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Straßenbahnen und Stadtentwicklung

Heft 4.2016

Informationen zur Raumentwicklung Herausgeber Bundesinstitut fr Bau-, Stadt- Redaktionsschluss: 8. Juli 2016 und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt fr Bauwesen Die Beiträge werden von der Schriftleitung/ und Raumordnung (BBR) wissenschaftlichen Redaktion gezielt akquiriert. Der Herausgeber bernimmt keine Haftung fr Schriftleitung Harald Herrmann unaufgefordert eingesandte Manuskripte. Markus Eltges Die vom Autor vertretene Auffassung ist Robert Kaltenbrunner nicht unbedingt mit der des Herausgebers identisch. Wissenschaftliche Redaktion Klaus J. Beckmann Mathias Metzmacher Bezugsbedingungen: Jahresabonnement 72,00 € (6 Hefte einschl. Register) zzgl. Ver- Redaktion Daniel Regnery sandkosten (Inland: 10,80 €, Ausland: 19,80 €); Friederike Vogel Einzelheft 19,00 € (versandkostenfrei) – Preise incl. MwSt. Ihr Abonnement der Informationen Satz und Gestaltung Marion Kickartz zur Raumentwicklung hat eine Laufzeit von 12 aufeinander folgenden Monaten. Es verlän- Druck Bundesamt fr Bauwesen und Raumordnung gert sich um jeweils weitere 12 Monate, wenn es nicht spätestens 6 Wochen vor Ende der Verlag und Vertrieb Franz Steiner Verlag Laufzeit schriftlich beim Verlag gekndigt wird. Birkenwaldstraße 44 Siehe: www.bbsr.bund.de > Verffentlichungen 70191 Stuttgart > IzR Telefon +49 711 2582-0 Telefax +49 711 2582-390 Nachdruck und Vervielfältigung: [email protected] Alle Rechte vorbehalten

und Buchhandel ISSN 0303 – 2493 Straßenbahnen und Stadtentwicklung

Heft 4.2016

Inhalt

Seite

Klaus J. Beckmann Einfhrung 389 Mathias Metzmacher

Klaus J. Beckmann Bewährte und innovative Impulse fr städtische Mobilität 391 Mathias Metzmacher und integrierte Stadtentwicklung – die in Deutschland

Stephan Besier Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastruktur- 407 anlagen von Stadt- und Straßenbahn

Christoph Groneck Die moderne franzsische Straßenbahn. 421 Impulse fr ÖPNV und Stadtentwicklung in Europa

Meinhard Zistel Ohne Geld geht es nicht. 437 Finanzierung fr die Tram in der Stadt

Roland Priester Wirkungen von Straßenbahnen auf Wirtschaft und 455 Gebhard Wulfhorst Gesellschaft einer Stadt

Felix Huber Straßenbahnen und Elektromobilität 469

Norbert Diener GoWEST mit Tram 5 – Brgerdialog im projekt city 483 Hartmut Topp

Martin Haag Erfolgsfaktoren fr eine attraktive Tram in der Stadt – 491 Peter Schick Praxisbeispiel Freiburg

Gunnar Polzin Straßenbahn in und umzu. Strategien und Projekte 501 Iris Reuther einer brgerorientierten integrierten Stadtentwicklung

Klaus Benscheidt Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess 513 Michael Krech Heinz-Georg Leuer

Christian Korda Eine Regionalstadtbahn und Tram fr Erlangen!? 523 Josef Weber Was sie leisten soll und kann Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 389

Straßenbahnen und Stadtentwicklung

Einführung Klaus J. Beckmann Mathias Metzmacher

Es ist nicht lange her, da verabschiedeten die Bedarfe aktueller Stadtentwicklung und sich die Straßenbahnen aus dem Bild vieler städtischer Mobilität gebunden. Städte. „Modern“ war ein Ersatz durch Bus- systeme oder – in wenigen größeren Städ- Erfolgreiche Reurbanisierung, gelungener ten – durch U-Bahn- bzw. U-Strab-Systeme. Stadtumbau und konsequente Stadtrepa- Städte, die aus einer verantwortungsvollen ratur, deutliches Wachstum vieler Städte, konservativen Haltung heraus ihre Stra- neue Wohnquartiere – vielerorts tragen die ßenbahnsysteme bewahrten, haben dage- intensiven Bemühungen um die konkre- gen heute eine exzellente Ausgangslage für te Umsetzung der Ziele der „Europäischen eine nachhaltige Verkehrs- und Stadtent- Stadt“ Früchte. wicklung. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Ziele des Klimaschutzes, Zum Leitbild der Europäischen Stadt ge- der Energiewende wie auch des kommuna- hören auch eine deutliche Reduzierung len Umweltschutzes. Straßenbahnen sind des Autoverkehrs und eine Stärkung des Rückgrat nachhaltiger intermodaler Ver- Umweltverbundes. Die lebendige, attrak- kehrssysteme. Neu- und Umbauten dienen tive und kompakte Stadt der kurzen Wege Univ.-Prof. Dr.-Ing. einer bemerkenswerten Aufwertung von reduziert den Verkehr und bietet vielfältige Klaus J. Beckmann Stadträumen. Straßenbahnen sind wieder Ansatzpunkte auch für eine neue Mobili- ist Stadt-, Verkehrs- und Infrastrukturplaner, berät nach „in“ – nicht als Mode, sondern aufgrund tätskultur. Mehr Stadt – weniger Auto, so langjährigen Tätigkeiten in For- überzeugender Stärken. könnte man es auf den Punkt bringen. Not- schung, Lehre und Praxis mit wendig ist dabei allerdings, den steigenden seinem Büro „KJB.Kom – Prof. Die Straßenbahn tritt wieder selbstbewusst Mobilitätsanforderungen der Bewohner auf Dr. Klaus J. Beckmann“ vor und unübersehbar auf die städtische Büh- einem hohen Niveau zu entsprechen. allem Gebietskörperschaften. Er ist Vize-Präsident der ARL ne. Der Berliner Hauptbahnhof wird mit der sowie Mitglied verschiedener neuen Tram – vorbei am Amtssitz des Bun- Viele Städte, nicht nur die Metropolen, son- Akademien, wissenschaftlicher desverkehrsministers – auf ihrer alten Trasse dern auch viele kleinere Groß- und Mittel- Gesellschaften und Beiräte. wieder neu angebunden, nachdem sie vor städte befinden sich schon seit Jahren auf [email protected] Jahren auch den Alexanderplatz zurücker- diesem Weg hin zu einer postfossilen, urba- Mathias Metzmacher obert hat. In Ulm und Mainz werden gerade nen Mobilität, die gleichzeitig Teilhabe der ist Diplom-Geograph und im Verhältnis zum bestehenden Netz enor- Menschen und wirtschaftlichen Austausch leitet seit 2003 das Referat me Streckenerweiterungen gebaut. Auch ermöglicht. Die konsequente Umsetzung „Wohnen und Gesellschaft“ im München setzt wieder klar auf die Tram. In der Leipzig Charta bedeutet eine Zeiten- Bundesinstitut für Bau-, Stadt- zahlreichen französischen Städten sind und wende der innerstädtischen Mobilität und und Raumforschung. Sein Arbeitsschwerpunkt besteht in werden nach langer Zeit Straßenbahnen in des Stadtverkehrs. den aktuellen wohnungs- einer Form wieder eingeführt, die geradezu politischen Kernthemen aus eine Neu-Inszenierung der Stadt bedeutet. Vor dieser Kulisse spielt die Straßenbahn, der Bundesperspektive, er Diese Entwicklung verläuft zwar durchaus die Tram eine ganz wichtige Rolle für den arbeitet aber auch in aktuellen eigenständig, aber sie fällt zusammen mit Stadtverkehr der Zukunft. Sie verbindet Themen an den Schnittstellen zwischen Wohnen, Stadtent- stadtentwicklungspolitischen Megatrends. hohe und steigende Mobilitätsansprüche wicklung und Verkehr. Denn die Wiederkehr der Straßenbahn ist mit neuen Bedarfen in der verkehrlichen mathias.metzmacher@ keine modische Erscheinung, sondern an Erschließung innerstädtischer Quartiere, bbr.bund.de 390 Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Einführung

in der Anbindung neuer Wohngebiete und • Gerade dieses Leistungspotenzial ist ein großer Infrastruktur- und Bildungseinrich- möglicher Schlüssel für die notwendi- tungen. Straßenbahnnetze können einen ge Ausweitung des ÖPNV. Wenn man Großteil der Alltagsmobilität in der Stadt die ehrgeizigen Ziele beispielsweise der tragen und werden gleichzeitig gezielt als Stadt Zürich mit einer weiteren Redukti- Instrument der Stadtentwicklung einge- on des MIV um bis zu zehn Prozent ernst setzt. Die moderne Tram ist überdies ge- nimmt, kommt man gar nicht umhin, die stalterisch und stadträumlich so gut inte- tragende Rolle der oberirdischen Stadt- griert, dass sie mit zu einem struktur- und bahn zu stärken. Das bedeutet nicht, identitätsbildenden Baustein in der Neuge- dass es nur so geht. U- und S-Bahnen staltung von öffentlichen Räumen und Stra- sind in großen Großstädten das Rückgrat ßenräumen wird. des ÖPNV. Aber in den meisten Städten ist es nur mit mehr Tram möglich, den Um diese beiden Themen – Straßenbahn ÖPNV der Zukunft zu finanzieren. Um- als Säule des Umweltverbundes und als In- gekehrt gilt aber auch: Die Stunde der strument der Stadtentwicklung – geht es in Straßenbahn schlägt dann, wenn noch diesem IzR-Themenheft. deutlich mehr Menschen mit dem ÖPNV und dem Umweltverbund im Sinne der Den Impuls für diese Themen gibt die ak- o. g. Ziele unterwegs sind. tuelle, spektakuläre Entwicklung in vielen Städten Europas, vor allem in Frankreich • Die Straßenbahn in ihrer modernen und aber auch hierzulande. Die Dynamik der städtebaulich integrierten Form trägt zur Wiederkehr der Tram ist enorm und ihre Aufwertung innerstädtischer Straßen- Rolle sowohl für eine neue Mobilitätskultur räume und Plätze bei. Mit der Tram lässt als auch für die Stadtentwicklung ist offen- sich aktive Stadtgestaltung betreiben. kundig. Dabei zeigt sich mancherorts ein Ebenso wichtig ist es, die vielfach in ih- grundsätzliches Umdenken und andernorts ren früheren Entwicklungsphasen nicht eine konsequente Weiterführung des län- immer mit dem ÖPNV gut erschlosse- gerfristig angelegten Ausbaus der Straßen- nen Quartiere mit der Tram zu erschlie- bahn. ßen. Die neue Qualität und Attraktivität innerstädtischer Wohnquartiere stärken Wir möchten Sie, liebe Leserinnen und Le- die Basis dafür. ser, mit diesem Themenheft über die ak- tuellen Entwicklungen informieren und Wir freuen uns besonders, dass wir mit ei- Ihnen einen Einblick in die Ziele und stra- nigen Beiträgen ganz nah am aktuellen tegischen Konzepte der Kommunen sowie Geschehen sein dürfen. Noch während der Verkehrsbetriebe geben. der Entstehung dieses Heftes gingen neue Straßenbahnstrecken in Deutschland wie Analysiert man diese Konzepte und die auch in Europa in Betrieb oder sind gerade konkreten Vorhaben im Einzelnen, dann in Bau, von Palermo über Avignon, Mann- findet man klare Belege für einige zentrale heim, Bielefeld, Mainz, Ulm, Olsztyn oder Aussagen und Forderungen: Bydgoszcz – nur um einige stellvertretend zu nennen. Wir laden Sie ein, mit uns ein- • Straßenbahnen stellen einen Kern der zusteigen und auf eine kleine Reise in die Elektromobilität dar. Nicht nur das mas- zukünftige städtische Mobilität mit einem siv geförderte Elektroauto gehört dazu, seit über 100 Jahren bewährten Verkehrs- sondern gerade auch die Stadt-/Straßen- mittel zu gehen. bahnen mit einem enormen Leistungs- potenzial. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 391

Bewährte und innovative Impulse für Klaus J. Beckmann städtische Mobilität und integrierte Mathias Metzmacher Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

In vielen Städten gewinnt die Straßenbahn wieder an Bedeutung. Zahlreiche neue Straßen- bahnstrecken gingen in Betrieb oder sind im Bau. Die aktuellen Reurbanisierungs- und Stadtwachstumsprozesse mit entsprechenden Mobi- litätserfordernissen unterstützen diese Entwicklung ebenso wie die erforderliche Reduktion des Verkehrs mit klimarelevanten Verbrennungsmotoren. Straßenbahnen bedeuten effekti- ve Elektromobilität im Umweltverbund. Bei einer konsequenten Verknüpfung von stadtentwicklungspolitischen und verkehrlichen Gesichtspunkten offenbart die klassische Tram enorme Leistungspotenziale. Bei guten Pla- nungs- und Beteiligungsprozessen kann sie zudem zur städtebaulichen Aufwertung auch in städtebaulich sensiblen Innenstadtbereichen beitragen.

Stadt- bzw. Straßenbahnen sind wichti- von der Fußgänger- und Karrenstadt über ge Bausteine der zukunftsfähigen Gestal- Stadt­erweiterungen an Eisenbahnachsen tung des Verkehrs in mittleren und grö- zur Straßenbahn-/-/U-Bahnstadt ßeren Städten. Viele mitteleuropäische nach innen (Binnenverkehr) und nach au- – insbesondere deutsche – Städte bauen ßen zur S-Bahn-Stadt sowie danach zur ihre vorhandenen Netze aus, setzen neue flächenhaften Stadterweiterung der „Auto- Fahrzeuge ein und erweitern das Leistungs- Stadt“. angebot stark. Weltweit starten Städte, die Univ.-Prof. Dr.-Ing. fast „straßenbahn-frei“ waren, dynamische Technologiesprünge und organisatorische Klaus J. Beckmann Initiativen zum Neubau. Hohe Erwartun- Innovationen treiben diese Entwicklun- ist Stadt-, Verkehrs- und Infrastrukturplaner, berät nach gen gründen auf den positiven Erfahrun- gen ebenso wie aktuelle Anforderungen an langjährigen Tätigkeiten in For- gen vieler Straßen-/Stadtbahn-Städte bei die Stadtentwicklung wie Energiesparsam- schung, Lehre und Praxis mit der Stärkung des Umweltverbundes und als keit, Einsatz regenerativ erzeugter Energie, seinem Büro „KJB.Kom – Prof. Folgewirkung auf der Verbesserung der Le- Klimaschutz und Klimafolgenbewältigung, Dr. Klaus J. Beckmann“ vor bensqualität in den Städten (Wien, Zürich, Bewältigung knapper öffentlicher Finanzen. allem Gebietskörperschaften. Er ist Vize-Präsident der ARL Karlsruhe, Freiburg). Nicht nur Deutsch- Dies hat Folgen für die Rolle der einzelnen sowie Mitglied verschiedener land, sondern auch die Schweiz, Österreich Verkehrsmittel wie auch deren Verknüpfun- Akademien, wissenschaftlicher und andere Länder sind hier Vorbild. Die gen (z. B. „Umweltverbund“, „Mobilitäts- Gesellschaften und Beiräte. aktuelle Entwicklung zeigt weitere Potenzi- verbund“). [email protected] ale die es zu erschließen gilt. Mathias Metzmacher Der Umweltverbund aus öffentlichem Per- ist Diplom-Geograph und sonennahverkehr (ÖPNV), Fahrrad- und leitet seit 2003 das Referat 1 Stadt und Verkehr unauflösbar Fußgängerverkehr hat für die Ziele eines „Wohnen und Gesellschaft“ im verflochten nachhaltigen Stadt- und Regionalverkehrs Bundesinstitut für Bau-, Stadt- eine bedeutende Rolle und trägt zuneh- und Raumforschung. Sein Arbeitsschwerpunkt besteht in Stadtgründungen und Stadtentwicklung mend zur Sicherung der Teilhabe der Bür- den aktuellen wohnungs- sind ohne Verkehr und Verkehrsinfrastruk- ger bei. politischen Kernthemen aus turen nicht denkbar. Kreuzungen von der Bundesperspektive, er Fernverkehrswegen waren ebenso Anlass Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, arbeitet aber auch in aktuellen für Stadtgründungen wie große Verkehrs- die Rolle der Straßenbahn, der „Tram“ in Themen an den Schnittstellen zwischen Wohnen, Stadt- erzeuger (Märkte, Klöster, Machtzentren, der Stadtentwicklung und im Umweltver- entwicklung und Verkehr. Häfen). Dank Systeminnovationen im Ver- bund wie auch in der stadtregionalen Ver- mathias.metzmacher@ kehrsbereich wuchsen Städte sprunghaft, kehrsentwicklung näher zu betrachten. bbr.bund.de

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 392 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

1.1 Die Straßenbahn als zukunftsfähiges gieträger deutlich reduziert und stattdessen Verkehrsmittel mehr regenerative Energiequellen genutzt werden. Das kann nur mit einer Stärkung Die Bezeichnung Tram ist unscharf und des Umweltverbundes erreicht werden. regional umgangssprachlich, gewinnt aber Leistungsfähige ÖV-Systeme sind ein zen- allmählich an Bedeutung (z. B. München, trales Rückgrat für die Förderung von Inter- , Zürich). Es werden damit Straßen- und Multimodalität im Stadt- und Regional- bahnen, d. h. Schienenbahnen, ohne be- verkehr. Insbesondere oberirdische Stadt-/ sonderen Bahnkörper nach BOStrab1 wie Straßenbahnen sind in vielen Städten zen- auch Stadtbahnen mit unabhängigen oder trale Bestandteile eines leistungsfähigen, besonderen Bahnkörpern umfasst.2 mit regenerativer Energie betriebenen bzw. betreibbaren öffentlichen Verkehrssystems Hinzu kommen auf der Basis von regelspu- – als Bestandteil des Umweltverbundes. rigen (Spurweite von 1.435 mm) Stadt-/ Straßenbahnen regionale Erschließungen Zudem sind auch als moderne Stadt- nach dem „Karlsruher Modell“, die auf Glei- und Straßenbahnen oft Objekte verschie- sen der DB AG sowie anderer Eisenbahnen dener positiver Emotionen in den Städten. nach EBO (Eisenbahnbau- und -betriebs- Dies gilt also nicht nur für die nostalgischen ordnung vom 08.05.1967) betrieben werden Bahnen in Lissabon, Wien oder Sóller. Es (S-Bahn/Stadtbahn und AVG Karlsruhe, sind keine rückwärtsgewandten Emotio- Saarbrücken, Regio-Tram nen, sondern Ausdruck der Wertschätzung sowie Chemnitz). von Umweltverträglichkeit, Nutzungskom- fort, vor allem aber auch der Sicherung von Erreichbarkeit und Teilnahmemöglich- 1.2 Stadtentwicklungs- und klimaschutz- keiten. Die Entwicklung von der Nostalgie politische Belange zum Rückgrat einer nachhaltigen urbanen Verkehrs- bzw. Mobilitätsentwicklung in Die Tram trägt zu einer aktiven Stadtent- Groß- und Mittelstädten ist überzeugend. wicklung bei. Sie ist bei gelungener Um- setzung stadtbildprägend und damit ein Trotz dieser positiven Hinwendung zur Instrument der städtebaulichen und stadt- Tram angesichts ihrer vielfältigen Qualitä- gestalterischen Entwicklung. Dies zeigt sich ten gibt es bei neuen Projekten immer auch auch am steigenden Bedarf, mit Hilfe der Widerstände. Sie resultieren oft aus einer Tram neue Standorte in der Stadt zu er- unzureichenden Wahrnehmung der tech- schließen und die Innenstadt aufzuwerten. nischen und gestalterischen Möglichkeiten Neue Hochschulstandorte und neue Quar- für eine gelungene Integration. Dies wird tiere werden mit der Tram als integralem im Rahmen guter Planungs- und Beteili- (1) Straßenbahn-Bau- und Bestandteil des Gesamtkonzepts realisiert, gungsprozesse sehr deutlich (siehe Beiträ- Betriebsordnung – BOStrab z. B. in Berlin oder die Überseestadt in Bre- ge Topp/Diener, Korda/Weber sowie Ben- men, der Zollhafen in Mainz oder die Hei- scheidt/Krech/Leuer in diesem Heft). (2) Straßenbahnen sind „stra- delberger Bahnstadt. Die aktuelle Wachs- ßenabhängige Bahnen“, die tumsphase mit neuen Wohngebieten wird Die wichtigsten inhaltlichen Dimensionen entweder den öffentlichen Verkehrsraum nutzen, sich dies noch einmal verstärken. Die steigen- von „Straßenbahnen und Stadtentwick- dabei an die Eigenart des den Mobilitätsanforderungen sind auch im lung“ werden systematisch im Zusammen- Straßenverkehrs anpassen innerstädtischen Bereich vielfach nur mit hang mit folgenden Zielen betrachtet: und einen straßenbündigen Bahnkörper haben (§ 4 Abs. 1 neuen Tramstrecken zu gewährleisten, da Nr. 1 BefG i. V. mit § 16 Abs. 1 die Flächenbeanspruchungen und Emissio- • eine nachhaltige, energie- und ressour- Nr. 4 BOStrab) oder einen „be- ceneffiziente sowie umwelt- wie auch sonderen Bahnkörper“ haben, nen von Kraftfahrzeugen der Erschließung der im Straßenraum liegt, aber sowie der Sicherung von Stadtqualitäten in sozialverträglichen Stadtentwicklung: vom übrigen Verkehr durch Lebensqualität ist das Ziel ortsfeste Hindernisse getrennt Innenstädten und Quartierszentren zuneh- ist (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 PBefG i. V. mend Grenzen setzen. mit § 16 Abs. 4 Nr. 2 BOstrab). • eine anspruchsvolle städtebauliche Ge- Stadtbahnen mit unabhängigen staltung; Gestaltqualitäten und Baukul- Eine weitere, zentrale Dimension kommt Bahnkörpern sind vom übrigen tur sind die Ziele Verkehr unabhängig (§ 4 hinzu: Die Einhaltung der Klima(schutz-) Abs. 2 PBefG i. V. mit § 16 Abs. 4 Nr. 3 und § 16 Abs. 7 ziele kann nur erreicht werden, wenn im • eine zukunftsfähige Verkehrsentwicklung BOStrab). Verkehrsbereich der Einsatz fossiler Ener- – vor allem mit den zentralen Bausteinen Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 393

des Umwelt- bzw. Mobilitätsverbundes diesem Verkehrsmittel – bis auf Haltestel- und mit Einsatz regenerativer Energie- lenbereiche und Busspuren – keine eige- träger nen Flächenanforderungen zu bestehen schienen. Gerade die Führung der Busse im Straßenverkehr ist aber auch deren Schwä- 1.3 Die Tram in Leitbildern che infolge der Behinderungen durch den der Stadt- und Verkehrsentwicklung Straßenverkehr, d. h. durch Staus, Be- und Entladevorgänge u. ä. In der Stadt- und Ver- Die Verkehrsentwicklung der europäischen kehrsentwicklung der 1950er und 1960er- Großstädte war in der ersten Hälfte des Jahre hatte das Leitbild der „autogerech- letzten Jahrhunderts stark durch nicht- ten Stadt“ eine deutliche Wirkung. In der motorisierte Verkehrsmittel und vor allem Phase der „autogerechten Stadt“ erfolgte Massenverkehrsmittel wie Straßen- und unter Gesichtspunkten einer „modernen Stadtbahnen, U- und S-Bahnen sowie regi- Verkehrsentwicklung“ in vielen Städten die onale Eisenbahnen geprägt. Aufgabe von Straßenbahnen zu Gunsten eines weiteren Ausbaus von Bussystemen Räumlich flexible Führung von Stadt-/Stra- (z. B. , Kiel, Aachen, West-Berlin) ßenbahnen und ihre gute Einpassbarkeit bzw. von U-Bahn-Systemen (z. B. Hamburg, in vorhandene Stadt- und Siedlungskörper West-Berlin, z. T. München). haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich die Straßenbahnnetze mit ver- Verkehrsgerechte Stadt schiedenen Phasen der Stadterweiterung abgestimmt entwickelt haben. Dies gilt z. B. Diese Phase ging in den 1970er- und 1980er- für gründerzeitliche Stadterweiterungen, Jahren über in die Phase der „verkehrsge- für die Stadterweiterungen des sozialen rechten Stadt“ mit Dominanz des Infra- Wohnungsbaus der 1920er/1930er-Jahre strukturausbaus von (Hochleistungs-)Stra- und insbesondere die verdichteten (Groß-) ßen und (parallelen) schienengebundenen Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit. Die öffentlichen Nahverkehrssystemen. Trotz Straßenbahnen, zum Teil auch die Stadt- starker Förderung durch die Bundespoli- bahnen, waren und sind auch in histori- tik setzten sich bis auf Pilotprojekte Kabi- schen Städten mit klassizistischen Kernen, nen-Bahn-Systeme (H-, C-, M-Bahn) nicht zum Teil sogar mit mittelalterlichen Kernen durch. Ein wesentlicher Grund waren die eingefügt. Dies sind also typische „Stra- Probleme der städtebaulichen Integration ßenbahnstädte“. In diesen Städten wurden der häufig in der +1-Ebene geführten Bahn- unterirdische Führungen zumeist gar nicht systeme und deren erschwerte Zugänglich- oder nur teilweise erst nach entsprechen- keit sowie Verknüpfbarkeit mit nicht-moto- der Ausgestaltung von Fördermitteln des risierten Verkehrsmitteln. Bundes (z. B. Gemeinde-Verkehrs-Finan- zierungs-Gesetz GVFG) als U-Strab (Stutt- Menschengerechte Stadt- gart, Hannover, Bochum, Gelsenkirchen, und Verkehrsentwicklung Dortmund, Essen, Düsseldorf, Köln) oder als U-Bahn-Systeme (München, Hamburg, Erst Mitte/Ende der 1980er-Jahre waren Nürnberg, Frankfurt/Main) vorgesehen. die Verkehrsauswirkungen in den Städ- ten so belastend, dass mit Konzepten wie Autogerechte Stadt „Integrierte Verkehrsentwicklung“, Umwelt verbund, Verkehrsberuhigung, Tempo- In der Nachkriegszeit nahm die individu- 30-Zonen, Parkraummanagement/-bewirt- elle Motorisierung einen dynamischen schaftung eine „menschengerechte Stadt- Aufschwung. Vermeintliche Flächenkon- und Verkehrsentwicklung“ – mit Übergang kurrenzen des fließenden und ruhenden zu einer ressourceneffizienten und umwelt- Autoverkehrs mit Anlagen des Fuß- und verträglichen Verkehrsentwicklung – ange- Fahrradverkehrs und der straßenintegrier- strebt wurde. Damit kamen und kommen ten Stadt-/Straßenbahnen folgten. In die- auch die innerstädtischen schienengebun- sem Zusammenhang schienen Busse bes- denen Verkehrsmittel des ÖPNV im Stadt-/ ser integrierbar und den motorisierten Straßenraum wieder zunehmend ins Blick- Individualverkehr weniger störend, da bei feld.

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 394 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

2 Renaissance der Straßenbahnen Und nach wie vor gibt es eine Reihe von relativ großen Städten, in denen bis auf 2.1 Aktuelle Entwicklungen und Projekte weiteres eine Rückkehr zur Tram nicht ab- sehbar ist, auch wenn die bestehenden Die jüngeren Entwicklungen unterstreichen Busnetze teilweise an die Grenzen ihrer die dynamische Weiterentwicklung der Leistungsfähigkeit stoßen. Die größten Straßenbahn sehr eindrucksvoll. Städte – mit zum Teil ehemals ausgedehn- ten Netzen – ohne Tram in Deutschland Zieht man nur die Wiedereinführung sind neben Hamburg als einziger Metropo- der Tram in einigen wenigen Städten in le ohne Straßenbahn , Münster, Deutschland als Beleg für die Zukunft der Aachen, Wiesbaden, Kiel, Mönchenglad- Tram heran, erhält man zunächst ein wenig bach und Hagen; deutlich kleiner gehören beeindruckendes Bild. Spektakuläre Ent- unter anderem auch Bremerhaven oder wicklungen vollziehen sich jedoch in Frank- Hamm zu dieser Gruppe. reich, China, der Türkei oder den USA, wo zahlreiche Städte ihre Straßenbahn kom- Die Gesamtheit der aktiven Tramerweite- plett wieder – oder auch erstmalig – einge- rungen der letzten Jahre zeigt eine beein- führt haben (siehe Beiträge Priester/Wulf- druckende Bilanz mit einer ausgeprägten horst und Groneck in diesem Heft). Dies ist Dynamik. Die nachfolgende Übersicht ist aber auch nicht weiter verwunderlich, denn dabei nur eine Auswahl der in jüngster Zeit in den meisten deutschen Städten haben in Betrieb gegangenen neuen Strecken oder die Straßenbahnen „überlebt“, man hat an der in Bau befindlichen Strecken. ihnen – im Sinne eines positiven und ab- gewogenen Konservatismus – festgehalten, Im Querschnitt über die jüngeren Vorhaben während sie im Ausland vielfach eingestellt insgesamt betrachtet ergeben sich hier eini- wurden. Aber auch hier muss konstatiert ge interessante Tendenzen: werden, dass einige Vorhaben der Reak- tivierung der Tram in Deutschland – aus • Wiedereinführung der Tram als Gesamt- unterschiedlichen Gründen – gescheitert projekt/-system: Saarbrücken, geplant: sind. Zu nennen sind hier auf jeden Fall Erlangen3, Oberhausen Hamburg und Aachen. Aber auch bei be- stehenden Straßenbahnbetrieben wurden • Auch in den „Stadtbahnstädten“, oft mit aufgrund von Widerständen aus der Bevöl- zuvor umfangreichen Tunnelbaumaß- kerung oder aus Teilen der Politik einige nahmen, investiert man wieder in ober- (3) Siehe hierzu auch Beitrag Projekte wieder verworfen (so in Frankfurt/ irdische Strecken: Bochum, Bielefeld, Es- Korda/Weber in diesem Heft. Oder, Oberhausen, Bielefeld). sen oder Frankfurt a.M.

• Netzerweiterungen und betriebliche Kapazitätsausweitungen über größere Fahrzeuge usw. sind in den mittleren Tabelle 1 Ausgewählte jüngere oberirdische Projekte Großstädten stark ausgeprägt: zusätzlich zu den in der Tabelle genannten Vorha- Ausgewählte Neubaustrecken als oberirdische Straßenbahn- und Stadtbahnprojekte ben Augsburg, Braunschweig, Magde- (Auswahl) burg oder Chemnitz Linie Messe 1. Bauabschnitt In Betrieb seit 2015 Freiburg Strecke Rotteckring In Bau Nach langer Phase des U-Bahn-Baus und Ulm Linie 2 In Bau des Rückzugs der Tram setzt man nun wie- Mainz Mainzelbahn In Bau, in Betrieb ab 12/2016 der klar auch auf die Straßenbahn: Mün- Bochum Verlängerung Linie 302 in Langendreer In Bau chen, Berlin und Nürnberg. In Mainz und Bielefeld Verlängerung Altenhagen/Milse In Betrieb seit 12/2015 Ulm sind spektakuläre Erweiterungen im Berlin Tramanbindung HBF In Betrieb seit 12/2014 Bau. In Ulm ist es sogar der kleinste Tram- Verlängerung Linie 4 von Thon nach In Bau, in Betrieb ab 12/2016 Nürnberg Am Wegfeld (mit Anschluss an geplante betrieb der alten Länder überhaupt, der Stadt-Umland-Bahn Erlangen) mit zuvor einer Linie nun 9 km neue Stre- München Tram Steinhausen In Bau seit 2/2016 cke zusätzlich baut. In Augsburg zeigt sich Stadtbahn Nord zum Waldfriedhof und In Betrieb seit 12.6.2016 die neue Bedeutung der Tram anhand der Mannheim Käfertaler Wald Umgestaltung des Bahnhofsbereichs und Quelle: eigene Recherche der innerstädtischen Verkehrsführung (vgl. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 395

Beitrag Topp/Diener in diesem Heft). Er- Stadtteilzentren als wichtige Radialen langen hat jüngst den Bau seiner Regional- des Stadtstraßensystems stadtbahn beschlossen, die unter anderem auch an die – im Bau befindliche – neue Die Systemmerkmale der Stadt-/Straßen- Tramstrecke im Nürnberger Norden an- bahnen sind Achsenerschließungen im Sin- schließen soll (vgl. Beitrag Korda/Weber). ne eines „transit-oriented development“. Siedlungserweiterung oder Siedlungsver- Die letzten 10 bis15 Jahre zeigen, dass in dichtung findet parallel zu leistungsfähigen zahlreichen Städten in Deutschland und ÖPNV-Achsen und dort vor allem an Halte- im europäischen Ausland nach einer lan- punkten statt. An Haltepunkten bietet sich gen Phase der Schrumpfung und Stagna- durch die Zu- und Abgänge der Fahrgäste tion die Straßenbahn wieder ihre zentrale in Verbindung mit vergleichsweise hoher Rolle im städtischen Nahverkehr zurücker- Siedlungsdichte die Errichtung von Ver- hält und einen hohen Beitrag zur Stärkung sorgungszentren und Angeboten der sozi- des ÖPNV leisten kann. Neue Strecken in alen Infrastruktur (Schulen, Verwaltungen den Innenstädten wie auch Erweiterungen …) an. So entstehende Stadtteilzentren, und Verlängerungen der Streckennetze zu Mischnutzungen an diesen Standorten mit neuen Wohngebieten oder zu größeren In- Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Verwal- frastruktureinrichtungen, dichtere Takte, tungseinrichtungen, Schulen u. ä. gleichen, moderne Fahrzeuge u. ä. stärken das Sys- zumindest partiell, die Richtungsbelastun- tem Stadt-/Straßenbahn als Teil des städ- gen der Straßenbahnen aus, was wiederum tischen Nahverkehrs und als Baustein im eine effizientere Nutzung der die Kapazitä- Umweltverbund. Ohne Tram wären solche ten der Straßenbahnangebote ermöglicht. Ausweitungen des ÖPNV bei weitem nicht so effektiv, umweltverträglich und relativ Die Praxis zeigt, dass die Tram durch ihre kostengünstig umzusetzen. spezifischen Systemmerkmale gerade im Kontext des Leitbildes „Europäische Stadt“ vielfältige Einsatzmöglichkeiten bietet. So 2.2 Breites Einsatzspektrum der Tram erscheinen ÖV-Achsen für Stadt-/Straßen- für den Stadtverkehr bahnen als geeignet, die minimal 2000 Fahr- gäste/Tag und Richtung aufweisen, aber Welche städtebaulichen Aufgaben sind nun bis zu 20.000/100.000 Fahrgäste/Tag und besonders für einen Einsatz der Tram geeig- Richtung aufnehmen können. Das entspre- net? Die Einsatzmöglichkeiten von Stadt-/ chende Fahrgastaufkommen entstammt Straßenbahnen im städtischen und stadtre- den fußläufigen Einzugsbereichen und zu- gionalen Zusammenhang sind: sätzlich den mit Fahrrädern und Pedelecs erschlossenen Einzugsbereichen sowie aus • Erschließung von Stadterweiterungen der Verknüpfung mit Bussen (Standardbus- und von Siedlungsachsen im suburba- se, Quartiersbusse, Rufbussysteme etc.). nen Raum Insofern sind Straßenbahn-/Stadtbahnsys- • innere Erschließung von städtischen teme mit wenigen Streckenführungen (z. B. Brachflächen und von bisher nicht aus- mit Durchmesserlinien) typisch für ein- reichend mit leistungsfähigem ÖPNV er- zelne Mittelstädte und kleinere Großstäd- schlossenen Stadtquartieren/Siedlungs- te mit bis zu ca. 100.000 Einwohnern (vor achsen – im Rahmen von „Stadtumbau“ allem in Ostdeutschland: Plauen, Halber- („Brownfields“) und nachholender inne- stadt, Jena, Schwerin, Cottbus, Frankfurt/ rer Erschließung der Innenstadt Oder, Görlitz).

• Erschließung von „großen Verkehrser- Straßenbahnnetze mit mehreren Radial- zeugern“ wie Sport- und Freizeiteinrich- und Diagonallinien, evtl. auch einzelnen tungen, Universitäten oder wichtigen ge- Ringlinien finden sich vor allem in mittleren werblichen Standorten und öffentlichen Großstädten (100.000 – 400.000 Einwohner) Einrichtungen als Arbeitsplatzstandorte (z. B. Karlsruhe, , Freiburg, Braun- schweig, Augsburg, Ulm, Nürnberg, Mainz, • gestalterische Aufwertung von Stadt-/ Bochum) sowie in großen Großstädten Straßenräumen in Innenstädten und mit einem vermaschten und vor allem in

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 396 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

der jeweiligen Innenstadt eng verknüpf- nur besonders hoch ausgelastete Strecken ten System (ab 500.000 Einwohner: Berlin, betrifft. München, Köln, Düsseldorf, Frankfurt/ Main, Essen, Dortmund, Hannover, Leipzig, Trotz der vielen günstigen Konstellationen Dresden). Die Übergänge sind fließend und von leistungsfähigen Straßenbahnsyste- die Ausbildung der Straßenbahnnetze ist men mit positiver Entwicklungsdynamik immer auch im Zusammenhang mit ggfs. in Richtung auf Ausbau und Erweiterung vorhandenen U-Bahnlinien, aber auch mit darf allerdings nicht verkannt werden, dass S-Bahn- und Bus-Netzen zu sehen. So weist einige kleinere Mittelstädte wirtschaftliche Halle/Saale stellvertretend für einige mittle- Probleme im Betrieb ihrer Straßenbahn- re Großstädte ein vergleichsweise flächiges netze haben. Hohe Erneuerungsbedarfe zur und mehrfach untereinander verknüpftes Verbesserung der Barrierefreiheit und bei Netz als Hauptnetz auf, während Nürnberg bestehenden Strecken sowie angesichts der derzeit eher noch ein Ergänzungsnetz zur ausreichenden Leistungsfähigkeit von Bus- U-Bahn betreibt. systemen (Standardlinienbusse, Gelenk- busse, Doppelgelenkbusse …) gefährdet die Straßenbahnen bieten sowohl in den histo- Tram latent oder partiell. Entsprechende rischen als auch in den jüngeren U-Bahn- Diskussionen und teilweise auch Stilllegun- Städten zusätzliche Erschließungsoptio- gen finden in nur wenigen Städten statt, so nen. Diese ergeben sich aus den flexibleren unter anderem in Dessau, Görlitz und Mül- Führungsmöglichkeiten in Verbindung mit heim an der Ruhr. Umso eindeutiger beken- günstigen Investitionskosten (5–15 Mio. €/ nen sich kleinere Kommunen mit erhebli- km gegenüber 50–70 Mio. €/km, ja sogar chen Einwohnerverlusten zur Tram wie z. B. 100 Mio. €/km bei U-Bahnen bzw. U-Strab) Cottbus, /Havel, Plauen oder und den leichteren und aufwertenden Ein- Nordhausen. passungsmöglichkeiten in Straßenräume – insbesondere für Stadtbereiche zwischen den U-Bahn-Achsen. Dies gilt entsprechend 2.3 Erfolgreiche Nutzung des „Hase-Igel- auch für tangentialen Verkehrsbedarf als Prinzips: ‚Ick bün all dor’“ „Stadt-Umland-Bahnen“ (z. B. München oder schrittweise auch Berlin-West). Die Das Verkehrsverhalten der Bewohner und Straßenbahnnetze sind damit entweder als der Arbeitnehmer ist unter anderem geprägt Haupt- oder als Ergänzungsnetze ausgebil- durch die Lage der Stadtquartiere zu den ÖV- det, wobei zum Beispiel in München oder Angeboten, durch die Art und Bedienungs- Berlin nun durchaus die Bedeutung der häufigkeit des ÖPNV, durch die Verbindun- Tram wieder über die Ergänzung hinaus- gen zu wichtigen Wegezielen, aber auch wächst. durch das Tarifangebot und das ÖPNV-Mar- keting bzw. ÖPNV-Image. Das zumindest Die Konstellationen aus U-Bahn, U-Stadt- teilweise „habitualisierte“ Verkehrsverhalten bahn mit teilweiser Tunnelführung und ist aber durch die Entstehungsgeschich- teilweise oberirdischen Strecken sowie te von Baugebieten und ÖPNV-Angeboten oberirdischen Tramstrecken in der Innen- beeinflusst. Eine frühzeitige Bereitstellung stadt sind sehr vielfältig und häufig auch von leistungsfähigen und attraktiven ÖPNV- ein Resultat der oben beschriebenen Pa- Angeboten, v.a. schienengebundener Art radigmenwechsel in der Stadtentwicklung (Straßen-, Stadt-, U-Bahnen), ist ein wich- und im ÖPNV. So ist in Hannover neben tiger, wenn auch nicht ausschlaggebender den reinen U-Stadtbahnen in der Innen- Grund für die Wahl von Wohnstandorten stadt noch eine oberirdische Straßenbahn und fördert bei Einzug ein „multi-“ und mit Hochflurfahrzeugen verblieben, die mit „intermodales“ Verkehrsverhalten – insbe- erheblichem Aufwand umgebaut wird, aber sondere unter Nutzung des leistungsfähigen als Tram städtebaulich integriert verbleibt. ÖPNV in Verbindung mit nichtmotorisierten In Düsseldorf und Karlsruhe hat man sich Zugangsformen (Fußgänger, Radverkehr, gerade gegen den hier beschriebenen Trend Pedelec-Verkehr). Beckmann u. a. (2006) für eine Tunnellösung eines Teils der Tram zeigen für die Region Köln, dass Ziele von entschieden, was aber keinesfalls die schie- Umzügen und resultierendes Verkehrsver- nenfreie Innenstadt oder eine Abkehr von halten mit der individuellen Affinität zu Ver- der oberirdischen Tram bedeutet, sondern kehrsmitteln korrespondieren. Potenzielle Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 397

ÖPNV-Nutzer bevorzugen Standorte, die Stadtgebietes auf dem Gelände des ehe- eine hochwertige ÖV-Erschließung aufwei- maligen Freiburger Rieselfeldes verfolgte sen. Eine frühzeitige, d. h. der Bebauung eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsent- vorauslaufende ÖV-Erschließung wurde be- wicklung. Neben einer starken Verdichtung sonders gezielt und konsequent umgesetzt vor allem an der Haupterschließungsachse für die Baugebiete Rieselfeld/Freiburg (vgl. mit Funktionsmischung sollte von Beginn Beitrag Haag/Schick) und Parkstadt Schwa- an und auf Dauer ein nachhaltiges bzw. bing/München. Eine erst deutlich nach der stadtverträgliches Verkehrsverhalten der Bebauung und dem Erstbezug erfolgende Bewohner gefördert werden. Voraussetzun- Erschließung mit Stadt-/Straßenbahnen gen waren/sind: gute nicht-motorisierte beeinflusst spätere Wohnstandortwechsler Erreichbarkeiten im Quartier (Fußwege, („Neu-Hinzuziehende“). Nach Einzug be- Radverkehrsnetze) und vor allem eine Er- reitgestellte Verkehrsmittelwahloptionen schließung mit der Freiburger Stadtbahn der Straßen-/Stadtbahn ändern aber allen- von der ersten Stunde an. Die ersten Be- falls graduell und schrittweise das „habitu- wohner konnten bereits eine „Stadtbahn in alisierte“ Verkehrsverhalten der dort schon Betrieb“ nutzen (siehe Beitrag Haag/Schick länger Wohnenden. Die betriebswirtschaft- in diesem Heft). lichen Defizite einer vorauslaufenden hoch- wertigen Erschließung ohne entsprechende Nachfrage werden möglicherweise über die Koordinierte Siedlungs- und Verkehrs-Infra- Lebenszeit der Anlage durch eine frühzeitig strukturentwicklung Parkstadt Schwabing, bewirkte überproportionale ÖPNV-Nutzung München „überkompensiert“. Die Aussagen zu Freiburg gelten analog auch für die Erschließung der Parkstadt Koordinierte Siedlungs- und Verkehrs-Infra- Schwabing in München (vgl. Priester/Bütt- strukturentwicklung Freiburg-Rieselfeld ner/Wulfhorst, 2012, S. 26 ff.) in der Teil- entwicklung als Wohngebiet und der Neu- Die erste große und verdichtete Stadterwei- ordnung als Industrie- und Gewerbegebiet terung am Rande des bisherigen bebauten (6.000 Einwohner, 18.000 Arbeitsplätze).

Freiburg Rieselfeld

Quelle: Stadt Freiburg, Erich Meyer, Hasel

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 398 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

Koordinierte Siedlungs- und Verkehrs- heitlichen hochwertigen Gestaltungs-Duk- Infrastrukturentwicklung Glattalbahn im Kanton Zürich tus auf und wird überwiegend auf einem eigenen Bahnkörper geführt. In bewusster Eigenständigkeit gegenüber der Stadt Zürich und den Verkehrsbetrie- Das Konzept wurde bewusst siedlungs- und ben Zürich (VBZ) haben die Gemeinden im standortentwickelnd angelegt. Dies bedeu- Glattal gemeinsam mit dem Kanton Zürich tete zum Teil eine enge Führung der Stadt- ab 1990 ein Konzept für eine Stadtbahn bahn am Rande der relativ kleinen Orte, um entwickelt. Diese Initiative kam also von Standorte am Ortsrand zu ordnen sowie den Gemeinden aus dem engeren Umland aufzuwerten und im benachbarten Frei- von Zürich und zielte auf ausgezeichnete raum Standorte für verdichtetes Wohnen Verbindungsoptionen in das Stadtbahn-/ und vor allem Gewerbe zu entwickeln. Hier Straßenbahnnetz der Stadt Zürich (Rich- läuft die ÖV-Erschließung also der Sied- tung Hauptbahnhof), der Gemeinden un- lungsentwicklung voraus. tereinander und vor allem auch mit dem Flughafen Zürich-Kloten ab. Die Stimm- bürger des Kantons Zürich stimmten der zu 3 Straßenbahnen im Zusammen- diesem Projekt notwendigen Kreditvorlage hang des Stadtverkehrs 2003 zu. Die Plangenehmigung durch das Bundesamt für Verkehr erfolgte 2004, die Straßenbahnen sind ein Teilsystem des Realisierung bis 2010 in drei Bauabschnit- öffentlichen Personennahverkehrs von ten. Das Gesamtinvestitionsvolumen – d. h. Städten und Regionen. Sie sind damit mit ergänzenden Maßnahmen – beträgt ca. Rückgrat des Umweltverbundes in Städten; 650 Mio. SF. Die Stadtbahn weist einen ein- durch Sharing-Systeme von Pkw und Zwei- rädern zum modernen Mobilitätsverbund erweitert.

