390.283 +1,2% 100 +56,9% Grenoble 374.922 +2,2% 138 +2,7% Rennes 357.920 +17,3% 93 -22,3% Nizza 342.738 +0,1% 108 -8,8% Valenciennes 333.001 +0,2% 62 -8,0% Montpellier 320.523 +13,6% 90 -8,0% Toulon 299.741 +0,4% 75 +0,3% Saint-Etienne 288.385 -8,0% 135 -15,7% Tours 281.114 +4,7% 91 -2,3% Orleans 264.464 +9,5% 61 -15,7% Angers 259.957 +18,8% 94 -6,3% Nancy 258.268 +0,7% 78 -28,1%

Tab. 24: Fahrten pro Einwohner 1990 und 1999110 mit ein, so ergeben sich in der Anzahl der schen 1990 und 1999 ein neues Straßenbahn- Fahrten pro Einwohner Differenzen zwischen system eingeführt haben. Lyon als dritte Stadt einem Zuwachs von über 55% und einem mit hohem Wachstum hat in der selben Zeit Verlust von fast 30% (vgl. Tab. 24). sein Metronetz maßgeblich erweitert. Betrach- tet man die Dimension der Zuwächse und stellt Dabei lassen sich aber ganz klare Tendenzen diese den teilweise großen Fahrgastverlusten erkennen: Nur drei Städte wiesen zwischen anderer städtischer Räume gegenüber, so 1990 und 1999 zweistellige Wachstumsraten kann die Wiedereinführung der Straßenbahn in im öffentlichen Personennahverkehr auf. Dies den genannten beiden Städten auch unter dem Gesichtspunkt des Fahrgastnutzens als erhebli- 110 CERTU: Mobilité et Transport; http://www.certu.fr cher Erfolg gewertet werden.

109 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Auch die beiden Städte Grenoble und Nantes, und dadurch erhebliche Fahrgastverlagerungen welche schon vor 1990 ihre Straßenbahnsys- von der Straßenbahn zur Metro festzustellen teme wiedereingeführt haben, wiesen zwi- waren. schen 1990 und 1999 gegen den Trend ein Die Spitzenposition bei den Straßenbahnsys- gewisses Wachstum im Fahrgastaufkommen temen nimmt nach wie vor das System von auf. Beide Netze wurden allerdings in diesem Nantes ein, welches auch die größte Strecken- Zeitraum auch erweitert. Durch die Straßen- länge umfasst. Hier werden pro Jahr inzwi- bahn bedingte große Fahrgastzuwächse analog schen fast 60 Millionen Fahrgäste befördert. zu Straßburg und Rouen konnten hier aber Straßburg konnte durch die Eröffnung der bereits vor 1990 festgestellt werden. In Nantes zweiten Stammstrecke im Jahre 2000 Grenoble betrug die Steigerung der Fahrten pro Einwoh- vom zweiten Platz verdrängen und ist mit rund ner und Jahr zwischen 1984, dem letzten Be- 40 Millionen Fahrgästen pro Jahr hinter Nantes triebsjahr ohne Straßenbahn, und 1990 rund positioniert. Lediglich in Marseille, Lille und 45%. Im Zeitraum von 1983 bis 1999 ergibt Orléans sind jährlich weniger als zehn Millionen sich gar ein Wachstum von 64%.111 Fahrgäste mit der Straßenbahn unterwegs. Die beiden alten Systeme von Marseille und Lille 2.6.2 Fahrgastzahlen stehen in der Rangfolge ganz unten. Saint- Die Entwicklung der Fahrgastzahlen während Étienne weist dagegen ein deutlich höheres der letzten Jahre ist in den verschiedenen Fahrgastaufkommen auf und konnte sich im Straßenbahnnetzen uneinheitlich (vgl. Tab. Jahre 2001 vor Rouen, Lyon und Orléans 25). Bei den zwischen 1985 und 1994 neu er- platzieren. öffneten Systemen lassen sich zwischen 1996 Bei den Metronetzen sind zwischen 1996 und und 2001 ausnahmslos Fahrgastssteigerungen 2001 ausnahmslos Steigerungen der Fahrgast- feststellen, so in Grenoble von 23,5 auf 28,5 zahlen zu verzeichnen (vgl. Tab. 26). Am größ- Millionen, in Nantes von 35,5 auf 42,4 Millio- ten war der Zuwachs in Lyon, wo die Zahl der nen, in Rouen von 11,1 auf 13,8 Millionen und Nutzer von 100,9 auf 135,5 Millionen Fahr- in Straßburg von 17,9 auf 39,9 Millionen Fahr- gäste stieg. Auch Marseille und Lille konnten gäste pro Jahr, jeweils ohne Berücksichtigung große Wachstumsraten von 44,0 auf 56,1 bzw. der Busnetze. In den alten Betrieben in Mar- 47,0 auf 61,0 Millionen Fahrgäste pro Jahr seille, Lille und Saint-Etienne war die Entwick- verbuchen. Lediglich in Toulouse blieb das lung des Fahrgastaufkommens im selben Zeit- Aufkommen nahezu konstant und lag im Jahre raum sehr schwankend. Nach längerer Stagna- 2000 bei 30,8 Millionen Fahrgästen. tion mit rund 15 Millionen Straßenbahnfahr- gästen pro Jahr stieg das Aufkommen in Saint- Hinsichtlich der Fahrgastzahlen öffentlicher Étienne im Jahr 2001 auf 16,8 Millionen an. In Massenverkehrsmittel steht in Frankreich aber Marseille sank das Aufkommen zwischen 1996 naturgemäß die Île de France, der Raum Paris, und 2000 um fast 20% von 4 auf 3,3 Millionen, an der Spitze. Die Diskrepanz zwischen der um dann schlagartig 2001 auf 5,0 Millionen an- französischen Provinz und der Hauptstadt führt zusteigen. Gleichwohl prognostizierte man in auch in diesem Zusammenhang zu offiziell ge- Marseille nach der 1984 durchgeführten Mo- trennten Statistiken. So beförderten alle Stra- dernisierung noch eine Steigerung des Fahr- ßenbahn- und Metrosysteme der französischen gastaufkommens auf bis zu zehn Millionen Per- Provinz im Jahre 2000 gerade einmal ein Drit- sonen pro Jahr. In Lille war über die letzten tel der allein im Pariser Metronetz gezählten Jahre ein Rückgang um über 30% von 9,3 auf Fahrgäste. Dessen jährliches Fahrgastaufkom- 6,2 Millionen Fahrgäste pro Jahr zu beo- men liegt bei rund 1,25 Milliarden Fahrgästen, bachten. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dazu kommen noch rund 950 Millionen Fahr- dass im selben Zeitraum das Netz der VAL- gäste im S-Bahn- (RER) und Eisenbahnvorort- Metro auf einem teilweise zur Straßenbahn verkehr sowie weitere rund 900 Millionen parallel führenden Korridor ausgebaut wurde Fahrgäste im Busverkehr (vgl. Tab. 27). Bei den in der Tabelle genannten Verkehrsmitteln

auf Eigentrasse (TCSP) handelt es sich sowohl 111 BURMEISTER, Jürgen: Renaissance en France; um die beiden Pariser Straßenbahnlinien als Regionalverkehr 4/2000 auch um Bus-Eigentrassen. 110 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Stadt 1996 1997 1998 1999 2000 2001 aktuell Marseille 4.000 3.5003.330 3.350 3.257 4.9640 Lille 9.331 8.4408.722 8.120 6.531 6.1957.500 Grenoble 22.805 22.86324.535 25.682 28.471 28.53033.800 Nantes 35.451 35.90035.800 35.280 38.844 42.36857.200 Saint-Étienne 15.827 14.640 14.462 15.460 14.933 16.752 k.A. Rouen 11.077 11.89014.117 15.305 15.258 13.82015.300 Straßburg 17.920 20.00019.840 20.730 23.140 39.879k.A. Lyon - ---- 16.48026.800 Montpellier - -- - 7.775 18.47528.000 Orléans - -- - 560 8.182k.A. Bordeaux

Tab. 25: Beförderungsleistung der Straßenbahnsysteme in Tausend Fahrgästen/Jahr 112

Stadt 1996 1997 1998 1999 2000 2001 Lyon 100.896 102.851 126.400 135.623 141.144 135.520 Marseille 44.000 49.550 54.170 54.450 57.182 56.074 Lille 47.014 44.956 47.567 54.182 61.932 60.958 Toulouse 29.410 28.925 30.241 30.690 31.529 30.835

Tab. 26: Beförderungsleistung der Metrosysteme in Tausend Fahrgästen/Jahr

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 Metro 1.099.700 1.118.3001.158.300 1.188.400 1.247.100 1.261.700 1.283.300 RER 353.800 357.000 369.900 382.400 403.800 414.700 410.000 Bus Paris 337.600 349.600 352.200 352.700 357.400 351.900 356.400 Bus Vorort 481.000 498.400 507.800 515.400 546.300 554.500 562.400 TCSP 27.300 31.000 36.700 44.800 49.400 50.300 54.300 Eisenbahn 510.300 518.800 527.800 506.000 547.000 560.000 574.000

Tab. 27: Beförderungsleistung in der Île de France in Tausend Fahrgästen/Jahr

112 alle Tabellen nach: DIRECTION DES TRANSPORTS TERRESTRES: Les métros et tramways de province; http://www.transports.equipement.gouv.fr; ohne Busverkehr; aktuelle Angaben in Tab. 25 eigene Erhebung nach Unterlagen der Verkehrsunternehmen, Stand 2005 bzw. 2004 bei Bordeaux und Lille

111 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

In Bezug auf das tägliche Fahrgastaufkommen Stadt Linie Fahrgäste/Tag der einzelnen Straßenbahnlinien finden sich in der Literatur und auch in offiziellen Angaben Bordeaux A 40.000 der Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger B 51.700 sehr unterschiedliche Angaben. Verantwortlich C 16.900 dafür ist, dass dieses nicht nur nach Wochen- tag, sondern auch nach Jahreszeit sehr stark Grenoble A 75.000 schwanken kann.113 Brauchbare aktuelle Werte B 45.000 liegen auf Grundlage einer im Frühjahr 2004 Lille R/T 27.500 durchgeführten telefonischen Erhebung vor (vgl. Tab. 28). Lyon 1 63.000 2 67.500 Marseille 68 - Montpellier 1 110.000 Nantes 1 85.000 2 101.000 3 28.000 Orléans 1 41.000 Paris T1 87.600 T2 60.700 Rouen Métro 59.000 Saint-Étienne 4 62.000 Straßburg A/D 96.400 B/C 108.000

Tab. 28: Tägliche Fahrgastzahlen auf den Straßen- bahnlinien114

113 Per Faustformel lässt sich das durchschnittliche Fahr- gastaufkommen eines repräsentativen Werktages aus der jährlichen Fahrgastzahl bestimmen. Im deutschen Raum ist es hierbei üblich, das Jahresaufkommen durch 300 Tage zu teilen. Tage mit geringerem Aufkommen an der Wochenenden sowie den Ferien werden so ausgeglichen. Bezogen auf vorliegende repräsentative Werte des tägli- chen Verkehrsaufkommens französischer Straßenbahn- städte lässt sich aber feststellen, dass dieser Wert in Frankreich keine Gültigkeit besitzt. Nimmt man Fahrgast- zahlen des Jahres 2000 der Straßenbahnnetze von Nan- tes, Rouen und Grenoble, so ergibt sich statt dessen ein Faktor von etwa 240. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass in Frankreich das Fahrgastaufkommen eines Jahres unregelmäßiger über die Tage verteilt ist als in Deutsch- land. Gründe dafür könnten im geringeren Stellenwert und Verkehrsangebot des französischen öffentlichen Nahverkehrs an den Wochenenden zu suchen sein. Wei- tere eventuell maßgebliche Differenzen finden sich zwi- schen beiden Ländern in der Länge und zeitlichen Lage 114 Stand Frühjahr 2004, außer Bordeaux Herbst 2004, der Ferien. So sind in Frankreich die Schulferien im Som- Lyon Herbst 2003 und Straßburg Winter 2003; Zahlen für mer deutlich länger als in Deutschland, gleichzeitig ist in Grenoble aus separater Quelle; nach CERTU und GÖBEL, diesem Zeitraum in großem Maße eine Stadtflucht festzu- Stefan: Frankreich – Fahrgastzahlen der Nahverkehrsli- stellen. nien auf Eigentrasse; stadtverkehr 5/2005

112 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.6.3 Nutzerfrequenz sammengestellten Fahrgastzahlen noch keinen Einfluss haben. Ähnliches gilt mit Abstrichen Zur Vergleichbarkeit lassen sich die Fahrgast- für die im Sommer 2000 eröffnete neue Stra- zahlen mit den Stadtgrößen in Bezug setzen ßenbahn in Montpellier sowie die im Herbst in (vgl. Tab. 29). Dabei wird wiederum auf die Betrieb genommene zweite Straßenbahn- Verkehrsräume (PTU) zurückgegriffen. Das hauptachse in Straßburg. Da auf der anderen Datenmaterial115 stammt aus dem Jahre 2000. Seite neue Straßenbahnsysteme zur Mobilisie- Kernstadt Einwohnerzahl Einwohnerzahl Jährliche Fahrten Agglomeration PTU Fahrgastzahl Einwohner PTU/Jahr Angers 557.122 268.169 25.987.000 97 Bordeaux 882.156 671.875 64.376.000 96 Caen 345.919 207.790 22.037.000 106 Clermont-Ferrand 351.949 266.754 24.768.000 93 Dijon 312.199 244.466 35.354.000 145 Grenoble 505.849 380.645 56.515.000 148 Le Havre 290.864 239.500 24.097.000 101 Lens - Liévin 325.625 252.873 5.145.000 20 Lille 1.108.447 1.107.044 105.938.000 96 Lyon 1.597.662 1.186.605 266.502.000 225 Marseille 1.398.146 807.071 142.750.000 177 Montpellier 445.724 325.374 34.678.000 107 Mülhausen 274.977 218.875 27.149.000 124 Nancy 396.314 264.657 19.593.000 74 Nantes 674.115 562.726 83.228.000 148 Nizza 556.525 345.892 37.986.000 110 Orleans 324.533 271.706 15.998.000 59 Rennes 483.795 368.736 33.807.000 92 Rouen 470.120 396.902 37.862.000 95 Saint-Etienne 307.697 293.116 37.504.000 128 Straßburg 557.122 459.851 70.517.000 153 Toulon 478.206 308.691 22.785.000 74 Toulouse 917.312 715.600 76.826.000 107 Tours 368.395 288.586 25.542.000 89 Valenciennes 368.279 337.094 20.701.000 61

Tab. 29: Stadtgröße und Fahrgastzahlen

Zu beachten ist, dass die Ende dieses Jahres rung ihres Kundenpotenzials auch einige Jahre neu eingeführten Straßenbahnsysteme von der Anlaufzeit brauchen, können für abschlie- Lyon und Orleans auf die im Folgenden zu- ßende Vergleiche zu diesem Zeitpunkt grund- sätzlich nur die Systeme von Nantes, Grenoble,

Rouen und Straßburg herangezogen werden. 115 DUMONT, François: Palmarès 2001 des transports urbains; La Vie du Rail 05.12.2001

113 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Die höchste Nutzerfrequenz hatten im Jahre ßenbahnsysteme eröffnet haben, nur Rouen 2000 die beiden Städte Lyon und Marseille, nicht in dieser Aufstellung. Das öffentliche Ver- welche beide über ein schweres Metrosystem kehrsnetz von Saint-Etienne mit seinem alten verfügen. Dabei kann der Wert von 225 Fahr- Straßenbahnbetrieb weist ebenfalls deutlich ten pro Einwohner und Jahr in Lyon von kei- über dem Durchschnitt liegende Fahrtenzahlen nem anderen Ballungsraum auch nur ansatz- auf, kann aber nicht ganz an die drei genann- weise erreicht werden. ten neuen Netze heranreichen. In Marseille er- scheint ein größere Einfluss der Straßenbahn Die meisten Nahverkehrsnetze weisen eine auf das Gesamtnetz aufgrund des sehr gerin- Frequenz von 90 bis 110 Fahrten pro Einwoh- gen Netzumfanges als nicht gegeben. ner und Jahr auf, einige Ausreißer liegen auch deutlich darunter. Über 140 Fahrten können Erstaunlich ist das schlechte Abschneiden der neben den beiden genannten Städten Lyon Städte, welche eine automatische Metro nach und Marseille Dijon, Grenoble, Nantes, und dem System VAL betreiben. So kommt Tou- Straßburg aufweisen. Mülhausen und Saint- louse auf lediglich 107 Fahrten pro Jahr. Lille, Etienne liegen bei über 120 Fahrten. welches zusätzlich auch ein Straßenbahnsys- tem kleinerer Ausdehnung besitzt, kann gar Eine Tendenz ist damit deutlich erkennbar. Die nur 96 Fahrten pro Einwohner und Jahr auf- drei Straßenbahnstädte Grenoble, Nantes und weisen. Dabei ist zusätzlich die Größe der Straßburg weisen um etwa 50% höhere Fahr- beiden Stadträume zu bedenken, da allgemein gastzahlen auf als die meisten anderen Agglo- die Frequentierung des öffentlichen Nahver- merationsräume. Einzig Dijon kann als Stadt kehrs bei steigender Stadtgröße tendenziell mit reinem Busverkehr ähnlich hohe Nutzer- eher steigt. Ein Grund für die mangelnde Kun- zahlen aufweisen. Noch größere Nutzerfre- denbindung durch die VAL-Metro mag zumin- quenzen sind lediglich in den Metrosystemen dest in Toulouse in der bisher noch nicht zur von Lyon und Marseille festzustellen. Auf der Stadtgröße adäquaten Netzausdehnung zu su- anderen Seite findet sich von den Städten, chen sein. Für Lille kann diese These nicht welche zwischen 1984 und 1994 neue Stra-

250 225 200 175 150 Städte mit Bus 125 Städte mit Straßenbahn 100 Städte mit Metro 75 Städte mit VAL 50 25 0 0 250 500 750 1000 1250 Größe der Transportregion (Tsd. Einwohner)

Abb. 131: Fahrten pro Einwohner und Jahr nach Stadtgröße und Verkehrsangebot

114 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme bestätigt werden, hier ist das Netz der VAL- grund der Netzhierarchisierung in Haupt- und Metro größer als die Metronetze der ähnlich Zubringerlinien im Regelfall häufiger umgestie- großen Städte Marseille und Lyon. Denkbar gen wird. In den Straßenbahn- und VAL-Städ- sind der Einfluss stadtstruktureller Gründe für ten macht dies ein zusätzliches Fahrtenauf- das niedrige relative Fahrgastaufkommen in kommen von rund 15% gegenüber den Städ- Lille, handelt es sich doch um einen polyzent- ten mit reinen Bussystemen aus, bei den Me- risch aufgebauten Großraum mit relativ kleiner trostädten sogar bis zu 40% (vgl. Kap. 2.4.5). Kernstadt und dementsprechend größerem Auch bei Einrechnung dieser Randbedingung Anteil an nur begrenzt ÖPNV-affinen, tangenti- bleibt aber die grundsätzliche Tendenz einer alen Verkehrsbeziehungen. weitaus höheren Frequentierung bei den Stra- ßenbahnstädten deutlich bestehen. Dagegen Stellt man die Nutzerfrequenz und die Stadt- relativiert sich die exponierte Lage der Metro- größen gegenüber, so lassen sich die Feststel- städte Marseille und Lyon. lungen bestätigen (vgl. Abb. 131). Auch ge- genüber ähnlich großen Städten wird der öf- fentliche Personennahverkehr in Städten mit 2.6.4 Anteil der Straßenbahn am Straßenbahn in den meisten Fällen weitaus öf- Gesamtaufkommen ter in Anspruch genommen. Eine gewisse Stei- Der Anteil der Straßenbahn am gesamten Auf- gerung der Fahrgastzahlen im Zusammenhang kommen des öffentlichen Personennahverkehrs mit den Stadtgrößen wird erkennbar. Für die ist trotz der teilweise noch geringen Netzlän- beiden Städte mit VAL-Metros gilt dies jedoch gen beachtlich (vgl. Tab. 30). Damit wird ei- nicht. Bordeaux, welches als einzige Transport- nerseits das Maß der Umstrukturierung von region mit mehr als 500.000 Einwohnern im Busnetzen auf Zubringeraufgaben, anderer- Jahr 2000 kein schienengebundenes Verkehrs- seits aber auch die mangelnde Inanspruch- mittel besaß, liegt im Fahrgastzuspruch nahme von Buslinien auf anderen städtischen deutlich unter den anderen großen Transport- Achsen dokumentiert. Daneben wurde beim regionen mit Metro oder Straßenbahn, aber Neubau der Systeme naturgemäß Wert darauf etwa auf einer Stufe mit den VAL-Städten Lille gelegt, eine hinsichtlich des Anschlusses von und Toulouse. Aufkommensschwerpunkten wie Großwohn- Zu berücksichtigen ist allerdings, dass in den siedlungen und Ausbildungsstätten möglichst Netzen mit spurgeführten Verkehrsmitteln auf- optimale Trasse zu finden. Die Strategie, eine Gesamt-

der

Stadt Netzlänge Straßenbahn [km] Fahrgäste gesamt [Mio/Jahr] Fahrgäste Straßenbahn [Mio/Jahr] Anteil der Straßenbahn am Gesamt- fahrgastauf- kommen Anteil der Straßenbahn an linienlänge Fahrgäste pro Kilometer [Mio Fahrgäste/km] Grenoble 17,8 58,2 28,5 49,0% 5,4% 1,601 Lille 18,6 103,70 06,2 06,0% 1,6% 0,333 Lyon 17,7 263,00 16,5 06,3% 1,6% 0,932 Marseille 03,0 139,80 05,0 03,6% 0,4% 1,667 Montpellier 15,2 39,2 18,5 47,2% 4,6% 1,217 Nantes 34,6 81,5 42,4 52,0% 4,9% 1,226 Orléans 17,9 18,9 08,2 43,4% 4,0% 0,458 Saint-Étienne 09,3 39,7 16,8 42,3% 3,2% 1,806 Rouen 15,1 34,8 13,8 39,7% 3,7% 0,914 Straßburg 24,5 74,1 40,0 54,0% 7,0% 1,632

Tab. 30: Anteil der Straßenbahn am ÖPNV-Gesamtaufkommen

115 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme gute Erschließung möglichst vieler Ziel- und deren neuen Systeme kommen meist auf rund Quellverkehrsgebiete einer direkten Linien- 1,0. Ausreißer nach unten sind erwartungsge- führung vorzuziehen, kann im Hinblick auf die mäß die Netze von Orléans und Lille, welche Verkehrsnachfrage als erfolgreich angesehen beide streckenweise Schnellstraßenbahncha- werden. rakter zur Verbindung weiter voneinander entfernter Zentren haben und in den Zwi- In Straßburg und Nantes befördern die Stra- schenräumen nur in geringem Maße Erschlie- ßenbahnlinien nach der Vervollständigung der ßungsaufgaben wahrnehmen. dortigen Netze zu sternförmigen Radialsyste- men inzwischen mehr als die Hälfte aller Fahr- 2.6.5 Prognosegenauigkeiten gäste des öffentlichen Personennahverkehrs. Grenoble und Montpellier liegen bei 49% bzw. Bei der Genauigkeit von Fahrgastprognosen 47%. Orléans, Saint-Étienne und Rouen wei- neuer Straßenbahnstrecken liegt ein uneinheit- sen jeweils rund 40% Straßenbahnfahrgäste liches Bild vor (vgl. Tab. 31). Meist wurden die auf. Das Ziel der Bündelung von Verkehrsströ- (offensichtlich vorsichtig berechneten) Progno- men und damit der Rationalisierung des Be- sen in teilweise erheblichem Maße übertroffen. triebsablaufes konnte also in all diesen Städten Lediglich in Orléans liegt das Aufkommen bis- in vollem Maße erreicht werden. Ausnahmen her deutlich unter dem Prognosewert. sind nur die Betriebe in Marseille, Lille und Lyon. Hier besitzt die Straßenbahn aufgrund Stadt Linie Fahrgäste/Tag Abwei- der parallel in diesen Städten vorhandenen chung Metronetze nur eine geringe Bedeutung. Ihr Prognose/Ist Anteil am gesamten öffentlichen Nahver- Nantes 1 80.000 +6% kehrsaufkommen liegt in Lyon und Lille bei 85.000 rund 6%, im Falle von Marseille zusätzlich Nantes 3 25.000 +10% durch die sehr geringe Netzausdehnung be- dingt nur bei knapp 4%. 27.500 Straßburg A 75.000 +28% Der Anteil der Straßenbahn an der Gesamtli- nienlänge liegt meist bei rund 5%, wodurch 96.400 ihre übergeordnete Bedeutung veranschaulicht Straßburg B 80.000 +35% wird. Sie befördert also die Hälfte der 108.000 Fahrgäste auf einem Zwanzigstel des Paris T1 51.000 +72% gesamten Liniennetzes. In den Metropol- räumen Lille, Lyon und Marseille mit Metrobe- 87.600 trieb ist der Straßenbahnanteil mit unter 2% Paris T2 25.000 +143% nochmals geringer. Die in Relation zum Bus- 60.700 netz größte Straßenbahnnetzausdehnung kann Montpellier 1 65.000 +69% Straßburg mit 7% aufweisen. Hier wurde das Busnetz mit dem fortschreitenden Straßen- 110.000 bahnbau konsequent gestrafft und vereinfacht. Orléans 1 44.000 -7% Ein zusätzlicher Faktor zur Beurteilung der 41.000 Fahrgastbündelung bzw. Auslastung ist das Lyon T1 49.000 +29% Verhältnis zwischen Fahrgastzahl und Stre- 63.000 ckennetzlänge. Führend ist hier Saint-Étienne Lyon T2 50.000 +35% mit 1,8 Millionen Fahrgästen pro Streckenkilo- meter und Jahr, es folgt Marseille mit 1,7. Dies 67.500 veranschaulicht das auf kurzer Strecke auftre- Tab. 31: Prognosegenauigkeit der Fahrgastzahlen tende sehr hohe Fahrgastaufkommen auf die- sen beiden alten Systemen, welches für deren Erhalt mitverantwortlich war. Von den neuen Systemen sind Straßburg und Grenoble mit je- weils gut 1,6 Millionen Fahrgästen pro Stre- ckenkilometer und Jahr herausragend. Die an- 116 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

2.6.6 Modal Split die verschiedenen Städte wird dieser Vergleich auf zehn Städte, sieben davon in einem oder Die isolierte Betrachtung des Fahrgastaufkom- mehreren Erhebungszeitpunkten mit spurge- mens im öffentlichen Personennahverkehr lie- führten Systemen, beschränkt (vgl. Tab. 32).117 fert zwar aussagekräftige Ergebnisse, ein teil- weise dazu recht abweichendes Bild ergibt sich Im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln jedoch im Vergleich des Modal Split und des beziehen sich die folgenden Daten nur auf die Aufkommens der täglichen Wege über mehrere jeweiligen Kernstädte und nicht auf die Vorort- Jahre. Aufgrund des zur Verfügung stehenden gemeinden. Datenmaterials ohne gleiche Bezugsjahre für

Stadt Jahr Wege/Tag Wege/Tag Wege/Tag Anteil ÖPNV Anteil ÖPNV gesamt motorisiert ÖPNV alle Wege mot. Wege Bordeaux 1978 2,83 1,85 0,29 10% 16% 1990 3,11 2,38 0,30 10% 13% 1998 3,58 2,78 0,28 8% 10% Grenoble 1978 4,04 2,13 0,37 9% 18% 1985 3,74 2,28 0,39 10% 17% 1992 3,58 2,47 0,49 14% 20% Lille 1976 2,68 1,50 0,19 7% 13% 1987 3,46 2,22 0,24 7% 11% 1998 3,99 2,77 0,29 7% 10% Lyon 1977 3,45 1,79 0,38 11% 21% 1986 3,26 2,11 0,47 14% 22% 1995 3,63 2,46 0,49 13% 20% Marseille 1976 3,43 1,62 0,30 9% 19% 1988 2,91 1,88 0,33 11% 18% 1997 3,25 2,19 0,34 10% 16% Nancy 1976 3,13 1,65 0,32 10% 19% 1991 3,70 2,57 0,34 10% 14% Nantes 1980 2,80 1,85 0,39 14% 21% 1990 3,28 2,49 0,44 13% 18% Straßburg 1988 3,80 2,27 0,28 7% 12% 1997 4,19 2,68 0,35 8% 13% Toulon 1985 2,79 1,92 0,36 13% 19% 1998 3,53 2,54 0,22 6% 9% Toulouse 1978 3,00 1,92 0,30 10% 16% 1990 2,91 2,23 0,29 10% 13% 1996 3,52 2,65 0,34 10% 13%

Tab. 32: Wegeaufkommen ausgewählter Städte116

116 ÖPNV-Wege: städtischer und sonstiger ÖPNV im 117 Daten nach CERTU: Mobilité et Transport; Stadtgebiet; Motorisierte Wege: alle Wege außer Fuß/Rad http://www.certu.fr

117 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Fuß Fahrrad MIV-Fahrer MIV-Mitfahrer ÖPNV

100% 7 6 8 10 8 10 14 13 10 13 90% 12 17 15 17 13 14 14 80% 13 12 14

70%

60% 43 44 52 43 46 43 46 49 50% 55 49

40% 0 1 6 3 2 1 1 30% 4 3 2 20% 32 27 29 31 29 30 27 33 10% 20 22

0%

Abb. 132: Erweiterter Modal Split ausgewählter französischer Städte118

MIV ÖPNV

100% 10 10 14 13 9 13 90% 20 20 16 18 80% 70% 60% 50% 90 90 86 87 91 87 40% 80 80 84 82 30% 20% 10% 0% Lille Lyon Nancy Toulon Nantes Marseille Grenoble Toulouse Bordeaux Strasbourg

Abb. 133: Reduzierter Modal Split ausgewählter französischer Städte

118 Bei der Betrachtung des Modal Split wird auf die jeweils neuesten Daten zurückgegriffen. Allerdings variieren die Jahre der Erhebung zwischen 1992 und 1998: Bordeaux 1998, Grenoble 1992, Lille 1995, Lyon 1998, Marseille 1997, Nancy 1991, Nantes 1990, Straßburg 1997, Toulon 1998, Toulouse 1996

118 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

Bestätigt werden können die absoluten ten stark zugenommen hat. Diese Zunahme Wachstumsraten des öffentlichen Personen- baut nicht allein auf der Steigerung der Wege, nahverkehrs in den Städten, welche spurge- sondern mit zwei Ausnahmen auch auf einer führte Systeme ausgebaut haben. So stieg die teilweise deutlichen Verringerung der nicht Zahl der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu- motorisierten Wege auf. Damit zeigt sich, dass rückgelegten Wege in Grenoble zwischen 1978 das zusätzliche Aufkommen im öffentlichen und 1992 von 0,37 auf 0,49, in Nantes zwi- Personennahverkehr vorwiegend auf die glo- schen 1980 und 1990 von 0,39 auf 0,44 sowie bale Steigerung des Wegeaufkommens sowie in Straßburg zwischen 1988 und 1997 von 0,28 auf Kannibalisierungseffekte des nicht motori- auf 0,35. Auch in den Metro- und VAL-Städten sierten Individualverkehrs zurückzuführen ist. lassen sich ähnlich große Zuwächse belegen, Der motorisierte Individualverkehr weist dage- so in Lille zwischen 1976 und 1998 von 0,19 gen meist Wachstum auf. Diese Aussage wird auf 0,29 Wege sowie in Lyon zwischen 1977 auch durch den Vergleich des prozentualen und 1995 von 0,38 auf 0,49 Wege. Die drei Anteils öffentlicher Verkehrsmittel am erwei- Städte mit Bussystemen nahmen an diesem terten und am reduzierten Modal Split sehr Wachstumsprozess nicht oder nur ansatzweise deutlich: Bezogen auf alle Wege, also auch die teil; in Bordeaux und Toulon sank das absolute nicht motorisierten, weist der Anteil des öffent- Aufkommen der durchschnittlichen Wegezahl lichen Personennahverkehrs mit wenigen Aus- sogar. Da hier Gesamtwege verglichen werden, nahmen eine stabile bzw. sogar steigende haben eventuelle Steigerungen der Umsteiger- Tendenz auf, was sich in Verbindung mit dem anteile keinen Einfluss auf diese Zahlen. insgesamt gestiegenen Wegeaufkommen in ei- ner Steigerung des absoluten Fahrtenaufkom- Interessanterweise kann daneben festgestellt mens niederschlägt. Betrachtet man jedoch werden, dass zwar in Grenoble und Nantes nur den reduzierten Modal Split bzw. nur die nach der Wiedereinführung der Straßenbahn motorisierten Fahrten, so verliert der öffentli- durchaus eine größere Steigerung der Zahl der che Personennahverkehr mit zwei Ausnahmen mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegten prozentual Anteile an den motorisierten Indivi- Wege eingetreten ist, andererseits aber auch dualverkehr, da dieser stärker wächst. schon vor der Wiedereinführung hier ein im Vergleich zu anderen Städten recht hohes Ni- Die beiden Ausnahmen sind die Städte Gre- veau der Wege des öffentlichen Verkehrs vor- noble und Straßburg, also zwei der drei im lag. Es lässt sich mutmaßen, dass durch die Vergleich betrachteten Straßenbahnstädte. An- schon vorher größere Bedeutung des öffentli- ders herum lässt sich also feststellen, dass in chen Personennahverkehrs der Boden für in- den Straßenbahnstädten entgegen den Trend novative Projekte in Form der Straßenbahn- der prozentuale Anteil des motorisierten Indi- neueinführungen überhaupt erst bereitet vidualverkehrs sinkt. Dies ist ein klares Indiz wurde. Grenoble und Nantes waren die beiden der erfolgreichen Wiedereinführung der Stra- ersten Städte Frankreichs mit neuen Straßen- ßenbahn in diesen beiden Städten. Das sich in bahnsystemen. der dritten Straßenbahnstadt des Vergleiches, Nantes, diese Trendumkehr nicht belegen Eine bemerkenswerte Aussage liefert die Be- lässt, mag damit zusammenhängen, dass hier trachtung des absoluten Wegeaufkommens die letzten Werte mit dem Erhebungsjahr 1990 aller Verkehrsmittel. Mit zwei Ausnahmen wei- sehr weit zurückliegen. Zu diesem Zeit war die sen alle Städte in den neun bis 22 Jahre lan- zweite, aufkommensstärkere Straßenbahnlinie gen Erhebungsintervallen generell eine Stei- in Nantes noch nicht realisiert. gerung der täglich zurückgelegten Wege auf. Diese Steigerungen sind teilweise beträchtlich Zuletzt seien diese Mobilitätskennwerte mit und liegen bei bis zu 10% und mehr zusätzli- denen ähnlich großer Städte in Deutschland chen Wegen. Daher ist das in vielen Städten verglichen. Dabei lassen sich deutliche Unter- auftretende Wachstum des Wegeaufkommens schiede erkennen: im öffentlichen Verkehr kritisch zu hinterfra- • Der Anteil des motorisierten Individualver- gen. kehrs ist in Frankreich sowohl auf Fahrer Es lässt sich gleichzeitig feststellen, dass das als auch auf Mitfahrer bezogen meist deut- Aufkommen motorisierter Wege in allen Städ- lich höher als in Deutschland, 119 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

• Das Fahrrad spielt im französischen Stadt- demnach das MIV-Aufkommen in den französi- verkehr im Gegensatz zu Deutschland mit schen Städten bei Hinzunahme der Vororte wenigen Ausnahmen nur eine sehr unter- noch höher wäre. geordnete Rolle, Hierzulande rekrutieren sich Fahrradfahrer und • Der Anteil der Fußgänger am erweiterten Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs Modal Split ist in beiden Ländern etwa in Teilen aus der selben Personengruppe. Be- gleich groß, sonders bemerkenswert ist daher, dass in Frankreich sowohl der Anteil des öffentlichen • Der Anteil des öffentlichen Personennah- Personennahverkehrs als auch des Fahrradver- verkehrs ist in Deutschland im Mittel deut- kehrs deutlich geringer als in Deutschland ist. lich höher als in Frankreich. Das niedrige Fahrgastaufkommen im französi- Beachtet werden muss dabei, dass die zugrun- schen öffentlichen Personennahverkehr lässt deliegenden Zahlen in Frankreich nur die Kern- sich also nicht auf verstärkten Fahrradverkehr städte und nicht die Vorortgemeinden umfas- zurückführen, wie dies vor allem in einigen sen. Damit ist eine genaue Vergleichbarkeit norddeutschen Städten der Fall ist. Grund ist gegenüber den deutschen Städten nicht in vielmehr das relative Aufkommen des motori- letzter Konsequenz möglich (vgl. Kap. 1.1.2). sierten Individualverkehrs. Allerdings kann davon ausgegangen werden, Die im binationalen Vergleich deutlich gerin- dass das Aufkommen an nicht motorisierten gere Bedeutung des öffentlichen Personennah- Wegen in den gewachsenen Kernstädten mit verkehrs in Frankreich erklärt aber auch, vielen fußläufigen Wegen höher als in den warum durch umfassende Maßnahmen wie der vielfach MIV-affinen Vorstadtkommunen ist. Im Wiedereinführung eines Straßenbahnsystems Umkehrschluss kann ebenfalls davon ausge- derart große Fahrgaststeigerungsraten erzielt gangen werden, dass der MIV in den französi- werden konnten: Das Aufkommen bewegte schen Vorstadtkommunen höhere Anteile am sich vorher auf einem sehr niedrigen Niveau. Modal-Split hat als in den Kernstädten. Diese Annahmen verstärken die obigen Aussagen, da