Glattalbahn Quelle: VBG Verkehrsbetrieb Glattal AG 3.1 Straßenbahnen als Beitrag zur Daseinsvorsorge im Bereich der Mobilität

In einer alternden Gesellschaft, in der gleichzeitig die finanzielle Leistungsfähig- keit der privaten Haushalte auseinander driftet, wird die Daseinsvorsorge im Leis- tungsbereich „Mobilität“ zunehmend wich- tig. Eine Sicherung von Teilhabe und Teil- nahme an sozialen und wirtschaftlichen, aber auch kulturellen sowie politischen Austauschprozessen setzt den Zugang zu Mobilitätsoptionen voraus. Neben den auf das engere räumliche Umfeld („Nahraum“) der Stadtquartiere oder der benachbarten Stadtteilzentren bezogenen nicht motori- sierten Mobilitätsformen von Fußgänger- verkehr, Fahrrad-/Pedelec-/E-Bike-Verkehr sind dies vor allem öffentliche Verkehrs- mittel unterschiedlicher Reichweite und Bedienungsqualität (U-Bahn, S-Bahn, Stadt- und Straßenbahn, Standardlinien- busse, Quartiersbusse, Rufbusse). Eine Erschließung der Gesamtstadt bzw. der Region für Nichtmotorisierte sowie für Per- sonen, die den Umweltverbund präferieren, setzt somit das Angebot eines leistungsfä- higen und komfortablen öffentlichen Per- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 399

sonennahverkehr voraus – vor allem auch Europäischen Kommission (2011) mit dem durch Straßen-/Stadtbahnen. Dabei sind Leitziel: „ (1) Halbierung der Nutzung der die Haltepunkte der Stadt-/Straßenbahnen mit konventionellem Kraftstoff betriebenen wichtige Punkte der Verknüpfung mit dem PKW im Stadtverkehr bis 2030; vollständi- nichtmotorisierten Verkehr und dem flä- ger Verzicht auf solche Fahrzeuge in Städ- chenerschließenden Individualverkehr. Als ten bis 2050“. intermodale „Mobilitätspunkte“ stützen sie auch die Zentrenfunktion von Quartieren Stadt- und Straßenbahnen sind elektrisch oder Stadtteilen. Dies setzt einerseits eine betrieben und damit – schon derzeit – zen- integrierte Stadt- und Verkehrsentwicklung traler Bestandteil der kommunalen „Elek- voraus und ermöglicht diese andererseits. tromobilität“. Dadurch erbringt der öf- fentliche Personennahverkehr (S-Bahnen, Die Siedlungsstrukturen sollten starke Gra- U-Bahnen, Straßen-/Stadtbahnen, Busse) dienten der Dichte haben, d. h. von den in deutschen Großstädten mehr als 60 % Haltestellen radial und zu den Achsen pa- der Transportleistung elektrisch. Dies er- rallel abfallende Dichten, um die mittleren öffnet kurz- und mittelfristig die Möglich- Zugangsentfernungen für Fußgänger und keiten einer Umstellung auf den Einsatz Fahrradfahrer zu begrenzen. Die verdichtete regenerativ erzeugter Energie (vgl. Beitrag Erschließungstiefe beträgt 600–800 m, die Huber in diesem Heft). Die Energieeffizi- erweiterte bis zu 1.000 m – mit Fahrrädern enz – ermittelt als „Benzinäquivalent“ (Li- und/oder Pedelecs sogar bis zu 2.000 m. Die ter pro Personenkilometer; vgl. UBA (2007) angestrebte Erschließungstiefe verdichteter und MVG (2014)) – ist schon bei einer ge- Bauformen leitet sich aus den folgenden ringen Auslastung der Steh- und Sitzplätze Grundannahmen ab: 10 Minuten Zulauf-/ der Straßenbahnen (20 %) deutlich höher Wegezeit, Gehgeschwindigkeit 70 m/min., als bei einem Pkw mit einem hochange- Umwegefaktor 1,2. Es ergeben sich ca. 600 setzten Besetzungsgrad von 1,5 Personen/ m Luftlinienentfernung. Diese Grundprin- Pkw. Es stehen 6,2 l/100 Pkm (Pkw) und zipien wurden bei der koordinierten Sied- 3,9 l/100 Pkm (Stadtbahn) gegenüber. Der lungsentwicklung und ÖPNV-Erschließung Pkw-Besetzungsgrad liegt aber häufig mit mit leistungsfähigen schienengebundenen 1,2 oder 1,1 Personen/Pkw deutlich niedri- Verkehrssystemen berücksichtigt (vgl. „Fin- ger, womit die Stadtbahn im Vergleich noch gerplan“ von Kopenhagen; „Hamburger günstiger ist. Dichtemodell“; „Transit-Oriented-Develop­ ment“; vgl. auch Projekt „Bahn.Ville I“, Die Emissionsbilanzen vor Ort sprechen 2004). in verdichteten und immissionsbelasteten Städten und vor allem in engen Straßenräu- men sehr überzeugend für Stadt-/Straßen- 3.2 Straßenbahnen zur Stärkung bahnen, da die Emissionen/Immissionen des Umweltverbundes – Lärm ausgenommen – nicht vor Ort ent- stehen, sondern an den Anlagen der Strom- Aktuelle energie- und klimapolitische erzeuger (regenerative Stromerzeugung aus Rahmen- und Zielvorgaben erfordern ein Wind-, Sonnen- und Biogasenergie, evtl. Überdenken der städtischen und regiona- auch Geothermie; Kohlekraftwerke, Atom- len Verkehrssysteme – mit einer Erhöhung kraftwerke, Gas- oder Müllkraftwerke). Ein des Anteils des Umweltverbundes an den grundsätzlicher Einsatz regenerativ erzeug- täglichen Wegen der Stadtbewohner wie ter Energie würde diese Vorteile noch deut- beispielsweise in München, Wien oder Zü- lich verstärken (CO, CO2, CnHm, NOx, PM; rich mit mehr als 70 %. In Zürich beruht vgl. Beitrag Huber oder MVG (2014)). die Zielzahl von 80 % auf einem Bürgerent- scheid (2012). 3.3 Modale Effekte des Stadt-/ Diese Ziele werden letztlich gestützt durch Straßenbahnangebotes in Städten die internationalen Vereinbarungen von Pa- ris zum Klimaschutz bzw. zur CO2-Reduk- Wie Stadtbewohner ihr Verkehrsverhalten tion (2015), die Sustainable Development aufteilen und welchen Verkehrsaufwand Goals (SDG’s) der UN (2015), aber auch sie betreiben, ist von Einflüssen wie Stadt- schon durch das „Weißbuch Verkehr“ der größe, Siedlungsstruktur, historische Ent-

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 400 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

wicklung und Prioritäten der Angebote aller pelung festzustellen (vgl. Naumann, 2009, Verkehrsträger sowie lokaler und regionaler S. 1 ff.; VDV-Statistik 2013). „Mobilitätskultur“ abhängig. INVAS u. a. (2011, S. 19 ff.) zeigen, dass auch bei „Stra- Die Erschließungspotenziale durch Stadt-/ ßenbahn-/Stadtbahnstädten“ der Anteil des Straßenbahnen liegen praktisch bei 80.000 ÖPNV am Wege-Modal-Split zwischen 3 % Fahrgästen pro Richtung, theoretisch sogar (Dessau) und 17 % bis 18 % (Berlin, Magde- bei bis zu 200.000 Fahrgäste pro Richtung, burg, Erfurt) schwanken kann. Der Straßen- (2- bis 5-Minuten-Takt), für Gelenkbus- bahnanteil am ÖV beträgt zwischen 46 % se maximal bei 20.000 Fahrgästen pro Tag (Chemnitz) und knapp 90 % (87 % in Mag- und Richtung, für U-Bahnen allerdings bei deburg, 88 % in Halle/Saale, 89 % in Gera). 100.000 bis 160.000 Fahrgästen. Eine Stadt-/ Gleichzeitig sinkt die Motorisierung mit der Straßenbahn mit 200 transportierten Fahr- Nutzungshäufigkeit des Umweltverbundes. gästen ersetzt zwei Gelenkbusse und mehr als 150 Pkw bei einem Besetzungsgrad von Eine grobe Analyse der Städte des Systems 1,25 Personen/Pkw. Bei einem 10-Minuten- repräsentativer Verkehrserhebungen (SrV) Takt könnten 6 Stadt-/Straßenbahnen pro für 2013 zeigt, dass der ÖV-Anteil des We- Stunde somit 12 Gelenkbusse oder 900 Pkw ge-Modal-Splits mit der Stadtgröße steigt, ersetzen. Eine derartige Dichte der Ge- aber insbesondere in Städten mit Straßen-/ lenkbusse würde aber zur Sicherung von Stadtbahnen deutlich über dem der Städte Störungsfreiheit und Zuverlässigkeit fast ohne Straßen-/Stadtbahnen liegt (vgl. auch zwingend Busspuren und deren Freihaltung IVAS/GBP/TU Dresden, 2011, S. 27 ff.) In vom Lieferverkehr und anderen Störungen Oberzentren bis 500.000 Einwohnern steigt erfordern sowie Vorrangschaltungen an den der ÖV-Anteil (Topografie flach/hügelig) Signalanlagen voraussetzen. Für den Kraft- von 9 %/12 % ohne Straßen-/Stadtbahnen fahrzeugverkehr sowie den zusätzlichen auf 16 %/15 % mit Stadt-/Straßenbahnen. Verkehr von Lkw und Lieferfahrzeugen Die Wirkungen der Angebotsqualitäten im wäre zur Erzielung einer vergleichbaren ÖPNV (d. h. insbesondere der Existenz von Leistungsfähigkeit eine Zweispurigkeit pro Stadt-/Straßenbahnangeboten) auf den Richtung erforderlich. Der Platzbedarf von Modal-Split der Wege werden deutlich er- Straßenbahntrassen ist somit im Vergleich kennbar. zu Busspuren und Kfz-Fahrstreifen deutlich geringer. Insbesondere „Wahlfreie“ werden durch ge- samte Qualitätsverbesserungen gewonnen. Die nachfolgende Tabelle stellt vergleichend Dies erfordert mindestens zehn-Minuten- ausgewählte Systemmerkmale von Stadt-/ Takte bzw. eine kürzere Taktung in Haupt- Straßenbahnen, U-Bahnen, Bus-Rapid- verkehrszeiten, Störungsfreiheit, Fahr- so- Transit-Systemen und Gelenkbussen dar. wie Zu-/Abgangskomfort und attraktive Ziel-Erreichbarkeit.

Werden nur die Stadtumbau-Städte mit 4 Städtebauliche Gestaltung und Straßen-/Stadtbahnen betrachtet, so steigen städtebauliche Integration bei hochwertigen Angeboten (Platz-km/ EW) die Fahrten mit Straßenbahnen (Strab) 4.1 Stadträumliche Einfügung – eine pro Einwohner und Jahr. Sie liegen zum Teil anspruchsvolle Aufgabe deutlich über der Gesamtzahl der ÖV-Fahr- ten pro Einwohner und Jahr aller betrach- Vor dem Hintergrund der neuen Projekte teten Städte, die im Mittel zwischen 80 und wird auch die Frage der städtebaulichen In- 120 Fahrten liegen: Augsburg 134, Bremen tegration von Straßenbahnstrecken intensiv 183, Dresden 192, Erfurt 160, Gera 142, Hal- diskutiert. In diesem Zusammenhang kann le/Saale 236, Karlsruhe 381, Leipzig 194. zunächst darauf verwiesen werden, dass aufgrund der relativ hohen Flexibilität der Der Vergleich verschiedener Städte zeigt Führung von Stadt-/Straßenbahnen und deutlich, dass die Menschen in Straßen- der relativ guten Einpassbarkeit in vorhan- bahnstädten und in Stadtbereichen mit dene Stadt- und Siedlungskörper die Stadt- Straßenbahnerschließung mehr ÖPNV- entwicklung der Hauptwachstumszeit mit Wege zurücklegen. Es ist fast eine Verdop- der Tram konform ging. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 401

Vergleich hochleistungsfähiger ÖPNV-Systeme

Hochwertige Bussysteme Merkmale Stadt-/Straßenbahnen U-Bahnen (Bus Rapid Transit) Doppelgelenkbusse Kapazitäten pro Zug/ 200–600 Fahrgäste 1.200 Fahrgäste 100–120 Fahrgäste 100 Fahrgäste Fahrzeug Transportkapazität 30.000 Fahrgäste 100–140.000 Fahrgäste 30.000 Fahrgäste 20.000 Fahrgäste (max pro h u. Ri) Fahrgastzahlen (mittlere 20–100.000 Fahrgäste/Tag 100–200.000 Fahrgäste/Tag 30–40.000 Fahrgäste/Tag 8–15.000 Fahrgäste/Tag reale Werte pro Tag) Flexibilität Bindung an Infrastruktur Bindung an Infrastruktur Bindung an Infrastruktur in hohe Flexibilität, Stadtkernbereichen, in Bindung an Straßen Außenbereichen flexibel Verknüpfungsoptionen mit SPNV im Umland mit Umsteigevorgängen zu mit allen Bussystemen mit allen Bussystemen („2-System-Fahrzeuge“) mit S- und Regionalbahnen Umsteigevorgängen zu U-/S-Bahnen und Bussen

Komfort hohe Laufruhe, hohe Laufruhe, geringere Laufruhe, geringere Laufruhe, Platzverfügbarkeit, Platzverfügbarkeit, beengte Platzverhältnisse beengte Platzverhältnisse, Niederflur Niederflur Barrierefreiheit Barrierefreiheit Zuverlässigkeit/ mittel hoch mittel gering, störungs-/ Störungsfreiheit (hoch mit durchgehender verspätungsanfällig ohne Zugsicherung) Bevorrechtigung Zugsicherung Stadt-/Straßenbahn mit Zugsicherung Sicht Sicht „Fahren auf Sicht“ Stadtbahnen mit „Zug- sicherung“ in Tunneln Einsatz regenerativer hoch hoch mittel (derzeit eher) gering, Energie aber möglich (E-Busse) Planungs- und hoch/mittel sehr hoch mittel gering Realisierungsdauer Finanzierung Bundes-GVFG, zum Teil Bundes-GVFG, zum Teil bislang kaum staatliche bislang kaum staatliche Entflechtungsmittel Entflechtungsmittel Fördermittel (unterschiedlich Fördermittel (unterschiedlich in Ländern) in Ländern) Flächenverbrauch mittel gering mittel gering oberirdisch Städtebauliche Aufwer- (sehr gut) möglich (sehr gut) möglich nur teilweise möglich (sehr gut) möglich tungsmöglichkeiten Steigerung Fahrgastzahlen hoch sehr hoch hoch, mittel mittel, gering gegenüber Bus Fahrzeugbreite (m) 2,25/2,30/2,50/2,65 2,65 2,50 2,50 Fahrzeuglänge (m) 20/30/40 70/80 12/18 18 Mindest-Zugfolge 2–3 Minuten 1,5 Minuten 2–5 Minuten 5 Minuten Doppeltrajektion (m) 60/80 160 – –

Höchstgeschwindigkeit 70 km/h 100 km/h 70 km/h 50 km/h

Beförderungs- 20 km/h 30–40 km/h 25 km/h 15–18 km/h geschwindigkeit Energieversorgung Gleichstrom, auch Misch- Gleichstrom Diesel, Gas, Elektro Diesel, Gas, Elektro betrieb mit Wechselstrom oder Hybrid (Diesel) möglich Basierend auf verschiedenen Quellen, u. a. VDV (2014)

Die Straßenbahnen sind daher in die his- es auch – vermeintliche wie reale – Konflik- torischen Städte vielfach gut eingefügt. te mit der Tram im Zentrum wie in Kassel Besonders deutlich kann man dies in den oder Karlsruhe, die einer sorgfältig abzuwä- Innenstädten von Halle/Saale, Erfurt, Frei- genden Lösung bedürfen. Auch außerhalb burg, Augsburg oder Görlitz sehen. Zahlrei- der unmittelbaren Zentren gehört die Tram che weitere Städte verfügen ebenfalls über in den gründerzeitlichen Stadterweiterun- vergleichbar bedeutende und attraktive gen und Magistralen sowie in den wieder- Stadträume mit einer Tram. Manchmal gibt aufgebauten Quartieren dazu.

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 402 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

Schwieriger wird es da, wo die städtebau­ Im Einzelnen sind jeweils unterschiedliche liche Struktur im Zuge neuer Leitbilder Systembestandteile und Anforderungen überformt wurde, insbesondere im Sinne für eine gelungene stadträumliche Integra- der autogerechten Stadt und der Umgestal- tion bedeutend (siehe hierzu den Beitrag tung der Zentren mit Fußgängerzonen, Ci- Besier in diesem Heft). Eine ganz zentrale ty-Ringstraßen usw. Wo dann auch U-Bah- Rolle spielen das eigentliche Gleisbett, in nen oder U-Stadtbahnen gebaut wurden, die Fahrbahn eingebaut bzw. eingepflastert verloren die Straßenbahnen den Bezug zur oder als separater Gleiskörper mit Schotter- städtischen Mitte und wurde nicht selten bett oder Rasengleis sowie die Haltestellen. an den Rand von großen Verkehrsachsen Dazu kommen die Oberleitungsanlagen verlegt. Insbesondere in kriegszerstörten incl. der Masten, vielfältige Signalanlagen Städten mit einer Auflösung von Teilen der und Nebenanlagen. Für alle diese Kompo- alten Grundrisse gingen oftmals die Quali- nenten ergeben sich Gestaltungsanforde- täten einer integrierten Tram verloren. Der rungen, die zum Beispiel im Sinne örtlicher Aus- und Umbau von ehemals repräsen- Gestaltungshandbücher gebündelt und ver- tativ gestalteten Stadtstraßen mit Tram zu einbart werden können. mehrspurigen Einfallstraßen ohne Aufent- haltsqualität führten ebenfalls zu einem Be- Die wohl schwierigste Aufgabe der städ- deutungsverlust der Tram. Sozusagen: „Aus tebaulichen Integration macht sich an den Augen, aus dem Sinn!“. separaten Bahnkörpern fest, die im Zuge des Ausbaus von Straßenbahnen zu Stadt- bahnen entstanden sind. Die Bauformen 4.2 Gestaltungsanforderungen und neue der Stadt-/Straßenbahnen bestimmen die Gestaltungsprinzipien im Stadtraum Möglichkeiten der städtebaulichen Integra- tion aber auch den Grad des störungsfreien Gerade weil die städtebauliche Integrati- Fahrbetriebs. Auch wenn die Förderbedin- on so aufwändig ist, lohnt der Blick auf die gungen des GVFG im Grundsatz einen be- zahlreichen mit Erfolg umgesetzten, ge- sonderen oder unabhängigen Gleiskörper planten oder in Bau befindlichen Projekte. erfordern, ist dies in Innenstadtbezirken, Im Zusammenhang mit einer intensiven d. h. insbesondere in gestalterisch sensib- Auseinandersetzung um städtebauliche An- len und schmalen Straßenräumen häufig forderungen an den öffentlichen Stadtraum nicht möglich. hat auch der Umgang mit den komplexen Planungsprozessen an Bedeutung gewon- Die unabhängigen Gleiskörper (in Außen­ nen. Neue Trambahnprojekte sind vielfach bereichen) wie auch die besonderen Anlass und zentrales Element der Aufwer- Bahnkörper – abgegrenzt durch nicht- tung von Straßen und Plätzen und prägend überfahrbare Hochborde – reduzieren die für die Stadträume. Die Auseinanderset- Störungsanzahl und -intensität des Be- zung mit den stadträumlichen Anforderun- triebs, schließen aber Störungen nicht aus. gen und Möglichkeiten ist dabei durchaus Signaltechnische Maßnahmen zur Siche- für verschiedene Maßstabsebenen relevant. rung einer „Pulkführung“ und „elektroni- So können ganze neue Strecken mit mehre- sche“ Zeitinseln an Haltestellen können ren Kilometern Länge bewusst mit der Tram Störungen und betriebliche Folgewirkun- gestaltet werden, während es anderswo nur gen wie eine Erhöhung der Reisezeit redu- ein bestimmter sensibler Stadtraum ist, der zieren und Fahrverläufe stabilisieren. eine besonders ausgeprägte städtebauliche Integration verlangt (vgl. Augsburg, Braun- Nicht überall bedeuten die eigenen Bahn- schweig). körper zwangsläufig ein Problem. Viele Strecken mit eigenem Bahnkörper können Wichtige Impulse für die Stärkung der Tram entweder in weniger dicht besiedelten oder ergeben sich damit auch aus der Reurbani- weniger sensiblen Stadträumen angelegt sierung, die wiederum mit neuen oberirdi- werden oder werden in einer Weise in der schen Straßenbahnstrecken in funktionaler inneren Stadt umgesetzt, dass sie hohe und gestalterischer Hinsicht unterstützt städtebauliche und funktionale Qualitäten werden kann. Neue Tramstrecken können aufweisen (u. a. München St. Emmeram). auch zur städtebaulichen Strukturbildung Ohne eine sensible Planung aber können beitragen. besondere Bahnkörper in der Stadt durch- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 403

aus erhebliche städtebauliche und funk­ öffentlichen Räumen, Straßenräumen und tionale Probleme mit sich bringen. Strittig Quartieren anstehenden städtebaulichen wird auch die Anlage von Hochbahnsteigen Aufgaben im Gesamtzusammenhang sehr im Straßenraum als städtebaulich kaum gut lösen kann. Beispiele dafür sind etwa zu integrierender Fremdkörper diskutiert. die Tramanbindung des Bahnhofs in Kas- In vielen Städten entfallen diese Probleme sel-Wilhelmshöhe oder der Königsplatz in durch die weitgehende Umstellung des Ge- Augsburg (siehe Beitrag Haag/Schick zu samtnetzes oder von Teilnetzen auf Nieder- Freiburg und zu Augsburg Beitrag Topp/ flurfahrzeuge. In anderen Städten wird man Diener in diesem Heft). aber zugunsten der barrierefreien Erreich- barkeit der Hochflurnetze bis auf weiteres Es lohnt sich, einmal seit langem beste- nicht ohne Hochbahnsteige auskommen hende Plätze mit Tram anzusehen wie den (Köln, Hannover Linie 10/17, Essen). Postplatz in Dresden, die eindrucksvoll in- szenierte Umfahrung des Maxmonumentes Noch grundsätzlicher ist der mit Straßen- in München oder die alten, im Krieg zer- bahnen verbundene Platzbedarf. Das be- störten oder danach verschwundenen gu- trifft sowohl den eigentlichen Straßenraum ten städtebaulichen Lösungen. Sie können mit der erforderlichen Integration des Gleis- vielleicht zu neu interpretierenden Formen körpers als auch die Anlage der Haltestellen der Gestaltung von Tram in der Stadt anre- im Straßenraum. Dabei ist festzustellen, gen. dass auch Busse mit hoher Leistungsfähig- keit einen entsprechenden Platzbedarf im Die eingepflasterte Form der Trassenge- Straßenraum haben. staltung ist vor allem verträglich(er) bei Führungen durch enge historische Stra- Der Platzbedarf macht sich also auch be- ßenräume und in den Innenstädten – even- sonders an den Umsteige- und Knoten- tuell mit intelligenter signaltechnischer punkten bemerkbar. Bei städtebaulich Freihaltung vom motorisierten Verkehr wichtigen Plätzen besteht das Problem da- („Zeit­inseln“, „Pulkführer“). Ohne Hoch- rin, dass man bei umfangreichen Gleis- und borde oder Trenngitter ergibt sich häufig Haltestellenanlagen viel Platz und eine gute die Chance einer grundlegenden Umgestal- Gestaltung benötigt. Das gilt aber auch für tung von Straßenräumen, die die Belange Busbahnhöfe. vielfältiger Nutzungen (Handel, Freiflächen vor Restaurants, Sitz-/Ruhe- und Spiel- Hinzu kommen Konflikte mit dem Radver- möglichkeiten) und eines intensiven und kehr und dem Fußgängerverkehr in den erlebnisorientierten Fußgänger- und Rad- zentralen Innenstadtbereichen, wenn sehr verkehrs vereinbart. dichte Taktfolgen in den Fußgängerzo- nen oder auf zentralen Plätzen bestehen. In Karlsruhe war dies u. a. Anlass für eine 5 Investitionen und Finanzierung Kombilösung. Tramlinien werden aktuell in einem Teil der Innenstadt in den Tunnel 5.1 Bau- und Betriebskosten, volkswirt- verlegt, während andere Streckenabschnitte schaftlicher Nutzen und Kosten oberirdisch bleiben. Meist überwiegen aber die Vorteile einer integrierten Tram mitten Straßen- und Stadtbahnen erfordern ma- im Stadtraum wie in Erfurt, Halle, Freiburg, ximal ein Siebtel, vielfach nur ein Zehntel München oder Berlin, aber auch in Witten der Investitionsmittel für Strecken von U- oder Brandenburg/Havel. Hier sollen natür- /S-Bahnen (7–10 Mio./km gegenüber 60– lich die französischen Städte wie Grenoble, 100 Mio./km). Ursache ist der weitgehende Montepellier, Bordeaux, Tour als positive Entfall von Ingenieurbauwerken wie Tun- Beispiele nicht unerwähnt bleiben (siehe nel, Brücken, Rampen, unterirdische Ver- Beiträge Huber, Besier, Groneck in diesem knüpfungsanlagen und Haltestellen sowie Heft). Zugänge, Treppen/Rolltreppen/Fahrstühle (vgl. Naumann, 2009, S. 2) und der vollstän- Die jüngere Entwicklung zeigt zudem, dass digen Signalisierung und Zugsicherung. man mit der Tram als konstitutives Ele- Die Baukosten der Stadt-/Straßenbahnen ment die vielfach im Rahmen von Stadt- umfassen jeweils den Unterbau, die Schie- reparatur und Neugestaltung von Plätzen, nenanlagen mit Weichen und Lärmdämp-

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 404 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

fungselementen, die Fahrleitungsanlagen, „stadtgestalterischen“ bzw. „baukulturel- Stromversorgung sowie die Haltestellen len“ Nutzen, der im Prinzip als „Stadtrendi- und deren Ausstattung. Die jährlichen Kos- te“ dem Nutzen der Stadt-/Straßenbahnen ten umfassen 85 % Fixkosten (Abschreibung positiv zugerechnet werden müsste. von Strecken, Fahrzeugen, Betriebshöfen sowie deren Erneuerung) und nur 15 % Be- Die verschiedenen Untersuchungen zum triebskosten (Personal, Energie, Fahrzeug- kommunalen Nutzen des ÖPNV insgesamt wartung, Unterhaltung der Gleisbereiche). (VAG Nürnberg (2009), BMVBS (2010), KVB (2012)) ergeben Nutzen für die Verkehrs- Straßenbahnfahrzeuge (30 m-Tram, 40 m- teilnehmer aus Zeitgewinnen, Reduktionen Tram) erfordern gegenüber Bussen (12 m- von Betriebs- und Vorhaltekosten eigener Busse, 18 m-Gelenkbusse) ca. das Zehn- Fahrzeuge, Reduktionen von Parkierungs- fache an Investitionen für das 2,5-fache kosten, Nutzen für die Allgemeinheit aus an Transportkapazitäten und für die 3- bis geringeren Umweltschäden des MIV, ge- 4-fache Nutzungsdauer. Die Beschaffungs- ringeren Unfallschäden im MIV und für kosten pro Platz und Jahr wie auch die Be- die Städte aus reduzierten Kosten der Stra- triebskosten pro Platz/km sind für Busse je- ßenerhaltung. Die Nutzen-Kosten-Verhält- doch nahezu gleich hoch bzw. sogar höher nisse sind insgesamt, aber vor allem auch (vgl. Naumann, 2009, S. 5). Sollten die Fahr- für Stadt-/Straßenbahnen größer als 1.0. gastzahlen deutlich steigen, (bei Umstel- Dies bedeutet deren Bau- und Betriebswür- lung von Busbedienung auf Straßenbahn- digkeit. So zeigen die erhöhten Aus-/Ein- bedienung gibt es meist einen Zuwachs von stiegs- und Passantenfrequenzen sowie die 50 bis 100 %), sind Straßenbahnsysteme für Aufwertungen von Straßenräumen durch die nachfragegeeigneten Anwendungsfälle stadtgestalterisch hochwertigen Umbau deutlich wirtschaftlicher. von Straßenräumen im Zuge des Baus von Straßenbahnstrecken den wirtschaftlichen Für Busse entstehen derzeit bis auf Vorteil für anliegende Geschäfte und Im- Haltestellenanlagen, Busbahnhöfe und Bus- mobilieneigentümer. (sonder-)spuren keine besonderen Bau- körper. Die erhöhte Abnutzung von Fahr- bahnen der Straßen aufgrund des höheren 5.2 Wege der Finanzierung Gewichts der Busse (bis zu 29 t Gesamt- gewicht) und der häufigen, haltestellen- Die heutigen Gegebenheiten der Finanzie- bedingten Abbrems- und Anfahrvorgänge rung von Bau, Erneuerung, Unterhaltung wird im Regelfall in kommunalen Haushal- und Betrieb unterliegen im Rahmen der ten nicht den Busbetrieben angelastet, wo- Neuausgestaltung der föderalen Finanz- mit sich die höheren Baukosten der Stadt- verfassung Deutschlands (Umsetzung der und Straßenbahnen relativieren. Dabei Föderalismusreform, auslaufendem Soli- entspricht die Belastung durch einen Bus darpakt, Schuldenbremse) nach 2019 mög- gut 40.000 Pkw (im Schnitt bis zur vierten licherweise erheblichen Veränderungen. Potenz des Gewichts). Stadtbahnen/Straßenbahnen haben eine Die höheren Baukosten für Stadt- und Stra- große Bedeutung für die Stadtentwicklung ßenbahnen gegenüber Bussen ergeben sich und können somit Grundstücke und Stadt- aus zusätzlichem Flächenbedarf für Wende- teile durch eine hochwertige ÖV-Erschlie- schleifen, für die Herstellung von niveau- ßung aufwerten. Folglich müssen neue gleichen Haltestellenanlagen mit Zuwegen Wege einer überlagerten Finanzierung ge- sowie insbesondere auch aus Kosten für funden werden (s. Beitrag Zistel in diesem die Fahrdrähte und deren Abspannungen Heft). Zu beteiligen sind zwischen Häusern oder zusätzlichen Ab- spannmasten sowie Unterwerken. Auch • Nutzer, d. h. Fahrgäste (Fahrgelderlöse höherwertige Pflasterungen in Innenstadt- aus Einzelkarten, Dauerkarten, Sonder- bereichen oder stadtgestalterisch aufgewer- karten) teten Straßenräumen spielen auf der Kos- tenseite eine große Rolle. Diese Bauformen • Nutznießer, d. h. Eigentümer aufgewer- wie auch gestalterisch angepasste Masten teter Grundstücke mit Bodenwertsteige- und Aufhängungen entfalten aber einen rungen Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 405

• Öffentliche Hand als Nutznießer einer Augsburg, Straßburg, Mulhouse) Stadtbah- umfassenden „Stadtrendite“ (Umwelt- nen zu ihrem stadtentwicklungspolitischen schutz, soziale Teilhabe) – auch im Zu- Programm und zu ihrer Vision gemacht. sammenhang von Transferleistungen durch Bund und Länder. Straßenbahnen sind seit mehr als 100 Jah- ren Instrumente der Stabilisierung und Wei- Insbesondere für die Nutznießerfinan- terentwicklung der „europäischen Städte“ zierung müssen neue Ansätze gefunden mit Dichte, Multifunktionalität, Systemen werden (Wissenschaftlicher Beirat für von leistungsfähigen Stadt- und Quartiers- Verkehr (2007), Kossack (2015), Daehre- zentren, aber auch mit nachhaltigen inter- Kommission (2013)). Auch die derzeitigen modalen Stadt- bzw. Regionsverkehrssyste- Transferleistungen in Form von Regionali- men – und werden es auch in Zukunft sein. sierungsmitteln, Mitteln des (Bundes-)Ge- Die aktuelle Erweiterung vieler Netze findet meinde-Verkehrsfinanzierungsgesetzes und dabei nicht nur in Richtung Peripherie zur des Entflechtungsgesetzes müssen für die Erschließung neuer Wohn- und Infrastruk- Zukunft ebenso wie andere Finanzierungs- tur-/Bildungsstandorte statt, sondern trägt ansätze (Nahverkehrsabgabe, Erschlie- auch zur (Wieder-)Erschließung von inner- ßungsbeiträge) einer offenen Überprüfung städtischen Quartieren und zur Aufwertung unterzogen werden. von innerstädtischen Standorten bei.

Die aktuellen Investitionen in den Bau, 6 Fazit Ausbau und Betrieb von Straßenbahn- bzw. Stadtbahnsystemen tragen ganz erheblich Weltweit besteht ein breiter Konsens über zur Daseinsvorsorge der Bevölkerung mit die maßgebenden Beiträge der Stadt-/ Mobilitätsangeboten zur Gewährleistung Straßenbahnen für eine nachhaltige, kli- von Teilhabe und Teilnahme an Arbeit, Aus- maschonende, CO2-reduzierte Verkehrsent- bildung, Versorgung, Erholung, Kultur etc. wicklung in Städten und deren Umland. auch für nichtmotorisierte Bevölkerungs- Stadt-/Straßenbahnen sind zentrale Träger gruppen bei. Straßenbahnen ermöglichen des Umweltverbundes. Der Einsatz mo- unter räumlichen Aspekten eine Integration derner Tram ist weltweit „state-of-the-art“. und Inklusion aller Bevölkerungsgruppen. Die unbestreitbaren Qualitäten sind we- Sie dienen der Umsetzung von Klimaschutz sentliche Argumente zur Prüfung der Ein- und Energiewende und sind Voraussetzun- satzmöglichkeiten. Deutsche Städte haben gen zur Sicherung der Lebensqualität in dabei vielfältige Optionen zu Netzerweite- den Städten wie in Wien, Zürich, Karlsruhe rungen nach außen und innen und zudem oder München. gute Möglichkeiten, die Stadt- bzw. Stra- ßenraumgestaltung im Zuge der Führung Straßen- und Stadtbahnen (Tram) sind im von Stadt-/Straßenbahnen zu verbessern. Stadtbild prägnant, sprechen die Stadt- bewohner emotional an und sind häufig Die Einsatzmöglichkeiten und die grund- Identifikationsobjekte. Sie prägen als Stadt- sätzlichen Qualitäten belegen die vielen technologie die Stadträume. Die Bewohner Aus- und vor allem Neubauten in vielen der Städte lassen sich von guten verkehr- Ländern auf allen Kontinenten (USA, Ka- lichen und städtebaulichen Konzepten für nada, China, Türkei, alle europäische Län- die Tram überzeugen – und dann nutzen der). So haben viele Bürgermeister (z. B. in sie diese!

Klaus J. Beckmann, Mathias Metzmacher: Bewährte und innovative Impulse 406 für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung – die Tram in Deutschland

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Städtebauliche Integration und Gestaltung Stephan Besier der Infrastrukturanlagen von Stadt- und Straßenbahn

Infrastrukturanlagen von Stadt- und Straßenbahnen sollen neben ihrer Bedeutung als technische Verkehrsanlagen auch städtebauliche und gestalterische Anforderungen berück- sichtigen. Mittlerweile ist in diesem Zusammenhang eine zunehmende Sensibilität bei den Beteiligten festzustellen, die sich in zahlreichen gelungenen Beispielen zeigt. Städtebauli- che Belange und Entwurfsmethoden können mittels Gestaltkonzepten und -handbüchern in Planungs- und Bauprozesse integriert werden. Sie sollten aber auch in den technischen Regelwerken sowie der Förder- und Genehmigungspraxis Beachtung finden.

Die „Renaissance der Tram“ und ihre Wechselwirkung zum Städtebau

Aktuell ist weltweit eine sehr positive Ent- wicklung der „Renaissance“ der Stadt- und Straßenbahn zu verzeichnen. Besonders aufsehenerregend sind die zahlreichen neuen Stadtbahnnetze in Frankreich mit einer hohen städtebaulichen Qualität. In Deutschland zeigt sich der Trend in einem deutlichen Ausbau der bestehenden Netze. Einerseits vollzieht sich dies in der „inneren Stadt“ als „Nacherschließung“ oder Ausbau und Aufwertung bestehender Strecken mit einem eigenen Fahrweg. Andererseits aber findet eine Erweiterung als Neuerschlie- ßung nach Außen statt, also am Stadtrand bzw. der suburbanen „Zwischenstadt“ (Sie- verts). Stadtbahn als positiv wirkendes Gestaltobjekt, Leipzig, Prager Straße – Rasen- gleis und hohe Reisegeschwindigkeit in einer grünen Allee Foto: Stephan Besier In diesem Zusammenhang ergeben sich zahlreiche Aufgaben für die städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastruk- Städtebauliche Herausforderungen turanlagen. Diese umfassen ein breites für Infrastrukturanlagen von Stadt- Spektrum an städtebaulich-verkehrlichen und Straßenbahnen im Stadtraum Herausforderungen, für die in der Praxis eine große Vielfalt an technischen und ge- Infrastrukturanlagen aus Gleisen, Halte- stalterischen Lösungsmöglichkeiten beste- stellen und Oberleitungen stellen die „sta- Dipl. Ing. Stephan Besier studierte Raum- und Umwelt- hen. Dabei lassen sich im städtebaulichen tischen Zeugen“ des Betriebes von Stra- planung in Kaiserslautern und Kontext zunehmend positive Lösungen ßenbahnen dar. Sie sind immerwährend Glasgow. Seit 2009 tätig beobachten, die dem „Trendsetter“ Frank- im Stadtbild präsent und schreiben sich in als selbständiger Berater für reich nicht mehr nachstehen. Gut gestaltete dieses ein. Die Infrastrukturanlagen sind Städtebau und Verkehrs- Stadtbahnsysteme können mit ihren Fahr- damit untrennbarer Bestandteil des Stadt- planung mit Projekten in Chemnitz, , Leipzig, zeugen und Infrastrukturen somit selbst zu raums sowie der einenden Gesamtdiszip- München, Köln und Würzburg, einem Gestaltobjekt werden, welche den lin des Städtebaus. Sie können damit kein sowie in Südtirol. Stadtraum ergänzen und bereichern. monofunktionaler Selbstzweck mit einer [email protected]

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 408 von Stadt- und Straßenbahn

isolierten, rein technischen Betrachtung auch nicht unterlassen werden, denn eine sein. Raumeindrücke und „visual impact“ gestalterische Qualität entsteht immer – es können je nach Entwurfs- und Gestaltungs- ist die Frage ob eine als „positiv“ oder „ne- ansatz extrem unterschiedlich ausfallen. gativ“ zu wertende Intervention stattfin- Schottergleise, Hochbahnsteige und Hoch- det. Dies richtet sich wiederum stark nach kettenfahrleitungen wirken im Stadtraum dem Entwurfsverständnis der Beteiligten oftmals wie eine „Eisenbahn in der Stadt“. und der Rolle der Gestaltung im Planungs- Derartige Anlagenausprägungen werden prozess. den städtebaulichen Anforderungen nicht gerecht und stellen einen Fremdkörper im Analog der Behandlung des umbauten Stadtraum dar. Hingegen sind die Ansätze Raums in der Architektur hat lange Zeit die der modernen Straßenbahn in Frankreich Frage nach Form und Gestaltung auch das und Deutschland mit Rasengleisen und de- zugehörige Invers des Stadtraums – und zenten Oberleitungen wie im Beispiel Mün- dieses sogar noch viel stärker – dem für chen Emmeram deutlich besser stadtbild- diesen weitgehend ungeeigneten Prinzip verträglich. des „form follows function“ ausgeliefert und den eindimensionalen Anforderungen Der ehemalige Kölner Baudezernent Bernd des Transports überlassen. Während so in Streitberger resümierte dies mit dem Wor- der Architektur Häuser zu Wohnmaschi- ten „Die Stadtbahn muß sich im Stadtraum nen wurden, entwickelten sich Straßen und benehmen“. Um eine neue Planungskul- Plätze zu Verkehrsmaschinen und „autisti- tur im Umgang mit Stadtbahninfrastruktur schen Transporträumen“ (Topp). in Köln auszulösen, beauftragte er für die oberirdische Fortsetzung der Nord-Süd- Straßen und Verkehrssysteme sind jedoch Stadtbahn in der Bonner Straße ein umfas- unsere Alltags- und Lebensräume – sie sendes Gestaltgutachten beim Autor. sollen nicht nur „funktionieren“, sondern auch ansprechend gestaltet sein und damit zu Aufenthalt und Nutzung einladen. Und Stadtraum – Sinn und Form warum sollen sie nicht schön sein und ein Vergnügen beim Anschauen bereiten? Für Grundsätzlich hat jeder Eingriff im Stadt- Straßen und Verkehrssysteme gelten daher raum eine Auswirkung auf dessen Funktion baukulturelle Anforderungen wie für Archi- und Ästhetik. Damit gilt der Imperativ, dass tekturen. Auch Verkehrsunternehmen und jede Baumaßnahme im Stadtraum zugleich -ingenieure stehen somit „in der Pflicht“, Stadtgestaltung ist. Dabei kann Gestaltung Baukultur zu schaffen.

Bodendetails als Teil der Platzfläche (München) Sehr gut gestaltetes Wartehäuschen von Sir Norman Foster (Leipzig) Fotos: Stephan Besier Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 409

Baukultur im Spannungsfeld von lagen diese Auswirkungen erheblich, aller- Gestaltung und Technik dings steht etwa alle 20 bis 30 Jahre eine Sanierung an, die beispielsweise im Falle Baukultur äußert sich im Ergebnis eines von Schottergleisen durch Anlage von Ra- Prozesses. Eine interdisziplinäre Planungs- sengleisen für eine Aufwertung des Stadt- und Prozesskultur ist somit integraler Teil raums genutzt werden kann, wie dies mitt- der Baukultur. Gute Gestaltung beginnt lerweile in vielen Städten der Fall ist. schon mit Entwurf und Planung. Straßen und Verkehrssysteme mit guter Gestaltwir- Die Belange der Baukultur und der Infra- kung können demnach nur durch inter- strukturgestaltung sind in Planung und disziplinäre Zusammenarbeit von Anfang Umsetzung durch eine stadtgestalterische an erreicht werden. Wichtig ist dabei, dass Begleitung sowie entsprechende städtebau- die Disziplinen kontinuierlich miteinander liche Entwurfsmethoden und Zielvorgaben arbeiten – und nicht zeitlich nacheinander. in der Qualität zu sichern. Gestaltung soll keine „nachsorgende Ver- hübschung“, sondern im Planungsprozess gleichberechtigt sein. Dabei geht es im Zu- Städtebauliche Entwurfsansätze sammenspiel von Funktion und Ästhetik und Gestaltungsprinzipien für die nicht um ein „entweder oder“, sondern um Infrastruktur von Stadt- und ein eindeutiges „auch“. Straßenbahnen

Immer wieder schwierig ist die Stellung und Akzeptanz von Gestaltung in der tech- Städtebaulich integrierter Ansatz nischen Fachplanung. Schönheit und Äs- als Chance für die Aufwertung thetik sind objektiv nicht eindeutig und abschließend zu definieren, womit sich Mit einem integrierten Ansatz für Funkti- Ingenieure in der Regel schwer tun. Den- on und Ästhetik ist es bei Neuanlage oder noch besteht in der Gestaltung eine stabi- Ausbau von Straßenbahnstrecken möglich, le Grundlage für viele übereinstimmende dass diese als Anlaß und Motor zur Aufwer- Sichtweisen, im Sinne einer „übersubjekti- tung der Stadt dienen, wie es zum Beispiel ven“ Bewertung, sowie eine langjährige Er- in der Innenstadt von Heilbronn bzw. bei fahrung zur Einschätzung der baukulturel- den neuen Stadtbahnen in Frankreich die len Qualität seitens der Fachplaner aus dem Regel ist. Aber auch bei komplexen Umbau- Feld Städtebau und Gestaltung. Wichtig ist ten wie z. B. beim Stadtbahnausbau Leipzig daher eine Sensibilisierung und Heranfüh- kann diese Aufwertungstendenz beobachtet rung der Beteiligten technischer Planungen werden, wenn durch die Neuanlage eines an ästhetische Themen, um Hemmungen besonderen Bahnkörpers der Stadtraum und Kommunikationsdefizite abzubauen. von Fassade zu Fassade umgestaltet wird. Zu berücksichtigen ist, dass die Beteiligten an technischen Planungen in der Regel kei- Das Ziel ist dabei mindestens ein zweidi- ne gestalterische Ausbildung und Erfahrung mensionales, bestehend aus dem Streben aufweisen. Sehr tragisch ist dabei der oft zu nach einer Entlastung der Stadträume von beobachtende „Bruch“ der Fachdisziplinen den negativen Auswirkungen des Autover- Gestaltung und Technik, welcher sich im kehrs in Bezug auf Platzbedarf und Emis- Verlust der „Handwerkskunst“ und Identifi- sionen sowie einer harmonischen Integ- kation mit dem Produkt äußert. ration und ansprechenden Gestaltung der Infrastrukturanlagen von Stadt- und Stra- In diesem Kontext führten lange Zeit auch ßenbahnen. Dadurch ergibt sich eine funk- die „Regelausbildungen“ der Stadtbahnin- tionale und ästhetische Aufwertung der frastrukturen zu erheblichen Problemen städtischen Wege- und Platzräume. im Stadtraum: Schottergleise, Gitter, Hoch- bahnsteige, Bahnübergänge und Eisen- Mit einem derartigen Ansatz soll aber auch bahnfahrleitungen sind nach Schnüll ein ein Beitrag zur Überwindung der Kommu- „weit verbreitetes Übel“ und führten in Ver- nikations- bzw. Ausbildungsdefizite bei den bindung mit autolastigen Straßen zu einem maßgeblichen Fachdisziplinen geleistet Verlust urbaner Qualitäten im Stadtraum. werden. In Anlehnung an den Ansatz des Zwar sind durch die Langlebigkeit der An- „Infrarchitecturbanism“ kann damit im ei-

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 410 von Stadt- und Straßenbahn

nenden Kontext des Städtebaus dem inter- sondere für Seitenbereiche und Gehwege), disziplinaren Anspruch der städtebaulichen jedoch sind die fachlichen und praktischen Gestaltungsaufgabe Verkehrsinfrastruktur Lücken der Grundlagen im gestalterischen von Stadt- und Straßenbahn als „Ingenieur- Bereich deutlich größer. bauwerk und Gestaltobjekt“ entsprochen und die Zusammenführung von Funktion und Ästhetik sichergestellt werden. Exkurs: Stadtbahn oder Straßenbahn?

Die „Systemabgrenzung“ von Stadtbahn Integration und Gestaltung und Straßenbahn dient an dieser Stelle vor der Infrastruktur allem der Veranschaulichung der städte- baulichen Wirkung im Stadtraum. Der ei- Je nach gestalterischer und technischer gentlich mögliche Vorteil der Kombination Ausprägung der Infrastrukturanlagen sowie von hoher Kapazität und guter Integration der Stellung im Kontext der Raumnutzun- in den Stadtraum gerät bei dem Versuch gen lassen sich der „technisch dominierte“ einer künstlichen Abgrenzung oftmals aus und der „städtebauliche integrierte“ Ent- dem Blick, denn das „System Stadt- und wurfsansatz unterscheiden (siehe Abb. 1). Straßenbahn“ lebt weniger von einer künst- Besonders das System „Stadtbahn“ ist mit lichen Abgrenzung, sondern vielmehr von seiner markanten Infrastruktur aus eige- der synergetischen Kombination und fle- nem Bahnkörper, Bahnsteigen in Fahrbahn- xiblen Anwendung verschiedener Entwurf- mittellage und komplexen Oberleitungs- sparameter. anlagen oftmals raum- und bildprägend. Während die „Straßenbahn“ mit dezenten Der alleinige Entwurfsansatz „Stadtbahn“ Infrastrukturelementen meist deutlich leich- reicht für ein modernes hoch- wertiges ter zu integrieren ist. Nahverkehrssystem oftmals nicht aus, denn nicht immer „passen“ die Infrastrukturele- Die städtebauliche Integration und Gestal- mente der Stadtbahn in enge Stadträume tung der Infrastruktur von Stadt- und Stra- mit starken Nutzungskonflikten und Flä- ßenbahn unterscheidet im Grundsatz nach chenknappheit. Dies gilt insbesondere für zwei Schwerpunkten: den besonderen Bahnkörper. Durch den Zwang zur Einfügung eines besonderen • Funktionale Integration – Straßenraum­ Bahnkörpers auch in engen Straßen kann entwurf: Einordnung der Infrastruktur sich ein Widerstand gegen Projekte ergeben von Bahnkörpern und Haltestellen in und diese dadurch im Extremfall sogar „ver- den Stadtraum sowie Einteilung des Stra- hindert“ werden. ßenquerschnitts. Insbesondere in den gewachsenen Stadt- • Ästhetische Integration – Infrastruktur­ teilen mit Raumbreiten unter 28 m ist die gestaltung: gestalterische Behandlung Anlage eines besonderen Bahnkörpers oft der einzelnen Infrastrukturelemente in nicht möglich. Dennoch müssen wichtige Bezug auf Material, Form, Farbe und Quell- und Zielgebiete in diesen Quartie- Kontext – Beachtung von Harmonie und ren mit einem hochwertigen ÖV – wie ihn Symmetrie etc. Stadt- und Straßenbahnen bieten – er- schlossen werden. In derartigen Situatio- Während für die funktionale Einordnung nen ist die Straßenbahn im Sinne der „Bahn in den Stadtraum mit den empfohlenen, in der Straße“ oftmals städtebaulich besser städtebaulich bemessenen Regelprofilen geeignet. Dazu braucht es dann aber auch der RASt 06* eine gute und leicht hand- ein entsprechendes Verkehrsmanagement, habbare Arbeitsgrundlage für die Praxis damit die Bahnen nicht wie früher im Stau besteht, ist für die Infrastrukturgestaltung stecken bleiben. Hierzu gibt es in Bern und von Stadt- und Straßenbahnen eine solche Dresden wegweisende Beispiele. Arbeitsgrundlage erst noch zu entwickeln. Zwar sollten die städtebaulichen Regelpro- Dieser Aspekt bei der städtebaulichen Ein-

* Richtlinien für die Anlage von file für Stadträume stärkere Beachtung bei bindung sollte insbesondere im Rahmen Stadtstraßen Planung und Genehmigung finden (insbe- der Förderpraxis stärker beachtet werden. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 411

Abbildung 1 Technischer und gestalterischer Entwurfsansatz 1. Technischer Entwurfsansatz: 2. Städtebaulicher Entwurfsansatz: Stadtbahn als Eisenbahn in der Stadt stadtfreundliche Stadtbahn

Durch Verkehr geteilte Stadt Verkehr als Teil der Stadt Transportraum als „Unort“-Straßen als Auto- Aufwertung eines Transportraums zum bahn, Stadtbahn als Eisenbahn. Entwertung „Lebensraum Stadt“ mit Stadtbahn als Initiator des Stadtraums. der Aufwertung.

Fotos: Stephan Besier

Abbildung 2 Gestaltungsprinzipien Einfügen und Prägen Gestaltungsprinzip „Einfügen“ Gestaltungsprinzip „Prägen“

• Integration Bahnkörper in Kfz-Fahrbahn • Straßenbahn auf besonderem Bahnkörper • Haltestellen im Seitenbereich/Gehweg • Haltestellen als Inseln in Fahrbahnmitte • keine stadtbildprägenden Gestaltelemente • stark stadtbildprägende Gestaltelemente • v. a. schmalere Stadträume • v. a. breite Stadträume • zurückhaltende Ausbildung der Trasse • aktive Gestaltung der Trasse • typisch für das System „Straßenbahn“ • typisch für das System „Stadtbahn“

Fotos: Stephan Besier

Straßenraumentwurf mit Stadt- Städtebauliche Bemessung und Straßenbahnen beim Straßenraumentwurf

Bei schienengebundenem Nahverkehr in Grundlage für die funktionale Integration angebauten Stadträumen lässt sich im und die Einordnung der Stadt- und Stra- Wesentlichen nach zwei zentralen Aus- ßenbahn in einen Stadtraum ist die „städ- prägungsformen von Stadtraum und Füh- tebauliche Bemessung“. Dabei werden die rungsform unterscheiden. So gibt es einer- städtebaulichen Anforderungen in Bezug seits die Führung von Schienenachsen in auf Flächenbedarf für Randnutzungen wie den gewachsenen Stadträumen der inneren Geschäftsauslagen oder Freisitze, den Rad- Stadt und andererseits die Erschließung von und Fußverkehr sowie die Proportion des meist neueren Siedlungsschwerpunkten am Stadtraums ermittelt (siehe Abb. 4). Dies Stadtrand. Dabei bestehen im Ansatz sehr ergibt eine erforderliche Seitenraumbreite, unterschiedliche städtebauliche Anforde- welche wiederum die städtebaulich mög­ rungen an das „gleiche“ Verkehrsmittel (sie- liche Fahrbahnbreite definiert. he Abb. 3).

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 412 von Stadt- und Straßenbahn

Typische Entwurfssituationen mit Stadt- und Straßenbahnanlagen

Die RASt 06 sehen für den Straßenraum­ Regelprofilen noch Bahnsteige und Abbie- entwurf insbesondere „typische Entwurfs- gespuren, sodass sich in Knotenbereichen situationen“ vor. Bei diesen „Regelprofilen“ in der Regel ein zusätzlicher Flächenbedarf hat die städtebauliche Bemessung und Ab- ergibt. wägung der unterschiedlichen Nutzungs- ansprüche im Sinne eines integrierten Stra- Es kann in der Praxis des Straßenraument- ßenraumentwurfs bereits stattgefunden. wurfs – insbesondere in Bezug auf die Eig- Daher sind diese Regelprofile zumeist für nung für die Integration eines besonderen die unmittelbare Anwendung in der Praxis Bahnkörpers – unterschieden werden zwi- geeignet. Zu berücksichtigen sind bei den schen schmalen bzw. breiten Stadträumen.

Abbildung 3 Stadträumliche Wirkungssysteme

Städtebau Innere Stadt Äußere Stadt Kleinteilig Großzügig Hohe Dichte Mittlere bis geringe Dichte Nutzungsmischung Funktionstrennung Stadtraum Schmale Stadtstraßen Breite Stadtstraßen Geschlossener Raumeindruck Offener Raumeindruck Geringe Flächenverfügbarkeit und Hohe Flächenverfügbarkeit und Trennung Konkurrenz der Nutzungen der Nutzungen Hohe Sensibilität Robuste Räume Stadtraumtypen Altstadt Nachkriegsstädtebau Gründerzeitliche Stadt Straßendurchbrüche (ehem.) Dorfkerne Überlandstrecken Schienenverkehr Straßenbahn („Bahn in der Straße“) Stadtbahn („eigener Fahrweg“) Betriebskonzept Mischverkehr Trennungsprinzip (straßenbündiger Bahnkörper) (besonderer Bahnkörper) Zeitliche Trennung Räumliche Trennung mit LSA-Bevorrechtigung (dynamische Straßenraumfreigabe) Alternative Führungs- Verlagerung MIV und Schaffung einer Umwelt- Alternativ: Unter- oder Umfahrung von Konflikten formen: verbundachse (bspw. Tunnel) Haltestellen Haltestellen am Fahrbahnrand Haltestellen mit Bahnsteigen in Mittellage der Fahrbahn (Kap, Fahrbahnanhebung) Gestalt + Integration Gestaltungsprinzip Einfügen Gestaltungsprinzip Prägen Wirkung Dezente Raumwirkung: Starke Raumwirkung: Infrastruktur wenig raumwirksame und zurückhaltende Raumwirksame, aber attraktive Gestaltelemente Gestaltelemente Integration Neue bzw. modifizierte Entwurfselemente „Klassische“ Entwurfselemente (Stadtbahnausbau) Verkehrssystem Netzlösung Achsenmodell (Netzbildung) Hohe Netzdichte, „Netz trägt Leistung“ (wenige) Starke Linien Überwiegende Erschließungsfunktion meist gleichzeitige Verbindungs- und Erschließungsfunktion Aufgaben Stadtumbau Stadtentwicklung Innenentwicklung Außenentwicklung Magistralenaufwertung Sanierung Ausfallstraßen Innere Potenziale Äußere Potenziale (nach-)erschließen (neu) erschließen Quelle: Stephan Besier Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 413

Abbildung 4 Schema für die Vorgehensweise bei der städtebaulichen Bemessung von Stadträumen 1 Erforderliche Flächen 2 Erforderliche Flächen 3 Angestrebte Proportionen durch Randnutzung für Fußgänger und ggf. Radfahrer

Erforderliche Seitenraumbreite (S)

S

Städtebaulich mögliche Verkehrlich notwendige Fahrbahnbreite Fahrbahnbreite

Quelle: Stadtentwicklungsplan Verkehr der Stadt Leipzig

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 414 von Stadt- und Straßenbahn

Breite Stadtstraßen mit besonderem Bahnkörper

Es zeigt sich, dass für die Einordnung eines 34 bzw. 40 m. Alternativ könnte im Halte- besonderen Bahnkörpers nach städtebau­ stellenbereich punktuell auf Baumreihen licher Bemessung der Stadtraum bei ein- und Parkstreifen verzichtet werden. Güns- streifigen Richtungsfahrbahnen eine Bau- tiger wäre jedoch der Einsatz von Halte- flucht von etwa 28 m aufweisen muss (je stellen mit Fahrbahnanhebung, die keinen nach Breite der einzusetzenden Fahrzeuge). erhöhten Flächenbedarf aufweisen. Bei vollwertigen zweistreifigen Richtungs- fahrbahnen liegt der Raumbedarf bei etwa In sehr breiten Straßenräumen ab etwa 34 m (siehe Abb. 5 und 6). Sind zusätzlich 40 m sind zudem Tramalleen mit Baum- Inselhaltestellen mit Seitenbahnsteigen vor- reihen unmittelbar neben den besonderen zusehen, steigt der Flächenbedarf auf etwa Bahnkörper möglich.

Abbildung 5 Abbildung 6 Typische Entwurfssituation für eine breite Typische Entwurfssituation für eine breite Stadtstraße mit besonderem Bahnkörper und Stadtstraße mit besonderem Bahnkörper und zwei einstreifigen Richtungsfahrbahnen – vier Fahrstreifen – Platzbedarf ca. 34 m Platzbedarf ca. 28 m (Profil 7.11 der RASt 06) (Profil 11.9 der RASt 06)

Abbildung 7 Abbildung 8 Schmale Stadtstraße – ohne Parken und Mittelbreite Stadtstraße – typische gründer- Baumreihe besteht ein Platzbedarf von ca. zeitliche Geschäfts-/Stadtstraße – Platzbedarf 18 m (Profil 11.7 der RASt 06) ca. 24 m (Profil 7.8 der RASt 06)

Quelle für Abb. 5 bis 8: RASt 06 Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 415

Schmale Stadtstraßen räumlichen Trennung mit einem besonde- mit straßenbündigem Bahnkörper ren Bahnkörper durch zeitliche Trennung der Verkehrsarten mittels Verkehrsmanage- Typische Stadträume in (vor-)gründerzeit- ment im Rahmen der „dynamischen Stra- lichen Baustrukturen bzw. bei Erhalt der ßenraumfreigabe“ sicherzustellen. historischen Straßenfluchten im Rahmen des Wiederaufbaus der Nachkriegszeit wei- sen oftmals Raumbreiten von etwa 18 m Infrastrukturelle Gestaltelemente oder 24 m auf (siehe Abb. 7 und 8). In bei- von Stadt- und Straßenbahn den Stadtraumtypen ist die Einordnung von besonderen Bahnkörpern nach städtebauli- Bausteine für gut gestaltete cher Bemessung nicht zu empfehlen. Infrastrukturanlagen

Allerdings können in derartigen Situationen Alle Infrastrukturelemente sind durch ihre im Einzelfall auch Lösungen als Fußgän- optische Präsenz im Stadtraum auch Ge- gerzonen bzw. Anliegerfahrbahnen (Erfurt- staltelemente und diese lassen sich wie Brühl) oder besondere Bahnkörper mit Ein- folgt gliedern: bahnstraßen denkbar sein (Gera, Leipziger Straße). Die Haltestellen in schmalen Stadt- • Bahnkörper: Gleiseindeckungen und räumen werden idealerweise am Fahrbahn- Bodenmaterialien rand bzw. als Kap mit Gehwegvorziehung • Haltestellen: Aufbauten und Boden- ausgebildet. Diese benötigen im Allgemei- materialien nen keinen zusätzlichen Flächenbedarf. Ist • Oberleitung: Maste und Aufhängungen die Stadt- und Straßenbahn nicht vom üb- rigen Verkehr getrennt, sind Maßnahmen Im Folgenden wird auf die wesentlichen zur Sicherung einer hohen Betriebsqualität gestalterischen Zusammenhänge einge­ erforderlich. gangen. Zudem werden Beispiele für stadtbildverträgliche und gut gestaltete Ein neueres Profil mit einem flexiblen Mit- Infrastruktur­elemente gezeigt. Diese kön- telstreifen, der als Querungshilfe und für nen als „best practice“ in gestalterischer Linksabbieger dient, und insbesondere für Hinsicht angesehen werden. Straßen mit Geschäftsbesatz und hohem Querungsbedarf geeignet scheint, wurde in Kassel und Cottbus realisiert. Dies könnte Der Fahrweg als städtebauliches Element Eingang in die Überarbeitung der RASt 06 finden. Die Beschleunigungswirkung für Die Gleisanlagen der Straßenbahnen zie- Stadt- und Straßenbahn ist hier anstelle der hen sich linienhaft durch die Stadt. Dabei

Gut gestaltetes und dauerstandfestes Pflastergleis in der Ausführung Stadtbahn auf attraktivem Rasengleis nahe einer Grünanlage als „Pflastermonolith“ (Dresden) (Gera) Fotos: Stephan Besier

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 416 von Stadt- und Straßenbahn

durchqueren sie unterschiedliche Straßen strukturen wie Parks und Gärten verlaufen, und Platzräume. Entsprechend sollte mit in aufgelockerten oder begrünten Bebau- der Infrastrukturgestaltung reagiert werden. ungsstrukturen oder aber in Bereichen mit Gründefiziten. Rasengleise leisten zudem Ein straßenbündiger Bahnkörper fügt sich einen nachweisbaren Lärmschutz und wir- am besten ein, wenn er den umgebenden ken als Aufwertung im Stadtraum. Dabei Fahrbahnbelag aufgreift. In der Regel wird sollte die Rasendecke etwa auf Höhe der dies aus funktionalen und gestalterischen Schienenköpfe liegen, was in Bezug auf Gründen ein Asphaltbelag sein. Eine farbli- die gestalterische Wirkung und den Lärm- che Differenzierung ist in diesen Bereichen schutz optimal ist. nicht erwünscht, da dies zu einem unruhi- gen und zergliederten Bodeneindruck füh- Eine hohe Bedeutung für die gestalterische ren kann. Gesamtwirkung einer Gleistrasse kommt den Kleinflächen für Verkehrsinseln, Auf- In besonderen Situationen kommen in weitungen und Querungen zu. Die Einzel- der Altstadt aber auch Pflaster- oder Plat- elemente stehen in einem Zusammenhang tenbeläge in Frage. Bei Pflasterbelägen ist und sollen klaren und durchgehenden Li- insbesondere auf die bautechnischen He- nien, rechtwinklig oder parallel zur bestim- rausforderungen hinzuweisen, da in zahl- menden Richtung der Gleise und Querun- reichen Städten negative Erfahrungen im gen, folgen. Borde sollten dabei ausreichend Zusammenhang von Pflaster und moder- breit sein, um in Proportion zum Bahnkör- nen, elastischen gelagerten Gleisbauweisen per und Stadtraum wirken zu können. Bei vorliegen. Dennoch gibt es insbesondere der Ausführung sollen Elemente verwendet in Dresden und Würzburg auch Pflaster­ werden, die in Bezug zur Dimension und lösungen, die zur Zufriedenheit der Ver- Materialität einer Stadt üblich sind. So kann kehrsunternehmen funktionieren und auch sich bei bewusster Gestaltung ein einheit- bei Busverkehr auf dem Gleis als dauer- licher und ansprechender Gesamteindruck standfest betrachtet werden können. ergeben.

Der besondere Bahnkörper wird aufgrund seiner Breite und linearen Wirkung zu ei- Haltestellen als Visitenkarten nem eigenständigen städtebaulichen Ele- der Verkehrsunternehmen ment. Anders als beim straßenbündigen Bahnkörper ist eine gestalterische Differen- Haltestellen sind für die Verkehrsunter- zierung des Bahnkörpers in Material und nehmen die Schnittstellen zu den Kunden. Farbe gestalterisch meist erstrebenswert. Dort findet der Einstieg in das Nahver- Dabei sollen insbesondere breite, dunkel kehrssystem statt. Es sind sozusagen die wirkende Asphaltfahrbahnen aufgelockert Aushängeschilder. Gleichzeitig sind sie aus und gegliedert werden. städtebaulicher Sicht auch Merkzeichen. Da Fahrgäste Wartezeiten als unangenehm Dies kann einerseits mit Asphalt gesche- empfinden, sollten Haltestellen eine ange- hen, der entweder als Walzasphalt gefärbt nehme, einladende und sympathische At- wird oder als Gussasphalt mit einer Splitt- mosphäre ausstrahlen. Besonders markant abdeckung aus hellem Gestein wie Granit sind dabei die Aufbauten. oder Quarzit versehen wird. In Frankreich wird oft mit gestaltetem Beton gearbeitet. In der Regel werden von den Verkehrsunter- Dabei werden zahlreiche in Körnung und nehmen als Wartehallen Standardelemente Farbigkeit unterschiedliche Wirkungen der verwendet. Dabei sind die weiteren Aufbau- Oberfläche erzielt. ten der Haltestellen wie Fahrkartenautoma- ten, Geländer, Sitzgelegenheiten und Be- Rasengleise sind ein besonders positiv leuchtung in Material, Form und Farbe mit wirkender Imageträger für modernen und den Wartehallen, aber auch der weiteren leistungsfähigen, aber gleichzeitig stadt- „Stadtmöblierung“ abzustimmen. Aus städ- verträglichen Verkehr. Sie haben sich in tebaulicher Sicht ist dabei eine einheitliche den letzten Jahren in nahezu allen Verkehrs- und zurückhaltende Farbgebung analog betrieben durchgesetzt. Sie empfehlen sich zum Stadtmobiliar einer grellen Hausfarbe insbesondere, wenn Gleise in oder an Grün- des Verkehrsunternehmens vorzuziehen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 417

Einen aufgeräumten Eindruck hinterlassen schen den Gleisen, da hierbei eine ruhigere kompakte und multifunktionale Service- Gesamtwirkung entsteht. und Informationselemente. Diese können zahlreiche Einzelelemente auf der Halte- stelle wie Fahrplanaushang, Lautsprecher, Stadtbildverträgliche Oberleitungen Echtzeitanzeige, Schaltkasten etc. in einem Element vereinen. Die Stadtböden können Oberleitungsanlagen mit ihren zahlreichen sich insbesondere bei Haltestellen im Sei- Drahtgebilden im „Luftraum“ unmittelbar tenraum an vorhandenen Gehwegbelägen vor den Fassaden sind ein heikler Punkt. orientieren, um eine gute Integration zu Die rein funktional-technischen Elemen- schaffen. Bei eigenständigen Bahnsteigen te sind für die Fahrstromversorgung und ist auch eine abweichende, „eigene“ Boden- „Elektromobilität“ in Deutschland uner- gestaltung möglich. Gute Beispiele sind hier lässlich. Sie sollten daher so dezent wie bei den neueren Haltestellen bspw. in Leip- möglich sein und stadtbildwirksame Blick- zig, Hannover oder Karlsruhe Nordstadt zu beziehungen oder baukulturell bedeutsame beobachten. Fassaden nicht stören.

Wichtige Haltestellen auf einem Bahnhofs- Das Thema Oberleitung steht bei der Dis- vorplatz oder zentralem Umsteigepunkt kussion um Neubaustrecken oftmals wenig können auch mit einer bewusst abweichen- sachlich im Vordergrund und kann sogar den oder stadtbildprägenden Architektur negative Auswirkungen auf die Umsetzung herausgearbeitet werden (Beispiele Heil- von wichtigen Tramprojekten haben, wie bronn, Augsburg). das Beispiel „Querung Englischer Garten“ im Zuge der „Nordtangente“ in München Eine besondere Herausforderung für Inte- zeigt. gration und Gestaltung stellen die Hoch- bahnsteige von U-Stadtbahnen dar. Steht Dazu hat die steigende Anforderung von genügend Platz zur Verfügung lassen sich modernen Stadtbahnen beigetragen. Mo- die hohen Rampen und Treppen oftmals derne Fahrzeuge benötigen immer mehr inszenieren, wie dies in Stuttgart an einzel- Strom und damit auch komplexere Ober- nen Stellen der Fall ist. Eine Absenkung der leitungsanlagen. Nicht immer wird hierbei Gleise (ebenfalls in Stuttgart) erlaubt einen von technischer Seite auf die Fragen des besseren Anschluss der Umgebung an die Stadtbildes genügend Rücksicht genom- Bahnsteige. Günstig ist aus stadträumlicher men. Denn die entstehenden Gebilde mit Sicht bei Hochbahnsteigen im Allgemeinen Kettenfahrleitung, Auslegern und Funkti- die Ausbildung von Mittelbahnsteigen zwi- onselementen für Stromversorgung und

Leistungsfähige Stadtbahn mit dezenter Oberleitung – sehr stadtbild- Stadtbildverträgliche Oberleitung mit zusätzlicher verträglich wirkt die bei der Tram Emmeram verwendete Seilgleiter- Versorgungsleitung zur Leistungssteigerung in der Altstadt fahrleitung. Eine Versorgungsleitung zur Querschnittserhöhung verläuft von Zürich parallel im Erdreich. Fotos: Stephan Besier

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 418 von Stadt- und Straßenbahn

Nachspannung sind oftmals nicht mehr gend vermitteln und auch einen wichtigen stadtbildverträglich. Dies kann dann auch Beitrag zur Aufwertung von Stadträumen zu Forderungen nach „oberleitungsfreiem liefern, so entstehen weiterhin zahlreiche Betrieb“ führen. Anlagen, die städtebaulich nicht befriedi- gen. Oberleitungsanlagen gehören durchaus zur Tradition der europäischen Stadt und Immer wieder werden wegweisende Ansät- sind seit der Gründerzeit prägend für Stadt ze zur Gestaltung und Integration der Infra- und Urbanität. Zur Steigerung der Akzep- strukturanlagen, die in einer Stadt eine Re- tanz sind die Anlagen daher ansprechend gellösung darstellen, in einer anderen Stadt zu gestalten bzw. dezent auszuführen. Aus aufgrund technischer Vorbehalte abgelehnt. städtebaulicher Sicht sind einfach aufge- Diese Bedenken stellen sich im Nachhinein baute Oberleitungssysteme ohne Tragseil allerdings oftmals als weniger gravierend im Regelfall zu bevorzugen. Bei diesen heraus oder es finden sich befriedigen- leichten Ausführungen („low impact“) mit de Alternativen. Wichtig scheint daher ein nur einer Systemebene sind die Tragsyste- Austausch von Erfahrungen zur „best me und Maste von geringerer Dimension practice“ der Infrastrukturgestaltung und und die Funktionselemente fallen ebenfalls eine technische Validierung der gestalteri- weniger komplex aus. Für hohe elektrische schen Lösungen, damit diese in möglichst Belastungen sind Verstärkungsleitungen im vielen Städten zur Anwendung kommen. Boden oder der Luft möglich. Die Infrastruktur von Gleisen, Haltestel- Oberleitungsfreie Systeme haben sich wohl len und Fahrleitungen sind elementare aus klimatischen und wirtschaftlichen Bestandteile der gebauten Lebensumwelt Gründen bisher noch nicht durchsetzen Stadt. Zweifelsfrei ergibt sich damit eine können. sehr hohe Bedeutung von GVFG-geför- derten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen für eine qualitätvolle Baukultur sowie die Gelungene Gesamtwirkung Nutzungs- bzw. Aufenthaltsqualität von der Gestaltelemente Stadträumen. Dennoch finden diese Zu- sammenhänge nach vor nicht immer die Damit auch in der Summe eine gute Ge- notwendige Beachtung. Auch der „baukul- samtwirkung erzielt wird, ist eine ge- turelle Qualitätswille“ bei den Beteiligten stalterisch motivierte Kombination der ist nicht immer in ausreichendem Maße Einzelelemente von der Fahrleitung und ausgeprägt. Dies spitzt sich in Sätzen zu: Stadtbeleuchtung, über die Haltestellen- „Gestaltung fördern wir nicht“ und „Wir austattung bis hin zu den Bodenbelägen er- dürfen kein Geld für Dinge wie Rasengleise forderlich. Diese Elemente sind zudem mit verschwenden“. den Gestaltungsansätzen im übrigen Stadt- raum abzustimmen. Als gelungene Beispie- Derartige Aussagen zeigen, wie bedeu- le, bei denen eine sehr gute Gesamtwirkung tend Kommunikation und Multiplikation erzielt wurde, können insbesondere die Li- für die Belange der Infrastrukturgestaltung nie in der Karlsruher Nordstadt, in Leipzig sind. Das betrifft sowohl die Überzeugung der Umbau der Jahnallee/Ranstädter Stein- auf Entscheiderebene über die Bedeu- weg und in München die Tram Emmeram tung von Gestaltung in Bezug auf Image angesehen werden. und Projekt­akzeptanz als auch den Erfah- rungsaustausch auf technischer Ebene, das gestalterische Lösungen technisch und Folgerungen für einzelne wirtschaftlich akzeptabel sein können. Zu Handlungsfelder der Praxis berücksichtigen ist dabei zudem, dass in technischen, juristischen und wirtschaftli- Infrastrukturgestaltung chen Ausbildungswegen zumeist kein Be- als baukulturelle Aufgabe zug zu Gestaltung besteht.

Auch wenn es in Deutschland mittlerwei- Als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer le zahlreiche Beispiele gibt, die technische stärkeren Integration städtebaulicher und Leistungsfähigkeit gestalterisch überzeu- baukultureller Aspekte in der Planungs- und Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 419

Baupraxis kann zweifelsfrei das neue Hand- Abbildung 9 buch für die städtebauliche Integration des Zweistufiger Gestaltungsbeitrag als Ergänzung technischer Planungen VDV mit dem Titel „Gestaltung von urbaner Gestaltungsbeitrag 1. Phase Straßenbahninfrastruktur“ angesehen wer- „funktionale Integration“ den. Dieses dokumentiert gute Beispiele in Straßenraumentwurf Vorplanung Entwurfsgrundlagen und Deutschland und stellt den Verkehrsunter- städtebauliche Anforderungen nehmen bzw. Stadtverwaltungen als „best practice“ zur Verfügung. Ein unabdingbarer Gestaltungsbeitrag 2. Phase ergänzender Schritt sind eine aktive Kom- „gestalterische Ausführung“ munikation und der Erfahrungsaustausch, Geometrie und Materialisierung Ausführungsplanung damit ein Paradigmenwechsel auch tatsäch- Details, Kombination und Anordnung der Gestaltelemente lich als erfolgreicher Prozess in die Städte und Betriebe getragen werden kann. Quelle: Stephan Besier

Nicht zuletzt sind dabei auch die Gesetz- Sichergestellt werden kann ein gestalte- und Fördermittelgeber gefordert. Einerseits rischer Beitrag aber auch im Rahmen von sollten die Richtlinien städtebauliche As- Gestaltungshandbüchern (GHB) oder Ge- pekte berücksichtigen und entsprechend staltungskonzepten. flexibel sein, andererseits müssen stadtver- trägliche Ansätze zum Aus- und Neubau Gestaltungshandbücher werden in der Re- in den Förderkanon von Bund und Län- gel für laufende Sanierungsmaßnahmen in dern aufgenommen werden. Hierzu zählt ganzen Netzen erstellt. Innerhalb von etwa auch der interdisziplinäre Mitteleinsatz zur 20 bis 40 Jahren sind in der Regel alle Gleis- Lärmsanierung und Verbesserung der Um- infrastrukturen aufgrund des Verschleißes weltsituation in Hauptstraßen. zu ersetzen. Dies bietet Potenziale, beste- henden Netzen systematisch eine höhere Anmutungsqualität zu verleihen. Derartige Operationalisierung – Baukultur GHB hat der Autor bisher für Würzburg, als Prozess München und Leipzig ausgearbeitet. In der Alltagspraxis zeigen sich dabei erhebliche Zur „Operationalisierung“ und Implemen- Herausforderungen bei der Umsetzung, da tierung der Gestaltungsprinzipien für Stra- zahlreiche Regellösungen hinterfragt oder ßenraumentwurf und Infrastrukturelemente überarbeitet werden müssen. Dies kann bei Neubau und Sanierung von Stadt- und natürlich auch positiv gesehen werden, da Straßenbahnstrecken empfehlen sich Ge- alte Praktiken bewertet und neue Lösungen staltungskonzepte, Gestaltungshandbücher eingeführt werden können. Damit wird sich und der (stadt-)gestalterische Beitrag. die Praxis durch die notwendigen Kommu- nikations- und Veränderungsprozesse wei- Der gestalterische Beitrag zielt auf die terentwickeln; ganz im Sinne einer ganz- Berücksichtigung städtebaulicher und ge- heitlichen Bau- und Unternehmenskultur. stalterischer Belange im Rahmen von In- frastrukturplanungen für Stadt- und Stra- Gestaltungskonzepte werden meist bei ßenbahnanlagen. Er soll als eigenständige einzelnen Neubauabschnitten angewendet. Fachplanung Städtebau und Gestaltung zu Entsprechende Konzepte hat der Autor für einem Bestandteil von (Bau-)Projekten wer- München (St. Emmeram), Köln (Bonner den. Entsprechend den HOAI-Planungs- Straße) und Heidelberg (Im Neuenheimer stufen ist ein mehrphasiger Aufbau vorzu- Feld) ausgearbeitet. Bei Gestaltungskon- sehen; in der Regel in zwei Teilkonzepten zepten für einzelne Linien sind oftmals abgestimmt auf Vor- und Ausführungspla- leichter Kompromisse möglich. Bringt ein nung. Phase 1 auf Stufe Vorplanung umfasst Gestaltungskonzept zudem zeitnah posi- dabei vor allem die städtebauliche Integra- tive Resultate und Anerkennung, sind die tion der Gleisanlagen und Haltestellen im nächsten Schritte meist viel leichter zu voll- Sinne des Straßenraumentwurfs. Phase 2 ziehen. beschäftigt sich dann konkreter mit der ge- stalterischen Ausbildung der einzelnen Inf- Diese Fachkonzepte sollten auch zur fach- rastrukturelemente (siehe Abb. 9). lichen Grundlage der Förderung nach dem GVFG in Bund und Land werden.

Stephan Besier: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen 420 von Stadt- und Straßenbahn

Potenziale nutzen – Paradigmen- Daher sollten an die guten Erfahrungen wechsel einleiten und „Best-Practice-Beispiele“ angeknüpft sowie Themen der aktuellen Fachdiskussi- In der Praxis lässt sich mittlerweile eine ge- onen aufgenommen werden. Eine wichtige stiegene Sensibilität bei der Frage der Integ- Voraussetzung dazu sind die struk­turellen ration und Gestaltung der Infrastruktur von Konsequenzen in der Planungs-, Förder- Stadt- und Straßenbahn beobachten. Nicht und Genehmigungspraxis, um Projekte von zuletzt hat der VDV als zentraler Verband Stadt- und Straßenbahn stadtverträglicher diese Thematik nun aktiv besetzt. Dies kann zu realisieren. mit attraktiven Infrastrukturen zur weiteren Akzeptanz von sinnvollen Neubauprojekten Ziel sollte dabei ein Dokumentieren und beitragen. Durch einen städtebaulich in- Festhalten in einer Art „Planungshand- tegrierten Stadtbahnausbau kann auch in buch“ als Katalog mit funktional und äs- Deutschland eine wirksame Stadtreparatur thetisch bewährten Entwurfselementen und „Reurbanisierung“ in der inneren Stadt anhand von „Best-Practice-Beispielen“, unterstützt werden. welches als „städtebaulicher Beitrag“ auch in die Förder- und Genehmigungspraxis einfließen soll.

Karlsruhe Nordstadt – attraktive Gestaltung der Haltestelleninfrastruktur aus einem Guss mit markanter Formensprache der Aufbauten Fotos: Stephan Besier

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Die moderne französische Straßenbahn Christoph Groneck Impulse für ÖPNV und Stadtentwicklung in Europa

In der Nachkriegszeit galt die Straßenbahn klassischer Prägung überall in der west­lichen Welt als Auslaufmodell. Seit den 1980er-Jahren ist nun zunehmend ein Gegentrend aus- zumachen. Nach ersten Neueinführungen oberirdischer städtischer Bahnsysteme in Nordamerika wurde seit 1985 Frankreich zu einem wesentlichen Schrittmacher der Ent- wicklung. Gab es dort vorher noch drei Straßenbahnnetze der ersten Generation, sind es inzwischen wieder fast 30. Im Beitrag werden die Entwicklungen und Strategien der der französischen Straßenbahn-Renaissance nachgezeichnet. Ebenso erfolgt ein Blick in andere Länder, in denen ähnliche Projekte umgesetzt werden, teilweise explizit mit Bezug auf die französischen Vorbilder.

Seit Mitte der 1980er-Jahre werden in Frank- über die aktuelle Entwicklung in Europa reich mit großem Erfolg neue Straßenbahn- und einigen anderen Regionen und fasst systeme wieder eingeführt, nachdem das zusammen, welche Impulse die erfolgrei- Verkehrsmittel Straßenbahn vorher nahezu che Praxis im Nachbarland für deutsche vollständig aus den französischen Städten Städte setzen kann. verschwunden war. 2016 existieren bereits 25 Netze der zweiten Generation, die Rea- lisierung weiterer ist im Gange. Frankreich Ausgangslage stellt damit etwa ein Viertel aller seit 1980 weltweit völlig neu eröffneten Straßen- Wie kam es zur Wiederentdeckung der Stra- bahnbetriebe. Diese Entwicklung erregt ßenbahn in Frankreich? Offensichtlich ha- großes Aufsehen. ben sich die verkehrspolitischen Leitbilder für den städtischen Nahverkehr in Frank- Damit wurde Frankreich im weiteren Aus- reich in der jüngeren Vergangenheit fun- land zum oft kopierten (aber bislang nur damental verschoben. Ist dies allein dem selten erreichten) Vorbild. Auch in anderen Umstand geschuldet, dass die neuen Stra- europäischen wie außereuropäischen Län- ßenbahnsysteme in ihrer Rolle als Verkehrs- dern übernimmt die Straßenbahn wieder mittel überzeugen konnten, sprich gegen- eine stärkere Rolle im städtischen Nahver- über vorhergehenden reinen Bussystemen kehr und dient zum Teil auch als Instrument die Fahrgastzahlen steigern oder die Wirt- der Stadtentwicklung. Neue Straßenbahnen schaftlichkeit verbessern konnten? Oder werden in vielen Städten eingeführt oder gaben weitere Faktoren den Ausschlag? Wie ausgebaut. Über diesen generellen Trend ließen sich die Politik und die Bevölkerung einer beachtlichen Dynamik hinaus unter- für das vormals als antiquiert geltende Ver- scheidet sich die Entwicklung zwischen den kehrsmittel Straßenbahn neu begeistern? Ländern (zum Teil) erheblich. Vor diesem Welche Rolle spielt in diesem Kontext, dass Hintergrund lohnt ein näherer Blick auf die Frankreich eine sensible bis extravagante Dr.-Ing. Christoph Groneck moderne französische Straßenbahn und Einfügung neuer Straßenbahnstrecken in ist Verkehrsplaner beim insbesondere darauf, was sie im internatio- städtische Räume sehr stark berücksichtigt? ÖPNV-Aufgabenträger Rhein- Sieg-Kreis/Siegburg und dort nalen Vergleich und im stadtentwicklungs- verantwortlich für den Nah- politischen Kontext besonders auszeichnet. Zunächst einmal ein Blick zurück. Anfang verkehrsplan und die ÖPNV- der 1970er-Jahre gab es in Frankreich noch Angebotsplanung. Promotion Dieser Beitrag stellt daher ausführlich die ganze drei Straßenbahnbetriebe: in Mar- zum Thema „Französische verkehrliche wie auch die damit eng ver- seille, in Lille und in Saint-Etienne. In Mar- Planungsleitbilder für Straßen- bahnsysteme im Vergleich zu knüpfte stadtentwicklungspolitische Di- seille fuhr dabei lediglich noch eine 3 km Deutschland“ (2007). mension der Straßenbahn in Frankreich kurze Linie. Verantwortlich für deren Erhalt christoph.groneck vor. Ergänzend dazu gibt er einen Überblick war ein bereits Ende des 19. Jahrhunderts @rhein-sieg-kreis.de

422 Christoph Groneck: Die moderne französische Straßenbahn

Abbildung 1 Städte mit spurgeführten Nahverkehrsmitteln in Frankreich in den Jahren 1925, 1950, 1975 und 2016

Quelle: eigene Darstellung

gebauter 600 m langer Straßenbahntunnel, der Bandstadt Saint-Etienne – die letzte der bei einer Stilllegung der Straßenbahn verbliebene klassische Straßenbahn. Alle für den ÖPNV verloren gegangen wäre. Lille diese Bahnen hatten nur noch marginale war per Schnellstraßenbahn mit den beiden Verkehrsbedeutung. Leistungsfähiger spur- Nachbarstädten Roubaix und Tourcoing geführter Nahverkehr war in Frankreichs verbunden. Dieser Betrieb konnte sich hal- Städten damit im Wesentlichen der Metro ten, da er 1909 in damals modernster Form Paris vorbehalten. auf eigenem Bahnkörper konzipiert worden war. Daneben gab es noch eine 5,5 km lan- Der Weg hin zu dieser Situation hatte be- ge Durchmesserlinie über die Hauptachse reits weit vor dem Zweiten Weltkrieg be- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 423

gonnen. Nachdem Clermont-Ferrand 1890 ihren Straßenbahnbahnbetrieb nicht mehr als erste französische Stadt eine elektrische kostendeckend betreiben. Dies ist ein we- Straßenbahn eingeführt hatte, gab es vor sentlicher Unterschied zu Deutschland, dem Ersten Weltkrieg weit über hundert wo die Verkehrsbetriebe in den Großstäd- Systeme. Schon bis Mitte der 1930er-Jahre ten teilweise noch in den 1960er-Jahren war die Zahl aber schon wieder auf rund 70 eigenwirtschaftlich fuhren. Die Entschei- geschrumpft. Zunächst verschwanden die dung der Unternehmen musste damit aus Kleinstadtnetze, dann die Überlandbah- ökonomischer Sicht zwangsläufig von der nen. Bis 1938 wurde in beispiellosem Ak- Bahn zum Bus gehen. Ein Fortbestand der tionismus das über 600 km lange Straßen- Straßenbahnsysteme Frankreichs nach dem bahnnetz in Paris und seinen Vorstädten Zweiten Weltkrieg hätte damit nur durch komplett eingestellt, lange bevor sich die Entscheidungen in der kommunalen Ver- Straßenbahn auch aus den meisten ande- kehrspolitik zur Finanzierung und zum ren westeuropäischen Metropolen zurück- Ausbau der Netze gewährleistet werden ziehen sollte. Die anderen französischen können. Derartiges Interesse war seinerzeit Ballungsräume folgten dem Pariser Vorbild jedoch nicht vorhanden. ab den 1950er-Jahren. Während nach dem Zweiten Weltkrieg viele Großstädte in West- Die verbliebenen Busnetze mutierten in deutschland und im Benelux-Raum an- der Folgezeit mehr und mehr zum Rumpf- fingen, ihre Straßenbahnen sukzessive zu ÖPNV, den man nur noch nutzte, wenn Stadtbahnen oder Premetros weiterzuent- man auf ihn angewiesen war. Abgesehen wickeln, kam es in Frankreich zu keinerlei von Paris war der französische ÖPNV spä- ähnlichen Entwicklungen. 1971 war man testens in den 1960er-Jahren für Wahlfreie bei den oben erwähnten drei Restbetrieben de facto uninteressant. angekommen. Frankreich war mit dieser Entwicklung Die schnelle und fast völlige Verdrängung nicht alleine: Von den britischen Inseln und der Straßenbahn aus Frankreich hatte der iberischen Halbinsel verschwand die mehrere Ursachen. Zum Ersten wurden im Straßenbahn im selben Zeitraum ebenfalls ÖPNV erst weitaus später als in Deutsch- nahezu vollständig, ebenso wie in Amerika, land ähnlich strenge konzessionsrechtliche Afrika, Südostasien und Australien. Grundlagen eingeführt. Bereits in der ers- ten Hälfte des letzten Jahrhunderts mussten sich daher viele Straßenbahnbetriebe dem Wiederkehr des schienengebundenen Bus im Wettbewerb stellen. Zum Zweiten Nahverkehrs in Frankreich hatten viele Straßenbahnbetriebe um die Jahrhundertwende stürmisch ins Stadtum- Die Abwärtsspirale des französischen ÖPNV land expandiert, ohne dass sich später auch konnte ab den 1970er-Jahren langsam um- entsprechend erhoffte Verkehrszuwächse gekehrt werden. Der erste Schritt war, neue einstellten. Gleichzeitig war diese Expan- Organisations- und Finanzierungsstruktu- sion oft mit einfachsten Ausbaustandards ren zu schaffen. Zunächst gründeten die verbunden, die den Ansprüchen an Beför- Städte zusammen mit den in Frankreich im derungsqualität und Verkehrssicherheit be- Regelfall selbstständigen Vorortgemeinden reits weit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht nach und nach Kommunalverbände, die mehr genügten. Zum Dritten lässt sich seitdem für gemeinsame Aufgaben zustän- schon früh ein gewisser Lobbyismus der dig sind. Ein wichtiges Tätigkeitsfeld dieser französischen Autoindustrie erkennen, der Kommunalverbände ist die Koordination zu administrativen Benachteiligungen der und Planung des städtischen ÖPNV. Damit Straßenbahnen gegenüber dem Busverkehr wurden eine Bündelung der Kompetenzen führte: So wurde die Höchstgeschwindig- und damit auch die Möglichkeit zur Schaf- keit von Straßenbahnzügen schon vor dem fung von sinnvollen Netzen erreicht. Erst- Zweiten Weltkrieg gesetzlich auf 30 km/h mals nach dem Zweiten Weltkrieg konnten beschränkt, während Busse mit 45 km/h – freilich auf niedrigem Niveau – die Fahr- fahren durften. gastzahlen gesteigert werden.

Schon in den 1930er-Jahren konnten durch Die Betriebsführung der Netze wird eben- diese Entwicklungen viele Unternehmen falls seit den 1970er-Jahren in den meisten

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Städten ausgeschrieben und an private Verkehrsministeriums insgesamt 3,067 Mrd. oder gemischtwirtschaftliche Konzerne de- € für die Städte der französischen Provinz legiert. Diese sind jedoch in ihrem Tun an und 3,116 Mrd. € für den Großraum Paris zur die Vorgaben der Kommunalverbände ge- Verfügung. Damit wird knapp die Hälfte des bunden, weswegen der französische ÖPNV Finanzierungsbedarfs für den städtischen nicht mit einem deregulierten ÖPNV briti- ÖPNV gedeckt. Die andere Hälfte setzt sich scher Prägung vergleichbar ist. Im Wesent­ aus Fahrgeldeinnahmen und kommunalen lichen wird der Nahverkehrsmarkt heute Mitteln zusammen, wobei letztere leicht von zwei Großkonzernen beherrscht, na- überwiegen. Der im Vergleich zu Deutsch- mentlich Keolis und Transdev (vormals Veo- land niedrig wirkende Anteil der Fahrgeld- lia Transdev). Vor allem in den Kleinstädten einnahmen relativiert sich dadurch, dass in sind viele weitere Anbieter aktiv, deren ab- hiesige ÖPNV-Kostendeckungsgrade im All- soluter Anteil am Fahrgastaufkommen des gemeinen Transferzahlungen, zum Beispiel städtischen ÖPNV im Jahr 2010 aber nur für den Ausbildungsverkehr, aber auch In- etwa 4 % ausmachte. Im selben Jahr wurden vestitionszuschüsse mit einfließen. Darüber zudem 9 % der Stadtverkehrsnetze in kom- hinaus ist das Tarifniveau im französischen munaler Eigenregie betrieben. ÖPNV wesentlich niedriger als im deut- schen. So lag der Durchschnittspreis einer Zur Finanzierung des Nahverkehrs wur- Einzelfahrt in den Städten der Provinz 2009 de Mitte der 1970er-Jahre das Versement bei lediglich 1,10 € und der einer Monats- Transport eingeführt, eine lokal von den karte bei 26,72 €. Kommunalverbänden erhobene und für den öffentlichen Verkehr zweckgebundene Die finanziellen Möglichkeiten, die den Abgabe. Zahlungspflichtig sind alle Arbeit- ÖPNV-Aufgabenträgern mit dem Verse- geber mit mehr als neun Beschäftigten. ment Transport gegeben wurden, sind si- Die Höhe der Abgabe wird vor Ort festge- cherlich ein ganz entscheidender Anstoß legt, wobei jedoch staatlich vorgegebene zur Wiederkehr des schienengebundenen Grenzwerte zu beachten sind. Dabei ist der Nahverkehrs in Frankreich. Dieser begann Höchstsatz von 1,8 % der Lohnsumme pro zunächst in den großen Ballungsräumen Beschäftigtem nur dann zulässig, wenn die und dort in aufwendigem Stil. Vorreiter war entsprechende Stadt über ein hochwertiges Paris, wo in den 1960er-Jahren der Bau des Nahverkehrssystem auf Eigentrasse verfügt RER-Netzes begann, überlagernd zur vor- oder derartiges bauen möchte. Im Groß- handenen Métro, die innerhalb des Pariser raum Paris gelten abweichende Regelungen Stadtgebietes bereits in den 1930er-Jahren mit einem Steuersatz von bis zu 2,6 % (vgl. fast ihre heutige Ausdehnung aufwies. RER auch den Beitrag von Zistel). Juristisch baut steht für Réseau Express Régional und ist das Versement Transport auf der Argumen- im deutschen Sinne mit einer S-Bahn ver- tation auf, dass die betroffenen Arbeitgeber gleichbar. Die beiden ersten Linien A und B durch den ÖPNV für ihre Kunden und Be- sind aber fast noch besser durch den Begriff schäftigten besser erreichbar sind. Großer „Express-Metro“ beschrieben. Inzwischen Vorteil: Der öffentliche Nahverkehr ist in gibt es fünf unterirdische Stammstrecken Frankreich nicht auf stets veränderbare Zu- im Zentrum und daran anschließend eine schüsse der öffentlichen Hand angewiesen, Vielzahl von Verzweigungen im Außenbe- sondern verfügt über planbare Finanzmittel reich. Die Linie A ist mit rund einer Milli- sowohl für das Tagesgeschäft als auch für on Fahrgästen pro Tag eine der stärkst be- die Abschreibung von teilweise kreditfinan- lasteten Schnellbahnen der Welt. Ebenfalls zierten langfristigen Ausbauprojekten. Auf in den 1960er-Jahren begann aber auch in der anderen Seite spielen öffentliche Bau- Marseille und Lyon der Aufbau von kreu- kostenzuschüsse im Vergleich zu Deutsch- zungsfreien Metronetzen mit hoher Leis- land eine weitaus geringere Rolle. Erst mit tungsfähigkeit. Marseille nahm 1977 seine dem 2007 initiierten Grenelle-Umweltgipfel erste Linie in Betrieb, Lyon folgte ein Jahr und damit verbundenen Förderprogram- später. In beiden Städten war die Wahl ei- men ist hier ein gewisser Gegentrend er- ner Metro aufgrund sehr hoher Fahrgastpo- kennbar. tenziale sicherlich auch nicht übertrieben. Heute werden etwa in Lyon auf drei Haupt- Im Jahre 2010 standen aus dem Versement und einer kurzen Zubringerlinie rund Transport gemäß Zahlen des französischen 700.000 Fahrgäste pro Tag transportiert. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 425

Für mittelgroße Ballungsräume mit Ein- fach als recht unkonventionell empfunde- wohnerzahlen von einer halben Million ne Vielfalt an Nahverkehrstechnologien in Menschen oder weniger waren ähnliche Frankreich zu sehen. Man stand bei null Metrokonzepte weder finanzierbar noch und konnte sich aussuchen, was man denn aufgrund geringerer Fahrgastströme sinn- nun umsetzen wollte. Natürlich prägte die- voll einsetzbar. Angesichts der Ölkrise von sen Prozess nicht nur die Frage nach der 1973/74 gewann jedoch auch in derartigen besten technischen Lösung, sondern etwa Städten die Verbesserung des ÖPNV po- auch der Wunsch, sich als besonders inno- litisch an Bedeutung. Erstmals nach dem vativ darzustellen. Einige Städte entschlos- Zweiten Weltkrieg waren verstärkt Stimmen sen sich daraufhin zum Bau vollautomati- zu hören, dass die komplette Abschaffung scher Kleinprofilmetros nach dem System der Straßenbahnnetze doch wohl etwas VAL, das Anfang der 1970er-Jahre nahe voreilig gewesen sein könnte. Die Stillle- Lille entwickelt wurde und dort seit 1983 gungen hatten für manchen Verkehrspo- im Fahrgastbetrieb steht. Toulouse folgte litiker vielleicht erstaunlicherweise nicht 1993 und Rennes 2002. In Paris, das im- dazu geführt, dass der Verkehr besser floss. mer auch als Schaufenster für französische Vielmehr wuchs sich der motorisierte In- technologische Entwicklungen gilt, gibt es dividualverkehr (MIV) mehr und mehr zu zwei VAL-Bahnen an den Flughäfen Roissy einem immer größeren Verkehrschaos aus. und Orly. Laon eröffnete 1989 eine Kabel- Dass diese Entwicklung im Verbund mit bahn, und in Caen und Nancy entstanden einer fortschreitenden Zersiedelung und Busbahnsysteme des Typs TVR/GLT mit der Anlage immer neuer Einkaufszentren Dual-Mode-Fahrzeugen für abschnitts- „auf der grünen Wiese“ zu einer Abwärts- weise spurgeführten, nicht spurgeführten, entwicklung der nur noch unkomfortabel elektrischen und dieselgetriebenen Betrieb. erreichbaren historischen Stadtzentren füh- Clermont-Ferrand entschied sich schließ- ren musste, liegt auf der Hand. Auf einmal lich für eine Straßenbahn auf Gummirei- wurde Saint-Étienne mit seiner erhalten ge- fen vom Typ Translohr, die 2006 eröffnet bliebenen Straßenbahn nicht mehr als Ana- wurde und technisch eindeutig „Bahn“ ist: chronismus, sondern fast als so etwas wie per Mittelschiene komplett spurgeführt ein Vorbild angesehen. und elektrisch angetrieben, ohne Spurfüh- rung und Oberleitung nicht fahrfähig. Zwei 1975 erfolgte ein richtungsweisender Be- gleichartige Systeme folgten später in Paris. schluss des französischen Staates zur finan- Inzwischen ist die Zeit dieser Experimente ziellen Förderung umweltfreundlicher Ver- jedoch vorbei. Die neuen Systeme konnten kehrsmittel. In den großen Städten sollten sich letztendlich nicht in größerem Maße die Metros weiter ausgebaut, in den mittel- durchsetzen, Caen wird sein TVR/GLT-Sys- großen Räumen dagegen neue schienenge- tem aufgrund anhaltender technischer Pro- bundene Systeme an der Oberfläche einge- bleme in den nächsten Jahren sogar durch führt werden. Diese neue Leitlinie wurde eine konventionelle Straßenbahn ersetzen. mit einer fast aberwitzigen Konsequenz auf die Schienen gesetzt: Acht große Städte Die Geburtsstunde der französischen Stra- ohne leistungsfähige Massenverkehrsmit- ßenbahn moderner Prägung begann Anfang tel erhielten Anfang 1975 die Aufforderung, der 1980er-Jahre. 1983 ging die erste fran- innerhalb von drei Monaten grundlegende zösische Straßenbahnneubaustrecke nach Konzepte vorzulegen. dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb, und zwar in Saint-Étienne, wo die bestehende Linie Im technologischen Fortschrittsglauben der in ein dicht besiedeltes Wohngebiet verlän- 1970er-Jahre traf die Aufforderung zum Bau gert wurde. Unterdessen waren infolge der neuer oberirdischer Straßenbahnen indes staatlichen Förderung jedoch auch bereits erwartungsgemäß nicht überall auf offene drei neue Systeme in Nantes, Grenoble so- Ohren. Zwar war recht bald vielerorts der wie den Pariser Vorstädten Saint-Denis und Grundtenor zu hören, neue leistungsfä- Bobigny auf den Weg gebracht worden. Als hige und attraktive Massenverkehrsmittel erste Stadt hatte Nantes 1981 mit den Bau- einführen zu wollen, doch folgte daraufhin arbeiten für ein neues Oberflächensystem in so mancher Stadt erst einmal eine lang begonnen. Jedoch stand die Verwirklichung anhaltende Grundsatzdiskussion über das des Systems zeitweise auf Messers Schnei- Wie. In diesem Licht ist auch die heute viel- de, nachdem ein Bürgermeisterwechsel

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während der Bauphase zu einer temporä- fortgeschrittenen Baumaßnahmen verwor- ren Einstellung der Arbeiten geführt hatte. fen. Letztendlich eröffnete die Straßenbahn Ansinnen zur Rückabwicklung des Projekts Nantes 1985 als erstes französisches Stra- wurden nur aufgrund der bereits sehr weit ßenbahnsystem der zweiten Generation.

Seit den 1990er-Jahren kehrte die oberirdi- Tabelle 1 sche Straßenbahn dann in großem Stil wie- Kommunale Nahverkehrsbahnen in Frankreich der. Gerade in den letzten Jahren hat sich Stadt System Anzahl Linien Eröffnung die Dynamik neuer Vorhaben noch einmal Angers Tram 1 25.06.2011 ganz deutlich erhöht. 1975 gab es abseits Aubagne Tram 1 01.09.2014 von Paris noch ganze 27 km städtische Nah- Besancon Tram 2 30.08.2014 verkehrsbahnen. Ende der 1980er-Jahre lag Bordeaux Tram 3 21.12.2003 die Länge schließlich bei etwas über 100 km, Brest Tram 1 23.06.2012 nachdem Lille, Lyon und Marseille die erste Ausbaustufe ihrer Metros und Nantes und Caen TVR 2 15.11.2002 Grenoble die jeweils erste Straßenbahnli- Clermont-Ferrand Translohr 1 14.10.2006 nie eröffnet hatten. In den 1990er-Jahren Dijon Tram 2 01.09.2012 verlagerte sich das Schwergewicht von den Grenoble Tram 5 01.08.1987 Metros auf die Straßenbahnen, und zur Laon Kabelbahn 1 04.02.1989 Jahrtausendwende betrug die Gesamtstre- Le Havre Tram 2 12.12.2012 ckenlänge rund 230 km, wieder ohne Paris. Standseilbahn 1 18.08.1890 2009 waren es dann 550 km, und allein in Le Mans Tram 2 17.11.2007 den Jahren 2010 bis 2012 kamen schon wie- der erneut rund 125 km dazu. Zusammen Lille Tram 2 04.12.1909 ergibt das Ende 2012 rund 675 km Straßen- VAL-Metro 2 25.04.1983 bahn, U-Bahn und Artverwandtes in den Lyon Metro 4 02.05.1978 Städten der französischen Provinz. Dazu Tram 6 22.12.2000 kommen noch einmal rund 400 km kom- Standseilbahn 2 14.07.1878 munale Schienenstrecken im Großraum Marseille Metro 2 22.11.1977 Paris. Darunter findet sich inzwischen auch Tram 3 30.06.2007 das größte Straßenbahnnetz Frankreichs, Montpellier Tram 4 30.06.2000 das allerdings im Gegensatz zu den Netzen in den anderen Städten nicht radial auf den Mulhouse Tram 3 13.05.2006 Stadtkern ausgerichtet ist, sondern Quer- Nancy TVR 1 08.12.2000 verbindungen in den Vororten und Zubrin- Nantes Tram 3 07.01.1985 gerverbindungen zu Schnellbahnstrecken Nizza Tram 1 24.11.2007 herstellt. Insgesamt summieren sich damit Orléans Tram 2 20.11.2000 in Frankreich Ende 2012 rund 1.075 km Paris Metro 14 19.07.1900 kommunale Schienenstrecke. S-Bahn (RATP) 2 12.12.1969 VAL-Metro 3 01.10.1991 Die neuen Straßenbahnnetze und ihre Tram 7 06.07.1992 Integration in den städtischen Raum Translohr 2 29.07.2013

Pau Standseilbahn 1 15.02.1908 Klammert man Utrecht mit seiner seit 1983 Reims Tram 2 16.04.2011 bestehenden, am Rande der Innenstadt en- Rennes VAL-Metro 1 16.03.2002 denden Schnellstraßenbahn aus, war Nan- Rouen Tram 2 17.12.1994 tes 1985 die erste westeuropäische Stadt, Saint-Etienne Tram 3 04.12.1881 die ein neues Straßenbahnsystem moder- Straßburg Tram 6 25.11.1994 ner Prägung komplett oberirdisch in eine Innenstadt implementierte. Dennoch bie- Thonon-les-Bains Standseilbahn 1 02.04.1888 tet Nantes auf seiner ersten Linie beson- Toulouse VAL-Metro 2 26.06.1993 ders im Außenbereich mit einem längeren Tram 2 11.12.2010 kreuzungsfreien Abschnitt parallel zu einer Tours Tram 2 31.08.2013 Bahnstrecke sowie viel Schottergleis in Mit- Valenciennes Tram 2 16.06.2006 tellage von Hauptverkehrsstraßen durchaus Quelle: eigene Datenfortschreibung noch einiges, was hierzulande vom Stadt- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 427

bahnbau der 1970er- und 1980er-Jahre bekannt ist. Im Stadtzentrum wurde das Projekt wiederum dadurch begünstigt, dass sehr breite Boulevards zur Verfügung stan- den, auf denen eine Straßenbahntrasse re- lativ einfach untergebracht werden konnte. Kehrseite dieser großzügigen Trassierung war, dass man diverse verdichtete Bereiche nur randlich erschließen konnte und die Straßenbahn damit weiterhin auf parallel geführte Buslinien zur Feinerschließung angewiesen war.