Fuß Fahrrad IV-Fahrer IV-Mitfahrer ÖPNV

100% 10 10 19 17 17 17 17 16 15 90% 24 12 12 80% 9 10 11 10 12 12 12 9 70%

60% 37 31 34 34 42 46 50% 31 41 39 42

40% 22 8 24118 55 30% 12 12

20% 33 25 28 28 28 27 27 10% 24 21 22

0%

Abb. 134: Erweiterter Modal Split ausgewählter deutscher Städte

120 Analyse der neuen französischen Straßenbahnsysteme

IV ÖPNV

100% 15 90% 17 24 25 24 22 30 30 27 80% 37

70%

60%

50% 85 40% 83 76 75 76 78 70 70 73 30% 63

20%

10%

0%

Abb. 135: Reduzierter Modal Split ausgewählter deutscher Städte

121 Stadtbahnen in Deutschland

122 Stadtbahnen in Deutschland

3 Stadtbahnen in Deutschland

123 Stadtbahnen in Deutschland

Wachstum des tertiären Beschäftigungssektors 3.1 Entwicklung der Stadtbahnen (Dienstleistungen) auf Kosten des primären in Deutschland nach dem (landwirtschaftlichen) und sekundären (produ- Zweiten Weltkrieg zierenden) Sektors. Diese Voraussage sollte Die Abschaffung nahezu aller französischen sich bald sehr deutlich bestätigen. Verkehrs- Straßenbahnsysteme nach dem Zweiten Welt- technisch besonders relevant war dabei, dass krieg stellte gegenüber den Strategien der sich die neuen Arbeitsplätze des tertiären Be- größeren Städte in der Bundesrepublik schäftigungssektors sehr stark in den Stadt- Deutschland im selben Zeitraum wie bereits zentren konzentrierten. Gleichzeitig verlagerte bemerkt einen erheblich Unterschied dar. Hier- sich die Wohnbevölkerung verstärkt aus den zulande setzte man im Gegensatz zu Frank- Stadtkernen in die Vororte, wiederum nicht reich früh auf eine Beibehaltung des schienen- zuletzt aufgrund dessen, als dass die zuneh- gebundenen ÖPNV in den Großstädten (vgl. mende Arbeitsplatzkonzentration in den Zent- Kap. 1.2.4). Dabei wurden seit den fünfziger ren und der damit einhergehende Berufsver- Jahren neue Konzepte zur Modernisierung der kehr den Wohnwert der Zentren selbst Straßenbahn entworfen, die in den großen schmälerte. Gerade in vielen deutschen Bal- Ballungsräumen durchweg zur Schnellbahn lungsräumen kamen daneben die in den Zent- weiterentwickelt werden sollte. Dies blieb letzt- ren meist besonders umfangreichen Kriegszer- endlich nicht ohne Einfluss auf die technischen störungen des Wohnraumes hinzu. Diese Be- und betrieblichen Leitbilder städtischen völkerungsverlagerung wurde planerisch vie- Schienenverkehrs in Deutschland. Diese Leit- lerorts gefördert, teilweise zurückgehend auf bilder prägen wiederum bis heute das Erschei- planerische Konzepte der Vorkriegszeit, zitiert nungsbild sowie die Ausbauplanungen vieler wird dabei oft die auf die Aussage „Trennung deutscher Straßenbahn- und Stadtbahnnetze, der Funktionen“ reduzierte Charta von Athen. die sich dadurch stellenweise erheblich von Bereits bei gleichbleibender Bevölkerungszahl den nach anderen Planungsleitbildern neu ein- musste diese Entwicklung zu einem starken, geführten Straßenbahnnetzen Frankreichs der auf die Zentren ausgerichtetem Verkehrs- zweiten Generation unterscheiden. wachstum führen. Gleichzeitig nahm jedoch die Bevölkerung der Ballungsräume nach dem Um für diese Unterschiede eine bessere Ver- Zweiten Weltkrieg in ganz Europa auch insge- ständnisbasis zu schaffen, sei im Folgenden ein samt zu, so betrug etwa der Anteil der Stadt- Abriss über die Entwicklung des kommunalen bevölkerung an der Gesamtbevölkerung auf Schienenverkehrs in Deutschland nach dem dem Gebiet der Bundsrepublik Deutschland Zweiten Weltkrieg gegeben. Der Schwerpunkt 1940 70,5%, 1960 aber bereits 76,8%, und liegt dabei auf den großen Ballungsräumen der das bei steigender Gesamtbevölkerung.119 Bundesrepublik Deutschland mit mehr als 500.000 Einwohnern, also städtischen Räu- In der Konsequenz des Ganzen stieg der Be- men, die in der Größe vielen französischen rufsverkehr in die Stadtzentren nach dem Ballungsräumen entsprechen, die nun wieder zweiten Weltkrieg sehr stark an. Diese Ent- Straßenbahnsysteme neu eingeführt haben. wicklung fiel damit zusammen, dass das pri- Nicht berücksichtigt wird die abweichende vate Kraftfahrzeug erstmals für größere Bevöl- Entwicklung im Ostteil Deutschlands. kerungsteile in Europa finanzierbar wurde. So versechsfachte sich in der Bundesrepublik Großen Einfluss auf den Nahverkehr bzw. auf Deutschland zwischen 1950 und 1960 die Ver- die Leitgedanken der Verkehrspolitik und Pla- kehrsleistung des motorisierten Individualver- nung hatten die strukturellen Veränderungen kehrs von 25 auf 162 Milliarden Personenkilo- der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meter, um sich bis 1970 nochmals auf 351 Entwicklung der Ballungsräume war in dieser Epoche in Deutschland wie in Frankreich einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Bereits 119 1949 hatte der Volkswissenschaftler Jean vgl. hierzu z.B, DR. MAIER, Jörg und DR ATZKERN, Heinz-Dieter: Verkehrsgeographie – Verkehrsstrukturen, Fourastié die sich in ganz Europa vollziehenden Verkehrspolitik, Verkehrslanung; B.G. Teubner Stuttgart Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen 1992 sowie TAMMS, Friedrich und WORTMANN, Wilhelm: analysiert. Er prognostizierte dabei ein großes Städtebau; Carl Habel Verlag 1973

124 Stadtbahnen in Deutschland

Mrd. Pkm zu verdoppeln.120 Die Anzahl der lungsräumen einen leistungsfähigen ÖPNV PKW in Deutschland wuchs folgendermaßen vorhalten zu müssen und nicht ausschließlich an:121 auf den MIV zu setzen. „Das Anwachsen des Individualverkehrs ist krankhaft. Es ist insofern Jahr Pkw in Millionen krankhaft, als es unmöglich ist, den gesamten 1950 0,60 Berufsverkehr in den Spitzenstunden zu indivi- 1955 1,75 dualisieren, es sei denn, die City stürbe, und die Städte zerflössen in einen charakterlosen 1960 5,49 Brei von Straßen und Häusern ungeheurer Flä- 1965 9,27 chenausdehnung, wie es das abschreckende 1970 13,94 Beispiel von Los Angeles zeigt, wo man den gesamten Verkehr auf den Kraftwagen gestellt 1975 17,90 hat.“, so eine Aussage von Prof. Grassmann 1980 23,19 aus dem Jahre 1964.123 In der Schrift „Aktuelle Probleme des Nahverkehrs und die Möglich- Tab. 33: Pkw in der BRD 1950-1980 keiten zu ihrer Lösung unter Berücksichtigung der Entlastung des Straßenverkehrs“ von 1961 Bereits Anfang der sechziger Jahre zeigten sich findet sich ein Zitat des Deutschen Städteta- daraufhin in den großen Ballungsräumen deut- ges, der ÖPNV sei ein sehr wichtiges, wenn liche Anzeichen einer Überlastung des Ver- nicht überhaupt das einzige Mittel, mit dem die kehrsnetzes und Konflikte zwischen MIV und Verkehrsnot in den Ballungsräumen erfolgreich ÖPNV an der Oberfläche. So heißt es bereits im Einhalt geboten werden kann. Ziel müsse eine Kölner Generalverkehrplan von 1956: „Die Ver- Entflechtung von motorisiertem Individualver- kehrsnot der Städte, gekennzeichnet durch kehr und öffentlichem Personennahverkehr auf Überlastung der Straßen, steigende Unfallzif- der Schiene sein, „um dem öffentlichen Mas- fern und Verlangsamung des allgemeinen Ver- senverkehr wieder ungehinderte Bewegungs- kehrsablaufes, nimmt von Jahr zu Jahr zu.“ möglichkeit zu geben“124. Nachfolgend finden sich dann Leitgedanken zur zukünftigen Ausgestaltung des Verkehrsnetzes, Wiederum im Gegensatz zu Frankreich waren Schlagworte wie „Trennung der unterschiedli- in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in chen Verkehrsfunktionen“ und „Trennung der den meisten Großstädten die Straßenbahn- verschiedenen Verkehrsarten“ u.ä..122 netze erhalten geblieben. Dies hatte mehrere Gründe. So waren im Gegensatz zu Westeu- Im Gegensatz zu Frankreich erkannte ropa viele Systeme bereits in den zwanziger Deutschland aber in weitaus größerem Maße und dreißiger Jahren modernisiert worden schon sehr früh die Notwendigkeit, in den Bal- (neue Fahrzeuge in Stahlbauweise mit höherer Motorleistung, besondere Bahnkörper, Netzer-

weiterungen, Verbesserung der Stromversor- 120 vgl. WOLF, Winfried: Eisenbahn und Autowahn; Rasch gung) und daher technisch in einem besseren und Röhrig Verlag Hamburg 1987 Zustand. Als zweiter wesentlicher Punkt kommt 121 vgl. BMV: Verkehr in Zahlen hinzu, dass der Öffentliche Nahverkehr in 122 vgl. Stadt Köln: Generalverkehrsplan 1956. Im selben Deutschland seit 1934 nicht mehr der Gewer- Werk finden sich auch Angaben zu o.g. Bevölkerungs- befreiheit, sondern einem umfassenden Kon- verschiebungen zwischen Stadtkern und Außengebieten. zessionsrecht unterliegt. Damit konnten Kanni- So hatte die Kölner Innenstadt vor dem Zweiten Welt- krieg eine Einwohnerzahl von 261.278, Ende 1955 aber balisierungseffekte von Straßenbahnsystemen nur noch von 124.375, also ein Rückgang um mehr als durch konkurrenzierende Busverkehre anderer die Hälfte. Gleichzeitig nahm die Einwohnerzahl der Vor- Unternehmen weitgehend vermieden werden, orte erheblich zu, gerade in den äußeren Vororten durchweg in Größenordnungen von +50% bis +200%. Die zeitliche Verteilung des Fahrgastaufkommens im 123 Dr.-Ing. E. GRASSMANN: Der moderne Nahschnell- ÖPNV konzentrierte sich demzufolge verstärkt auf die verkehr; zitiert nach: GUHL, Detlef: Schnellverkehr in Berufsverkehrszeit. So betrug 1955 das Verhältnis der Ballungsräumen; Alba Verlag Düsseldorf 1975 Belastung in den Spitzenstunden gegenüber den Zwischenzeiten 213 zu 100, 1914 waren es lediglich 125 124 vgl. Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk: Aktuelle Pro- zu 100 gewesen. bleme des Nahverkehrs; Essen 1961

125 Stadtbahnen in Deutschland die gerade in Frankreich bereits in den dreißi- beschlossen, die Straßenbahn zur kreuzungs- ger Jahren einsetzten (vgl. Kap. 1.2.4). Direkt freien U-Bahn weiterzuentwickeln, da das Land daraus folgend ist zu nennen, dass viele städti- Nordrhein-Westfalen eine technische Standar- sche Verkehrsbetriebe aus dieser Entwicklung disierung analog der im selben Zeitraum ge- heraus wie ebenfalls bereits in Kap. 1.2.4 ver- planten Schnellbahnnetze in Bielefeld, Ruhrge- merkt Überschüsse erwirtschafteten. Sie waren biet und Köln/Bonn forderte. Ab 1971 gingen daher nicht dazu gezwungen, ihren Straßen- daraufhin mehrere Tunnelstrecken und auch bahnbetrieb aus Einsparmotivationen heraus kreuzungsfreie Oberflächenstrecken in den einstellen zu müssen. Stattdessen wurden die Vororten in Betrieb. Heute gibt es eine größ- größeren Netze nach dem Zweiten Weltkrieg tenteils unterirdische Stammstrecke und vier wieder instand gesetzt und waren Anfang der Linien, alle mit Hochflur-Stadtbahnwagen. Das fünfziger Jahre meist wieder intakt.125 Ziel eines komplett kreuzungsfreien Netzes wird jedoch nicht mehr verfolgt. Wegen der erläuterten strukturellen Verände- rungen des städtischen Verkehrs und der Bevölkerungsverteilung nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen allerdings Behinderungen zwischen ÖPNV und MIV stark zu. Dadurch wurden die Straßenbahnsysteme in den großen Ballungsräumen Deutschlands spätestens Mitte der fünfziger Jahre in ihrer traditionellen Form nicht mehr als zukunftsträchtig angesehen. Getreu o.g. Grundstrategien wie der Trennung der Verkehrsarten sah man die Lösung des Problems darin, die Straßenbahn vom MIV räumlich zu trennen. Naheliegend war zu- nächst die Anlage besonderer Bahnkörper, wo dies räumlich möglich war. Bald verlagerte sich die Planung dann aber schwerpunktmäßig auf die Schaffung einer zweiten Verkehrsebene. Mit der Ausnahme von bauten seit An- fang der sechziger Jahre alle deutschen Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern mehr oder weniger ausgedehnte Tunnelanlagen für den schienengebundenen Stadtverkehr. Die Evolu- tion der Planung und des Baus dieser Anlagen in den einzelnen Städten sei im Folgenden kurz skizziert.126 In Bielefeld wurde 1955 die Beibehaltung und Modernisierung der Straßenbahn beschlossen. 1965 stellte man diesen Grundsatzbeschluss Abb. 136, 137: Stadtbahn Bielefeld – unterirdische wegen stark gestiegenem Kraftfahrzeugverkehr und gut ausgebaute oberirdische Anlagen aber wieder in Frage und diskutierte die Alter- nativen Stilllegung oder Tunnelbau, entschied Bonn profitierte bei seinen Schnellbahnplanun- sich dann aber für letzteres. 1970 wurde dann gen aus der Rolle als ehemalige Bundeshaupt- stadt. 1965 hatte die Bundesregierung für den 125 Ausbau des Nahverkehrsnetzes erhebliche vgl. VDV: Der Straßenbahner – Handbuch für U-Bah- Finanzmittel zugesagt, woraufhin 1967 mit ner, Stadt- und Straßenbahner, Köln 2001 dem Bau einer ersten Tunnelstrecke begonnen 126 zu den Schnellbahnplanungen der sechziger und sieb- wurde. 1972 wurde die Planung zu drei U- ziger Jahren vgl. KEGEL, Fritz D.: U-Bahnen in Deutsch- land – Planung – Bau – Betrieb; Alba Verlag Düsseldorf Bahn-Achsen konkretisiert, die aus dem beste- 1971 und GUHL, Detlef: Schnellverkehr in Ballungsräu- henden Netz aus Straßen- und Überlandbah- men; Alba Verlag Düsseldorf 1975 nen heraus entwickelt werden sollten. Daraus

126 Stadtbahnen in Deutschland entstand bis heute ein in weiten Abschnitten Jahren wurde die Planung in das Gesamtkon- (aber nicht komplett) kreuzungsfreies Stadt- zept der Stadtbahn Rhein-Ruhr integriert. Zu- bahnnetz mit Hochflurzügen und einer 1975 nächst wollte man Straßenbahntunnel bauen, eröffneten Stammstrecke. Die Straßenbahn schwenkte dann zur Vorstellung einer echten blieb daneben als separates System auf zwei U-Bahn von Beginn an um, baute aber letzt- Linien bestehen und wurde in der jüngeren endlich dann doch zunächst ein kurzes Tunnel- Vergangenheit modernisiert. stück für die Straßenbahn. Heute gibt es einen viergleisigen Stammstreckentunnel, an den ei- nige Anschlusstunnel und mehrere nicht kreu- zungsfreie Strecken anschließen, darunter auch solche ins regionale Umland. Das Netz wird mit Hochflurstadtbahnwagen bedient, daneben gibt es weiterhin ein dichtes Straßenbahnnetz an der Oberfläche.

Abb. 140: Düsseldorf, Stadtbahnzug auf der umge- bauten ehemaligen Überlandstraßenbahn nach Krefeld

Frankfurt entschied sich bereits 1961 zum Bau einer Stadtbahn. Das Straßenbahnnetz sollte dabei durch den Bau von Tunnelstrecken Abb. 138, 139: Stadtbahn Bonn schrittweise weiterentwickelt werden. 1968 ging daraufhin die erste Tunnelstrecke in Be- In Bremen lag 1967 ein Konzept zum Bau ei- trieb. Bis 1970 war die Planung so weit fort- nes U-Bahn-Netzes mit vier Linien und ca. 50 entwickelt worden, dass im vorgesehenen km Streckenlänge vor. Quasi als Vorgriff dazu Endzustand ein kreuzungsfreies U-Bahn-Netz waren ab Ende der sechziger Jahre einige entstanden wäre. Tatsächlich gibt es heute kreuzungsfreie Außenstrecken an der Oberflä- drei Stadtbahn-Stammstrecken mit sieben Li- che gebaut und in das Straßenbahnnetz integ- nien und langen Tunnelanlagen, von denen riert worden. Anfang der siebziger Jahre be- aber nur eine Linie vollständig kreuzungsfrei schloss die Stadt aufgrund stagnierender Ein- ist. Die oberirdische Straßenbahn, zeitweilig als wohnerzahlen und zu hohen Kosten dann aber Auslaufmodell betrachtet, existiert weiterhin die Abkehr von der U-Bahn-Planung zugunsten und wird inzwischen auch wieder erweitert. einer sukzessiven Modernisierung der Straßen- bahn. Dabei wurde zunächst weiterhin über- In Hannover tauchten bereits 1949 Überlegun- legt, in der Innenstadt Straßenbahntunnel zu gen zum Bau von Tunnelstrecken für die Stra- bauen, letztendlich kam es jedoch nicht dazu. ßenbahn auf, großzügige Straßenneubauten der Nachkriegszeit wurden daraufhin schon In Düsseldorf wurde 1968 der Bau eines U- früh auf diese Planung hin abgestimmt, etwa in Bahn-Netzes beschlossen. In den siebziger Form von freigehaltenen Flächen für Tunnel-

127 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 141: Die ersten Tunnelanlagen in Köln wurden als Unterpflasterstraßenbahntunnel gebaut und erhielten daher u.a. niedrige Bahnsteige rampen. Der Beschluss zum Bau eines ersten zum Bau von Tunnelstrecken für die Straßen- Straßenbahntunnels erfolgte 1965. Ein 1966 bahn, was letztendlich 1962 politisch bestätigt verabschiedetes Netzkonzept sah dann für die wurde. 1968 ging die erste Unterpflasterbahn- langfristige Zukunft einen kreuzungsfreien U- strecke in Betrieb. Bereits 1965 hatte man be- Bahn-Betrieb im Gesamtnetz vor. Die Stadt schlossen, die Tunnel so zu bauen, dass sie Hannover verfolgte anschließend die Strategie, langfristig für einen echten U-Bahn-Betrieb ge- zunächst die innerstädtischen Abschnitte ge- eignet wären. Inzwischen wird ein kreuzungs- mäß des Konzeptes zu bauen und daran dann freies Gesamtnetz jedoch nicht mehr verfolgt. die Straßenbahnstrecken in die Vororte anzu- Gleichwohl gibt es nach dem Bau einer Vielzahl schließen. Daraus entstand bis heute ein sehr kreuzungsfreier Abschnitte heute ein gut aus- umfangreiches Hochflurstadtbahnnetz mit vier gebautes Stadtbahnnetz mit fünf Stammstre- Stammstrecken, davon drei im Tunnel. Eine cken und 15 Linien, aufgeteilt in zwei Teilnetze Weiterentwicklung zur U-Bahn wird heute nicht mit 90- bzw. 35 cm hohen Bahnsteigen und mehr forciert, eine Vielzahl von Neubaustre- entsprechenden Fahrzeugen. cken der jüngeren Vergangenheit führten die Ludwigshafen begann mit der Planung unterir- Stadtbahn auf nicht kreuzungsfreien Strecken discher Straßenbahnstrecken Anfang der sech- in die Außengebiete. ziger Jahre in Folge der 1962 beschlossenen Auch in Köln begannen bald nach dem Zweiten Verlegung des Hauptbahnhofes. 1969 ging Weltkrieg Planungen für ein Unterpflaster- daraufhin die erste Unterpflasterstraßenbahn- bahnnetz in der Innenstadt, nachdem erstmals strecke in Betrieb. 1970 wurde die Planung zu 1902 aufgetauchte Pläne für ein U-Bahn-Netz einem umfangreichen U-Bahn-Netz zusammen niemals verwirklicht wurden. Der Generalver- mit der Nachbarstadt Mannheim weiterentwi- kehrsplan von 1956 konkretisierte das Konzept ckelt, wobei als Zwischenzustand die Nutzung

128 Stadtbahnen in Deutschland fertiger Tunnel durch die Straßenbahn ange- Bau die Stilllegung der Straßenbahn. Diese dacht war. 1973 stimmten beide Städte dieser existiert aber bis heute weiterhin und wurde in Konzeption zu. Mitte der siebziger Jahre kam der jüngeren Vergangenheit modernisiert und der Ausbau dann aber zum Erliegen, und das erweitert. Konzept der U-Bahn verschwand in den In Nürnberg gingen bereits 1938 drei kurze Schubladen. Heute gibt es weiterhin ein dich- Unterpflasterbahntunnel im Bereich des ehe- tes Straßenbahnnetz mit einem oberirdischen maligen Reichsparteitagsgeländes im Außen- Schwerpunkt in der Mannheimer Fußgänger- bereich in Betrieb. Davon wird einer noch zone. Die unterirdische Infrastruktur in Lud- heute für Linienfahrten genutzt, die beiden an- wigshafen wird wegen veränderter Verkehrs- deren dienen als Abstellanlage. Nach dem ströme und unter den Erwartungen gebliebe- Zweiten Weltkrieg wurde 1963 der Bau eines ner Bevölkerungsentwicklung zu größeren Tei- Unterpflasterbahnnetzes für die Straßenbahn len nur noch im Berufsverkehr befahren. in der Innenstadt beschlossen. Bereits 1965 änderte man diesen Beschluss dann aber ana- log zu München zum sofortigen Bau eines U- Bahn-Netzes ab. Lediglich eine 1970 eröffnete Hochstrecke wurde provisorisch für die Stra- ßenbahn nutzbar gemacht, später aber in das U-Bahn-Netz integriert. Die erste richtig U- Bahn-Strecke ging dann 1972 in Betrieb. Heute gibt es zwei Linien. Wie in München ist eine Stilllegung der weiterhin existenten Straßen- bahn inzwischen nicht mehr vorgesehen.

Abb. 142: Straßenbahntunnel in Mannheim

In München wurde bereits 1938 mit dem Bau einer Tunnelstrecke für eine geplante S-Bahn begonnen, dieser dann aber aufgrund des Zweiten Weltkrieges wieder aufgegeben. Erste Überlegungen für Unterpflasterstraßenbahnen tauchten kurz nach dem Krieg 1947 auf und mündeten 1959 in einem detaillierten Netzent- wurf. Ein 1963 verabschiedeter Gesamtver- kehrsplan schwenkte dann zu einem kreu- zungsfreien U-Bahn-Netz und legte gleichzeitig die heutige Ost-West-Stammstrecke der S- Bahn fest. 1964 wurde der Bau der U-Bahn be- schlossen, und 1971/72 gingen pünktlich zu den damaligen Olympischen Spielen die beiden ersten Linien in Betrieb. Der Ursprungsentwurf mit vier Stammstrecken wurde 1970 auf drei Stammstrecken mit jeweils einer Verzweigung an beiden Seiten, insgesamt also 6 Linien, um- Abb. 143: Nürnberg, neben München einziges U- geändert. Das Grundnetz ist heute vollständig Bahn-Netz Deutschlands der Nachkriegszeit in Betrieb. Zwischenzeitlich plante man in Rückkopplung zum fortschreitenden U-Bahn-

129 Stadtbahnen in Deutschland

Recklinghausen

Gladbeck Herten Lünen Dinslaken Castrop-Rauxel

Bottrop Herne Gelsenkirchen

Oberhausen

Dortmund Moers

Witten Duisburg Bochum Essen Mülheim

Hattingen

Krefeld

Meerbusch Stadtbahn in Betrieb, kreuzungsfrei Stadtbahnvorlauf, Trasse weitgehend unabhängig Düsseldorf Stadtbahnvorlauf, eher straßenbahnartig Straßenbahnvorlauf in fertiggestellter Stadtbahnanlage dito, in Bau Stadtbahn, Planung

Neuss

Abb. 144: Stadtbahn Ruhr – die Netzübersicht zeigt den großen Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit bei vielen deutschen Schnellbahnprojekten, nach den Planungen der sechziger Jahre sollten alle verzeichneten Strecken (und einige weitere) kreuzungsfrei ausgebaut werden, tatsächlich schaffte man bis heute nur die schwarz dargestellten Abschnitte.127

Die umfangreichsten Schnellbahnplanungen in Jahren miteinander koordiniert, woraufhin Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wur- 1969 ein Leitplan für den ÖPNV vorgelegt wer- den im Ruhrgebiet durchgeführt. Neben der den konnte, im gleichen Jahr wurde dann auch heutigen S-Bahn plante man dort ab den sech- die Stadtbahngesellschaft Ruhr zur Umsetzung ziger Jahren ein umfangreiches U-Bahn-Netz der Planung gegründet. Dabei war der Begriff über den gesamten Ballungsraum. Dem vo- Stadtbahn hier anfangs als Synonym für U- rausgegangen waren bereits Projekte zum Bau Bahn benutzt worden, er sollte die städtever- von Tunnelstrecken für die Straßenbahn in ei- bindende Funktion vieler Linien herausstellen. nigen Ruhrgebietsstädten. Vorreiter dieser Das 1969 vorgesehene Netz sollte komplett Entwicklung war Essen, wo derartige Planun- kreuzungsfrei und über 200 km lang sein. Zu- gen bereits 1953 auftauchten. 1963 wurde nächst sah man den Bau isolierter U-Bahn- dort der Bau eines Unterpflasterbahnnetzes in Strecken vor, schwenkte dann aber doch dazu der Innenstadt beschlossen und daraufhin um, fertiggestellte Tunnelstrecken mit dem 1967 die erste unterirdische Haltestelle in Be- Straßenbahnnetz zu verbinden, um früher ei- trieb genommen. Auch in Dortmund existierte nen hohen Verkehrswert zu erzielen. Dieser ei- bereits 1960 ein Plan für eine im Stadtzentrum gentlich provisorisch gedachte Zustand entwi- unterirdische Straßenbahn. Die Planungen der ckelte sich vielerorts zum langfristigen Endzu- einzelnen Städte wurden dann in den sechziger stand, weshalb der Begriff Stadtbahn im Ruhr- gebiet heute nicht mehr wie anfangs mit einer 127 Quelle: eigene Darstellung unter Nutzung von Unter- U-Bahn gleichgesetzt wird. lagen der Stadtbahngesellschaft Rhein-Ruhr und des VRR

130 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 145: Viele Stadtbahntunnel im Ruhrgebiet werden bis heute von der Straßenbahn genutzt, dieses eigentliche Provisorium wird langfristig Bestand haben, Beispiel Gelsenkirchen

Abb. 146: Stadtbahntunnel im Vollausbau in Dortmund 131 Stadtbahnen in Deutschland

Derzeit gibt es in den meisten größeren Stadt Jahr Erste Tunnelstrecke Ruhrgebietsstädten ausgedehnte Tunnelanla- 130 gen in den Stadtzentren, kreuzungsfreie Berlin 1902 Potsdamer Platz – Strecken in die Vororte oder in die Nachbar- Zoologischer Garten städte stellen jedoch die Ausnahme dar. Das Hamburg 1912 Rathaus – Barmbek Gesamtnetz ist in normalspurige Stadtbahn- Stuttgart 1966 Station linien mit Hochflurfahrzeugen und über längere Charlottenplatz Abschnitte kreuzungsfreie Infrastruktur sowie Straßenbahnlinien unterteilt, wobei letztere Essen 1967 Station Saalbau ebenfalls in größerem Maße Tunnelanlagen Köln 1968 Friesenplatz – mitnutzen.128 Hauptbahnhof In Stuttgart wurde 1961 ein Entwurf zum Bau Frankfurt/Main 1968 Hauptwache – eines Unterpflasterstraßenbahnnetzes in der Nordwestzentrum Innenstadt vorgelegt. 1965 wurde das Konzept Ludwigshafen 1969 Station Hauptbahnhof anlässlich des damaligen Generalverkehrsplans Mannheim 1971 Station Dalbergstraße jedoch zu einem kreuzungsfreien U-Bahn-Netz geändert. Nachdem aber schon 1962 die Bau- Bielefeld 1971 Station arbeiten begonnen hatten, gingen dann Beckhausstraße 1966/67 zwei Tunnelstücke für die Straßen- München 1971 Kieferngarten – bahn in Betrieb. Diese waren die ersten Unter- Goetheplatz pflasterbahntunnel in Deutschland nach dem Nürnberg 1972 Bauernfeindstraße – Zweiten Weltkrieg. In der Folgezeit wurde die- Langwasser Süd ser Weg, fertiggestellte Tunnel zunächst von der damals meterspurigen Straßenbahn zu be- Bonn 1975 Hauptbahnhof – nutzen, weitergegangen. Letztendlich ließ man Heussallee den Leitgedanken eines kreuzungsfreien U- Hannover 1975 Hauptbahnhof – Bahn-Netzes wieder fallen und baute das Netz Schwarzer Bär bis heute zu einer normalspurigen Hochflur- Mülheim/Ruhr 1977 Station Heißen Kirche stadtbahn mit vielen Tunnelstrecken und nicht kreuzungsfreien Oberflächenstrecken aus. Bochum 1979 Bergmannsheil – Hauptbahnhof Daneben sind vergleichbare Planungs- und Ausbaumaßnahmen auch in Wien durchgeführt Düsseldorf 1981 Kennedydamm – worden, wo zwischen 1959 und 1969 zwei Opernhaus voneinander räumlich getrennte längere Stra- Dortmund 1983 Wilhelm-van-Vloten- ßenbahntunnel mit jeweils mehreren Einfahr- Straße – Clarenberg ten eröffnet wurden. 1966 stellte die Stadt Gelsenkirchen 1984 Hauptbahnhof – dann Planungen zum Bau eines komplett kreu- Musiktheater zungsfreien U-Bahn-Netzes vor, welches die Straßenbahn ersetzen sollte. Bis 2000 wurden Duisburg 1992 Duissern – fünf U-Bahn-Linien gebaut, eine davon unter Platanenhof

131 Einbeziehung von einem der beiden Straßen- Tab. 34: Erste Tunnelstrecken in Deutschland bahntunnel. Zur Stilllegung der Straßenbahn kam es aber letztendlich auch in Wien nicht, die Linienlänge beträgt auch heute noch weit über 200 km.129

130 Bereits 1899 eröffnete Berlin einen Unterwassertunnel 128 vgl. z.B. ANWANDER, Florian u.a.: Nahverkehr an für die Straßenbahn zwischen Treptow und Stralau, quasi Rhein und Ruhr; GeraNova Zeitschriftenverlag GmbH; als Probebetrieb für den U-Bahn-Bau. Der Tunnel wurde München 1999 und SCHÖNFISCH, Jochen: Die Stadtbahn 1932 mangels Fahrgastaufkommen in Verbindung mit Ruhr; http://www.jochen-schoenfisch.de/stadtbahn/ gleichzeitig notwendigen hohen Ertüchtigungsinvestitio- nen stillgelegt. 129 vgl. KAISER, Wolfgang: Die Wiener Straßenbahn; Gera 131 Mond München 2004 vgl. SCHWANDL, Robert: http://www.urbanrail.net

132 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 147: Auch in Frankreich gab es einige wenige Unterpflasterstraßenbahnprojekte, die allerdings aufgrund der in Kap. 1.2 beschriebenen Finanz- und Konkurrenzsituationen der Straßenbahnbetriebe sämtlich nicht umgesetzt werden konnten. Die Abbildung zeigt die Darstellung eines Projektes für Marseille aus dem Jahre 1943, präsentiert in einer dortigen Metrostation.

Ersichtlich wird aus dieser Gegenüberstellung, lichst unverändert in den Untergrund übertra- dass die Grundsatzkonzepte der großen gen werden, um gewachsene Linienverflech- deutschen Städte zum Ausbau ihrer Nahver- tungen beibehalten zu können. kehrsnetze übe die Jahre hinweg mehreren Verbunden mit dem weiteren Wachstum des Phasen unterworfen waren, die sich über die Autoverkehrs wurde anschließend das Konzept Städte vielfach gleichen. Dabei lassen sich in der Trennung der Verkehrsarten ab Mitte der dieser Reihenfolge drei hauptsächliche Pla- sechziger Jahren noch konsequenter verfolgt. nungsleitlinien ausmachen: Unterpflasterstra- Als nächste Planungsstufe folgte daraufhin der ßenbahn, U-Bahn und Stadtbahn.132 Wunsch, in den großen Ballungsräumen mög- Die teilweise bereits in den fünfziger Jahren lichst völlig unabhängige U-Bahn-Netze mit aufgenommenen Planungen zum Bau von Un- komplett kreuzungsfreien Trassen auch in den terpflasterstraßenbahnen – ein Konzept, dass Außenbezirken und großen, schweren Fahr- bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt zeugen zu schaffen. Die Einführung des Ge- war, man denke an den Kingsway-Straßen- meindeverkehrsfinanzierungsgesetzes gab den bahntunnel in London von 1906133 – umfassten Planungen, welche von den Städten alleine eine Verlegung der Straßenbahn an verkehrs- nicht hätten finanziert werden können, enor- reichen Stellen, vorwiegend in den Innenstäd- men Auftrieb. Förderrichtlinien des Bundes und ten, in den Untergrund, um punktuelle Stö- der Länder wurden insbesondere in Nordrhein- rungsquellen zu entschärfen. Kennzeichen der Westfalen so aufgestellt, dass U-Bahn- Planungen waren die meist relativ kurze Länge kompatible Trassierungsparameter Vorrausset- der unterirdischen Abschnitte und die Verwen- zung für finanzielle Zuschüsse waren.134 Für dung von Trassierungsparametern für den alle westdeutschen Städte über 500.000 Ein- Straßenbahnbetrieb: Unterirdische Abzweige wohner wurden in diesem Zeitraum General- und Gleisdreiecke, Seitenbahnsteige für Ein- verkehrskonzepte entwickelt, die für Endaus- richtungsfahrzeuge, geringe Kurvenradien. In bauzustände, anvisiert meist für einen Zeitrah- der Regel sollten bestehende Netzzusammen- men bis zum Jahr 2000, linienreine und kreu- hänge oberirdischer Straßenbahnnetze mög- zungsfreie U-Bahn-Netze mit meist sehr hohen Tunnelanteilen vorsahen. Die Straßenbahn wurde als auslaufender Betriebszweig gesehen 132 vgl. wiederum KEGEL, Fritz D.: U-Bahnen in Deutsch- und sollte nach der Fertigstellung von meist land – Planung – Bau – Betrieb; Alba Verlag Düsseldorf 1971 und GUHL, Detlef: Schnellverkehr in Ballungsräu- men; Alba Verlag Düsseldorf 1975 134 vgl. GRONECK, Christoph, LOHKEMPER, Paul und 133 vgl STOWITZKI, Bernhard: U-Bahn London, GVE SCHWANDL, Robert: Rhein-Ruhr Stadtbahn Album; Berlin 1994 Robert Schwandl Verlag, Berlin 2005

133 Stadtbahnen in Deutschland sehr viel kleineren U-Bahn-Grundnetzen still- lage erhebliche Baukostenersparnisse zur gelegt werden. Damit verbunden war der Herstellung einer kreuzungsfreien Trasse. Aus Fokus der Technik auf schnellbahngerechte, städtebaulichen Gründen kamen letztendlich eisenbahnartige Lösungen. So sahen 1969 auf- Viaduktstrecken aber nicht in der Größenord- gestellte vorläufige Trassierungsrichtlinien der nung zum Einsatz, wie es die Planungskonzep- Stadtbahn Ruhr u.a. folgende Planungspara- tionen ursprünglich vorsahen. Zwar wurde von meter vor: Mindestradius 180 m in der Innen- Seiten der Zuschussgeber (Bund, Bundeslän- stadt bzw. 240 m in den Außenbezirken, der) versucht, derartige Lösungen vorzugeben, Berührungspunkte mit anderen Verkehrsträ- doch stieß dies bei vielen Städten auf erhebli- gern grundsätzlich planfrei, Bahnsteiglänge chen Widerstand.135 110 m, Bahnsteighöhe 0,90 m.135 Stadtgestal- terische Aspekte einer konventionellen Stra- ßenbahnen mussten dabei zwangsläufig aus der Wahrnehmung herausfallen, da derartige Trassierungsparameter in sensiblen Stadträu- men sowieso grundsätzlich den Bau von Tun- neln erforderten. Lediglich zwei Städte (München und Nürnberg) führten diese Planungsmaxime dann allerdings auch konsequent zu Ende und bauten ihre Tunnelanlagen von Anfang an für einen ech- ten, völlig kreuzungsfreien U-Bahn-Betrieb. An- derswo wurde ein modifizierter Unterpflaster- bahn-Gedanke adaptiert. Dabei richtete man Abb. 148: Eher der Ausnahmefall – Schnellbahn- neue Tunnelanlagen zunächst für die Nutzung strecke in Hochlage, Beispiel Köln durch die Straßenbahn ein, entwickelte im Hinterkopf aber langfristige Planungsvorstel- Ebenfalls Anfang der siebziger Jahre erfolgte lungen für eine stufenweise Weiterentwicklung die Entwicklung von Fahrzeugen, die sowohl in der Netze zu einem reinen U-Bahn-System. fertig ausgebauten U-Bahn-Anlagen mit hohen Dies hatte beispielsweise Konsequenzen in der Bahnsteigen als auch an der Oberfläche auf Neuorganisation der innerstädtischen Netze angepassten Straßenbahnstrecken verkehren mit dem Ziel der Linienentflechtung. So wur- konnten. Solche Fahrzeuge kamen dann in den zunächst meist innerstädtische Stamm- Nordrhein-Westfalen, Hannover, Frankfurt und strecken gebaut, diese in ihren Trassierungs- Stuttgart zum Einsatz. Sie wurden vielerorts parametern (Lichtraumprofil, Bahnsteiglängen, zunächst als Kompromiss gesehen, bis nach Kurvenradien) jedoch für einen U-Bahn-Betrieb Erreichen eines gewissen Ausbauzustandes ein ausgelegt. Auch im selbem Zeitraum neu an- Betrieb mit U-Bahn-Fahrzeugen möglich wer- gelegte Außenstrecken entstanden vielfach in den sollte. Weit verbreitete Fahrzeugfamilien kreuzungsfreier Form und wurden zunächst wurde der Stadtbahnwagen B (erstmals gelie- von der Straßenbahn im Vorlaufbetrieb be- fert 1973 nach Köln, später auch in die ande- dient. Dabei machte man in nicht unerhebli- ren Stadtbahnstädte Nordrhein-Westfalens au- chem Maße auch von der oberirdischen kreu- ßer Bielefeld) sowie die Stadtbahnwagen vom zungsfreien Trassierung Gebrauch, insbeson- Typ U2 (erstmals 1968 nach Frankfurt, später dere von der Einschnittlage, teilweise aber in großer Zahl auch Export nach Nordamerika). auch in Dammlage oder aufgeständert auf Via- Zwar erlaubten derartige Wagen durch Klapp- dukten. Dies versprach im Gegensatz zur Tief- trittstufen auch den Einstieg vom Straßenni- veau, doch gingen viele Städte bald dahin, auch außerhalb der Tunnel hohe Bahnsteige zu 135 vgl. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und schaffen, um einen stufenfreien Einstieg an- Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen: Stadtbahn bieten zu können. Heute gelten Hochbahn- Ruhr – Ein Schwerpunkt des öffentlichen Personennah- steige an der Oberfläche vielerorts als städte- verkehrs im Rahmen der Verkehrspolitik des Landes Nordrhein-Westfalen; Düsseldorf 1969 baulich problematisch, es darf dabei aber nicht