Im Anschluss sollte die Entwicklung in Frankreich sehr schnell in eine andere Rich- Voll integrierte innerstädtische Straßenbahn im Zentrum von Grenoble Foto: Mathias Metzmacher tung gehen – und zwar mitten in die Herzen der Städte, unter der Prämisse einer neuen, rastruktur und der Fahrzeuge allerhöchste „sanften“ Planung. Dieser Trend begann in Aufmerksamkeit zu widmen. Nur so ließ Grenoble, wo 1987 das zweite neue Stra- sich ein derartiges Bauvorhaben politisch ßenbahnsystem eröffnet wurde. Mit Blick überhaupt durchsetzen. Eine unmittelbare auf die sehr enge Altstadt wäre dort nach Folge daraus war, dass Grenoble zum welt- damaligen europäischen Planungsleitbil- weit ersten Straßenbahnsystem avancier- dern eigentlich nur eine teilweise unterir- te, das netzweit mit Niederflurfahrzeugen dische Stadtbahn möglich gewesen, auf die und entsprechend niedrigen Bahnsteigen man aus Kostengründen aber verzichtete. betrieben wurde. Dazu kam der Ansatz, Sehr schnell verselbstständigte sich diese die Straßenbahn als Markenzeichen und Grundsatzentscheidung dann zu einer neu- Identitätsfaktor der Stadt besonders her- en Planungsstrategie: den Autoverkehr im auszustellen. Das für Grenoble entwickelte Stadtzentrum neu zu ordnen und insgesamt Fahrzeug gilt als erste Straßenbahn, deren einzudämmen, mehr Raum für Fußgänger Konstruktion von vorneherein – und nicht zu schaffen und gleichzeitig die Straßen- erst im Nachgang zur technischen Pla- bahn als aktives Element zur Erschließung nung – von Designern beeinflusst war. Der und städtebaulichen Gestaltung von derart Unterschied zur einem in Deutschland viel- revitalisierten Innenstädten einzusetzen, fach bis heute vorherrschenden Meinungs- sprich diese unmittelbar oberirdisch in bild ist eminent: Straßenbahn gilt hier nicht neu geschaffene Fußgängerbereiche her- als notwendiges Übel zur Verkehrserschlie- einzuholen. Dabei ist zu berücksichtigen, ßung, sondern als Teil des städtischen Le- dass in Frankreich Verkehrsberuhigungs- bens und als Werkzeug zur Stadtgestaltung. projekte und Fußgängerzonen seinerzeit im Gegensatz zu Deutschland noch weitaus Ein ähnlicher Ansatz findet sich wiederum weniger verbreitet waren. Vielmehr wurde in den Vororten: Frankreichs Städte sind die Straßenbahn zum „Türöffner“ für der- nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach recht artige Konzepte, ähnlich wie es in Deutsch- unstrukturiert in die Fläche gewachsen land in den 1960er- und 1970er-Jahren der („Banlieue“). Alte Dorfstrukturen, Großein- Stadtbahntunnelbau gewesen war. Ein sehr kaufszentren, Großsiedlungen des sozialen wichtiger Aspekt war und ist dabei die Re- Wohnungsbaus und Schnellstraßen bilden vitalisierung der historischen Stadtzentren, einen gesichtslosen suburbanen Raum, der die durch einen attraktiven öffentlichen auf die Erschließung mit dem Automobil Nahverkehr besser erreichbar gemacht und optimiert ist. Insbesondere die frankreich- in ihrer Funktion als zentraler Einkaufsbe- typischen Großsiedlungen entwickelten reich gestärkt werden sollen. sich vielerorts zu sozialen Problemvierteln, ihre oft mangelhafte städtebauliche Inte- Mit dem Ansatz der oberirdischen Prä- gration in die jeweilige Gesamtstadt ver- senz der Straßenbahn im durchaus sehr bunden mit einer schlechten Infrastruktur ansehnlichen historischen Zentrum Gre- vor Ort verstärkte diese Tendenz. So wie nobles ergab sich beinahe zwangsläufig die moderne französische Straßenbahn die die Notwendigkeit, der Gestaltung der Inf- historischen Zentren aufwerten und wie-

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derbeleben soll, soll sie selbiges auch in der ne Eingriffe zugunsten des öffentlichen Ver- Banlieue erreichen: vernachlässigte Wohn- kehrs und gleichzeitig zulasten des moto- siedlungen attraktiv an das öffentliche risierten Individualverkehrs waren radikal: Verkehrsnetz anbinden und damit besser ersatzlose Sperrung von Hauptdurchgangs- in die Stadt integrieren sowie gleichzeitig straßen, Führung der Straßenbahn durch autofixierte Strukturen aufbrechen. Neben enge Altstadtgassen und trotzdem vom der funktionalen Verkehrsanbindung wird Autoverkehr getrennt, perfekte Einbindung auch dies in aller Regel mit einer komplet- der Infrastruktur in das städtische Um- ten Neugestaltung des öffentlichen Raums feld. Das Ganze verbesserte die Verkehrs- verbunden (z. B. Begrünung, Schaffung verhältnisse auch auf den Straßen spürbar von Plätzen, Stärkung von Ortsteilzentren, und führte daneben zu einem handfesten Verbesserung der Fußgängerfreundlich- Wachstum von (einkaufenden) Passanten keit etc.). Die Straßenbahn soll also nicht im Stadtzentrum. Zu Beginn politisch und nur dort „schön“ sein, wo auch die Stadt gesellschaftlich äußerst polarisierend, führ- „schön“ ist, sondern gerade auch die weni- ten Steigerungen der Fahrgastzahlen in Ver- ger begünstigten Räume der Stadt aufwer- bindung mit der offensichtlichen Verschö- ten. Die kommunale Organisations- und nerung und Belebung des Stadtkerns dazu, Finanzierungshoheit begünstigt diesen Pro- dass die Straßenbahn in Straßburg heute zess, da sie die gemeinsame Finanzierung quer durch die Lokalpolitik unumstritten von Verkehrs- und Städtebauprojekten er- ist und massiv weiter ausgebaut wird. Allein möglicht. in den ersten drei Betriebsjahren konnte ein Fahrgastwachstum von 43 % registriert Straßburg perfektionierte eine knappe De- werden. Der Autoverkehr im Zentrum ging kade später all diese Ansätze und schuf gleichzeitig um 17 % zurück, dagegen er- mit seiner 1994 eröffneten Straßenbahn höhte sich das Fußgängeraufkommen um ein weltweit richtungsweisendes System. 20 %. Wenige Jahre später führte die Er- Kernüberlegung war die Verbannung des öffnung einer zweiten Stammstrecke noch gesamten Durchgangsverkehrs aus der einmal zu ähnlichen Verlagerungseffekten. Innenstadt. Stattdessen sicherte man die Damit wurde Straßburg zum Vorbild für MIV-Erreichbarkeit durch ein sektoral an- eine Vielzahl weiterer französischer Städte, gelegtes System mehrerer nur von außen die seitdem neue Straßenbahnsysteme ein- angebundener Erschließungsbereiche. Die geführt haben. Rouen, das ebenfalls 1994 im Zentrum freiwerdenden Flächen wur- das „planerische Konkurrenzkonzept“ ei- den anschließend für die Straßenbahn und ner Stadtbahn mit Tunnel in der Innenstadt Fußgänger neu gestaltet. Damit verbunde- und oberirdischen Strecken in den Außen- bereichen umgesetzt hatte, kopierte dage- gen niemand: zu teuer, zu wenig positive Auswirkungen auf den Stadtkern und eine Besonders extravagantes Beispiel individuell gestalteter Straßenbahnzüge Leistungsfähigkeit, die für einen Ballungs- in Marseille mit maritimem Bezug raum von knapp 400.000 Einwohnern nicht notwendig ist.

Die Städte, die dem Beispiel Straßburg folg- ten, gingen den integrierten Ansatz von Straßenbahn und Städtebau in der Folge- zeit konsequent weiter und vertieften die- sen. So entwickelte etwa Orléans für die Außengestaltung seiner Straßenbahnzüge einen individuellen Farbton, der sorgsam auf die Bebauung in der von der Straßen- bahn durchquerten Altstadt abgestimmt wurde und ein beeindruckendes Erschei- nungsbild der Symbiose von Straßenbahn und Stadt erzeugt. Marseille ließ sich beim Design seiner neuen Bahnen von Schiffen inspirieren, eine Hommage an den mari-

Foto: Christoph Groneck timen Charakter der Stadt und deren Rol- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 429

le als größte Hafenstadt Frankreichs. Lyon Anwohner von oberirdischen Lösungen baute eine neue Straßenbahnstrecke über zu überzeugen. Sicherlich lässt sich über mehrere Kilometer entlang einer mehrstrei- viele Details kontrovers diskutieren – fest- figen, dicht bebauten und gleichzeitig völlig zuhalten ist aber, dass die Verkehrspolitik stadtunverträglichen wichtigen Ausfallstra- sich getraut hat, neue Wege zu gehen und ße und funktionierte diese Ausfallstraße polarisierende Konzepte auch umzusetzen, gleichzeitig ersatzlos zu einer zweibahnigen ohne sie im Dickicht politischer Kompro- Einbahnstraße für den Erschließungsver- missfindung bis zur Unkenntlichkeit zu kehr um. Montpellier entwickelte für seine verfälschen. inzwischen vier Linien jeweils ein völlig ei- genständigen und sehr auffälliges Design, das sich konsequent sowohl auf die Halte- Fahrgastentwicklung stelleninfrastruktur, die Fahrgastinforma­ tion als auch auf die Fahrzeuge bezieht. Seit den 1970er-Jahren wächst der öffentli- che Verkehr in Frankreich stetig, aber lang- Der Grundsatz „von Fassade zu Fassade“ sam. Die durchschnittlich pro Einwohner wurde bei der Planung neuer Straßenbahn- zurückgelegten ÖPNV-Wege stiegen da- strecken zum allgemeinen Leitbild, und die bei um etwa 20 %. Allerdings stand diese Ergebnisse dieser ganzheitlichen Planung Entwicklung lange Zeit im Schatten des lassen sich sehr genau erkennen. Nirgend- weitaus stärker wachsenden MIV, dessen wo wirkt die Straßenbahn als Fremdkörper. durchschnittliche Wegezahl sich zwischen Der Anteil von optisch bestechenden Stre- ca. 1970 und 2000 verdoppelte. Erst seit der ckenabschnitten mit Rasengleis wuchs von Jahrtausendwende wird eine Trendumkehr System zu System, dazu kommen allerorts sichtbar: Die Fahrleistung des MIV ging große und kleine Gestaltungsdetails bis hin im Jahr 2005 erstmals seit der Ölkrise 1973 zu künstlerischen Elementen. Bordeaux leicht zurück. Allerdings ist die Modal-Split- ging in Sachen behutsamer urbaner Ein- Entwicklung in Frankreich noch mehr als in führung der Straßenbahn dann noch einen Deutschland je nach Raumstruktur höchst Schritt weiter und verzichtete in der Innen- unterschiedlich. In der Fläche spielt der stadt auf Oberleitungen – obwohl schon die ÖPNV keine Rolle, er ist oft schlicht nicht vorausgegangenen Systeme keinen einzi- vorhanden. In verdichteten Räumen wie- gen Meter Strecke mit einer eisenbahnähn- derum öffnet sich die Schere immer weiter. lichen Hochkettenfahrleitung überspannt Über die letzten zwei Jahrzehnte verharrte hatten, sondern alle auf eine sehr filigrane sowohl das absolute als auch das relative nachgespannte Einfachfahrleitung zurück- ÖPNV-Aufkommen in den meisten Städten gegriffen hatten. Wesentlich dabei: Es wur- mit reinem Busverkehr auf relativ gerin- den Finanzierungsmöglichkeiten ersonnen gem Niveau. Dagegen lassen sich in den und umgesetzt, die es ermöglichten, den Städten, die neue ÖPNV-Verkehrsmittel auf Bau von Straßenbahnstrecken und städti- Eigentrasse eingeführt haben, teilweise er- sche Gestaltungsmaßnahmen als Gesamt- hebliches Fahrgastwachstum und Modal- projekte zusammen durchzuführen – ohne Split-Verschiebungen vom MIV zum ÖPNV sich ständig für über die reine Verkehrsfunk- feststellen. tion hinausgehenden vermeintlichen städ- tebaulichen „Schnickschnack“ rechtfertigen Deutlich wird dieser Trend in einer Un- zu müssen. Die Bündelung der organisato- tersuchung des Aufgabenträgerverbandes rischen und finanziellen Zuständigkeiten GART (2011), der für das Bezugsjahr 2010 bei den kommunalen Aufgabenträgern ist insgesamt 175 Stadtverkehrsnetze außer- dafür ein wesentlicher Faktor. Dabei darf halb von Paris untersucht hat. Diese Netze eines nicht vergessen werden: Die in vielen repräsentieren zusammen ein Einzugs- Vergleichen gerne hervorgehobenen hohen gebiet von 24,6 Mio. Einwohnern, die im Baukosten der Straßenbahn „à la française“ Jahre 2010 rund 2,4 Mrd. Wege mit dem relativieren sich recht deutlich, wenn man ÖPNV absolvierten und dabei 703,8 Mio. berücksichtigt, dass man sich dadurch den km zurücklegten. Gemittelt ergibt dies eine Aufwand für Tunnelbauwerke weitgehend durchschnittliche Wegelänge von 3,44 km sparen konnte. Allein die hohen Ansprü- und 98 Fahrten pro Einwohner und Jahr. che hinsichtlich Trassengestaltung und Bei einer detaillierten Betrachtung fächert Baukultur machten es möglich, Politik und dies aber auseinander: Für die zwanzig

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Tabelle 2 auch in einer deutlich höheren Nutzung des Fahrgastentwicklung 1999/2000 in Städten mit neuen Straßenbahnsystemen ÖPNV niedergeschlagen haben. Die Dis- Differenz krepanz im Nutzerverhalten ist also global Fahrgäste Fahrgäste 1999/2010 Wichtigste Stadt 1999 in Mio. 2010 in Mio. in % Neubaumaßnahmen gesehen nicht etwa auf unterschiedliche Stadtstrukturen, sondern tatsächlich auf Bordeaux 64,5 102,0 +58 3 neue Straßenbahn- linien (ab 2003) den ÖPNV-Ausbau zurückzuführen. Lyon 255,2 370,3 +45 4 neue Straßenbahn- linien (ab 2000) Tabelle 3 setzt die Beförderungszahlen der Erweiterung Metronetz kommunalen Schienenverkehrsmittel aus (2000) Ausbau Obus (ab 2006) dem Jahr 2010 in Deutschland und Frank- Montpellier 28,8 62,2 +116 2 neue Straßenbahn- reich gegenüber. Es sei darauf hingewiesen, linien (2000/06) dass ein derartiger Vergleich aufgrund un- Nantes 82,3 113,1 +37 1 neue Straßenbahn- terschiedlicher statistischer Abgrenzungen linie (2000) natürlich nur einen groben Anhaltswert Erweiterung Straßenbahn- netz (ab 2000) geben kann. Dennoch lassen sich Tenden- neue Busway-Linie (2006) zen erkennen: Pro Kopf gerechnet gibt es in Orléans 16,1 26,4 +64 1 neue Straßenbahn- Frankreich nach wie vor nur etwa ein Drit- linie (2000) tel Streckenkilometer kommunaler Bahnen Straßburg 63,0 100,3 +59 2 neue Straßenbahn- wie in Deutschland. Auf dieser wesentlich linien (2000) Erweiterung Straßenbahn- kürzeren Infrastruktur wird allerdings ein netz (ab 2007) Fahrgastaufkommen abgewickelt, dass nur Quelle: vgl. Groneck 2012, alle Daten für 1999 gemäß La Vie du Rail: Palmarès 2000 des 20 % geringer ist als jenes hierzulande. Al- grandes villes (18.10.2000); Daten für 2010 gemäß Geschäftsberichten und lerdings ist dieser Vergleich stark von der Internetpräsentationen der Verkehrsunternehmen. Fahrgastzahlen Orléans Stand 2009. Die Fahrgastzahlen beziehen sich stets auf die Linienbeförderungsfälle im Gesamtnetz. Singularität des Großraums Paris beein- flusst, der in Deutschland kein Äquivalent kennt. Doch auch bei Ausklammerung der Tabelle 3 Region Île-de-France bestätigt sich die rela- Kommunaler Schienenverkehr in Frankreich und Deutschland, tiv höhere Nutzung der kommunalen Schie- Bezugsjahr 2010 nenstrecken in Frankreich, wenngleich in Frankreich …davon Île-de-France Deutschland abgeschwächter Dimension: Pro Kopf er- Streckenlänge (km) ~925 ~375 3.848 gibt sich dann eine Streckenlänge von le- Fahrgäste (Mio.) 3.067 2.080 3.747 diglich gut 20 %, auf der aber gut 40 % der Gesamtbevölkerung (Mio.) 65 12 82 deutschen Beförderungsleistung erbracht werden. Freilich wäre ein umgekehrtes Ver- Quelle: GART 2011, VDV-Statistik 2010 hältnis auch eine große Überraschung, da die französischen Netze als weitgehende Neubauten auf die heutigen Stadtstruktu- untersuchten Städte mit Schienenverkehrs- ren abgestimmt sind und es keine schwach mitteln ermittelte die Studie durchschnitt- frequentierten Altstrecken gibt. Neue Syste- lich 161 Fahrten pro Einwohner und Jahr, me, deren Fahrgastaufkommen nicht über- für die mit reinem Bus-ÖPNV dagegen zeugt, gibt es in Frankreich im Gegensatz nur 52. Selbst bei weiterer Differenzierung zu anderen Teilen Europas bislang nicht. nach Stadtgröße verschiebt sich dieses Bild Grund dafür ist vor allem, dass man sich nicht wesentlich. Die großen Busstädte mit traut, dahin zu gehen, wo die Musik spielt mehr als 200.000 Einwohnern kommen im – auch oder gerade, wenn man dafür die Schnitt auf 69 Fahrten, bei den kleineren Stadt und ihre verkehrliche Organisation Städten gilt im Allgemeinen die Faustfor- völlig neu überdenken muss. Die städte- mel: je weniger Einwohner, desto weniger bauliche Integration ist dafür eine ganz we- Fahrgäste. Kaum eine Rolle spielt der ÖPNV sentliche Voraussetzung. in den Kleinstädten mit unter 50.000 Ein- wohnern und durchschnittlich 21 Fahrten. Aufgrund der Trassierung der neuen Sys- teme konsequent entlang der Hauptver- Tabelle 2 stellt einen Zehnjahresvergleich kehrsachsen inklusive direkter Anbindung der Städte dar, die um das Jahr 2000 herum möglichst vieler verkehrserzeugender Straßenbahnsysteme neu eingeführt oder Großeinrichtungen ist bei allen neuen Sys- wesentlich erweitert haben. Es wird deut- temen eine sehr hohe Fahrgastpotenzialab- lich, dass sich die erheblichen Investitionen schöpfung zu beobachten. In den größeren Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 431

Städten dringen die Straßenbahnen dabei Nicht zuletzt auf dieser Grundlage fiel die in Nachfragedimensionen ein, die in den Neueinführung von Straßenbahnsystemen 1970er-Jahren als schnellbahngerecht beur- in Frankreich in den 1980er-Jahren gewis- teilt worden wären. Spitzenreiter außerhalb sermaßen auf eine „fruchtbare Grundlage“. von Paris ist die Linie 1 in Montpellier mit Es ist dabei sicherlich auch kein Zufall, dass über 120.000 Fahrgästen pro Werktag. die beiden französischen Pioniere der städ- tisch integrierten Niederflurstraßenbahn, Grenoble und Straßburg, räumlich nah Die Entwicklung in anderen zur Schweiz und zu Südwestdeutschland europäischen Ländern liegen: Dies sind Gebiete, in denen erhal- ten gebliebene konventionelle Netze zum Frankreich ist weder das erste noch das ein- gleichen Zeitpunkt ebenfalls größere Wert- zige Land der westlichen Welt, in dem die schätzung erfuhren und ausgebaut wurden. zwischenzeitlich weitgehend abgeschaffte So gehen etwa erste ernsthafte Bestrebun- Straßenbahn eine Renaissance erlebt. Die gen zur Etablierung der Niederflurtechnik Anfänge zur Wiedereinführung neuer ober- auf die schweizerische Stadt Genf zurück irdischer städtischer Schienennetze ge- – in der Luftlinie nur 120 km von Grenob- hen vielmehr auf den nordamerikanischen le entfernt –, wo die Technik dann wenige Raum zurück (Edmonton 1978, Calgary und Jahre später ihren Durchbruch erfuhr. An- San Diego 1981). In Europa selbst führte wie schließend wurden die ersten neuen fran- oben erwähnt die niederländische Stadt Ut- zösischen Systeme schnell zu Vorbildern für recht zwei Jahre vor Nantes 1983 das erste weitere völlig neue Straßenbahnsysteme in komplett neue Oberflächen-Stadtbahnsys- Europa und auch in Übersee. Der Einfluss tem nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Diese französischer Planungsleitbilder, insbeson- Projekte waren jedoch alle noch Einzelfälle. dere was den städtebaulich integrierten Ansatz angeht, ist dabei vielerorts eindeutig Ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre be- erkennbar. Gleichwohl sind in verschiede- gannen andererseits viele mitteleuropäi- nen Teilen Europas bis heute recht unter- sche Städte und Regionen, ihre erhalten schiedliche Tendenzen auszumachen. gebliebenen konventionellen Straßenbahn- netze substanziell zu modernisieren. Hin- Aus Großbritannien und Irland war die tergrund war die Einsicht, dass die bis dato Straßenbahn abgesehen vom touristisch vielerorts propagierte Zielvorstellung, kon- geprägten Betrieb in Blackpool sowie ei- ventionelle Straßenbahnnetze zu schnell- nigen Museumsstrecken vollständig ver- bahnähnlichen Systemen weiterzuentwi- schwunden. Die Eröffnung von neuen Sys- ckeln, in vielen Städten überdimensioniert temen begann 1992 in Manchester, später und außerdem schlicht nicht finanzierbar folgten Sheffield, Birmingham, Croydon (im war. Gleichzeitig hatte sich der Zeitgeist Süden Londons), Dublin, Nottingham und inzwischen gewandelt: Die Straßenbahn Edinburgh. Viele dieser Netze nutzen über wurde als wichtiges Instrument gesehen, weite Abschnitte ehemalige Eisenbahn- das eine nachhaltige und stadtverträgliche trassen – zurückgehend auf die Entwick- Mobilität ermöglicht. lung des britischen Eisenbahnwesens mit vielen rivalisierenden Unternehmen, die Viele Bestandsnetze wurden daraufhin mit einst Parallelstrecken gebaut hatten. In der dem Ziel der Beschleunigung und Kapa- Nachkriegszeit wurde das Eisenbahnnetz zitätssteigerung ausgebaut. Mancherorts vereinheitlicht und parallele Verbindun- wurde dieser Prozess auch mit Netzerwei- gen wurden abgebaut. Dadurch gab und terungen in neuere Vororte verbunden, gibt es in den Ballungsräumen vielerorts um die seit dem Zweiten Weltkrieg immer siedlungsnah liegende ungenutzte Trassen, weiter verstärkte Entkopplung von Sied- die vergleichsweise einfach für einen leis- lungsentwicklung und ÖPNV-Infrastruktur- tungsfähigen städtischen Schienenverkehr ausbau zu beheben. Ein besonders vorbild- adaptiert werden konnten. Kehrseite dieses liches Beispiel dafür ist das Netz in Freiburg Vorgehens ist, dass die Straßenbahn in die (vgl. Beitrag Haag/Schick). Mit dieser Ent- Städte vielerorts baulich und gestalterisch wicklung endete in den 1980er-Jahren die nicht wirklich integriert ist. Zudem führte Epoche der Stilllegung von Straßenbahn- die Deregulierung des britischen ÖPNV zu systemen in Europa. einem Umfeld, in dem Straßenbahnen nur

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sehr begrenzt (volks-)wirtschaftlich sinnvoll Identity. Mit der Wirtschaftskrise stockt je- betreibbar sind. Selbst bei erfolgreichen doch derzeit allerorten der weitere Ausbau, neuen Systemen gibt es zum Beispiel Bus- und zwei fertige Systeme in Jaen und Velez- parallelverkehre. Insgesamt ist der Ausbau- Malaga liegen sogar bis auf Weiteres brach, prozess bis heute eher verhalten und wird da vor Ort die Betriebskosten nicht aufge- den im europäischen Vergleich durchaus bracht werden können. großen britischen Ballungsräumen nicht gerecht. Ausnahmen gibt es allerdings: So Das Bild aus Italien ist divergent. Ungüns- wird in Dublin gerade die zweite innerstäd- tige Randbedingungen zur Förderung städ- tische Durchmesserlinie als klassische Stra- tischer Infrastrukturprojekte konnten einen ßenbahn gebaut und auch in Nottingham längerfristig stabilen Prozess bislang nicht gibt es sowohl bezüglich der Einbindung in entstehen lassen. Den französischen Vor- den Stadtkern als auch des sukzessiven wei- bildern recht nahe kommt das neue System teren Ausbaus in die Vororte ein sehr über- in Florenz (2010), das auch als einziges in- zeugendes Projekt. tensiv weiter ausgebaut wird. Auch Palermo starte 2015 vielversprechend, jedoch nach Auf der iberischen Halbinsel wurde in den jahrelangen Bauverzögerungen. In Bergamo vergangenen beiden Jahrzehnten sehr in- wurde eine brach liegende Eisenbahntrecke tensiv in den städtischen Schienenverkehr mustergültig als Regionalstadtbahn reakti- investiert, der hier abgesehen von den viert. Andere Projekte waren weniger am- Metros in Barcelona, Madrid und Lissa- bitioniert und kamen über erste Strecken bon sowie einigen altertümlichen Traditi- bislang nicht hinaus. Dazu gehören Caglia- onsstraßenbahnbetrieben ebenfalls kom- ri, Sassari und Messina. In den niemals ein- plett verschwunden war. Angesichts des gestellten großen Altnetzen von Mailand, zwischenzeitlichen Baubooms führte dies Turin, Neapel und Rom gab es diverse Mo- mancherorts zu Lösungen, die sich dem dernisierungen und Erweiterungen. Vorwurf der Überdimensionierung stel- len müssen. Gleichzeitig gibt es aber auch Die griechische Hauptstadt Athen führte die sehr vorbildliche neue Oberflächen-Stra- Straßenbahn anlässlich der Olympischen ßenbahnsysteme, die mehr oder weniger Spiele 2004 wieder ein, jedoch ohne damit konsequent den französischen Ansatz auf- den Stadtkern zu durchqueren. Weitere greifen. Ganz besonders zu nennen ist da- Ausbauten gab es seitdem nicht mehr. bei Zaragoza: Wie in Sevilla wurde hier in der Innenstadt sogar ein fahrleitungsfreier In Skandinavien steht die Entwicklung Betrieb realisiert. Vitoria-Gasteiz im Bas- noch am Anfang. Vorreiter ist hier das nor- kenland setzt die Straßenbahn bewusst zur wegische Bergen mit einem ganzheitlichen verkehrlichen Neuordnung der gesamten Stadtbahnsystem (2010), das durchaus mit Stadt ein, mit dem herausgehobenen Ziel dem System in Porto zu vergleichen ist. der Förderung des ÖPNV und des nicht- Ebenfalls 2010 wurde eine kurze Innen- motorisierten Verkehrs. Im nahen Bilbao stadtlinie in Stockholm neu eingeführt. wurde die Straßenbahn wiederum als Bau- Weitere Netze in Dänemark und Südschwe- stein zur Revitalisierung einer zentralen den befinden sich in der Realisierungs- Konversionsfläche genutzt, auf der sich in- phase. Niemals stillgelegt wurden die Stra- zwischen unter anderem das weltberühm- ßenbahnen in Oslo, Trondheim, Göteborg, te Guggenheim-Museum befindet. Weitere Norrköping und Helsinki. gelungene Beispiele finden sich in Alicante, Almada (bei Lissabon), Barcelona, Murcia, In Mittelosteuropa wiederum gab es vor Parla (bei Madrid), Santa Cruz de Tenerife dem Fall des „eisernen Vorhangs“ keinen und Valencia (erstes neues System 1994). mit Westeuropa vergleichbaren Abschaf- Porto eröffnete 2002 ein wegweisendes Nie- fungsprozess städtischer Straßenbahnnet- derflur-Stadtbahnsystem, das oberirdisch ze. Dies lag vor allem an der Energiepolitik, integrierte Abschnitte, Tunnelstrecken und die in den großen Städten auf elektrischen umgebaute Eisenbahntrassen ins Umland ÖPNV setzte, um die Abhängigkeit vom perfekt miteinander kombiniert. Alle Sys- Erdöl zu verringern. Stellenweise gab es tembestandteile von der Infrastruktur über auch erhebliche Ausbauprojekte, insbe- die Fahrzeuge bis hin zur Kommunikation sondere zur Anbindung der für Osteuropa folgen hier einer herausragenden Corporate typischen Großwohnsiedlungen. Gleichzei- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 433

tig hatte die Straßenbahn aber auch unter Im näheren Umfeld von Europa fallen zum allen Auswirkungen der mehr oder weniger einen Marokko und Algerien sowie zum an- stark ausgeprägten Mangelwirtschaft zu lei- deren die Türkei ins Auge. Alle drei Länder den. Diese divergente Situation führte etwa investieren aktuell massiv in den städti- dazu, dass sieben rumänische Städte in den schen Schienenverkehr. In der Türkei liegt späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren der Schwerpunkt bei U-Bahn- und Stadt- sogar noch völlig neue Systeme eröffneten bahnsystemen. Gleichwohl gibt es auch (Constanta, Cluj-Napoca, Brasov, Craio- einige vorbildliche neue Straßenbahnsyste- va, Ploiesti, Resita, Botosani), diese aber me, etwa in Eskisehir und Kayseri. Marokko wenige Jahre später schon so verschlissen und Algerien setzen klar auf französische waren, dass drei davon inzwischen wieder Konzepte, entsprechende Wirtschaftsför- stillgelegt sind. Inzwischen werden die nach derung ist unübersehbar, jedoch mit etwas wie vor vorhandenen Netze zwischen der abgespeckter stadtgestalterischer Integra- Ostsee und dem Schwarzen Meer jedoch tion bei gleichzeitig höherer Kapazität mit fast überall modernisiert. Vielerorts behalf Langzügen. Hier ist aktuell eine ganz er- man sich zwischenzeitlich mit Second- hebliche Dynamik festzustellen. Hand-Fahrzeugen aus Deutschland, inzwi- schen gibt es zunehmend auch Systeme auf In Nordamerika findet bereits seit Beginn der Höhe der Zeit, insbesondere in Polen, der 1980er-Jahre ein zunehmend reger Aus- Ungarn und Tschechien. Polen verfügt mitt- bauprozess statt. Zunächst standen dabei lerweile über eine leistungsfähige Straßen- Light-Rail-Konzepte im Vordergrund, mit bahnindustrie und stellt schrittweise auf langen und schnellbahnähnlich trassierten Niederflurbetrieb um. In Olsztyn gibt es seit Außenstrecken bis hin zu längeren Tunnel- Ende 2015 sogar das erste komplett neue bauwerken, teilweise aber auch mit ober- moderne Straßenbahnsystem. Ähnlich wie irdisch integrierten Innenstadtstrecken. im deutschsprachigen Raum sind die meis- Als Ergänzung dazu entstehen derzeit in ten Netze in Mittelosteuropa allerdings eher vielen US-amerikanischen Städten kurze funktional und weniger stadtgestalterisch- „Streetcar“-Systeme: Dabei handelt es sich ästhetisch geprägt, besondere Bahnkörper um fast klassische Straßenbahnen in den mit Schottergleis herrschen vor. Es wird klar Stadtzentren zur Feinerschließung, die dort deutlich, dass dort, wo bestehende Infra- bewusst zur städtebaulichen Weiterent- struktur ausgebaut wird, fast immer anders wicklung eingesetzt werden. geplant und gestaltet wird als dort, wo sie neu eingeführt wird. Schlussbetrachtung Im deutschsprachigen Raum sowie in den Benelux-Staaten konzentriert sich die Ent- Zusammenfassend lassen sich für die neu- wicklung ebenfalls auf den Ausbau beste- en französischen Straßenbahnsysteme eine hender Systeme, begründet natürlich auch Vielzahl von Erfolgsfaktoren herausstellen. darauf, dass die meisten großen Städte nach wie vor über Straßen- oder Stadtbahnen (1) Durch die neu eingeführten Straßen- verfügen. Komplette Neueinführungen gab bahnstrecken konnten die Fahrgastzahlen es neben Utrecht bislang nur in Saarbrü- im jeweiligen ÖPNV-Gesamtsystem in allen cken (1997), dazu in Heilbronn und Ober- Fällen maßgeblich gesteigert werden. Die hausen als Fortsetzungen der Netze von Steigerungsraten liegen dabei in Bereichen Karlsruhe bzw. Mülheim/Ruhr aus, aber mit von 50 bis 100 %. In ähnlich großen franzö- einer eigenen innerstädtischen Funktion sischen Städten mit reinem Busverkehr kam und als potenzielle Basis für einen weiteren es im Vergleichszeitraum dagegen zu teil- Ausbau. Seit wenigen Jahren sind auch Weil weise beträchtlichen Fahrgastrückgängen. am Rhein von Basel und demnächst auch Dadurch ist die Frequentierung des ÖPNV Kehl von Strasbourg aus mit der Tram er- pro Einwohner und Jahr in den Straßen- reichbar. Luxemburg steht vor einer im Bau bahnstädten heute in nahezu allen Fällen befindlichen – sehr aufwendigen, städte- um mindestens die Hälfte höher als in ver- baulich integrierten – Neueinführung nach gleichbaren Städten mit reinem Busverkehr. französischer Philosophie, Lüttich befindet Vorab aufgestellte Fahrgastprognosen wur- sich in der Planung. den in keinem Fall negativ verfehlt, in meh- reren Fällen dagegen deutlich übertroffen.

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(2) Der Bau der Trassen wurde konsequent ein Kostenverhältnis von etwa 4:3:1, da- bis ins Detail hinein nach gestalterischen bei sind jeweils alle Projektkosten inklusi- Gesichtspunkten optimiert. In Verbindung ve Fahrzeuge und Depots einbezogen. Die mit einem auf die Örtlichkeiten abgestimm- örtliche Finanzierungshoheit führt im All- ten Fahrzeugdesign konnten so Verkehrssys- gemeinen vorab zu eher auf der sicheren teme geschaffen werden, deren Image in der Seite liegenden Kostenschätzungen, sodass Bevölkerung hoch ist und die als die Stadt die meisten Projekte im Budget umgesetzt positiv prägende Elemente wahrgenommen werden konnten. werden. Dieser Faktor erscheint hinsicht- lich der politischen Durchsetzbarkeit neuer (6) Eine meist vollständige Separierung Bauvorhaben als eminent wichtig. der Straßenbahn vom Autoverkehr ermög- licht störungsarme Betriebsweisen. Hervor- (3) Die oberirdische Präsenz der Straßen- zuheben ist dabei die „sanfte“ Separierung bahn in den Stadtzentren bei gleichzeitiger durch die Anlage von eingepflasterten be- Anlage von Fußgängerzonen steigerte die sonderen Bahnkörpern und der parallelen Attraktivität der Innenstädte erheblich. Da- Verkehrsberuhigung des MIV. Häufig ange- bei stiegen das Passantenaufkommen, die wendet wird die Strategie der Anlage von Bedeutung des innerstädtischen Einzelhan- besonderen Bahnkörpern in Seitenlage und dels und die Werte angrenzender Immobi- danebenliegender Fahrbahn für den MIV lien. Die raumplanerische Zielvorstellung nur noch im Einrichtungsverkehr. Gleisan- eines gestärkten Stadtkerns zulasten der lagen im Straßenraum sind für Fußgänger Standorte „auf der grünen Wiese“ konnte meist überall querbar und stellen damit erreicht werden. keine stadträumliche Barriere dar. Auf- grund eindeutiger Wegeführungen und der (4) Der Bau von Straßenbahnstrecken geschaffenen Sichtbeziehungen lässt sich hängt in Frankreich direkt mit der Eindäm- gegenüber stärker baulich separierten An- mung des Autoverkehrs in den Stadtzentren lagen kein Sicherheitsnachteil erkennen. zusammen. Letzteres wird in Form der Ver- pflichtung der Städte zur Aufstellung von (7) Direkt geführte Trassen für hohe Fahr- Verkehrsentwicklungsplänen inzwischen geschwindigkeiten in Zwischenbereichen auch gesetzlich verbindlich gefordert. Nur und die kleinräumige Integration der Stra- diese klare Zielvorgabe machte es möglich, ßenbahn direkt in Aufkommensschwer- in großem Umfang Verkehrsflächen für punkte wie Fußgängerzonen, Universitäten den MIV reduzieren und damit auch stadt- oder Großwohnsiedlungen optimieren die räumliche Neugestaltungsmaßnahmen zu- Gesamtreisezeiten als Summe von Fahrzeit sammen mit dem Bau der Straßenbahnen und Zugangszeiten. Gleichzeitig erreichen durchführen zu können. In Deutschland sie auch eine sehr hohe Abschöpfung des gibt es derartige gesetzliche Instrumente Fahrgastpotenzials. zur Eindämmung des Autoverkehrs in den Städten bislang nicht. (8) Durch die Nahverkehrsabgabe steht eine zweckgebundene Finanzquelle für den (5) Begründet durch den hohen Gestal- ÖPNV zur Verfügung, mit der angebotsori- tungsanspruch und flankierende städte- entiert geplant werden kann und die von baulichen Projekte sind die Baukosten neu- öffentlichen Haushaltsengpässen weitge- er Strecken in Frankreich im Direktvergleich hend unabhängig ist. Die Finanzierung von mit ähnlichen Maßnahmen in Deutsch- Infrastruktur und Betrieb aus einer Hand land im Allgemeinen höher. Andererseits führt dabei zu einem volkswirtschaftlich konnten die Innenstädte nur aufgrund des förderlichen Abwägungsprozess, wie der hohen Gestaltungsanspruchs oberirdisch Wirkungsgrad des Gesamtsystems insge- durchquert werden. Im Vergleich zur Alter- samt verbessert werden kann – die Finanz- native einer teilweise unterirdisch verkeh- planung wird nicht allein von den Rahmen- renden Stadtbahn sind die Gesamtkosten bedingungen Betriebskostenminimierung der neuen Systeme so deutlich niedriger. und Infrastrukturmaximierung bestimmt. Die Langzeitbetrachtung diverser französi- So verzichten etwa viele Straßenbahnstädte scher Projekte liefert zwischen den Alterna- mit der Entscheidung für eine oberirdische tiven einer voll ausgebauten U-Bahn, einer Innenstadtdurchquerung bewusst darauf, leichten VAL-Metro und einer Straßenbahn lange Zugeinheiten ggf. im Doppeltrakti- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 435

onsbetrieb einzusetzen, bieten aber da- für dichtere Takte mit kürzeren Zügen von meist etwa 30 oder 45 m Länge an. Die in Deutschland vorherrschende Infrastruk- turförderung in Kombination mit latent knapper Betriebskostenfinanzierung be- günstigt dagegen eher teure Infrastrukturen wie Tunnelstrecken, die dann mit längeren Zugeinheiten in ausgedünnter Taktfolge be- fahren werden können.

(9) Die Ausrichtung der Busverkehre auf die Straßenbahnnetze bei der Einführung von Zubringerverkehren und der Abbin- dung ehemals durchgehender Linien stellt ein wesentliches Erfolgskriterium der Stra- ßenbahnsysteme dar. Entscheidend dafür ist nicht zuletzt der Bau sorgfältig kon- zipierter Verknüpfungspunkte. Die Um- schichtung der Verkehrsleistung erlaubte vielerorts, das Angebot im Außenbereich zu verbessern (Busse nicht mehr in die Stadt, dafür aber häufiger). Durch den vermehr- ten Umsteigezwang konnten in keinem Fall Fahrgastrückgänge im Gesamtnetz ausge- macht werden. Vielmehr führte der Bau der Straßenbahnen in vielen Städten auch zu Nachfragezuwächsen auf zubringenden Buslinien.

(10) Die Einführung neuer Straßenbahn- systeme steigerte den relativen Kostende- ckungsgrad des ÖPNV. Die Kostenunter- deckung pro Fahrgast wurde also geringer, gleichzeitig stieg allerdings die absolute Kostenunterdeckung an. Dieser gegenläu- fige Effekt erklärt sich damit, dass für das neue Angebot zwar im Allgemeinen höhere Wichtiger Aspekt der neuen französischen Straßenbahnen ist die Revitalisierung Erstellungskosten anfallen, die Fahrgastzah- der tradtionellen Stadtkerne. Aus heutiger Sicht ist es fast unvorstellbar, dass len aber überproportional dazu wuchsen. die hier gezeigte zentrale Rue de la République in Orléans erst mit dem Straßen- bahnbau 2000 zur Fußgängerzone wurde. Foto: Christoph Groneck In nur drei Jahrzehnten erkämpfte sich die Straßenbahn moderner Prägung in nahezu allen französischen Ballungsräumen abseits die Fahrgastzahlen im deutschen ÖPNV der drei Großräume Paris, Lyon und Mar- auch niemals so stark zurück wie im fran- seille von einer Ausgangsbasis nahe Null die zösischen ÖPNV der Nachkriegszeit. unumstrittene Position des ÖPNV-Haupt- lastträgers. Gleichzeitig wurden Verkehrsge- Was ist nun der wesentliche Unterschied wohnheiten nachhaltig zum Vorteil für den zwischen der französischen Straßenbahn ÖPNV verändert. Frankreich beweist damit moderner Prägung und deutschen Stadt- eindrucksvoll den Nutzen spurgeführter bahnsystemen? Vereinfacht zusammen- kommunaler Nahverkehrsmittel – ein Be- gefasst: Hierzulande führte die Weiterent- weis, der in Deutschland nicht im selben wicklung der Straßenbahn traditioneller Maße geführt werden kann, da die Systeme Prägung zur Stadtbahn zu einer fließenden in den Ballungsräumen immer vorhanden Optimierung, die sich aber vielfach auf und niemals abgeschafft worden waren. technische und wirtschaftliche Aspekte be- Mutmaßlich aus demselben Grund gingen schränkte und damit vielerorts gleichzeitig

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zu einer Entkopplung von Bahnsystemen zu einer grundlegenden Neubewertung des und ihrem städtischen Umfeld führte. Erst Verkehrssystems Straßenbahn an sich füh- in jüngerer Zeit finden sich häufiger Projek- ren musste. Dabei waren die negativen Aus- te, die diese Entkopplung wieder auflösen wirkungen der Verkehrspolitik der Nach- und im Zuge von neuen Innenstadtstrecken kriegszeit sicherlich auch eine Chance, den einen Paradigmenwechsel verwirklichen. öffentlichen Nahverkehr noch einmal völlig Frankreich hatte dagegen im Zuge der Neu- neu zu überdenken und Straßenbahnen in einführung der Straßenbahn ab den 1980er- moderner Form neu zu entdecken. Diese Jahren eine ganze andere Ausgangsbasis Chance – auch zur gezielten Stärkung der – die Systeme mussten neu in die Städte Straßenbahn als Instrument der Stadtent- implementiert werden –, was fast zwangs- wicklung – nutzte Frankreich in beeindru- läufig zu anderen Lösungen bzw. zunächst ckender Art und Weise.

Literatur GART – Groupement des Autorités Responsables des Groneck, Christoph, 2012: Hochwertiger ÖPNV Transports, 2011: L’année 2010 des transports in Frankreich. In: stadtverkehr 12/2012. urbains hors Île-de-France. Groneck, Christoph; Schwandl, Robert, 2014: Tram Groneck, Christoph, 2003: Neue Straßenbahnen Atlas Frankreich, Robert Schwandl Verlag, Berlin. in Frankreich – Die Wiederkehr eines urbanen Verkehrsmittels; EK-Verlag GmbH Freiburg. Laisny, François, 2011: Atlas du tramway dans les villes françaises; Éditions Recherches. Groneck, Christoph, 2007: Französische Planungs- leitbilder für Straßenbahnsysteme im Vergleich Muller, Georges, 2000: Generation Tram; Éditions zu Deutschland. Dissertation an der Bergischen Oberlin; Strasbourg. Universität Wuppertal. Robert, Jean, 1974: Histoire des transports dans les villes de France; Eigenverlag. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 437

Ohne Geld geht es nicht Meinhard Zistel Finanzierung für die Tram in der Stadt

Die Beschlüsse der UN-Klimakonferenz in Paris vom 12. Dezember 2015 (UN 2015: 21 ff.) sind ein weiteres Signal zur deutlichen Stärkung des umwelt- und klimafreundlichen öf- fentlichen Verkehrs. Um das ambitionierte Ziel des Vertrags – die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 °C – zu erreichen, müssen auch in Deutschland zielfüh- rende Maßnahmen zur klimafreundlichen Gestaltung des Personenverkehrs umgesetzt werden, die deutlich über das bisherige „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ der Bundes- regierung hinausgehen (BMUB 2014: 49 ff.). Den ökologischen Vorteil, den der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) gegenüber anderen motorisierten Verkehrsmitteln schon heu- te bietet, gilt es weiter auszubauen und einen Modal-Shift zugunsten des Umweltverbunds zu erreichen.