134 Stadtbahnen in Deutschland vergessen werden, dass in den sechziger und Bahnkörpern auch oberirdisch ein leistungsfä- siebziger Jahren die Niederflurtechnik noch higer städtischer Bahnbetrieb durchgeführt keine ernsthafte Alternative war. Nachdem werden konnte. Der zunächst als Vorlauf ge- diesbezügliche Konstruktionen der Vorkriegs- plante Betrieb wurde so zu einer neuen Philo- zeit zugunsten reiner Drehgestellfahrzeuge de sophie, die der Stadtbahn.140 Diese verkehrt facto in der Versenkung verschwunden waren, dort, wo es verkehrlich notwendig erscheint, in setzte sich die Niederflurtechnik erst in den einer zweiten Ebene unabhängig vom MIV, neunziger Jahren wirklich durch, beginnend mit ansonsten aber an der Oberfläche. Maßgabe ist einer Experimentierphase in den achtziger dort möglichst eine eigene Trasse und weit Jahren, erster Anwendungsfall war 1984 Genf reichender Vorrang, nicht jedoch die Kreu- in der Schweiz. So gesehen versuchten die zungsfreiheit. Dazu kamen als weitere Anfor- ÖPNV-Betriebe der deutschen Ballungsräume derungen der Einsatz längerer, leistungsfähiger schon sehr früh, den Fahrgästen komfortable Züge und ein stufenloser Einstieg, wie Fahrzeuge mit durchgehend ebenem Boden geschildert über Hochbahnsteige. Kennzeich- und stufenfreien Einstiegen anzubieten. 136 nend für den Stadtbahnbetrieb ist, dass eine Abgesehen davon war die Wahl von hoch- Weiterentwicklung des Netzes in Richtung U- flurigen Drehgestellwagen auch unter der Bahn möglich ist, jeder erreichte Ausbauzu- Berücksichtigung der Planungskonzeptionen stand aber auch Endzustand sein kann. Im Ge- der Netze absolut verständlich: derartige Fahr- gensatz zum Unterpflasterstraßenbahngedanke zeuge sind prädestiniert für eine schnellbahn- orientiert sich die Leistungsfähigkeit und Li- artige Betriebsführung im Tunnel oder auf so nienführung der meisten deutschen Stadtbahn- weit wie möglich eisenbahnartig ausgebauten netze mehr an Prinzipien von Schnellbahnen Oberflächenstrecken mit hohen Fahrgeschwin- (längere Bahnsteige, wenige Verflechtungen digkeiten, ganz im Gegensatz zu Niederflur- zwischen den Strecken). Andererseits ermög- fahrzeugen.137 lichten die Einsparungen durch den Verzicht auf kreuzungsfreie Führungen in den Außen- Im Laufe der Zeit wurden dann jedoch die Pla- bereichen den Städten größere Netzdichten. nungen für betrieblich völlig unabhängig ver- Heute lässt sich feststellen, dass bisher keine laufende Netze weit zurückgestellt oder ganz Stadt, die ihren Tunnelbetrieb einst als Vorlauf aufgegeben. Gründe waren primär ab Mitte der zu einer U-Bahn einführte, ihr Netz dann auch siebziger Jahre aufkommenden Finanzierungs- tatsächlich zu einer vollwertigen U-Bahn probleme138. Zu Beginn der achtziger Jahren weiterentwickelt hat und dass derartige Be- fanden sich daraufhin selbst in der Fachpresse strebungen inzwischen meist auch nicht mehr diesbezüglich sehr prägnante Überschriften wie als Langfrist-Ziel propagiert werden.141 z.B. „Stadtbahn Rhein-Ruhr – Im Sog der lee- ren Kassen“ oder „Stadtbahn Rhein-Ruhr – Ein Zu den Städten mit U-Bahnen oder Stadtbah- Fass ohne Boden?“139 nen kommen in Deutschland weiterhin solche mit Straßenbahnnetzen, in denen keine Tun- Im selben Zeitraum reifte aber auch die Ein- nelstrecken gebaut wurden bzw. in denen der sicht, dass auf Außenstrecken mit besonderen Tunnelbau nicht über kurze Abschnitte nur für die Straßenbahn hinaus kam. Vielfach stag- 136 nierte dort die Entwicklung der Systeme über zur Entwicklung der Fahrzeugtechnik deutscher Stadt- bahn- und Straßenbahnwagen vgl. VDV: Stadtbahnen in lange Zeiträume. Einige dieser Städte planten Deutschland; Alba Verlag Düsseldorf 2000 ebenfalls einen Stadtbahn- oder U-Bahn-Be- 137 vgl. HOEBER, Helmut: Laufruhe von Niederflurbahnen – Möglichkeiten der Optimierung; Der Nahverkehr 9/2004 140 Gemeint ist hier der Stadtbahnbegriff im Sinne vieler 138 So startete etwa die Stadt Köln Anfang der achtziger Planungskonzepte der siebziger uns achtziger Jahre. Jahre einen bundesweit beachteten Vorstoß gegen zu Heute wird der Terminus „Stadtbahn“ vielerorts auch für großzügige Baurichtlinien und damit zu hohe Kosten beim modernisierte Straßenbahnsysteme ohne Tunnelstrecken Stadtbahnbahnbau. In der Folge wurden einige Vorhaben und Hochbahnsteige verwendet. abgespeckt und zeitlich gestreckt, ein weiteres ganz 141 vgl. hierzu z.B. Verkehr und Technik: Stadtschnellbah- aufgegeben. Vgl. GRONECK, Christoph: Köln Bonn nen und Stadtbahnen – 2. Sonderheft Technik, Betrieb, Stadtbahn Album; Robert Schwandl Verlag Berlin 2004 Wirtschaftlichkeit – Beispiel Stadtbahn Köln; Erich 139 vgl. stadtverkehr 2/1982 und 2/1984 Schmidt Verlag, Berlin – Bielefeld – München 1983

135 Stadtbahnen in Deutschland trieb, konnten diesen jedoch aus finanziellen Dies bedeutete je nach Örtlichkeit die Aufwei- Gründen nicht umsetzen (z.B. Krefeld). Lange tung der Gleisabstände zur Ermöglichung des Zeit war die Zukunft vieler reiner Straßenbahn- Einsatzes breiterer Wagen, die Vergrößerung systeme unklar. Oberirdische Modernisierun- von Kurvenradien, die Verstärkung der Strom- gen bestehender Straßenbahnnetze begannen versorgung und der Bau langer, hoher Bahn- im größeren Stil erst in den achtziger Jahren steige. Nun muss man sich gleichzeitig vor speziell in Südwestdeutschland. Zu nennen Augen halten, dass die mit der Planung von sind hier in erster Linie die Städte Freiburg und kommunalen Schienenstrecken in den deut- Karlsruhe. Durch die Entwicklung der Nieder- schen Ballungsräumen befassten Institutionen flurtechnologie und der weltweiten Renais- und Büros davor fast ausschließlich mit sance des Verkehrsmittels Straßenbahn im ur- Konzepten eisenbahnorientierter Schnellbah- sprünglichen Sinne setzte dann auf fast allen nen befasst waren.143 Es erstaunt daher wenig, noch vorhandenen Straßenbahnnetzen der al- dass diese nun auch bei der Anpassung von ten Bundesländer ein gewaltiger Modernisie- Straßenbahnstrecken für den Stadtbahnbetrieb rungsschub ein. Nach der Wiedervereinigung versuchten, diese soweit möglich unter konnten auch die meisten Netze der neuen Randbedingungen großzügig erfüllter Plan- Bundesländer bedingt durch zunächst reichlich ungsparameter, möglichst weitgehender Sepa- vorhandene Infrastrukturförderungsprogram- rierung vom sonstigen Verkehr und technisch- me rundum modernisiert werden.142 eisenbahnartiger Ausgestaltung der Infrastruk- tur zu planen. Dies führte in vielen Städten im Bis heute wirkt sich in Deutschland allerdings Laufe der Zeit zu Konflikten, nachdem die die langjährige Fixierung auf den Ausbau der Unvereinbarkeit einer sehr eisenbahnartigen kommunalen Schienennetze der Ballungsräume Planung mit städtebaulichen Zielen mehr und gemäß der U-Bahn- bzw. Stadtbahnkonzepte mehr sichtbar wurde.144 Einige Städte (z.B. erheblich auf das planerische Selbstverständnis Frankfurt, Düsseldorf, Essen, Bonn, Bochum sowie das deutsche Richtlinienwerk aus (vgl. u.a.) schafften es daraufhin, ihre Schienen- Kap. 3.2). Nicht selten ernten die Konzepte der netze langfristig aufzuteilen: Teilnetze mit Stadtbahn- und U-Bahn-Systeme der sechziger einem bereits erreichten sehr hohen Grad von und siebziger Jahre jedoch inzwischen Kritik. Separierung wurden weiterhin den (dort Dies lässt sich aber nur zum Teil auf die Kon- zweifellos vorteilhaften) Schnellbahnkonzepten zepte selbst zurückführen. Problematisch wur- nach weiterentwickelt, andere, bis dato meist den deren Strategien im Grunde nämlich erst, vernachlässigte Teilnetze fortan zur modernen als klar wurde, dass die Vorstellungen zum Bau Straßenbahn ausgebaut. Nicht überall führte möglichst unabhängiger Stadtbahn- bzw. U- dieser Paradigmenwechsel jedoch dazu, bei Bahn-Netze langfristig nicht umsetzbar waren. den straßenbahnartigen Teilnetzen in Hinsicht Oberirdische Straßenbahnstrecken konnten so auf die Stadtverträglichkeit über niedrigere nicht wie eigentlich vorgesehen durch Neubau- Bahnsteige hinweg weiterzudenken. strecken ersetzt werden. Stattdessen wurden sie vielfach an fertiggestellte Tunnelstücke an- geschlossen. Da man sich aber vielerorts gleichzeitig auf den möglichst weitgehenden 143 So wurden in der Region Köln/Bonn zwischen 1964 Einsatz von schnellbahngerechten Fahrzeugen und 2003 insgesamt 46 völlig neu gebaute oder unab- hängig neu trassierte Streckenabschnitte in Betrieb anstelle konventioneller Straßenbahnwagen genommen. Die ersten 32 (bis 1986 eröffnet) waren festlegte – sowohl, um fertiggestellte Tunnel- sämtlich Tunnelstrecken, kreuzungsfreie Abschnitte in stücke sofort schnellbahnartig ausbauen als Niveaulage, Einschnitten oder auf Dämmen bzw. umge- auch um einen stufenfreien Einstieg anbieten baute Eisenbahnstrecken. Erst dann wurden auch nicht kreuzungsfreie oberirdische Neubaustrecken eröffnet. S. zu können – entstand der Zwang, viele Ober- auch Tab. 35, vgl. GRONECK, Christoph: Köln Bonn flächenstrecken soweit möglich für den Betrieb Stadtbahn Album; Robert Schwandl Verlag Berlin 2004 mit dafür im Grunde oft nicht geeigneten 144 So scheiterte in Köln die Planung, das Gesamtnetz auf Stadtbahnfahrzeugen anpassen zu müssen. Hochflur-Stadtbahnwagen umzustellen. Nach einer Grundsatzentscheidung 1991 wurde ein Teil des Netzes

fortan nur noch mit 35 cm hohen Bahnsteigen ausgebaut. 142 vgl. KLEE, Wolfgang: 30 Jahre, prall gefüllt – Die Stra- vgl. JÜNGER, Raimund: Niederflur-Stadtbahn für Köln; ßenbahnen im Umbruch; Straßenbahn-Magazin 11/2000 stadtverkehr 9/1993

136 Stadtbahnen in Deutschland

Datum Strecke km 18.11.1964 Station Höhenberg Frankfurter Straße 0,3 20.12.1966 Vingst – Ostheim 1,2 11.10.1968 Friesenplatz – Dom/Hauptbahnhof 1,3 14.12.1968 Hersel – Bonn West (KBE) 5,7 06.10.1969 Barbarossaplatz – Appellhofplatz – Dom/Hauptbahnhof 2,6 19.10.1970 Postraße – Severinstraße 0,4 19.10.1970 Dom/Hauptbahnhof – Breslauer Platz 0,5 18.05.1971 Longericher Straße – Heimersdorf 2,3 29.10.1973 Neurather Weg – Am Emberg 2,1 17.11.1973 Heimersdorf – Chorweiler 1,0 25.08.1974 Hansaring – Ebertplatz – Zoo 2,8 25.08.1974 Breslauer Platz – Ebertplatz – Mollwitzstraße 3,6 25.08.1974 Nußbaumerstraße – Slabystraße 5,9 23.03.1975 Bonn Hauptbahnhof – Heussallee 3,5 13.06.1976 U-Bahnhaltestelle Fuldaer Straße 0,6 07.11.1976 Slabystraße – Wiener Platz 1,5 12.08.1978 Köln – Wesseling – Bonn 29,0 21.04.1979 Bonn Hauptbahnhof – Stadthaus 0,3 21.04.1979 U-Bahnhaltestelle Bonn Hauptbahnhof (Endausbau) 0,4 27.04.1979 Landesbehördenhaus (heute Deutsche Telekom) – Rheinaue 1,5 10.10.1979 Zoo – Slabystraße 1,2 02.08.1980 Deutz-Kalker Bad – Fuldaer Straße 2,8 31.08.1980 Sankt Augustin-Mülldorf – Siegburg-Zange 0,9 26.10.1980 Heumarkt – Deutzer Freiheit 0,8 15.06.1981 Kalk – Vingst 2,1 05.09.1981 Rheinaue – Ramersdorf 2,4 05.09.1981 Küdinghoven – Ramersdorf 0,3 31.08.1981 Severinstraße – Suevenstraße 1,4 10.04.1983 Deutzer Freiheit – Deutz-Kalker Bad 2,1 25.06.1983 Oberdollendorf Nord – Longenburg 2,4 14.04.1985 Friesenplatz – Gutenbergstraße 1,8 26.10.1985 Schwadorf – Bonn Hauptbahnhof 15,5 09.11.1986 Barbarossaplatz – Schwadorf 15,8 31.10.1987 Hansaring – Zülpicher Platz 1,5 15.09.1989 Hans-Böckler-Platz – Venloer Straße/Gürtel 1,5 28.09.1991 Reichenspergerplatz – Niehl, Sebastianstraße 3,4 30.05.1992 Venloer Straße/Gürtel – Bocklemünd 3,7 23.09.1994 Hochkreuz – Bad Godesberg Stadthalle 2,5 19.08.1994 Am Bonner Berg – Auerberg 1,4 31.05.1997 Wiener Platz – Herler Straße 1,8 20.04.1998 Wiener Platz – Keupstraße 0,9 28.05.2000 Im Hoppenkamp – Bensberg 0,5 16.10.2000 Siegburg-Zange – Siegburg 0,5 15.06.2002 Junkersdorf – Weiden, Schulstraße 2,8 15.06.2002 Bocklemünd – Mengenich, Ollenhauerring 0,9 16.03.2003 Keupstraße – Berliner Straße 1,1 28.05.2006 Weiden Schulstraße – Weiden West 0,9

Tunnel Viadukt/Einschnitt o.ä. Eisenbahnstrecke n. EBO nicht kreuzungsfrei

Tab. 35: Neubaustrecken der Stadtbahnnetze Köln und Bonn seit Beginn der Ausbauplanungen nach dem Zweiten Weltkrieg, erst seit den neunziger Jahren wurden nicht kreuzungsfreie Strecken neu gebaut

137 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 149: Die Grenzen der deutschen Schnellbahnkonzepte aus den sechziger und siebziger Jahre zeigten sich, als die ursprünglich geplanten Netze nicht im eigentlich vorgesehenen Maße verwirklicht werden konnten. Vielerorts reagierte man darauf, indem man versuchte, vorhandene Infrastruktur soweit möglich für einen leistungsfähigeren Stadtbahnbetrieb anzupassen. Nicht immer konnte dies im Einklang mit der umgebenden Stadtstruktur geschehen, so etwa in Neuss, wo die Aufwertung einer ehemaligen Straßen- bahnlinie zur Stadtbahn mit breiteren und längeren Zügen dazu führte, dass diese mangels Stadtver- träglichkeit aus der Fußgängerzone und damit dem Zielgebiet vieler Fahrgäste herausgenommen und am Neusser Hauptbahnhof abgebunden werden musste.

Stellt man die deutsche Stadtbahnphilosophie mindest in den Ballungsräumen) unter die nun der in Kap. 2 analysierten Philosophie der Erde. neuen französischen Straßenbahnnetze gegen- Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass über, werden maßgebliche Unterschiede sicht- die Ausbauvorhaben in Deutschland ein we- bar. Bei jeder Vergleichsbetrachtung muss sentlicher Garant dafür waren, dass die städti- aber berücksichtigt werden, dass die deutsche schen Schienennetze Deutschlands in derart Stadtbahnevolution dreißig Jahre vor der Stra- großem Umfang bis heute erhalten blieben. ßenbahn-Renaissance in Frankreich begann. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Sys- Im Grunde genommen war die Haltung beider teme war damit naturgemäß ein fließender Länder zum Verkehrssystem Straßenbahn in Prozess verbunden. Frankreich hatte dagegen den Ballungsräumen nach dem Zweiten Welt- im Zuge der Neueinführung seiner Straßen- krieg gar nicht so unterschiedlich: Beide sahen bahnsysteme ab den achtziger Jahren eine für die Straßenbahn in traditioneller Form in ganze andere Ausgangsbasis – die Systeme den großen Städten keine wirkliche Zukunft, mussten neu in die Städte implementiert und beide meinten, dass sich Straßenbahn und werde – was fast zwangsläufig zu anderen Lö- Autoverkehr in den Zentren gegenseitig aus- sungen bzw. zunächst zu einer grundlegenden schließen oder über ein hinnehmbares Maß Neubewertung des Verkehrssystems Straßen- hinaus beeinträchtigen würden. Lediglich die bahn an sich führen musste. Art der Reaktion auf diese Einschätzung war unterschiedlich. Frankreich schaffte seine Stra- ßenbahnen ab, Deutschland verlegte sie (zu-

138 Stadtbahnen in Deutschland

sung stammt vom 11. Dezember 1987.145 Sie 3.2 Städtebauliche Gestaltung von enthält Abschnitte über Betriebsleitung, Be- Straßenbahnanlagen in triebsbedienstete, Betriebsanlagen, Fahrzeuge, Deutschland Betrieb, Verfahrensvorschriften und Ord- nungswidrigkeiten. 3.2.1 Vorbemerkungen Grundsätzlich enthält die BOStrab im Gegen- In der vorangegangenen Kurzanalyse der Evo- satz zur Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung lution der Stadtbahnsysteme in Deutschland (EBO) nur wenige konkret formulierte techni- wurde bereits aufgezeigt, dass das zwischen- sche Grenz- und Richtwerte. Genauere Pla- zeitliche Bestreben einer möglichst weitrei- nungsgrundsätze finden sich in ergänzenden chenden Separierung städtischer Bahnsysteme Regelwerken. Dennoch gibt es in der BOStrab vom sonstigen Verkehr in Deutschland nicht einen Aspekt, der direkt in die städtebauliche ohne Auswirkung auf entsprechende Richtli- Gestaltung von Straßenbahntrassen eingreift: nien und Planungsleitfäden bleiben konnte. Die Definition des Bahnkörpers. Dessen Aus- Der deutsche, lange Zeit fast ausschließlich gestaltung hat wesentliche Auswirkung auf technisch-funktional geprägte Ansatz zum Bau eine eventuelle Trennwirkung sowie die städ- neuer Stadtbahnstrecken steht dabei dem tebauliche Integration einer Schienentrasse im französischen Ansatz einer integrierten Be- Straßenraum. trachtung von Straßenbahnbau und Stadtges- Die BOStrab unterscheidet zwischen straßen- taltung in vielerlei Hinsicht diametral gegen- bündigen, besonderen und unabhängigen über. Gleichzeitig zeigte sich in Frankreich, Bahnkörpern. Derzeit sind in Deutschland beim dass gerade das Ansinnen der Einführung von Neu- und Ausbau von Straßenbahnstrecken Straßenbahnen zur Verbesserung der urbanen nur besondere und unabhängige, aber keine Gestaltungsqualität ein wesentlicher, wenn straßenbündigen Bahnkörper bezuschus- nicht der wesentliche Erfolgsfaktor der dorti- sungsfähig.146 Da auf der anderen Seite unab- gen neuen Straßenbahnsysteme ist. hängige Bahnkörper nicht innerhalb von öf- Vor diesem Hintergrund erscheint es als sehr fentlichen Straßenräumen und somit weniger lohnenswert, das deutsche Regel- und Richtli- in städtebaulich sensiblen Räumen zur Anwen- nienwerk über den Bau neuer städtischer dung kommen können, ist an dieser Stelle ins- Schienenstrecken näher zu analysieren. Im besondere eine Betrachtung der Vorgaben zum Folgenden werden Regelungen bzw. Planungs- besonderen Bahnkörper von Bedeutung. Die grundsätze aufgezeigt, die zu Zeiten der Pla- BOStrab macht hierzu im Abschnitt Betriebs- nung eisenbahnartiger Stadtschnellbahnen anlagen, § 16 (Bahnkörper) folgende Festset- entstanden sind und aufgrund der Fixierung zung: auf die besonders mit Blick auf die französi- (6) Besondere Bahnkörper liegen im Ver- sche Entwicklung fragwürdige Zielvorstellun- kehrsraum öffentlicher Straßen, sind jedoch gen einer vollständigen Entkoppelung von vom übrigen Verkehr durch Bordsteine, Leit- Stadtbahnbau und städtischem Umfeld die Pla- planken, Hecken, Baumreihen oder anderen nung moderner, stadtverträglicher Straßen- ortsfeste Hindernisse getrennt. Zum besonde- bahnstrecken erschweren. Gleichzeitig werden ren Bahnkörper gehören auch höhengleiche Vorschläge erarbeitet, wie Motivation und An- Kreuzungen, die nach § 20 Abs. 7 als Bahn- reiz zu einer stärkeren Berücksichtigung städ- übergänge gelten. tebaulicher Belange bei der Planung neuer Straßenbahnanlagen durch veränderte Regel- und weiter werke gefördert werden könnten.

3.2.2 BOStrab 145 Verordnung über den Bau und Betrieb der Die Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung Straßenbahnen (Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab) ist das übergeordnete Regelwerk für – BOStrab) vom 11. Dezember 1987 (BGBl. I S. 2648) den Bau und Betrieb von städtischen Schie- 146 vgl. Gesetz über Finanzhilfen des Bundes zur Verbes- nenbahnen. Die Ursprünge der BOStrab gehen serung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden (GVFG), auf das Jahr 1906 zurück, die derzeitige Fas- § 2 Abs. 2 139 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 150: Nach deutschem Recht unzulässig – Straßenbahn auf besonderem Bahnkörper mit nicht punk- tuell beschränkter Querbarkeit für Fußgänger, Beispiel Nantes; Kraftfahrzeugverkehr ist selbstverständ- lich auch bei diesem Beispiel im Zuge des Bahnkörpers ausgeschlossen

(8) Bei Fußgängerüberwegen über einen be- stadtverträglichere Straßenbahnlösungen er- sonderen Bahnkörper müssen zwischen diesem kennbar. Insbesondere sind nach der gängigen und benachbarten Straßenfahrbahnen Schutz- Rechtslage linienweit durch Fußgänger zu inseln für Fußgänger vorhanden sein, wenn querende Bahnkörper keine besonderen Bahn- das Überschreiten von Bahnkörper und Straße körper, auch wenn ihre Gleise vom Kraftfahr- nicht durch Wechsellichtzeichen geregelt ist. zeugverkehr freigehalten werden. Damit be- deutet die Schaffung eines besonderen Bahn- In § 58 (Benutzen und Betreten der Betriebs- körpers automatisch eine Trennwirkung für anlagen und Fahrzeuge) ist das Verbot einer den Fußgängerquerverkehr. Zwar werden be- Überquerung besonderer Bahnkörper eindeutig sondere Bahnkörper auch heute schon stellen- festgelegt: weise als „Überquerungshilfe“ gesehen, sie (1) Personen, die nicht Betriebsbedienstete dürfen es aber eben nicht sein. Um die Bahn- sind, dürfen Betriebsanlagen und Fahrzeuge, körperdefinition stadtverträglicher zu gestalten, soweit sie nicht dem allgemeinen Verkehrs- sind zwei Strategien denkbar: gebrauch dienen, nicht betreten oder sonst • neue Auslegung der Definition des beson- benutzen. Sie dürfen besondere oder unab- deren Bahnkörpers: weiterhin Ausschluss hängige Bahnkörper nur an den dafür be- einer Mitnutzung durch den MIV, aber stimmten Stellen überqueren. Gestattung der linienmäßigen Querbarkeit Die BOStrab definiert den besonderen Bahn- für Fußgänger, oder aber körper also als möglichst weit vom sonstigen Straßenverkehr separiert. Hier ist deutlich der Bezug auf Stadtbahnlösungen und nicht auf 140 Stadtbahnen in Deutschland

• zusätzliche Definition eines weiteren Bahn- Allgemeine Ziele körpers zwischen straßenbündigem und Ziel der Trassierung ist die fahrdynamisch besonderem Bahnkörper. günstige Aneinanderreihung und Überlagerung Dies bedeutet nicht, dass das Ziel eines vom der Trassierungselemente sowie die Optimie- Kraftfahrzeugverkehr freigehaltenen Fahrwe- rung der Trassierungsparameter hinsichtlich ges für Straßenbahnen aufgegeben werden - Sicherheit, soll. Gerade in Frankreich wurde die Separie- rung von Straßenbahn und MIV konsequent - Geschwindigkeit, durchgesetzt, aber eben zunehmend im Rah- - Fahrdynamik und Fahrkomfort, men einer „sanften Separierung“, also per Bahnkörpern, die im städtischen Raum keine - Wirtschaftlichkeit von Bau und Betrieb Barrierewirkung darstellen. Im Laufe der Zeit einschließlich der Instandhaltung. rückte diese sanfte Separierung gegenüber Diese Ziele werden durch die Anwendung der baulich stärker separierten Bahnkörpern ganz Regelwerte erreicht. deutlich in den Vordergrund. Die Vorteile in Hinblick auf die städtebauliche Integration sind Offensichtlich beschränken sich die Trassie- leicht erkennbar, Nachteile hinsichtlich der Be- rungsanforderungen hier auf wirtschaftlich- triebsführung wurden offensichtlich als weniger technische Randbedingungen. Beim Bau von relevant beurteilt. (vgl. Kap. 2.2.1) Tunnelstrecken oder unabhängig geführter Oberflächenstrecken macht dies sicherlich 3.2.3 BOStrab Trassierungsrichtlinien Sinn. Es fehlt aber das Ziel, bei Straßenbahnen auf straßenbündigen oder besonderen Bahn- Für die Trassierung von Straßenbahnstrecken 147 körpern durch die Trassierung eine stadtbild- geben die BOStrab-Trassierungsrichtlinien verträgliche Einbindung des Gleiskörpers in das konkrete Vorgaben. Sie liegen in der Fassung städtische Umfeld zu erreichen. Eine solche vom 18. Mai 1993 vor. Deutlich erkennbar ist Forderung könnte prägnant folgendermaßen die Verwandtschaft der derzeit gültigen Tras- formuliert werden: sierungsrichtlinien mit der inzwischen nicht mehr fortgeschriebenen Stadtbahn-Richtlinie Ziel der Trassierung ist daneben bei Bahnen der Stadtbahngesellschaft Rhein-Ruhr148. Letz- innerhalb des öffentlichen Straßenraumes die tere wurde speziell für das geplante Stadt- auf die örtliche Situation angepasste Einfügung bahnnetz Rhein-Ruhr, einer im Endausbauzu- einer Gleistrasse in den städtischen Raum. stand vollständig kreuzungsfreien Schnellbahn, Werden derartige grundsätzliche Forderungen entwickelt. Grundsätzlich sind damit auch die bei der Trassierung nicht mitberücksichtigt, so BOStrab-Trassierungsrichtlinien nach wie vor entsteht schnell die Gefahr, dass rein technisch eher auf die Belange weitgehend unabhängig optimierte Lösungen geplant werden, welche verkehrender Bahnen, denn auf die Belange im nicht der vielfach geforderten Stadtverträglich- Straßenraum verkehrender Straßenbahnen keit genügen. ausgerichtet. Insbesondere fehlen Festsetzun- gen zur stadtverträglichen Einbindung von Nun ist die Formulierung einer an die örtliche Gleistrassen in Stadtstraßenzüge völlig. Statt Situation angepassten Planung zunächst tech- dessen sind die Richtlinien fast ausschließlich nisch kaum fassbar. In Hinblick auf die Tras- auf technisch optimierte Lösungswege ausge- sierung kann sie aber dennoch recht präzise richtet. Besonders deutlich wird dies gleich in eingegrenzt werden, da die Anzahl der zur der Einleitung, im Kapitel „Allgemeine Trassie- Verfügung stehenden Trassierungselemente rungsgrundsätze“: und ihr Einsatz im dreidimensionalen Raum begrenzt sind.

147 Festzuhalten ist zunächst, dass sich bei im Bundesminister für Verkehr: Richtlinien für die Straßenraum geführten Bahnen Bogenradien Trassierung von Bahnen nach der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) (BOStrab- und damit auch die Höchstgeschwindigkeit so- Trassierungsrichtlinien); Bonn, 18. Mai 1993 wie die Längsneigung unmittelbar aus der 148 Verkehrsverbund Rhein-Ruhr: Stadtbahn-Richtlinie 2.1 Straßencharakteristik ergeben. Darauf nehmen - 2, Trassierung, Ausgabe 1995 auch die Trassierungsrichtlinien Bezug, indem

141 Stadtbahnen in Deutschland sie in Abschnitt 6.2 (3) den Mindestradius je Gleistrasse der Straßenachse anpasst. Eine nach Ausbau der Strecke als unabhängiger optimale Anpassung ist dann gegeben, wenn bzw. besonderer/straßenbündiger Bahnkörper der Bahnkörper durchgehend genau in unterschiedlich definieren und bei letzteren le- Mittellage platziert werden kann. Ein solcher diglich die technische Mindestgröße von r = 25 idealisierter Fall wird sich allerdings schwerlich m, unterhalb derer ein Einsatz gängiger Fahr- universell anwenden lassen. Wichtiger ist zeugtypen nicht mehr möglich ist, vorgeben. daher die sorgfältige Planung von Die Längsneigung wird gar in Anschnitt 8.1 nur Abweichungen der Bahnachse von der mit einem Regelwert angegeben. Höhere Straßenachse. Werte werden bei „schwierigen topographi- Die hierbei betroffenen Trassierungselemente schen Verhältnissen“ ohne weitere Spezifizie- sind Gleisverschwenkungen mit Gegenbögen rung zugelassen. und Gleisverziehungen. Genau zu diesen Ele- Damit ist das einzige wesentliche nicht erfasste menten findet sich in den Trassierungsrichtli- Kriterium die Abfolge der Trassierungsele- nien keine genauen Angaben. Unter dem Ge- mente in Straßenlängsrichtung. Genau hierzu sichtspunkt einer stetigen Trassierung sind fol- gibt es im vorliegenden Regelwerk keine Vor- gende Forderungen aufzustellen: gaben. Gleistrassen im Straßenraum wirken als • Verzicht auf Gleisverschwenkungen in gera- durchlaufende Linienelemente unmittelbar auf den Straßenachsen, das Erscheinungsbild der Längsachse einer Straße ein. Diese Einwirkung verstärkt sich bei • Ausnutzung von Kurven bei notwendiger Oberbauformen, welche gegenüber den Stra- Verschiebung der Straßenbahnachse in der ßenfahrbahnen gestalterisch bzw. baulich ab- Straßenachse (z.B. Wechsel von Seiten- zu gesetzt sind. Oberstes Gestaltungsziel sollte es Mittellage), daher sein, eine Gleistrasse so in einen Stra- • Verzicht auf hintereinanderliegende Kap- ßenraum einzufügen, dass sie nicht zu einem bahnsteige mit dreifacher Gleisverschwen- unruhigen Gesamteindruck führt. Diese Rand- kung zugunsten symmetrischer Gleisverzie- bedingung ist dann erfüllt, wenn sich die hungen.

Abb. 151: Kapbahnsteige mit Gleisverschwenkung – oben: unruhige Lösung, führt zudem zu großem Längenbedarf, unten: gestalterisch ansprechende, symmetrische Lösung

142 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 152: Stellgleisanordnung – oben: unruhige Lösung mit unstetiger Achsenverschwenkung, unten: ge- stalterisch ansprechende, symmetrische Lösung

143 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 153: Verschwenkung von der Mittel- in die Seitenlage – oben: unruhige Lösung mit Gleisverschwen- kung, unten: gestalterisch ansprechende Lösung unter Ausnutzung einer Kurve

Die EAÖ bietet trotz Bezug auf städtische Ver- 3.2.4 EAÖ kehrssysteme einen rein technischen Ansatz Die Aufstellung und Fortschreibung des Tech- ohne detaillierte Betrachtung städtebaulicher nischen Regelwerkes für die Verkehrsplanung und gestalterischer Randbedingungen. Be- obliegt in Deutschland u.a. der Forschungsge- zeichnend ist, dass es ergänzend zur EAÖ ein sellschaft für Straßen- und Verkehrswesen eigenständiges Arbeitspapier für die Gestaltung (FGSV). Für die Planung von Anlagen des öf- von Anlagen des schienengebundenen öffentli- fentlichen Verkehrs im allgemeinen Straßen- chen Verkehrs150 gibt. Dieses ist nicht wie die raum stellt die EAÖ149 das übergeordnete EAÖ als „Empfehlung“, sondern lediglich als technische Regelwerk dar. Die EAÖ berück- „Merkblatt“ klassifiziert. Beides zeigt den Stel- sichtigt und konkretisiert die entsprechende lenwert der Gestaltung im hiesigen Planungs- Fachgesetzgebung (PBefG, BOStrab, BOKraft). prozess: Ein nachrangiger Aspekt, der zeitlich Mit der 2003 fertiggestellten gültigen Fassung hinter der Grundkonzeption liegt und nicht verloren ältere Regelwerke (RAS-Ö) ihre Gül- unmittelbar beachtet werden muss. Dass diese tigkeit. Planungsphilosophie integrative Verbünde aus

150 Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrs- 149 Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrs- wesen: Merkblatt für die Gestaltung von Anlagen des wesen: Empfehlungen für Anlagen des öffentlichen schienengebundenen öffentlichen Verkehrs; Ausgabe Personennahverkehrs; Ausgabe 2003 2003

144 Stadtbahnen in Deutschland technischem Entwurf und Gestaltung er- Radien erforderlich machen. Die Formulierung schwert, erscheint offensichtlich. der EAÖ schließt Linienführungsalternativen mit engen Kurven aus und suggeriert für den Mit Hilfe der EAÖ können Anlagen des ÖPNV planerischen Mindestradius einen Wert, wel- dem Stand der Technik entsprechend durch- cher sich in städtischen Räumen oft nicht um- geplant werden, eine Berücksichtigung gestal- setzen lässt. terischer Aspekte erfolgt nur bei entsprechen- der vorheriger Sensibilisierung von Planern und Aufgabenträgern. Diese rein technische Be- trachtungsweise ist nicht nachvollziehbar, da die EAÖ keine Fachrichtlinie für technische Teilaspekte sondern eben Entwurfsempfehlung ist. Bei Entwurfsarbeiten im städtischen Raum müssen aber technische und stadtgestalteri- sche Randbedingungen gleichzeitig beachten werden. Das Ziel eines technisch-gestalterisch integ- rierten Planungsprozesses erfordert als grund- legende Voraussetzung, in übergeordneten technischen Regelwerken Grundvorgaben für beide planerischen Teilaspekte Technik und Gestaltung zu geben. Zwar erscheint es durch- aus als praktikabel, Detailfragen der Gestal- tung wie auch der Technik in eigenständigen Merkblättern abzuhandeln, doch ist der Ver- zicht auf jegliche gestalterische Vorgaben im Grundlagenwerk kritisch zu durchleuchten. Auf die EAÖ bezogen lassen sich mit Blick auf das Merkblatt eine Vielzahl möglicher Ergänzungen nennen. Zusätzlich finden sich in der EAÖ technische Vorgaben, welche nicht im Einklang zur Einbindung von Schienentrassen in Stra- ßenräume zu bringen sind. (a) Abschnitt 3.1.6 Lage und Höhenplanele- mente Hier findet sich folgende Formulierung: „Die fahrzeugtechnischen Mindestradien (bei gängi- gen Fahrzeugen r=25 m) sind nicht für die Streckentrassierung geeignet, sondern allen- falls in Betriebshöfen anwendbar.“ Ein Min- destradius wird nicht genannt. Für eine ge- wünschte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h findet sich in der EAÖ für Ausnahmefälle ein Radius von r=100 m. Mit Blick auf die übergeordnete BOStrab-Tras- sierungsrichtlinie ist der Ausschluss von 25-m- Abb. 154, 155: Die stadtverträgliche Einbindung Radien schlicht falsch, da letztere im Punkt 6.2 von Straßenbahnstrecken erfordert die Option, (3) eindeutig den Mindestradius im Strecken- enge Radien verwirklichen zu können, was in der bereich auf min r=25 m festsetzt. Eine Einbin- deutschen EAÖ mit der Forderung nach Radien von über 100 m aber ausgeschlossen wird, Beispiel dung von Schienentrassen in Straßenräume Nantes kann insbesondere im Knotenbereich derartige

145 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 156: Hochkettenfahrleitung sind in engen Straßenräumen sehr problematisch, Beispiel Köln

(b) Abschnitt 3.1.7 Fahrleitungsanlagen oder Stahlmast, Ausleger- oder Abspannmast, Masten für Quertragwerke) sowie der System- Die Ausgestaltung der Fahrleitungsanlagen hat aufbau der Fahrleitung (Einfachfahrleitung mit auf die städtebauliche Verträglichkeit einer oder ohne Beiseil oder Kettenwerksfahrleitung Straßenbahntrasse immense Einflüsse. Die EAÖ als Hoch- oder Flachkette) einen erheblichen schreibt dazu in Kapitel 3.1.7 folgendes: Einfluss auf die Bauteilgrößen und auf die „Fahrleitungssysteme werden als Flachketten- städtebauliche Gesamtwirkung. Daher ist bei system oder bei höherer erforderlicher Strom- der Wahl der Fahrleitungsart dem städtebauli- übertragungsfähigkeit für höhere Leistungs- chen Umfeld besondere Rechnung zu tragen.“ bereiche als Hochkettensystem ausgebildet. Erst in diesem im hinteren Teil der EAÖ abseits Die Befestigung des Tragwerks erfolgt an der grundsätzlichen Entwurfsempfehlungen Bauwerken oder Masten. Bei der Festlegung angeordneten Abschnitt findet sich damit eine des Systems sind auch städtebauliche Aspekte Formulierung zur Relevanz der gestalterischen zu berücksichtigen. [...] Grundsätzlich sollte Ausführung von Fahrleitungsanlagen und zu- bereits im Stadium der Planung Klarheit dar- sätzlich auch ein Verweis auf das Gestaltungs- über bestehen, welches Fahrleitungssystem merkblatt. erforderlich ist. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob Fahrleitungsmasten auch die Funktion von Be- Um eine angemessene Planung der Fahrlei- leuchtungsmasten mit übernehmen können.“ tungsanlagen auch unter städtebaulichen Ge- sichtspunkten zu erreichen, erscheinen die In Kapitel 5.2 werden weitere Hinweise zur Formulierungen der EAÖ zu offen. Förderlich baulichen Ausführung gegeben. „Bei der Stre- wäre eine Auflistung von gestalterischen ckenplanung ist insbesondere die Fahrleitungs- Grundprinzipien bereits im Grundlagenteil (Ka- anlage zu berücksichtigen. Dabei haben die pitel 3) der EAÖ. Dabei ist die hohe städtebau- Anordnung und Ausführung der Maste (Beton- 146 Stadtbahnen in Deutschland liche Bedeutung der Fahrleitungsplanung stär- Mit Blick auf das Gestaltungsmerkblatt erschei- ker herauszustellen. Die derzeit im Regelwerk nen folgende Festlegungen als praktikabel: etwas versteckten Ergänzungen in Kapitel 5 • In beidseitig angebauten Straßenräumen könnten dabei in die Grundlagen miteingear- mit mindestens dreigeschossiger Bebauung beitet werden. ist eine Befestigung des Tragwerks an Bauwerken zu bevorzugen. • Hochkettenfahrleitungen sind in angebau- ten Straßenräumen zu vermeiden, da sie wuchtige Abspannungen benötigen und eine Befestigung des Tragwerks an Bau- werken normalerweise nicht möglich ist. • Oberleitungsmasten in angebauten Stra- ßenräumen sollten wenn möglich die Funk- tion als Beleuchtungsmast für die Straßen- beleuchtung mit übernehmen oder aber eine gestalterische Einheit zusammen mit den Laternenmasten bilden. • Betonmasten sind im bebauten Raum aus städtebaulichen Gründen zu vermeiden. • Bei der Befestigung des Tragwerks an Mas- ten sind ständige Wechsel von Mittel- und Seitenmasten zu vermeiden. Seitenmaste sind direkt gegenüber anzuordnen. • Mittelmasten und paarweise angeordnete Außenmasten sind aus gestalterischer Sicht auf einer Seite aufgestellten Außenmasten Abb. 157: Betonmasten für die Oberleitung beein- mit Ausleger vorzuziehen. trächtigen sensible Umgebungen enorm, Beispiel Köln (c) Abschnitt 4.4.1 Lage der Haltestellen In diesem Kapitel werden eine Vielzahl von Randbedingungen z.B. bezüglich der Anlage von Haltestellen vor oder hinter Knotenpunk- ten zusammengetragen. Ein wichtiges gestal- terisches Kriterium, die Halteplätze beider Fahrtrichtung wenn möglich direkt gegenüber anzuordnen, fehlt jedoch. Vielmehr wird sug- geriert, dass Seitenbahnsteige an Knoten- punkten grundsätzlich über Kreuz anzuordnen seien. (d) Abschnitt 4.5.1 Überquerungsstellen an Knotenpunkten Die EAÖ macht bezüglich Überquerungsstellen Abb. 158: Hochkettenfahrleitung schaffen ein eher für Fußgänger an Haltestellen folgende Festle- eisenbahnartiges Erscheinungsbild, durch die gungen: „Bei ÖPNV-Fahrstreifen in Mittellage stetige Abfolge von weniger wuchtigen sind an den Überquerungsstellen aus Sicher- Stahlmasten in Mittellage kann dieser Effekt aber heitsgründen Aufstellflächen zwischen den reduziert werden, Beispiel Düsseldorf ÖPNV-Fahrstreifen und den IV-Richtungsfahr- bahnen anzuordnen.“ Für Haltestellenbereiche ist dies bei der Anordnung von Seitenbahnstei-