Die deutsche Mobilitätspolitik sollte in den der Siedlungsgebiete mit ÖPNV-Angeboten kommenden Jahren der Verkehrswende – auch aus demografischen Gesichtspunk- mit einer stärkeren Verlagerung des Perso- ten – von zentraler Bedeutung. Die Anbin- nenverkehrs auf den umweltfreundlichen dung bislang nicht adäquat erschlossener ÖPNV und die nicht-motorisierten Verkeh- Siedlungsgebiete lässt sich kurzfristig mit re eine hohe Priorität einräumen. Vor allem Bussen umsetzen. Oberirdisch geführte in Großstädten und Ballungsräumen ent- Straßen- und Stadtbahnen können ver- lasten leistungsstarke und gut ausgebaute gleichsweise zeitnah die Kapazität auf be- Nahverkehrsangebote die Umwelt nachhal- reits stark belasteten Busachsen erweitern. tig und tragen dazu bei, die Klimaschutz- Sie sind wesentlich kostengünstiger um- ziele auf kommunaler Ebene zu erreichen. zusetzen als einzelne Großprojekte (z. B. Hierzu sind der Ausbau von Schienenstre- U-Bahn-Tunnel oder Hochbahntrassen), cken, Busspuren und Fahrradwegen, der erzielen eine bessere Flächenerschließung Einsatz von Verkehrstelematik zur ÖPNV- und haben einen wesentlich kürzeren Pla- Bevorrechtigung an Lichtsignalanlagen, die nungsvorlauf. Verdichtung des ÖPNV-Angebots sowie die kontinuierliche Erneuerung der Fahrzeug- Dieser Beitrag umreißt die Weiterentwick- flotten – bei der Schiene hin zu noch mehr lung der bestehenden Finanzierungssys- Energieeffizienz und zum Einsatz regenera- tematik für Neu- und Ausbauvorhaben im tiver Energiequellen – wesentliche Schritte. ÖPNV in Deutschland, geht auf Handlungs- ansätze ein und wirft dazu einen Blick auf vergleichbare Finanzierungsinstrumente im Straßenbahnen als zentraler Baustein benachbarten Ausland. Dabei wird insbe- für mehr Kapazität sondere auf die Situation und die Perspek- tiven von Straßen- und Stadtbahnsystemen In den wachsenden Verdichtungsräumen mit ihrer hohen stadtentwicklungspoliti- Deutschlands, in denen die Nahverkehrs- schen Bedeutung Bezug genommen. systeme zunehmend am Rand ihrer Kapa- zitätsgrenze arbeiten, ist die zeitnahe Rea- lisierung von ÖPNV-Investitionsvorhaben, Siedlungs- und Mobilitätsentwicklung Dipl.-Ing. Meinhard Zistel die auf eine steigende Nachfrage sowie in den Nachkriegsjahren ist Fachbereichsleiter beim eine größere Flächenwirkung des ÖPNV- Verband Deutscher Verkehrs- Gesamtsystems abzielen, dringend erfor- In den 1950er- und 1960er-Jahren vollzog unternehmen e. V. (VDV) und für die Themen ÖPNV-Finan- derlich. Neben Kapazitätserweiterungen sich in der Bundesrepublik Deutschland ein zierung, Demografie und länd- auf hoch belasteten Hauptachsen ist eine dynamisches und starkes Wirtschaftswachs- liche Räume verantwortlich. wesentlich feingliedrigere Erschließung tum, das allgemein als „Wirtschaftswunder“ [email protected]

438 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

bezeichnet wird. Der wirtschaftliche Boom Straßenbahnen und verursachten unattrak- in den Nachkriegsjahren ist ein gesamteu- tive, hohe Reisezeiten im Nahverkehr. Ge- ropäisches Phänomen und hielt bis zur Öl- mäß des damals als modern eingeschätzten preiskrise im Jahr 1973 an. Dabei verloren stadtplanerischen Leitbilds zur „Trennung die Landwirtschaft und das produzierende der Verkehrsarten“ und „autogerechten Gewerbe zunehmend an Bedeutung, wäh- Stadt“ war es schlüssig, Straßenbahn- und rend der Dienstleistungssektor immer be- Autoverkehr, wo immer dies möglich war, deutender wurde. Seit den 1970er-Jahren ist räumlich voneinander zu separieren. die Bundesrepublik Deutschland endgültig in der Dienstleistungsgesellschaft ange- Dazu gibt es mehrere Handlungsoptionen: kommen. • Stilllegung einzelner Streckenabschnitte Die Bevölkerungs- und Siedlungsent- oder ganzer Straßenbahnnetze wicklung im Nachkriegsdeutschland ist von mehreren, gleichzeitig ablaufenden • Verlegen der Straßenbahnstrecke auf ei- Prozessen geprägt. Die geburtenstarken nen besonderen Bahnkörper Nachkriegsjahrgänge von 1955 bis 1969 („Babyboomer“) sorgten für ein Bevölke- • Verlegen der Straßenbahnstrecke in eine rungswachstum. Mit der Tertiarisierung der zweite Verkehrsebene (Untergrund- oder Wirtschaft war zugleich eine Landflucht Hochbahntrasse) ins Umfeld wirtschaftlich prosperierender Räume verbunden. Da der Wohnraum in Während im Zweiten Weltkrieg und in den den Stadtzentren vielerorts noch Kriegszer- unmittelbaren Nachkriegsjahren bis Ende störungen aufwies und das eigene Häus- 1949 der Straßenbahnbetrieb nur in etwa chen im Grünen zum gesellschaftlich an- zehn deutschen Städten eingestellt wurde gestrebten Ziel avancierte, verlagerte sich – z. B. in Eberswalde, Esslingen am Neckar, die Wohnbevölkerung aus den Innenstäd- Hanau, Hildesheim, Landshut, Pirmasens, ten zunehmend in die Vororte. Gleichzei- Wilhelmshaven – begann ab den 1950er- tig erfolgte die Besiedlung flächenhaft und Jahren in der Bundesrepublik eine gro- nicht nur (bevorzugt) an leistungsfähigen ße Stilllegungswelle, bei der bis 1979 fast ÖV-Achsen (Suburbanisierung). Die neu- 70 komplette Straßenbahnnetze (inklusive en Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor einiger Überlandstrecken) ihren Betrieb entstanden hingegen vorrangig in den wie- einstellen mussten. deraufgebauten Stadtzentren. Dies führte – vor allem im Berufsverkehr – zu einem Die Entwicklung der Straßenbahn folgte starken Anstieg der Stadt-Umland-Verkehre aufgrund der niedrigeren Motorisierung in mit Konzentration auf die Stadtzentren so- der Deutschen Demokratischen Republik wie zu stärker ausgeprägten Verkehrsspit- (DDR) hingegen einem komplett anderen zen am Morgen und Vorabend. Pfad. Zu Beginn der 1960er-Jahre gab es in der DDR ebenfalls einen „Babyboom“, je- Zugleich befand sich das gesamte bundes- doch sank die Geburtenrate früher ab als deutsche Verkehrswesen in einer Umbruch- in der Bundesrepublik. Zudem war die Be- phase. Begünstigt durch die positive wirt- völkerungszahl rückläufig und es kam zu schaftliche Entwicklung, wurde das eigene keiner mit der Bundesrepublik vergleich- Auto für eine immer größere Bevölkerungs- baren Massenmotorisierung. Somit trug gruppe bezahlbar. Im Straßenverkehr stieg der öffentliche Personenverkehr in der die Pkw-Anzahl unaufhaltsam (KBA 2016) DDR weiterhin die Hauptlast. Zwischen und in keinem anderen Land der Welt nach 1950 und 1979 verloren lediglich sieben den USA wurden in diesem Zeitraum mehr Städte ihr Straßenbahnnetz (z. B. Eisenach, neue Straßen gebaut als in Deutschland. Mühlhausen, Staßfurt und Stralsund sowie Mit zunehmender Pkw-Motorisierung zeig- mehrere Überlandstrecken). Vielmehr gab te sich zu Beginn der 1960er-Jahre in den es in der DDR Stilllegungen einzelner ent- Ballungsräumen eine wachsende Überlas- behrlich gewordener Teilstrecken, um mit tung der Verkehrsinfrastruktur. Die Stra- dem frei werdenden Schienenmaterial den ßenbahninfrastruktur an der Oberfläche Betrieb auf stärker nachgefragten Strecken- befand sich noch weitgehend auf Vorkriegs- abschnitten aufrechterhalten zu können. niveau. Immer mehr Autos behinderten die Daher gibt es bis heute in Ostdeutschland Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 439

Tabelle 1 Stillgelegte Straßenbahnnetze in Deutschland von 1950 bis 1979 Bundesland Stadt (Jahr der Netzstilllegung) Baden-Württemberg Baden-Baden (1951), Lahr (1952), Walldorf (1954), Heilbronn (1955#2001), Mühlheim (Baden) (1955), Ravensburg – Weingarten – Baienfurt (1959), Pforzheim (1964), Lörrach (1967), Reutlingen (1974), Esslingen – Nellingen – Denkendorf (1978) Bayern Regensburg (1964) Berlin Westberlin (1967) Brandenburg Bremen Hamburg Hamburg (1978) Hessen Marburg (1951), Gießen (1953), Wiesbaden (1955), Offenbach am Main (1967), Bad Homburg vor der Höhe (1971) Mecklenburg-Vorpommern Stralsund (1966) Niedersachsen Emden (1953), Celle (1956), Osnabrück (1960), Bad Eilsen – Ahnsen – Bückeburg (1966) Nordrhein-Westfalen Unna – Kamen – Werne (1950), Mettmann (1952), Gummersbach (1953), Detmold (1954), Moers (1954), Münster (1954), Opladen (1955), Gevelsberg (1956), Siegen (1958), Castrop-Rauxel (1959), Herne (1959), Minden (1959), Rheydt (1959), Plettenberg (1959), (1959), Hamm (1961), Wahn (1961), Kleve (1962), Haspe – Voerde – Breckerfeld (1963), Paderborn (1963), Iserlohn (1964), Düren (1965), Siegen – Troisdorf (1965), Herford (1966), Rees – Empel (1966), Wesel – Rees – Emmerich (1966), Oberhausen (1968#1996), Hattingen (1969), Mönchen- gladbach (1969), Remscheid (1969), Neuss (1971), Aachen (1974), Hagen (1976) Rheinland-Pfalz Neuwied (1950), Trier (1951), Bad Kreuznach (1953), Bingen (1955), Neustadt an der Weinstraße (1955), Idar-Oberstein (1956), Worms (1956), Koblenz (1967) Dillingen/ (1957), Völklingen (1959), Saarlouis (1961), Saarbrücken (1965 #1997), Neunkirchen (Saar) (1978) Sachsen Hohenstein-Ernstthal – Oelsnitz/Ergeb. (1960), Freital (1972), Kreischa – Niedersedlitz (1977) Sachsen-Anhalt Staßfurt (1957) Schleswig-Holstein Lübeck (1959), Uetersen (1965), Flensburg (1973) Thüringen Mühlhausen (1969), Eisenach (1975) # Jahr der Wiederinbetriebnahme Quelle: eigene Recherche

weiterhin viele kleinere Straßenbahnnetze Abbildung 1 in Städten unter einhunderttausend Ein- Anzahl der Städte mit Straßenbahn und U-Bahn in Deutschland wohnern. 140

120 Entstehung und Entwicklung der Gemeindeverkehrsfinanzierung 100

80 Zeitgleich zur Stilllegungswelle begannen zahlreiche westdeutsche Städte, die sich 60 zum Fortbestand ihrer schienengebunde- nen Stadtverkehrsmittel bekannten, in den 40 1960er-Jahren damit, besondere Bahnkör- 20 per anzulegen oder die Straßenbahn in eine zweite Verkehrsebene zu verlegen. Alle 0 Städte mit mehr als einer halben Million

Einwohner – außer Bremen – starteten mit 1945 1948 1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 2014 dem Bau mehr oder weniger ausgedehnter Städte mit Straßenbahn Westdeutschland Stadtbahntunnel. Diese kostenintensiven Ostdeutschland inkl. Berlin Städte mit U-Bahn Investitionsvorhaben konnten die Städte Quelle: eigene Recherche

440 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

Tabelle 2 Im darauf folgenden Jahr legte der damalige Die Entwicklung der Gemeindeverkehrsfinanzierung Bundesverkehrsminister Georg Leber das Jahr und Maßnahme Wesentliche inhaltliche GVFG-Änderungen verkehrspolitische Grundsatzprogramm 1966 Steueränderungsgesetz Anhebung der Mineralölsteuer um 3 Pfennig/Liter und der Bundesregierung für die Jahre 1968 bis Zweckbindung dieser Mittel für die Gemeindeverkehrs- 1972 vor. Zahlreiche Maßnahmen des weg- finanzierung; Mittelaufteilung: 60 % kommunaler Straßen- bau, 40 % ÖPNV weisenden „Leber-Plans“ wurden in den 1971 Gesetz über Finanz- Einführung des GVFG; förderfähige Vorhaben im ÖPNV: Folgejahren umgesetzt und beeinflussen hilfen des Bundes zur Bau und Ausbau von Schienenwegen und Vorhaben, die das deutsche Verkehrswesen bis heute, da- Verbesserung der Verkehrs- damit in direktem und mittelbaren Zusammenhang stehen runter die Bundesverkehrswegeplanung verhältnisse der Gemeinden (Haltestellen), Busspuren, P+R-Anlagen; Förderung zu (GVFG) 50 % durch den Bund; Komplementärfinanzierung durch und die Gründung erster Tarifgemeinschaf- Länder, Kommunen und Verkehrsunternehmen ten, den Vorläufern der heutigen Verkehrs- 1972 GVFG-Änderung Zweckbindung weiterer 3 Pfennig/Liter der Mineralölsteuer verbünde. Ab dem Jahr 1971 mündete die für die Gemeindeverkehrsfinanzierung (auf 6 Pfennig/Liter); Mittelaufteilung: 50 % kommunaler Straßenbau, 50 % Regelung zur Verwendung eines Teils des ÖPNV Mineralölsteueraufkommens zur Verbesse- 1973-86 Mehrere GVFG- Sukzessive Erweiterung des Förderkatalogs um Betriebs- rung der kommunalen Verkehrsverhältnisse Änderungen höfe und Werkstätten, Haltestelleneinrichtungen, Maßnah- in einer ersten Fassung des Gemeindever- men zur ÖPNV-Beschleunigung, zentrale Omnibusbahn- höfe, Schienenfahrzeuge im ÖPNV; zeitweise Änderung kehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG). Seit- der Mittelaufteilung bis zu 60 % für ÖPNV-Vorhaben dem unterstützt der Bund den Neu- und 1987 GVFG-Änderung Begrenzung der Mittel auf 2,8 Mrd. DM/Jahr; Erweiterung Ausbau öffentlicher Verkehrsinfrastruk- des Förderkatalogs um Linienbusse im ÖPNV tur mit investiven Finanzhilfen nach dem 1990 Vereinigungsvertrags- Mittelerhöhung auf 3,28 Mrd. DM/Jahr, davon 24,2 % GVFG, ohne die der Aufbau leistungsfähige- gesetz mit GVFG-Änderung der Mittel für neue Länder und 75,8 % für alte Länder; Erhöhung Förderung neue Länder auf bis zu 75 %; Erwei- rer öffentlicher Verkehrsangebote in vielen terung Förderkatalog neue Länder: Grunderneuerung und Städten nicht möglich gewesen wäre. Umrüstung vorhandener Straßenbahnfahrzeuge 1991 Haushaltsbegleitgesetz Zusätzliche Mittel neue Länder: 800 Mio. DM (1991) und Seit Inkrafttreten des GVFG hat sich allein 1,4 Mrd. DM (1992) für kommunalen Straßenbau, 400 Mio. DM für ÖPNV-Vorhaben der Bund mit Finanzhilfen in Höhe von etwa 40 Mrd. Euro an Investitionsvorhaben 1992 Steueränderungsgesetz Mittelerhöhung auf 4,78 Mrd. DM (1992) und 6,28 Mrd. DM (1993 bis 1995); Übertragung der Programmkom- zur Verbesserung der ÖPNV-Infrastruktur petenz vom Bund auf die Länder; 80 % der Mittel für beteiligt. Hinzu kommen weitere Mittel für Länderprogramme und 20 % der Mittel für Bundespro- gramm; im Bundesprogramm nur Vorhaben über 100 Mio. die Komplementärfinanzierung der Inves- DM zuwendungsfähiger Kosten; Aufhebung der Verteilung titionsvorhaben von Ländern, Kommunen zwischen ÖPNV und kommunalem Straßenbau; Belange Mobilitätsbehinderter sind zu berücksichtigen und Verkehrsunternehmen. Dies hat im in- ternationalen Vergleich in Deutschland zu 1993 Eisenbahnneuord- Mittelerhöhung auf 6,28 Mrd. DM (1996), danach wieder nungsgesetz Rückführung auf 3,28 Mrd. DM/Jahr; ab 2002: 1,677 Mrd. hervorragenden Standards bei der öffent­ Euro/Jahr (davon 335 Mio. Euro/Jahr Bundesprogramm, lichen Verkehrsinfrastruktur geführt und ist ab 2004: 1,667 Mrd. Euro/Jahr (davon 333 Mio. Euro/Jahr für Bundesprogramm) eine Erfolgsgeschichte „Made in “. 2006 Föderalismusreformbe- Finanzhilfen des Bundes im Rahmen des GVFG laufen Das GVFG hat seitdem zahlreiche Verände- gleitgesetz (Entflechtungs- bis Ende 2006 aus; Übergangsregelungen: Fortführung rungen und Anpassungen erfahren. gesetz) GVFG-Bundesprogramm mit 333 Mio. Euro/Jahr (2007 – 2019), Entflechtungsmittel 1,335 Mrd. Euro/Jahr aus dem Bundeshaushalt an die Länder (2007–2019, bis Ende 2013 Neben der sukzessiven Ausweitung des För- mit verkehrlicher Zweckbindung, ab 2014 nur investive derkatalogs in den 1970er- und 1980er-Jah- Zweckbindung) ren ist insbesondere das Einbeziehen der Quelle: Girnau 2016: 16 f. neuen Länder in die GVFG-Förderung ab 1991 mit höheren Mittelansätzen im Rah- men der Sondermaßnahmen „Aufschwung Ost“ hervorzuheben. Tabelle 2 zeigt die Ent- wicklung der durch den Bund bereitgestell- keineswegs allein mit den vorhandenen ten GVFG-Mittel. kommunalen Eigenmitteln stemmen. Die damalige Bundesregierung erhöhte im Jahr Die Entwicklung des ÖPNV wäre ohne die 1966 mit dem Steueränderungsgesetz die Finanzhilfen des Bundes im Rahmen des Mineralölsteuer um drei Pfennig pro Liter GVFG anders und sicherlich nicht zum Vor- und schuf damit eine Finanzierungsquelle, teil der Straßenbahn verlaufen. Der flächen- die zweckgebunden zur Verbesserung der deckende Erhalt und die Verlegung vorran- kommunalen Verkehrsverhältnisse (Mittel- gig innerstädtischer Straßenbahnstrecken aufteilung: kommunaler Straßenbau 60 %, in den Untergrund – verbunden mit der ÖPNV 40 %) eingesetzt wird. Einführung innerstädtischer Fußgänger- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 441

Tabelle 3 Abbildung 2 Inbetriebnahme von Stadtbahntunneln Verteilung der Bundesmittel aus dem GVFG-Bundesprogramm im Jahr 2014 in Deutschland

Jahr Städte Kommunale Vorhaben 1966 Stuttgart Vorhaben der DB AG 1967 Essen 1968 Köln, Frankfurt am Main 1969 Ludwigshafen 1971 Mannheim, Bielefeld, München (U-Bahn) 1972 Nürnberg (U-Bahn) 1975 Bonn, Hannover 1977 Mülheim an der Ruhr 1979 Bochum 1981 Düsseldorf 1983 Dortmund 1984 Gelsenkirchen 1992

Quelle: Groneck 2010: 22 ff.

Quelle: BMVI / GVFG Bundesprogramm 2015-2019 zonen – tragen zweifellos zu lebenswerten Stadtkernen sowie zur größeren Leistungs- fähigkeit und Pünktlichkeit des ÖPNV-Ge- samtsystems bei. Weiterhin wäre die Mo- Bundesprogramm auf Grundlage eines ge- dernisierung und teilweise Ausweitung der prüften Finanzierungsantrags – Einstufung Straßenbahnsysteme in den neuen Ländern des Vorhabens in die Kategorie A – können ohne die höheren GVFG-Mittelansätze im über den Realisierungszeitraum Finanz- Zeitraum von 1991 bis 1996 nicht möglich mittel für das Projekt abgerufen werden. gewesen. Andererseits ist die Bundesförde- Abbildung 2 veranschaulicht maßstäblich rung bei Straßenbahnen an die Ausführung die Verteilung der Mittel aus dem GVFG- als „besonderer Bahnkörper“ gebunden (§ 2 Bundesprogramm für das Jahr 2014. Abs. 1 Nummer 2 GVFG). Die Entscheidung zwischen oberirdischer Straßenbahnstrecke Die Mittel sind im Jahr 2014 zum Großteil mit vollständiger kommunaler Eigenfinan- in die Verdichtungsräume Baden-Würt- zierung oder Stadtbahntunnel mit hoher tembergs, Nordrhein-Westfalens und in die Bundesförderung und nur anteiliger kom- Bundeshauptstadt Berlin geflossen. Etwa munaler Finanzierung, fiel in zahlreichen 74 % der Gelder entfielen dabei auf Investi- westdeutschen Ballungsräumen – zumin- tionsvorhaben im kommunalen ÖPNV und dest für einzelne Streckenabschnitte und/ 26 % auf Vorhaben der DB AG, vorrangig für oder Netzteile – zugunsten der Tunnel­ den Ausbau von S-Bahn-Systemen in Bal- lösung. lungsräumen. Im GVFG-Bundesprogramm 2015–2019 sind insgesamt 22 Städte enthal- ten, die Neu- oder Ausbauvorhaben in ih- Sachstand des derzeitigen rem Straßen- und Stadtbahnnetz mit finan- GVFG-Bundesprogramms zieller Beteiligung des Bundes durchführen. Darunter befinden sich fünf Regionalstadt- Aus dem Fundierungsprogramm mit einem bahn-Vorhaben (Chemnitz, Heilbronn, Mittelvolumen von 333 Mio. Euro/Jahr wer- Karlsruhe, Kassel und Saarbrücken). den kommunale Vorhaben und Vorhaben der DB AG in Verdichtungsräumen oder Im Jahr 2014 wurden für die Neu- und Aus- den zugehörigen Randgebieten finanziert, bauvorhaben dieser 22 Städte insgesamt deren zuwendungsfähigen Kosten 50 Mio. 85,31 Mio. Euro an Bundesmitteln bereitge- Euro überschreiten. Mit einer endgültigen stellt. Das entspricht 31 % des Programm- Aufnahme des Investitionsvorhabens ins volumens.

442 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

Abbildung 3 Anmeldungen für das Programm enthalten Neu- und Ausbauvorhaben für Straßen- und Stadtbahnen mehrere kostenintensive Großprojekte (z. B. im GVFG-Bundesprogramm 2015–2019 (BMVI 2015) Zweiter S-Bahn-Tunnel München, Nah- verkehrsanteil von „Stuttgart 21“), welche die Bundesmittel über viele Jahre binden werden. Der Aus- oder Neubau oberirdisch geführter Straßen- und Stadtbahnstrecken, die wesentlich früher und kostengünstiger ihre Entlastungswirkung – auch in kleineren Städten – entfalten könnten, ist bei neuen

Bremen Projektanmeldungen hingegen klar in der Minderheit.

Berlin Hannover Hinsichtlich der räumlichen Verteilung Magdeburg liegt der Schwerpunkt der angemeldeten Vorhaben ebenso eindeutig in Baden- Halle Württemberg und Bayern mit mehreren neuen Vorhaben, darunter auch Straßen- Kassel Leipzig Dresden und Stadtbahnprojekte. Weder die Bundes- Köln Gera Chemnitz hauptstadt Berlin, noch die wachsenden Verdichtungsräume Nordrhein-Westfalens oder in Ostdeutschland sind mit Projektan- meldungen für Straßen- und Stadtbahnstre- Mainz cken in nennenswertem Umfang vertreten. Neben der Fortsetzung des GVFG über das Mannheim Jahr 2019 hinaus stellen sich aufgrund der Heidelberg Saarbrücken überaus unterschiedlichen Haushalts- und Heilbronn Karlsruhe Wirtschaftslage der Städte und ihrer Ver- Stuttgart kehrsunternehmen somit auch Fragen nach Straßbourg einer bedarfsgerechten Dotierung und zeit- Kehl Ulm Augsburg gemäßen räumlichen Verteilung der Bun- desmittel. Freiburg

Föderalismusreform I – Eine Zäsur für die Gemeindeverkehrsfinanzierung Quelle: eigene Darstellung nach BMVI 2015

Die GVFG-Mittel wurden im Jahr 1987 erst- malig begrenzt und die Höhe der verfüg- baren Bundesmittel verharrt seit 1997 auf konstantem Niveau (vgl. Tab. 2 und Abb. 2). Die Baupreise steigen hingegen kontinu- Die bereits endgültig ins Bundesprogramm ierlich. Mit einem GVFG-Euro aus dem aufgenommen Vorhaben der Kategorie A Jahr 1973 – der Anfangszeit der investiven haben einen Gesamtumfang in Höhe von Bundesfinanzhilfen – konnte im Jahr 2015 ca. 1,5 Mrd. Euro. Die Länder haben dar- nur noch eine Bauleistung im Gegenwert über hinaus weitere Vorhaben mit einem von 51 Cent erworben werden. Des Weite- Volumen von ca. 5,5 Mrd. Euro für das Pro- ren sind die technischen und qualitativen gramm angemeldet (Kategorien B und C). Anforderungen an die Bauwerke gestiegen Bei konstanten Bundesmitteln reicht der (z. B. Brandschutz in Tunneln, Barriere- Projektvorrat somit noch für 21 Jahre und freiheit, Fahrgastinformation), welche die weitaus länger als der derzeitige Gültig- Kaufkraft eines GVFG-Euro weiter auf ca. keitshorizont des Bundesgesetzes. Bei der 33 Cent verringern. Die neben der kons- Berechnung des „Überzeichnungs-Faktors“ tanten GVFG-Dotierung ebenfalls beibe- wurden nur die zuwendungsfähigen Kosten haltene Konstanz der zuwendungsfähigen der Bundesförderung und nicht die Gesamt- Kosten von über 50 Mio. Euro je Vorhaben kosten des Vorhabens zugrunde gelegt. Die (vormals 100 Mio. DM) lässt damit aber Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 443

auch tendenziell kostengünstigere Stra- Erheblicher Sanierungsbedarf ßenbahnprojekte in den Kreis förderfähiger im schienengebundenen ÖSPV Vorhaben aufrücken. Die deutliche Unterfinanzierung der Ver- Die Föderalismusreform I brachte für die kehrsinfrastruktur bei allen Verkehrs- und bestehende Finanzierungssystematik eine Baulastträgern in Deutschland ist spätes- deutliche Zäsur. Bei der Neuordnung der tens seit dem Bericht der Daehre-Kom- Finanzbeziehungen zwischen Bund und mission allseits bekannt. Im Jahr 2012 Ländern wurde die investive ÖPNV-Finan- ermittelte die Kommission allein für den zierung einbezogen und die Länder haben Erhalt und den Betrieb der Verkehrsin­ mit dem Inkrafttreten der Beschlüsse ab frastruktur einen Fehlbetrag von jährlich 2007 eine größere Verantwortung für den 7,2 Mrd. Euro (Daehre 2012). Der erheb­ Verkehrsbereich – und damit auch für die liche Erneuerungs­bedarf betrifft auch die investive ÖPNV-Finanzierung – erhalten. kommunale ÖPNV-Infrastruktur. Für den Seitdem sind die Finanzhilfen des Bundes schienengebundenen ÖSPV sind üblicher- im Rahmen des GVFG nach Art. 125 c GG weise spezifische Reinvestitionskosten für (GVFG-Bundesprogramm) und Art. 143 c erneuerungspflichtige Anlagenteile mit ei- GG Abs. 1 (Entflechtungsmittel – die Mittel ner wirtschaftlichen Nutzungsdauer unter der vormaligen GVFG-Landesprogramme) 50 Jahren in Höhe von bis zum 31. Dezember 2019 befristet (vgl. Tab. 2). Im Zuge der Föderalismusreform I • 4,5 Mio. Euro/km für oberirdische Stra- haben die Länder ab 2007 eigene Landes- ßenbahnstrecken und gesetze (Landes-GVFG) und -richtlinien erlassen, die festlegen, für welche Investi- • 10,5 Mio. Euro/km für U-Bahn-/Stadt- tionsvorhaben die Entflechtungsmittel ver- bahnstrecken im Tunnel zu veranschla- wendet werden können. Bei novellierten gen. Landes-GVFG setzen die Länder zuneh- mend eigene landespolitische Akzente. Eini- Im Jahr 2007 betrug der jährliche Reinves- ge Länder – wie Niedersachsen, Thüringen titionsbedarf zum Erhalt der Verkehrsan- und Berlin – haben einzelne Investitionsbe- lagen im schienengebundenen ÖSPV ca. reiche ihrer Landes-GVFG inzwischen für 550 Mio. Euro/Jahr (VDV 2009: 27 ff.). Bei die Sanierung und Grunderneuerung von tatsächlich verausgabten Reinvestitions- Verkehrsinfrastruktur geöffnet. Aber auch mitteln in Höhe von 220 Mio. Euro/Jahr in diesen Ländern gilt, dass ein Großteil der verbleibt ein nicht gedeckter Mittelbedarf Reinvestitionen aus Eigenmitteln der Auf- in Höhe von 330 Mio. Euro/Jahr (Preis- gabenträger und Verkehrsinfrastrukturun- stand 2008). Da diese Finanzierungslücke ternehmen – je nach örtlicher Zuständigkeit schon länger besteht, ist inzwischen ein für die Baulast – finanziert werden muss. Nachholbedarf in Höhe von etwa 1,6 Mrd. Euro aufgelaufen. Inzwischen hat auch Zwischenzeitlich hat sich im politischen die U-Bahn-Infrastruktur in Hamburg und Raum die Erkenntnis durchgesetzt, dass Berlin ein Alter erreicht, das Reinvestitio- Mobilität und ÖPNV weiterhin eine Ge- nen in Anlagenteile mit einer wirtschaft- meinschaftsaufgabe von Bund, Ländern lichen Nutzungsdauer von mehr als 50 und Kommunen sein soll/muss. Der Bund Jahren erforderlich macht. Diese werden beabsichtigt daher, die Mittel für das GV- von den betreffenden Infrastrukturunter- FG-Bundesprogramm über das Jahr 2019 nehmen mit 740 Mio. Euro angegeben. Der hinaus in Höhe von jährlich 333 Mio. Euro Nachholbedarf betrug im Jahr 2007 somit fortzuführen. Hierzu gab es am 24. Septem- insgesamt 2,350 Mrd. Euro. Da seitdem ber 2015 eine Bund-Länder-Einigung. Ein keine grundsätzliche Änderung der Finan- Gesetzgebungsverfahren zur Fortführung zierungskulisse eingetreten ist, ist inzwi- des GVFG-Bundesprogramms – wofür eine schen von einem Nachholbedarf von über Änderung des Grundgesetzes erforderlich 4 Mrd. Euro auszugehen. Zusätzlich erfor- ist – wurde bislang jedoch noch nicht auf derliche Investitionen für den Brandschutz den Weg gebracht (Stand: Mai 2016). in Tunneln und Barrierefreiheit im ÖPNV sind darin noch nicht berücksichtigt. In- zwischen wurde in weiteren, detaillierteren Analysen der lokale Investitionsbedarf im

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ÖPNV auf Länder- oder Aufgabenträgerebe- Neben dem nicht geklärten und steigen- ne ermittelt. Damit liegen vielerorts Analy- den Refinanzierungsbedarf ortsfester Inf- sen zum Erneuerungsbedarf vor und liefern rastruktur haben vielerorts auch die Stra- eine faktenbasierte Diskussionsgrundlage ßenbahn- und U-Bahn-Fahrzeuge das zur Finanzierung der Reinvestitionen. Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungsdauer erreicht oder bereits überschritten. Der er- hebliche Reinvestitionsbedarf in Schienen- Deckungslücke bei laufenden Reinvesti- fahrzeuge des ÖSPV besteht bundesweit, tionen in ortsfeste Verkehrsanlagen und allerdings mit unterschiedlichen Investiti- Schienenfahrzeuge onsschwerpunkten:

Für die Finanzierung der Reinvestitionen • Sanierung von Stadtbahnen (Redesign in die Verkehrsanlagen des schienenge- von B-Wagen aus den 1980er-Jahren) bundenen Stadtverkehrs („Erneuerung“) gibt es kein bundesweites Finanzierungs- • Sanierung oder Ersatz erster Niederflur- instrument. Im Rahmen des GVFG fördert Straßenbahnen aus den 1990er-Jahren der Bund nur den Neu- und Ausbau, nicht jedoch die Grunderneuerung kommunaler • Ersatz von Hochflur-Stadtbahnwagen Verkehrsinfrastruktur (Ersatzinvestitionen). (Stadtbahnwagen Typ M/N, KT4D) zum Die Objektförderung der Verkehrsanlagen Erhöhen der Barrierefreiheit im ÖPNV – zumeist durch das GVFG – führt somit systematisch zu einer Unterfinanzierung, • Beschaffung zusätzlicher Bahnen für die sich verstärkt durch zunehmendes Streckenerweiterungen und Angebots- Altern der einst geförderten Investitionen verdichtungen zeigt (VDV 2016: 6 ff.). Zum einen wurde der geförderte Anteil der Verkehrsanlagen Allein im Zeitraum 2016 – 2018 stehen die nicht in den Unternehmensbilanzen abge- Verkehrsunternehmen in Deutschland vor schrieben und zum anderen konnten die der Herausforderung, ca. 1,7 Mio. Euro in überwiegend defizitär agierenden Verkehrs- über 545 neue Schienenfahrzeuge und ca. unternehmen keine Rücklagen aus erzielten 350 Mio. Euro in die Sanierung vorhande- Gewinnen bilden, die nun für Reinvestitio- ner Bahnen zu investieren (VDV 2015: 55). nen verwendet werden könnten. Verkehrs- Exemplarisch sei der Investitionsbedarf in unternehmen und Kommunen bewältigen Nordrhein-Westfalen (NRW) genannt, wo derzeit etwa 30 bis 50 % des bestehenden im Zeitraum von 1967 bis 1992 besonders Reinvestitionsbedarfs aus eigenen Mitteln. viele Stadtbahnsysteme entstanden (vgl. Die Deckungslücke erhöht den Nachholbe- Tab. 3). Das durchschnittliche Flottenalter darf von Jahr zu Jahr. Sofern nicht weitaus der U-Bahn- und Straßenbahnfahrzeuge in mehr Mittel als bislang für Reinvestitionen NRW lag im Jahr 2012 bei 18 Jahren (VDV der geförderten Anlagen zur Verfügung ste- 2012: 14 f.). Bei einer mittleren Nutzungs- hen, steigen die Defizite bei den Verkehrs- dauer von 30 Jahren wäre allerdings ein unternehmen. Wenn Unternehmen und mittleres Fahrzeugalter von 15 Jahren an- ihre kommunalen Gesellschafter die Defi- zustreben. Der Reinvestitionsbedarf für die zite nicht decken können, droht die Stillle- Schienenfahrzeuge im ÖSPV Nordrhein- gung der Verkehrsanlagen. Zum Schließen Westfalens beträgt bis 2016 jährlich 126 der bestehenden Deckungslücke gibt es fol- Mio. Euro und erhöht sich ab 2017 auf jähr- gende Handlungsoptionen: lich 180 Mio. Euro, da mit fortschreitender Zeit tendenziell bei weniger Altfahrzeugen • Förderung der Reinvestition in gleicher ein Redesign möglich ist, was kosteninten- relativer Höhe wie die frühere Neuinves- sivere Ersatzbeschaffungen von Neufahr- tition zeugen erforderlich macht.

• Zuschuss zu den zusätzlich entstehen- den Kapitalkosten Bundesweite Entwicklungstendenzen im schienengebundenen ÖSPV • Erschließen neuer Finanzierungsquellen (auf kommunaler Ebene) In Deutschland leben etwa 19,3 Mio. Men- schen in einer der 60 Städte mit einer Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 445

Straßen-, Stadt- oder U-Bahn. Bevölke- • 29 Städte (8,60 Mio. Einwohner mit rungswachstum, stabile Bevölkerungsent- stabiler Bevölkerungsentwicklung: wicklung oder Bevölkerungsrückgang fin- Urbane Zentren; Erhalt und Sanierung den in diesen Kommunen gleichzeitig statt der bestehenden Verkehrsinfrastruktur und bieten auch hinsichtlich der lokalen stehen im Vordergrund Weiterentwicklung des Schienenverkehrs unterschiedliche Chancen. Die Bertels- • 15 Städte (0,85 Mio. Einwohner) mit mann Stiftung (Schultz/Brandt 2016: 1 f.) großem Bevölkerungsrückgang: clustert die deutschen Kommunen über Kleine und mittlere Kommunen vor al- 5.000 Einwohner in neun unterschiedliche lem in Nord- und Ostdeutschland; Erhalt Demografietypen, die sich hinsichtlich ih- und Sanierung der weiterhin benötigten rer demografischen Entwicklung, sozialer Verkehrsinfrastruktur stehen im Vorder- und wirtschaftlicher Ausgangslage oder ih- grund; in Einzelfällen gesteuerter Rück- rem regionalen Umfeld unterscheiden. In- bau entbehrlicher Infrastruktur nerhalb eines Demografietyps weisen die Kommunen jedoch nur geringe Unterschie- Jedes der drei Cluster hat auf unterschied- de auf. Die deutschen Straßenbahnstädte liche Weise eine bundesweite thematische verteilen sich auf fünf verschiedene Typen, Relevanz. Die Hälfte der deutschen Stra- wovon die Mehrzahl (58 Städte) drei Demo- ßenbahnsysteme befindet sich in Städten grafietypen zuzuordnen ist. Mit Hilfe dieser mit stabiler Bevölkerungsentwicklung. Gruppierung ist es möglich, die Herausfor- Hier stehen Sanierung und Grunderneue- derungen der Kommunen mit ihren lokalen rung der Verkehrsanlagen im Vordergrund. Straßenbahnsystemen und die thematische In urbanen Zentren mit steigender Ein- Relevanz der Städtecluster abzuschätzen. wohnerzahl (z. B. Berlin, München, Köln, Im Wesentlichen ergeben sich daraus drei Düsseldorf und Stuttgart) gehen die An- Schwerpunkte: forderungen über den bloßen Erhalt der Schienennetze hinaus. Straßen- und Stadt- • 14 Städte (9,74 Mio. Einwohner) mit bahnstrecken sind in diesen Kommunen großer Bevölkerungsdynamik: auszubauen, z. B. um neue Siedlungsgebie- Große Zentren und Umlandgemeinden; te mit dem ÖPNV zu erschließen oder stark Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfra- belastete Busachsen auf den leistungsfähi- struktur sowie Erhaltung der Lebensqua- geren Schienenverkehr umzustellen. Im- lität stehen im Vordergrund merhin ein Viertel der Straßenbahnstädte

Abbildung 4 Einordnung der deutschen Straßen- /Stadtbahnstädte nach Demografietypen, maßstäbliche Darstellung nach Einwohnerzahl

14 Städte mit 9,74 Mio. Einwohnern Große Zentren und Kommunen in ihrem Umland mit großer Bevölkerungsdynamik, hoher Kaufkraft, vielen Hochqualifizierten, großer soziale Polarisierung, soziodemografisch heterogen 1 Stadt mit 0,01 Mio. Einwohnern Kleine und mittelgroße Kommunen in Westdeutschland und im Berliner Umland mit Bevölkerungsdynamik, dynamische Wirtschaftsräume mit hoher Kaufkraft und vielen Hochqualifizierten

29 Städte mit 8,60 Mio. Einwohnern Urbane Zentren mit stabiler Bevölkerungsentwicklung, hoher Einwohnerdichte, Arbeitsplatzzentren mit geringer wirtschaftlicher Dynamik, niedriger Kaufkraft und vielen Sozialhilfebedürftigen 1 Stadt mit 0,10 Mio. Einwohnern Kleine und mittelgroße Kommunen in Verdichtungsräumen mit Bevölkerungsrückgang, regionale Wirtschaftszentren mit vielen Älteren, wenig Jüngeren und geringem Wohlstand

15 Städte mit 0,85 Mio. Einwohnern Kleine und mittelgroße Kommunen im Norden und Osten mit großem Bevölkerungsrückgang, kleinen Haushalten, vielen Älteren, wenig Jüngeren, niedriger Kaufkraft und Einkommensarmut

Quelle: eigene Darstellung, Einordnung nach Schultz/Brandt 2016

446 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

verliert allerdings Einwohner. Neben dem geschoben oder gar nicht getätigt. Hinzu Erhalt – und ggf. Auflassen entbehrlicher kommt, dass finanzschwache Kommunen Netzelemente – besteht in diesen 15 Kom- immer weniger in der Lage sind, den Ver- munen eine enorme kommunal­politische lustausgleich ihrer kommunalen Verkehrs- Herausforderung in der gezielten stadtent- unternehmen zu übernehmen. In der Folge wicklungspolitischen Steuerung, um die müssen in einigen Straßen- und Stadtbahn- Quartiersentwicklung mit der vorhandenen städten bereits Qualitätseinschränkungen, Straßenbahninfrastruktur soweit wie mög- Leistungskürzungen oder ein Verzicht auf lich zu harmonisieren. vorausschauende Instandhaltung mit der Folge von Langsamfahrstellen, Fahrzeug- ausfällen und Taktreduzierungen in Kauf Enger Zusammenhang zwischen genommen werden. Eine besonders inten- kommunaler Haushaltslage und sive Debatte über die Zukunft des kommu- Investitionsniveau nalen Straßen- und Stadtbahnverkehrs fin- det seit einigen Jahren in Mülheim an der Die Investitionstätigkeit in den schienen- Ruhr statt. Hieran lässt sich sehr gut und gebundenen ÖSPV ist stark von der kom- beispielhaft der Zusammenhang zwischen munalen Haushaltslage abhängig. Auf GVFG-geförderten Stadtbahntunneln, Rein- kommunaler Ebene driftet in Deutschland vestitionsbedarf und angespannter kom- die Leistungsfähigkeit finanzstarker und munaler Haushaltslage verdeutlichen. finanzschwacher Kommunen seit Jahren immer weiter auseinander (Städtetag 2015: 31 ff.). In finanzstärkeren Kommunen be- In Europa etablierte Finanzierungs- steht zusätzlicher finanzieller Spielraum, modelle für den kommunalen Verkehr der für Sachinvestitionen genutzt wird. Vor allem Kommunen in Bayern und Baden- In den europäischen Nachbarstaaten voll- Württemberg mit positivem Finanzierungs- zog sich in den Nachkriegsjahren eine ähn- saldo können ihr Investitionsniveau stei- liche Entwicklung wie in der Bundesrepub- gern, den vorhandenen Investitionsstau lik Deutschland. Die europäischen Staaten abbauen bzw. sein weiteres Ansteigen ver- und ihre Kommunen standen somit vor hindern. In finanzschwächeren Kommu- ähnlichen raum- und verkehrsplanerischen nen hat Haushaltskonsolidierung hingegen Herausforderungen und suchten nach ge- oberste Priorität. In den vier Flächenlän- eigneten Instrumenten zur Finanzierung dern Hessen, NRW, Rheinland-Pfalz und investiver ÖPNV-Vorhaben. Während man dem Saarland liegen die kommunalen In- in der Bundesrepublik mit dem GVFG den vestitionen weiterhin klar unter dem Bun- Weg der Verkehrsfinanzierung aus dem desdurchschnitt und erreichen in NRW nur Steueraufkommen einschlug, wurden im knapp 60 % davon. In Ostdeutschland zeigt europäischen Ausland im selben Zeitraum sich eine sehr uneinheitliche Entwicklung. andere Finanzierungsmodelle entwickelt, Obwohl der Solidarpakt II erst im Jahr 2019 von denen nachfolgend einige näher erläu- ausläuft, liegt das Investitionsniveau ost- tert werden. deutscher Kommunen bereits heute unter dem Niveau westdeutscher Flächenländer. Fest steht: die Investitionsmöglichkeiten Drittnutzer- /Nutznießerfinanzierung, ostdeutscher Kommunen schrumpfen zu- „value capture“ künftig rapide und es bleibt abzuwarten, auf welchem Niveau sie sich einpendeln Drittnutzen durch ÖPNV-Erschließung und werden. -Bedienung entsteht für unterschiedliche Gruppen Dritter – z. B. Arbeitgeber, Handel Zahlreiche Kommunen befinden sich in oder Immobilienbesitzer – an verschiede- wirtschaftlich prekärer Lage, bis hin zur nen Stellen. Mancher Nutzen wird erst bei Haushaltssicherung. In den betroffenen genauerer Betrachtung sichtbar. Kommunen werden ohnehin niedrige In- vestitionsniveaus noch weiter abgesenkt Die unterschiedlichsten Konzepte der Dritt- und dringend erforderliche Ersatzinvestiti- nutzerfinanzierung haben das gemeinsame onen – auch im kommunalen ÖPNV – über Ziel, den wirtschaftlichen Nutzen, den Drit- längere Zeiträume gestreckt, in die Zukunft te aufgrund der vorhandenen Erschließung Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 447

Mittel- bis langfristige Investitionsstrategie für den schienengebundenen ÖSPV in Mülheim an der Ruhr

• zurückzuzahlende Fördermittel, Das Mittelzentrum Mülheim an der Ruhr Nach einer Nutzungsdauer von ca. befindet sich zwischen den angrenzen- 40 Jahren stehen in Mülheim a.d.R. nun • Schadenersatzansprüche, den Oberzentren Duisburg und Essen so- Reinvestitionen in die einst geförderten • Umbaukosten unterirdischer Statio- wie dem Mittelzentrum Oberhausen. Die Verkehrsanlagen und technischen Einbau- nen zu oberirdischen Haltestellen und Straßen- und Stadtbahnstrecken der drei ten (Brandschutz, Aufzüge und Fahrtrep- angrenzenden Kommunen sind mit dem pen, Zugsicherung, …) an, die nicht • Adäquate Busverkehrsangebote als Mülheimer Schienennetz verbunden. In gefördert werden und vollständig vom Ersatz gegenüber. Mülheim a.d.R. ist der demografische Verkehrsunternehmen und/oder der Kom- Wandel – mit einem Durchschnittsalter mune finanziert werden müssen. Damit Hinzu kämen ein hoher Rückgang der der Einwohner von 45,1 Jahren – be- tritt das Refinanzierungsfrage offen zutage Fahrgastnachfrage von mehr als 20 % reits deutlich spürbar, wenngleich die und trifft auf eine angespannte kommuna- sowie negative Umweltauswirkungen Stadt eine recht stabile Bevölkerungs- le Haushaltssituation. durch zusätzlichen Autoverkehr. Damit entwicklung aufweist (169.000 Einwoh- scheidet diese Variante in der wirtschaft- ner mit Stand vom 31. Dezember 2014). Angesichts kontroverser kommunalpo- lichen Gesamtbetrachtung aus. Der Mülheim a.d.R. ist mit 531,2 Mio. Euro litischer Debatten über die Zukunft des schienengebundene ÖSPV sollte in Mül- im Jahr 2015 vergleichsweise stark ver- schienengebundenen ÖSPV in Mülheim heim a.d.R. erhalten bleiben. schuldet (Mülheim 2015: 20 ff.) und be- a.d.R. – vor allem nach der Stilllegung findet sich in Haushaltssicherung. Mit des Streckenastes zwischen Hauptfried- Vielmehr empfehlen die Gutachter das 57,7 Mio. Euro im Jahr 2015 umfassen hof und Flughafen im April 2012 aufgrund städtische ÖPNV-Gesamtsystem durch die perspektivisch steigenden Kredite für infrastruktureller Mängel (WAZ 2013) – hat eine verbesserte Ausrichtung des Schie- die Mülheimer VerkehrsGesellschaft mbH die Stadtverwaltung im November 2014 nennetzes an die veränderte Siedlungs- (MVG) einen nicht unerheblichen Teil der ein umfassendes Gutachten zur mittel- struktur (kurz- bis mittelfristig Stilllegung städtischen Verbindlichkeiten. Die Stadt bis langfristigen Finanzierungsstrategie im des Streckenastes nach Kahlenberg; richtet daher ihr Augenmerk verstärkt schienengebundenen ÖSPV bis 2040 be- Führung der Linie 102 nach Saarn an- auf die wirtschaftliche Entwicklung ihres auftragt (Mülheim 2016). Im Mai 2016 ha- statt nach Uhlenhorst) und einer weiter- kommunalen Verkehrsunternehmens. ben die Gutachter (VerkehrsConsult Dres- führenden Abstimmung des Bahn- und den-Berlin GmbH, Unternehmensberatung Busnetzes mit dem Bus als Zubringer- Zur angespannten Haushaltslage der BbA GmbH Hamburg und Dr. Pooth als verkehrsmittel „rund“ zu machen. Lang- Kommune kommen ein hohes Defi- juristischer Gutachter) ihre Ergebnisse vor- fristig sollte die Verlegung der bisheri- zit der MVG – 29,8 Mio. Euro im Jahr gelegt (VCDB 2016). Demnach werden die gen Tunnelstrecken an die Oberfläche 2014 (VCDB 2016: 19 ff.) – sowie ho- Gesamtkosten für die Mülheimer Stadt- geprüft werden, weil sich dadurch das her Investitionsbedarf im Zeitraum bahntunnel auf rund 5,7 Mio. Euro/Jahr Defizit der MVG bei konstant bleibender von 2015 bis 2019 für Gleisanlagen geschätzt, die im krassen Missverhältnis Fahrgastnachfrage spürbar um ca. 5 bis (35 Mio. Euro), Fahrleitungen und Unter- zum vergleichsweise geringen Zusatznut- 6 Mio. Euro/Jahr verringern ließe. Damit werke (14,8 Mio. Euro), Betriebshöfe und zen – ca. 1 Mio. Fahrgäste/Jahr aufgrund hat die Mülheimer Kommunalpolitik nun Werkstätten (9,4 Mio. Euro) hinzu, mit höherer Reisegeschwindigkeit – stehen die Chance, eine faktenbasierte Debat- denen Zustand und Durchschnittsalter (VCDB 2016: 64). Fazit: „Vor diesem Hin- te zur Zukunft des schienengebundenen der Verkehrsinfrastruktur voraussichtlich tergrund würde man die Tunnelanlagen in ÖSPV der Stadt anzustoßen und zu- deutlich verbessert und verjüngt werden Mülheim nicht mehr in der heutigen Form kunftsfähige politische Entscheidungen können. Gemessen an der Stadtgröße errichten.“ herbeizuführen. und ÖV-Nachfrage hat das Straßen- und Stadtbahnnetz von Mülheim a.d.R. lange Die Gutachter haben für den Zeitraum bis Tunnelstrecken (VCDB 2016: 64): 2040 mehrere Änderungsszenarien be- rechnet und dem Prognose-Nullfall (Wei- • 5,5 km Tunnelanlagen der Linie U terbetrieb des ÖPNV auf Basis der heu- 18 (Inbetriebnahme 1977/1979 [vgl. tigen Beschlusslage) gegenübergestellt Tab. 3]) (VCDB 2016: 78 f.). Bei der kompletten • 1,5 km Tunnel Hbf – Aktienstraße Aufgabe des schienengebundenen ÖSPV (Inbetriebnahme 1985) würde sich das Defizit der MVG deutlich verringern (um ca. 10,8 Mio. Euro/Jahr). • 2,0 km Ruhrtunnel (Inbetriebnahme Dem stehen aber hohe Transaktionskos- 1998) ten in Höhe von ca. 200 Mio. Euro für

448 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

Tabelle 4 Verkehrsinfrastrukturfinanzierung (Päll- Drittnutzer im ÖPNV mann-Kommission) (Pällmann 2000: 33) Gruppe Art des Nutzens ausdrücklich empfohlen, findet aber bis- ÖPNV-Fahrgäste Mobilität, mögliche Kostenvorteile gegenüber dem MIV lang im Verkehrsbereich kaum Anwendung. Allgemeinheit Verfügbarkeitt von Mobilität, Reduzierung der negativen Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundes- Auswirkungen des MIV (Umweltverschmutzung, Energie- und ministerium für Verkehr und digitale Infra- Flächenverbrauch, Unfälle, …) struktur (heute BMVI) empfiehlt in seiner MIV-Nutzer Entlastung des Straßennetzes, Mobilitätsalternative Stellungnahme zur Verkehrsfinanzierungs- Arbeitgeber Verbesserte Erreichbarkeit, erhöhte Produktivität durch ver- reform „… die Beiträge der Nutznießer eher besserte Erschließung des Arbeitsmarkts, Kostenvorteile (es werden weniger Pkw-Stellplätze benötigt) vorsichtig zu bemessen und nur als Zu- satzfinanzierung zu betrachten.“ (BMVBS Handel (Einzelhandel, Umsatzsteigerungen durch verbesserte Erreichbarkeit, Restaurants, medi- Kostenvorteile (es werden weniger Pkw-Stellplätze benötigt), 2013: 22 f.) Zudem schlägt der Beirat eine zinische und soziale bessere Erreichbarkeit für den Lieferverkehr „Verkehrserzeugungsabgabe“ für nicht vom Einrichtungen, …) ÖPNV erschlossene Gebiete vor. Grundstücks- und Höhere Grundstückswerte, höhere Mietpreise Immobilienbesitzer In Deutschland gibt es bereits einige er- Veranstalter Höhere Besucherzahl durch verbesserte Erreichbarkeit, Kostenvorteile (es werden weniger Pkw-Stellplätze benötigt, folgreiche Beispiele für freiwillige Überein- geringere Kosten für Maßnahmen zur Verkehrssteuerung bei künfte zwischen Verkehrsunternehmen und Großveranstaltungen) Nutznießern: Quelle: Baum 2007 • Verlängerung der Stadtbahn-Linie 5 ins und Bedienung durch den ÖPNV erzielen Gewerbegebiet „Am Butzweilerhof“ in – aber nicht bezahlen – (teilweise) abzu- Köln-Ossendorf; 40 ortsansässige Firmen schöpfen (Boltze 2012: 7 f.). Hierbei handelt – darunter ein großes Möbelhaus – betei- es sich im Kern um eine Internalisierung ligen sich mit 5 Mio. Euro an den Infra- externer Effekte. Da der ÖPNV als öffentli- strukturkosten ches Gut ohnehin vorhanden ist und von der Allgemeinheit finanziert wird, haben • Neugestaltung der S-Bahn-Station „Neu- Dritte bislang keine Notwendigkeit, sich an wirtshaus-Porscheplatz“ in Stuttgart; der den Kosten zu beteiligen („Free-Rider-Ver- Automobilhersteller Porsche beteiligt halten“). Ziel der Konzepte zur Drittnutzer- sich zu einem Drittel an den Kosten (ca. finanzierung ist eine transparente, markt- 930.000 Euro) orientierte finanzielle Beteiligung an der ÖPNV-Finanzierung, im Idealfall in Höhe • Bundesweit: Eintrittskarten vieler Groß- des für die jeweilige Gruppe anfallenden veranstaltungen sind gleichzeitig Kom- Nutzens. bi-Tickets für den ÖPNV; die Bedienung der Großveranstaltung durch den ÖPNV Drittnutzerfinanzierung kann den Bau, wird über die Eintrittskarten aller Besu- Unterhalt und Betrieb von Verkehrsinfra- cher finanziert struktur ermöglichen. Allerdings ist in Höhe des Nutzens für die Dritten überaus ver- • Bundesweit: Beteiligung an den ÖPNV- schieden. ÖPNV-Erschließung unterschei- Betriebskosten durch direkte Finanzie- det sich von anderen beitragspflichtigen rung, Kauf von Fahrkarten für Beschäf- Abgaben wie z. B. Wasser- und Energiever- tigte, Kunden, Kurgäste oder vollständig sorgung und wird nicht von jedem als Vor- vom Arbeitgeber finanzierte Jobtickets teil wahrgenommen. Übersteigt der Nutz- nießerbeitrag den wirtschaftlichen Nutzen, In der Einführungsphase sollten Drittnut- drohen unerwünschte Lenkungseffekte, wie zerbeiträge für Verkehrsinfrastruktur er- ein Standortwechsel in kostengünstigere hoben werden, die dem Gebiet eindeutig Gebiete. Bislang existieren kaum Standards zuzuordnen ist, relativ geringe Kosten ver- zur Bemessung des absoluten und relativen ursacht und eine objektive Verbesserung Drittnutzerbeitrags. Das örtlich und zeitlich darstellt (z. B. Haltestellen). Ein prominen- veränderliche ÖPNV-Angebot (Netz, Takt, tes Beispiel für den Anstieg der Grund- Qualität) sollte bei der Bemessung des Bei- stückswerte durch ÖPNV-Erschließung trags in jedem Fall berücksichtigt werden. ist die Erweiterung der Londoner Jubilee Das Konzept der Drittnutzerfinanzierung U-Bahn-Linie in den 1990er-Jahren. Dort wird im Schlussbericht der Kommission stieg im Einzugsbereich der neuen Statio- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 449

nen im Zeitraum von 1992 bis 2002 der Wert Entwicklung. Der Prozess zur Wiederer- der Grundstücke um insgesamt 13 Mrd. richtung von Metros, Straßenbahnnetzen Pfund. Der Bau der U-Bahn-Strecke koste- und hochwertigen Bussystemen begann te hingegen nur 3,5 Mrd. Pfund und wurde in den 1980er-Jahren und scheint bislang aus Steuermitteln finanziert (Wetzel 2006). noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Dass ÖPNV-Erschließung und -Bedienung Netzlänge der Straßenbahn (ohne Paris auch in deutschen Kommunen in einem und Vorortstrecken) wächst kontinuier- positiven Zusammenhang mit Kaufpreisen lich: 1975 – 27 km, Ende 1980 – 100 km, und Wohnungsmieten stehen, bestätigt 2000 – 230 km, 2009 – 550 km, 2012 – 675 eine breit aufgestellte Studie im Rahmen km). Inzwischen haben nahezu alle großen des Forschungsprogramms Stadtverkehr Städte Frankreichs wieder spurgeführte (FoPS) aus dem Jahr 2015 (BBSR 2015: 5 f.). Massenverkehrsmittel eingeführt (Groneck Eine Verkürzung der Reisezeit um 15 Minu- 2012; Groneck im Heft). Kein anderes euro- ten korrespondiert demnach je nach Modell päisches Land steuert verkehrspolitischen mit 3,4 % bis 4,8 % höheren Mieten und mit Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit so 4,0 % bis 4,7 % höheren Kaufpreisen. Hier- offensiv entgegen wie Frankreich. bei unterscheiden sich die Ergebnisse zwi- schen den untersuchten Städten und Ver- Organisatorisch sind sämtliche Zustän- kehrssystemen. digkeiten für den städtischen ÖPNV bei kommunalen Aufgabenträgern (Kernstadt Einen Nachweis des beträchtlichen volks- mit zugehörigen Umland- und Vorortge- wirtschaftlichen und individuellen Nutzens, meinden) gebündelt, die gleichermaßen den der Nahverkehr in den USA erbringt, für die Finanzierung von Investitionen zeigt der Schlussbericht des Forschungs- und Betrieb zuständig sind. Investitionen vorhabens „The Benefits of Transit in the und Abschreibungen laufen somit vollstän- United States: A Review and Analysis of dig über den Haushalt der kommunalen Benefit-Cost Studies“, der zahlreiche ÖPNV-Aufgabenträger, was eine aussage- Nutzen-Kosten-Untersuchungen analysiert kräftige Betrachtung der Gesamtkosten (Kossak 2016: 55 ff.). Allein der Nutzen der ermöglicht. Wichtigstes Finanzierungsin- Stauminderung übersteigt in großen städ- strument ist die Versement Transport, die tischen Gebieten die Kosten des ÖPNV- ab 1971 sukzessive eingeführt wurde. Dabei Angebots. Ebenso sprechen der Nutzen in handelt es sich um eine Abgabe, die Kom- Verbindung mit Arbeitsplätzen, die ökono- munen ab 10.000 Einwohnern zweckge- mische Wirkungen sowie eine verbesserte bunden zur investiven und konsumtiven Erreichbarkeit von Gesundheitseinrich- ÖPNV-Finanzierung erheben können. Die tungen für eine Beteiligung Dritter an der Abgabe ist von allen Arbeitgebern mit mehr Finanzierung von ÖPNV-Infrastruktur und als neun Mitarbeitern zu entrichten und an -Angebot. Nachfolgend werden zwei im die Lohnsumme gekoppelt. Die Abgaben- Ausland etablierte Finanzierungsmodelle, höhe legen die Kommunen vor Ort unter welche die Nutznießergruppen Arbeitge- ber und MIV-Nutzer belasten, ausführlicher vorgestellt. Tabelle 5 Höchstsätze der Versement Transport, mit Ausnahme Île-de-France Plus 0,05 % Plus 0,20 % Taxe Versement de Transport Bonus für Bonus für Orte ÖPNV auf Kommunal- mit touristi- (Nahverkehrsabgabe) in Frankreich Einwohnerzahl des Eigen- Regelsatz verbände scher Funktion Großraums trasse in % in % in % Straßenbahnen führten in den 1970er-Jah- ja 1,75 1,80 2,00 > 100.000 Einwohner ren in Frankreich landesweit nur noch ein nein 1,00 1,05 1,25 Nischendasein. Bis Ende der 1950er-Jahre ja 0,85 0,90 1,10 wurde in nahezu allen Städten der schie- 50.000 – 100.000 Einwohner nein 0,55 0,60 0,80 nengebundene ÖPNV eingestellt – mit 10.000 – 50.000 0,55 0,60 0,80 Ausnahme von Paris und einem Rumpfsys- Einwohner tem in Marseille, Lille und Saint-Etienne. < 10.000 Einwohner mit Die grundlegende Anpassung finanzieller mind. einer touristischen 0,55 und organisatorischer Rahmenbedingun- Gemeinde gen führte zur nachhaltigen Umkehr der Quelle: GART 2015: 14