147 Stadtbahnen in Deutschland gen sinnig, da der Breitenbedarf für die Auf- oft vermeidbare Trennwirkungen und er- stellflächen mit der Aufweitung des Raumes schwerte Zugangsbedingungen. zwischen ÖPNV-Fahrstreifen und IV-Rich- (e) Abschnitt 4.5.3 Überquerungsstellen an tungsfahrbahnen durch die Seitenbahnsteige Streckenabschnitten ohne Haltestelle normalerweise abgedeckt ist. Die Forderung wird allerdings explizit auch im Falle von Halte- Die EAÖ merkt zu Querungsstellen auf freier stellen mit Mittelbahnsteigen genannt. „Bei der Strecke folgendes an: „Grundsätzlich ist die Anordnung von Mittelbahnsteigen sind die Auf- Anzahl der Überquerungen bei getrennter stellflächen in der Flächenbilanz zusätzlich vor- Führung von ÖPNV und IV auf ein Minimum zu zusehen.“ Dadurch werden gestalterisch zu- begrenzen. Um zu verhindern, dass der beson- friedenstellende Lösungen mit besonderen dere Bahnkörper außerhalb der Überquerungs- Bahnkörpern in Mittellage und Haltestellen mit stellen überschritten wird, empfiehlt sich eine Mittelbahnsteigen ausgeschlossen, da in diesen beidseitige Absperrung entsprechend §16 (6) Fällen außer bei überbreiten Straßenräumen der BOStrab.“ Hier gelten sinngemäß die Aus- i.A. keine Flächen zwischen ÖPNV-Fahrstreifen führungen aus Kap. 3.2.2. Die Formulierung und IV-Richtungsfahrbahnen bestehen (vgl. der EAÖ steht städtebaulichen Zielen diametral Abb. 159). Sind diese vorhanden, so ergeben entgegen. sich durch notwendige unstetige Fahrbahnver- (f) Abschnitt 5.1 Gleisanlagen ziehungen gestalterische Brüche. Eine städte- baulich zufriedenstellende Anordnung von Auf- Die EAÖ gibt technische Erläuterungen zur stellflächen ist in diesem Falle normalerweise Ausführung der Gleisanlagen. Zur Ausgestal- nur zwischen den Gleisen im Bereich des Zu- tung des Oberbaus wird aber nur ein allgemei- gangs zum Mittelbahnsteig möglich. Da eine ner Passus angebracht: „Der Oberbau kann solche Aufstellfläche von querenden Fußgän- u.a. in geschlossener, begrünter oder ge- gern ohne Rücksichtnahme auf den Verkehr schotterter Bauweise erstellt werden“. Zur der Gegenrichtung (IV und ÖPNV) erreicht Frage, welche Oberbauform zum Einsatz kom- werden kann, erscheint sie hinsichtlich der Si- men soll, wird nur allgemein auf den Einzelfall, cherheit nicht als nachteilig. Wichtig ist hierbei auf die Abstimmung mit den Verkehrsunter- zur Verbesserung der Übersichtlichkeit aller- nehmen sowie „einschlägige Regelwerke“ ver- dings ein gestalterischer Verbund der ÖPNV- wiesen. Hier sollte klar herausgestellt werden, Fahrstreifen und IV-Richtungsfahrbahnen in dass in bebauten Bereichen geschlossene jeweils in einer Fahrtrichtung ohne Sichtbar- Bahnkörperformen zu bevorzugen sind. Insbe- rieren oder optische Trennwirkung zwischen sondere der Betonschwellenoberbau auf den beiden Verkehrsarten. Schotter gilt als städtebaulich unverträglich. Zu bevorzugen sind begrünte oder eingepflasterte Erwähnt wird in der EAÖ die Möglichkeit, die Bahnkörper. Beim Rasengleis sollten Rasenflä- Rückseite von Seitenbahnsteigen für Zugangs- chen und Schienenkopf grundsätzlich auf glei- zwecke zu öffnen. Bei Seitenbahnsteigen, wel- cher Höhe liegen. che in Kapform oder am Fahrbahnrand ange- ordnet sind, ist ein Zugang über die gesamte (g) Abschnitt 5.4 Warteflächen Bahnsteiglänge von der Außenseite generell Für die bauliche Ausgestaltung von Haltestellen gegeben. Es fehlt aber die damit zusammen- gibt die EAÖ Hinweise zur Anlage der Warteflä- hängende Forderung, dass der Gleisbereich chen. „Dabei sollten diese auch durch optische von Straßenbahnhaltestellen mit Tiefbahnstei- und taktile Elemente vom übrigen Gehwegbe- gen zur Verbesserung der Zugänglichkeit auf reich abgehoben werden.“ Diese Forderung ganzer Länge querbar sein sollte. Dies gilt ins- kann nicht als allgemeingültig angesehen wer- besondere dann, wenn Mittelbahnsteige zur den. In sensiblen städtischen Räumen, z.B. auf Anwendung kommen oder zumindest ein Sei- Platzflächen, stellt oft ein integraler Verbund tenbahnsteig auf ganzer Länge mit Fußgän- von Gehweg- und Haltestellenbereich die ge- gerflächen verbunden ist. Andernfalls erzeugen stalterisch bessere Lösung dar. Bahnsteige auch bei geringen Bahnsteighöhen

148 Stadtbahnen in Deutschland

Abb. 159: Nach deutscher Planungspraxis unzulässig – Mittelbahnsteig ohne Schutzraum zwischen Straße und Gleis an den Überwegen, Beispiel Nantes; Gefahrenpotenziale sind bei dieser Lösung nicht erkennbar

149 Stadtbahnen in Deutschland

3.2.5 Standardisierte Bewertung aber auch Änderungsbedarf durch die zuneh- mende Bedeutung von Straßenbahninfra- Die Standardisierte Bewertung von Verkehrsin- strukturmaßnahmen. Das Ursprungsverfahren vestitionen des öffentlichen Personennahver- wurde gemäß der Abkehr vom Verkehrssystem kehrs151 wurde 1976 vorgelegt und dann bis Straßenbahn in den sechziger Jahren vorwie- 1982 in einer Erprobungsphase weiter verfei- gend zur Bewertung von Schnellbahnprojekten nert. Anschließend lag ein über viele Jahre (U-Bahn, S-Bahn, Stadtbahn) entwickelt und in weitgehend unverändertes Regelverfahren vor. diese Richtung hin optimiert. Der Fokus lag Zum 1. Januar 2001 wurde dies durch eine hierbei vor allem auf Tunnelbauten in zentralen weitreichend überarbeite Neufassung (Version Bereichen. Da inzwischen vielerorts wieder der 2000) abgelöst. Die Anwendung des Verfah- Ausbau und die Weiterentwicklung von Stra- rens ist für alle nach dem Gemeindeverkehrsfi- ßenbahnsystemen forciert wird, entsprach die nanzierungsgesetz zu fördernden Vorhaben ab Standardisierte Bewertung nicht mehr den einer Investitionssumme von 25 Millionen € Anforderungen. In die Neubearbeitung flossen zwingend vorgeschrieben. Dabei wird grund- so in Hinblick auf diese Entwicklung u.a. fol- sätzlich nur die Wirkung jeweils einer singulä- gende Aspekte ein: ren Maßnahme untersucht. Deren Nutzen für eine perspektivische Gesamtplanung muss • Differenzierte Betrachtung von Zugangs-, bereits in vorlaufenden Untersuchungen ge- Warte- und Fahrzeiten: Im alten Verfahren klärt werden.152 wurden alle Bestandteile der Gesamtreise- zeit gleichrangig betrachtet und addiert. Die Standardisierte Bewertung stellt eine Kos- Dagegen gehen diese drei Zeitwerte nun ten-Nutzen-Analyse dar, welche Infrastruktur- in wissenschaftlicher Erkenntnis des sehr maßnahmen im öffentlichen Nahverkehr auf unterschiedlichen subjektiven Empfindens ihre Wirkung hin untersucht. Dabei steht am individuell in den Ansatz ein. Gehzeiten Ende ein Kosten-Nutzen-Faktor, welcher es werden im neuen Verfahren mit quadrati- ermöglicht, verschiedene Projekte miteinander schen Funktionen bewertet. Dies führt zu vergleichen. Grundlage des Bearbeitungs- dazu, dass ab einer gewissen Grenze län- konzeptes ist es, die geplante Maßnahme (Mit- gere Gehzeiten zu einer Verschlechterung Fall) mit dem Bestand in einer zukünftigen op- führen, auch wenn sie durch kürzere Fahr- timierten Form ohne die geplante Maßnahme zeiten überkompensiert werden. (Ohne-Fall) zu vergleichen. Das Verfahren be- rücksichtigt eine Vielzahl von Randbedingun- • Qualitätsunterschiede: Diese werden im al- gen von der Infrastruktur über den Fahrzeug- ten Verfahren lediglich durch das Kriterium einsatz bis hin zu angestrebten Fahrplankon- „Schnellbahnanteil“ berücksichtigt. In An- zepten. betracht der vielseitigen Möglichkeiten zur Schaffung attraktiver Lösungen an der Die neue Fassung des Verfahrens entstand aus Oberfläche ist dieser Ansatz unzureichend. mehreren Gründen. So wurden neue EU-Re- Im neuen Verfahren gehen daher viel we- gularien, Auswirkungen der Bahnreform, wei- sentlichere Aspekte in die Beurteilung der terentwickelte Ansätze zur Modellierung der Qualität einer Maßnahme ein. Betrachtet Verkehrsnachfrage, aktualisierte Kostensätze werden Standards an Fahrzeugen, Halte- und eine erweiterte Betrachtung von Folge- stellen und sonstiger Infrastruktur sowie kosten berücksichtigt. Insbesondere ergab sich der Fahrplantakt. Mangelnde Standards führen zu einer Minderung des Nutzens. 151 INTRAPLAN/PROF. HEIMERL: Standardisierte Bewer- Insbesondere Fahrweg-, Fahrzeug- und Halte- tung von Verkehrsinvestitionen des öffentlichen Perso- stellenstandards sind aber auch im neuen nennahverkehrs; München 2001 Verfahren nicht besonders weit konkretisiert. 152 zur Standardisierten Bewertung vgl. GLÜCK, Dr. Nach wie vor ergeben sich aus der Standardi- Dieter; HEIMERL, Prof. Gerhard und MANN, Hans-Ulrich: Standardisierte Bewertung angepasst an neue sierten Bewertung bei höherer Berücksichti- Strukturen; in: Der Nahverkehr 5/2001 sowie HUBER, gung städtebaulicher Kriterien keine zusätzli- Andreas und SCHÄUBLE, Heike: Umdenken nötig? chen Nutzenfaktoren. Der Qualitätsbegriff wird Version 2000 der standardisierten Bewertung; in: Der weiterhin vorwiegend funktional interpretiert. Nahverkehr 10/2002 Damit behält eine attraktive Gestaltung von 150 Stadtbahnen in Deutschland

Anlagen des ÖPNV den Status von zusätzli- • abgestimmtes Farbkonzept von Fahrzeu- chem Luxus ohne elementare Erfordernis. Die gen, Infrastruktur, Fahrgastinformation, Auswirkungen einer attraktiven Gestaltung von ggf. auf Linien bezogen, Nahverkehrssystemen auf die Außenwirkung • Bedienung einer Linie mit nur einem Fahr- und die Fahrgastnachfrage werden also völlig zeugtyp, ausgeblendet. • Verfügung über Designerfahrzeuge mit ei- Im Einzelnen sind hierbei folgende Teilbereiche ner auf die Örtlichkeit abgestimmten Ges- der Standardisierten Bewertung diskussions- taltung. würdig: Die Qualitätsbewertung des Fahrweges diffe- (a) Abschnitt 2.2.3 Kenngrößen zur Beschrei- renziert zunächst zwischen spurgeführt und bung der Angebotsqualität im ÖV, (3) System- nicht spurgeführt. Bei den spurgeführten qualität Fahrwegen werden anschließend drei Quali- Im Rahmen der Beschreibung der allgemeinen tätsstufen definiert, welche aufsteigend in die Systemqualität werden die beiden Aspekte Berechnung des Zeitzuschlags einfließen: Fahrweg und Fahrzeug betrachtet. Anhand • grundsätzlich systemeigene Trasse (kein zweier Zeitaufschläge auf die Beförderungs- Zeitzuschlag), zeiten geht die Systemqualität in das Bewer- tungsschema ein. Beide Zeitsaufschläge er- • überwiegend systemeigene Trasse, auf rechnen sich aus zwei im Grundsatz identisch Teilabschnitten mit Mischbetrieb Vorrang aufgebauten Kreuztabellen (Tabellen 2-1 und in Konfliktbereichen (geringer Zeitzu- 2-2) mittels drei Qualitätsstufen der Fahrzeug- schlag), ausstattung sowie fünf Qualitätsstufen des • Mischbetrieb mit anderen Verkehrsmitteln, Fahrwegs. Die Tabelle ergibt einen absoluten bei Straßenbahnen also straßenbündiger Zeitaufschlag, die andere einen relativen Zeit- Bahnkörper (hoher Zeitzuschlag). aufschlag. Hier zeigt sich die Bevorzugung von Schnell- Die drei Qualitätsstufen der Fahrzeugausstat- bahnlösungen und der grundsätzliche Ansatz, tung errechnen sich aus einem Kriterienkatalog straßenbündige oder auch weniger gut sepa- (Tabelle 2-3). Dieser enthält acht Einzelkrite- rierte besondere Bahnkörper unbedingt ver- rien, die Einstufung erfolgt aus der Anzahl der meiden zu wollen. Bei den Fahrwegen mit nicht erfüllten Kriterien (0 bis 1, 2 bis 3, 4 bis Mischverkehr wird keinerlei Differenzierung 5). Zwar gibt es im Kriterienkatalog auch den vorgenommen. Die beiden denkbaren Grenz- Punkt Durchgängige Corporate Identity, doch fälle einer in der Tat als kritisch zu beurteilen- umfasst dieser lediglich zwei zu erfüllende Be- den Straßenbahntrasse mit straßenbündigem dingungen: Bahnkörper auf einer staugefährdeten Haupt- • einheitliches, gepflegtes Erscheinungsbild, straße auf der einen Seite sowie einer als überaus attraktiv zu beurteilenden Straßen- • ansprechendes Design-. bahntrasse quer über einen großen Fußgän- Beide Bedingungen bieten keinerlei Konkreti- gerbereich etwa vor einer Universität auf der sierung des Begriffs der Corporate Identity. Sie anderen Seite führen beide zu den gleichen sind schwammig, subjektiv und offen formu- hohen Zeitzuschlägen. Dies ist überhaupt nicht liert. Es ist nicht ersichtlich, in welchem Falle nachvollziehbar. Zielführender erscheint es, bei sie nicht erfüllt sein sollten. Im Umkehrschluss Fahrwegen mit Mischbetrieb eine Unterschei- kann daher davon ausgegangen werden, dass dung nach deren Hauptcharakteristiken durch- sie grundsätzlich zutreffen und damit nicht zuführen: weiter betrachtet werden. Dagegen gibt es I. Mischbetrieb auf Hauptstraßen mit hoher durchaus „harte“ Faktoren, die eine weitaus Verkehrsbelastung ohne Vorrang in den bessere Einstufung der Corporate Identity er- Konfliktbereichen, möglichen würden: II. Mischbetrieb auf Nebenstraßen mit gerin- • Verzicht auf Reklame an den Fahrzeugen, ger Verkehrsbelastung und mit Vorrang insbesondere Ganzreklame, in den Konfliktbereichen,

151 Stadtbahnen in Deutschland

III. Mischbetrieb ausschließlich mit anderen Wie bei der Fahrzeugqualität wird auch der Verkehrsmitteln des ÖPNV (Bahnkörper Aspekt der Gestaltung nur oberflächlich abge- der Straßenbahn ist gleichzeitig Busspur), handelt. Das Kriterium Ansprechende bauliche Gestaltung, Sauberkeit dürfte als grundsätzlich IV. Mischbetrieb in Fußgängerbereichen. erfüllt angesehen werden. Denkbar wären di- Bei Fall I erscheint es als offensichtlich, dass verse Zusatzkriterien: dieser eine Einschränkung der Systemqualität • fußläufige direkte Erreichbarkeit der Sta- rechtfertigt. Bei den anderen Fällen ist dies tion aus allen Richtungen, nicht der Fall. Fall III wird außer bei sehr kur- zen Zugfolgezeiten eine einem besonderen • Haltestellenzugänge in einer Ebene ohne Bahnkörper qualitativ gleichrangige Betriebs- Unter- oder Überführungen, was für die durchführung erlauben. Bei Fall IV ist die Auf- Fahrgäste einen wesentlichen Komfortge- rechnung eines Zeitzuschlags auf die Beförde- winn gegenüber dem geforderten Behin- rungszeit noch weniger einsehbar. Da in Fuß- dertengerechten Zugang darstellt, gängerbereichen allgemein mit sehr geringen • einheitliche Corporate Identity der Halte- Fahrgeschwindigkeiten gefahren wird, wirkt stellen, Umsetzung eines individuell erar- sich eine solche Trasse schon direkt ohne Zu- beiteten durchgehenden Haltestellenges- schläge auf die Beförderungszeit aus. Die Hin- taltungskonzeptes. zurechnung von Zeitzuschlägen dreht auf der anderen Seite den Sachverhalt um, dass eine Zeitabschläge könnten gemäß der Formel Durchfahrung von Fußgängerbereichen die „Warten als Aufenthalt“ bei der Verwirklichung Kurzweiligkeit des subjektiven Fahrt-„Erlebens“ besonderer architektonischer Standards wie sogar positiv beeinflussen kann (Stichwort rol- großflächigen Überdachungsbauwerken oder lendes Schaufenster, vgl. Kap. 2.2.3). Würde besonderen Beleuchtungskonzepten angesetzt man darauf Bezug nehmen, müsste für die werden. Dadurch würden sich solche Maßnah- langsame Durchfahrung von Fußgängerberei- men positiv auf die Bewertung niederschlagen. chen sogar ein Zeitabschlag gewährt werden. Derzeit führt eine ambitionierte architektoni- sche Gestaltung von Stationen bzw. insbeson- (b) Abschnitt 2.2.3 Kenngrößen zur Beschrei- dere von Verknüpfungspunkten nicht zu einer bung der Angebotsqualität im ÖV, (4) Stati- Verbesserung des Fahrgastnutzens bei der onsausstattung Standardisierten Bewertung, obwohl besonders Die Beurteilung der Stationsqualität erfolgt solche Maßnahmen für die positive Wahrneh- ähnlich wie die der Systemqualität durch ein mung und Außendarstellung eines Verkehrs- zusätzliches Reisezeitäquivalent. In einem Kri- systems entscheidend sein können. terienkatalog (Tabelle 2-4) werden wiederum (c) Abschnitt 3.1 Zielsystem einzelne Standards vorgegeben. Differenziert wird nach normalen und übergeordneten Stati- Unter dem Schlagwort „Optimierung der Nut- onen (Knotenpunkte, überdurchschnittliches zenstiftung von Verkehrswegeinvestitionen im Fahrgastaufkommen). Sind mehr als zwei oder ÖPNV“ werden in der Standardisierten Bewer- mehr als vier Standards nicht erfüllt, so kommt tung auch volkswirtschaftliche Gesamtbe- es zu Zeitaufschlägen. trachtungen durchgeführt. Ein Zielkatalog listet für die drei Bereiche Fahrgäste, ÖPNV-Aufga- In der Auflistung fehlen Kriterien zur Bewer- benträger und Allgemeinheit Einzelziel auf. tung zur baulichen Ausführung von Verknüp- fungspunkten zwischen Bus und Bahn: Bei der Betrachtung einer städtebaulich integ- rierten Gestaltung von Straßenbahntrassen ist • witterungsgeschützte Umsteigewege (Voll- hierbei die Verbesserung der Nutzenstiftung überdachung), des ÖPNV für die Allgemeinheit (Punkt 3) von • direkte Sichtbeziehungen zwischen den Bedeutung. Hier finden sich zwei Unterziele: verknüpften Verkehrsmitteln, • Verminderung von Trennwirkungen (3.11), • kurze, niveaugleiche, wenn möglich bahn- • Verminderung von Beeinträchtigung des steiggleiche Umsteigewege in den Haupt- Stadtbildes (3.13). lastrichtungen.

152 Stadtbahnen in Deutschland

Für beide Unterziele ist lediglich eine verbale Erörterung vorgesehen. Diese wird noch nicht einmal grundsätzlich gefordert, da „die Erfah- rungen zeigen, dass bei den meisten der zu beurteilenden Investitionsmaßnahmen [...][bei diesen Unterzielen] keine nennenswerten Aus- wirkungen zu erwarten sind“. Dies zeigt genau den Stellenwert des Städtebaus bei Baumaß- nahmen für den ÖPNV in Deutschland auf. Ge- nau hier könnte auf eine Vielzahl von Kriterien wie der Art des verwendeten Oberbaus, der Trassierung sowie der Ausführung der Ober- leitung Bezug genommen werden. Je nach Planung dieser Kriterien kann die Beeinträchti- gung des Stadtbildes in erheblichem Maße dif- ferieren oder ggf. sogar eine Verschönerung des Stadtbildes erreicht werden. Gegenüber der alten Fassung geht die aktuelle Standardisierte Bewertung in diesem Themen- komplex sogar einen Schritt zurück. Vormals wurde zur Beurteilung der Trennungswirkung immerhin der Flächenverbrauch einer neuen Eigentrasse für Nahverkehrsmittel per Stan- dardkennwerten berücksichtigt. Auch diese Form der Bewertung erscheint aber nicht als zielführend, da nicht in die Berechnung ein- ging, in welcher Form die Eigentrasse projek- tiert war. Ein hochgepflasterter Bahnkörper, der von Fußgängern problemlos gequert wer- den kann, besaß hinsichtlich seines Flächen- verbrauchs in der alten Fassung der Standardi- sierten Bewertung keinen Vorteil gegenüber einem abgezäunten, nicht überquerbarem Schottergleiskörper. Solange gestalterische Aspekte bei der Be- wertung des volkswirtschaftlichen Nutzens nicht adäquat berücksichtigt werden, so ist ihre Durchsetzbarkeit beim Zugriff auf Fördermittel immer ungesichert.

153 Schlussbetrachtungen

154 Schlussbetrachtungen

4 Schlussbetrachtungen

155 Schlussbetrachtungen

fentlichen Stadtverkehr passierte, wie das Ver- 4.1 Neue Straßenbahnsysteme in kehrsmittel Straßenbahn völlig neu entdeckt Frankreich – wegweisend? und völlig neu definiert wurde, wie dies Der Bau neuer Straßenbahnstrecken ist natür- gleichzeitig zu einer völligen Veränderung ver- lich kein rein französisches Phänomen. Städti- kehrsplanerischer, städteplanerischer und poli- sche Schienenbahnsysteme sind weltweit im tischer Sichtweisen führte, kann nicht zu Un- Einsatz, werden ausgebaut, werden neu eröff- recht als revolutionär tituliert werden. net. Deutschland mit seinen rund sechzig Zur Untermauerung dieser Aussage lassen sich Städten, die Straßenbahnen, Stadtbahnen oder einige prägnante Aspekte der Straßenbahn- U-Bahnen betreiben, ist dabei einer der Haupt- Entwicklung in Frankreich seit den achtziger akteure – und mit jedem Meter verschlissener Jahren herausgreifen. So führte Nantes 1985 Straßenbahnschiene, die in Russland einge- das erste oberirdisch komplett neu durch eine stellt wird, näher an der Spitzenposition hin- Innenstadt geführte Straßenbahnsystem Euro- sichtlich der Streckenkilometer städtischer pas nach den umfangreichen Stilllegungen der Bahnen. Was also macht die neuen französi- Straßenbahnen in den fünfziger, sechziger und schen Straßenbahnsysteme so besonders, was siebziger Jahren ein.153 Grenoble hält mit sei- macht sie gegenüber den deutschen Systemen ner 1987 eröffneten Straßenbahn das Prädikat einer vergleichenden Dissertation würdig? des weltweit ersten Netzes, welches komplett Zur Antwort auf diese Frage seien zunächst mit Niederflurfahrzeugen und entsprechenden einmal zwei aus Frankreich stammende Aussa- Bahnsteigen betrieben wurde und damit von gen bezüglich der Straßenbahn als Verkehrs- Beginn an vollständig barrierefrei war. Gleich- mittel im Allgemeinen zitiert. Beide sind für zeitig wurde Grenoble zum Pionier der Ent- den Zeitpunkt, in dem sie fielen, durchaus als wicklung, zusammen mit neuen Straßenbahn- repräsentativ anzusehen. strecken gleichzeitig auch den motorisierten Individualverkehr in den Stadtzentren neu zu

ordnen und einzudämmen, mehr Raum für „Das antiquierteste, vorsintflutlichste, armse- Fußgänger zu schaffen und gleichzeitig die ligste, betagteste, archaischste, primitivste, Straßenbahn als aktives Element zur Erschlie- störendste, lästigste, unlogischste, dümmste ßung der derart revitalisierten Innenstädte ein- Stadtverkehrsmittel ist die elektrische Straßen- zusetzen, sprich diese unmittelbar oberirdisch bahn.“ in neu geschaffene Fußgängerbereiche herein- zuholen. Mit diesem Ansatz einer verstärkten MARCEL NOPPENEY, Schriftsteller, 1939 Präsenz verbunden war das Ansinnen, die Straßenbahn als Markenzeichen und Identi- „Die Straßenbahn ist die städtebauliche Idee tätsfaktor einer Stadt herauszustellen sowie des Jahrhunderts.“ der Architektur der Infrastruktur und der Ge- staltung der Fahrzeuge allerhöchste Aufmerk- ALAIN CHENARD, ehemaliger Oberbürgermeister samkeit zu widmen, und zwar von Beginn der von Nantes, 2001 Planung an. Das für Grenoble entwickelte Fahr- zeug TFS 2 gilt als erstes Straßenbahnfahr- zeug, dessen Konstruktion von vorneherein – Zwischen dem ersten Zitat, vor negativen Ad- und nicht erst im Nachgang zur technischen jektiven nur so wimmelnd, und dem zweiten, Planung – von Designern maßgeblich beein- einem kaum steigerbaren Superlativ, liegen flusst war. rund 60 Jahre. In diesen 60 Jahren schaffte Frankreich zunächst die Straßenbahn als Ver- kehrsmittel de facto komplett ab, dem von 153 Nicht berücksichtigt sind hierbei aufgrund völlig Noppeney sehr deutlich aufgezeigten Zeitgeist abweichender verkehrspolitischer Rahmenbedingungen kompromisslos folgend. Damit unterblieb auch die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, in de- eine zu Deutschland und Benelux vergleichbare nen auch in der Nachkriegszeit neue Straßenbahnsysteme gebaut wurden; außerdem das niederländische Utrecht, Entwicklung der Erneuerung der Straßenbahn wo 1983 ein neues Stadtbahnsystem in Betrieb ging, wel- zu Stadtschnellbahnsystemen. Was aber dann ches aber weitgehend parallel zu einer Eisenbahnstrecke seit den siebziger Jahren in Frankreich im öf- verläuft und damit einen Sonderfall darstellt.

156 Schlussbetrachtungen

Abb. 160: Nantes, das erste neue Straßenbahnsystem West- und Mitteleuropas nach dem Zweiten Welt- krieg, welches oberirdisch mitten durch eine Stadt gebaut wurde

Abb. 161: TFS 2 von 1987 in Grenoble, das erste Designer-Straßenbahnfahrzeug der Welt auf dem ersten komplett niederflurgerecht ausgebauten Straßenbahnnetz der Welt; man beachte etwa hinsichtlich des Fahrzeugdesigns die sorgsame Verkleidung der technischen Ausrüstung im Dachbereich

157 Schlussbetrachtungen

Straßburg perfektionierte dann wenig später all Altstadtplatz und schaffte es damit, dieses diese Ansätze und schuf mit seiner 1994 eröff- Herz der Stadt auch noch aufzuwerten – Stra- neten Straßenbahn ein richtungsweisendes ßenbahn nicht als notwendiges Übel zur Ver- System, welches Vorbild für eine Vielzahl wei- kehrserschließung, sondern als aktives Element terer französischer Städte werden sollte. Die urbaner Kultur. Längst war der Grundsatz „von Eingriffe, die dort zugunsten des öffentlichen Fassade zu Fassade“ bei der Planung neuer Verkehrs und gleichzeitig zu Lasten des moto- Straßenbahnstrecken zum allgemeinen Leitbild risierten Individualverkehrs durchgeführt wur- geworden, und die Ergebnisse dieser ganzheit- den, muten aus der Sicht des deutschen Nah- lichen Planung lassen sich sehr genau erken- verkehrsplaners fast utopisch an: ersatzlose nen, nirgendwo wirkt die Straßenbahn als Sperrung von Hauptverkehrsstraßen mit vorher Fremdkörper. Der Anteil von optisch beste- fünfstelliger täglicher Kfz-Belastung, Führung chenden Streckenabschnitten mit Rasengleis der Straßenbahn durch enge Altstadtgassen wuchs von System zu System. Bordeaux ging und trotzdem jeden Meter vom MIV getrennt, in Sachen behutsamer urbaner Einführung der perfekte Einbindung der Infrastruktur in das Straßenbahn dann noch einen Schritt weiter städtische Umfeld; und das ganze führte zu ei- und verzichtete in der Innenstadt auf Oberlei- ner spürbaren Verbesserung der Lebensquali- tungen – obwohl schon die vorausgegangenen tät und daneben auch zu einem handfesten Systeme keinen einzigen Meter Strecke mit aus Wachstum von (einkaufenden) Passanten im Deutschland bekannter wuchtiger Hochket- Stadtzentrum. Zu Beginn politisch und gesell- tenfahrleitung überspannt hatten, sondern schaftlich äußerst polarisierend, führten Fahr- sämtlich auf sehr filigrane nachgespannte Ein- gasterfolg in Verbindung mit der offensichtli- fachfahrleitung zurückgegriffen hatten. Dabei chen Verbesserung urbaner Gestaltungskultur hielt Bordeaux auch am System der neu entwi- sowie Belebung des Stadtkerns dazu, dass die ckelten Stromzuführung per Unterleitung fest, Straßenbahn in Straßburg heute quer durch die obwohl dieses bald drei Jahre brauchte, um zu- Lokalpolitik unumstritten ist und massiv weiter friedenstellend zu funktionieren. Ergebnis: un- ausgebaut wird. Weitere Städte, die diesem längst haben sich weitere Städte zur Anwen- Beispiel folgten, gingen den integrierten Ansatz dung desselben Systems entschlossen. Man von Straßenbahn- und Städtebau konsequent stelle sich vor, wie allein die Anregung zur weiter und ließen sich immer neue Kniffe ein- Einführung einer derartigen Technologie auf fallen. So entwickelte etwa Orléans für die Au- einem deutschen Stadtbahnnetz vor wenigen ßengestaltung seiner neuen Straßenbahnzüge Jahren aufgefasst worden wäre – mit hoher einen individuellen Farbton, der sorgsam auf Wahrscheinlichkeit wäre sie als völlig absurd die Bebauung in der von der Straßenbahn bewertet worden. Und nicht zuletzt sind zwei durchfahrenen Altstadt abgestimmt wurde und weitere Aspekte zu betonen: Es wurden die Fi- ein beeindruckendes Erscheinungsbild der nanzierungsmöglichkeiten ersonnen und um- Symbiose von Straßenbahn und Stadt erzeugt. gesetzt, die dazu nötig waren, die neuen Sys- Marseille erhielt unlängst neue Straßenbahn- teme einzuführen, sie betreiben zu können, züge mit dem Erscheinungsbild von Schiffen, und die es gleichzeitig ermöglichten, den Bau eine Hommage an den maritimen Charakter von Straßenbahnstrecken und städtischen der Stadt und deren Rolle als größte Hafen- Gestaltungsmaßnahmen als integrale Gesamt- stadt Frankreichs. Lyon baute eine neue Stra- projekte zusammen durchzuführen – ohne sich ßenbahnstrecke über mehrere Kilometer ent- ständig für über die reine Verkehrsfunktion hi- lang einer mehrstreifigen, dicht bebauten und nausgehenden vermeintlichen städtebaulichen gleichzeitig völlig stadtunverträglichen wichti- „Schnickschnack“ rechtfertigen zu müssen, re- gen Ausfallstraße und funktionierte diese Aus- spektive derartige Bestrebungen gleich im An- fallstraße gleichzeitig ersatzlos zu einer zwei- satz zu unterbinden. Und außerdem zeigte es bahnigen Einbahnstraße für den Erschlie- sich, dass die Systeme auch ihrer ursächlichen ßungsverkehr um. Montpellier führte seine Funktion zur Steigerung des Fahrgastaufkom- neue Straßenbahn quer über die Place de la mens im ÖPNV und zur Eindämmung des Au- Comédie, einen städtebaulich höchst sensiblen toverkehrs gerecht wurden.

158 Schlussbetrachtungen

Abb. 162: Designstudie der neuen Straßenbahnzüge für Marseille

Abb. 163: Lyon, Beispiel eines mit dem Straßenbahnbau radikal verkehrsberuhigten Hauptstraßenzuges

159 Schlussbetrachtungen

Abb. 164: Bordeaux, erste Straßenbahn der Welt mit der unterirdischen Stromversorgung APS

Alle diese Ansätze sollten letztendlich dazu füh- lichkeit und Verkehrspolitik verschwunden war. ren, dass sich die Straßenbahn moderner Prä- Vielfach wird in diesen Ländern bei neuen gung von einer Ausgangsbasis nahe Null in nur Projekten explizit auf die Vorbildfunktion der zwanzig Jahren die unumstrittene Position des französischen Systeme hingewiesen. ÖPNV-Hauptlastträgers in nahezu allen franzö- Der wesentliche Unterschied, der im Vergleich sischen Agglomerationen von 200.000 bis zu deutschen Straßen- und Stadtbahnsystemen 1.000.000 Einwohnern erkämpfen konnte: Gab herausgestellt werden kann, ist vereinfacht zu- es 1984 noch drei Städte in ganz Frankreich sammengefasst folgender: Hierzulande führte mit rudimentären alten Straßenbahnnetzen die Weiterentwicklung der Straßenbahn alter ungewisser Zukunft, so sind es Ende 2006 ins- Prägung zur Stadtbahn zu einer fließenden gesamt 14 meist sehr dynamisch wachsende Optimierung, die sich aber vielfach auf tech- Systeme, dazu kommen drei Zwittersysteme nische und wirtschaftliche Aspekte beschränkte spurgeführter Busbahnen, zwei Straßenbahn- und damit vielerorts gleichzeitig zu einer systeme kurz vor der Vollendung und vier Entkopplung von Bahnsystemen und ihrem weitere beschlossene Systeme für Inbetrieb- städtischen Umfeld führte. Frankreich schaffte nahmen in ca. drei bis fünf Jahren. Ingesamt die Neueinführung von Straßenbahnen dage- lassen sich somit 23 Städte mit Straßenbahnen gen ganz wesentlich durch einen ganzheit- zusammenaddieren, zuzüglich weiterer, noch lichen Ansatz einer Planung über die reine Ver- nicht verabschiedeter Projekte. Daneben gibt kehrsfunktion hinaus. Die Folgen und Vorteile es inzwischen ähnliche Entwicklungen etwa in dieses Ansatzes sowie die Bedeutung für Spanien, Portugal und Italien, also in Ländern, hiesige Planungen werden in den beiden in denen das Verkehrsmittel Straßenbahn vor- folgenden Kapiteln abschließend zusammen- her wie in Frankreich fast vollständig oder getragen. weitgehend aus dem Bewusstsein der Öffent- 160 Schlussbetrachtungen

• Die Zusammenführung der Zuständigkeiten 4.2 Analyse-Ergebnisse für den Straßenbahnbau sowie angren- Die in Kap. 4.1 dargestellte Auswahl qualitati- zende stadträumliche Gestaltung ermög- ver Faktoren über die neu eingeführten Stra- licht die Schaffung von Straßenräumen, die ßenbahnsysteme erhebt keinen Anspruch auf als „aus einem Guss“ geplant erscheinen. Vollständigkeit, bietet aber einen prägnanten (vgl. Kap. 2.2.2) Überblick über den Erfolgsprozess der Renais- • Der Bau von Straßenbahnstrecken steht in sance der Straßenbahn in Frankreich. In Kap. 2 Frankreich in direktem Zusammenhang mit wurde dieser Erfolgsprozess ausführlich analy- der Eindämmung des Autoverkehrs in den siert. Die wesentlichen Erkenntnisse aus dieser Stadtzentren. Letzteres wird gesetzlich in Analyse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Form der Verpflichtung der Städte zur Auf- • Durch die neueingeführten Netze konnten stellung der Verkehrsentwicklungspläne die Fahrgastzahlen des jeweiligen ÖPNV- (PDU) auch verbindlich gefordert. Nur Gesamtsystems in allen Fällen maßgeblich durch diese klare Zielvorgabe war es mög- gesteigert werden, meist mit Steigerungs- lich, in derart großem Umfang Verkehrsflä- raten in Bereichen von 50% bis 100%. Die chen für den MIV reduzieren und damit Frequentierung des ÖPNV ist in den Stra- auch stadträumliche Neugestaltungsmaß- ßenbahnstädten in nahezu allen Fällen er- nahmen zusammen mit dem Bau der Stra- heblich höher als in vergleichbaren Städten ßenbahnen durchführen zu können. In mit reinem Busverkehr. (vgl. Kap. 2.6.1) Deutschland gibt es derartige gesetzliche Instrumente zur Eindämmung des Autover- • Durch die sorgfältige städtebauliche Einbin- kehrs in den Städten bislang nicht. (vgl. dung bis hin zum individuell auf die Örtlich- Kap. 1.1.6) keiten abgestimmten Fahrzeugdesign konnten Verkehrssysteme geschaffen wer- • Zwar waren die Baukosten neuer Strecken den, deren Image in der Bevölkerung hoch in allen Fällen, begründet durch den hohen ist und die als die Stadt positiv prägendes Gestaltungsanspruch, verglichen mit Stra- Element wahrgenommen werden. Dieser ßenbahnstrecken in Deutschland höher. Faktor erscheint in Hinsicht auf die politi- Andererseits lagen sie gerade durch den sche Durchsetzbarkeit neuer Bauvorhaben Gestaltungsanspruch und den nur damit als überaus entscheidend. (vgl. Kap. 2.2.2 möglichen oberirdischen Innenstadtdurch- und 2.2.3) querungen deutlich unter denen der Alter- native einer teilweise unterirdisch ver- • Durch die oberirdische Präsenz der kehrenden Stadtbahn. (vgl. Kap. 2.3) Straßenbahn in den Stadtzentren bei gleichzeitiger Anlage von Fußgängerzonen • Eine meist vollständige Separierung der konnte die Attraktivität der Innenstädte für Straßenbahn vom Autoverkehr ermöglicht den Einkaufsverkehr erheblich gesteigert störungsarme Betriebsweisen, hervorzuhe- werden. Dadurch stiegen das Passanten- ben ist dabei die „sanfte“ Separierung aufkommen und auch die Werte angren- durch die Anlage von eingepflasterten be- zender Immobilien. (vgl. Kap. 2.2.2) sonderen Bahnkörpern und der parallelen Verkehrsberuhigung des MIV. Häufig an- • Der Bau der Trassen wurde konsequent bis gewendet wird die Strategie der Anlage ins Detail hinein nach gestalterischen Ge- von Bahnkörpern in Seitenlage und sichtspunkten optimiert. Hervorzuheben daneben liegender Fahrbahn für den MIV sind dabei u.a. die ausschließliche Verwen- nur noch im Einrichtungsverkehr. (vgl. Kap. dung geschlossener Oberbauformen, oft 2.2.1) Rasengleis, sowie der Verzicht auf Hoch- kettenfahrleitung zugunsten nachge- • Direkt geführte Trassen für hohe Fahrge- spannter Einfachfahrleitung sowie in der schwindigkeiten in Zwischenbereichen auf jüngeren Vergangenheit oberleitungslose der einen Seite, aber kleinräumige Einfüh- Systeme. (vgl. Kap. 2.2.4) rungen der Straßenbahn direkt in Aufkom- mensschwerpunkte wie Fußgängerzonen

und Universitätsgelände auf der anderen

161 Schlussbetrachtungen

Seite, führen zu schnellen Reise- und kur- zen Zugangszeiten. (vgl. Kap. 2.2.1) • Kurze Taktfolgezeiten, tagsüber bis maxi- mal sechs bis acht Minuten, meist aber darunter, gelten für die Attraktivität des Angebotes als entscheidend. Die Herstel- lung eines adäquaten Taktangebotes ist wichtiger als die Maximierung der Zuglän- gen. Ebenso wird hinsichtlich der Zuglän- gen das Argument der Stadtverträglichkeit in engen Altstadtkernen (Stichwort „rol- lende Wand“) sensibel berücksichtigt. (vgl. Kap. 2.4) • Die Ausrichtung der Busverkehre auf die Straßenbahnnetze bei der Einführung von Zubringerverkehren und der Abbindung ehemals durchgehender Linien stellt ein wesentliches Erfolgskriterium der Straßen- bahnsysteme dar. Entscheidend dafür ist nicht zuletzt der Bau sorgfältig gestalteter Verknüpfungspunkte. Die Umschichtung der Verkehrsleistung erlaubte vielerorts die Verbesserung des Angebotes im Außenbe- reich (Busse nicht mehr in die Stadt, dafür aber häufiger). Durch den vermehrten Um- steigezwang konnten in keinem Falle Fahr- gastrückgänge im Gesamtnetz ausgemacht werden. Vielmehr führte in vielen Städten der Bau der Straßenbahnen auch zu Nach- fragezuwächsen auf zubringenden Busli- nien. (vgl. Kap. 2.4.5) • Durch die Nahverkehrsabgabe steht eine zweckgebundene Finanzquelle für den ÖPNV zur Verfügung, mit der angebotsori- entiert geplant werden kann und die von öffentlichen Haushaltsengpässen weitge- hend unabhängig ist. Die Finanzierung von Infrastruktur und Betrieb aus einer Hand führt zu einem förderlichen Abwägungspro- zess, wie die vorhandenen Finanzmittel mit dem besten Wirkungsgrad eingesetzt wer- den können. (vgl. Kap. 1.1.5) • Durch die Einführung neuer Straßenbahn- systeme konnte der Kostendeckungsgrad des ÖPNV gesteigert werden, wobei die ab- solute Kostenunterdeckung bei Mehrein- nahmen durch zusätzliche Fahrgäste auf der einen Seite und erhöhten Betriebsaus- gaben auf der anderen Seite jedoch eben- falls stieg. (vgl. Kap. 2.5)

162 Schlussbetrachtungen

• die bauliche Gestaltung von ÖPNV-Anlagen. 4.3 Auf Deutschland übertragbare Ansätze Die grundsätzlichen Aspekte in diesen Haupt- themengebieten werden in den Folgekapiteln 4.3.1 Vorbemerkungen zusammengestellt.

Die Analyse der Leitbilder der neuen französi- 4.3.2 Finanzierung schen Straßenbahnsysteme und die Heraus- stellung erfolgreicher Planungsansätze wirft die Ein zentraler Unterschied in der Organisation Frage auf, in welcher Form es zweckmäßig ist, des Nahverkehrs in Frankreich und Deutsch- einige dieser Ansätze in der deutschen Stra- land ist die Finanzierung. Die in Kap. 1.1.5 er- ßenbahn-Planungspraxis neu oder verstärkt zu läuterten Modalitäten sind auf S. 165 zur Ver- beachten. anschaulichung vereinfacht grafisch dargestellt (vgl. Abb. 165, Abb. 166). Wie in Kap. 3 beschrieben, ist die Entwicklung der deutschen Stadtbahnen nach dem Zweiten Die Schwächen des deutschen Modells sind Weltkrieg unter völlig abweichenden Prämissen hinlänglich bekannt: Es funktionierte so lange verlaufen als die Neueinführung der französi- gut, wie die Zuschusstöpfe von Bund und Län- schen Straßenbahnen rund zwanzig Jahre dern gut gefüllt waren und den Kommunen später. Gleichzeitig schafften es die deutschen Ausgleichszahlungen über den Querverbund Ballungsräume aber nicht, ihre Schienennetze mit profitablen öffentlichen Geschäftszweigen in derartigem Maße „stadtbahngerecht“ auszu- wie insbesondere der Stromversorgung mög- bauen, wie sie es zu Beginn ihrer Planungen lich waren. Inzwischen ist der Querverbund mit eigentlich anstrebten. Dadurch kam es zu der der Liberalisierung des Energiemarktes aber ebenfalls in Kap. 3 analysierten vielfachen Ab- weitgehend weggefallen. Für die Begleichung kehr von Konzepten der sechziger Jahre hin zu von nicht durch Fahrgeldeinnahmen abge- oberirdischen Lösungen, ohne dass jedoch deckte Betriebskosten besitzen die Aufgaben- gleichzeitig auch eine Neubewertung von Pla- träger aber auf der anderen Seite keine spe- nungszielen wie „weitreichende Separierung ziellen Mittel, sondern können nur auf den all- von Bahnsystemen“ oder „Maximierung der gemeinen Kommunalhaushalt zurückgreifen. Leistungsfähigkeit“ erfolgte. Nicht zuletzt unter Besteht in diesem kein Spielraum, so muss im diesem Aspekt erscheinen die französischen Angebot gekürzt werden. Eine langfristige Erkenntnisse in vielerlei Hinsicht als sehr ge- ÖPNV-Angebotsplanung ist somit nicht mehr eignet, die deutschen Leitgedanken und Richt- möglich. linien für die Planung und den Betrieb von Die französische Vorgehensweise, Aufgaben- Straßen- und Stadtbahnnetzen sinnvoll zu er- träger per kommunal zu erhebender Nahver- gänzen oder weiterzuentwickeln. kehrsabgabe mit einer Finanzgrundlage auszu- Gleichzeitig dürfte klar sein, dass in Deutsch- statten, hat in Frankreich zu folgenden Vortei- land bei derzeit rund sechzig kommunalen Ver- len geführt: kehrsbetrieben mit Straßen- oder Stadtbahn- • Die Aufgabenträger können selber ent- netzen die komplette Neueinführung von Stra- scheiden, in welchem Maße sie Finanzmittel ßenbahnnetzen in Zukunft den absoluten Aus- auf Investitionen in die Infrastruktur und nahmefall darstellen wird. Erweiterungen und auf laufende Kosten der Angebotsausge- Bestandssanierung bei bestehenden Betrieben staltung aufteilen möchten. sind aber nach wie vor in großem Umfang zu erwarten. Die Zusammenstellung übertragba- • Investitionen wie z.B. in die Fahrzeugbe- rer Handlungsempfehlungen muss sich daher schaffung werden nicht dadurch beein- vorwiegend an der Weiterentwicklung beste- flusst, wann und nach welchen Maßgaben hender Systeme orientieren. Hierbei lassen gefördert wird, sondern dadurch, wann sie sich drei Hauptthemengebiete abgrenzen: für notwendig bzw. unter ökonomischen Gesichtspunkten für gerechtfertigt erachtet • die zukünftige Finanzierung von Baumaß- werden. nahmen und Betriebskosten im ÖPNV, • Oberste Zielsetzung des Gesamtsystems • die Hierarchisierung von ÖPNV-Netzen, Nahverkehr ist die Schaffung eines best-

163 Schlussbetrachtungen

möglichen Angebotes mit feststehenden fi- zeiten werden hier meist kürzere Züge gefah- nanziellen Mitteln und nicht die rationellste ren. Eine solche angebotsorientierte Fahrplan- Abwicklung des Angebotes.154 gestaltung lässt sich direkt aus der Betriebs- kostenfinanzierung durch die Nahverkehrsab- • Es stehen planbare Finanzmittel zur Schaf- gabe ableiten: Auf der einen Seite ersparte fung einer positiven Außendarstellung und man sich höhere Baukosten durch den Verzicht einer Corporate Identity zur Verfügung. auf unterirdische Innenstadtdurchquerungen, • Langfristige Infrastrukturprojekte können nahm damit aber auch die Unvereinbarkeit von durch die langfristige Finanzierungsplanung oberirdischen Innenstadtstrecken mit Stadt- abgesichert und abgeschrieben werden. bahn-Langzügen in Kauf.155 Die höheren Be- • Ein Anreiz zur Umsetzung baulicher Groß- triebskosten werden also durch geringere Inf- projekte besteht nur dann, wenn entweder rastrukturkosten kompensiert. Für die Fahr- die Betriebsführung durch die Maßnahme gäste ist das Angebot mit dichteren Fahrplan- ganz deutlich verbessert werden kann oder takten sicherlich als attraktiver zu werten. Es aber eine deutlich höhere Attraktivität für zeigt sich also deutlich der Einfluss der Finan- die Fahrgäste erwartet werden kann. Dies zierungsart des Nahverkehrs auf den Ange- steht im wesentlichen Unterschied zu botsstandard. Deutschland, wo die Förderpraxis es bisher Da inzwischen in Deutschland die Diskussion nahe legte, so viel zu bauen, wie gefördert über die zukünftige Finanzierung des ÖPNV wird – was im schlimmsten Falle später zu sowie das Wechselspiel zwischen Aufgabenträ- erheblichen Folgekosten sorgen kann. gern und Verkehrsbetrieben sehr intensiv dis- • Angebotskonzepte können in Hinblick auf kutiert wird, erscheint es nicht als sinnvoll, die- einen zur Verfügung stehenden Finanzrah- ses Thema an dieser Stelle weiter zu vertiefen. men geplant und danach umgesetzt wer- Die hier genannten Argumentationen sind be- den. reits Bestandteile der laufenden fachlichen Dis- kussion. Aus der französischen Erfahrung kann • Eine hierzulande oft gehörte Forderung ist hierbei die Vorgehensweise, weniger auf eine es, Fördermittel für je nach politischer reine Baukosten- denn auf eine allgemeine ört- Couleur nicht als sinnvoll betrachtete lich auszugestaltende Nahverkehrsfinanzierung Projekte lieber in andere Projekte zu inves- zu setzen, als sehr zielführender Ansatz zur tieren. Diese Argumentation missachtet die Schaffung eines attraktiven und bezahlbaren Tatsache, dass dann zugesagte Fördermit- ÖPNV gewertet werden. tel i.A. nicht oder nicht mehr in gleicher Höhe zur Verfügung stehen würden. Dieser Widerspruch kann durch eine Projektfinan- zierung per Nahverkehrsabgabe leicht um- gangen werden. Ein indirekter Vorteil der Betriebskostenfinan- zierung liegt daneben in der möglichen Um- schichtung von ursprünglich für Infrastruktur- förderung vorgesehene Mittel in bessere An- 155 gebote. Dies wird in Frankreich rege prakti- Am Beispiel Straßburg sei dies verdeutlicht: Hätte man die Linie A im Innenstadtbereich über ca. 1,5 km in Tun- ziert: Zugunsten attraktiver kurzer Taktfolge- nellage gebaut, wäre für den Trassenbau mit Mehrkosten von rund 75 Millionen € zu rechnen. Gleichzeitig hätte

dies den Einsatz von 60 bis 75 m langen Zügen im hal- 154 Dies ist insofern von großer Bedeutung, da die bierten Takt, also alle 4/8 Minuten entgegen alle 2/4 Mi- französische Erfahrung ganz deutlich zeigt, dass mit stei- nuten jetzt, ermöglicht. Dadurch wiederum wäre die An- gendem Fahrgastzuspruch zwar das Defizit pro Fahrgast zahl der notwendigen Kurse durch die größeren Gefäß- sinkt, die absolute Betriebskostenunterdeckung jedoch größen um die Hälfte zurückgegangen. Bei Betriebskos- steigt. Die Forderung nach weitmöglichster Rationalisie- ten von rund 350.000 € pro Jahr für einen Straßenbahn- rung führt daher im Umkehrschluss oftmals zu Angebots- zug ergäben sich jährliche Betriebskostenersparnisse in kürzungen, die Fahrgastrückgänge bewirken und damit Millionenhöhe. Bei einer Infrastrukturförderung hätte sich das Defizit pro Fahrgast ansteigen lassen, d.h. weniger der Tunnel damit (rein theoretisch) schon nach wenigen ÖPNV und noch weniger volkswirtschaftlicher Nutzen. Jahren amortisiert.

164 Schlussbetrachtungen

Fahrzeugbeschaffung Zuschüsse Investitionen (Infrastruktur) Betriebskosten

Land Bund Verkehrsunternehmen

Betriebseinnahmen Aufgaben- Ausgleichszahlung träger

Abb. 165: Finanzierung des ÖPNV in Deutschland

Aufgaben- Fahrzeugbeschaffung träger Investitionen (Infrastruktur)

Nahverkehrs- Zuschüsse abgabe

Ausgleichszahlung Land

Verkehrsunternehmen

Betriebseinnahmen Betriebskosten

Abb. 166: Finanzierung des ÖPNV in Frankreich

165 Schlussbetrachtungen

die konsequente Abbindung ehemals durchge- 4.3.3 Hierarchisierung hender Buslinien an großen Verknüpfungs- Ein wesentlicher Erfolgsfaktor neuer französi- punkten. Die Entwicklung von hervorgehobe- scher Straßenbahnnetze ist das Konzept der nen Netzknoten greift direkt in die Grundstra- „Axes Lourdes“, der starken Verkehrsachsen tegie ein. Bezeichnenderweise hat das einzige des öffentlichen Nahverkehrs. Dies gilt im üb- neue französische System, welches aufgrund rigen nicht nur für die Straßenbahnsysteme, nicht erreichter Fahrgastprognosen in der Kritik sondern auch für die ausgebauten Bus- bzw. steht – jenes von Orléans – dieses Konzept Busbahnsysteme. Die Trassenfindung solcher auch am wenigsten durchdacht umgesetzt. Achsen erfolgt oft losgelöst von vorhergehen- Wesentlich bei einer Diskussion über gebro- den Busnetzen unter folgenden Gesichtspunk- chene Verkehre, die hierzulande in einigen ten: Städten im großen Stil (z.B. Köln, Hannover), • möglichst flächendeckende Andienung der anderswo aber unter Inkaufnahme unökono- Aufkommensschwerpunkte, mischer Parallelverkehre nur sehr einge- • direkte Streckenführung in Verbindungs- schränkt (z.B. Bonn, Bochum) betrieben wird, bereichen, ist die französische Erfahrung, dass durch zu- sätzliche Umsteigezwänge nach Einführung • günstige Positionierung von ÖPNV-Umstei- neuer Straßenbahnstrecken in keinem Falle gepunkten sowie Verknüpfungen mit dem Fahrgastrückgänge im Gesamtnetz ausge- Eisenbahnverkehr. macht werden konnten. Vielmehr kam es auch Ein großer Vorteil bei der Neuplanung einer im Busbereich zu Zuwächsen. Entscheidend Straßenbahninfrastruktur ist dabei nicht zuletzt dafür erscheinen mehrere Randbedingungen: die Möglichkeit, optimierte Verkehrsverbindun- • besondere architektonische und funktionale gen losgelöst von bestehenden Strukturen zu Gestaltung der Verknüpfungspunkte, schaffen. Überaus wichtig erscheint bei der Konzeption von Netzerweiterungen daher ein • Verdichtung des Taktangebotes der Zubrin- Denken in Räumen und nicht in Strecken. gerlinien, In Frankreich wurde hierbei durch die Kombi- • Imagegewinn des ÖPNV durch die Entlas- nation der Verwendung stadtbahnmäßiger tung der Innenstädte von vergleichsweise Trassierungsparameter in den Verbindungs- störenderen Busverkehren, bereichen und straßenbahnmäßiger Erschlie- • Konzentration der Umsteigevorgänge auf ßung der Aufkommensschwerpunkte eine in wenige, dafür große Knoten. Hinblick auf das Fahrgastaufkommen und die Netzwirkung meist sehr positive Abwägung zwischen den Randbedingungen Reisege- schwindigkeit und Erschließungsgrad gefun- den. Dabei ist die Inkaufnahme von Umwegen zur Erschließung bei der Trassenfindung sehr sorgfältig abzuwägen, da die Lage der Zu- gangsstellen besonders in den Hauptzielge- bieten in erheblichem Maße mitverantwortlich für die Attraktivität und damit letztendlich auch für die Nutzung ist. Die Bevorzugung techni- scher Leitlinien bzw. geradliniger Trassierun- gen in Hinblick auf die Positionierung der Zu- gangsstellen führen dagegen oft zu ungünsti- gen Lösungen mit dauerhaften Nutzungsein- Abb. 167: Verknüpfungspunkt Saint-Waast in Va- bußen. lenciennes mit eigenem Flair dank Arkaden, einer Reminiszenz an ein einst an dieser Stelle vorhan- Kennzeichnend für das Konzept der Axes denes Bahnhofsgebäude Lourdes ist aber insbesondere auch ein sehr dichter Fahrplantakt auf den Hauptachsen und

166 Schlussbetrachtungen

Abb. 168: Verknüpfungspunkt Hoenheim Gare in Straßburg, entworfen von der Stararchitektin Zaha Hadid

Insbesondere auch die Konzentration auf mög- vorortverkehrs nur in Ansätzen berücksichtigt. lichst wenige Knoten ist von hoher Relevanz. Dagegen sind integrierte Busverknüpfungsan- Auch wenn durch die Zusammenführung mög- lagen mit Park+Ride-Plätzen häufig anzutreffen lichst vieler Buslinien an wenige Verknüp- (vgl. Abb. 169), oft kombiniert mit großen Ein- fungspunkte eventuell gewisse Parallelverkehre kaufszentren. Ziel ist dabei die Anordnung sol- entstehen, ergeben sich dadurch maßgebliche cher Stationen an Stellen, die aus dem Stra- Vorteile: ßennetz heraus gut anfahrbar sind. Optimaler- weise gibt es eine direkte Anbindung an über- • größeres Angebot für Umsteiger, die im geordnete Schnellstraßen, was sowohl dem Einzugsbereich mehrerer Buslinien liegen, Zubringerbusverkehr aus weiter entfernt gele- • Möglichkeit der Herstellung von Anschlüs- genen Gebieten als auch dem MIV zu Gute sen zwischen Buslinien , kommt. Wenn möglich sollten die Knoten dar- • Bündelung von Umsteigevorgängen und über hinaus eigene Bedeutung für den Zielver- damit Rechtfertigung einer baulich aufwän- kehr besitzen und eben auch aufgrund dieser digen Ausgestaltung des Verknüpfungs- Bedeutung besonders gestaltet werden kön- punktes, nen. • Vermeidung von Doppelumsteigern. Sehr vorteilhaft erscheint die z.B. in Straßburg anzutreffende Strategie, Zubringerbuslinien Idealerweise sind diese Verknüpfungspunkte nicht an den Verknüpfungspunkten enden zu mit Bahnhöfen des Schienenpersonennahver- lassen, sondern in tangentialer Führung um kehrs oder Park+Ride-Anlagen kombiniert. den Stadtkern herum zu weiteren Verknüp- Ersteres wurde in Frankreich aufgrund der fungspunkten weiterzuleiten, um ab dort dann untergeordneten Bedeutung des Eisenbahn- wieder Zubringeraufgaben zu übernehmen. Auf

167 Schlussbetrachtungen diese Weise werden auch häufig recht stark streben, die Planung der Hierarchisierung der nachgefragte Querverbindungen am Innen- ÖPNV-Netze stärker in den Nahverkehrsplänen stadtrand aufgewertet. (vgl. Abb. 169). festzuschreiben. Dabei ist der Gedanke der Hauptachsen und der Knotenbildung verstärkt Da Umsteigevorgänge für die Fahrgäste mit in den Vordergrund zu rücken. Praktikabel subjektiven und objektiven Hemmnissen ver- wäre eine Einbeziehung der Weiterentwicklung bunden sind, ist der Ausgestaltung von Ver- der Vernetzung mit dem SPNV und der knüpfungspunkten große Aufmerksamkeit zu Anordnung von Park+Ride-Anlagen. Bisher widmen. Dies betrifft zwei grundlegende The- machen die Nahverkehrspläne bezüglich der matiken: Weiterentwicklung von Netzknoten oft keine • bauliche Ausführung eines Verknüpfungs- oder nur allgemeine Feststellungen. Insbeson- punktes in Hinsicht auf die Organisation dere wird meist nicht festgelegt, welche der Umsteigewege und die architektonische Zubringerlinien mit welchem Qualitätsstandard Gestaltung: kurze, niveaugleiche und in an welchen Stellen mit Primärverkehrsmitteln den Hauptlastrichtungen bahnsteiggleich verknüpft werden sollen. Auch fehlen im Allge- Umsteigewege, kompletter Witterungs- meinen strategische Untersuchungen und Fest- schutz, legungen, wie die Liniennetzorganisation in • betriebliche bzw. fahrplanmäßige Koordina- Hinblick auf die Anordnung der Knotenstatio- tion zu verknüpfender Verkehre. nen weiterentwickelt werden soll. Dies führt dann bei der Umsetzung von Ausbauprojekten Die Hierarchisierung der ÖPNV-Netze in Frank- häufig dazu, dass die Linienführung von Zu- reich hat sich mit Blick auf die Nachfrage sowie bringerbuslinien und die Anordnung von Ver- die Kostenstrukturen unzweifelhaft bewährt. knüpfungsstationen erst in nachgeordneten Inzwischen ist die Schaffung von großen Planungsschritten betrieben werden und in ne- Knotenpunkten sowie die Angebotsgestaltung gativen Fällen vorher gut organisierte Um- aufbauend auf das Grundgerüst der Hauptach- steigebeziehungen verschlechtert wurden.156 sen in den meisten Ballungsräumen sogar in den recht unkonkret gehaltenen Verkehrsent- Verfolgenswert erscheint der Ansatz, diesen wicklungsplänen fest fixiert. Hauptachsen und Gedanken im Kontext mit den derzeit hierzu- Knotenpunkte liegen also im Planungs- und lande startenden Überlegungen zu Linienbün- Diskussionsprozess eindeutig vorgelagert zu delungskonzepten zu sehen. Der Grundge- detaillierten Linienweg- und Fahrplanange- danke der Linienbündelung, die Aufteilung der botsplanungen. Dadurch lassen sich in Folge- Nahverkehrsnetze in betrieblich sinnvolle Teil- planungen Anschlüsse zwischen den Linien netze insbesondere unter dem Aspekt, in zu- besser optimieren, da Anschlusspunkte grund- künftigen Ausschreibungen diese Teilnetze ge- sätzlich vorgegeben werden. Gleichzeitig ist trennt vergeben zu können, kann mit dem As- von vorneherein klar, dass auf den Hauptach- pekt der Zuordnung von Linien auf Netzknoten sen stets eine adäquate ÖPNV-Versorgung bzw. der Weiterentwicklung solcher Knoten unter Angebotsgesichtspunkten aufrechtzuer- verbunden werden. halten ist, wohingegen das Ergänzungsnetz durchaus mehr in Richtung nachfrageorien- tierter Ansätze geplant werden kann. Damit wird erreicht, dass ein durchgehend attraktives Grundangebot auf den wichtigen Verkehrsrela- tionen besser gewährleistet ist und das Ange- bot in der NVZ und SVZ nicht „verwässert“, 156 dass also „überall ein bisschen ÖPNV“ ange- Ein Beispiel hierzu ist die Stadtbahnstreckenverlänge- rung Mengenich in Köln. Hier baute man zuerst an der boten wird. Altstrecke einen gut durchdachten Verknüpfungspunkt In Deutschland wird ein solches Vorgehen mit bahnsteiggleichem Umstieg, verlängerte dann einige Jahre später die Stadtbahnstrecke und zog gleichzeitig vielfach besonders auf Seiten der Entschei- einige Buslinien von der Verknüpfungsstation zwecks dungsträger aufgrund der Betrachtung einzel- Vermeidung von Parallelverkehr ab. Dadurch verkehren ner Linien für sich alleine erschwert. Zur Er- heute Zubringerbuslinien in die selbe Zielrichtung von zielung eines ähnlichen Effektes wäre anzu- unterschiedlichen Verknüpfungspunkten. 168 Schlussbetrachtungen

P+R Straßenbahn 750 3 Eisenbahn Bus (Auswahl) P+R Busverknüpfung 250 3 mit Anzahl der Buslinien 3

Park+Ride-Platz P+R mit Anzahl der Parkplätze 570 Bahnhof P+R 570

P+R 3 450 3

P+R 3 300 Altstadt

Kernrandbereich

P+R 5 430 5

P+R 800

P+R 530 6

3

Abb. 169: Schematische Darstellung der Liniennetzorganisation in Straßburg

169 Schlussbetrachtungen

auch in Deutschland grundsätzlich nicht anders 4.3.4 Gestaltung zu bewerten.157 Das wesentlichste Kennzeichen der neuen Eine gelungene städtebauliche Einbindung ei- Straßenbahnsysteme Frankreichs ist die sorg- ner Straßenbahntrasse kann nicht als nach- fältige städtebaulicher Einbindung der Be- laufendes Planungsteilgebiet betrieben werden, triebsanlagen. Die Leitlinien bei der Gestaltung sondern setzt eine Betrachtung von Anbeginn neuer Straßenbahnstrecken in Frankreich wur- der Konzeption neuer Straßenbahnanlagen den in Kap. 2.2 ausführlich beschrieben und voraus. Entscheidend für den ganzheitlichen anhand zahlreicher Beispielen dargestellt. Die Erfolg sowohl unter verkehrstechnischen als wichtigsten Planungsgrundsätze seien an die- auch unter städtebaulichen Gesichtspunkten ist ser Stelle zusammengestellt: eine Planungskultur, die auf direkte Integration • im bebauten Bereich grundsätzlich Ver- aller Bestandteile setzt. „Step-by-Step”-Pla- wendung geschlossener Oberbauformen nungen sind zu vermeiden. Dies kann durch (Rasengleis oder eingepflasterter Bahnkör- zwei in Frankreich zur Anwendung kommende per), Strategien unterstützt werden, welche je nach • im bebauten Bereich grundsätzlich Ver- Ausgestaltung der zukünftigen administrativen wendung nachgespannter Einfachfahrlei- und finanziellen Rahmenbedingungen des tung, Nahverkehrs in Deutschland mittelfristig auch hierzulande denkbar sind: • Entwicklung eines globalen Designs bei der Farb- und Materialwahl, welches so- • Abgabe der Zuständigkeiten für die Pla- wohl bei der Haltestellenausrüstung als nung und den Bau der Infrastruktur kom- auch bei den Betriebsanlagen (z.B. Ober- plett auf die kommunale Seite bzw. öffent- leitungsmasten) sowie bei der sonstigen liche Aufgabenträger anstelle der Ver- Straßenraumgestaltung (Straßenmobiliar, kehrsunternehmen, um eine bessere Ko- Laternen etc.) Anwendung findet, ordination von Planungen im öffentlichen Raum erreichen zu können (Nahverkehrs- • Entwicklung einer Corporate Identity für infrastruktur, Straßenbeleuchtung, Stra- die Fahrgastinformation, ßengestaltung), • phantasievoller Umgang mit der Corporate • Umstrukturierung der Finanzierung mit hö- Identity und dem Design, etwa in Form herer Eigenverantwortlichkeit der Kommu- abweichender Details bei verschiedenen nen bzw. Aufgabenträger, um städtische Linien unter Wahrung eines gestalteri- Projekte gekoppelt „aus einem Topf“ um- schen Zusammenhangs, setzen zu können (vgl. Kap. 4.3.2). • komplette Abweichung vom globalen Design nur in Sonderfällen, z.B. in Anlagen mit sehr hoher Frequentierung, dann Ent- wicklung architektonisch geplanter reprä- sentativer Sonderlösungen, besondere Maßnahmen hierbei vor allem bei der Gestaltung von Verknüpfungspunkten. Grundsätzlich ist zu betonen, dass der gestal- terische Anspruch beim Bau einer Straßen- 157 bahntrasse nicht zu Lasten der Betriebsführung Muss aus diesem Grunde die Zuglänge beschränkt werden, ist allerdings in der Tat ein Kapazitätsverlust hin- und der Leistungsfähigkeit gehen muss. Die in zunehmen. Die maximale Kapazität von Straßenbahn- Frankreichs neuen Systemen meist hingenom- stammachsen kann mit etwa 7.200 Personen pro Stunde mene Beschränkung der Zuglängen folgt in der und Richtung bei innenstadtverträglichen 40-m-Zügen Regel aus den Durchquerungen innerstädti- angegeben werden (vgl. Kap. 2.4.6). Damit ist die Stra- scher Fußgängerzonen. Diese Rahmenbedin- ßenbahn französischer Prägung für mittelgroße Stadt- räume (ca. 500.000 Einwohner) ein ideales Verkehrsmit- gung ist von der Gestaltung unabhängig und tel. In Metropolräumen erscheint ihre Kapazität für die Eignung als primärerer Verkehrsträger des ÖPNV dage- gen als nicht ausreichend.

170 Schlussbetrachtungen

Abb. 170: Schaffung von Individualität, Beispiel Mülhausen – die Haltestellen der dortigen Linie 2 werden von charakteristischen Portalen überspannt, die gleichzeitig als Oberleitungsmast fungieren

Abb. 171: Schaffung von Individualität, Beispiel Valenciennes – die Haltestellen sind standardisiert aus- geführt, das Schema wurde aber speziell für Valenciennes entworfen und umfasst z.B. ein stilisiertes „V“

171 Schlussbetrachtungen

Weiterhin sind die Gestaltungsmaximen durch- Hochkettenfahrleitungen und Schottergleiskör- gängig auf den gesamten durchfahrenden per. Es liegt an den Befürwortern städtischer Straßenzug anzuwenden. Unschöne Brüche Bahnsysteme und der Fachwelt, das Augemerk sind zu vermeiden, da sie schnell einen positi- auf städtebaulich verträgliche Straßenbahnlö- ven Eindruck vollständig zerstören können. sungen zu lenken und diese zu kommunizieren. Beispiel dafür ist die Forderung, Bahnkörper Um die Qualität der Gestaltung von Anlagen mit Rasengleis auch über kurze Abschnitte mit des kommunalen Schienenverkehrs in abweichender Streckencharakteristik, z.B. Lage Deutschland in Hinblick auf die Erfahrungen auf einer Brücke oder Anordnung einer Wei- aus Frankreich zu verbessern, erscheinen zwei chenverbindung, durchzuziehen. Auch ist ins- Ansätze als zielführend: besondere auf eine stetige Gestaltung des ge- samten Straßenraumes in Längsrichtung zu • Festlegung definierter Qualitätsstan- achten. Dies führt im Regelfall zur Notwendig- dards zur Erzielung einer Corporate keit, bei Einführung oder Ausbau einer Schie- Identity, nentrasse den gesamten Straßenraum neu zu • stärkere Berücksichtigung des Gestal- gestalten. tungsaspektes beim Bau neuer bzw. bei Die französischen Ansätze und Erfahrungen in der Sanierung bestehender Strecken. der Gestaltung von Straßenbahnanlagen sind Die Festlegung definierter Qualitätsstandards inzwischen weltweit in verschiedener Ausprä- zur Erzielung eines Corporate Designs betrifft gung aufgegriffen und kopiert worden. Nach insbesondere die Gestaltung von Haltestellen, allgemeiner Einschätzung von Fachwelt und Fahrzeugen und Informationsmedien. Hierbei Beobachtern wäre die Wiedereinführung von zeigt sich, dass es in Deutschland in den letz- Straßenbahnsystemen in diesem Maße ohne ten Jahren bereits eine weitreichende Ent- das Element „Städtebau“ unmöglich gewesen wicklung zu abgestimmten Standards gegeben (vgl. Kap. 1.3.3). Bei der Frage, welche As- hat. Nach wie vor sind aber zwischen pekte französischer Straßenbahnplanungen in Deutschland und Frankreich deutliche Unter- den hiesigen Stand der Technik einfließen kön- schiede auszumachen. So liegt das Schwerge- nen, steht die städtebauliche Gestaltung si- wicht bei der Formulierung von Standards in cherlich an erster Stelle. Deutschland nach wie vor fast ausschließlich Eine offensive Vertretung gestalterischer auf funktionalen Aspekten. Spezifische Gestal- Randbedingungen ist auch deshalb besonders tungs- und Designvorgaben zur Schaffung ei- wichtig, da Gegner von Straßenbahnbau- ner örtlichen Identifikation werden nur selten maßnahmen meist Assoziationen zur Eisen- gemacht. Positive Entwicklungen sind hier am bahn wecken, um damit gegen die Stadtver- ehesten bei kleinräumigen neuen Systemen träglichkeit von Straßenbahnstrecken zu argu- wie etwa Stadtbusnetzen in Mittelstädten zu mentieren.158 Stichworte sind dabei wuchtige erkennen. Vielfach wird der Begriff der Corpo- rate Identity aber nur bezogen auf die Dar- stellung eines (eventuell sogar in mehreren 158 So brachte in Luxemburg eine Bürgerinitiative ein Verkehrsräumen agierenden) Verkehrsunter- Regionalstadtbahnprojekt durch die Innenstadt mit dem nehmens ohne Bezug auf die zugehörige Motto „Keen Zuch duerch d’Stad“ (Kein Zug durch die Stadtregion gesehen. Ziel sollte es sein, Rah- Stadt) zu Fall. In einer nördlichen Umlandgemeinde von Saarbrücken läuft seit Jahren eine kontroverse Diskussion menbedingungen zu Qualitäts- und Gestal- wegen des geplanten Baus einer Stadtbahnstrecke über tungsstandards bei Haltestellen, Fahrzeugen eine örtliche Hauptverkehrsstraße. Dazu gibt es folgendes und Fahrgastinformation – soweit noch nicht Zitat: "Hier scheint man zu glauben, man kriegt eine geschehen – so konkret wie möglich in die Mischung aus Eisenbahn und Rakete." Ein Straßen- Nahverkehrspläne mit aufzunehmen. bahnprojekt in Bochum wird seit Jahren von Gegnern mit Slogans wie „Teilung des Wohngebietes durch einen Schwieriger erscheint die stärkere Berücksich- Bahndamm“ bekämpft. Gemeint ist ein straßenbündiger tigung des Gestaltungsaspektes beim Bau Gleiskörper in Mittellage auf einer Hauptstraße. Vgl. dazu GRONECK, Christoph: Ein Viertel soll’s schon sein – neuer bzw. bei der Sanierung bestehender Luxemburg baut ein Train-Tram-System, in: Straßenbahn Strecken. Hier fehlt bisher im Planungsprozess Magazin 3/04; Saarbrücker Zeitung vom 14./15.12.1996; ein Schritt, der sich diesem Aspekt widmet. Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 31.01.2002 Gleichzeitig ist das deutsche Regelwerk für 172 Schlussbetrachtungen

Abb. 172: Straßenbahnstrecke in Valenciennes mitten durch den Campusbereich; wie hier vor der Mensa gibt es an mehreren Stellen breite Querungsplätze für Fußgänger über den sonst durchgehend mit Rasengleis versehenen besonderen Bahnkörpern. Adäquate Fahrgeschwindigkeit der Straßenbahn und Belange der Fußgänger schließen sich nicht gegenseitig aus, hervorgehobene Pflasterung der Gleiszone und gute Einsehbarkeit lassen auch keine Sicherheitsbedenken aufkommen. Ein schneller und leistungsfähiger Straßen- bzw. Stadtbahnbetrieb muss nicht bedeuten, diesen möglichst intensiv von seiner unmittelbaren Umgebung zu isolieren!

Straßenbahnen in seiner heutigen Form nach In Kap. 3.2 wurde das deutsche Richtlinien- wie vor stark von den Stadtbahnplanungen der werk zum Bau städtischer Schienenstrecken sechziger, siebziger und achtziger Jahre ge- diesbezüglich ausführlich auf Gestaltungsas- prägt und damit auf Schnellbahnen ausgerich- pekte hin analysiert. Die wesentlichen Erkennt- tet. Dabei wurden Anforderungen oberirdischer nisse aus dieser Analyse lassen sich folgender- Straßenbahnen insbesondere in engen Stra- maßen zusammenstellen: ßenräumen jahrelang ausgeblendet. • Das Ansinnen, Straßenbahnen vom MIV Zwar hat sich die Straßenbahn als vollwertiges durch die Anlage besonderer Bahnkörper ÖPNV-Verkehrsmittel in Deutschland inzwi- räumlich zu trennen, ist natürlich ein we- schen wieder etabliert, doch sind die Anforde- sentlicher Erfolgsfaktor für einen attrakti- rungen moderner Straßenbahnplanung in den ven und störungsarmen Straßenbahnbe- Regelwerken noch nicht adäquat berücksich- trieb. Hinsichtlich der deutschen Rechts- tigt. Dies betrifft insbesondere auch Fragen zur lage erscheint es aber zumindest als frag- stadtverträglichen Einbindung von Schienen- würdig, diese räumliche Trennung per De- trassen. Vielfach fehlen auch einfach Vorga- finition auch gleichzeitig auf Straßenbahn- ben, die Planern Aspekte moderner Straßen- verkehr und Fußgänger anzuwenden. Die bahnplanung „an die Hand geben“ könnten Festlegung der BOStrab, dass Fußgänger besondere Bahnkörper nur an Bahnüber-

173 Schlussbetrachtungen

gängen queren dürfen, verschärft die Straßenzuges erheblich eingeschränkt wer- Trennwirkung einer Schienentrasse und den. (vgl. Kap. 3.2.4) verhindert besonders in Haltestellenberei- • Sinngemäß dasselbe wie für die Oberlei- chen praktikable linienförmige Querungs- tungsanlagen gilt für die Ausgestaltung möglichkeiten. Zudem suggeriert die Er- des Oberbaus. Schottergleis in geschlos- fordernis von Bahnübergängen gleichzeitig sen bebauten Straßenräumen erscheint als das Planungsziel, besondere Bahnkörper nicht hinnehmbar. (vgl. Kap. 3.2.4) auch in sensiblen Räumen oder engen Straßenzügen möglichst mit ortsfesten • Bei der Ermittlung des volkswirtschaftli- Hindernissen zu begrenzen, um „illegale“ chen Nutzens einer städtischen Bahntrasse Querungen auszuschließen. Dies ist nicht werden stadtgestalterische Belange na- im Sinne einer stadtverträglichen Straßen- hezu vollständig ausgeklammert. Daher ist bahnplanung und lässt sich der französi- nach gängigen deutschen Vorgehenswei- schen Erfahrung nach auch unter Sicher- sen eine unter angemessener Berücksich- heitsaspekten nicht rechtfertigen. (vgl. tigung derartiger Belange geplante Infra- Kap. 2.2.4, 3.2.2 und 3.2.4) struktur gegenüber einer stadtunverträgli- chen, nur unter rein wirtschaftlich-techni- • In den maßgeblichen deutschen Richtlinien schen Aspekten geplanten Trasse im All- zur Trassierung von Straßenbahnstrecken gemeinen volkswirtschaftlich weniger finden sich stets Ziele wie „Sicherheit“, sinnvoll. Faktoren wie Lebensqualität und „Geschwindigkeit“, „Fahrdynamik“ und Identifikation, die Einfluss sowohl auf die „Wirtschaftlichkeit“. Das Ziel einer stadt- Volkswirtschaft als auch auf Einstellung verträglichen Trasseneinbindung wird aber und damit auch Nutzungsverhalten der ignoriert. Dies zeigt deutlich deren Stel- Öffentlichkeit gegenüber dem ÖPNV lenwert in Deutschland auf. (vgl. Kap haben, werden bei einer derartigen Vorge- 3.2.3) hensweise ignoriert. Gleichzeitig wird die • Zu Zeiten der Schnellbahnplanungen der Begründbarkeit von Zusatzinvestitionen für sechziger Jahre wurden sehr großzügige stadtgerechte Infrastrukturen erschwert Trassierungselemente festgelegt, um u.a. bzw. unmöglich gemacht. (vgl. Kap. 3.2.5) hohe Fahrgeschwindigkeiten erzielen zu Wie sich die in den vorhergehenden Absätzen können. Bis heute finden sich Grenzwerte erläuterten Aspekte einer nicht ausreichenden aus dieser Zeit in technischen Regelwer- Gestaltungsqualität von städtischen Schienen- ken, obwohl sie für den Bau oberirdischer strecken in der deutschen Planungspraxis Strecken in gewachsenen Strukturen viel- auswirken, sei zum Abschluss plakativ an fach völlig ungeeignet sind. So lässt sich einem Beispiel dargestellt. etwa der in der EAÖ genannte Ausnahme- Mindestradius von 100 m für regionale Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit Bahnstrecken o.ä. fachlich begründen, für wurden in Nordrhein-Westfalen die ersten Er- Straßenbahnstrecken in Stadtzentren ist er gebnisse der landesweiten Integrierten Ge- aber weltfremd. (vgl. Kap. 3.2.4) samtverkehrsplanung (IGVP) veröffentlicht.159 Diese wird in Zukunft u.a. den bestehenden • Festlegungen zur Ausgestaltung von Fahr- ÖPNV-Bedarfsplan ablösen und benennt damit leitungsanlagen berücksichtigen nicht in auch Infrastrukturmaßnahmen in den Straßen- ausreichendem Maße die eminent ein- bahn- und Stadtbahnnetzen, welche in den schneidenden stadtgestalterischen Auswir- nächsten Jahren vom Land NRW gefördert kungen von unsensibel geplanten Anlagen werden sollen. Die von den einzelnen Kommu- auf die Straßenräume. Die Fixierung auf nen gewünschten Bauvorhaben wurden dabei technische und wirtschaftliche Entwurfs- einer Kosten-Nutzen- und einer Nutzwertana- ziele führt im Gegenteil vielfach zu stadt- lyse unterzogen, um Aussagen über die volks- unverträglichen Lösungen mit Hochket- wirtschaftliche Rentabilität geben zu können. tenfahrleitungen, massiven Mastkonstruk- tionen und unstetigen Mastabfolgen. Da- durch kann die Gestaltungsqualität eines 159 vgl. dazu http://www.igvp.nrw.de

174 Schlussbetrachtungen

Das Ergebnis der Bewertungen ist weitgehend eben in Deutschland tatsächlich eine viel wei- eindeutig. Fast alle untersuchten oberirdischen tergehende Diskussion über diese Thematik – Neubaustrecken für kommunale Schienennetze als Reaktion auf geänderte Rahmenbedingun- schnitten insbesondere in der Nutzwertanalyse gen bei dem Bau städtischer Schienenbahnen negativ ab. Bezeichnend ist dabei, welche Be- wieder verstärkt hin zu oberirdischen Maß- wertungskriterien in den meisten Fällen dazu nahmen – vielerorts erst noch geführt werden geführt haben: muss. Dies betrifft im Übrigen auch die Wie- deraufnahme der Diskussion, offensiv eine • Trenn- und Zerschneidungswirkungen, Eindämmung des Autoverkehrs und eine Neu- • Veränderung der Gestaltungsqualitäten aufteilung von Straßenräumen in den Städten im Siedlungsraum, zu fördern und gleichzeitig durch den Ausbau • Beeinträchtigung von Denkmal- und des ÖPNV eine Verkehrsalternative zu schaffen Kulturgütern, – eine Diskussion, die in Deutschland seit den neunziger Jahren weitgehend eingeschlafen ist. • Flächeninanspruchnahme. Der Weg zu einer besseren städtebaulichen Offensichtlich ist hierbei, dass negative As- Einbindung von Straßenbahnstrecken mit Blick pekte dieser Art direkte Ergebnisse einer in auf das Vorbild Frankreich bedingt in Deutsch- Kap. 3.2 erläuterten weitgehend an techni- land unzweifelhaft einen höheren Stellenwert schen Rahmenbedingungen orientierten Pla- der baulichen Gestaltung im Planungsprozess. nung von Straßenbahnstrecken sind. Gleichzei- Dies sollte auch durch eine adäquate Berück- tig ist offensichtlich, dass in der Gesamtver- sichtigung von Gestaltungsfragen in den Re- kehrsplanung die Möglichkeit, Straßenbahn- gelwerken forciert werden – analog der in die- strecken im Gegensatz dazu als städtebauliche sem Kapitel zusammengefassten Ansätze. Aktivposten einzusetzen, also Straßenbahn und Städtebau zusammenzuführen, überhaupt gar Es kann nur betont werden: Die sorgfältige nicht in das Bewertungsverfahren eingeflossen städtebauliche Gestaltung von Straßenbahn- sind. Dies scheint schlicht und ergreifend in strecken ist kein Selbstzweck. Sie ist vielmehr der fachlichen Arbeit nicht als realistische Op- entscheidend dafür, ob Straßenbahninfra- tion bedacht worden. Mit Blick auf die Analyse struktur über ihre reine Verkehrsfunktion hin- der neuen französischen Straßenbahnsysteme aus einen positiven oder negativen Einfluss auf erstaunt dies in höchstem Maße: Gerade die ihre städtische Umgebung ausübt. Damit be- vier genannten Kriterien, welche in der NRW- einflusst sie direkt das Image eines Straßen- Gesamtverkehrsplanung zu negativen Gesamt- bahnsystems in der öffentlichen Meinung sowie auswirkungen führten, sind Kriterien, welche in die Beurteilung des Verkehrssystems durch Frankreich häufig als Argumente für den Bau (potenzielle) Fahrgäste sowie politische Ent- von Straßenbahnstrecken, bei gleichzeitiger scheidungsträger. Ein positives Image ist wie- Eindämmung des MIV, genannt werden. derum ein wesentlicher Garant für einen lang- fristigen Erhalt von Straßenbahnsystemen und Dieses Beispiel belegt exemplarisch die Diskre- für die Durchsetzbarkeit von Ausbauvorhaben panz zwischen deutscher und französischer – bis hin zu solchen, deren Ziel eine offensive Bewertung der Auswirkung von Straßenbahnen Veränderung des Modal Split vom MIV eben auf städtische Räume. Es zeigt auch, dass zur Straßenbahn hin ist.