450 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

Beachtung gestaffelter Höchstsätze gemäß Damit ist die Nahverkehrsabgabe das mit Article L.2333-67 du Code Général des Coll- Abstand wichtigste Finanzierungsinstru- ectivités Territoriales selbst fest. ment für den französischen ÖPNV. Nach- dem sich der französische Zentralstaat In der Region Île-de-France gelten die ge- vollständig aus der Förderung kommu- sonderten Sätze (GART 2015: 43): naler ÖPNV-Infrastruktur zurückgezogen hatte, fand im Rahmen des Umweltgipfels • Zone 1: 2,7 % „Grenelle Environnement“ im Jahr 2007 Paris und Kommunen im Department ein Umdenken statt. Der französische Hauts-de-Seine Staat stellte im Jahr 2009 800 Mio. Euro für 50 Projekte in 36 Agglomerationen und • Zone 2: 1,8 % 2011 weitere 590 Mio. Euro für 78 Projekte Kommunen der Unité urbaine de Paris zur Verfügung, wodurch sich die Ausbaudy- (nicht in Zone 1) namik der städtischen ÖPNV-Infrastruktur in den vergangenen Jahren weiter erhöht • Zone 3: 1,5 % hat. Da die neuen Straßenbahnsysteme auf Restliche Kommunen der Departements die heutigen Stadtstrukturen abgestimmt l`Essonne, sind – Streckenführung in der Schwerelinie Seine-et-Marne, Val d`Oise und Yvelines. der Bebauung und entlang aufkommens- starker Achsen – wird auf einer wesentlich Sofern der städtische ÖPNV auf einer kürzeren Infrastruktur ein relativ höheres Eigentrasse verkehrt – dazu zählen spur- Fahrgastaufkommen je Streckenkilometer geführte Verkehrsmittel und Busse auf befördert, als in vergleichbaren deutschen eigenem Fahrweg – hat die Steuer einen hö- Städten. Neben dem Bau einiger neuer heren zulässigen Höchstsatz. Zudem gibt Straßenbahn- und hochwertiger Bussyste- es einen Bonus für Kommunalverbände in me bilden in Frankreich erste umfangreiche Höhe von 0,05 % und für Orte mit staat- Bestandssanierungen bei der Metro – mit lich klassifizierter touristischer Funktion gleichzeitiger Automatisierung – die aktuel- in Höhe von 0,20 %. Im Jahr 2013 wurde len Investitionsschwerpunkte. die Nahverkehrsabgabe von 242 Kommu- nen zur Finanzierung des ÖPNV-Angebots erhoben und erbrachte zweckgebundene Dienstgeberabgabe in Wien Einnahmen für den ÖPNV von insgesamt 3,745 Mrd. Euro. Weitere 3,424 Mrd. Euro Bei der Dienstgeberabgabe in Wien, um- wurden von der Nahverkehrsorganisation gangssprachlich auch als U-Bahn-Steuer Île-de-France eingenommen. Im Jahr 2013 bezeichnet, handelt es sich um ein ähn­ setzten sich die Gesamteinnahmen der liches Finanzierungsinstrument wie bei kommunalen Aufgabenträger in den Re- der französischen Nahverkehrsabgabe. Die gionen (ohne Île-de-France) in Höhe von Arbeitgeber werden als Nutznießer finanzi- 7,591 Mrd. Euro wie folgt zusammen (GART ell an der ÖPNV-Finanzierung beteiligt. Im 2015: 12): Gegensatz zum französischen Modell zah- len die Unternehmen für jeden Mitarbei- • 47,3 % ter, der seinen Beschäftigungsort in Wien Nahverkehrsabgabe Taxe Versement de hat, einen verpflichtenden Pauschalbetrag Transport je angefangener Woche (Wien 1970). Die U-Bahn-Steuer ist eine lokale Abgabe der • 32,6 % Stadt Wien mit Zweckbindung zum Errich- Zahlungen der lokalen Gebietskörper- ten einer U-Bahn. Die Dienstgeberabgabe schaften von ursprünglich 10 Schilling (= 0,72 Euro) wurde 1970 vom Wiener Landtag beschlos- • 17,4 % sen und ab 1. Juni 2012 auf 2,00 Euro er- Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätig- höht. Im Jahr 2014 hat die Stadt Wien mit keit (Fahrgeldeinnahmen) der Dienstgeberabgabe­ 66,2 Mio. Euro ein- genommen (Wien 2014). Beim weiteren • 2,7 % Ausbau der Wiener U-Bahn beteiligen sich Zahlungen des französischen Zentral- Bund und die Stadt Wien gemeinsam an staats. den Investitionskosten. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 451

City-Maut, Innenstadtmaut, Tabelle 6 Urban Congestion Pricing Europäische Städte mit einer City-Maut und Jahr der Einführung Für die Erhebung von Straßenbenutzungs- Städte mit Jahr Land der Einführung gebühren (Congestion Pricing) haben sich viele unterschiedliche Begriffe herausge- Großbritannien Durham, London (2003) bildet. Für die Bemautung stark verkehrs- Italien Bologna (2006), Mailand (2008), Rom belasteter Innenstadtbereiche hat sich international der Begriff Urban Congesti- Malta Valletta (2007) on Pricing (= City-Maut, Innenstadtmaut) Norwegen Bergen (1985), Oslo (1990), Trondheim (1991, 2010), etabliert (Kossak 2013: 39 ff.). Es geht um Kristiansand (1997), Tonsberg, weitaus mehr als nur das Bekämpfen von Namsos, Baerum, Nord- Jaeren, Haugalandet Verkehrsstaus: Schweden Stockholm (2006), Göteborg (2013) • Bekämpfen verkehrsbedingter, negativer Quelle: Kossak 2013: 39 ff., eigene Recherche Umwelteffekte

• Verbessern des Verkehrsflusses land immer häufiger auf. Hierzulande wer- den vorrangig Bedenken erhoben. Typische • Generieren von Finanzmitteln für Ver- Argumente gegen eine City-Maut sind eine kehrsinfrastruktur (Neu- und Ausbau, drohende Verlagerung in autofreundliche Betrieb, Erhalt) Nachbarstädte, welche die Existenz des Einzelhandels bedroht, das Fördern von • Verbessern der Lebensqualität in, und Neuansiedlungen außerhalb des Mautge- Attraktivität von Stadtzentren sowie biets oder eine technologisch aufwändige und teure Form der Mauterhebung. Selbst • Mobilitätsmanagement aus Sicht der Verkehrsunternehmen wird die Einführung einer City-Maut häufig mit Die erste City-Maut wurde 1975 in Singa- Skepsis beurteilt, da sie zu Fahrgaststei- pur eingeführt und gegenwärtig wird in gerungen in der Hauptverkehrszeit führe, mindestens 17 europäischen Städten eine in der die Auslastung der Verkehrsmittel City-Maut erhoben. Sie hat sich als sehr bereits am größten ist. Die Beförderung wirkungsvolles Lösungsinstrument für die zusätzlicher Fahrgäste wäre nur mit erheb- vom motorisierten Individualverkehr (MIV) lichen Zusatzinvestitionen in örtliche und verursachten Verkehrsprobleme erwie- zeitliche Angebotsverdichtungen möglich. sen und beteiligt die MIV-Nutzer an den Kosten der ÖPNV-Finanzierung. Mit einer Die zahlreichen zum Teil sehr gut wissen- Straßenbenutzungsgebühr werden in der schaftlich evaluierten Beispiele zur City- Regel im Innenstadtbereich stark verkehrs- Maut-Einführung aus dem Ausland – vor belasteter (Groß-)Städte externe Effekte des allem in Stockholm – zeigen, wie mit der Verkehrs – Emission von Luftschadstoffen, Maut lokalpolitische Ziele zum Steigern Verkehrslärm, gesundheitliche Schäden – der Umwelt- und Lebensqualität erreicht besteuert. Die zeitliche und räumliche und der Verkehrsfluss dauerhaft gesteuert Steuerung des Verkehrsflusses erfolgt bei werden können. Sehr häufig wurden dabei einer City-Maut mit Preissignalen. In den unterfinanzierte und sanierungsbedürftige zahlreichen Praxisbeispielen zeigt die City- ÖPNV-Systeme mit Hilfe der Mauteinnah- Maut eine verkehrshemmende Wirkung men zu zeitgemäßen Systemen ausgebaut und fördert den Umstieg auf öffentliche und modernisiert. Vorher befürchtete nega- Verkehrsmittel. tive Effekte traten nicht ein. Hauptziel einer City-Maut sollte ein besserer Verkehrsfluss Aufgrund prominenter, erfolgreicher Kon- sein und die Mauteinnahmen eher als posi- zepte im Ausland (z. B. London Congestion tiver Nebeneffekt betrachtet werden (Brei- Charge, Stausteuer „Trängselskatt“ in Stock- tinger 2013), (Müller 2013). holm), strengerer europäischer Vorgaben zur Luftqualität und dem Sanierungsbedarf der Verkehrsinfrastruktur lebt die Diskus­ sion um eine City-Maut auch in Deutsch-

452 Meinhard Zistel: Ohne Geld geht es nicht. Finanzierung für die Tram in der Stadt

Fazit

Hinsichtlich der Finanzierung des schie- Siedlungsgebiete auf die bestehende Ver- nengebundenen ÖSPV in Deutschland be- kehrsinfrastruktur, dafür sind ebenfalls stehen derzeit zusammengefasst die folgen- Mittel erforderlich den, wesentlichen Herausforderungen: Angesichts der bestehenden Herausforde- • Bundesweit großer Reinvestitionsbedarf rungen und des Finanzierungsrahmens in in ortsfeste Verkehrsanlagen und Schie- Deutschland wird der erforderliche Aus- nenfahrzeuge einst (GVFG-)geförderter bau von Straßen- und Stadtbahnsystemen Verkehrsinfrastruktur frühestens ab dem Jahr 2030 beginnen können. Damit ist bereits heute absehbar, • Der Bund fördert mit dem GVFG nur dass die räumliche Verdichtung im schie- Neu- und Ausbauvorhaben, jedoch keine nengebundenen ÖSPV in den wachsenden Ersatzinvestitionen Siedlungsräumen Deutschlands unter den jetzigen Randbedingungen viel zu spät er- • Die Finanzierung der Reinvestitionen folgen wird, um einen wirksamen Beitrag verbleibt nahezu vollständig bei den für die Klimaschutzziele leisten zu können. Kommunen und Verkehrsunternehmen Zugleich geben die erhebliche Deckungs­ lücke bei den Reinvestitionen sowie der • Der Reinvestitionsbedarf kann nicht aufgelaufene große Nachholbedarf ange- vollständig gedeckt werden (Deckungs- sichts der kommunalen Haushaltslage An- lücke) und führt zu einem Sanierungs- lass zur Sorge. Somit können in zahlreichen stau (Nachholbedarf), der sich immer Kommunen die Potenziale des ÖPNV nicht weiter aufbaut voll ausgeschöpft werden, obwohl im Zuge der Pariser Klimaschutzbeschlüsse ein leis- • Große Unterschiede bei der kommuna- tungsfähiges und attraktives ÖPNV-Angebot len Leistungsfähigkeit, finanzschwache dringend erforderlich wäre. Ein zukunfts- Kommunen haben enorme Probleme bei weisendes verkehrspolitisches Grundsatz- der Finanzierung ihrer Reinvestitionen programm, wie zu Beginn der 1970er-Jahre, mit einem klaren Bekenntnis für einen Mo- • Unklare Zukunft über die Beteiligung des dal-Shift zugunsten des Umweltverbunds, Bundes nach 2019 an der kommunalen erscheint daher geboten. Hierbei sind auch Verkehrsfinanzierung (GVFG-Bundes- die bestehenden Herausforderungen der programm, Entflechtungsmittel) ÖPNV-Finanzierung einzubeziehen und zu lösen. • Überzeichnung des GVFG-Bundespro- gramms (bei konstanter Dotierung) mit Verpflichtende Beiträge für Drittnutzer an vielen kostenintensiven Großprojekten der ÖPNV-Finanzierung gibt es bislang nur und kaum frühzeitiger realisierbaren, im Ausland. Dort sind sie jedoch seit Lan- kostengünstigeren Straßen- und Stadt- gem etabliert. Neue Finanzierungsmodelle bahnprojekten bieten Potenzial, um für den kommunalen ÖPNV in Deutschland ergiebige und plan- • Räumliche Verteilung der GVFG-Mittel bare Mittel zu generieren. Sofern die Um- vor allem nach Süddeutschland, wo die setzung der neuen Modelle in Deutschland Kommunen finanziell leistungsfähiger rechtlich möglich wäre, ist von einer guten sind und die erforderlichen kommu- Übertragbarkeit der andernorts etablierten nalen Eigenmittel leichter aufbringen Finanzierungsinstrumente auszugehen. Auf können, hingegen kaum Projektanmel- Basis vorliegender Erfahrungen mit den dungen aus Berlin und aus wachsenden beschriebenen Modellen, sollten bei der Kommunen in Nordrhein-Westfalen und Weiterentwicklung der deutschen ÖPNV- Ostdeutschland Finanzierung neben den fünf Eckpunkten Ergiebigkeit, Zweckbindung für den ÖPNV, • In wachsenden Kommunen ist neben Überjährigkeit, Planbarkeit und Effizienz den Reinvestitionen auch der Ausbau des Mitteleinsatzes folgende Leitplanken zu finanzieren; in schrumpfenden Kom- berücksichtigt werden: munen hingegen Konsolidierung der Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 453

• Fahrgeldeinnahmen sind weiterhin ein Über den Abbau des aufgelaufenen Sa- wesentlicher Bestandteil nierungsstaus und die anstehenden Rein- vestitionen hinaus, sollten Verkehrsun- • Neue Finanzierungsmodelle stärken die ternehmen und Kommunen zusätzliche regionale/kommunale Selbstverwaltung Mitteleinnahmen in die Qualität ihrer und werden vorrangig in urbanen Räu- Straßen-, Stadt- und U-Bahnsysteme in- men und nicht in ländlichen Räumen vestieren und „eine Schippe drauf legen“. angewendet An vielen Stellen könnten bereits geringe Nachinvestitionen erheblichen Zusatz- und • Weiterhin auch staatliche Verantwortung Kundennutzen stiften (z. B. bei Aufent- und Beteiligung (Steuerfinanzierung) halts- und Fahrzeugqualität, Fahrkomfort, Reisegeschwindigkeit, Barrierefreiheit). • Unterscheidung von ÖPNV-unterstüt- Dies sorgt für einen Qualitätssprung nach zenden und MIV-belastenden Maßnah- vorn und trägt dazu bei, die vorhandenen men kommunalen Verkehrssysteme „rund“ zu bekommen. • Finanzielle Beteiligung von Drittnutzern (Autoverkehr, Arbeitgeber, Immobilien- besitzer) ist sinnvoll und praktikabel

• Externen Effekten des Autoverkehrs soll- te nicht mit Preissenkungen im ÖPNV begegnet werden, sondern mit ursa- chenadäquater Internalisierung der ex- ternen Kosten Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 455

Wirkungen von Straßenbahnen auf Wirtschaft Roland Priester und Gesellschaft einer Stadt Gebhard Wulfhorst

Straßenbahnprojekte werden in erster Linie zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse ei- ner Stadt ins Leben gerufen, wirken sich aber auch wirtschaftlich und gesellschaftlich aus. So zeigt sich beispielsweise aus ökonomischer Perspektive, dass neue Straßenbahn­strecken die Bodenpreise in ihrem Einzugsbereich deutlich beeinflussen können. Im Hinblick auf soziale Effekte werden eine verstärkte soziale Inklusion, der Abbau von Segregation, eine erhöhte Zufriedenheit der Einwohner eines Quartiers, aber auch Gentrifizierungseffekte diskutiert. Dieser Artikel gibt einen Überblick über diese Effekte und fokussiert dabei auf deren Rahmenbedingungen und Einflussgrößen. Darauf aufbauend diskutiert er abschlie- ßend einige Ansätze, die die Wirkungen von Straßenbahnprojekten auf Wirtschaft und Ge- sellschaft berücksichtigen und damit eine zukunftsfähige Stadtentwicklung gewährleisten.

Hintergrund und Ziel des Beitrags Ökonomische Effekte

Weltweit ist von einer „Renaissance der Ökonomische Effekte von Verkehrs- und ins- Straßenbahn“ die Rede. Tatsächlich setzen besondere Straßenbahnprojekten können immer mehr Städte in Europa, aber auch durch die mit einer Investitionsmaßnahme in den USA und aufstrebenden Ökonomien verbundenen Verbesserungen im Verkehrs- wie beispielsweise China wieder verstärkt system, die sich in einer erhöhten Erreich- auf ein Verkehrsmittel, das vor nicht allzu barkeit ausdrücken, entstehen (vgl. Priester langer Zeit als überholt galt. Bei der Bewer- et al. 2012; Priester/Büttner 2013; Weisbrod/ tung von ÖPNV-Investitionen in Deutsch- Reno 2009: 12). Dabei sind Erreichbarkeits- Dipl.-Ing. Roland Priester land werden jedoch zahlreiche ökonomi- vorteile zwar eine notwendige, aber keine ist ÖPNV-Netzplaner bei der sche wie soziale Effekte von Straßenbahnen, hinreichende Bedingung (vgl. Banister/Be- Senatsverwaltung für Stadt­ entwicklung und Umwelt in wie zum Beispiel ihr Einfluss auf Boden- rechman 2000: 4 f.). Zu den wesentlichsten Berlin. Er schließt derzeit an preise, Inklusion, Segregation und Gentrifi- Effekten gehören Wirkungen auf Boden- der Professur für Siedlungs- zierung weitgehend ausgeblendet. und Immobilienpreise sowie eine verstärkte struktur und Verkehrsplanung lokale Wirtschaftsentwicklung durch verbes- der Technischen Universität Dieser Artikel gibt daher einen Überblick serten Arbeitsmarktzugang und vergrößerte München (TUM) sein Promo- tionsvorhaben zum Thema über die ökonomischen und sozialen Effek- Kundeneinzugsbereiche. „Effekte von Straßenbahnen te von Straßenbahnprojekten. Er fokussiert auf die Stadtentwicklung dabei auf die Rahmenbedingungen und – Systemmodellierung und Einflussgrößen dieser Wirkungen und be- Boden- und Immobilienpreise Fallstudienanalyse“ ab. ruft sich auf den internationalen Stand der [email protected]

Forschung. Die Ausführungen gründen auf Die Veränderung der Boden- und Immo- Prof. Dr.-Ing dem Promotionsvorhaben des Erstautors, bilienpreise als ökonomischer Effekt von Gebhard Wulfhorst das derzeit an der Technischen Universität Straßenbahnprojekten wird insbesondere leitet die Professur für Sied- München abgeschlossen wird. Neben um- im nordamerikanischen Raum sehr inten- lungsstruktur und Verkehrs- fangreichen Recherchen wird hier ein dyna- siv diskutiert. Während etwa in den USA planung der Technischen Universität München (TUM). misches Wirkungsmodell entwickelt und an für die größeren Systeme in der Regel ent- Er ist Experte für die Wechsel- Beobachtungen zur Entwicklung der Tram sprechende Untersuchungen vorliegen, gilt wirkungen zwischen Verkehrs- in München gespiegelt (vgl. Priester et al. dies in Europa und speziell im deutschspra- angeboten, Standortentwick- 2012; Priester/Büttner 2013). chigen Raum trotz einer deutlich größeren lungen und Mobilitätsverhalten Zahl von Bahnsystemen und einer allge- und arbeitet an zukunftsfähigen Konzepten auf Ebene von mein höheren Nutzung des ÖPNV für weit- Metropolregionen und Stadt- aus weniger Städte (vgl. Albrecht 2010: 16, quartieren. 30; Brandt/Maennig 2011: 999). Der hohe [email protected]

Roland Priester, Gebhard Wulfhorst: 456 Wirkungen von Straßenbahnen auf Wirtschaft und Gesellschaft einer Stadt

Anteil der Steuer auf Grundstücks- und Im- rastrukturprojekten im öffentlichen Verkehr mobilieneigentum am gesamten kommu- nachweisen. Schon die erste elektrische nalen Steueraufkommen wird als wichtiger Straßenbahn der Welt, die am 16. Mai 1881 Grund für das größere Forschungsinteresse in Berlin vom Bahnhof Lichterfelde Ost zur an diesem Thema in den USA ausgemacht damaligen Preußischen Kadettenanstalt in (vgl. Albrecht 2010: 29). Auch eine in Teilen Lichterfelde in Betrieb ging, sorgte für eine bessere Datengrundlage (vgl. RICS Policy enorme Wertsteigerung der durch sie er- Unit 2002: 1) mag die systematische Ana­ schlossenen Grundstücke (vgl. Berliner Ver- lyse dort erleichtern. kehrsseiten 2014). Interessanterweise betei- ligten sich die anliegenden Grundbesitzer Während in der Literatur mehrheitlich der finanziell am späteren Ausbau der Straßen- Wertzuwachs von Grundstücken und Im- bahn – ein Modell, das heute als Grundlage mobilien aufgrund von Erreichbarkeitsvor- für alternative Finanzierungskonzepte dis- teilen durch die neue ÖPNV-Infrastruktur kutiert wird. beschrieben wird, zeigen andere Fälle, dass sich die durch den Straßenbahnbetrieb er- Wissenschaftliches Interesse an den Aus- zeugten Lärmemissionen auch negativ auf wirkungen von ÖPNV-Investitionen auf den Preis auswirken können. den Bodenmarkt entwickelte sich vor allem mit den neuen leistungsfähigen Schnell- Den Wert eines Grundstücks beeinflussen bahnsystemen in den USA ab den 1970er- neben dem Entwicklungszustand und den Jahren, beispielsweise in der San Francisco Festsetzungen der Bauleitplanung im We- Bay Area, in Washington D.C. und in Atlanta sentlichen dessen Lageeigenschaften (vgl. (vgl. Damm et al. 1980; Falcke 1978; Knight/ Haasis 1987: 29–35). Dabei kommt der Er- Trygg 1977). Im Zuge der Wiederentdeckung reichbarkeit, die sich aus der Distanz zu der Straßenbahn und der Fortentwicklung bestimmten Standorten und der Lage im zur Stadtbahn als modernem städtischen Verkehrsnetz ergibt, eine besondere Bedeu- Verkehrsmittel gibt es vor allem seit den tung zu (vgl. von Thünen 1826, Stolley 1972: 1990er-Jahren auch hierzu entsprechende 111, Dieterich/Dieterich 1997: 84). Untersuchungen (vgl. Al-Mosaind/Dueker/ Strathman 1993, Cervero 1984, Weinstein/ Diesen Zusammenhang beschreibt bereits Clower 2003, Duncan 2011, Hass-Klau/ Alonso (1964) in seinem Modell für den Crampton/Benjari 2004). städtischen Bodenmarkt. Demnach fällt die Bodenrente, sprich der Ertrag einer Nut- Der am häufigsten verwendete Ansatz, um zung an einem Standort, vom Zentrum hin potenzielle Auswirkungen von ÖPNV-Syste- zur Peripherie, weil Haushalte einen zen- men auf Boden- und Immobilienpreise zu trumsferneren Standort nur akzeptieren, untersuchen, ist die hedonische Methode. wenn dieser durch eine geringere Boden- Diese geht davon aus, dass sich der Preis rente kompensiert wird (vgl. Bröcker 2005: eines bestimmten Gutes aus der Summe 1080). Das Kriterium Zentralität dominiert seiner Eigenschaften ergibt. Die Einfluss- den Bodenwert zwar, ist aber nicht sein stärke der jeweiligen Attribute wird dabei einziger Einflussfaktor. Weitere stadtstruk- über eine Regressionsanalyse ermittelt (vgl. turelle Merkmale wie das Verkehrsnetz kön- Gondring 2013: 998–1003). Die meisten nen die Bodenpreise ebenfalls beeinflussen Studien weisen einen positiven Effekt, eini- (vgl. Alonso 1964: 141 f.). So führt eine hö- ge jedoch auch einen negativen und andere here Erreichbarkeit, zumeist ausgedrückt wiederum überhaupt keinen signifikanten in einer geringeren Reisezeit zu einem Effekt von ÖPNV-Systemen nach (vgl. Deb- bestimmten Ziel, zu niedrigeren generali- rezion/Pels/Rietveld 2007: 164, Mohammad sierten Transportkosten. Diesen Nutzenzu- et al. 2013: 158). Eine Metaanalyse von Mo- wachs bewerten die anliegenden Haushalte hammad et al. (2013) betrachtet 23 Studien oder Unternehmen positiv – ihre Wertschät- im Zeitraum von 1991 bis 2008 zu insge- zung drückt sich in der Folge in höheren samt 102 analysierten S-, U- und Straßen- Bodenpreisen im Umfeld der Verkehrsinfra- bahnsystemen weltweit mit Schwerpunkt struktur aus. auf den USA (einige darunter mehrfach von verschiedenen Autoren). Im Ergebnis offen- Wertsteigernde Wirkungen auf Boden- oder bart sie eine große Spanne der Boden- bzw. Immobilienpreise lassen sich auch bei Inf- Immobilienpreisänderungen von –45 % bis Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 457

mehr als +100 %. Deutlich am häufigsten Abbildung 1 (in 70 Fällen) stieg der Bodenpreis jedoch Verteilung der untersuchten Boden-/Immobilienpreisänderungen im Umfeld von 102 analysierten S-, U- und Straßenbahnsystemen, weltweit, im Zeitraum um bis zu 20 % an (vgl. Abb. 1), mit einem von 1991 bis 2008 Mittelwert von 8 % und einem Median von 80 5 %. 70 Die hohe Streuungsbreite der in Einzelstudi- 60 en gemessenen Einflüsse des Schienenver- kehrs auf die Boden- und Immobilienpreise 50 hängt mit einer Vielzahl von unterschiedli- 40 chen Rahmenbedingungen zusammen. So Fälle ist die Änderungsrate bei Immobilien eine 30 geringere als bei reinen Grundstücken (Mo- 20 hammad et al 2013: 161). Die Nutzungsart betrachtend zeigen sich bei gewerblich ge- 10 nutzten Flächen gegenüber Grundstücken mit vorwiegender Wohnnutzung deutlich 0 –60 % –40 % –20 % 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % positivere Einflüsse auf den Preis (vgl. Deb- rezion/Pels/Rietveld 2007: 175; Mohammad Boden-/Immobilienpreisänderungsrate et al. 2013: 166). Auch die Art und die An- Quelle: eigene Darstellung nach Mohammad et al. 2013 gebotsqualität des jeweiligen Schienenver- kehrssystems (S-, U- oder Straßenbahn) beeinflusst, wie stark der Preis sich ändert. ter durch den Bau einer neuen Haltestelle entspricht, korrespondiert […] mit um 3,4% Während der Effekt von S-Bahnen in diver- bis 4,8% höheren Mieten und mit um 4,0% sen Untersuchungen deutlich am höchsten bis 4,7% höheren Kaufpreisen, wobei sich bewertet wird (vgl. ebd.), wirken sich Stra- größere Unterschiede zwischen den ver- ßenbahnen trotz ihrer geringeren Reisege- schiedenen Städten und Verkehrssystemen schwindigkeit nur wesentlich geringer auf (Schiene/Bus) ergeben“ (BBSR 2015: 5). Der Boden- und Immobilienpreise aus als U- durchschnittliche Zuwachs beträgt somit Bahnen (vgl. Mohammad et al. 2013: 166; ungefähr die Hälfte des Wertes, der in der Debrezion/Pels/Rietveld 2007: 175). Es liegt zuvor genannten internationalen Metastu- daher nahe, dass neben der Reisezeit noch die beschrieben wird, liegt aber dennoch in weitere Faktoren den Wertzuwachs erklä- einer ähnlichen Größenordnung. ren. Die derzeit stark als kostengünstige Alternative zum Schienenverkehr geprie- Allgemein schmälert eine hohe Erreich- senen Schnellbus- bzw. Bus-Rapid-Transit- barkeit im Motorisierten Individualverkehr Systeme reichen an die Bodenpreisände- (MIV) die Bedeutung des Schienenver- rungen von Straßenbahnen nicht heran kehrs für die Preisbildung. Dies drückt die (vgl. ebd.: 177). unterschiedliche Wertschätzung des Gutes Schienenverkehr bzw. des aufgrund seiner Für den deutschsprachigen Raum liegen nur Attribute wahrgenommenen Nutzens im wenige umfassende Untersuchungen zum Vergleich zu Alternativgütern aus. Dort, wo Einfluss von ÖPNV auf den Boden- oder Im- die Fahrt mit dem privaten Pkw nur weni- mobilienwert vor. Einen wesentlichen Bei- gen Einschränkungen unterlegen und eine trag liefert die BBSR-Studie „Ökono­mischer optimale Erreichbarkeit von Standorten ge- Mehrwert von Immobilien durch ÖPNV- geben ist, stellt der Schienenverkehr keine Erschließung“ (BBSR 2015). Sie stellt für ernstzunehmende Alternative dar und wird alle sechs untersuchten deutschen Städte folglich nicht im Bodenpreis kapitalisiert einen positiven Zusammenhang zwischen (vgl. Mohammad et al. 2013: 162). dem ÖPNV-Angebot und den Preisen sowie Mieten für Wohnungen fest. „Der Anteil der Als Grundvoraussetzungen dafür, dass der ÖPNV-Angebotsqualität an der Miet- und ÖPNV einen Effekt auf Boden- oder Immo- Kaufpreisbildung liegt bei rund 4 %. Eine bilienpreisen haben kann, gelten Reduzierung der Reisezeiten um 15 Minu- ten, was zum Beispiel der Verkürzung der • eine starke bzw. wachsende regionale Zugangswege zur Haltestelle um 1.000 Me- Wirtschaft

Roland Priester, Gebhard Wulfhorst: 458 Wirkungen von Straßenbahnen auf Wirtschaft und Gesellschaft einer Stadt

• ein reger Grundstücks- und Immobilien- auf Boden- und Immobilienpreise. Auch markt fehlt hier ein mehrheitlich verwendeter Untersuchungsansatz, der Effekte zu quan- • unterstützende verkehrs- und stadtpla- tifizieren vermag, wie es beispielsweise die nerische Maßnahmen (vgl. Atkinson-Pa- hedonische Methode im Bereich der Immo- lombo 2010: 2410; Cervero/Landis 1993: bilienpreisänderungen ist. 13; Damm et al. 1980: 334; Duncan 2011; Hess/Almeida 2007: 1061; Landis et al. Bereits 1977 wies eine vielzitierte Studie 1995: 109 f.) zu den deutlich positiven Effekten auf die Büro- und Geschäftsflächenentwicklung in Zu den wichtigsten Maßnahmen, die einen Toronto und San Francisco in Zusammen- Wertzuwachs von Grundstücken oder Im- hang mit dem Bau und der Eröffnung der mobilien befördern, gehören: dortigen Schnellbahnsysteme auf die Be- deutung weiterer Einflussfaktoren hin (vgl. • ÖPNV-orientierte Siedlungsentwicklung Knight/Trygg 1977). Dazu zählen zunächst inklusive Anreizen und Planungserleich- unterstützende Maßnahmen der städti- terungen für die Flächenentwicklung schen Behörden etwa aus dem Bereich der Bauleitplanung, die bestimmte Nutzungs- • Gemeinsame Projektentwicklung von arten oder Bebauungsdichten fördern bzw. privaten Investoren und ÖPNV-Betrei- ermöglichen, aber auch eine Kooperation bern („joint development“) von Stadtverwaltung, Verkehrsgesellschaf- ten und privaten Investoren in Bezug auf • Förderung von Dichte und Mischnut- gemeinsame Entwicklungsziele anstoßen. zung in der Bauleitplanung Eine zweite Einflussgröße ist die regionale Wirtschaftsstärke inklusive ihrer Entwick- • Verkehrspolitische Priorisierung des lungsperspektiven. Fehlt diese, wie seiner- ÖPNV zeit in Philadelphia und seinen Vororten, unter den Vorzeichen von Bevölkerungs- • Restriktionen im Pkw-Verkehr rückgang und wirtschaftlicher Rezession, können in Zusammenhang mit einem neu- • Förderung attraktiver und fußgänger- en Schnellbahnsystem auch keine positiven freundlicher öffentlicher Räume im Um- Entwicklungstrends festgestellt werden. feld des ÖPNV Drittens gilt die Verfügbarkeit von Entwick- lungsflächen als eine notwendige Voraus- • Strategische Lokalisierung von Haltestel- setzung dafür, dass ein Verkehrsprojekt eine len in Bereichen mit hoher Nachfrage spürbare gewerbliche Entwicklung über- und weiterem Entwicklungspotenzial haupt erst in Gang setzen kann. Schließlich wird die Attraktivität der Umgebung einer • Minimierung möglicher negativer Um- Schienenverkehrsstrecke als weiterer ent- welteffekte wie zum Beispiel Lärm und scheidender Faktor für mögliche räumli- optische Beeinträchtigung des Stadtbilds che Entwicklungen angesehen. So stellt die (vgl. Diaz 1999: 5-7; Parsons Brinckerhoff Studie die Nähe zu Bevölkerungsschwer- 2001: 2) punkten und zu Zentren wirtschaftlicher Entwicklung als positiv heraus, während altindustrielle Gebiete oder die Anlage von Lokale Wirtschaftsentwicklung Strecken in Nähe von Autobahnen keine zusätzlichen wirtschaftlichen Impulse er- Die Wertschätzung von Erreichbarkeitsvor- warten lassen. teilen aufgrund eines Schienenverkehrs- systems an bestimmten Standorten, insbe- Diese bereits 1977 formulierten notwen- sondere bei Nachfragern nach gewerblich digen Rahmenbedingungen für Effekte genutzten Grundstücken, müsste sich in von städtischen Bahnsystemen auf die der Konsequenz auch darin ausdrücken, wirtschaftliche Entwicklung bestätigen das Unternehmen solche Standorte bei ih- sich auch in späteren Studien (vgl. Cerve- rer Ansiedlung bevorzugen. Die Erkenntnis- ro 1984; Cervero/Landis 1993) und lassen se in diesem Bereich sind allerdings weni- sich auf Straßen- und Stadtbahnsysteme ger eindeutig als diejenigen zu den Effekten übertragen. So zeigt sich beispielsweise in Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 459

einer Untersuchung von neu eingeführten fekt auf den Büromarkt zunächst verhal- englischen Stadtbahnsystemen (Dickens ten (vgl. Buck Consultants International/ 1992), dass eine nennenswerte Gewerbe- Twynstra Gudde 2000: 57), was zum Teil entwicklung von dem allgemeinen wirt- durch ein enormes Überangebot an Büro- schaftlichen Klima abhängt sowie von einer flächen in der Stadt zum Zeitpunkt des Be- Koordination der städtischen Verkehrs- und triebsstarts zu erklären ist. Nennenswerte Stadtplanung, die Anreize für eine mögliche Entwicklungen konnten hier nur in einem Entwicklung setzt und frühzeitig private Quartier entlang der Linie B beobachtet Investoren in den Prozess miteinbezieht. werden. Der wirtschaftliche Erfolg der Stra- Oder pointiert ausgedrückt: ßenbahn Strasbourg lag dagegen vor allem in der Aufwertung des Einkaufsangebots in „Merely building an LRT route through de- der Innenstadt. So wurden nach Eröffnung velopable land and then waiting for things der Tram viele Geschäfte entlang der Stre- to happen will not produce worthwhile re- cke aufgewertet oder siedelten sich neu sults“ (Dickens 1992: 11). dort an. Allerdings begleiteten diesen Pro- zess zahlreiche städtebauliche Planungs- Als eines der eindrucksvollsten Beispiele maßnahmen, was es letztlich erschwert, für Effekte von neu eingeführten Bahnsys- die Wirkung der Straßenbahn isoliert von temen auf Unternehmensansiedlungen anderen Faktoren zu betrachten. – wenngleich kein klassisches Straßen- oder Stadtbahnsystem, sondern eher eine „Light-Metro“ – gilt die in London ab 1987 Soziale Effekte eingeführte Docklands Light Railway (DLR). Sie beeinflusste die städtebauliche und die Wirkungsanalysen von Verkehrsprojekten Büroflächenentwicklung sowie das lokale ermitteln im Vergleich zu wirtschaftlichen Beschäftigungswachstum eines ehemaligen und ökologischen Folgen nur selten, wel- Hafengebiets derart stark, dass die Bahn che Bedeutung soziale Effekte haben (vgl. auch als „the regeneration railway“ (Buck Geurs/Boon/Wee 2009: 70). Dies liegt zum Consultants International/Twynstra Gud- einen daran, dass sie sehr vielfältige For- de 2000: 39) bezeichnet wird. Rahmenbe- men annehmen und dadurch weniger prä- dingungen wie ein wirtschaftsfreundliches zise abgeschätzt werden können. Zum an- und prosperierendes Umfeld, ein Mangel deren fällt es oft schwer, soziale Effekte klar an Büroflächen im Zentrum Londons sowie von ökonomischen oder umweltrelevanten die Kooperation der Planungsbehörden be- Wirkungen zu unterscheiden, was eine ein- günstigten die Entwicklung allerdings. deutige Definition erschwert.

Im Gegensatz dazu wirkte sich die Wieder- Bei dem Versuch, soziale Effekte einzuord- einführung der Straßenbahn als moderne nen (vgl. Slootweg/Vanclay/Schooten 2001) Niederflur-Stadtbahn im altindustriell ge- sind zunächst Veränderungsprozesse in der prägten Sheffield im Jahr 1994 kaum auf die Sozialstruktur einer räumlichen Einheit wie städtische Revitalisierung aus (ebd: 47). An- zum Beispiel die Zu- oder Abnahme der Be- ders als bei der DLR in London waren die völkerungszahl oder die Verschiebung der Voraussetzungen für einen erfolgreichen Anteile bestimmter Bevölkerungsgruppen Start der „Supertram“ keine günstigen. Eine zu nennen. Sie können soziale Exklusion geringe Kooperation des Stadtrates und oder Segregation zur Folge haben. Davon eine daher fehlende Integration von Stadt- zu unterscheiden sind soziale Wirkungen und Verkehrsplanung sowie die Konkurrenz wie die Wahrnehmung oder die Reaktion durch parallele Busverkehre sorgten dafür, auf diese sozialen Veränderungsprozesse dass die Fahrgastzahlen zu Betriebsbeginn oder auch auf externe Effekte wie Lärm und hinter den Erwartungen zurückblieben und Umweltbeeinträchtigungen. Beispiele für zunächst kaum Investoren angezogen wer- solche soziale Wirkungen wären etwa eine den konnten, die eine Immobilienentwick- geringere Zufriedenheit mit dem Wohnum- lung in Gang hätten setzen können. feld oder eine erhöhte Umzugsbereitschaft.

Auch beim vielfach zitierten Erfolgsmodell und einem der Wegbereiter der Renaissance der Straßenbahn in Strasbourg war der Ef-

Roland Priester, Gebhard Wulfhorst: 460 Wirkungen von Straßenbahnen auf Wirtschaft und Gesellschaft einer Stadt

Soziale Inklusion hierzu die Praxisbeispiele unter anderem im Beitrag Reuther/Polzin zu Bremen). Den Soziale Exklusion drückt sich in verstärk- Bewohnern der eher benachteiligten Quar- ten räumlichen Ausprägungen sozialer tiere wird – nicht immer zwingend – mit der Probleme auf. Dazu gehören die Zersplit- Straßenbahn signalisiert, dass sie nicht „ab- terung traditioneller Sozialstrukturen, die gehängt“ sind von der Innenstadt und dass sinkende Teilhabe am gesellschaftlichen auf einen gewissen Standard in der städte- Leben sowie zunehmende Mangelerschei- baulichen Gestaltung Wert gelegt wird: „Die nungen bei bestimmten sozialen Gruppen Tram hält die Stadt zusammen“. (vgl. Witter 2007: 6). Der Begriff ist somit ein Ausdruck sozialer Ungleichheit und Soziale Inklusion spielt bei Kosten-Nutzen- tritt dann ein, wenn Barrieren existieren, Analysen von Verkehrsprojekten, aufgrund die eine Inklusion nicht zulassen oder stark deren Fokus auf monetarisierten Werten, erschweren (vgl. van Wee/Geurs 2011: 359). traditionell nur eine nachgeordnete oder Zu den wesentlichen Barrieren gehören ein überhaupt keine Rolle (vgl. van Wee/Geurs geringes verfügbares Einkommen, fehlende 2011). Dies gilt auch für die Standardisier- soziale Netzwerke sowie Lage, Erreichbar- te Bewertung (vollständig: Standardisierte keit und Image von Wohnorten (vgl. Stan- Bewertung von Verkehrswegeinvestitionen ley et al. 2011: 200–203; Brennan/Smith/ des öffentlichen Personennahverkehrs) in Olaru 2013: 4 f.). Das Verkehrssystem kann Deutschland. Anforderungen an ein umzu- die exkludierende Wirkung dieser Faktoren setzendes Erreichbarkeitsniveau im ÖPNV entweder abmildern oder noch verstärken werden hier dagegen in den Nahverkehrs- (vgl. Brennan/Smith/Olaru 2013: 5). Soziale plänen genannt, allerdings in individuell Exklusion aufgrund verkehrlicher Rahmen- sehr unterschiedlicher Breite (vgl. Schwarze bedingungen ist vielfältig in ihrer Erschei- 2005: 20). Die Erreichbarkeit mit dem Ziel nungsform, dabei aber stets Ausdruck man- der sozialen Inklusion zu verbinden, ist in gelnder Erreichbarkeit. Ausschlaggebende Untersuchungen in den USA sowie Groß- Faktoren sind zum Beispiel eine fehlende britannien hingegen weit verbreitet (vgl. Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränk- Altenburg/Gaffron/Gertz 2009: 36). Hier ist te Personen, eine mangelnde Verständlich- insbesondere das 2004 im Vereinigten Kö- keit der Nutzung des Verkehrssystems, mo- nigreich eingeführte und auf einem stan- netäre Kosten oder eine zu hohe Reisezeit dardisierten Ansatz beruhende Konzept (vgl. Church/Frost/Sullivan 2000: 198–200). des „accessibility planning“ zu nennen (vgl. Kilby/Smith 2012; SEU 2003). Frank- Mit dem Fokus der Betrachtung auf dem reich wiederum führte die Bilanzierung Verkehrssystem ist Erreichbarkeit so- sozioökonomischer Effekte von größeren mit die wesentliche Determinante für die Infrastrukturprojekten 1982 per Gesetz ver- Teilhabe an bestimmten Aktivitäten und pflichtend ein (vgl. MDDE 2015). am gesellschaftlichen Leben insgesamt. Straßenbahnen tragen folglich zu sozia- Empirische Studien untersuchen insbeson- ler Inklusion bei, wenn die mit ihrer Ein- dere mit der „spatial mismatch“-Hypothese führung einhergehende Erhöhung der die Probleme, die sozial benachteiligte Be- ÖPNV-Erreichbarkeit dem verbesserten völkerungsgruppen mit weit entfernt liegen- Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildungs- und den Wohnorten haben, ihren Arbeitsplatz Versorgungseinrichtungen oder Freizeit- zu erreichen (vgl. Ihlanfeldt/Sjoquist 1998). aktivitäten dient. Möglicherweise können Bezog sich diese Hypothese ursprünglich in den Wohngebieten gleichzeitig Verkehr auf Erreichbarkeitsdefizite der schwarzen und somit Umweltbelastungen reduziert Bevölkerung in den USA (vgl. Kain 1968), werden. Eine weitere mögliche Dimension wurde sie später auf weitere Felder wie zum der sozialen Inklusion im Zusammenhang Beispiel die Benachteiligung einkommens- mit Straßenbahnen kann darin bestehen, schwächerer Bevölkerungsteile ausgeweitet dass gerade Nebenzentren und randstäd- (vgl. Ihlanfeldt/Sjoquist 1998). tische Wohnquartiere ein gegenüber dem Bus höherwertiges Verkehrsmittel anbieten, In einer Studie aus den USA zur 2004 ersten das auch mit möglichen gestalterischen, eingeführten Stadtbahnlinie in Minneapo- städtebaulich wirksamen Aufwertungen lis, der Hiawatha Line, wurde untersucht, von Stadträumen verbunden sein kann (vgl. ob das Bahnsystem die Erreichbarkeit von Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 461