175 Anhang

176 Anhang

5 Anhang

177 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.1 Nantes Nantes, Ballungsraum nahe der Loire-Mündung in den Atlantik mit mehr als einer halben Mil- lion Einwohnern, führte 1985 als erste franzö- sische Stadt nach dem zweiten Weltkrieg ein neues Straßenbahnsystem ein und wurde da- mit zum Vorbild für alle nachfolgenden Stra- ßenbahnstädte. Die Planungen begannen 1980 aufgrund zunehmender Verkehrsprobleme und wurden 1981 genehmigt. Dabei war die Reali- sierungsphase von großen politischen Schwie- rigkeiten geprägt. Nach einem Bürgermeister- wechsel während der Bauphase wurde kurz- fristig ernsthaft über die Einstellung der Ar- Abb. 173: Zwei Wahrzeichen von Nantes – die beiten und den Wiederabbau aller fertigge- Straßenbahn und das Schloss der Herzöge der stellten Anlagen diskutiert. Letztendlich konnte Bretagne das Projekt aufgrund der zum Zeitpunkt der Diskussionen schon sehr weit fortgeschrittenen Bauarbeiten doch noch zum Abschluss ge- bracht werden. Der schon bald erkennbare große Erfolg der Straßenbahn führte dann aber schon bald bei vielen Straßenbahngegnern der Anfangszeit zu einem Meinungsumschwung, der zu einem weiteren Netzausbau in großem Stil führte. Heute besitzt Nantes mit inzwischen zwei Durchmesser- und einer Radiallinie das mit Abstand größte Straßenbahnnetz Frank- reichs und einen in über zwanzig Jahren ge- sammelten Erfahrungsschatz. Inzwischen do- kumentiert Nantes daneben auch die sich Abb. 174: Die erste neue Linie in Nantes – Stadt- wechselnden und weiterentwickelnden Leitbil- bahnstrecke auf Schottergleiskörper der des Straßenbahnstreckenbaus in Frank- reich. Im Laufe der Zeit verlor die möglichst Der Erfolg des Systems lässt sich mit sehr ho- weite Separierung von Straßenbahn und Stra- hen Fahrgastzuwachsen belegen. Zwischen ßenverkehr immer mehr an Bedeutung. Gleich- 1984 und 1998 erhöhte sich die Anzahl der zeitig wurden verstärkt kompensierende Ver- Fahrten mit dem ÖPNV um rund 65%. Allein kehrsberuhigungsmaßnahmen durchgeführt. von 1990 bis 1997 verlagerten sich im Modal Split zwei Prozentpunkte vom Autoverkehr auf Liegt die erste Linie noch ausschließlich auf 160 den öffentlichen Verkehr . Die Straßenbahn unabhängigem Bahnkörper sowie im Verlauf erwies sich damit als wirksames Instrument von breiten Hauptverkehrsstraßen, so besitzt zur Eindämmung des Straßenverkehrs, beson- die Linie 2 nur noch auf der Hälfte ihrer Stre- ders auf die Innenstadt bezogen. Gleichzeitig cke einen vollständig vom öffentlichen Ver- wird die Straßenbahn auch ihrer Rolle als kehrsraum separierten Bahnkörper, der Rest Werkzeug der urbanen Belebung und stadt- liegt in Fußgängerzonen oder ist lediglich ab- strukturellen Entwicklung voll gerecht. Inner- markiert bzw. abgepflastert. Im Jahre 2000 halb von zehn Jahren stieg, maßgeblich durch ging mit der Linie 3 eine fast klassisch stra- die Einführung der Straßenbahn, das Kunden- ßenbahnartig auf straßenbündigem Bahnkörper trassierte Strecke in Betrieb. 160 UITP: Light Rail – Tour de France 7-12 June 2002 (Prospekt)

178 Die neuen Straßenbahnsysteme aufkommen in der Innenstadt um 20%. Der ÖPNV konnte im Modal Split des Einkaufsver- kehrs in die Innenstadt von 30% auf 50% zu- legen161. Wenngleich das absolute Aufkommen des Autoverkehrs in Nantes nach wie vor hoch ist, so sorgte die Straßenbahn doch für eine verkehrliche Entlastung der Innenstadt bei gleichzeitiger Belebung und Aufwertung ihrer Funktion als Einzelhandelsstandort. Die Straßenbahn ist das Rückgrat des ÖPNV- Netzes und befördert inzwischen mehr als die Hälfte aller ÖPNV-Fahrgäste. Auf der Linie 2 werden pro Tag rund 100.000 Fahrgäste be- fördert, dazu kommen 85.000 auf der Linie 1 und 30.000 auf der Linie 3. Es besteht eine klare Netzhierarchisierung. Zubringerbuslinien sind auf wenige leistungsfähige Umsteigekno- ten konzentriert, es gibt acht Park+Ride-Anla- gen mit zusammen rund 1.500 Stellplätzen. Auf allen Straßenbahnlinien verkehren knapp 40 m lange Züge der Typen TFS und Incentro, die Bahnsteige erlauben netzweit eine Zug- länge von 60 m. Im Jahre 2000 verteilte sich der Modal Split zu 57% auf den PKW, 15% auf den ÖPNV, 4% auf den Fahrradverkehr und 24% auf Fußgän- ger. In Zukunft soll der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen durch einen fortlaufenden großzügigen Ausbau insbesondere im Eisenbahn- und Busbereich weiter steigen. Der Verkehrsentwicklungsplan für 2010 sieht eine Reduzierung des Straßen- verkehrsanteils am Modal Split auf 50% vor162. Für die Straßenbahn sehen die konkreten Pla- nungen für die nächsten Jahre zwei Strecken- erweiterungen vor. Abb. 175, 176, 177, 178: Eindrücke von der Stra- ßenbahn Nantes – Linie 3 im Zentrum, Linie 2 an der Uferpromenade der Erdre, zweimal Linie 1 im westlichen Vorort Saint-Herblain mit dem Ver- knüpfungspunkt Mendès-France und der neuen Endstation Francois Mitterand, oben die alten Fahrzeuge TFS, unten die neuen Incentros

161 WANSBEEK, Cornelis J.: Nantes expansion; Tramway & Urban Transit 1/2001 162 HUGO, Wolfgang O.: Nantes und die Renaissance der Tram; Straßenbahn-Magazin 4/2001

179 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.2 Grenoble Die 1979 erstmals angedachte, 1983 endgültig können mit der Straßenbahn direkt in den Ein- beschlossene und 1987 eröffnete Straßenbahn kaufsbereich hineinfahren. Auch die städtebau- von Grenoble, der größten Stadt in der inneren liche Komponente findet sich bei der Fahr- Gebirgskette der Alpen, hat gleich in mehrfa- zeugentwicklung wieder, welche von vorneher- cher Hinsicht Modellcharakter. Es handelt sich ein in sehr hohem Maße von Vorgaben des De- um das erste Straßenbahnsystem der Welt, signs beeinflusst wurde. Damit begründete das welches sowohl in Hinsicht auf die Fahrzeuge Straßenbahnprojekt Grenoble eine integrierte als auch auf die Strecke vollständig niederflurig und aufeinander abgestimmte Betrachtung der ausgebaut wurde und damit barrierefrei ist. Teilgebiete Strecke, Umfeld und Fahrzeug. Die Entwicklung des ersten französischen In der Rückschau muss das Straßenbahnsys- Standardniederflurwagens, dem TFS 2, ist eng tem von Grenoble als wegweisend für die mit dem Straßenbahnbau von Grenoble ver- weitere Entwicklung des Verkehrssystems bunden. Daneben ist Grenoble aber auch da- Straßenbahn gesehen werden. Von vorneher- durch wegweisend, dass dort erstmals nach ein und durch eine vorhergehende Volksab- dem zweiten Weltkrieg ein neues Straßen- stimmung manifestiert führte die Planungs- bahnsystem mitten in einen engen Altstadtkern strategie zu großer Zustimmung in der Bevöl- integriert wurde. Erstmals in neuerer Zeit kerung. Die Niederflurtechnologie setzte sich tauchte in Grenoble im selben Kontext der Ge- anschließend weltweit durch. Vorwiegend in danke auf, eben gerade die oberirdische Stre- Frankreich wurde später der integrierte städte- ckenführung der Straßenbahn für die Belebung bauliche Ansatz verfeinert und erfuhr schließ- der Innenstadt und als Impulsgeber für städ- lich in Straßburg seinen endgültigen Durch- tebauliche Neuentwicklung zu nutzen. Darin bruch. Alle anschließend folgenden französi- einbezogen waren die Einführung von Fußgän- schen Straßenbahnprojekte folgen der Tradi- gerzonen, die Durchsetzung von Restriktionen tion Grenobles, durch neue Straßenbahnstre- für den Autoverkehr im Stadtzentrum sowie die cken insbesondere in den Innenstädten urbane Renovierung von Bauwerken. Die Fahrgäste

Abb. 179: Grenoble, Zugbegegnung vor der überbauten Station Alpexpo

180 Die neuen Straßenbahnsysteme

Erneuerungen und verkehrliche Umgestaltun- gen durchzusetzen. Andererseits war das Sys- tem aufgrund der städtebaulichen Randbedin- gungen global etwa doppelt so teuer wie das zwei Jahre vorher in Betrieb gegangene Netz von Nantes. Neben der Bedeutung als Modellprojekt für die urbane Integration einer Straßenbahn kann das System aber auch seiner ursächlichen Ver- kehrsfunktion nach als voller Erfolg gewertet werden. Die Nutzung öffentlicher Verkehrs- mittel wurde in Grenoble durch die Einführung der Straßenbahn erheblich gesteigert. Betrug der Anteil des öffentlichen Personennahver- kehrs am Gesamtverkehr 1985 vor Eröffnung der Straßenbahn lediglich 11%, so konnte er bis heute auf rund 20% gesteigert werden. Dies ist für eine Stadt dieser Größenordnung – im gesamten Ballungsraum etwa eine halbe Million Einwohner – der französische Spitzen- wert.163 Nach Eröffnung der ersten Linie kam sehr schnell eine zweite hinzu, beide zusammen befördern nun nach kontinuierlichen Strecken- verlängerungen rund 120.000 Fahrgäste pro Tag, knapp die Hälfte aller Fahrgäste des ÖPNV. In Hinblick auf die geringe Netzausdeh- nung ist die Auslastung sehr hoch, es werden auf beiden Linien tagsüber sehr dichte Taktin- tervalle von drei bis vier Minuten gefahren. Mehrere gut ausgebaute Verknüpfungspunkte dienen der Zuführung von Zubringerbussen zur Straßenbahn. 2006 kam eine dritte Linie hinzu, eine vierte befindet sich im Bau und weitere in der Planung. Abb. 180, 181, 182, 183, 184: Eindrücke von der Straßenbahn Grenoble – Stammstrecke in der Fußgängerzone, Doppelkurve vor dem Hauptbahn- hof zur besseren Erschließung des Empfangsge- bäudes, Verknüpfungsstation La Tronche, Eng- stelle mit Arkadengang in der Innenstadt

163 WANSBEEK, Cornelis J.: Valenciennes – France’s next tramway city; Tramway & Urban Transit 6/1999

181 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.3 Paris Überlegungen zum erneuten Aufbau von Stra- dig auf unabhängiger Trasse, ist also derzeit ßenbahnstrecken in der Region Ile de France eher ein Eisenbahnvorortverkehr mit Straßen- reichen bis in die Mitte der siebziger Jahre zu- bahnfahrzeugen. Wie auf der T1 wurden auch rück. Verantwortlich dafür sind zwei Hauptmo- auf dieser Strecke die ursprünglichen Fahr- tivationen. Auf der einen Seite lassen sich im gastprognosen weit übertroffen, 2004 waren inneren Stadtbereich zunehmend Überlas- täglich 61.000 Fahrgäste unterwegs. tungszustände im Schienennetz feststellen. Es gibt weitreichende ambitionierte Planungs- Andererseits wachsen die tangentialen Ver- vorstellungen, welche die beiden Strecken als kehrsströme im äußeren Stadtbereich von Paris Keimzelle eines großen Straßenbahnsystems aufgrund dem Neu- und Ausbau von Vorstäd- sehen. Die planerische Weiterentwicklung er- ten und neuen Büro- und Arbeitsplatzzentren folgt dabei fast ausschließlich in den Vorstäd- immer weiter an. Gleichzeitig sind die Anteile ten in Form von Querverbindungen sowie auf der mit dem öffentlichen Nahverkehr zurück- Zentren des Außenbereiches ausgerichtete Ra- gelegten tangentialen Wegen zwischen den dialstrecken. Für Radialen in das Stadtzentrum Vorstädten aufgrund schlechter oder fehlender hinein besteht aufgrund dem hier flächende- Verbindungen deutlich geringer als die auf das ckenden Metrosystem kein Bedarf. Somit fin- Stadtzentrum ausgerichteten. Während in der den sich auch in der langfristigen Planungsper- Kernstadt in Form der Metro ein flächende- spektive keine Straßenbahnstrecken in das Pa- ckendes und überaus attraktives öffentliches riser Zentrum. Derzeit deutet alles darauf hin, Verkehrssystem zur Verfügung steht, ist die dass das System in den kommenden Jahren Erschließungsdichte durch Schnellbahnsysteme ganz rapide ausgeweitet wird und mittelfristig in den Randbereichen deutlich geringer. größer als der Betrieb von Nantes, derzeit Lösungsmöglichkeiten für beide Problematiken größtes Straßenbahnnetz Frankreichs, sein werden in der Neueinführung von Straßen- wird. Im November 2006 stand die dritte bahnstrecken gesehen: Diese können tangen- Straßenbahnlinie kurz vor der Vollendung. Im tiale Verkehrsströme, welche für die Bedienung Gegensatz zu den beiden anderen Linien wird durch ein Schnellbahnsystem nicht genügend sie nicht in den Vororten, sondern in der Kern- Aufkommen aufweisen, bedienen. Eine flä- stadt Paris verkehren, und zwar in tangentialer chendeckende Weiterentwicklung der Metro in Führung im Verlauf des südlichen Ring- die Vororte scheidet aus finanziellen Gründen Boulevards. Zusammen mit dem Bau dieser aus. Neben der Gewinnung von Neuverkehren Linie wurden die parallelen Straßenräume in sollen gleichzeitig auch Personenkreise erfasst erheblicher Weise verkehrsberuhigt und werden, die für ihre Wege bisher Umsteigever- neugestaltet. bindungen durch das Zentrum nutzen. Dadurch können Radialstrecken entlastet werden. Heute existieren die beiden räumlich getrenn- ten und von ihrer Charakteristik her völlig un- terschiedlichen Systeme Saint-Denis – Bobigny (Linie T1) sowie Tram Val de Seine (TVS, Linie T2) mit zusammen rund 25 km Streckenlänge. Die 1992 eröffnete erste Strecke ist eine klas- sische Straßenbahn auf besonderem Bahnkör- per, welche durch stellenweise sehr dicht be- siedelte Vororte verkehrt. Auf Ihr werden pro Tag rund 88.000 Fahrgäste befördert. Die Linie T2 geht dagegen auf eine ehemalige Eisen- Abb. 185: Trotz stellenweise recht enger Platzver- bahntrasse zurück, welche für den Straßen- hältnisse wurde die Linie T1 konsequent vom bahnbetrieb umgebaut und in den unterirdi- Kraftfahrzeugverkehr separiert schen Verknüpfungspunkt La Défense hinein verlängert wurde. Sie verkehrt dabei vollstän-

182 Die neuen Straßenbahnsysteme

Abb. 186: Linie T1 in den nördlichen Vorstädten

Abb. 187: Linie T2 vor der Kulisse des Bürozentrums La Défense

183 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.4 Straßburg Noch mehr als in Grenoble steht die 1994 nach 50.000 Fahrzeuge pro Tag anzutreffen. Leit- über zwanzig Jahren Vorplanung und Diskus- idee war, jeglichen Durchgangsverkehr durch sion in Betrieb gegangene Straßenbahn von die Innenstadt zu unterbinden, gleichzeitig Straßburg als Projekt zur verkehrlichen und ur- aber die Erreichbarkeit nicht einzuschränken. banen Neugestaltung der Innenstadt. Ziel war Daraus ergab sich ein Erschließungsmodell mit nicht nur die Lösung von Verkehrsproblemen verschiedenen Sektoren, welche jeweils von und die Attraktivitätssteigerung öffentlicher außen angefahren werden können und im Nahverkehrsmittel, sondern gleichzeitig auch Zentrum als Sackgasse enden. Insgesamt gibt eine globale Stadtneugestaltung. Die Wieder- es vier dieser schleifenförmig erschlossenen einführung der Straßenbahn bot den Anlass, Sektoren. Die Verbindungen zwischen den Sek- den städtischen Raum umzustrukturieren und toren durch den Kern hindurch sind den Ver- lebenswerter zu machen und dabei gleichzeitig kehrsmitteln des Umweltverbundes vorbehal- durch den Verkehr elektrischer und leiser ten und für den motorisierten Verkehr nicht Schienenfahrzeuge die Umweltverschmutzun- mehr möglich. Gleichsam als Nebeneffekt gen im Stadtzentrum zu vermindern. Dieser in wurde durch diese Strategie auch der Platz ge- Grenoble erstmals aufgegriffene Ansatz wurde wonnen, der zur innerstädtischen Anlage der in Straßburg weiter perfektioniert. Damit Straßenbahn benötigt wurde. Auch der Busver- wurde Straßburg zum Vorbild aller seitdem fol- kehr wurde fast vollständig aus der Innenstadt genden Straßenbahnprojekte Frankreichs. Die herausgenommen und über große Knotenpun- Gesamtmaßnahme soll in Form einer revitali- kte in den Vororten auf die Straßenbahn sierten Innenstadt positive Effekte für alle Ein- abgestimmt. wohner der Agglomeration bringen, auch für jene, welche zumindest in den ersten Projekt- stufen noch keinen Straßenbahnanschluss be- kommen. Dabei macht der Anspruch einer hochwertigen Gestaltung nicht an den Grenzen der Innenstadt Halt, sondern gilt auch in den Randbereichen. Auf den Außenstrecken stellt das Rasengleis die Standardausbildung des Oberbaus dar. Von den bisher geleisteten In- vestitionen in Höhe von insgesamt etwa 600 Millionen € entfallen etwa die Hälfte auf stadt- gestalterische Maßnahmen. Auch in Straßburg wurde besonderes Augenmerk auf die Gestal- tung des Fahrzeugparks gelegt und abermals ein neues Fahrzeug entwickelt, welches ganz speziell auf die örtlichen Verhältnisse abge- stimmt wurde. Die Wagen vom Typ Eurotram erregen bis heute wegen ihres extravaganten Designs eine hohe Aufmerksamkeit. Die oberirdische Einführung der Straßenbahn in die historische Innenstadt wurde zum Anlass genommen, die gesamten Strukturen für den Autoverkehr im Innenstadtbereich neu zu ord- nen. Dabei wurden sehr konsequent autofreie Bereiche geschaffen und Durchgangsstraßen rückgebaut. Bei den geschlossenen Durch- gangsstraßen handelte es sich teilweise um er- heblich belastete Hauptverkehrsstraßen. Auf der zentralen Place Kleber, jetzt Fußgänger- Abb. 188: Straßenbahn Straßburg vor der Eglise zone, waren vor Einführung der Straßenbahn Saint Nicolas 184 Die neuen Straßenbahnsysteme

Folgerichtig wurde gleichzeitig die Parkplatzpo- gerzonen. In den Außenbereichen stehen da- litik der Stadt reformiert. So verminderte sich gegen ausschließlich besondere oder unabhän- die Zahl der Parkplätze im Stadtzentrum mit gige Bahnkörper zur Verfügung, welche dort der Einführung der Straßenbahn erheblich. recht hohe Reisegeschwindigkeiten ermögli- Stattdessen baute man als Kompensation im chen. Das größte Kunstbauwerk ist der im großen Stil Park+Ride-Plätze am Stadtrand. Zuge der ersten Strecke liegende 1,4 km lange Gerade die Park+Ride-Anlagen erwiesen sich Straßenbahntunnel unter dem Hauptbahnhof als erfolgreiches Instrument, um Autofahrer mit einer unterirdischen Station. Inzwischen von einem Umstieg auf öffentliche Verkehrs- werden durch das Straßenbahnnetz 50% der mittel zu überzeugen. 95% der Nutzer der An- Bevölkerung und 65% der Arbeitsplätze des lagen gaben an, vor Einführung der Straßen- Ballungsraumes im 400-m-Einzugsbereich er- bahn keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt schlossen. Zum Einsatz kommen Züge mit den zu haben. 90% benutzen dabei die Straßen- Längen von 33 bzw. 43 m, längere Züge wer- bahn für Fahrten in die Innenstadt.164 den aufgrund der oberirdischen Innenstadt- durchquerung ausgeschlossen. Bis 2008 wird Als Quintessenz des Vorgehens kann fest- das Netz um eine fünfte Linie und mehrere gehalten werden, dass es trotz oder gerade Streckenverlängerungen ergänzt. wegen der weitreichenden Eingriffe in das öf- fentliche Straßennetz nicht zu einem Verkehrs- Insgesamt befördert die Straßenbahn inzwi- kollaps gekommen ist. Vielmehr konnte der schen über 40 Millionen Fahrgäste pro Jahr, Zustrom von motorisierten Fahrzeugen in die jeweils etwa 100.000 Fahrgäste täglich auf den Innenstadt ganz deutlich reduziert werden. Es beiden Grundstrecken A/D sowie B/C und mehr ergab sich die Chance einer fußgängerfreundli- als die Hälfte des ÖPNV-Gesamtverkehrs. Auf chen Umgestaltung und städtebaulichen Res- beiden Strecken fahren die Züge in den Spit- tauration des Kernbereiches. zenzeiten alle zwei Minuten. Das Busnetz ist konsequent zum Zubringersystem weiterentwi- Die Erfolgsbilanz des Straßenbahnsystems ist ckelt worden. In die Innenstadt verkehren beachtlich.164 Nach der Eröffnung der ersten heute fast keine Busse mehr, Umsteigemög- Strecke zusammen mit einer Ausweitung des lichkeiten werden an großen Knotenstationen Gesamtangebotes um 30% konnte bis 1997 vermittelt. Wohl gerade aufgrund des hohen eine Fahrgaststeigerung von 43% registriert Straßenbahnanteils erreicht Straßburg bei frei- werden. Gleichzeitig sank 1995 gegenüber lich hohem Niveau der Einnahmen- und Aus- 1990 das Aufkommen des Autoverkehrs im gaben den besten ÖPNV-Kostendeckungsgrad Stadtzentrum um 17%, was eine Reduzierung aller französischen Ballungsräume der Provinz von 240.000 um 40.000 auf 200.000 Fahrzeu- mit mehr als 250.000 Einwohnern. gen pro Tag entspricht. Die Luftverschmutzung in der Innenstadt konnte damit spürbar redu- ziert werden. Heute nutzen 65% aller im Stadtkern Beschäftigten die Straßenbahn. Das Aufkommen von Fußgängern in der Innenstadt stieg um 20%, wodurch entgegen der Be- fürchtungen von Ladeninhabern auch der örtli- che Einzelhandel von der Straßenbahn enorm profitierte. Zur Grundlinie kamen bis heute eine weitge- hend auf der selben Trasse fahrende Verstär- kerlinie sowie im Herbst 2000 zwei weitere Li- nien mit einer eigenständigen Stammstrecke Abb. 189: Linie C, Einfahrt zur Station Esplanade hinzu. Auch die neuen Linien verkehren in der Innenstadt durch neu eingerichtete Fußgän-

164 COMMUNAUTÉ URBAINE DE STRASBOURG: Trans- ports en commun: le tram; Mai 1999

185 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.5 Rouen Vergleicht man Frankreichs neue Straßenbahn- Die 15,1 km lange Strecke beginnt im Stadt- systeme, so stellt jenes von Rouen einen Son- zentrum nördlich der Seine und verbindet die- derfall dar. Hier wurde ein klassisches Stadt- ses mit den südlichen Vororten, wo sie sich in bahnsystem mit einem Stammstreckentunnel zwei Außenäste aufspaltet. 2,2 km mit insge- in der Innenstadt und Strecken auf besonderen samt fünf unterirdischen Stationen liegen in bzw. unabhängigen Bahnkörpern in den Au- Tieflage, davon mit 1,7 km die gesamte Stre- ßenbereichen erstellt. Wenngleich die Tunnel- cke nördlich der Seine mit Ausnahme des Ter- abschnitte, aus dem Mangel an politischem minus Boulingrin. Südlich der Seine gibt es drei Willen zu großräumigen Restriktionen für den kürzere Tunnel zur Unterfahrung von Kreuzun- Autoverkehr im Zentrum entstanden, naturge- gen. Ziel der Straßenbahnplanung war neben mäß für hohe Bau- und Betriebskosten sorgen, der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse ergeben sie doch den Umstand, dass das Sys- insbesondere auf den überlasteten Seine-Brü- tem deutlich leistungsfähiger als andere fran- cken die bessere Vernetzung der einzelnen zösische Straßenbahnnetze ist. Alle Stationen Stadtquartiere. Traditionell bestehen in Rouen sind für einen ernsthaft ins Auge gefassten große soziale Gegensätze, die südlichen In- Betrieb mit 60 m langen Doppelzügen vorbe- dustrievororte und Großwohnsiedlungen der reitet. Dies wäre bei einer oberirdischen Neuzeit sind nicht organisch mit den älteren Durchquerung der engen Altstadt mutmaßlich bürgerlichen Vierteln nördlich der Seine ver- nicht durchsetzbar. bunden. Die Straßenbahn dient als Werkzeug

Abb. 190: Straßenbahn Rouen – neugestalteter und verkehrsberuhigter Straßenraum in Le-Petit-Quevilly

186 Die neuen Straßenbahnsysteme zur Linderung dieser sozialen Gegensätze und ner erhöhten Fahrgastnachfrage, sondern auch besseren Strukturierung der Stadt. In den Vor- zu einer besseren Produktivität des Netzes. 165 orten wurden mit dem Straßenbahnbau die ge- Ein weiterer Ausbau des Systems ist derzeit samten durchfahrenen Straßenräume städte- nicht geplant. Auf einer ursprünglich dazu an- baulich aufgewertet. gedachten Ost-West-Trasse wurde aus Kos- Die Einführung des aufgrund der unterirdi- tengründen zwischenzeitlich ein optisch spur- schen Innenstadtdurchquerung Métro ge- geführtes Bussystem installiert. nannten Schienensystems erwies sich als über- aus erfolgreich. Durch das Projekt konnte der öffentliche Personennahverkehr insgesamt nachhaltig aufgewertet und die Fahrgastzahlen maßgeblich gesteigert, aber auch die allge- meine Lebensqualität im Ballungsraum erhöht werden. Durch die verbesserte Erreichbarkeit der städtischen Zentren wurden deutliche Belebungseffekte ausgemacht. 36% der Stra- ßenbahnfahrgäste besuchen nach eigenen An- gaben seit der Einführung des Straßenbahn- betriebes öfter als vorher das Zentrum nörd- lich, 39% öfter als vorher jenes südlich der Seine. Als Grundlage des Erfolges werden drei Bausteine gesehen: Die Anstrengungen aller Beteiligten zu gemeinsamen, ressortübergrei- fenden Maßnahmen, die nicht auf die reine Transportfunktion begrenzte Rolle der Stra- ßenbahn sowie die gleichzeitige Neugestaltung und Wiederbelebung des öffentlichen Raumes. 84% der Einwohner der Agglomeration den- ken, dass das Straßenbahnnetz maßgeblich zur Modernisierung und Weiterentwicklung der Agglomeration beiträgt, ebenso viele finden, dass sich das System gut in den städtischen Raum einpasst und das Bild der Stadt positiv prägt. Während der Spitzenzeiten verkehrt die Stra- ßenbahn alle drei Minuten im Innenstadtbe- reich und alle sechs Minuten auf den beiden Außenstrecken. Zum Einsatz kommen wie in Grenoble Züge des Typs TFS 2. Befördert wer- den 60.000 Fahrgäste täglich, das sind rund 40% der Gesamtfahrgastzahl im ÖPNV. Diese Beförderungsleistung erbringt die Straßenbahn mit 1,4 Millionen Fahrzeugkilometern pro Jahr, Busse legen dagegen 10,7 Millionen Fahrzeug- kilometer zurück. Mit der Einführung der Stra- Abb. 191, 192, 193: Eindrücke von der Straßen- ßenbahn stieg das Angebot des ÖPNV um 14% bahn Rouen – Rasengleistrasse in Saint-Etienne- und die Personenfahrten gleichzeitig um 51%. du-Rouvray, die dreigleisige Stumpfendstation Damit führte die Straßenbahn nicht nur zu ei- Boulingrin, die Querung der Seine auf mit Holzpa- neelen abgedecktem Bahnkörper

165 HUE, Raymond: Stadtbahn von Rouen; Der öffentliche Nahverkehr in der Welt 5/2000

187 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.6 Montpellier Der einstimmige Beschluss zur Realisierung ei- Sehr geschickt zeigt sich die städtebauliche nes Straßenbahnsystems in Montpellier fiel im Integration der Straßenbahn in die Altstadt. Juli 1995, im Sommer 2000 konnte der Betrieb Auf einem kürzeren Abschnitt im Bereich des eröffnet werden. Dabei wurde die Stadt nahe Ausstellungszentrums wurde ein haltestellenlo- der Mittelmeerküste ihrem Ruf als innovatives ser Tunnel gebaut, welcher auf der zentralen Zentrum moderner Architektur und Stadtent- Place de la Comédie endet. Durch Ausnutzung wicklungsplanung in vollem Maße gerecht. Die von Geländesprüngen, Verwendung besonde- bisher realisierte Linie ist ein herausragendes rer Baumaterialen sowie Verkürzung der Ent- Beispiel für die hohen gestalterischen Maß- wicklungslänge durch eine steile Längsneigung stäbe beim Bau neuer Straßenbahnstrecken in konnte die Rampe trotz Lage am Rande eines Frankreich. Dazu tragen sowohl die durchge- sensiblen großen Altstadtplatzes uneinge- hend hochwertige Ausgestaltung der 15,2 km schränkt stadtverträglich angelegt werden. Im langen Straßenbahntrasse als auch die Reali- Anschluss führt die Strecke durch Fußgänger- sierung einiger flankierender Architekturkunst- zonen und über eine Stadtzentrum in An- werke im Verlauf der Strecke wie besondere schluss an den Hauptbahnhof abgedeckelte Ei- Haltestellenüberdachung oder durch Rondelle senbahnstrecke, auf der neben den Straßen- gestaltete Kreisverkehre bei. Die Straßenbahn bahngleisen gleichzeitig ein MIV-unabhängiger steht als Projekt der urbanen Regeneration. Fuß- und Radweg geschaffen wurde. Bedingt durch die hohen Gestaltungsansprüche Montpellier ist die erste Stadt, in der die neue war das Projekt mit globalen Kilometerkosten französische Systemstraßenbahn Citadis zum von rund 23 Mio € allerdings auch überaus Einsatz kommt. Der Citadis ist ein modular teuer. aufgebautes Fahrzeug, welches in variierbaren

Abb. 194: Straßenbahn Montpellier auf der zentralen Place Comédie

188 Die neuen Straßenbahnsysteme

Längen, Breiten und Gestaltungsformen sowie als vollständiger oder partieller Niederflurwa- gen lieferbar ist. Die Strategie erlaubt es, bei Verwendung möglichst wieder Systemkompo- nenten trotzdem ein individuelles Erschei- nungsbild nach den Wünschen des Bestellers zu verwirklichen. In Montpellier wurde ein De- sign entwickelt, welches auf die dortige archi- tektonische Stilrichtung des „Neuen Barocks“ sowie durch Farb- und Formwahl auf die me- diterrane Umgebung Bezug nimmt. Ein weite- rer sich durch den modularen Aufbau des Cita- dis ergebender Vorzug ist die Möglichkeit des relativ problemlosen Verlängerns der Züge durch die Einfügung zusätzlicher Zwischenmo- dule. Diese Option wurde aufgrund der hohen Fahrgastbelastung in Montpellier bereits zwei Jahre nach Eröffnung des Straßenbahnsystems umgesetzt, die ursprünglich sechsachsigen Züge sind heute alle zu Achtachsern erweitert. Bereits im Eröffnungsjahr bewältigte die Stra- ßenbahn eine eigentlich erst für das dritte Be- triebsjahr vorgesehene Beförderungsleistung. Dazu trugen die zwar unstete, aber gleichzeitig konsequent auf die Aufkommensschwerpunkte ausgerichtete Streckenführung, die Erhöhung des ÖPNV-Gesamtangebotes um 40% sowie die Reorganisation des Busnetzes bei. Zwei der vier Park+Ride-Anlagen wurden bereits auf- grund der großen Nachfrage vergrößert. Mont- pellier nimmt hinsichtlich der linienbezogenen Fahrgastnachfrage mit rund 110.000 täglichen Beförderungsfällen inzwischen die Spitzenpo- sition unter Frankreichs Straßenbahnnetzen ein. Dieser Erfolg mündete in der Forcierung des weiteren Netzausbaus im großen Stil. Eine zweite Straßenbahnlinie wird Ende 2006 eröff- net, eine dritte ist als Folgeprojekt fest vorge- sehen. Abb. 195, 196, 197, 198: Eindrücke von der Stra- ßenbahn Montpellier – Verknüpfungsstation Occi- tanie mit heller und freundlicher Überdachung, Durchfahrt zweier besonders gestalteter Kreisver- kehre, den Straßenraum prägende Trasse ohne jede Zerschneidungswirkung

189 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.7 Orléans Mit weniger als 300.000 Einwohnern im Ver- häufig zu Stauungen kommt, entschärfen hel- kehrsgebiet ist Orléans derzeit die kleinste fen. Bestandteil des Straßenbahnprojektes war französische Stadtregion, welche sich ein die Einfügung der Strecke mit besonderem neues Straßenbahnsystem zulegte. Die wie in Bahnkörper auf die zentrale, historische Loire- Montpellier 1995 beschlossene und 2000 eröff- Brücke südlich der Altstadt, für den Autover- nete Straßenbahn entstand weniger aufgrund kehr entstand gleichzeitig ein neues Brücken- von Überlastungserscheinungen im Busnetz als bauwerk weiter westlich. Zum zweiten steht sie vielmehr zur Verbesserung der Attraktivität des als Verbindung der alten Kernstadt und der 12 ÖPNV sowie als stadtstrukturelles Element. Im km südlich liegenden Trabantenstadt La Source Busverkehr wurden keine größeren Verbesse- mit Wohnblöcken, der Universität und dem rungs- und Rationalisierungspotenziale mehr Zentralkrankenhaus. Im Verbindungsbereich gefunden, trotzdem war die Nutzung des ÖPNV zwischen beiden Zentren ist die Strecke ab- in Orléans vor Einführung der Straßenbahn im schnittsweise als Schnellstraßenbahn trassiert Vergleich zu ähnlich großen Städten überaus und weist einen größeren Haltestellenabstand niedrig. Die Straßenbahn ist eine Investition für auf. Das historische Stadtzentrum von Orléans die Zukunft, sie soll alte und neue Stadtgebiete wird dagegen direkt durchfahren und erhielt zusammenführen, die Strukturachse zukünfti- mit dem Straßenbahnbau eine lange, heute ger Stadtentwicklung darstellen und damit der stark frequentierte Fußgängerzone. Auch in La fortlaufenden Zersiedelung entgegenwirken. Source besteht eine unstetige Linienführung zur möglichst direkten Andienung aller Auf- Die Straßenbahn hat neben ihrer Funktion als kommensschwerpunkte. Nördlich von La Strukturachse für die Weiterentwicklung des Source wurde auf dem Gebiet der Gemeinde Ballungsraumes zwei verkehrsplanerische Olivet in großem Stil trassennahes Bauland ge- Hauptaufgaben. Zum einen soll sie die Ver- schaffen, welches sich inzwischen rege entwi- kehrsprobleme in Nord-Süd-Richtung, wo es ckelt. aufgrund der nur wenigen Loire-Querungen

Abb. 199: Straßenbahn Orléans im Universitätsgelände

190 Die neuen Straßenbahnsysteme

Auch in Orléans kommen Fahrzeuge vom Typ Citadis zum Einsatz. Ihre Farbgestaltung fußt auf der Abstimmung mit dem Ergebnis einer sorgfältigen Farbanalyse der Bebauung im historischen Stadtkern. Straßenbahn und Alt- stadt harmonisieren dadurch exzellent. Eine Kommission an die durchfahrenen engen Stra- ßen der Innenstadt ist wie in anderen französi- schen Straßenbahnstädten die geringe Wagen- breite von 2,32 m sowie die Begrenzung der Wagenlänge auf rund 30 m.

Orléans besitzt die längste bisher eröffnete erste Linie eines neueingeführten Straßen- bahnsystems in Frankreich, gleichzeitig waren die Kilometerkosten mit rund 15 Mio € um rund ein Drittel günstiger als bei den im selben Zeitraum entstandenen Netzen von Lyon und Montpellier. Beides lässt sich auf den langen Verbindungsabschnitt zwischen der Kernstadt und La Source zurückführen. Gleichzeitig er- reicht aber das Fahrgastaufkommen bislang nur relativ geringe Werte. Im ersten Jahr stieg das Gesamtaufkommen im ÖPNV um etwa 15% an, die Straßenbahn beförderte bereits über 40% aller Fahrgäste, das Prognoseauf- kommen von 44.000 täglichen Fahrten wird aber mit 41.000 bislang noch verfehlt. Nach wie ist das absolute Fahrgastaufkommen in Orléans im Vergleich zu anderen Straßenbahn- städten relativ niedrig. Zunächst war geplant, das System zeit nah weiter auszubauen und um eine Ost-West- Achse zu ergänzen. Nach einem politischen Wechsel im Stadtrat wurde die zweite Straßen- bahnlinie zunächst zugunsten eines hochwerti- gen Bussystems verworfen. Diese Entschei- dung wurde inzwischen jedoch abermals revi- diert, da sich der weitere Ausbau der Straßen- bahn als technisch und ökonomisch sinnvollste Variante herausstellte. Wie in Bordeaux wird die zweite Linie abschnittweise über Unterlei- tung nach System APS mit Strom versorgt werden. Abb. 200, 201, 202, 203, 204: Eindrücke von der Straßenbahn Orléans – Verknüpfungsstation Parc des Expositions mit bahnsteiggleichem Umstieg, Straßenbahn in der neuen zentralen Fußgänger- zone, Strecke in Anliegerstraße mit farblich abge- setztem Bahnkörper, Rasengleistrasse in La Source, Verknüpfungsstation im Kreisverkehr in La Source

191 Die neuen Straßenbahnsysteme

5.1.8 Lyon Lyon ist nach Paris der zweitgrößte französi- mit Metrostrecken versehen, auf weiteren Li- sche Ballungsraum, und auch sein öffentliches nien erschien ein Metrobetrieb in Hinsicht auf Nahverkehrsnetz nimmt landesweit bezogen das Fahrgastaufkommen als überdimensioniert. auf Nachfrage und Frequentierung die zweite Das Ausmaß des Autoverkehrs im Stadtkern Position ein. Keine andere Agglomeration der stellte sich auf der anderen Seite als nicht Provinz kann eine höhere Zahl von Fahrten mit mehr hinnehmbar dar. Aus dieser Sachlage öffentlichen Verkehrsmitteln pro Einwohner erfolgte in den späten neunziger Jahren ein nachweisen. Diesen Erfolg verdankt Lyon gro- radikaler verkehrspolitischer Schwenk. Begrün- ßen Anstrengungen zum Ausbau des öffentli- det auf einem ambitionierten Verkehrsent- chen Verkehrsnetzes seit den siebziger Jahren. wicklungsplan, welcher den Anspruch der Ein- Heute besitzt die Stadt das im Verhältnis zur dämmung des Autoverkehrs durch den Ausbau Einwohnerzahl dichteste und meistbefahrenste des öffentlichen Verkehrs hat, kam es zur Wie- Busnetz der französischen Provinz. Das Rück- dereinführung der Straßenbahn als ergänzen- grat des Nahverkehrssystems ist das aus in- des Verkehrsmittel zu Bus und Metro. Mit dem zwischen vier Linien bestehende 29,4 km lange Bau der Straßenbahn wurden an der Oberflä- Metronetz, welches im Jahre 2000 täglich che teilweise massive Einschränkungen für den durchschnittlich 636.000 Personen beförderte. MIV bis zum Rückbau einer sechsstreifigen In den neunziger Jahren zeigte sich aber, dass Hauptverkehrsstraße zu einer zweibahnigen ein großflächiger weiterer Ausbau der Metro Einbahnstraße durchgeführt. kaum noch finanzierbar wäre. Das Metronetz Gegenüber den anderen neuen Straßenbahn- reicht jedoch bislang zur flächendeckenden Er- systemen stellt Lyon einen Sonderfall dar. Hier schließung der Stadt bei weitem nicht aus. Auf wurde ein neues Straßenbahnnetz erstmals in der anderen Seite waren mit Eröffnung der Li- Frankreich nicht als Hauptlastträger des öffent- nie D die wichtigsten Verkehrsachsen der Stadt lichen Personennahverkehrs, sondern eben als

Abb. 205: Straßenbahn Lyon im Außenbereich – vor Fertigstellung der umgebenden Bebauung

192 Die neuen Straßenbahnsysteme

Ergänzung zum bestehenden Metronetz ein- Innenstadt durch die Straßenbahn nur in geführt. Zwar trifft dies in gewissen Grenzen Randlage erschlossen wird und mittels Umstieg auch auf Paris zu, doch bedienen dort beide auf die Metro schneller erreichbar ist, führt in Linien eigenständige Korridore in den Vor- Lyon zu einer Kuriosität: Bei beiden Linien ist städten außerhalb des engeren Verkehrsge- das Aufkommen an den Streckenenden höher bietes der Metro. In Lyon fährt die Straßen- als im Innenstadtbereich. Begründet dadurch bahn dagegen wie auch die Metro in den In- werden auf beiden Linien in den Spitzenzeiten nenstadtbereich. Im Gegensatz zu vielen an- im Außenbereich verdichtende Kurzläufer ein- deren Straßenbahnstädten, deren enormes gesetzt, die dort das Angebot jeweils zu einem Fahrgastwachstum teilweise auch auf eine sehr Drei-Minuten-Takt verdichten. Investiert wur- magere Frequentierung des öffentlichen Stadt- den insgesamt 421 Mio €, dies sind etwas ge- verkehrs vor Einführung der Straßenbahn zu- ringere Kilometerkosten als in Montpellier. rückzuführen ist, fällt der Straßenbahn die Bereits nach weniger als anderthalb Betriebs- schwierige Rolle zu, ein bereits sehr gutes öf- jahren konnte die für das dritte Betriebsjahr fentliches Verkehrsangebot noch weiter zu aufgestellte Prognose von 100.000 täglichen verbessern. Sie soll die Lücke zwischen dem Fahrgästen erreicht werden. Im Gesamtnetz schnellen Punkt-zu-Punkt-Verkehrssystem der stieg das Fahrgastaufkommen im ersten Be- Metro und dem feinerschließenden Bus schlie- triebsjahr um 2,5%. In den nächsten Jahren ßen, ohne ihre Fahrgäste lediglich von der wird das Netz weiter ausgebaut. Metro zu kannibalisieren. Da die Metro seiner- zeit als einziges Primärsystem des ÖPNV ge- plant wurde, ist diese Zielsetzung nicht immer ohne Kompromisse erfüllbar. So verläuft die erste Straßenbahnlinie über einen größeren Streckenabschnitt parallel zur Metrolinie B und führte auf letzterer zu einem Fahrgastrückgang von 5%. Bemerkenswert ist wie bei allen neuen franzö- sischen Straßenbahnsystemen der kurze Zeit- raum, welcher für die Realisierung des Sys- tems benötigt wurde. Vom politischen Be- schluss bis zur Eröffnung des Straßenbahn- systems am 18.12.2000 vergingen lediglich vier Jahre. Während der Bauzeit kam es zu keinen größeren bautechnischen oder rechtli- chen Komplikationen. Das Netz besteht derzeit aus zwei Halbmesserlinien, welche beide am Südrand der Innenstadt am intermodalen Ver- knüpfungspunkt vor dem Hauptbahnhof Perra- che beginnen, zusammen die Rhône überque- ren und sich anschließend in zwei Streckenäste aufspalten. Die Ausgestaltung aller neuen Straßenbahntrassen zeigt sich als überaus sorgfältig und das Stadtbild bereichernd sowie durch Rasengleise und flankierende Baum- Abb. 206, 207: Eindrücke von der Straßenbahn pflanzungen begrünend. Beide Linien sind Lyon – Besondere Bahnkörper als Rasengleis im mehrfach mit der Metro verknüpft, erschließen Südosten, Mittelallee mit Straßenverkehr im Linksbetrieb im Universitätsgelände im Außenbereich jeweils größere Universitäts- komplexe und verkehren tagsüber alle sechs Minuten. Zum Einsatz kommen Citadis-Züge. Das hohe Aufkommen durch die Universitäten an den Endpunkten, verbunden damit, dass die

193 Anhang

5.1.9 Bordeaux Bordeaux ist mit rund 670.000 Einwohnern im baut. Im Gegensatz zu den meisten anderen Verkehrsgebiet des städtischen ÖPNV der französischen Straßenbahnstädten baut man in größte Ballungsraum an der französischen At- Bordeaux nicht Linie für Linie, sondern gleich lantikküste. Jahrelang wurde in der Stadt an drei Linien auf einmal. Das Projekt ist dabei der Garonne über die Wiedereinrichtung eines zweigeteilt: Zunächst entstehen für alle drei spurgeführten Massenverkehrsmittels debat- Linien die Streckenabschnitte in der Innenstadt tiert. Handlungsbedarf war bei immer weiter und jeweils eine Außenstrecke, die anderen steigendem Kfz-Aufkommen im Stadtzentrum drei Außenstrecken sowie weitere Verlänge- unstrittig. rungen kommen in der zweiten Phase hinzu. Damit wird der Innenstadt ein jahrzehntelan- Ab 1986 setzte Bordeaux im Stadtverkehr ges Baustellendasein erspart und gleichzeitig Doppelgelenkbusse ein, auch diese vermoch- von Anbeginn im Zentrum die volle Netzwir- ten den Niedergang des öffentlichen Nahver- kung erreicht. Nachteil ist, dass einige Jahre kehrs nicht zu stoppen. Eine Durchschnittsge- lang ökonomisch ungünstige Halbmesserlinien schwindigkeit der Busse von nur 8 km/h in der gefahren werden müssen und eine Vielzahl von Innenstadt, Fahrgastrückgänge von 10% allein Zwischenzuständen im Busnetz erforderlich in den neunziger Jahren und ein Fahrgastauf- werden. Alle drei Linien sind für sich völlig se- kommen von lediglich rund 60 Millionen Perso- parat und bilden in der Innenstadt ein Dreieck nen in 2002 – Straßenbahnstädte wie Straß- mit drei Umsteigeknoten. Die Linie A kreuzt als burg oder Grenoble weisen pro Kopf im öffent- einzige Linie die Garonne und verzweigt sich lichen Nahverkehr ein um gut 50% höheres auf dem rechten Ufer in zwei Außenstrecken. Aufkommen auf – sprechen eine deutliche Diese Linie ging Ende 2003 in Betrieb, die bei- Sprache. Ebenfalls bereits 1986 wurde der Bau den anderen Linien folgten Anfang 2004. Ins- einer VAL-Metro beschlossen, 1994 musste das gesamt soll die Straßenbahn nach ihrer Fertig- Projekt jedoch aus bautechnischen und finan- stellung mindestens 40% aller Fahrgäste des ziellen Gründen abgebrochen werden. Mit ei- Gesamtnetzes befördern. nem Bürgermeisterwechsel 1995 vollzog man schließlich den Schwenk zur Straßenbahn. Ein Bestandteil des Projektes ist die Absicht, mit der Straßenbahn ein identitätsstiftendes Das Straßenbahnprojekt von Bordeaux dürfte Element für den Ballungsraum zu schaffen und die weltweit derzeit größte Maßnahme dieser städtebauliche Erneuerungsmaßnahmen durch- Art sein. Nach vollständigem Abschluss (Hori- zuführen. Bereits 1997 wurde ein Architekten- zont 2007) wird das Netz auf einen Schlag team mit der Planung der Einbindung der Stra- größer sein als jenes von Nantes, bisher das ßenbahn in das städtische Umfeld beauftragt. längste Straßenbahnnetz Frankreichs und seit Schwerpunkte der Gestaltungsmaßnahmen Anfang der achtziger Jahre sukzessive ausge-

Abb. 208: Straßenbahn auf der Garonne-Brücke

194 Anhang sind die Straßenzüge und Platzanlagen im Zen- trum sowie die Quais entlang des Ufers der Garonne. Das Design der Fahrzeuge wurde lange vor der Fahrzeugausschreibung entwi- ckelt und im Lastenheft festgeschrieben. Wie schon in anderen französischen Städten, allen voran Orléans, zeigt sich die Farbgestaltung der Züge als sorgfältig auf die farbliche Er- scheinung der Altstadtbebauung abgestimmt. Nach dem Preisstand 2000 wird das gesamte Projekt auf 1.032 Millionen Euro veranschlagt, davon 603 Millionen Euro für die erste Phase.

Kennzeichnend für die Straßenbahn von Bor- deaux ist der auf diversen Streckenabschnitten über insgesamt rund zwölf Kilometer erfolgte Einbau einer neuartigen Fahrstromversorgung per Unterleitung. Verantwortlich für die Ein- führung dieser unkonventionellen Technik sind ästhetische Gründe. In der historischen Alt- stadt wollte man keine Fahrdrahtanlagen ak- zeptieren. Zur Eröffnung hatte das System al- lerdings mit erheblichen technischen Proble- men zu kämpfen (vgl. Kap.2.2.6), so dass der- zeit eine abschließende Wertung über die un- terirdische Stromzuführung noch aussteht.

Abb. 209, 210, 211, 212: Eindrücke von der Straßenbahn Bordeaux – Einfahrt in die enge Alt- stadt am linken Garonne-Brückenkopf, stadträum- liche Neugestaltungsmaßnahmen in den Vorstäd- ten als Begleitmaßnahme des Straßenbahnbaus, zweimal Durchfahrt der Altstadt in Höhe der Ka- thedrale

195 Anhang

5.2 Fahrzeugeinsatz Niederflurstraßenbahnwagen der Welt. Von diesem Typ wurden zwischen 1987 und 1997 5.2.1 Allgemeines insgesamt 116 Exemplare ausgeliefert. Nach- folger ist der Citadis, welcher durch seine mo- Inzwischen fahren auf Frankreichs Straßen- dulare Grundkonzeption in einer Vielzahl von bahnnetzen eine ganze Reihe unterschiedlicher Varianten existiert und bereits Ende 2002 nach Fahrzeugtypen. Eine in der Anfangszeit ge- der Erstlieferung im Jahre 2000 mit einer wünschte Standardisierung konnte nur ansatz- Stückzahl von 91 Exemplaren, Tendenz stark weise durchgeführt werden. Zur Jahrtausend- steigend, in Frankreich anzutreffen war. wende verkehrten landesweit gut vierhundert

Stadt Typ Hersteller Anzahl Baujahr Grenoble TFS 2 Alstom 53 1986-1997 Citadis 402 35 2005-2006 Lille Niederflur-Siebenachser Breda/AEG 24 1994 Lyon Citadis 302 Alstom 47 2000-2003 Montpellier Citadis 401166 Alstom 30 1999-2002 Nantes TFS167 Alstom 46 1984-1984 Incentro AT6/5 L ADtranz 33 2000-2001 Orléans Citadis 301 Alstom 22 2000-2001 Paris TFS 2 Alstom 35 1992-1996 Citadis 302 26 2002 Rouen TFS 2 Alstom 28 1993-1994 Saint-Étienne Niederflur-Sechsachser Alstom/Vevey 35 1991-1998 Straßburg Eurotram-Achtachser ABB 36 1994-200 Eurotram-Zehnachser 17 1998-2000 Citadis 402 Alstom 35 2005-2006

Tab. 36: Fahrzeuge der Straßenbahnnetze168

Züge acht verschiedener Grundtypen, welche Allen französischen Straßenbahnnetzen ge- teilweise noch in Unterbauarten differenziert meinsam ist die grundsätzliche Beschränkung sind. Entsprechend der französischen Praxis, der Wagenlängen zugunsten kürzerer Taktfol- einheimische Produkte bei Subventionen be- gezeiten. Die deutsche Bau- und Betriebsord- sonders zu fördern, stellen ausländische Fahr- nung für Straßenbahnen erlaubt den Verkehr zeugtypen die Minderheit dar. Über 250 Wagen von 75 m langen Zügen, viele hiesige Betriebe wurden vom Hersteller Alstom geliefert. Als fahren im Oberflächenverkehr Doppeltraktio- Systemfahrzeuge für Frankreichs Straßenbah- nen von rund 60 m Länge. Solche Zuglängen nen charakteristisch sind zwei Typen. Dies ist stellen in Frankreich den absoluten Ausnah- zuerst der TFS 2, auch bekannt als Straßen- mefall dar. Lediglich Paris setzt auf der auf un- bahnwagen Typ Grenoble, einer der ersten abhängiger Trasse verlaufenden Linie T2 Dop- peltraktionen ein. Rouen, Nantes und Grenoble halten sich den Einsatz 60 m lange Züge offen, 166 Die 28 Wagen der ersten Serie wurden als Citadis 301 verfolgen diese Option jedoch derzeit nicht. ausgeliefert und nachträglich zu Achtachsern verlängert. Alle anderen Straßenbahnbetriebe sehen einen 167 Die TFS-Wagen der ersten drei Serien waren ur- Einsatz derart langer Züge nicht vor. Meist sprünglich Sechsachser, die nachträglich zu Achtachsern kommen rund 30 m lange Sechsachser oder erweitert wurden. mit steigender Bedeutung gut 40 m lange 168 Stand Ende 2005 Achtachser zum Einsatz.

196 Anhang

Abb. 213: TFS mit Niederflurmittelteil in Nantes

Der TFS im Ursprungszustand ist ein zweiteili- 5.2.2 TFS ger sechsachsiger Zweirichtungs-Gelenktrieb- In den siebziger Jahren begannen wie erläutert wagen von knapp 30 m Länge. Die Fußboden- die Bestrebungen des französischen Staates, höhe beträgt 85 cm, Stufen an den Türen er- die Wiedereinführung von elektrischen Stra- möglichen einen Einstieg von niedrigen Bahn- ßenbahnsystemen in mittelgroßen städtischen steigen aus. Beim Wagenkasten handelt es Agglomerationsräumen finanziell zu fördern. sich um eine Schweißkonstruktion aus Alumini- Auf den geplanten Netzen sollte ein Standard- umprofilen. Entsprechend dem Stand der fahrzeug aus französischer Fertigung zum Ein- Technik Anfang der achtziger Jahre weisen die satz kommen, welches ökonomisch vorteilhaft Wagen eine Choppersteuerung auf. Kenn- in großer Stückzahl gebaut werden sollte. Die- zeichnend für den TFS gegenüber nachfolgen- ses musste neu entwickelt werden, da die den Fahrzeuggenerationen ist die dem Zeit- französische Bahnindustrie mangels eines rele- geist der siebziger Jahre entsprechende recht vanten Marktes im Heimatland in den siebziger eckige Ausführung, wobei sich die Kopfberei- Jahren kein äquivalentes Straßenbahnfahrzeug che verjüngen und dem Fahrzeug so ein recht im Angebot hatte. Ergebnis war der dem deut- schlankes Erscheinungsbild verleihen. Anfangs schen Stadtbahnwagen B ähnliche Wagentyp war geplant, zu einem späteren Zeitpunkt eine TFS, das Kürzel steht für „Tramway Francais modifizierten TFS perspektivisch auch auf den Standard“, also sinngemäß für „französische drei alten französischen Straßenbahnnetzen in Standardstraßenbahn“. Bei der Entwicklung Marseille, Lille und St-Etienne einzusetzen. konnte auf Erfahrungen aus dem Bau von Daraus ergab sich die geringe Wagenbreite Metro-Fahrzeugen zurückgegriffen werden, so von lediglich 2,30 m und eine recht schmale insbesondere im Bereich der Fahrwerke. Die Hüllkurve. Dementsprechend ist der TFS mit Entwicklung des Standardfahrzeuges wurde einer 2+1-Bestuhlung bestückt. Die Wagen be- vom französischen Staat mit 12 Mio FRF (rund sitzen je Seite vier Doppeltüren, dazu kommen 1,8 Mio €) gefördert, weitere 10 Mio FRF (rund je Seite zwei Einzeltüren an den Kopfenden. 1,5 Mio €) kamen von der ANVAR, der natio- Wie auch beim hiesigen Stadtbahnwagen B nalen Gesellschaft für Forschungsförderung.169 führten die Einzeltüren jedoch zu zeitlichen Problemen beim Fahrgastwechsel, sie sind da- her bei der folgenden Fahrzeuggeneration TFS 2 nicht mehr zu finden. 169 Zum TFS vgl. VOGT, Heinz: Straßenbahngelenk- Am 06. November 1981 wurde zwischen dem triebwagen für Nantes; stadtverkehr 11/12-1984; FRENZ, E.: Neuer Standard-Straßenbahnwagen für Frankreichs französischen Transportministerium und einem Städte, stadtverkehr 8/1982 und GACHE, André: Nantes: Firmenkonsortium unter Leitung von Alstom Verlängerung der Straßenbahnstrecke 2 nach Norden; Atlantique bei Mitwirkung von CIMT-Lorraine, stadtverkehr 1/1994 Francorail MTE sowie Traction CEM Oerlikon 197 Anhang ein Abkommen zum Bau von 170 TFS-Wagen Wagen nun knapp 40 m und haben gegenüber unterzeichnet. 70 Fahrzeuge waren zur Aus- den Sechsachsern ein um rund 40% erhöhtes lieferung im Zeitraum von 1983 bis 1985 an- Platzangebot. Die neuen Mittelteile weisen eine gedacht, die restlichen 100 dann bis 1990. Fußbodenhöhe von rund 35 cm auf und besit- Zum Bau einer derart großen Stückzahl kam es zen je Seite zwei Doppeltüren, sie ruhen an dann jedoch nicht, TFS-Fahrzeuge wurden le- den Enden weiterhin auf konventionellen diglich für Nantes gefertigt und dann dort auch Drehgestellen. Eine Erhöhung der Motorleis- eingesetzt. Andere Städte, welche für eine An- tung war mit diesem Umbau nicht verbunden, wendung der TFS ins Auge gefasst wurden, so dass die längeren und schwereren Achtach- konnten die Realisierung ihrer Straßenbahn- ser gegenüber den ursprünglichen Sechsach- vorhaben Anfang der achtziger Jahren aus den sern eine deutlich niedrigere Beschleunigung verschiedensten Gründen nicht durchführen und Bremsverzögerung aufweisen. Seit dem (z.B. Bordeaux und Toulon) oder entschieden Umbau laufen die Wagen in Einfachtraktion, sich letztendlich gegen die Straßenbahn und die Scharfenberg-Kupplungen wurden sukzes- stattdessen für die Einführung alternativer Ver- sive wieder entfernt. kehrssysteme wie der VAL-Metro (Toulouse). Im Zuge der Eröffnung der zweiten Linie in Auf der anderen Seite begann auf dem Stra- Nantes folgten dann 1991/2 bzw. 1993/94 ßenbahnsektor Anfang der achtziger Jahre der zwei Nachlieferungen von insgesamt nochmals technische Durchbruch der Niederflurtechnolo- 26 TFS-Fahrzeuge. Die letzte Serie, bestehend gie, so dass die nach Nantes folgenden neuen aus zwölf Wagen, wurde direkt vom Werk aus französischen Straßenbahnbetriebe nicht mehr als Achtachser mit Niederflur-Mittelteil gelie- auf ein Fahrzeug mit Stufen im Einstieg zu- fert. Heute verkehren damit in Nantes 46 acht- rückgreifen wollten (Grenoble, Paris, Straß- achsige Wagen des Typs TFS. burg). Damit ergab sich schon bald nach der Entwicklung des TFS schon wieder die Not- wendigkeit der Neukonstruktion eines neuen TFS, TFS, Acht- Standardfahrzeuges, des TFS 2. Sechs- achser achser Der TFS-Ursprungsbestand zur Systemeröff- nung in Nantes im Frühjahr 1985 setzt sich aus Länge [m] 28,500 39,150 20 Fahrzeugen der Baujahres 1984/85 zusam- Breite [m] 2,30 men, von denen der erste Wagen Anfang April 1984 im Probeeinsatz stand. Damals betrug Fußbodenhöhe [mm] 873 873/353 der Stückpreis eines Fahrzeuges lediglich 4,7 Niederfluranteil [%] - 16,3 Mio FRF (rund 700.000 €). Aufgrund des ho- Gewicht leer [kg] 35.500 51.960 hen Fahrgastaufkommens wurden die Wagen der ersten Serie recht bald mit Vielfachsteue- Sitzplätze 60 74 rung und automatischen Scharfenberg-Kupp- Stehplätze bei 4 Perso- 108 178 lungen ausgerüstet und anschließend in Dop- nen/m² peltraktion eingesetzt. Den Fahrzeugen wurden Höchstgeschwindigkeit 80 zu ihrer Indienststellung in der Fachpresse [km/h] ausgezeichnete Laufeigenschaften und ein sehr geringer Fahrgeräuschpegel (bei 70 km/h in- Motorleistung [kW] 2 x 275 nen 68 dbA und außen 78 dbA) nachgesagt, Nennspannung [V=] 750 eine Einschätzung, die sich auch heute nach Achsfolge B’ 2’ B’ B’ 2’ 2’ B’ Überschreitung der halben Lebensdauer noch bestätigen lässt. Raddurchmesser neu 660 [mm] Um für mobilitätseingeschränkte Personen 170 auch einen stufenlosen Einstieg ins Fahrzeug Tab. 37: Technische Daten TFS bieten zu können, folgte später bei allen Fahr- zeugen in Nantes nachträglich eine Erweite- rung zum Achtachser durch den Einbau nie- 170 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und derfluriger Mittelteile. Dadurch messen die Mittelflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2002

198 Anhang

Abb. 214: TFS 2 in Grenoble

5.2.3 TFS 2 sich wiederum Alstom zusammen mit Franco- rail und De Dietrich für die elektrische Ausrüs- Die zweite Generation des französischen Stan- tung und die Wagenkästen, dazu kam Schnei- dardstraßenbahnwagens entstand schon sehr der-Jeumont-Rail (später Alstom-Creusot-Rail) kurze Zeit nach der Ersten. Ursächlich dafür für die Drehgestelle.171 war die fortschreitende Entwicklung der Nie- derflurtechnologie Anfang der achtziger Jahre, Die sechsachsigen Fahrzeuge besitzen zwei was dazu führte, dass der zweite neue franzö- Wagenhauptteile und ein Gelenkmittelwägel- sische Straßenbahnbetrieb in Grenoble Fahr- chen. Das grundsätzliche Konstruktionsprinzip zeuge mit stufenlosem Einstieg verlangte. In- baut darauf auf, vorne und hinten konventio- terventionen dortiger Behindertenverbände nelle Antriebsdrehgestelle zu platzieren und haben den Entschluss zum Erwerb von Nieder- dazwischen den Wagenboden abzusenken. flurbahnen dort maßgeblich mitgetragen. Die Über den Antriebsdrehgestellen beträgt die Konstruktion des TFS war damit schon kurz Fußbodenhöhe 87,5 cm über SOK. Hinter den nach ihrer Entwicklung nicht mehr auf der Drehgestellen zur Wagenmitte hin senken sich Höhe der Zeit. die Hauptteile dann über drei Stufen auf 34,5 cm über SOK ab. Der tiefe Boden wird durch Im Grunde handelt es sich beim TFS 2, stel- das Mittelwägelchen, welches auf einem Lauf- lenweise auch als Tramway Francais à Plan- cher bas oder Supertram bezeichnet, um eine Entwicklung aus dem TFS heraus, wobei je- 171 Zum TFS 2 vgl. MULLER, Georges: Die Renaissance doch zur Herstellung der Niederflurigkeit weit- der Straßenbahn in Grenoble; stadtverkehr 9/1987 und reichende Konstruktionsänderungen von Nöten PABST, Martin: Grenoble: ein weiterer neuer Straßen- waren. Für den Entwurf verantwortlich zeigte bahnbetrieb in Frankreich; Straßenbahn-Magazin 66 (November 1987)

199 Anhang

Abb. 215: TFS 2, Seitenansicht gestell ruht, durchgezogen. Für die antriebslo- Bei einer Länge von knapp 30 m bietet ein TFS sen Räder im Mittelteil werden daher Sonder- 2-Zug bei einer Besetzung von 4 Personen/m² konstruktionen angewendet. Durch diese Kon- 178 Personen Platz. Von den 58 Sitzplätzen struktion wird ein Niederfluranteil von 60% er- liegen acht längs im Mittelteil. Die jeweils vier zielt. Bei Bahnsteighöhen von 25 cm verbleibt Türen pro Seite befinden sich alle im Nieder- lediglich eine Stufenhöhen von 10 cm ins Fahr- flurbereich. Um Rollstuhlfahrern den Zugang zeug. Vorbild für den französischen Standard- zu erleichtern, besitzen die vier inneren Türen Niederflurwagen war in Hinsicht auf das Mit- einziehbare Trittklappen. Eine Vielfachsteue- telwägelchen nicht das im selben Zeitraum rung ist möglich; die Wagen sind für den Ein- entstandene Niederflurfahrzeug von Genf mit bau von Kupplungen vorbereitet. In der Praxis verringerten Raddurchmessern im Laufdrehge- wurden TFS 2-Doppeltraktionen bisher noch stellt, sondern die parallele italienische Ent- nicht eingesetzt. wicklung der Städte Mailand und Turin, welche Der TFS 2 ist mutmaßlich das erste Straßen- auch im Mittelteil normal große Räder aufwei- bahnfahrzeug, welches von Beginn an in weit- sen. Damit müssen dort Losräder verwendet reichendem Maße unter Aspekten des Designs werden, gleichfalls ist die Durchgangsbreite im und äußeren Erscheinungsbildes konstruiert Gelenkwägelchen aufgrund der notwendigen wurde. Diese Vorgehensweise ergab sich nicht Radkästen sehr eingeschränkt.172 zuletzt aufgrund der anspruchsvollen Zielset- zung des Erstanwenders Grenoble, die neue oberirdische Straßenbahn durch die Altstadt zur städtebaulichen Belebung einzusetzen. 172 Anfangs ging man davon aus, dass dieses Konstruktionsprinzip für Meterspurbetriebe aufgrund der dann notwendigen nochmaligen Verengung des Durch- zumindest in Lille und Saint-Étienne durchaus gegeben gangs nicht adaptierbar sei. Eine Meterspurversion des wäre. TFS 2 wurde daher nicht realisiert, wenngleich ein Bedarf 200 Anhang

Nach der eckigen Gestaltung des TFS von so in Paris auf den beiden Beständen für die Nantes handelt es sich beim TFS 2 um eines separaten Linien T1 und T2. Weitere TFS 2 der ersten Straßenbahnfahrzeuge neueren wird es nach Einstellung der Fertigung nicht Datums, welches eine runde Ausbildung der mehr geben. Stirnfront aufweist. Vater des Designs ist der belgische Architekt Philippe Neermann.173 Wenngleich sich die Wagen in Betrieb und Wartung bis heute sehr gut bewähren, so be- sitzen sie gegenüber neueren Entwicklungen des niederflurigen Straßenbahnbaus einen ent- scheidenden Nachteil: Ihr hohes Gewicht. Durch die Verwendung von Stahl statt Alumi- nium, bedingt durch die Absenkung des Wa- genbodens und die wiederum dadurch not- wendige Anordnung der gesamten elektrischen Ausrüstung mit Ausnahme der Fahrmotoren auf das Dach, sind die Wagen gut vier Tonnen schwerer als die fast gleichlangen Fahrzeuge aus Nantes. Dieses Manko führt neben dem höheren Energieverbrauch auch zu einer hö- Abb. 216, 217: TFS 2 in Rouen heren Belastung des Oberbaus. Diese Proble- matik war insbesondere in Paris feststellbar TFS 2 und machte dort schon nach neun Jahren Be- Länge [m] 29,400 trieb eine komplette Streckensanierung erfor- Breite [m] 2,30 derlich. Durch den Verkehrsbetrieb RATP wird dieser Mangel des TFS 2-Wagens bestätigt. Fußbodenhöhe [mm] 875/345 Insgesamt wurden vom Typ TFS 2 zwischen Niederfluranteil [%] 65 1987 bis 1996 beachtliche 116 Wagen abge- Gewicht leer [kg] 43.900 setzt, allerdings trotz entsprechender Bemü- Sitzplätze 54 hungen des Herstellers Alstom jenseits der französischen Grenzen nur innerhalb Frank- Stehplätze bei 4 Perso- 120 reichs. Der Bestand teilt sich auf die Betriebe nen/m² in Grenoble (53), Paris (35) und Rouen (28) Höchstgeschwindigkeit 70 auf. Die einzelnen Ausführungen weisen äu- [km/h] ßerlich, abgesehen von der Lackierung, keine Motorleistung [kW] 2 x 275 großen Unterschiede auf. Bei den ab 1993 ge- lieferten Wagen kamen teilweise neuere Nennspannung [V=] 750 elektronische Bauteile zum Einsatz. Weitere Achsfolge B’ 2 B’ technische Unterschiede der Wagen aus Rouen Raddurchmesser neu [mm] 660 betreffen einen aufgrund der großen Steigun- gen im dortigen Streckenverlauf einen verbes- Tab. 38: Technische Daten TFS 2174 serter Bremsdruck und eine bessere Steigefä- higkeit. Die letzten in Grenoble beschafften 15 Wagen der vierten Bauserie besitzen daneben bereits Drehstrom-Antrieb. Auch unterscheiden sich bei einigen Serien die Inneneinrichtungen,

173 Dieser kann als die Schlüsselfigur französischen Stra- ßenbahndesigns bezeichnet werden und war später u.a. auch in Straßburg tätig. Er gründete sein Büro IDPO im Jahre 1970 und war 1971 erstmals im Gebiet des öffen- 174 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und tlichen Verkehrs, damals bei der Brüsseler Metro, tätig. Mittelflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2002

201 Anhang

5.2.4 Eurotram ligen gewölbten Scheibe, welche bis in den Dachbereich hinaufgezogen ist. Daneben fallen Auch wenn erste Überlegungen in Straßburg die überaus großflächigen Fensterflächen – dahin gingen, auf dem 1994 eröffneten Stra- auch im Zuge der Türen – auf. Insgesamt er- ßenbahnnetz den TFS 2 einzusetzen, entschied gibt sich ein sehr futuristisches Erscheinungs- man sich schließlich dafür, eine auf die spe- bild, welches dem traditioneller Straßenbahn- ziellen Bedürfnisse des örtlichen Verkehrsbe- wagen entgegen steht und oft mit „Raumfahrt- triebes abgestimmte Neukonstruktion zu be- Design“177 assoziiert wird. Innerhalb des Fahr- schaffen. Zielvorgabe war eine durchgehende zeuges ist die bereits erwähnte durchgehende Niederflurigkeit, woraus sich auch der Projekt- Niederflurigkeit sowie die ebenfalls sehr extra- name des Wagens, Bas Plancher Integral (BPI) vagante Gestaltung der Einrichtung zu bemer- ergab. Daneben stand die Schaffung eines ge- ken. Dazu kommen weitere Details wie die genüber dem TFS 2 individuelleren Designs im Verwendung von unscheinbaren Kameras an- Vordergrund. Die Entwicklung des als Eurotram stelle von Außenspiegeln, welche die Optik be- bezeichneten Fahrzeuges wurde vom Straß- einträchtigern könnten. Die gesamte Gestal- burger Verkehrsbetrieb CTS eng begleitet. Den tung wurde als Teil des universellen Planungs- Zuschlag für die Lieferung der Wagen erhielt konzeptes des Straßburger Straßenbahnnetzes die italienische Firma Socimi. Mit der Wahl die- gesehen, die neue Straßenbahn nicht nur als ses Herstellers war Straßburg die erste franzö- Verkehrsmittel, sondern eben auch als unver- sische Stadt, welche bei der Neueinführung ei- wechselbares städtebauliches Element einzu- nes Straßenbahnnetzes nicht auf französische setzen, mit dem sich die Einwohner der Stadt Produkte zurückgriff.175 Nach Konkurs des Her- identifizieren können. Wie auch bereits der TFS stellers während der Herstellungsphase wurde 2 stammt der Entwurf des Designs vom belgi- die Fertigung dann aber von ABB Traction Ltd. schen Designer Philippe Neerman. Dessen in York bzw. später Derby/Großbritannien Büro IDPO wurde von Anfang an in den Ent- übernommen. Heute wird die Eurotram damit wicklungsprozess des Fahrzeuges maßgeblich von ADtranz bzw. dem darüber stehenden eingebunden. Bombardier-Konzern angeboten, welcher nach erfolgten Fusionen Eigner von ABB ist.176 Wenngleich die Optik oft gelobt wurde und wird, so birgt das Design der Fahrzeuge auch Bei ihrer Indienststellung erregten die Wagen Tücken. So führen die großen, schrägen Front- ob ihres extravaganten Designs wegen eine scheiben bei Sonnenschein zu einem Brenn- überaus große Beachtung. Kennzeichnend ist glaseffekt am Fahrerplatz, welcher bereits für die geschwungene Frontpartie mit einer eintei- Streiks im Fahrpersonal gesorgt haben soll. Gleichfalls entpuppten sich die breiten einflü- 175 Dies ist insofern bemerkenswert, da die Stadt Rouen, geligen Türen als Störquelle, darüber hinaus welche parallel zu Straßburg ihre Straßenbahn benötigen sie naturgemäß lange Öffnungs- und wiedereinführte, ebenfalls den Erwerb ausländischer Straßenbahnfahrzeuge erwog. Allerdings hätte der Schließzeiten. Weitere Kritikpunkte betreffen dortige Verkehrsbetrieb beim Erwerb ausländischer die ungünstige Anordnung von Haltegriffen Fahrzeugprodukte nach eigenen Angaben mit Kürzungen und anderen Details der Inneneinrichtung, wo der Zuschüsse zum Streckenbau seitens des französi- offenbar Designvorgaben vor der praktischen schen Staates rechnen müssen. Bis heute hat von den Anwendbarkeit standen. neuen französischen Straßenbahnbetrieben neben Straß- burg nur Nantes in jüngerer Vergangenheit mit dem Das Konstruktionsprinzip der Eurotram baut Incentro nicht-französische Straßenbahnen beschafft. auf modularen Einzelteilen auf. Dabei liegen Dazu kommen die Neufahrzeuge für die alten Netze in Lille und Saint-Étienne, für beide Städten konnte auf- die Räder unter den beiden Kopfmodulen so- grund der Meterspurigkeit nicht auf Systemfahrzeuge des wie den bis zu drei Gelenkmodulen. Zwischen Herstellers Alstom zurückgegriffen werden. Kopf- und Gelenkmodul bzw. zwischen zwei 176 Zur Eurotram vgl. WÜSTEN, Manfred: Wieder Gelenkmodulen hängen frei schwebend die Straßenbahn in Straßburg; Straßenbahn-Magazin 95 Wagenhauptteile. Die Länge der Kopf- bzw. (Januar 1995); COMMUNAUTÉ URBAINE DE STRAS- BOURG: Transports en commun: le tram; Mai 1999; http://www.transports-strasbourg.org und MULLER, Georges: Jumbo Trams für Straßburg; Straßenbahn- 177 VDV (Hrsg.): Stadtbahnen in Deutschland; ALBA- Magazin 6/1998 Fachverlag; Düsseldorf 2000; S. 251

202 Anhang

Abb. 218: Eurotram Straßburg

Gelenkmodule ist dabei nur so lang, wie es zur gen ist jeweils ein Fahrwerk lediglich mit Unterbringung der Fahrwerke, ausgeführt als Laufrädern ausgestattet, alle anderen sind an- ungefederte Losradantriebe, notwendig ist. getrieben. Das Fassungsvermögen beträgt bei Türen finden sich jeweils zweifach pro Seite in 4 Personen/m² 210 Fahrgäste im Achtachser den Wagenhauptteilen. Die Eurotram ist ein und 270 Fahrgäste im Zehnachser. Zweirichtungswagen mit Drehstromantrieb, die Wagenkästen stellen eine geschweißte Alumi- niumkonstruktion dar. Durch die Strategie der Modularität ist bei der Fertigung eine gewisse Freizügigkeit in Bezug auf die Fahrzeugkapazität gegeben, da durch Hinzufügen bzw. Weglassen von Wagen- hauptteilen und Gelenkmodulen die Länge des Wagens variiert werden kann. Die Grundaus- führung der Eurotram ist rund 33 m lang und achtachsig, sie besteht somit aus sieben Teilen entsprechend drei Wagenhauptteilen und je- weils zwei Kopf- und Gelenkmodulen. Daneben werden in Straßburg inzwischen auch als Jum- botram bezeichnete Zehnachser eingesetzt, welche in ihrer rund 43 m langen neunteiligen Ausführung vier Wagenhauptteile, zwei Kopf- und drei Gelenkmodule besitzen.178 Ein Sechs- achser mit ca. 24 m Länge wäre theoretisch aufgrund der Modulbauweise ebenfalls kon- struierbar. Bei beiden realisierten Ausführun- Abb. 219: Eurotram, Kopfgestaltung mit Kameras statt Rückspiegeln 178 Zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung handelte es sich bei den Zehnachsern um die längsten Straßenbahnfahr- zeuge der Welt. Sie haben diesen Status allerdings inzwi- schen verloren.