Arbeitsplätzen für Menschen mit geringen durchgeführt. Diese ergaben, dass die Nähe Einkommen verbessert und somit für mehr zur Straßenbahn selbst bei Einschluss so- Gerechtigkeit im Verkehr gesorgt hat (vgl. zioökonomischer Faktoren als Kontrollva- Fan/Guthrie/Levinson 2012). Ausgangsla- riablen einen eigenen Erklärungsgehalt von ge der Untersuchung war die Feststellung, 3,3 % für den Rückgang der Arbeitslosigkeit dass den Großraum um Minneapolis und liefert. Unter den 25- bis 34-Jährigen liegt die Nachbarstadt St. Paul ein deutliches dieser mit 5,4 % höher, was durch die stär- „spatial mismatch“ bezüglich der Wohn- kere ÖPNV-Nutzung dieser Altersgruppe und Arbeitsplatzstandorte der geringverdie- erklärt werden kann. Der Autor der Studie nenden Bevölkerung prägt. Während Ge- schließt daraus, dass die Einführung der ringverdiener überwiegend in den beiden Straßenbahn in Bordeaux und die damit Kernstädten wohnen, befinden sich ihre Ar- verbundene bessere Erreichbarkeit von beitsplätze hauptsächlich im Umland – so Arbeitsplatzstandorten dazu beigetragen auch am südlichen Endpunkt der Hiawatha hat, die Arbeitslosigkeit auf der sozioöko- Line, der Mall of America in Bloomington, nomisch benachteiligten rechten Garonne- dem meistbesuchten Einkaufszentrum der Seite zu reduzieren und somit die soziale Welt. Ungleichheit zwischen Teilen der Stadt zu verringern. Im Ergebnis verbesserte sich die Erreich- barkeit für an die Stadtbahn angebundene Arbeitsplatzstandorte im Vergleich zu nicht Segregation und Gentrifizierung erschlossenen Gebieten deutlich. Auf dem Streckenabschnitt im südlichen Minneapo- Soziale Exklusion von Einzelnen oder von lis, der durch besonders viele Wohnstand- Gruppen kann sich räumlich auch dauer- orte von Geringverdienern charakterisiert haft in Form von Segregation manifestie- ist, verdreifachte sich die Erreichbarkeit ren und ist damit ein weiterer Ausdruck fast. Viele Arbeitsplätze in der Innenstadt sozialer Ungleichheit (vgl. Harth et al. 2012: oder im Bereich des Einkaufszentrums sind 175). Segregation als „disproportionale Ver- durch die moderne Straßenbahnlinie nun teilung von Bevölkerungsgruppen über die deutlich schneller oder erstmals überhaupt städtischen Teilgebiete“ (Friedrichs 1983: mit dem ÖPNV zu erreichen. Allerdings 217) wurde in der Literatur häufig an den profitieren die Standorte im Umfeld der Differenzierungsmerkmalen soziale Klasse Stadtbahn, die hochbezahlte Arbeitsplätze bzw. Schicht oder Hautfarbe bzw. Ethnie bereithalten, mindestens ebenso und teil- untersucht (vgl. Friedrichs 1995: 80). Aber weise sogar erheblich stärker von der bes- auch Religion, Alter und Bildungsstand seren Erreichbarkeit. können Merkmale sein, nach denen sich einzelne Bevölkerungsgruppen voneinan- Auch in Frankreich wurde untersucht, ob der separieren (vgl. ebd.). Straßenbahnprojekte soziale Inklusion nach sich ziehen (vgl. Sari 2012). Konkret Einem der frühesten Erklärungsansätze für ermittelte eine Untersuchung für Bordeaux, Segregation, der Sozialökologie der Chi- wie sich die 2003 eingeführte Straßenbahn cagoer Schule, zufolge ergibt sie sich aus auf die Arbeitslosigkeit in einzelnen Bezir- einem Wettbewerb um die attraktivsten ken niederschlug. Der Fokus der Betrach- Standorte auf dem Boden- und Immobili- tung lag auf den sozioökonomisch benach- enmarkt zwischen unterschiedlich ökono- teiligten Gebieten auf dem rechten Ufer der misch leistungsfähigen Bevölkerungsgrup- Garonne, die nun durch die Straßenbahn pen (vgl. Glasze/Haferburg 2013: 479–482). besser an das Stadtzentrum auf der ande- Daraus resultierende Immobilienpreisdiffe- ren Flussseite angebunden sind. renzen führen zu Segregation und damit zu einem Mosaik von strukturell und baulich Die Statistik zeigt hier, dass sich die Arbeits- homogenen Gebieten innerhalb der Stadt. losigkeit in der Zeit von 1999 bis 2006 deut- Der Prozess der Gentrifizierung kann als lich verringerte. Um einen möglichen Effekt spezifische Form von residentieller Segre- der Straßenbahn von der allgemeinen posi- gation (vgl. Löw 2007: 41; Novy 2003: 26) tiven Entwicklung der sozioökonomischen angesehen werden. Häußermann spricht Eigenschaften in den Bezirken zu isolieren, von Gentrifizierung bzw. Gentrification, wurden zusätzlich Regressionsanalysen „wenn in einem Stadtgebiet die Bewohner

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mit niedrigen Einkommen durch Bewohner Billingham 2010). Sie zeigt für sozioöko- mit höheren Einkommen und/oder ande- nomische und mobilitätsbezogene Indika- ren Lebensstilen ersetzt werden“ (Häußer- toren, wie sich das Haltestellenumfeld des mann 2003: 35). Davon sind häufig „Gebiete neu eingeführten Bahnsystems verglichen mit guter Verkehrsanbindung, alter Bausub- mit der der jeweiligen Metropolregion ver- stanz sowie niedrigen Bodenpreisen und ändert hat. Das Ergebnis: Fast alle Indi- Mieten“ (Löw 2007: 41) betroffen. Steigende katoren in Stadtvierteln, die an das neue Immobilienpreise und Einkommen in be- Schienenverkehrsangebot angeschlossen stimmten Stadtgebieten sind daher die we- wurden, ändern sich durchschnittlich stär- sentlichen Merkmale von Gentrifizierung ker als die Indikatoren der Metropolregion. (vgl. Pollack/Bluestone/Billingham 2010). Soziale Verdrängungsprozesse sind dabei Dabei zeigt sich auch, dass die jeweils ein- eine mögliche, aber keine zwingende Folge. gesetzte Bahntechnologie die Veränderun- gen in den Quartieren sehr unterschiedlich Während empirische Studien den Effekt von beeinflusst. So fallen die Veränderungsra- U-Bahnen auf Segregation und Gentrifizie- ten für Straßenbahnen bei vier von sechs rung belegen, liegen noch wenige Untersu- sozioökonomischen Indikatoren um ein chungen zu den Wirkungen von Straßen- Vielfaches höher aus als für U-Bahnen und bahnen vor. Für den Bereich der U-Bahnen noch deutlich höher als für S-Bahnen (vgl. sei zum einen auf eine Untersuchung der Tab. 1). Verlängerung der Pariser U-Bahn in die Vor- orte der Stadt verwiesen (vgl. Padeiro 2010), Stadtviertel mit Straßenbahnanschluss die die dortige Bevölkerungsstruktur verän- weisen ein deutlich höheres Bevölkerungs- derte. Dabei kam es im Umfeld der U-Bahn- wachstum, mehr Wohnungsbautätigkeit, höfe zu einer selektiven Polarisierung von eine stärkere Zunahme des Haushaltsein- Haushalten und dadurch zu einer Anglei- kommens und wesentlich stärker anstei- chung an die Haushaltsstruktur in der Kern- gende Immobilienpreise auf als Viertel mit stadt. Ähnlich wie im Pariser Stadtzentrum U- oder S-Bahnanschluss. Ein gänzlich an- leben hier heute überdurchschnittlich viele deres Bild zeigt sich bei den mobilitätsbe- Einwohner im Alter von 25 bis 39 Jahren zogenen Indikatoren. Während die ÖPNV- und unterdurchschnittlich wenige Kinder Nutzung bei Pendlerwegen in Vierteln mit und Jugendliche im Alter von 5 bis 19 Jah- S-Bahnanschluss um 70 % höher liegt als in ren. Zudem sind Akademiker und Haushalte der oberen sozialen Schichten in der Nähe der U-Bahnhöfe überrepräsentiert. Tabelle 1 Veränderungsraten sozioökonomischer und Auch für das Beispiel der U-Bahn im ame- mobilitätsbezogener Indikatoren in Stadt- rikanischen Boston lässt sich die Verände- vierteln mit Schienenverkehrsanschluss im Vergleich zur jeweiligen Metropolregion rung der Akademikerquote als Indikator für Gentrifizierung im Umfeld des 1984 er- Stadtviertel mit Anschluss an öffneten U-Bahnhofs Davis Square heran- Straßen- U-Bahn S-Bahn bahn ziehen (vgl. Kahn 2007). Während dort vor in % in % in % Eröffnung der U-Bahn grob halb so viele Bevölkerungswachstum 21 5 −4 Akademiker wie im gesamten Großraum Anzahl Wohneinheiten 82 11 4

lebten, wies das Umfeld der Station im Jahr Durchschnittliches 2000 eine deutlich höhere Quote als der Haushaltseinkommen 77 18 2 Großraum auf (vgl. Pollack/Bluestone/Bil- Immobilienpreis 500 217 24 lingham 2010: 18). Zuzüge 4 15 −3 ÖPNV-Nutzung bei Pendlerwegen Erkenntnisse zu Straßenbahnen im Be- (ca.-Werte) −5 19 70

sonderen hält eine Studie bereit, die die Haushalte ohne Pkw Veränderung der Sozialstruktur von 42 (ca.-Werte) –18 19 63 Stadtvierteln in 12 US-amerikanischen Me- Haushalte mit zwei und mehr Pkw tropolregionen untersuchte, die zwischen (ca.-Werte) 52 17 −3

1990 und 2000 ein Schienenverkehrssystem Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von Pollack/ eingeführt haben (vgl. Pollack/Bluestone/ Bluestone/Billingham 2010 Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 463

der gesamten Metropolregion, nutzen die Auf der Ebene des Straßenraums beispiels- Einwohner von Vierteln mit Straßenbahn- weise sind unmittelbar sowohl eine soziale anschluss den ÖPNV sogar seltener als Ein- Belebung des öffentlichen Raums, eine ver- wohner in der gesamten Region. Auch der besserte Aufenthalts- und Erschließungs- Anteil der Haushalte ohne Pkw ist deutlich qualität wie auch Beeinträchtigungen geringer als im Regionsdurchschnitt; der durch Lärmemissionen, Vibrationen oder Anteil an Haushalten mit zwei und mehr gestalterische Mängel vorstellbar. Entschei- Pkw liegt sogar um 52 % höher als auf regi- dend scheinen hier die Potenziale zu sein, onaler Ebene. die eine strukturelle Neuordnung und ge- stalterische Aufwertung des Straßenraums Eine Ursache für diese Unterschiede ist, erzielen (vgl. auch Beitrag von Besier in dass in den Stadtvierteln, in denen Stadt- diesem Band). und Straßenbahnhaltestellen eröffnet wur- den, vormals Einwohner mit geringeren Auf der Grundstücks- und Quartiersebene­ Einkommen (mehr als 50 % niedriger als kann einerseits kurzfristig eine verbesserte in Vierteln mit Vorort- bzw. U-Bahnen) Anbindung von sozial und/oder wirtschaft- und überwiegend Mieter gewohnt haben lich benachteiligten Standorten erreicht (74 % Mieter gegenüber 53 % bzw. 59 %). werden. Andererseits kann eine Steigerung Daher schlug sich der Einkommenseffekt der Boden- und Immobilienwerte langfris- durch den Zuzug von wohlhabenderen tig zu einer Verdrängung sozial schwäche- Haushalten in den Straßenbahnvierteln rer Gruppen beitragen. überproportional nieder. Vor diesem Hin- tergrund lässt sich ableiten, dass Straßen- Auf der Ebene der Stadt trägt die Investition bahnen einerseits Segregationseffekte auf in ein Straßenbahnsystem in der Regel zu gesamtstädtischer Ebene vermindern, an- einer Aufwertung des bestehenden ÖPNV dererseits aber auch kleinräumige Verdrän- bei. Besonders relevant ist, dass mit der gungseffekte bewirken. Führung der Straßenbahn an der Oberflä- che die Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern bewusst Schlussfolgerungen für eine integrierte zugunsten des öffentlichen Verkehrs ver- Planung von Straßenbahnen schoben wird und damit eine dauerhaf- te, strukturelle Stärkung als Rückgrat der Vielfältige räumlich und zeitlich Standort- und Verkehrsentwicklung erzielt differenzierte Wirkungen werden kann.

Die aufgeführten Beispiele, Erfahrungen und Erkenntnisse zu den ökonomischen Spezifische Wirkungen bei der Bewertung und sozialen Wirkungen von Straßenbahn- von Straßenbahnprojekten beachten projekten lassen vielfältige, komplexe, oft auch nicht-lineare Wirkungszusammen- Es stellt sich die Frage, ob die beschrie- hänge erkennen. Die direkten und indirek- benen Wirkungen auf Wirtschaft und Ge- ten Effekte hängen sehr stark vom lokalen sellschaft nicht bereits in den bewerteten Kontext ab, insbesondere Reisezeitgewinnen, zum Beispiel der Stan- dardisierten Bewertung (ITP/VWI 2006), a) von den Rahmenbedingungen und Ent- ausreichend abgebildet sind. Dafür würde wicklungspotenzialen der ökonomi- sprechen, dass ökonomische und gesell- schen und sozialen Ausgangssituation schaftliche Effekte vielfach indirekt über die Schlüsselgröße Erreichbarkeit ermittelt b) von der Einbettung des Straßenbahn- werden. projekts in die Planungs-, Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse der Stadtent- Werden diese Effekte auf einen einfachen, wicklung linearen und statischen Nutzen-Kosten- Faktor reduziert, gehen jedoch unverhält- Dabei ist zu beachten, dass die Wirkungen nismäßig viele, wertvolle Informationen sowohl zeitlich als auch räumlich sehr un- verloren, da dies differenzierte Aussagen terschiedliche Dimensionen haben können. bezüglich ökonomischer Entwicklungs­

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potenziale und betroffener Bevölkerungs- Beispiel grundsätzlich Betriebe mit mehr gruppen weder in räumlicher noch in zeit­ als elf Beschäftigten über eine kommuna- licher Dimension ermöglicht. le Transportsteuer („versement transport“) an der ÖV-Finanzierung beteiligt (vgl. Ser- Wenn Straßenbahnprojekte nicht mehr vice Public Pro 2016). In der Schweiz be- nur als Vorhaben zur „Verbesserung der steht die Möglichkeit, Standortentwickler Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden“ und -nutzer über eine ÖV-Abgabe in die gesehen werden (unter der Annahme, dass Finanzierung von Infrastruktur und Betrieb die Gemeinden selbst dabei im Mit- und einzubeziehen (vgl. Mobilservice 2016). Ohnefall unverändert bleiben!), sondern In manchen Fällen treten die öffentlichen als wesentliche Beiträge zur Stadt-, Quar- Verkehrsunternehmen selbst bzw. deren tiers- und Standortentwicklung, bedarf Infrastruktur- oder Immobilienunterneh- es einer Neuausrichtung der bisherigen men als Standortentwickler auf (z.B. Japan, Bewertungsverfahren. Die erweiterten Singapur). Es gibt auch Beispiele dafür, dass Wirkungszusammenhänge, die in diesem private Immobilienentwickler sich in bilate- Beitrag und weiteren Studien, Veranstal- ralen Vereinbarungen an der Ko-Finanzie- tungen und Projektberichten beschrieben rung des Eigenanteils der Kommunen bzw. werden, müssen in eine solche Neuaus- Verkehrsunternehmen beteiligen. In Köln richtung einfließen. Wir empfehlen dabei beispielsweise ermöglichte die finanzielle multikriterielle Bewertungsverfahren, die Beteiligung ansässiger Unternehmen die transparent machen, ob die gesetzten Ziele Verlängerung des Stadtbahnnetzes gänzlich in unterschiedlichen Dimensionen erreicht ohne die klassischen öffentlichen Finanzie- wurden. Diese spezifische Beurteilung kann rungskonstrukte (vgl. KVB 2016). dazu beitragen, dass die lokalen Rahmen- bedingungen und die mit dem jeweiligen Dagegen ist es auch möglich, die öffentli- Projekt verbundenen Wirkungen und Prio- chen Hand direkt an der Standortentwick- ritäten angemessen berücksichtigt werden lung zu beteiligen – und damit am erwar- – und erfordern ein inhaltliches Bekenntnis teten Wertzuwachs –, zum Beispiel durch der Politik. Grunderwerb oder durch städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen. Bereits Garten- städte des frühen 20. Jahrhunderts nutz- Ökonomische und soziale Wirkungen ten in genossenschaftlichen Modellen den zur Standort- und Verkehrsentwicklung Wertzuwachs von Grund und Boden für nutzen erforderliche Investitionen in die gemein- schaftliche Infrastruktur – auch in die ÖV- Die ökonomischen Effekte auf die Boden- Anbindung. Denkbar ist, dass sich Städte und Immobilienpreise können – wenn sie angesichts des Mangels an bezahlbarem spezifisch erfasst werden – wesentlich in Wohnraum zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Bewertung und Umsetzung von Stra- auf diese Möglichkeiten rückbesinnen. ßenbahnprojekten einfließen. Dabei ist zu prüfen, inwieweit externe Nutzen von In Hinblick auf die gesellschaftlichen Wir- (privaten) Dritten auch zur Finanzierung kungen erscheint eine frühzeitige Berück- der Infrastrukturinvestitionen oder des sichtigung der kleinteiligen, strukturellen Betriebs einfließen können. International Wirkungen vor allem bei sozial benachtei- gibt es bereits viele Beispiele, in denen der ligten Standorten angezeigt. Straßenbahn- Wertzuwachs über bestimmte Mechanis- projekte sind durchaus dazu geeignet, diese men in die Projektentwicklung eingebracht Standorte in den gesamtstädtischen Kon- wird („value capturing“). So bestehen un- text „zurückzubinden“ und vor sozialer Ex- ter anderem in den USA, in London (vgl. klusion zu bewahren. APTA 2016), aber auch in Hongkong und Singapur (vgl. Hui/Ho/Ho 2004) Modelle, Dabei ist jedoch von Beginn an darauf zu um den Mehrwert bei Immobilienerlösen achten, dass potenzielle Wertsteigerungen über Steuern abzuschöpfen. Denkbar ist nicht zu einer Verdrängung derer beiträgt, auch, Nutzer direkt an der Finanzierung der für die eine bessere ÖV-Anbindung an Ar- ÖV-Erschließung zu beteiligen (z. B. über beitsplätze und das öffentliche Leben einer städtebauliche Verträge). In Frankreich Stadt von besonders hoher Bedeutung sind. werden in Agglomerationsräumen zum Geförderter und sozialer Wohnungsbau, ge- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 465

zielt an gut erreichbaren Standorten, kann Der Erfolg dieser Betrachtung setzt jedoch hier wesentlich dazu beitragen, für alle Be- voraus, dass es gelingt, Straßenbahnpro- völkerungsgruppen die Teilhabe zu sichern. jekte tatsächlich als „joint development“ zu betreiben, an der die Stakeholder der Stand- Zudem spielt auch der wesentliche Bei- ort- und Verkehrsentwicklung angemessen trag des ÖPNV zur gesamten Lebensqua- beteiligt sind. Über eine Abstimmung von lität und insbesondere der Straßenbahn Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur als Teil des Systems eine wichtige Rolle für mit der kommunalen Bauleitplanung hi- die gesamtstädtische Perspektive: Während naus geht es hier auch um die Gestaltung grundsätzlich ein Zusammenhang zwischen des Betriebs (z. B. Taktverdichtung dank Fi- der Zufriedenheit mit dem ÖPNV und der nanzierungsbeteiligung des großflächigen Gesamtzufriedenheit der Bewohner einer Einzelhandels), um Information und Mar- Stadt besteht (vgl. EU-Kommission 2015, keting (z. B. Imagebildung durch gemein- VDSt 2008), ist die ÖPNV-Zufriedenheit in sames Marketing von ÖV-Anbietern und Städten mit schienengebundenen Verkehrs- Standortentwicklern/Wirtschaftsförderung, mitteln signifikant höher als in Städten, die (Wohn-)Standortberatung, …) und um eine nur über einen Busverkehr verfügen (vgl. gute Governance zwischen öffentlicher VDSt 2008: 92 f.). Hand, Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft.

Straßenbahnprojekte sind Dann können Straßenbahnprojekte – und Stadtentwicklungsprojekte das zeigen zahlreiche Beispiele weltweit – einen wichtigen strukturellen Impuls zur In Zukunft sind Straßenbahnprojekte nicht zukunftsfähigen Dynamik unserer Städte mehr nur Verkehrsprojekte, die nach den und zur Gestaltung einer nachhaltigen Mo- Regeln technischer Infrastrukturen zu ge- bilitätskultur leisten. stalten sind. Die Ausführungen zeigen, dass es sich hierbei vielmehr um Stadtent- wicklungsprojekte handelt (vgl. „projets ur- bains“ in Frankreich, Hamman 2011).

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Straßenbahnen und Elektromobilität Felix Huber

Straßenbahnen sind die älteste und verlässlichste Form von Elektromobilität. Ihre große Bedeutung als schienengebundene, mit elektrischer Energie betriebene öffentliche Perso- nennahverkehrsmittel für den heutigen Stadtverkehr ist eng mit ihren Systembedingungen verknüpft. Straßenbahnnetze haben sich mit der Stadt entwickelt und bedienen diese auf wesentlichen Relationen passgenau. Straßenbahnen werden technisch weiterentwickelt. Elektrobusse werden sie künftig im Angebot ergänzen. Mit alternativer Energie betrieben bilden Straßenbahnen das Rückgrat des postfossilen Verkehrs.

Entwicklung der Straßenbahn re Zentimeter dienen dem Festhalten bzw. Führen des Rades. Damit wird der Wider- Erste Antriebsformen der Straßenbahn stand (physikalisch: Reibung) auf ein Mini- mum reduziert“ (Günter 2001: 15). Das Fah- Straßenbahnen sind die älteste und ver- ren wird auf das Anfahren, Dahinrollen und lässlichste Form von Elektromobilität. Seit Abbremsen reduziert, da die Gleise die len- ihrer Entwicklung durch Werner von Sie- kende Führung des Fahrzeugs übernehmen. mens im Jahr 1881 befördern sie im Perso- nentransport von Groß- und Mittelstädten Die erste Pferdestraßenbahn Deutschlands täglich Millionen von Menschen höchst nahm 1865 in Berlin zwischen dem Bran- umweltfreundlich und komfortabel zu ih- denburger Tor und Charlottenburg ihren Li- ren Reisezielen. Die große Bedeutung der niendienst auf. Groneck (2007: 22) schreibt: Straßenbahn als schienengebundenes, mit „Die Vorteile der Pferdestraßenbahn gegen- elektrischer Energie betriebenes öffent­ über den im gleichen Zeitraum verwende- liches Personennahverkehrsmittel für den ten Pferdeomnibussen lagen in dem sehr heutigen Stadtverkehr ist eng mit ihren geringen Rollwiderstand zwischen Rad Systembedingungen verknüpft. Zum einen und Schiene und damit in einer großen bereiteten ihre physikalischen und techni- Energieeinsparung sowie in dem erheblich schen Vorzüge den Weg für eine einzigarti- besseren Fahrkomfort und der höheren ge Erfolgsgeschichte. Zum anderen hat die Reisegeschwindigkeit.“ Hierdurch war es aufeinander bezogene und sich gegenseitig den Pferdestraßenbahnen möglich, mit nur bedingende Entwicklung von Straßenbah- einem Pferd über 20 Fahrgäste zu transpor- nen und Stadtstrukturen bewirkt, dass bei- tieren. de Systeme in besonderer Weise „passge- nau“ sind. Gleichzeitig war die elektrische Pferdebahnen, aber auch andere Traktions- Straßenbahn wichtiger Treiber von weiteren arten wie Dampf-, Kabel-, Gas- oder Druck- für das Stadtsystem bedeutsamen Entwick- luftantriebe, wiesen trotz des generellen lungen. Fortschritts in der Beförderungsleistung und -qualität spezifische Systemnachteile Das wesentliche Merkmal einer Straßen- gegenüber der Elektrotraktion auf. Dazu bahn, der physikalische Vorteil einer Füh- Groneck (2007: 22): „Allerdings erwiesen rung des Transportmittels auf Schienen, sich die Pferdestraßenbahnen sehr schnell liegt als Erfindung weit vor der des elektri- in ihrer Leistungsfähigkeit als begrenzt. Die Felix Huber leitet das Lehr- und schen Antriebs. Roland Günter (2001: 15) Bewältigung größerer Steigungen war nicht Forschungsgebiet Umweltver- beschreibt die Schiene als eine Umformung möglich. Für das Ziehen von Straßenbah- trägliche Infrastrukturplanung, des Weges, um ihn wetterfest und glatt zu nen verwendete Pferde konnten nur weni- Stadtbauwesen der Bergischen machen. In einer Art Trasse berühren die ge Stunden am Tag eingesetzt werden und Universität Wuppertal. Er Räder so wenig wie möglich den Boden. waren nach einigen Jahren nicht mehr für verfügt über umfangreiche Erfahrung im Aufgabenfeld der „Gußeisen erlaubt, die Räder ganz dünn zu diese Aufgabe geeignet. Weiterhin führte umweltverträglichen Stadt- und machen: es hat nur einige Zentimeter breit die Betreuung der Pferde zu einem großen Verkehrsplanung. Auflage auf einer Schiene: Einige weite- Personalaufwand.“ [email protected]

470 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

Die Dampftraktion war wiederum mit Mit der Entwicklung des elektrischen An- schweren Maschinen und einem hohen triebs stand erstmals eine saubere, leise, für Betriebsaufwand verbunden, weil die Pri- den wachsenden Beförderungsbedarf und märenergie im Fahrzeug (Kohletender) die sich entwickelnde Linienlängen und mitgeführt und in Antriebsenergie (Wasser- Betriebszeiten ausreichend leistungsfähige tank und Dampfmaschine) umgewandelt und ökonomisch betreibbare Systemlösung werden musste. Funkenflug, Dampf- und zur Verfügung. Allerdings musste bei der Rußbelästigung führten zu Problemen in Elektrotraktion der für den Antrieb notwen- den zumeist noch engen Stadtstraßen. Die dige Strom zunächst aus Primärenergie au- Dampftraktion war in dieser Zeit die Ener- ßerhalb des Fahrzeugs an einem geeigneten gieform des Fernverkehrs und seltener die Ort (z. B. Wasser- oder Kohlekraftwerk) er- von Stadteisenbahnen (z. B. in Prien am zeugt, zum Fahrzeug transportiert oder in Chiemsee). schweren Batterien im Fahrzeug mitgeführt werden. In Hagen setzte man ab 1894 einen mit Akkumulatoren betriebenen Wagen ein. Die Straßenbahn mit elektrischem Antrieb 1896 erwarb die Firma Siemens & Halske aus Berlin, die in der Zeit elektrische Stra- 1866 entdeckte Werner von Siemens das ßenbahnen in großem Stil baute und über dynamoelektrische Prinzip und schuf da- Tochterunternehmen betrieb, die Aktivwer- mit die Grundlage zu einer umfangreichen te der bis zu diesem Zeitpunkt privaten Ha- Erzeugung und praktischen Verwertung gener Straßenbahngesellschaft und gründe- von Elektrizität. Kraft stand nun rund um te mit der Akkumulatorenfabrik und einem die Uhr verlässlich und beliebig erweiterbar Kapital von 1 Million Mark die heutige Ha- zur Verfügung. Die Arbeit konnte losgelöst gener Straßenbahn AG (vgl. Spoden/Thor- vom Ort der Energieerzeugung erfolgen, ein bow 2009: 7). Entwicklungen, bei denen die gewaltiger Fortschritt für die Entwicklung Fahrtenergie in Akkumulatoren mitgeführt von neuen Stadtstrukturen und Produk­ wurde, setzten sich aber auf Dauer aus tionsmöglichkeiten. Dies machte jedoch Gründen mangelnder Effizienz nicht durch. den Transport von Strom in Leitungen not- wendig. Weitere Erfindungen, wie die der So lösten ab 1890 elektrisch betriebene Stra- Umformung des Wechselstroms ermöglich- ßenbahnen mit Oberleitung die Pferdestra- ten den Transport dieser neuen Energie- ßenbahnen ab und ermöglichten mit ihrer form in Leitungen über weite Distanzen. Fähigkeit zu großer, kostengünstiger und verlässlicher Transportleistung das Stadt- wachstum der Gründerzeit. Halle an der Saale eröffnete 1891 die erste große inner- städtische elektrische Straßenbahnlinie mit Straßenbahnwagen der Allgemeinen Elekt- ricitäts-Gesellschaft (AEG). Im gleichen Jahr kamen noch drei weitere Linien hinzu, so- dass Halle wohl über das erste elektrische Straßenbahnnetz in Europa verfügte.

Während die Energieerzeugung mit der Dampfmaschine für die erste Industrialisie- rungsphase steht, prägt die Elektrizität die zweite Industrialisierungsphase ab 1880. Elektrische Straßenbahnen wurden zu Weg- bereitern der heutigen Angebotsstrukturen im öffentlichen Personennahverkehr, von zunächst privaten und später kommuna- len Energieversorgern im Verbund mit Ver- kehrsbetrieben unterstützt. Damit vollzieht sich ein weiterer Integrationsschritt hin zur Eine Pferdebahn begegnet 1896 einem Akkumulatorenwagen in Hagen modernen technischen Infrastruktur der Quelle: Spoden/Thorbow 2009: 12, Foto: Archiv der Hagener Straßenbahn AG Städte. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 471

Mit der elektrischen Straßenbahn bau- Abbildung 1 ten zahlreiche Städte entlang der Straßen Schematische Darstellung einer elektrischen Straßenbahneinspeisung über Oberleitung Stromleitungsnetze auf, die an kommunale Elektrizitätswerke angeschlossen wurden (z.B. 1892 Bochum, 1897 Dortmund). Elek- trizitätswerk und Straßenbahngesellschaft bildeten oft eine unternehmerische Einheit, zu deren Betrieb zahlreiche neue private oder kommunale bzw. öffentlich betriebene Unternehmen sowie Kapitalgesellschaften, nicht selten als gemischte Verkehrs- und Energieversorgungsunternehmen, gegrün- det wurden – die heutigen Stadtwerke. Um 1900 existierten in Deutschland bereits etwa 150 Straßenbahnbetriebe (vgl. Wirt- schaft International 2016).

Straßenbahn und Stadtstruktur Quelle: Hödl 2015: 199

Die besondere Passung von Straßenbahn Mit der straßenbahntechnischen Erschlie- und Stadtstruktur ergibt sich aus der städ- ßung des Umlands der Städte legten die tebaulichen, gesellschaftlichen und volks- kommunalen Entscheidungsträger die er- wirtschaftlichen Entwicklung von Industri- reichbarkeitstechnische Grundlage zur alisierung und Gründerzeit. In Europa fiel Ansiedlung rasch wachsender Industriebe- die Entstehung der Straßenbahnen in die triebe in der Stadtperipherie und förderten Zeit der Befreiung der Städte von den Fes- das Zusammenwachsen der sich ausdeh- seln der militärstrategisch und -technisch nenden Kernstädte mit Vororten. Nach dem überholten Stadtmauern und Gräben im Bau der Linien auf den Radialen errichteten Kontext einer rasanten Stadtentwicklung. sie auch Ringbahnen um den Stadtkern Aufgrund des zügig voranschreitenden (z.B. in Wien), die dem Verlauf der ehema- Ausbaus der Industrie, der sich auf wissen- ligen Wallanlagen folgten. Erste Linienan- schaftliche Entdeckungen, bahnbrechende gebote wurden auf eingleisigen und später Erfindungen sowie neue Werkstoffe und aufgrund der wachsenden Nutzungsinten- Produktionsweisen gründete, wuchsen sität auf zweigleisigen Relationen in den die Städte sprungartig. Die demografische Innenstädten (z.B. in Dortmund, Halle, Entwicklung der Kaiserzeit kennzeichnete Wien) oder zwischen Städten (Barmen – El- ein großer Kinderreichtum. Im ländlichen berfeld) realisiert, die eine hohe Fahrgast- Raum wurden aufgrund des Produktions- nachfrage erwarten ließen. Dabei bezogen fortschrittes Arbeitskräfte, sogenannte die Planer wichtige Ziele wie die Stadtmitte Überschussbevölkerung, freigesetzt, die in (Marktplatz) und den damals noch neu- der Stadt als Industrie- oder Bergarbeiter en, verkehrsbedeutsamen Bahnhof in das gefragt waren. Für den Transport benötig- Linienangebot ein. Mit dem Preußischen ten die sich rasch ausdehnenden Städte Kleinbahngesetz, das zur Erschließung preiswerte und leistungsfähige Verkehrs- eher landwirtschaftlich geprägter Regionen angebote, auch wenn sich die Arbeiter die dienen und die Wirkungen der Landflucht Fahrt mit den Straßenbahnen zunächst mindern sollte, begann ab 1892 die Blü- noch nicht leisten konnten. Allerdings tezeit der Straßenbahn. Bis zu Beginn des wuchs die Schicht eines unteren und mitt- Zweiten Weltkriegs wurden die Streckennet- leren Bürgertums heran, die Transport- ze der Straßenbahnen im Zuge von Einge- leistung von Straßenbahnen nachfragte. meindungen massiv ausgebaut, indem die Pferde-Equipagen und die in Deutschland Linien auf den Radialen bis in die Umland- hoch besteuerten ersten Autos blieben der gemeinden verlängert wurden. wohlhabenden Oberschicht des gehobenen Bürgertums, hohen Militärs und dem ver- Angesichts des weiteren raschen Wachs- mögenden Adel vorbehalten. tums gab es zumindest in den großen Me-

472 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

tropolen bereits um die Jahrhundertwen- Nach dem Ersten und auch Zweiten Welt- de Überlegungen, mit strombetriebenen krieg wurden Straßenbahnen in Deutsch- U-Bahnen (z. B. Berlin oder Hamburg) land, trotz zum Teil weitreichender Zer- oder Hochbahnen (z. B. Schwebebahn in störung, vergleichsweise rasch für einen Wuppertal) in die dritte Dimension aus- Notbetrieb wiederhergestellt, um die Er- zuweichen, um die Schienenwege frei von reichbarkeit der Innenstädte zu sichern. Randeinflüssen aus der Bebauung und In dieser Zeit wurden elektrische Straßen- kreuzungsfrei führen zu können, aber auch bahnen wegen fehlender Alternativen auch um Stadtstraßen für den Individualverkehr zum Transport von Waren und Gütern (z. B. freizuräumen. Aufgrund der erheblichen Gemüse oder Kohlen) in die Innenstadt Probleme mit Dampfbetrieb in U-Bahn- eingesetzt. Hierzu gab es eigene Transport­ Tunneln (z. B. Wien) setzte sich für die waggons. Schnellbahnen der emissionsfreie elek- trische Antrieb durch. Mit diesen neuen In Städten wie oder Osnabrück Verkehrsmitteln ging ein weiterer System- ergänzten Oberleitungsbusse in den ersten sprung einher, da die Leistungsfähigkeit­ der Nachkriegsjahren das Netz der elektrischen Straßenbahn bezogen auf Transportkapazi- Straßenbahn. tät und -geschwindigkeit weiter stieg. Während die Straßenbahn in Deutschland Turbulente Zeiten für Straßenbahnen in den 1920er-Jahren ihre Blütezeit erleb- te, führten die U-Bahn und die Automo- In Deutschland leiteten die 1950er- und bilentwicklung in den Vereinigten Staaten 1960er-Jahre ein neues Planungsverständnis zeitgleich dazu, dass immer mehr Straßen- in Bezug auf die Straßenbahn ein. Während bahnlinien stillgelegt wurden. Der ameri- die häufig als Hochbauarchitekten ausgebil- kanischen Automobilindustrie gelang es, deten Stadtbauräte der ersten Nachkriegs- in der öffentlichen Wahrnehmung die Vor- zeit die Straßenbahn auf eigenem Bahnkör- stellung zu verankern, Straßenbahnen wür- per in ihre autogerechten Ausbauentwürfe den den Verkehrsfluss des Autos behindern einbezogen (z. B. Rudolf Hillebrecht in Han- und das Stadtbild stören! Vermutlich aber nover, Friedrich Tamms in Düsseldorf oder waren die automobil-induzierten und -af- Friedrich Hetzelt in Wuppertal), ging wenige finen Stadtstrukturen des „Urban-Sprawl“ Jahre später mit der nach wissenschaftlichen im Westen der USA sowie die von den Pa- Methoden und ingenieurtechnischer Ratio- radigmen der europäischen Stadt nunmehr nalität betriebenen Verkehrsplanung die Ab- abweichenden Vorstädte im Osten der Ver- schaffung der elektrischen Straßenbahnen einigten Staaten nicht mehr mit dem linien­ einher. Die nach dem Krieg häufig proviso- erschließenden Verkehrsmittel Straßen- risch mit altem Material wieder in Betrieb bahn, ihrem erhöhten Nachfragebedarf und genommenen Straßenbahnsysteme standen Infrastrukturaufwand kompatibel. vor einer kostenträchtigen, grundsätzlichen

Gütertram in Wuppertal

Quelle: Terjung 1997: 102, Foto: Eduard J. Bouwman, Sammlung Reiner Bimmermann Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 473

Instandhaltungs-, Erneuerungs- und Mo- Straßburg, Grenoble, Bordeaux und Valenci- dernisierungsphase, um in die wiederaufge- ennes führten aufbauend auf gesetzlich ver- bauten Städte zu passen. Die „dahin bum- ankerten staatlichen Hilfen für den Straßen- melnde“ Straßenbahn galt als altmodisch bahnbau neue Straßenbahnsysteme ein, die und nicht zukunfts­fähig, auch wenn die sie städtebaulich vorbildlich integrierten. Bevölkerung sie liebte. Wirtschaftlichkeits- Die Straßenbahn galt nun als Instrument überlegungen ließen den Parallelbetrieb der Stadterneuerung und Stadtentwicklung. eines Straßenbahn- und eines Bussystems An die Stelle der bummelnden, rumpeln- wegen des doppelten Betriebsaufwands als den Straßenbahnen traten moderne Hoch- unwirtschaftlich erscheinen. Einige Städte leistungszüge der „light rail“, die fast lautlos entschieden sich für den flexibler einsetzba- durch die Städte glitten. Futuristische De- ren und auch stärker flächenerschließenden signs in Wagenmaterial und Straßenbahn- Bus oder O-Bus (z. B. Hamburg, Solingen). infrastruktur sowie Experimente mit neuen Aachen, Kiel, Bremerhaven und Wuppertal Technologien zeigten, dass die elektrische schafften ihre Straßenbahn ab und bereuen Straßenbahn mit ihrem Entwicklungs­ diese Entscheidung bis heute. In den Groß- potenzial noch nicht am Ende war. städten beherrschten die Leistungsfähig- keitskategorien der Schnell-, U-Bahn und Heute hat die elektrische Straßenbahn das Stadtbahnsysteme die Gedanken der Planer Potenzial, sich zum Rückgrat eines mit al- und Entscheidungsträger. In der Aufbruchs- ternativen Energien betriebenen postfos- stimmung des Wirtschaftswunders schien silen (Gesamt-)Verkehrssystems zu entwi- es keine Rolle zu spielen, dass diese Systeme ckeln – integriert in den Umweltverbund bis zum fünffachen der Straßenbahn koste- aus ÖPNV, Fuß- und Radverkehr und erwei- ten. tert um verschiedenste Sharing-Systeme.

In den 1970er- und 1980er-Jahren vollzog sich mit steigenden Benzinpreisen und Öl- Systembedingungen der krise, ab den 1990er-Jahren mit wachsen- elektrischen Straßenbahn als Basis dem Umweltbewusstsein eine Trendwende. für den Umweltverbund Die Städte erkannten die Stadtbedeutsam- keit und die Umweltvorzüge der elektrisch Energie- und Verkehrswende sind zwei Sei- betriebenen Straßenbahn. In Deutschland ten einer Medaille. Strom ist die „internatio- steigerten Vorrangschaltungen an Lichtsi- nale Währung“ der beiden Systeme, da sich gnalanlagen, eine unabhängige Trasse auf jegliche Energieform in Strom verwandeln vielen Strecken, Niederflurtechnik und digi- lässt. Aus alternativen Quellen gewonnener tale Verkehrsleittechnik die Attraktivität die- Strom ist die „reliabelste Energieform“ und ses verlässlichen und leistungsfähigen ÖV- die am vielseitigsten nutzbare Form saube- Systems. Französische Städte wie Nantes, rer Energie.

Abbildung 2 Überblick über die Entwicklung der elektrischen Straßenbahn an ausgewählten Beispielen Siemens & Halske, Duewag/Kiepe Duewag/Siemens, Siemens/Kiepe NF8, Siemens/Kiepe NF8U, Berlin AEG GT8, Düsseldorf GT8S, Düsseldorf Düsseldorf Düsseldorf

Baujahr 1881 1959–1969 1973–1974 2003 2006–2012 Geschwindigkeit 40 km/h 67 km/h 70 km/h 65 km/h 70 km/h Leistung 5 PS 2 x 95 kW 2 x 150 kw 4 x 100 kW 4 x 100 kW Leermasse 27.780 kg 34.980 kg 33.420 kg 35.500 kg Spurweite 1.000 mm 1.435 mm 1.435 mm 1.435 mm 1.435mm Steh- und Sitzplätze 26 268 225 168 174

Quelle: Berliner Verkehrsseiten 2016, Trampicturebook 2016, Wikipedia 2016 Fotos: Bild links: Quelle: Wikimedia 2009, alle anderen Bilder: Rheinbahn AG

474 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

Müller-Hellman (vgl. 2014: 3) charakteri- Über den Wirkungsgrad existieren unter- siert die Vorteile elektrischer Fahrzeugan- schiedliche Angaben (Augsburg, Projekt triebe ganz allgemein wie folgt: Elektrische „primove“, Braunschweig) Antriebe entwickeln volles Drehmoment im Stand und benötigen daher kein mehrstufi- • In Hybridantrieben können z. B. Diesel- ges Getriebe. Einfach aufgebaut realisieren motoren als Range Extender1 wirken. sie die Energiewandlung mit hohem Wir- kungsgrad und sind daher sehr energieeffi- • Betriebsstrecken mit Oberleitungen oder zient. Da sie wenig Wartung beanspruchen, Stromschienen können mit Strecken relativ leise sind und selbst keine Schadstof- im Batteriebetrieb kombiniert werden, fe während des Betriebs verursachen, sind wobei die Batterien in den Strecken der sie für den Einsatz im urbanen Gemein- externen Stromversorgung geladen wer- schaftsverkehr sehr gut geeignet. Allerdings den. benötigen sie teure Speicher, verfügen über eine begrenzte Reichweite und erfordern Auch mit Fahrzeugen, die einen Hybrid leistungsfähige Ladeinfrastrukturen. Beim zwischen Straßenbahn und Bus darstellen, Bremsvorgang kann zudem Nutzenergie in wird experimentiert: das System zurückgespeist werden. Elekt- rische Straßenbahnen wurden ausgehend • Das Translohr-Konzept kombiniert die von einem zweiachsigen Fahrzeug in Ein- Vorteile von O-Bus und Straßenbahn fachtraktion zu wahren Hochleistungszü- (Clermont-Ferrand, Padua). Die Fahr- gen entwickelt. Dennoch geht die Entwick- zeuge fahren nicht auf Schienen, son- lung weiter, wobei die Systemkomponenten dern wie Busse auf Gummireifen und der klassischen elektrischen Straßenbahn werden mit einer mittig verlegten Füh- wechselweise durch andere Technologien rungsschiene geführt. Die Energiezufuhr substituiert werden. erfolgt über eine Oberleitung. Das Trans- lohr-System stellt eine Weiterentwick- Allerdings: Die Schiene war und ist Vor- und lung des Spurbus-Systems (Nancy) dar, Nachteil der Straßenbahn zugleich. Die Her- das sich aus dem O-Bus entwickelt hat. stellung und Unterhaltung eines Gleiskör- Der Translohr ist kostengünstiger und pers – und später der Oberleitung – ist mit leichter an neue oder geänderte Linien- Aufwand verbunden. Beide legen den Fahr- wege anpassbar als Straßenbahnen. weg fest und sind mit erheblichen Investi- tions- und Unterhaltungskosten verbunden. • Das System Phileas ist der Versuch, die Straßenbahnen sind damit in besonderer Schiene durch eine Spurführung zu Weise dauerhaft an ihren Linienweg­ gebun- ersetzen. Bei diesem System wird der den. Als weiterer Schwachpunkt des Sys- spurgeführte Bus auf eigener Spur durch tems werden die städtebaulich vielfach als Navigation auf einer vorprogrammierten störend empfundenen Oberleitungen und Route geführt und durch ein Magnetleit- das Gewicht des Stromabnehmers auf den system in der Straße überprüft. Phileas Fahrzeugen angesehen. Aus diesem Grund könnte autonom fahren. Das System wurden verschiedene Lösungsansätze ent- wird seit 2004 in Eindhoven getestet und wickelt, um Oberleitungen zu vermeiden. betrieben.

• Bei der mittig zwischen den Fahrschie- Neben diesen technologischen Entwick- nen liegenden ebenerdigen Stromschie- lungen liegt aber vor allem Potenzial in der ne werden Segmente immer dann unter Entwicklung der elektrischen Straßenbahn Spannung gesetzt, wenn eine Straßen- als „Systemintegrator der Elektromobili- bahn über ihnen fährt (Bordeaux). tät“. Von Müller-Hellmann (2014) stammt die bestechende Idee, die in den Städten • Energie kann in Batterien oder Super- verlegten Energietrassen des Straßenbahn­ (1) kondensatoren mitgeführt werden (Niz- systems zu nutzen, indem der Fahrdraht Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Energie- za). und die Unterwerke als Verknüpfungspunk- speicher, der von der Batterie te zur Ladeenergieentnahme von anderen unabhängig ist und auch „Reichweitenverlängerer“ • Induktives Laden an Haltepunkten ist Formen der Elektromobilität wie E-Bussen, genannt wird. optisch günstig, aber kostenintensiv. E-Kommunalfahrzeugen oder E-Mobilen Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 475

und Pedelecs dienen. Die Energieinfrastruk- Abbildung 3 tur holt sich gleichsam den E-MIV über die Energieverbrauch von Personenverkehrsmitteln bei einem Besetzungsgrad Energieversorgung an ihre Trassen und löst von 50 % (Auto: Mittelklassewagen) damit ein zentrales Problem der Elektromo- 8 bilität – den Aufbau der Lade­infrastruktur. 7 7,75 Die Haltepunkte entwickeln sich zu multi- 6 modalen Verknüpfungspunkten der Elek­ 5 tromobilität. 4 3 Diese Ideen haben jedoch auch eine wirt- 2 Energieverbrauch in Liter Energieverbrauch 3,12 schaftsrechtliche Komponente. Mit der 1 1,56 Verknüpfung von Stromtrassen der elektri- 0 Pkw Gelenkbus Straßenbahn schen Straßenbahn zur Ladung von E-MIV Quelle: Straßenbahn Bremerhaven 2016 werden die Verkehrsbetriebe zu Strom- händlern bzw. -lieferanten. Vor diesem neu- en Geschäftsfeld mit den damit verbunde- Abbildung 4 nen Risiken schrecken die Verkehrsbetriebe Spezifische Schallemissionen von Personenverkehrsmitteln in dB(A), zurück. Werden für dieses Problem keine bezogen auf eine Beförderungsleistung von 1.000 Personen pro Stunde Lösungen in Form von Anreizen und Mo- 80 tivationsmodellen gefunden, könnte dieser 70 verkehrs- und umweltpolitisch wichtige An- 60 67 63 66 satz scheitern. 50 55 53 55 57 57 56 40 46 30 Umwelteffekte der 20 elektrischen Straßenbahn im 10 Vergleich der Verkehrsmittel 0 Pkw Linienbus Straßen-, Reisebus Eisenbahn Eisenbahn Flugzeug S- und (Nah- 6767(Fern- Energieverbrauch U-Bahn verkehr) verkehr) Quelle: Bayerisches Landesamt für Umwelt, 2012: 3 Thomas Naumann (2009: 11) schreibt zum Energieverbrauch der Verkehrsmittel: „Zwar verbraucht eine Straßenbahn der 40m- Klasse (2008) pro Fahrgast/100 km nur das Erschütterungen und Lärm Äquivalent von 0,25 l Treibstoff, ein Gelenk- bus für die gleiche Leistung mit 0,5 l dop- Moderne Straßenbahnen laufen zur Dämp- pelt und ein Pkw der Mittelklasse siebenmal fung von Schwingungen auf Gleisen, die auf so viel (Besetzungsgrad je 50 %). Aber eine Neopren gelagert und daher elastisch sind. Straßenbahn benötigt heute fünfmal so viel Bei einer Gleisbettung nach dem heutigen Energie, um die gleiche Beförderungsleis- Stand der Technik lassen sich Erschütte- tung (in Personen-km) zu erbringen wie vor rungsschäden an Gebäuden ausschließen 50 Jahren. […] Regenerative Bremsen wir- und Belastungen von bei Erschütterungen ken nur, wenn ein Verbraucher in der Nähe empfindlichen Nutzungen weitgehend ver- Energie aufnimmt, sonst wird diese über meiden. Gleichzeitig wird der Schienen- Dachwiderstände vernichtet.“ verkehrslärm durch solche technischen Lösungen, aber auch durch Rasengleise Neue Technologien tragen dazu bei, den gemindert. Diese können bis zu 7 dB ge- Wirkungsgrad der Straßenbahnen zu er- ringere Lärmemissionswerte aufweisen als höhen. Naumann (2009: 11) weist darauf ein geschlossener Oberbau (vgl. Naumann hin, dass es inzwischen Paketlösungen 2009: 11). aus Hochleistungskondensatoren gibt, die Bremsstrom auf dem Fahrzeug zum erneuten Verbrauch speichern. Fahras- Schadstoffe sistenzsysteme und Energieverbrauch- Simulationstools helfen, Traktionsenergie Im Vergleich zum Auto entsteht bei der einzusparen. Straßenbahn pro Person und Kilometer

476 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

Abbildung 5 Emissionen im Verkehr2 Treibhausgase¹ in [g/Pkm] Stickoxide in [g/Pkm] Feinstaub in [g/Pkm]

Straßen-, S- und U-Bahn 71 0,07 0,000

Eisenbahn (Fernverkehr) 41³ 0,06 0,000

Eisenbahn (Nahverkehr) 67 0,21 0,002

Reisebus² 32 0,21 0,004

Linienbus 76 0,41 0,003

Pkw 142 0,31 0,005

Flugzeug 2114 0,55 0,005

0 50 100 150 200 250 00,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0 0,002 0,004 0,006

1 CO2, CH4 und N2O angegeben in CO2-Äquivalenten 2 Die Kategorie „Reisebus“ umfasst Busse im Gelegenheitsverkehr (z.B. für Klassen- oder Kaffeefahrten) und Fernlinienbusse. Differenzierte Daten stehen für Jahr 2014 nicht zur Verfügung. 3 Die in der Tabelle ausgewiesenen Emissionsfaktoren für die Bahn basieren auf Angaben zum durchschnittlichen Strom-MIx in Deutschland. Emissionsfaktoren, die auf unternehmens- oder sektorbezogenen Strombezügen basieren (siehe z.B. den „Umweltmobilcheck“ der Deutschen Bahn AG), weichen daher von den in der Tabelle dargestellten Werten ab. 4 Unter Berücksichtigung aller klimawirksamen Effekte des Flugverkehrs (EWF = Emission Weighting Factor = 2)

Quelle: nach Umweltbundesamt 2016

im Durchschnitt des heutigen Strommixes Personennahverkehr benötigt zwar eben- nur rund ein Viertel des klimaschädlichen falls relativ große Flächen – insbesondere

CO2. Bei Einsatz regenerativer Energiequel- bei unabhängigen und besonderen Bahn- len sinkt der Anteil noch deutlicher. Gera- körpern – ist aber aufgrund der hohen Mas- de die in Innenstädten und an städtischen senleistungsfähigkeit und Fahrzeugkapazi- Hauptverkehrsachsen häufig Grenzwerte tät auch bei einer Auslastung von nur 20 % überschreitenden Stickoxide und Feinstäu- vergleichsweise effizient. Steigt die Auslas- be können durch den Einsatz von Straßen- tung auf 80 % oder höher, ist der ÖPNV mit bahnen – gegenüber konventionellen Die- Abstand das flächeneffizienteste Verkehrs- selbussen – deutlich reduziert werden. In mittel.“ den Hauptverkehrszeiten fällt dieser Vorteil aufgrund der dann höheren Fahrgastzahlen Dieter Apel (1990: 8), der den Flächenbedarf noch deutlicher zugunsten der Straßen- von Verkehrsmitteln untersucht hat, kommt bahnen aus. Auch wenn die Straßenbahn zu folgender Aussage: „Der Bedarf an Stra- mit klassischem Energiemix betrieben ßenverkehrsfläche pro beförderte Person ist wird, hat sie den Vorteil, dass sie nicht zur in Abhängigkeit von der Verkehrsgeschwin- Luftverschmutzung in den Innenstädten digkeit bzw. für unterschiedliche Betriebs- beiträgt. Bei vollständiger Speisung mit re- zustände (flüssiger Verkehr, zähflüssiger generativen Energien wie dies Städte wie Verkehr, Stau) aufgetragen. Der mit Abstand Ulm und Freiburg tun, kann sie zum echten größte Flächenbedarf pro Person entsteht Null-Emissions-Verkehrsmittel werden (vgl. bei der Fahrt mit einem Pkw. Er ist 5- bis 10- Naumann 2009: 11). mal so groß wie bei der Nutzung des Fahr- rads und 20- bis 30-mal so groß wie beim Fußgängerverkehr. Gegenüber Busverkehr Flächeninanspruchnahme ist der Flächenbedarf des Pkw-Verkehrs im Mittel 20-mal so groß. Den geringsten Flä- Zum Flächenbedarf der Straßenbahn chenanspruch pro Person hat die Straßen- (2) Umweltbundesamt 2016: schreibt Martin Randelhoff (2015): „Der bahn. Der Flächenbedarf des Pkw-Verkehrs „Vergleich der Emissionen Pkw-Verkehr benötigt mit Abstand die beträgt dagegen im Mittel das 30-fache, er einzelner Verkehrsträger im Personenverkehr – Bezugs- größten Flächen, der Fuß- und Radverkehr steigt mit zunehmender Verkehrsgeschwin- jahr: 2014“; TREMOD 5.63 ist am flächeneffizientesten. Der öffentliche digkeit an.“ Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 477

Fasst man die Umweltvorteile der elektri- Abbildung 6 schen Straßenbahn zusammen, zeigt sich, Flächenbedarf in m² pro beförderte Person im Stadtverkehr – Verkehrsmittel im Vergleich bei jeweils gesondertem Fahrweg dass Vorteile der Straßenbahn in umwelt- 160 politischen Dimensionen liegen. Aufgrund 140 ihrer hohen Energieeffizienz verbraucht die 140 Straßenbahn pro Person im Vergleich zum 120 Auto nur ein Fünftel der Energie. Sie ist lei- ser als der Pkw-Verkehr und sie benötigt für 100 die gleiche Transportleistung deutlich weni- 80 70 ger Fläche. 60

Um diese Vorteile zu realisieren, muss die 40 Straßenbahn mit Strom aus erneuerbaren 20 Energien und auf aufkommensstarken Ach- 8 4 3 5 5 sen im optimalen Einsatzbereich betrieben 0 werden. Die Hersteller müssen, wie die Au- Pkw Pkw Linienbus Tram O-Stadtbahn U-Bahn S-Bahn (zäh- (flüssiger tomobilindustrie auch, dazu angehalten flüssiger Verkehr) werden, energiesparsamere Bahntechnolo- Verkehr) gien zu entwickeln. Quelle: nach Apel 1990: 6, 7

Beitrag der elektrischen Straßenbahn • erschließt die zentrale Innenstadt in Hal- zum postfossilen Verkehrssystem in testellenabständen, die der Nahmobili- Städten tät (Fußgänger, Fahrrad) entsprechen,

Mit den Forderungen des Europäischen • bedient die Radialen mit stadtadäquater Weißbuch für Verkehr „Halbierung der Nut- Leistungsfähigkeit zung ‚mit konventionellem Kraftstoff be- triebener PKW‘ im Stadtverkehr bis 2030; • und bezieht zunehmend die Vororte in vollständiger Verzicht auf solche Fahrzeuge das Bedienungssystem ein. in Städten bis 2050“ (Europäische Kom- mission 2011: 10) und den Beschlüssen des Sie ist das in vielen Städten vorhandene UN-Klimagipfels von Paris, die Erderwär- Verkehrsmittel der europäischen Stadt, die mung auf weniger als zwei Grad Celsius, man im Übrigen aus der Straßenbahn sehr womöglich gar auf 1,5 Grad zu begrenzen, schön „erfahren“ kann. beginnt die Suche nach mit alternativen Energien betreibbaren, umweltfreundli- Die Straßenbahn wird damit zum Kern- chen Verkehrsmitteln großer Leistungs- baustein der multimodalen, nachhaltigen fähigkeit, was den Mengentransport, die Mobilität und aller Bedienungsformen mit Geschwindigkeits- und Reichweitenperfor- alternativen Energien (Elektromobilität). mance, die Verlässlichkeit und die Finan- Bereits heute besitzen viele Straßenbahn- zierbarkeit anbelangt. Hier drängt sich die städte diese starke Basis mit der oberir- elektrische Straßenbahn als Rückgrat des disch und städtebaulich integrierten Tram. Stadtverkehrs der Zukunft geradezu auf. Denkt man im Hinblick auf die zukünftige Sie wird zum zentralen Verkehrsmittel der Entwicklung weiter, so lässt sich folgendes postfossilen Mobilität. Bild skizzieren:

Die Straßenbahn erschließt mittlere und In der zentralen Innenstadt sollte die Fuß- große Städte oberirdisch gängerzone den Fußgängern vorbehalten bleiben. Dennoch durchfährt die elektri- • in den Schwerelinien der Austauschbah- sche Straßenbahn in einigen Städten die nen der Kernstadt, Fußgängerzone. Diese „Lieferung von Kun- den frei Haus“ und an definierbare Punkte • verknüpft den Nah- mit dem Fernver- wird oft als Problem gesehen und zu wenig kehr, als einmalige Chance begriffen (vgl. Beitrag Topp/Diener).