203 Anhang

handenen 33 m-Wagen durch neue Mittelteile ebenfalls auf 43 m Länge ist durch die Modu- larität natürlich denkbar und wird auch als durchaus mögliche Option betrachtet. Darüber hinaus konnten Eurotrams inzwischen auch nach Mailand (26 Wagen in Einrichtungsaus- führung, Baujahr 1999/2001) sowie nach Porto (72 Wagen, Baujahr 2001/03) abgesetzt wer- den. Beide Versionen sind achtachsig und ge- genüber dem Straßburger Wagen um einen bzw. knapp zwei Meter länger. Aufgrund des hohen Preisniveaus der Eurotram rückte Straßburg inzwischen von diesen Fahr- Abb. 220: Eurotram, Innenraum zeugtyp ab. Mit 2,1 Mio € für den Achtachser bzw. 2,5 Mio € für den Zehnachser liegen die Auffallend ist, dass die Anzahl der Achsen be- Kosten für eine Eurotram inzwischen um rund zogen auf die Wagenlänge deutlich höher als ein Drittel höher als jene von 100%-Niederflur- bei anderen Niederflurstraßenbahnen ist. Der wagen gleicher Länge anderer Bauarten. Achtachser ist nur wenig länger als der TFS 2 Straßburg stellte daher jüngst auch Citadis- und ungefähr genauso lang wie die ebenfalls Züge in Betrieb. durchgehend niederflurige Neukonstruktion des Citadis 302 (s.u.), beide genannten Fahr- zeuge kommen mit sechs Achsen aus. In der Eurotram, Eurotram, Konsequenz ergibt sich aufgrund des hohen Achtachser Zehnachser Kostenniveaus von Fahrwerken eine Steige- Länge [m] 33,100 43,050 rung des Anschaffungspreis, allerdings redu- Breite [m] 2,40 ziert sich die Belastung des Oberbaus. Weiter- hin sind bei der Eurotram für 100%-Nieder- Fußbodenhöhe [mm] 350 flurwagen durchaus als gut zu bezeichnende Niederfluranteil [%] 100 Fahreigenschaften feststellbar, welche sich si- Gewicht leer [kg] 40.000 50.800 cherlich auch nicht zuletzt auf den Sachverhalt der Vielachsigkeit zurückführen lassen. Sitzplätze 66 92 Insgesamt verkehren in Straßburg heute 53 Stehplätze bei 4 Per- 144 178 Eurotrams der Baujahre 1994/95 und sonen/m² 1998/2000. Die Erstlieferung umfasst 26 Wa- Höchstgeschwindigkeit 70 gen, welche zur 1994 erfolgten Eröffnung der [km/h] Linie A in Dienst gestellt wurden.179 Bei diesen Motorleistung [kW] 12 x 26,5 16 x 26,5 26 Wagen handelt es sich ausnahmslos um 33 m lange Achtachser. Eine Aufstockung des Be- Nennspannung [V=] 750 standes erfolgte dann im Zuge der Realisierung Achsfolge Bo Bo 2 Bo Bo 2 Bo der Linie B. Hinzu kamen zu diesem Anlass Bo Bo weitere 10 Achtachser und zusätzlich 17 43 m Raddurchmesser neu 550 lange Zehnachser. Die Wagen der zweiten Se- [mm] rie weisen den der ersten gegenüber geringfü- gige Modifizierungen im Türbereich, in der Tab. 39: Technische Daten Eurotram180 Ausführung der Fahrgastinformation, in der Klimatisierung und in der Gestaltung der Fah- rerarbeitsplätze auf. Eine Erweiterung der vor-

179 In der Literatur werden teilweise auch 27 Wagen angegeben, der 27. wurde allerdings zugunsten des 180 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und Einbaus von Klimaanlagen storniert. Mittelflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2002

204 Anhang

5.2.5 Citadis • Citadis 200 mit stählernem Wagenkasten und partieller Niederflurigkeit (Hersteller: Der Citadis, wiederum von Alstom entwickelt, Alstom LHB, Fahrzeug für Magdeburg und stellt das inzwischen dritte französische Stra- Darmstadt) ßenbahn-Systemfahrzeug dar. Gründe dafür, den bewährten TFS 2-Wagen durch eine Neu- • Citadis 300 mit Wagenkasten aus Alumi- konstruktion abzulösen, sind einerseits auf den nium und partieller oder vollständiger Nie- Preisverfall im Markt für Niederflurstraßenbah- derflurigkeit nen, andererseits aber auch auf die geschil- • Citadis 500 mit verstärktem Wagenkasten derte grundsätzliche Problematik des zu hohen für den bimodalen Einsatz auf Straßen- Gewichts beim TFS 2 zurückzuführen. Alstom bahn- und Eisenbahnstrecken, partielle möchte mit dem Citadis einerseits seine Niederflurigkeit Marktführerschaft im Straßenbahnbau in Frankreich sichern, andererseits aber auch ver- Die folgenden Ausführungen beziehen sich stärkt in das Ausland exportieren. Der erste ausschließlich auf die Reihe Citadis 300. Diese Citadis-Wagen wurde am 30.07.1999 in Mont- stellt die ursprüngliche Citadis-Konstruktion dar pellier präsentiert.181 und ist inzwischen auf mehreren französischen Straßenbahnnetzen anzutreffen. Beim Citadis Im Gegensatz zum TFS und TFS 2 stellt der 300 werden mehrere Unterbauarten unter- Citadis keinen singulären Fahrzeugtyp, sondern schieden, welche vor der Einbeziehung obiger ein modulares Fahrzeugkonzept bzw. eine ausländischer Produktionen in die Produktpa- Fahrzeugfamilie dar, welches in verschiedenen lette mit den Bezeichnungen Citadis 301, 401, Ausführungen lieferbar ist. Damit muss der 202, 302 und 402 differenziert wurden. Da Fertigungsprozess eine gewisse Flexibilität er- diese Bezeichnungen in der Fachwelt nach wie möglichen, der Blick geht weg vom Gesamt- vor gebräuchlich sind, wird auch an dieser fahrzeug und hin zu vordefinierten einzelnen Stelle von Ihnen Gebrauch gemacht. Baugruppen, die beim Endprodukt möglichst weitreichende Variationen offen lassen. Diese Zur Zeit werden in der 300er-Reihe zwei unter- Strategie ist vergleichbar mit denen der kon- schiedliche Varianten bezüglich des Niederflur- kurrenzierenden Hersteller, welche in der jün- anteils und daneben zwei bzw. drei Unterbau- geren Vergangenheit im Straßenbahnbau arten verschiedener Fahrzeuglängen zwischen ebenfalls auf modular aufgebaute Fahrzeugfa- gut 20 und knapp 45 m angeboten. Auch die milien bauen, man denke in dieser Beziehung Fahrzeugbreite zeigt sich innerhalb gewisser an den Combino von Siemens. Erreicht wird Grenzen variabel. durch ein solches Angebot ein potenziell sehr Gegenüber dem TFS 2 wurde beim Citadis viel größerer Absatzmarkt und die mögliche nochmals deutlich mehr Wert auf Transparenz Berücksichtigung von Kundenwünschen, und Design gelegt. Ein den Wünschen des gleichzeitig bleiben die Fahrzeuge jedoch fi- 182 Betreibers entsprechendes eigenes Erschei- nanzierbar und die Lieferzeiten kurz. nungsbild ist möglich. Durch die modulare Alstom hat inzwischen auch vom Citadis- Bauweise sowie die Weiterentwicklung der Grundkonzept abweichende Produkte aus sei- GfK-Technologie (Glasfaserverstärkte Kunst- nen Auslandsfilialen in die Citadis-Produktpa- stoffe) ist die Kopfform nicht festgelegt. Städte lette einbezogen. Damit sind inzwischen fol- können diese ebenso wie den Innenraum vom gende Grundtypen zu unterscheiden: eigenen Designer gestalten lassen. Insbeson- dere in Lyon führte diese Möglichkeit zu einer • Citadis 100 mit stählernem Wagenkasten sehr unkonventionellen Ausbildung der Front- und partieller Niederflurigkeit (Hersteller: partien, entworfen von Renault Design. Auch Alstom Konstal in Polen) die beiden anderen Erstanwender Orléans wie- derum mit dem TFS 2 bzw. Eurotram-Designer 181 Zum Citadis vgl. GÖBEL, Stefan: Serienstart: Erste Philippe Neerman (Büro IDPO) und Montpellier Tram vom Typ CITADIS 300 ausgeliefert, stadtverkehr mit den Designern Garouste und Bonetti 10/1999 machten von der Möglichkeit eines individuel- 182 Im Falle des Citadis wird hierbei von 18 Monaten len Designs Gebrauch. Das insgesamt beim ausgegangen. Citadis der ästhetischen Gestaltung ein beson- 205 Anhang

Abb. 221: Citadis in der 100%-Niederflurausführung im Betriebshof in Lyon derer Stellenwert eingeräumt wird, zeigt die Achtachsern erweitertet.183 Die nachträgliche sorgfältige Gestaltung des Dachbereichs, dort Erweiterung von Fahrzeugen durch die Einfü- befindliche Teile der technischen Ausrüstung gung zusätzlicher Segmente wird durch den sind mittels Blenden vollständig der Sicht ent- Grundgedanken der modular aufgebauten zogen. Auch finden sich keine Außenspiegel, Fahrzeugfamilie wesentlich erleichtert und ist deren Funktion wird wie bei der Eurotram auch ein Baustein des Citadis-Marketingkon- durch deutlich unauffälligere Videokameras zeptes. übernommen. Zuletzt ist die Fensterfläche des Die Typen Citadis 202, 302 und 402 sind Fahr- Citadis um gut ein Drittel größer als jene des zeuge mit durchgehend niederflurigem Boden Vorgängermodells, so dass das Fahrzeug von und Losradfahrwerken. Um die Fahrwerke innen ein sehr helles und freundliches Erschei- herum finden sich seitliche Podeste. Unter den nungsbild zeigt. gut 7 m langen Frontmodulen und den ab dem Bei den Typen Citadis 301 und 401 handelt es Sechsachser zum Einsatz kommenden rund 4 sich um Straßenbahnfahrzeuge mit klassischen m langen Zwischenwägelchen liegen jeweils Antriebsdrehgestellen und einem oder zwei zweiachsige Losradfahrgestellte, dazwischen Gelenkwägelchen mit Losradfahrwerken. Diese hängen jeweils gut 6 m lange schwebende Konstruktion ist also prinzipiell mit dem TFS 2 Module bzw. Sänften. Im Gegensatz zur im vergleichbar. Der Citadis 301 ist sechsachsig Grunde vergleichbaren Konstruktion der Straß- und besitzt damit zwei Wagenhauptteile und burger Eurotram sind insbesondere die Kopf- ein Gelenkwägelchen. Aufgrund unterschiedli- module, aber auch die Zwischenwägelchen, cher Ausbildung der Köpfe kann die Länge des deutlich länger als die darunter liegenden Fahrzeuges differenzieren, sie liegt bei knapp Fahrwerke. Je eine Tür befindet sich am Be- 30 m. Über den Antriebsdrehgestellen ist der ginn der Frontmodule sowie je zwei in allen Wagenboden erhöht, der Niederfluranteil liegt schwebenden Modulen, bei den Zweirichtungs- bei 64%. Citadis 301-Fahrzeuge wurden u.a. ausführungen naturgemäß auf beiden Seiten. nach Orléans (22 Stück), Montpellier (30 Stück) und Dublin geliefert. Der Citadis 401 ist achtachsig bei drei Wagenhauptteilen und zwei Gelenkwägelchen, die Länge beträgt hier gut 183 Im Zuge des Umbaus erhielten die Züge ein 40 m. Wagen dieser Bauart kommen ebenfalls zusätzliches Mittelmodul inklusive eines weiteren zwei- in Dublin zum Einsatz, daneben hat Montpellier achsigen Losradfahrwerkes. Im Unterschied zu den inzwischen seine sechsachsigen Fahrzeuge Sechsachsern, wo die Losradfahrwerke nur Laufräder aufgrund des hohen Fahrgastaufkommens zu beinhalten, stellt dieses weitere Fahrwerk jedoch ein drittes Antriebsfahrwerk dar.

206 Anhang

passten Eisenbahnstrecken eine erhöhte Rah- menlängssteifigkeit von 400 kN besitzen. Das Groß der bestellten und ausgelieferten Wagen besitzt eine Breite von 2,40 m. Mont- pellier, Barcelona und Melbourne greifen dage- gen auf 2,65 m breite Fahrzeuge zurück, jenes von Orléans misst aufgrund der städtebauli- chen Charakteristik der durchfahrenen Innen- stadt auf der anderen Seite nur 2,32 m. Es bleibt aber festzuhalten, dass aufgrund der schlank zulaufenden Frontpartien auch das 2,65 m breite Fahrzeug von Montpellier sub- jektiv nicht als sehr viel breiter als jenes von Orléans wahrgenommen wird. Interessant Abb. 222: Citadis Montpellier zeigt sich ein Vergleich der Fahrzeuge von Der Citadis 202 ist bei knapp 23 m Länge vier- Montpellier in der sechsachsigen Ur- achsig, besteht also aus drei Teilen; Citadis sprungsausführungen mit den gleich langen 302 besitzt bei sechs Achsen und gut 32 m Zügen aus Orléans: Durch die 33 cm zusätzli- Länge fünf Teile, darunter ein Zwischenwägel- cher Breite konnten in Montpellier 16 zusätzli- chen, Citadis 402 ist ein knapp 44 m langer che Sitz- und bei Normalsauslastung (4 Perso- Achtachser mit sieben Teilen, davon zwei Zwi- nen/m²) 13 zusätzliche Stehplätze unterge- schenwägelchen. Auch bei diesen Fahrzeugen bracht werden; die Gesamtkapazität beträgt differenzieren die Längen der diversen Aus- 205 zu 176 Fahrgäste, also ein Unterschied führungen für verschiedene Auftraggeber auf- von über 15%. Montpellier greift hierbei auf grund unterschiedlicher Designvorgaben. Be- einen 2+2-Sitzteiler, Orléans lediglich auf eine stellt oder geliefert wurden 100%-niederflurige 2+1-Bestuhlung zurück. Bei den 2,40 m brei- Citadis-Züge bisher nach Melbourne (Citadis ten Wagen wird bei den meisten Anwendern 202), Lyon, Barcelona, Mülhausen, Rotterdam, ebenfalls bereits von der 2+2-Bestuhlung Paris, Valenciennes und La Rochelle (Citadis Gebrauch gemacht, wobei dies jedoch zu sehr 184 302), Bordeaux (Citadis 302 und 402) sowie schmalen Sitzen und Durchgängen führt. Grenoble und Straßburg (Citadis 402). Das Fahrzeug von La Rochelle wurde von Alstom auf eigene Rechnung gebaut und wird auf der dortigen, teilweise auf dem Alstom-Werksge- lände in Aytré (dem Herstellungswerk für alle französischen Alstom-Straßenbahnen) liegen- den Demonstrationsstrecke zu Testzwecken eingesetzt. Bei den diversen Modellen werden inzwischen drei verschiedene Arten von Fahrgestellen ver- wendet: Arpège-Fahrgestelle ohne Primärfe- derung bei den französischen Abnehmern (diese Bauart kommt auch bei Losradfahrwer- ken der Reihen 301/401 zum Einsatz), Solfège- Abb. 223: Citadis Lyon, Innenraum Fahrgestelle mit Primärfederung in Melbourne und Corège-Fahrgestelle mit Primärfederung in Rotterdam. Die Fußbodenhöhe liegt bei den 184 In Orléans wird in dieser Beziehung zurecht darauf französischen Betrieben bei 350 mm, bei den verwiesen, dass sich ein 2+1-Sitzteiler auf der gewählten beiden anderen Bauarten bei 360 mm. Eine Breite von 2,32 m gut unterbringen, ein 2+2-Sitzteiler mit zufriedenstellenden Sitz- und Gangbreiten aber erst ab weitere Besonderheit weisen die Wagen für einer Breite von 2,65 m verwirklichen lasse. Damit Paris auf, welche aufgrund ihres Einsatzberei- brächten Breiten zwischen 2,32 und 2,65 keinen ches auf für den Straßenbahnbetrieb ange- maßgeblichen Vorteil.

207 Anhang

Montpellier Orléans Lyon Paris Typ 401 301 302 302 Länge [m] 40,970 29,860 32,330 32,200 Breite [m] 2,65 2,32 2,40 Fußbodenhöhe [mm] 600/350 350 Niederfluranteil [%] 76 64 100 Gewicht leer [kg] 52.000 36.700 37.700 38.000 Sitzplätze 76 40 56 52 Stehplätze bei 4 Personen/m² 213 136 145 166 Höchstgeschwindigkeit [km/h] 70 80 70 Motorleistung [kW] 6 x 140 4 x 140 4 x 120 Nennspannung [V=] 750 Achsfolge Bo’ 2 2 Bo’ Bo’ 2 Bo’ Bo 2 Bo Raddurchmesser neu [mm] 590

Tab. 40: Technische Daten Citadis185

Alle Citadis-Wagen sind mit Drehstrom-Antrieb versehen sowie normalspurig und mit Aus- nahme der Rotterdamer Fahrzeuge für den Zweirichtungsbetrieb ausgelegt. Letztere neh- men innerhalb der Citadis-Familie eine Sonder- stellung ein, stellen sie doch quasi eine Paral- lelentwicklung dar. Auch wenn die grundsätzli- chen Konstruktionsprinzipien und die Struktur des Wagenaufbaus weitgehend dem regulären Citadis entsprechen, so finden sich doch tech- nische und gestalterische Unterschiede, welche weit über die sich aus dem Einrichtungsbetrieb ergebenden Differenzen, Türen nur auf einer Seite und nur ein Führerstand, hinausgehen.

Abb. 225: Citadis Bordeaux, Rücksicht-Kamera

Abb. 224: Citadis Orléans, man beachte die äu- ßerst ansehnliche Dachpartie mit weitgehend ab- geblendeter technischer Ausrüstung

185 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und Mittelflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2002 Abb. 226: Citadis Bordeaux, Innenraum

208 Anhang

Abb. 227: Incentro Nantes

5.2.6 Incentro AT6/5L flurwagen des Citadis-Typ. Dabei liegen ange- triebene zweiachsige gefederte Losradfahr- Nachdem Nantes zur Eröffnung seiner zweiten werke wiederum unter den recht langen Kopf- Straßenbahnlinie zwischen 1992 und 1994 modulen sowie Laufradgestelle mit Losrädern noch auf Nachlieferungen des bewährten TFS- unter einem mittigen Gelenkwägelchen. Zwi- Typs zurückgriff, entschloss man sich mit der schen Kopf- und Gelenkmodul ist jeweils ein Inbetriebnahme einer neuen Linie 3 sowie der Fahrgastmodul schwebend eingehangen. Die verlängerten Linie 1 einen zweiten Wagentyp Wagenkästen sind geschweißt und bestehen zu beschaffen. Nach Straßburg entschied sich im Gegensatz zu vorangegangen Aluminium- auch Nantes zum Bezug eines ausländischen konstruktionen wieder aus nichtrostendem Produktes, und zwar des Fahrzeuges Incentro Stahl. Je zwei zweiflügelige Türen pro Seite vom Hersteller ADtranz, heute Teil des Bom- finden sich in den Fahrgastmodulen, darüber bardier-Konzerns.186 hinaus je eine am vorderen Ende der Kopfmo- Wie der Citadis stellt der Incentro ein System- dule. Der Wagen ist vollständig klimatisiert. Bei fahrzeug dar, welches modular aufgebaut ist. der Inneneinrichtung stehen wie bei der Euro- Auch hier wird mit diesem Konzeptansatz ver- tram zunächst Aspekte des Designs, insbeson- sucht, bei möglichst weitreichender Variabilität dere zur Schaffung eines Eindrucks der Ge- der Fahrzeuggröße und des optischen Erschei- räumigkeit, im Vordergrund. nungsbildes eine schnellere Auslieferung, eine Entsprechend der Weiterentwicklung des größere technische Zuverlässigkeit und eine Leichtbaus lassen sich auch beim Incentro wie Minimierung von Wartungskosten zu erreichen, schon bei der Eurotram und dem Citadis deut- indem erprobte Systemkomponenten zum Ein- liche Gewichtsvorteile gegenüber den älteren satz kommen. TFS 2-Straßenbahnen ausmachen. Sogar ge- Der Incentro von Nantes ist ein sechsachsiger genüber den existierenden TFS-Fahrzeugen in Zweirichtungswagen, entsprechend dem Stand Nantes, die aufgrund ihrer Hochflurigkeit ge- der Technik mit Drehstromantrieb. Er weist genüber dem TFS 2 ein weitaus geringeres eine durchgehende Niederflurigkeit bei einer Gewicht aufweisen, ist der Incentro um rund Fußbodenhöhe von 350 mm auf. Der Wagen- 20%, leichter. Zu beachten ist aber die für ein aufbau ist vergleichbar mit den 100%-Nieder- sechsachsiges Fahrzeug enorme Längenaus- dehnung von über 36 m, wodurch sich sehr hohe Radlasten und große Fahrzeugüberhänge 186 Zum Incentro vgl. HONDIUS, Harry: INCENTRO® – Die neue Systemstraßenbahn von Adtranz; stadtverkehr von 4,80 m bei Kurvenfahrten ergeben. 6/2000

209 Anhang

Der Incentro weist diverse konstruktive Ge- meinsamkeiten mit dem ebenfalls unter ADtranz-Regie gefertigten Eurotram-Wagen auf. Allerdings wurden einige technischen Schwachpunkte der Eurotram-Konstruktion verbessert: So besitzt der Incentro aufgrund der kürzeren Schließzeiten und der geringeren technischen Anfälligkeit wieder zweiflügelige und damit schmälere Türen. Daneben weist das Fahrzeug etwas breitere Durchgänge in den Gelenken auf. Insbesondere hervorzuhe- ben ist aber der deutlich geringere Anschaf- fungspreis. Allerdings fand die noch in der Eurotram vorhandene Luftfederung keine Be- achtung mehr. Nantes erhielt zunächst 23 Incentro-Fahrzeu- ge, Baujahr 2000/01 zum Stückpreis von 11,75 Mio FRF (ca. 1,8 Mio €). Weitere Wagen wer- den derzeit ausgeliefert. Am 2. September 2000 konnte das erste Fahrzeug offiziell der Bevölkerung vorgestellt werden. Der Prototyp, welcher ebenfalls in Nantes getestet wird, ver- bleibt dagegen beim Hersteller Bombardier. 15 weitere Fahrzeuge, allerdings rund 3 m kürzer, gehen nach Nottingham.

Incentro Länge [m] 36,400 Breite [m] 2,40 Fußbodenhöhe [mm] 350 Niederfluranteil [%] 100 Gewicht leer [kg] 38.900 Sitzplätze 64 Stehplätze bei 4 Perso- 182 nen/m² Höchstgeschwindigkeit 80 [km/h] Motorleistung [kW] 8 x 45 Nennspannung [V=] 750 Achsfolge Bo 2 Bo Raddurchmesser neu [mm] 660

Tab. 41: Technische Daten Incentro187

187 HONDIUS, Harry: Entwicklung der Niederflur- und Mittelflurstraßen- und Stadtbahnen; stadtverkehr 1/2002

210 Anhang

211 Quellen

5.3 Quellen

Eine populärwissenschaftliche Bestandsaufnahme der Systeme wurde bereits publiziert:

GRONECK, Christoph: Neue Straßenbahnen in Frankreich Die Wiederkehr eines urbanen Verkehrsmittels EK-Verlag GmbH Freiburg; 2003

5.3.1 Periodika

La Vie du Rail; Paris Tramways & Urban Transit; Ian Allan Publishing Ltd; Hersham International (Der öffentliche Nahverkehr in der Welt); UITP; Brüssel Stadtverkehr; EK-Verlag GmbH; Freiburg Straßenbahn-Magazin; Gera-Nova-Zeitschriftenverlag GmbH; München Regionalverkehr; schulz-bildundtext; Dagebüll Nachrichtenblatt; Arbeitskreis Schienenverkehr im Rheinland; Köln

Genaue Angaben zu Titel, Autor und Erscheinungszeitpunkt eines Beitrages, auf den Bezug genommen wird, sind direkt in der zugehörigen Fußnote vermerkt.

212 Quellen

5.3.2 Unterlagen der Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen

Communauté Urbaine de Bordeaux Connex Bordeaux (CGFTE) Syndicat mixte des transports en commun de l’agglomération caennaise Syndicat mixte des transports en commun de l’agglomération clermontoise Sytral, Lyon Transports en Commun Lyonnais (TCL) Syndicat mixte des transports en commun de l’agglomération grenobloise Société d'économie mixte des transports de l’agglomération grenobloise (Semitag) Syndicat mixte d’exploitation des transports en commun de l’agglomération de Lille Transpole, Lille Communauté urbaine du Mans Communauté urbaine de Marseille-Provence-Métropole Régie des transports de Marseille Communauté d’agglomération de Montpellier Transport de l’agglomération de Montpellier (TAM) Communauté urbaine de l’agglomération nantaise Societe d'économie mixte des transports en commun de l'agglomération nantaise (Semitan) Communauté de communes de l’agglomération orléanaise Société d'Exploitation pour les Transports de l'Agglomération Orléanaise (Semtao) Syndicat intercommunal de l’agglomération mulhouseienne (Sitram) Communauté d’agglomération Nice Côte d’Azur Communauté d’agglomération Rennes Métropole Communauté d’agglomération rounennaise Transports en commun de l'agglomération rouennaise (TCAR) Communauté urbaine de Strasbourg Compagnie des transports strasbourgeois (CTS) Syndicat mixte des transports en commun de l’agglomération toulousaine Saint-Etienne Métropole Société des transports urbains de l’agglomération stéphanoise (STAS) Communauté d'aglomération Toulon Provence Méditerranée (Sitcat) Syndicat intercommunal des transports urbains de la région de Valenciennes Régie autonome des transports parisiens (RATP) Syndicat des transports d'Ile-de-France (STIF) Réseau Ferré de France (RFF)

213 Quellen

5.3.3 Unterlagen der Fahrzeugindustrie

Alstom Transport ABB Daimler-Benz Transportation GmbH

5.3.4 Offizielle Organisationen; Statistische Daten

CERTU; http://www.certu.fr MINISTÈRE DE L’EQUIPEMENT/DIRECTION DES TRANSPORTS TERRESTRES; http://www.transports.equipement.gouv.fr GART; http://www.gart.org

214 Quellen

5.3.5 Bücher/Ausarbeitungen

CHRISTADLER, Marieluise und UTERWEDDE, Henrik (Hrsg.): Länderbericht Frankreich; Bundes- zentrale für politische Bildung; Bonn 1999 COMMUNAUTÉ URBAINE DE STRASBOURG: Rapport annuel de l’observatoire des effets du tram- way; Straßburg März 2003 DISTRICT DE L’AGGLOMÉRATION NANTAISE: Évaluation socio-économique du tramway – Syn- thèse des études; Nantes 1998 GRUHL, Detlef: Schnellverkehr in Ballungsräumen; Alba Verlag Düsseldorf; 1975 HAEFELI, Ueli: Der finanzielle Handlungsspielraum städtischer Verkehrspolitik; Wuppertal Papers Nr. 85; Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie; September 1998 HINKEL, Walter J.; TREIBER, Karl und VALENTA, Gerhard: U-Bahnen Gestern – Heute – Morgen; Compress Verlag; Wien 1993 HÖLTGE, Dieter: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland; EK-Verlag Freiburg; verschiedene Bände JOCHIMSTHALER, Anton u.a.: 100 Jahre elektrische Eisenbahn; Josef Keller Verlag; Starnberg 1979 LEBRETON, Joël und BEAUCIRE, Francis: Transports publics et gouvernance urbaine; Éditions Mi- lan; Toulouse 2000 LITRA: Weltweite Renaissance des Trams; Pressedienst Nr. 6/99-2 MULLER, Georges: Die neue Straßenbahn in Straßburg; Grüne Reihe Nr. 31 Renaissance der Stra- ßenbahn; Uni Kaiserslautern Dezember 1995 MULLER, Georges: Generation Tram; Editions Oberlin; Strasbourg 2000 PATTISON, Tony (Editor): Jane’s Urban Transport Systems; Jane’s Information Group, Coulsdon, 2000 ROGGENKAMP, Helmut: Jahrbuch Schienenverkehr; Verlag Kenning; Jahrgänge 1982-1999 ROSSBERG, Ralf Roman: Geschichte der Eisenbahn; Sigloch Edition, Künzelsau SCHENK, Bas und VAN DEN TOORN, Maurits: Jahrbuch Europäische Straßenbahnen; Arbeitsge- meinschaft Blickpunkt Straßenbahn; Berlin; verschiedene Jahrgänge SCHLEIFE, Hans-Werner u.a.: Metros der Welt; transpress Verlagsgesellschaft mbH; Berlin 1992 SIEDLUNGSVERBAND RUHRKOHLENBEZIRK: Aktuelle Probleme des Nahverkehrs; Essen 1961 THOMAS COOK: European Timetable, Juni 2003 TRICOIRE, Jean: Un siècle de métro en 14 lignes; Éditions la vie du rail; Paris 2000 VDV (Hrsg.): Stadtbahnen in Deutschland; Alba Fachverlag; Düsseldorf Mai 2000

215 Quellen

5.3.6 Internetseiten (Auswahl)

AMTUIR: Le renouveau du tramway en France; http://www.cnam.fr/hebergement/amtuir/a_renouv.htm AMTUIR: Les transports urbains à travers le temps – les Tramways; http://www.cnam.fr/hebergement/amtuir/a_htram.htm AUSINA, Odile: Tramway System Strasbourg, France; http://www.eltis.org BEAUMADIER: L’histoire du Mongy; http://www.mongy.free.fr DE BOISSEZON, Jean Christophe: Montpellier Tramway; http://www.trans-montpellier.com DEMAISON, Guy: Et si le métro m’était conte; http://www.mie83.com/rtm/metro.htm DIRECTION DES TRANSPORTS TERRESTRES: Le transport collectif urbain – Île de France; http://www.transports.equipement.gouv.fr DUQUENNE, Raymond: 40 ans de tramways an France et au Bénélux; http://www.trains-fr.org/facs/40tram.htm FAUCHEUX, Olivier: Orléans et son Tramway; http://www.bde.enseeiht.fr/~faucheo/TramOrleans.html LE CHANU, Yves: Orléans – La Ligne; http://perso.wanadoo.fr/yves.lechanu.bustram/ligne2.htm MASSON, Daniel: Le site non officiel du Tramway de Strasbourg; http://mebres.lycos.fr/dmasson/tramway-strasbourg MEYER, Olivier: Transbus; http://www.transbus.org PRENTICE, John R.: French Tramway Systems; http://www.tramways.freeserve.co.uk/Frenchsy.htm RAILWAY TECHNOLOGY; http://www.railway-technology.com SNOTCL: Le Tram Lyonnais; http://www.snotcl.free.fr

216 Abbildungen

5.4 Abbildungen

© der Abbildungen Christoph Groneck 1999-2006 außer Abb. 2, Abb. 4, Abb. 5, Abb. 7, Abb. 8, Abb. 9, Abb. 10: Archiv Axel Reuther Abb. 41: SEMTAO, Orléans Abb. 54: Montpellier Agglo Abb. 162: Bombardier Transportation

217 Tabellen

5.5 Tabellen

Tab. 1: Transporträume über 250.000 Einwohner (ohne Paris) ...... 12

Tab. 2: ÖPNV-Betreiber in den Großstädten, 2000 ...... 17 Tab. 3: Bruttoaufkommen aus dem VT ...... 18 Tab. 4: Satz des VT in großen Transporträumen im Jahre 2000 ...... 19

Tab. 5: Stillgelegte Straßenbahnsysteme ab 1955...... 28 Tab. 6: Eröffnungen neuer Straßenbahnsysteme...... 38 Tab. 7: Straßenbahnlinien in Frankreich...... 39 Tab. 8: Streckenlängenentwicklung der Straßenbahnstrecken ...... 42 Tab. 9: Straßenbahnstrecken in Frankreich, Ende 1982 ...... 43 Tab. 10: Straßenbahnstreckeneröffnungen 1983 bis 2005 ...... 44 Tab. 11: Metrostreckeneröffnungen 1977 bis 2005, ohne Paris ...... 45 Tab. 12: VAL-Eröffnungen 1977 bis 2005...... 45 Tab. 13: Metrostreckeneröffnungen in Paris 1970 bis 2005 ...... 46 Tab. 14: Straßenbahnprojekte und ihre zeitliche Realisierung ...... 51 Tab. 15: Periurbane Projekte ...... 56 Tab. 16: Verwendete Oberbauformen...... 73 Tab. 17: Globalkosten spurgeführter Verkehrssysteme ...... 94 Tab. 18: Taktintervalle der französischen Straßenbahnlinien ...... 96 Tab. 19: Durchschnittliche Reisegeschwindigkeiten ...... 98 Tab. 20: Durchschnittliche Haltestellenabstände ...... 100 Tab. 21: Anteil der Umsteiger ...... 102 Tab. 22: Kapazitäten öffentlicher Verkehrsmittel ...... 104 Tab. 23: Betriebseinnahmen- und Ausgaben...... 106 Tab. 24: Fahrten pro Einwohner 1990 und 1999 ...... 109 Tab. 25: Beförderungsleistung der Straßenbahnsysteme in Tausend Fahrgästen/Jahr ...... 111 Tab. 26: Beförderungsleistung der Metrosysteme in Tausend Fahrgästen/Jahr...... 111 Tab. 27: Beförderungsleistung in der Île de France in Tausend Fahrgästen/Jahr ...... 111 Tab. 28: Tägliche Fahrgastzahlen auf den Straßenbahnlinien ...... 112 Tab. 29: Stadtgröße und Fahrgastzahlen ...... 113 Tab. 30: Anteil der Straßenbahn am ÖPNV-Gesamtaufkommen...... 115 Tab. 31: Prognosegenauigkeit der Fahrgastzahlen...... 116 Tab. 32: Wegeaufkommen ausgewählter Städte ...... 117

Tab. 33: Pkw in der BRD 1950-1980...... 125

Tab. 34: Erste Tunnelstrecken in Deutschland...... 132

218 Tabellen

Tab. 35: Neubaustrecken der Stadtbahnnetze Köln und Bonn...... 137 Tab. 36: Fahrzeuge der Straßenbahnnetze...... 196 Tab. 37: Technische Daten TFS...... 198 Tab. 38: Technische Daten TFS 2 ...... 201 Tab. 39: Technische Daten Eurotram...... 204 Tab. 40: Technische Daten Citadis...... 208 Tab. 41: Technische Daten Incentro ...... 210

219 Lebenslauf

5.6 Lebenslauf des Promovenden

ZUR PERSON Christoph Groneck, geboren am 5. Juli 1976 in Dinslaken, ledig

SCHULBILDUNG 1982-1986 GGS Köln-Worringen 1986-1995 Leibniz-Gymnasium Dormagen, Abitur am 7. Juni 1995

STUDIUM 1995-2001 Studiengang Bauingenieurwesen, Vertiefungsrichtung Verkehrsplanung und Ver- kehrssysteme an der Bergischen Universität Wuppertal, Diplom am 5. Februar 2001

BESCHÄFTIGUNGEN 2001-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BUGH Wuppertal am Lehrstuhl "Umweltver- trägliche Infrastrukturplanung und Stadtbauwesen", Prof. F. Huber 2002-2003 Befristete Beschäftigung beim Kreis Mettmann zur leitenden Koordination einer Fahrgasterhebung seit 2003 Verkehrsplaner beim Rhein-Sieg-Kreis

PRAKTIKA UND STUDENTISCHE NEBENTÄTIGKEITEN 1992 zwei Wochen Praktikum im Ing.-Büro Breiing, Dormagen, im Anschluss gelegentli- che Weiterbeschäftigung in den Schulferien 1995 drei Monate Praktikum im Baugewerbe bei der Adolf Rohde GmbH, Dormagen 1995-2001 Studentische Hilfskraft im Ing.-Büro Vössing, Köln und Düsseldorf, ca. 8 h/Woche 1997-2001 Studentische Hilfskraft an der BUGH Wuppertal am Lehrstuhl "Öffentliche Verkehrs- und Transportsysteme - Nahverkehr in Europa" bei Prof. C. Hass-Klau 2000-2003 regelmäßige Tätigkeit als Stadtführer im Rahmen des Besucherprogramms "Ausbau Schwebebahn" des Presseamtes Wuppertal bzw. der Wuppertaler Stadtwerke AG

220 Lebenslauf

PUBLIZISTIK seit 1997 redaktionelle Mitarbeit beim "nachrichtenblatt - Informationen zur Verkehrspolitik im Rheinland", Chefredakteur seit 2000 seit 2001 regelmäßige Veröffentlichungen in den Zeitschriften "stadtverkehr", "Straßenbahn- Magazin" und "Regionalverkehr" 2003 Veröffentlichung des Buchs "Neue Straßenbahnen in Frankreich" 2005 Veröffentlichung der Bücher "Rhein-Ruhr Stadtbahn Album 1" sowie "Köln/Bonn Stadtbahn Album" 2006 Veröffentlichung der Bücher "Rhein-Ruhr Stadtbahn Album 2" sowie "Metros in Frankreich"

SONSTIGES 1995 Förderpreis der Sparkasse Neuss für die beste Abiturleistung im Fachbereich Sozial- wissenschaft seit 1998 diverse Arbeiten für den Verkehrsclub Deutschland (VCD) 2002 Preisträger des Kölner Umweltschutzpreises für ein Busnetz-Optimierungskonzept 2003 Preisträger des Henry-Lampke-Preises der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V. seit 2004 Mitarbeit im Arbeitsausschuss 2.5 "Anlagen des öffentlichen Verkehrs" der For- schungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) 2006 zeitlich befristeter Lehrauftrag als Gastdozent für die Vorlesung Mathematik am ZVA-Fortbildungszentrum Dormagen-Knechtsteden

Stand: November 2006

221

Die vorliegende Arbeit wurde zwischen 2003 und 2006 im Fachzentrum Verkehr des Fachbereichs D, Abteilung Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal angefertigt.

An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Carmen Hass-Klau und Herrn Prof. Dr. Felix Huber für die wissenschaftliche Betreuung dieser Arbeit, ihre Unterstützung und vielerlei Anregungen sehr herzlich bedanken.