478 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

Abbildung 7 Systembild einer E-Mobilitätsstruktur, in der die Straßenbahn das Rückgrat der Bedienung bildet

Umweltzone

Keine Ladestationen

Velo-/Stadtbahnring

Stadtbahn

Mobilitätspunkte Fernbahnhof als Verknüpfungspunkt

Park & Ride als Verknüpfungspunkt

Veloroute

E-Bus-Route

Quelle: nach Huber/Reutter 2015: 13

Die Zufahrt im Lade- und Lieferverkehr Fern- und Nahverkehr dar. Er befindet sich sollte künftig nur noch E-Transportern ge- in idealtypischer räumlicher Zuordnung stattet werden. In den Seitenstraßen und zum städtischen ÖPNV und bietet sich als -gassen wird Elektrofahrrädern sowie ggf. zentraler Anlaufpunkt für alle Arten von elektrischen Kleinkrafträdern die Benut- Mobilitätsdienstleistungen und -beratung zung erlaubt. Elektroautos können in diese an. Bereiche gar nicht oder nur mit einem zu- vor festgelegten Maximalgewicht einfahren. Innenstadtnahe Wohngebiete und Groß- Velorouten durch die zentrale Innenstadt wohnanlagen zeichnen sich in der Regel ergänzen das System. durch eine gute Erreichbarkeit mit dem Umweltverbund aus und sind auf jeden Fall Der Innenstadtring verfügt über eine ÖP- für eine Erschließung durch die Straßen- NV-Trasse (E-Straßenbahn). Der Bus-ÖPNV bahn relevant. Hier ist zudem das Fahrrad- auf dem Innenstadtring wird mit alternati- fahren durch alle bekannten verkehrspla- ven Antrieben (Hybrid-/E-/Wasserstoff-An- nerischen Maßnahmen generell zu fördern. trieb, Stromzufuhr über Caps, Oberleitung Ein Schwerpunkt muss auf Stellflächen, oder induktiv) ausgestattet. Velorouten/ insbesondere auch für E-Bikes, mit Siche- Radschnellwege werden über den Innen- rungsbügeln gelegt werden. Entsprechen- stadtring geführt. Geschütze Stellplatzan- de Ladeinfrastruktur in Zuordnung zu den lagen und Flächen mit entsprechender wichtigen Haltestellen des ÖPNV ist vorzu- Ladeinfrastruktur für Radangebote werden sehen. den Haltestellen des ÖPNV (z. B. Kreuzung Ring/Radiale) zugeordnet. Die Radialen und Tangenten verfügen zu- meist über leistungsfähige ÖPNV-Trassen Der Hauptbahnhof stellt die verkehrsstra- und damit in der Regel auch über Stadt- tegisch bedeutsame Schnittstelle zwischen und Straßenbahnen. Sie zeichnen sich in Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 479

der Regel durch eine gute Erreichbarkeit mit dem Umweltverbund aus. Hier ist das Fahrradfahren auch von E-Bikes durch alle bekannten verkehrsplanerischen Maßnah- men zu fördern. Velorouten können auf den Radialen oder zwischen den Radialen ge- führt werden.

In den Einfamilienhaus- und Dorfgebieten sollte möglichst keine Ladeinfrastruktur für E-Mobile im öffentlichen Straßenraum, sondern nur auf Privatflächen angeordnet werden. An geeigneter Stelle sind Flächen für quartiersbezogenes Car-Sharing mit Ladeinfrastruktur vorzusehen. Für Radtei- ler-Angebote mit guter Erreichbarkeit zum Umweltverbund sind auch für E-Bikes Stell- flächen mit Sicherungsbügeln und entspre- chender Ladeinfrastruktur in Zuordnung zu In Leipzig fährt die Straßenbahn über den Ring und ist dort mit den wichtigen Haltestellen des ÖPNV vor- dem Hauptbahnhof verknüpft Foto: Lars Brüggemann zusehen.

An geeigneten Punkten im Zulauf auf die werden. Deutschland sieht sich aktuell City sollten an den Verknüpfungspunkten mit einem Vertragsverletzungsverfahren von Pendler- bzw. Park-and-Ride-Plätzen der Europäischen Union für Stickoxide geeignete Stellplatzanlagen mit Flächen konfrontiert. Es besteht die Gefahr, dass für Car-Sharing bzw. private E-Mobile und Dieselfahrzeuge und damit auch Diesel- E-Bikes mit Ladeinfrastruktur und mit busse bei sich absehbar weiter verschär- den erforderlichen Sicherungs- und Witte- fenden Grenzwerten oder Klagen betrof- rungsschutzanlagen errichtet werden. Die- fener Stadtbewohner nicht mehr in die se Fahrzeuge dienen der Bedienung in die Innenstädte einfahren dürfen. Städte Fläche. und Verkehrsunternehmen erproben be- reits den Ersatz dieselgetriebener Busse durch emissionsfreien ÖPNV. Systemergänzung mit E-Bussen zwischen Synergien und Konkurrenz • Die Ziele des Klimawandels weisen in Richtung des postfossilen Verkehrs. Seit Aktuell stellen sich dem öffentlichen Per- der UN-Klimakonferenz in Paris ist der sonennahverkehr neue Aufgaben, die mit Prozess des Ausstiegs aus fossilen Treib- Straßenbahnen schwer zu erfüllen sind: stoffen unumkehrbar. Hier muss auch der Verkehr seinen Beitrag leisten… • Die Nachfrage nach ÖPNV-Leistungen steigt stetig. 2015 hatte der ÖPNV nach …oder wie Müller-Hellmann (2016) sagt: Angaben des Verbandes Deutscher Ver- „nachdem der ÖV schon sehr, sehr lange zu kehrsunternehmen VDV zum ersten Mal 2/3 elektrisch fährt, geht es nun darum, das über 10 Milliarden Fahrgäste und stei- letzte Drittel elektrisch zu bedienen“. gerte damit die Fahrgastzahlen seit 1997 zum 18. Mal hintereinander (vgl. VDV Für diesen neuen Bedarf nach zusätzlicher 2016). öffentlicher Verkehrsleistung, der kurzfris- tig bedient werden muss, können Straßen- • Staus in Innenstädten und auf den In- bahnangebote nicht überall rasch genug nenstadtzufahrten verlangen nach neu- erweitert werden. Die Kapazitäten auf den en ÖPNV-Angeboten. vorhandenen Linienangeboten können nur zum Teil – zum Beispiel durch weitere • Die Vorgaben der Luftreinhaltung (NOx, Taktverdichtung oder eigene Bahnkörper Feinstaub) und der Lärmminderung kön- sowie durch den Ausbau der Haltestellen nen in vielen Städten nicht eingehalten für Dreifachtraktion oder den Bau neuer

480 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

auf einer verkehrlich stark belasteten Stre- cke eingesetzt. Die Ladung erfolgt als Voll- ladung nachts auf dem Betriebshof und an den Endhaltestellen als Schnellladung über auszufahrende Pantografen, die sich auto- matisch mit Ladehauben verbinden.

Der elektrisch angetriebene Bus läutet eine Weiterentwicklung im ÖPNV ein, die sich in ihrer Dynamik mit der Einführung der Stra- ßenbahn vor 150 Jahren vergleichen lässt. Seine Flexibilität ist die Chance des Elekt- robusses. Seine Einführung wird wiederum zu nachhaltigen Veränderungen und völlig neuen Betriebs-, Technik-, Personal- und Organisationsstrukturen im ÖPNV führen. Elektrobus beim Ladungsvorgang. Mit einem Pantographen wird der Kontakt Die Konstellationen der Zulieferer und zur Ladestation hergestellt und der unter 10 Minuten dauernde Ladevorgang Fahrzeughersteller entlang der „Wertschöp- durchgeführt. Foto: Kevin Valte fungskette Bus“ formieren sich neu. An die Stelle bisher oft noch überwiegend national Linien – erweitert werden. Die Planungs- geprägter, aber international agierender zeiträume sind lang! In der planerischen Zulieferbeziehungen treten multinationale Abwägung gestaltet sich in den Straßenräu- Kooperationsstrukturen. Aber auch die Ver- men die Bereitstellung der Flächen für die kehrsbetriebe selbst müssen sich neu orga- Verlängerung von Bahnsteigen und neuen nisieren, ihre Personalstrukturen aufgrund eigenen Bahnkörpern schwierig und man- veränderter Anforderungen umbauen und cherorts fehlt die Akzeptanz der Bürger (vgl. ihre Betriebseinheiten (Depot, Werkstätten, Stadtbahnprojekt „Campusbahn Aachen“, Leitzentralen, Ladeinfrastruktur) an die ver- Oberhausen „Linie 105 nach Essen“, Bürge- änderten Anforderungen anpassen. rentscheid „Stadtbahnlinie 5 Bielefeld“). Elektromobilität im Bussektor verlangt Auch wenn vielerorts nach wie vor Stra- neue Organisationsstrukturen: ßenbahnlinien sehr erfolgreich ertüchtigt, ausgebaut oder neu errichtet werden (z.B. • Organisationskonzept mit München, Tramlinie 16 St. Emmeram), – Fahrzeugkonzept kann der Elektrobus in dieser Situation eine – Haltestellenkonzept wichtige systemergänzende und/oder er- – Werkstattkonzept setzende Rolle übernehmen. • Betriebskonzept mit Monitoring

Er kann vorhandene Straßeninfrastruktur Die Ablösung eines auf Dieselbusse gestütz- nutzen – allerdings häufig mit fehlender ten ÖPNV-Netzes durch E-Busse ist eine Störungsfreiheit, die nur durch Bevorrech- komplette technische, betriebliche und tigungen („Busspuren“) sichergestellt wer- wirtschaftliche Optimierungsaufgabe. Sie den kann, er ist in Linienführung und Hal- verlangt unter Nutzung von Simulations- tepunktanordnung flexibler einsetzbar und und Optimierungsprogrammen spezifisch er fährt ebenfalls emissionsfrei und leise. ausgelegte Fahrzeuge und Ladestrukturen, um die betrieblich notwendige Verlässlich- Verkehrsbetriebe in Dresden, Bonn, Braun- keit, aber auch Flexibilität zu gewährleisten. schweig, Berlin, Brügge oder Köln beginnen Die Verkehrsbedingungen, Haltestellenab- damit, Elektrobusse erstmalig im Linien- stände und -häufigkeit, Steigungen und Li- betrieb in Ergänzung der Straßenbahnan- nienlängen sowie die Möglichkeit zu Lade- gebote und als Ersatz von Bussen mit Die- halten bestimmen das Betriebskonzept und selantrieb einzusetzen. Auf der Linie 133 die Auslegung von Batterien und Elektro- (siehe Abb. 8) werden in Köln für 9.000 motoren. Im Betrieb erhalten die Betreiber Fahrgäste pro Tag erstmals acht reine Elek- Echtzeitinformationen mit Reichweitenvor- tro-Gelenkbusse im harten Betriebsalltag hersagen und Energiestatistiken. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 481

Verkehrsbetriebe mit Straßenbahn- oder O-Buserfahrung haben bei dieser Umstel- lung naturgemäß geringere Schwierigkei- ten. Insofern entwickeln die Bushersteller Gesamtpaketlösungen, bei denen E-Busse mit Batterie-Leasing, Wartung und Betrieb aus einer Hand angeboten werden. Dies hat den Vorteil, dass die Verkehrsbetriebe frei von technischen Fragen, wie beispielswei- se Batteriewartung und -lebensdauer sind, und das Ausfallrisiko auf den Dienstleister übertragen können.

Die Energieversorger interessieren sich für die Bereitstellung der Ladeinfrastruktur Abbildung 8 und der elektrischen Energie als weitere E-Bus-Linie 133 in Köln. Die Blitze markieren die Dienstleistung. Die Zukunft gehört der in- Ladepunkte an den End- duktiven Ladung. Mit der Entwicklung der haltestellen Batterietechnik wird sich der Aufwand für Quelle: eine dezentrale Ladeinfrastruktur deut- eigene Abbildung nach lich reduzieren. Ladetrassen, bei denen Nahverkehrspraxis 2016 das Laden während der Fahrt möglich ist, scheinen schwierig. Dagegen werden das multimodale Charging und das Öffnen der Ladestationen etwa für Kommunalfahrzeu- ge als Option angesehen, die Kosten für die Ladeinfrastruktur auf viele Schultern zu verteilen.

Derzeit werden die ersten Linienkonzepte ausschließlich aus dem Blickwinkel der Ver- kehrsunternehmen betrachtet. Für ganze Netze im E-Busbetrieb müssen sehr großen Mengen an möglichst alternativer Energie zu definierten Zeiten bereitgestellt werden. Für das Depot-Charging wird neue Infrastruktur benötigt und es müssen Dazu sind betriebsstrategische Anforderun- erhebliche Mengen an Strom geliefert werden Foto: Furrer + Frey, www.oprid.com gen der Energieversorger in die Optimie- rungsbetrachtungen einzubeziehen, etwa um niedrige Energiepreise in Schwachlast- Die Straßenbahn hat sich mit der europäi- zeiten zu nutzen oder, um die Ladepunkte schen Stadt entwickelt und bedient passge- nahe an den Ort der Energieerzeugung he- nau die wichtigen Relationen und Verkehrs- ranzubringen. ziele in der Stadt. Ihre Systembedingungen und ihre Leistungsmerkmale lassen sie un- ter zukunftsweisenden Verkehrsparadigmen Fazit besonders attraktiv erscheinen. Mit alterna- tiver Energie betrieben kann die Straßen- Energiewende, Klimaschutz, Luftreinhal- bahn höchst umweltfreundlich zu deutlich tung und Lärmminderung erfordern die geringeren Kosten als Schnell- und U-Bah- Neukonzeption des Gesamtverkehrssys- nen die Stadt mit deutlich höherer Leis- tems. Beim Umstieg auf eine multimodale tungsfähigkeit als Busse bedienen. Durch und integrierte Elektromobilität spielen ihre Attraktivität als beliebtes Oberflächen- die elektrische Straßenbahn mit einer leis- verkehrsmittel ist sie in der Lage, Kunden tungsfähigen Bedienung der Stammstre- zu binden („pull“) und mit ihrem eigenen cken und der E-Bus als logische Verknüp- Bahnkörper kann sie unerwünschte Ver- fung zu feinverteilenden Verkehrsmitteln kehre verdrängen („push“). Im Verbund mit der Flächenbedienung die zentralen Rollen stromangetriebenen Bussen macht sie den im kommunalen Verkehrssystem. ÖPNV zum Vorreiter der Verkehrswende.

482 Felix Huber: Straßenbahnen und Elektromobilität

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GoWEST mit Tram 5 – Norbert Diener Bürgerdialog im projekt augsburg city Hartmut Topp

Festgelegte Mindestanforderungen an die Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren reichen zunehmend nicht aus, um Akzeptanz bei den Betroffenen zu erreichen. In einem städte- baulich sensiblen Bereich hat die Stadt Augsburg deshalb dem erforderlichen Planfeststel- lungsverfahren für eine neue Straßenbahnlinie einen moderierten Bürgerdialog vorange- stellt. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs wird dabei in einem integrierten Ansatz mit einer grundlegenden Aufwertung des öffentlichen Raumes verfolgt.

Straßenbahn- und Stadtbahnprojekte sind Abbildung 1 Die Erweiterung des Augsburger Straßenbahnnetzes im Zuge der Mobilitäts- Großprojekte; sie verändern den Straßen- drehscheibe mit der geplanten Tramlinie 5 raum und greifen direkt und/oder indi- rekt in Interessen der Anlieger ein. Pla- nungsrecht erlangen sie in der Regel über Planfeststellungsverfahren mit den dort festgelegten Mindestanforderungen an Bürgerbeteiligung. Diese reichen allerdings in vielen Fällen nicht aus, um selbst für fachlich überzeugende Projekte Akzeptanz zu erreichen. Im Gegensatz zu guten Er- fahrungen mit Beteiligungen im Rahmen der Bauleitplanung oder städtebaulicher Sanierungen in einem Quartier gibt es bei Planfeststellungsverfahren zunehmend Ak- zeptanzprobleme. Diese sind oft erheblich, insbesondere dann, wenn das Verfahren schon weit fortgeschritten ist, und das Vor- haben gegebenenfalls sogar wieder kom- plett auf den Prüfstand kommt. Deshalb basiert bei der Stadt Augsburg die Stadtent- wicklung und die städtebauliche Planung auf einem integrierten Planungsansatz. Da- bei werden die Bürger frühzeitig im Vorfeld der Planung beteiligt, was deutlich über die vorgeschriebene Beteiligung hinausgeht: Mehr Mitwirkung im Sinne einer „Mitmach- planung“, direkte Ansprache der Anlieger, vorbereitend und parallel dazu Planungs- werkstätten und Wettbewerbe. Quelle: Stadtplanungsamt Augsburg Norbert Diener ist Leiter des Stadtplanungs- In einem integrierten Planungsansatz ver- amtes der Stadt Augsburg und folgt die Stadt dabei den zukünftigen Aus- nahmen, die die Stadt und die Stadtwerke Mitglied in verschiedenen Fach- bau des öffentlichen Personennahverkehrs Augsburg mit Unterstützung der Städte- kommissionen des Bayerischen und – damit eng verbunden – die grund- bauförderung und Zuschussmitteln aus und Deutschen Städtetages. [email protected] legende Aufwertung des öffentlichen Rau- dem GVFG gemeinsam umsetzen. Städ- mes mit einer Attraktivitätssteigerung von tebauliche und verkehrliche Ziele greifen Hartmut Topp Straßen und Plätzen. Hinter den Straßen- dabei Hand in Hand. Mit dem Ausbau des ist Stadt- und Verkehrsplaner. Er ist Moderator und Mediator in bahnprojekten in der Innenstadt verbirgt Straßenbahnnetzes, der Ausweitung der den Themenfeldern Verkehrspla- sich ein Bündel von planerisch und zeit- Fußgängerbereiche und Verbesserung für nung und Mobilitätsmanagement. lich eng aufeinander abgestimmten Maß- den Radverkehr wird eine stadtverträgliche [email protected]

Norbert Diener, Hartmut Topp: 484 GoWEST mit Tram 5 – Bürgerdialog im projekt augsburg city

Mobilität befördert. Der öffentliche Raum Meilensteine der langfristigen Einbindung wird dabei für vielfältige urbane Nutzungen von Einzelprojekten, wie der Tramlinie 5, zurückgewonnen und die Aufenthaltsquali- waren das seit etwa 2000 verfolgte Konzept tät gesteigert. Mobilitätsdrehscheibe Augsburg zur Erwei- terung und Neuordnung des Augsburger Straßenbahnnetzes mit einer Verknüpfung Langfristige Einbindung des städtischen Nahverkehrs mit der Bahn und der 2007 in einem Bürgerentscheid projekt augsburg city ist die langfristig an- geforderte und 2008/09 durchgeführte of- gelegte Marke der städtebaulichen und fene Ideenwettbewerb Innenstadt Augs- verkehrlichen Erneuerung des Augsburger burg. Die Stadt hat damit das Instrument Zentrums. Charakteristisch für den Pro- des Wettbewerbs eingesetzt, um für ihre zess sind städtebauliche Wettbewerbe und Innenstadt ein städtebaulich-verkehrliches Werkstattverfahren sowie Bürgerdialoge Gesamtkonzept zu entwickeln. Das war neu und Bürgerentscheide. Angefangen hat es und mutig. Das Experiment wurde ein Er- bereits 1997 mit dem Wettbewerb zur Ge- folg, wenngleich die Beteiligung an dieser staltung der Kaisermeile (Maximilianstra- ungewohnten Wettbewerbsaufgabe relativ ße), ein Schlüsselprojekt der Identifikation gering war. Der städtebaulich-verkehrs- mit der Stadt. Dann folgten Wettbewerbe planerische Ideenwettbewerb war einge- mit Bezug zum ÖPNV allgemein und zur ge- bunden in einen Planungsprozess, der von * Norbert Diener ist Leiter des planten Tramlinie 5: Bürgermeister-Acker- einer interdisziplinären Planungswerkstadt Stadtplanungsamts Augsburg. mann-Straße mit Trasse der Tram (2000), (Stadt Augsburg, 2008) über einen Bürge- Organisation und Verantwor- tung für den geschilderten Mobilitätsdrehscheibe Augsburg (MDA) – rentscheid, den Wettbewerb selbst, einen Prozess liegt beim Stadtpla- Neugestaltung des Königsplatzes mit der Planungsbeirat und zahlreiche Dialogver- nungsamt und beim Baurefe- zentralen Innenstadthaltestelle (2007), fahren bis zu einem die Planfeststellung er- renten Gerd Merkle. Hartmut Topp (topp.plan: Stadt.Verkehr. städtebaulich-verkehrsplanerischer Ideen- setzenden Bebauungsplan reichte. Moderation) war während des wettbewerb Innenstadt Augsburg (2008/09) gesamten Prozesses als Preis- richter und/oder Moderator und schließlich – ganz aktuell (2015) – der Aus dem Gesamtkonzept des ersten Prei- eingebunden. Weitere externe Wettbewerb zur Neugestaltung der Vorplät- ses (Wunderle/Stumpf/Zimmer/Billinger) Fachleute in ähnlicher Rolle waren Gunnar Heipp und Franz ze (Bestand Ost und neu West) des Augsbur- sei der 1.200 m lange, dem Verlauf der his- Pesch. ger Hauptbahnhofs.* torischen Wallanlagen folgende Augsburg-

Augsburg 2012 Konrad-Adenauer-Allee (von Süden) links: Königsplatz

2014

dreispurige Einbahnstraße mit 22.000 Kfz pro Tag am Altstadtrand

Abbildung 2 Keine Trennwirkung mehr zwischen neuem Königsplatz und Altstadt Fußgängerzone Fotos: Hartmut Topp mit Anliegerverkehr Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 485

Boulevard herausgegriffen. Der Boulevard Entwicklungschancen für die dazwischen tritt an die Stelle einer Hauptverkehrsstraße liegenden Quartiere. Die geplante Linie 5 als Teil eines Einbahnstraßenpaars. Etwa führt durch einen städtebaulich und frei- in der Mitte, am Königsplatz mit der zen- raumplanerisch hochwertigen und emp- tralen, von über 100.000 Fahrgästen pro findlichen Bereich im dicht bewohnten Tag benutzten ÖPNV-Haltestelle, wird die Thelott- und Rosenauviertel mit wertvollem Straße mit drei Fahrspuren und 22.000 Kfz Baumbestand und Grünräumen entlang am Tag (Abb. 2 links) für den Autoverkehr der Wertach. unterbrochen. Für die Fußgängerachse zwi- schen Hauptbahnhof und Altstadt und für Das Thelottviertel (nach Plänen des Archi- die Benutzer der ÖPNV-Haltestelle entfällt tekten Sebastian Buchegger zwischen 1905 damit eine starke Trennwirkung (Abb. 2 und 1929 erbaut) ist eine der ersten Garten- rechts). Der Autoverkehr wird auf ÖPNV städte in Deutschland und hat den 2. Welt- und Fahrrad, auf Entlastungsstraßen am krieg trotz der Nähe zum Hauptbahnhof Innenstadtrand und – zu einem Großteil – nahezu unbeschadet überstanden. Der auf die für den Gegenverkehr geöffnete und malerische Städtebau mit über 100 Einfa- entsprechend umgebaute Parallelstraße milienhäusern und mehr als 70 Miet- und verlagert. Der Wettbewerb wirkte wie ein Geschäftshäusern des Jugendstils steht Befreiungsschlag, wo vorher dem Autover- unter Ensembleschutz und viele Gebäude kehr nicht einmal eine Fahrspur entzogen sind denkmalgeschützt. Im Rosenauviertel werden konnte. liegen darüber hinaus beiderseits einer im- posanten Kastanienallee große Wohnhöfe Die neue Verkehrsführung, die neue urbane Platzfläche, die sich zu den bestehenden Fußgängerbereichen öffnet und die neue Haltestelle sind seit 2013 umgesetzt. Die damit dokumentierte Wertschätzung des ÖPNV, des Fußverkehrs und des Aufent- halts im Stadtraum wurde von Bewohnern und Besuchern der Stadt sehr positiv auf- genommen. Das stärkt die Basis für weitere ÖPNV-Projekte, wie zum Beispiel auch für die Tramlinie 5.

Worum geht es bei GoWEST?

Die geplante Tramlinie 5 ist Teil der Mobi- litätsdrehscheibe; sie soll die – nach dem Abzug des amerikanischen Militärs stark Die Kastanienallee der Rosenaustraße Foto: Stadtplanungsamt Augsburg wachsenden – westlichen Stadtteile und Abbildung 3 das Klinikum direkt mit dem Hauptbahn- Wie kommt die Tram von A nach B und umgekehrt? hof und der Innenstadt verbinden. Bereits Fünf alternative Linienführungen zu Beginn des Bürgerdialogs über andere Planungsverfahren festgelegt 1 Rosenaustraße sind die Führung über die Bürgermeister- Ostseite Ackermann-Straße und die Untertunnelung des Hauptbahnhofs mit einer unterirdi- 2 Rosenaustraße schen Haltestelle mit direkten barrierefrei- Westseite en Zugängen zu den Gleisen der DB AG und einem neuen westlichen Zugang zum 3 Hörbrotstraße – Holzbachstraße (Kanal) Bahnhof. 4 Rosenaustraße Im Bürgerdialog GoWEST ging es um die Westseite Führung der neuen Straßenbahnlinie 5 Rosenau-/Pferseer Str. – zwischen dem künftigen Westportal des Hessenbachstr. (Localbahn) Bahnhofs und der Bürgermeister-Acker- mann-Straße und die damit verbundenen Quelle: Stadtplanungsamt Augsburg

Norbert Diener, Hartmut Topp: 486 GoWEST mit Tram 5 – Bürgerdialog im projekt augsburg city

im Stil der neuen Sachlichkeit (Einzelbau- Ergebnisse im nächsten Workshop prä- denkmale), erbaut in den 1920er-Jahren sentiert und diskutiert wurden. Moderiert von Thomas Wechs bzw. Otto Holzer. wurden die Runden Tische und die Diskus- sionen im Plenum von externen Fachleuten Aufgrund der Rahmenbedingungen mit den aus Städtebau und Mobilität. hohen städtebaulichen Anforderungen an die Planung und der angestrebten Akzep- Zur Auftaktveranstaltung mit Informatio- tanz bei den Betroffenen hat sich die Stadt nen zur Mobilitätsdrehscheibe, zur Linie 5 Augsburg entschieden, dem Planfeststel- mit den bis dahin von Stadt und Stadtwer- lungsverfahren den moderierten Bürgerdia- ken erarbeiteten Trassenvarianten (Abb. 3) log GoWEST voranzustellen. Zu Beginn des und zum Konzept des Bürgerdialogs kamen Bürgerdialogs lagen seitens der Stadt und knapp 400 Bürger. Die Trassenvorschlä- der Stadtwerke fünf alternative Linienfüh- ge wurden diskutiert und das Angebot des rungen für diesen Bereich vor (Abb. 3). Bürgerdialogs angenommen. Wer an einer Delegation seiner Straße interessiert war, Bei grundsätzlicher Akzeptanz der städ- beriet sich am Ende der Veranstaltung mit tischen Verkehrsplanung mit stärkerem Anliegern der Straße oder/und trug sich Fokus auf ÖPNV, Rad- und Fußverkehr in eine Liste ein. Die von Anliegern eines und Aufenthalt im Stadtraum – und somit Straßenzuges Nominierten waren gesetzt, auch der geplanten Tramlinie 5 – sollte im ansonsten wurden aus den Meldungen je Bürgerdialog GoWEST eine möglichst ein- Straßenzug vier Delegierte per Los ausge- vernehmliche Linienführung zwischen wählt. Hauptbahnhof West und Bürgermeister- Ackermann-Straße gefunden werden. Die- Der Auftaktveranstaltung folgten drei ganz- ses Ziel bestimmte Format und Ablauf von tägige Workshops (Abb. 4) im Wechsel mit GoWEST. Arbeiten am Runden Tisch in drei Klein- gruppen und Diskussionen im Plenum. Die Teilnehmer erarbeiteten als Experten vor Format und Ablauf von GoWEST Ort auf Augenhöhe mit den Fachleuten Pro und Contra zu den vorgelegten Trassenva- Eine neue Straßenbahnlinie verändert den rianten, eigene Ideen zu weiteren Varianten Straßenraum, greift in Grünräume ein, ge- und an Verwaltung und Stadtwerke gerich- fährdet den Baumbestand zum Beispiel in tete Prüfaufträge. der Kastanienallee der Rosenaustraße, eine Straßenbahn macht Lärm – bereits in den Den Bürgerdialog begleitete eine umfang- frühen Morgenstunden … Straßenbahn ja, reiche Online-Beteiligung, deren Erkennt- aber nicht vor meinem Haus? nisse in den analogen Beteiligungsprozess gespiegelt wurden. Wie erreicht man einen Interessenaus- gleich? Das war die zentrale Frage bei der Konzeption des Bürgerdialogs GoWEST. Die Behandelte Themen Antwort war die aktive Mitwirkung von An- liegern der potenziell betroffenen Straßen. Zum Einstieg in die zu behandelnden The- Und da das nur in überschaubaren arbeits- men hatten Stadtverwaltung und Stadtwer- fähigen Gruppen sinnvoll ist, entschied ke Schüsselfragen formuliert. Dabei geht man sich für ein Delegationsprinzip und öf- es um die heutigen und künftigen nicht- fentliche Auftakt- und Abschlussveranstal- verkehrlichen Nutzungen der Straßen, Plät- tungen. Das heißt, je vier Delegierte aus sie- ze und Freiflächen, um die Funktion des ben Straßenzügen (Mieter und Eigentümer) neuen Bahnhofsvorplatzes am neuen West- plus Vertreter von Interessengruppen aus portal und seine städtebauliche Einbin- dem Stadtteil und Initiativen aus den Quar- dung in das Thelottviertel, um den Einfluss tieren sowie je ein Vertreter der Stadtrats- der Straßenbahn auf den fließenden und fraktionen – gut 40 Personen – arbeiteten ruhenden Kfz-Verkehr, um die Bewahrung an drei Runden Tischen und diskutierten der Bäume und Grünräume und um die im Plenum. Vertreter aus Stadtverwaltung Integration einer Straßenbahnlinie in das und Stadtwerken beantworteten Fragen sensible Umfeld der Jugendstil-Gartenstadt und nahmen Prüfaufträge entgegen, deren Thelottviertel (Abb. 5). Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 487

Abbildung 4 Ablauf des Bürgerdialogs GoWEST über ca. 17 Monate

Öffentlicher Informations- und Diskussionsabend (6. Februar 2013) • Impulsvortrag Städtebau • Vorstellung der möglichen Trassenvarianten • Rückfragen / Erörterung mit externen Fachleuten und Bürgern Protokollen

und

1. Planungsworkshop mit Deligierten (16. März 2013) Hinweise • Gemeinsame Ortseinsicht am Vortag Plänen

• Diskussion in Gruppen an drei Runden Tischen (Impulsfragen) und • Formulierung von Prüfaufträgen an Stadtwerke und Verwaltung • Fazit/Abschlussrunde Ideen

2. Planungsworkshop mit Delegierten (12. Oktober 2013) Informationen, • Vorstellung der Ergebnisse der Prüfaufträge • Gemeinsame Diskussion der Trassenvarianten • Formulierung weiterer Prüfaufträge Anregungen, • Fazit/Abschlussrunde für

s#mtlichen

3. Planungsworkshop mit Delegierten (22. Februar 2014) mit • Vorstellung der Ergebnisse der Prüfaufträge • Präsentation des alternativen Trassenvorschlags BDA • Vorstellung städtebaulicher Gestaltungsmöglichkeiten • Bewertung und Diskussion der Ergebnisse aus den 3 Workshops • Schlussfazit/Zusammenfassung Online-Beteiligung • Homepage • Online-Formular

Öffentliche Abschlussveranstaltung (9. Juli 2014) • Impulsvortrag Straßenbahn • Vorstellung der Ergebnisse aus den Planungsworkshops • Rückfragen/Erörterung und Ausblick

Ergebnisse des Bürgerdialogs

Abwägung/Variantenprüfung bei Auslobung des Trassenbeschluss des Stadtrats städtebaulichen Wettbewerbs und für die Bahnhofsvorplätze Planfeststellungsverfahren

Quelle: Stadtplanungsamt Augsburg Fotos: Stadtplanungsamt Augsburg Fotos: Stadtplanungsamt Arbeit einer Kleingruppe – ca. Diskussion im Plenum – gut 40 Personen Gespräch am Rande – von rechts: 15 Personen – am Runden Tisch Baureferent, Amtsleiter

Norbert Diener, Hartmut Topp: 488 GoWEST mit Tram 5 – Bürgerdialog im projekt augsburg city

Abbildung 5 Sehr breiten Raum nahm das Grünthema Schlüsselfragen zum Einstieg in die Themen ein: Kann die Kastanienallee der Rosen-

Folgende Schlüsselfragen standen am Beginn des Bürgerdialogs: austraße überleben, wenn dort eine zwei- gleisige Tram-Trasse angelegt würde; wie- • Welche Funktionen haben Straßen, Plätze und Freiflächen heute außer Verkehr? Welchen Nutzungen sollen sie in Zukunft dienen? viel Bäume welcher Qualität fallen welcher

• Welchen Beitrag kann der neue Bahnhofsvorplatz für das Quartier leisten? Trasse zum Opfer? Das waren typische Prüf- aufträge an die Verwaltung. • Wie kann die hohe Verkehrsbelastung des Rosenau- und Thelottviertels reduziert werden? Welchen Einfluss hat die Straßenbahn auf die Führung des Kfz-Verkehrs? Es wurde schnell klar – was auch selbst- • Wie kann der ruhende Verkehr organisiert werden? verständlich ist –, dass keine der von Ver- • Wie können Eingriffe ins Grün minimiert werden? Welche Grünbestände sind besonders schützenswert? Wo sind mögliche Ersatzpflanzungen denkbar? waltung und Stadtwerken eingebrachten Trassenvorschläge ohne – zum Teil erhebli- • Wie kann eine moderne Straßenbahn sensibel in das hochwertige Umfeld einer Jugendstil-Gartenstadt integriert werden etc.? che – Nachteile ist. So würde zum Beispiel die direkte und verkehrlich auf der Hand Quelle: Stadtplanungsamt Augsburg liegende Führung durch die Rosenaustra- ße die Allee zerstören; das gilt auch für die Mittellage, da die Bäume im Seitenraum die erforderlichen Tiefbaumaßnahmen mit Die Delegierten und Interessenvertreter Ersatz des dort liegenden Sammlers wohl griffen diese Fragen zunächst ohne Parti- kaum überstehen würden. Im Thelottviertel kularinteressen auf, indem sie sich dafür formierte sich Widerstand mit der nachvoll- aussprachen, die Führung der Tram durch ziehbaren Begründung, dass die Großmaß- Straßen der Quartiere und Grünräume stäblichkeit einer zweigleisigen Straßen- nicht isoliert zu diskutieren, sondern im bahntrasse in Widerspruch zum Charakter städtebaulichen Gesamtzusammenhang. dieses Gartenstadtviertels stände. Das heißt, neben der ÖPNV-Erschließung insbesondere auch die Entlastung von Kfz- Der Kfz-Verkehr wurde unter drei Aspekten Verkehr, die Parkierungssituation, den Fuß- behandelt: (1) Leistungsfähigkeit der durch und Radverkehr, die Grün- und Freiflächen die Straßenbahn beeinflussten Knoten- sowie das neue Westportal des Bahnhofs in punkte, (2) Verkehrsberuhigung der Quar- seiner Wirkung auf das Thelottviertel zu be- tiere und (3) Parkraumkonzept mit Anwoh- rücksichtigen. nerparken und einer Quartiersgarage.

Geflügelte Trasse stadtauswärts Rosenau / Pferseer Str. stadteinwärts Perzheim- / Hörbrotstr. durchgehender Radfahr- streifen in der Pferseer Str.

Allee in der Rosenaustr.

autofreier Buchegger-Platz und Vorplatz West wachsen zusammen

Rasengleis

Verkehrsberuhigung Hörbrotstraße

Abbildung 6 Vom Lärmgutachten Trasse ist für alle Anlieger (Büro em plan) angeregte lärmschutztechnisch optimiert geflügelte Trasse Quelle: Stadtplanungsamt Augsburg Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 489

Der neue Bahnhofszugang West mit dem städtebaulichen Einpassung im Thelott- neuen Vorplatz wurde grundsätzlich be- viertel, der Verbindung des neuen Bahn- grüßt. Jedoch soll alles vermieden werden, hofsvorplatzes West mit dem Thelottviertel was dort den Druck des Kfz-Verkehrs noch über die Rosenaustraße hinweg, für die erhöht: also kein Parkhaus für Autos, fast Allee in der Rosenaustraße Süd und für die keine Kurzparkstände, keine großen Läden Leistungsfähigkeit der Kreuzung Rosenau- oder Gastronomie, stattdessen ein Fahrrad- straße/Pferseer Straße. Auch ohne formale parkhaus und soziale Kontrolle über Café, Abstimmung war dieser Vorschlag am wei- Kiosk, Fahrradwerkstatt … Wichtig ist der testen konsensfähig. Zusammenhang zwischen Bahnhofsportal und Eingang in das Thelottviertel über die Der Stadtrat hat Ende 2014 beschlossen, mit 19.500 Kfz/Tag belastete Rosenaustraße die geflügelte Trasse (Abb. 6) mit Fortfüh- hinweg. rung in Randlage der Hessenbachstraße dem Planfeststellungsverfahren zu Grunde Es entstanden zahlreiche Anregungen zu zu legen. Die Anregungen aus dem Bürger- den vorgegebenen Trassen sowie zwei gänz- dialog zum Bahnhofsplatz West sind in den lich neue Vorschläge: 1. Eine Gruppe Augs- 2015 durchgeführten städtebaulichen Re- burger Architekten präsentierte als BDA- alisierungswettbewerb Neugestaltung der Vorschlag eine extrem aufwändige Variante Vorplätze des Augsburger Hauptbahnhofs einer Trassenführung in der Hangkante zu eingeflossen. Nach heutigem Stand sollen den Bahnanlagen. 2. Ein Lärmgutachten die Untertunnelung des Hauptbahnhofs, (Büro em plan) überraschte mit einer geflü- die Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes gelten Lösung eingleisiger Trassen (Abb. 6), West und die Einrichtung der Tramlinie 5 bei der die Lärmbelastung minimiert und im Jahre 2022 abgeschlossen sein. gerecht verteilt würde. Diese Flügelung – je eingleisig stadtauswärts über Rosenaustra- Ohne den Bürgerdialog wäre die Idee der ße und Pferseer Straße und stadteinwärts Trassenflügelung (Abb. 6) wohl kaum ent- durch das Thelottviertel mit kompletter He- standen. Und, wenn man weiter zurück rausnahme des quartierfremden Kfz-Ver- denkt, ohne den offenen städtebaulich ver- kehrs (Abb. 6) – wurde spontan sehr positiv kehrsplanerischen Ideenwettbewerb In- aufgenommen: Das hat was, nicht nur beim nenstadt Augsburg wäre die Unterbrechung Lärm! der Konrad-Adenauer-Straße für den Kfz- Verkehr am Königsplatz (Abb. 1) mit einer neuen autofreien urbanen Platzfläche nicht Ergebnisse und Fazit möglich gewesen. Man sieht, wie Bürger- beteiligung, Wettbewerbe und Mehrfach- Der Bürgerdialog GoWEST hat durch Dis- beauftragungen planerische Spielräume kussionen und Stellungnahmen und durch erweitern können. die Zuarbeit von Stadtwerken und Stadt- verwaltung sehr viele neue, vertiefende Abschließend stellt sich die Frage, was auf Erkenntnisse für die Führung der Straßen- andere Städte vom projekt augsburg city bahnlinie 5 zwischen dem neuen Westportal und von der Bürgermitwirkung GoWEST des Hauptbahnhofs und der Bürgermeister- übertragbar ist. Klar ist, dass jedes Projekt Ackermann-Straße erbracht. Was geht, und anders ist, ebenso wie seine Historie und vor allem auch, was nicht geht, wurde sehr seine Einbindung in Stadtentwicklung und viel deutlicher. Die gemeinsame Diskussion Stadtgesellschaft. Insofern gibt es kein Pa- über die Führung der Straßenbahn hat so- tentrezept, wie ein Planungsprozess gestal- mit zu einer Weiterentwicklung der Planun- tet werden soll. Bei komplexen Planungen gen geführt, die ohne die Beteiligung der und deren Umsetzung ist mitunter erheb­ Bürger nicht möglich gewesen wäre. Der liche Ausdauer gefragt. Aufwand war groß, ebenso das Engagement aller Beteiligten – es hat sich gelohnt. Übertragbar sind aber der integrierte städ- tebauliche Ansatz zum Ausbau des Per- Von besonderem Wert war schließlich der sonennahverkehrs mit einer grundlegen- über das Lärmgutachten eingebrachte Vor- den Aufwertung des öffentlichen Raumes schlag, die Trasse zu flügeln. Das hat – über und der Attraktivitätssteigerung der Stra- die Lärmsituation hinaus – Vorteile der ßen- und Platzräume sowie die frühzeitige

Norbert Diener, Hartmut Topp: 490 GoWEST mit Tram 5 – Bürgerdialog im projekt augsburg city

Bürgerbeteiligung im Vorfeld der Planfest- gerentscheide und durch zahlreiche Dialog- stellung, insbesondere in sensiblen städte- termine mit allen relevanten Interessens- baulichen Bereichen. Eine langfristige und verbänden wurde versucht, einen weitest umfassende Einbindung in die Stadtent- gehenden gesellschaftlichen Konsens her- wicklung, Wettbewerbe und Mehrfachbe- zustellen. auftragungen auch in der Verkehrsplanung, frühzeitige Beteiligung der Stadtgesell- In diesem Zusammenhang hat sich die schaft, mehr „Mitmachplanung“, direkte umfassende Information der Öffentlich- Ansprache der Bürger. keit unter der Dachmarke projekt augsburg city bewährt, die in der Umsetzungsphase Durch die intensive Einbindung der Öf- weiter intensiviert wurde. Neben klassi- fentlichkeit in den Planungsprozess z. B. schen Informationsmaterialien und Pres- über die Planungswerkstatt zur Mobilität severöffentlichungen werden dabei eine (Stadt Augsburg, 2008) oder Workshops zu umfangreiche Internetpräsenz über soziale Einzelthemen durch eine umfangreiche Netzwerke und die Homepage www.pro- Zieldiskussion im Vorfeld der beiden Bür- jekt-augsburg-city.de genutzt.

Literatur

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Erfolgsfaktoren für eine attraktive Tram Martin Haag in der Stadt – Praxisbeispiel Freiburg Peter Schick

Freiburg gilt als Beispiel für eine besonders umweltfreundliche kommunale Verkehrspoli- tik. Der konsequente Ausbau des Stadtbahnsystems sowie die enge Verzahnung von Sied- lungsentwicklung und Stadtbahnausbau sind dabei wesentliche Erfolgsfaktoren. In Frei- burg kann die Stadtbahn ihre Systemvorteile ausspielen. Städtebaulich ist sie gut in die Straßenräume integriert und belebt die Innenstadt. Die Fahrgäste profitieren von kurzen Zugangswegen, hohen Taktfolgen und zuverlässigen Fahrtzeiten über staufreie Trassen. Für die Stadt sind die dauerhaft tragbaren Investitions- und Betriebskosten wichtig. Freiburg plant bzw. setzt weitere Ausbaumaßnahmen zur Straßenbahn um. Auch in Zukunft wird die Stadtbahn einen entscheidenden Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Stadt und zur Stei- gerung der Lebensqualität bei weiter wachsender Bevölkerung leisten.

Freiburg und die Tram

In vielen Städten Europas hat die Stadtbahn in den letzten zwei Dekaden eine enorme Erfolgsgeschichte erfahren. Stadtbahnen wurden um- und ausgebaut, und – zum Beispiel in vielen französischen Städten – ganz neu eingeführt. Aus dem Blickwinkel der heutigen Verkehrsplanung sind sie un- verzichtbar, um den Verkehr in einer größe- ren Stadt abwickeln zu können.

Freiburg setzte besonders früh und beson- ders konsequent auf die Straßenbahn. Früh meint dabei nicht die Eröffnung der ers- ten Strecke der historischen Straßenbahn in Freiburg im Jahr 1901. Dies war nicht Moderne Freiburger Stadtbahn („Urbos“) in der Altstadt Foto: VAG ungewöhnlich, jede größere europäische Stadt (aber auch viele US-amerikanische Städte) nahm zu dieser Zeit Straßenbahnen Prof. Dr.-Ing. Martin Haag in Betrieb. Besonders früh meint vielmehr rechten Stadt entstand mit dem Ziel, den ist Bürgermeister für Stadt- das Umdenken nach der Entwicklung der Kfz-Verkehr zu reduzieren. Die Großstädte entwicklung, Bauen und Verkehr Massenmotorisierung, die in Deutschland begannen, Fußgängerzonen einzurichten der Stadt Freiburg im Breisgau. Zuvor arbeitete er als Universi- in den 1950er- und 1960er-Jahren begann, und S- sowie U-Bahnen zu bauen. Für Städ- tätsprofessor für Verkehrswesen und in den 1970er-Jahren zu so unerträg- te der mittleren Größenordnung – in Frei- an der TU Kaiserslautern. lichen Zuständen geführt hatte, dass sich burg lebten in den 1970er-Jahren 170.000 [email protected] nach und nach die Verkehrspolitik änder- Einwohner – war diese Entwicklung aber te. In Freiburg verzehnfachte sich von 1950 nicht selbstverständlich. Hier wurden die Dr.-Ing. Peter Schick arbeitet in der Abteilung bis 1980 die Anzahl der Kraftfahrzeuge, von Straßenbahnen meistens zurückgebaut, oft Verkehrsplanung des Gar- 8.000 auf 80.000. Die Folge waren Unfäl- ganz stillgelegt. Die Straßenbahn hatte kein ten- und Tiefbauamts der le, Luftverschmutzung, Lärm, Flächenver- gutes Image: zu langsam, zu unflexibel, zu Stadt Freiburg. Dort ist er u. a. brauch und Staus, in denen oft auch die teuer. verantwortlich für die Planung Straßenbahnen standen. verschiedener Um- und Aus- bauten von Stadtbahnstrecken Auch Freiburg hatte seine „Straßenbahn- sowie für die Konzeption des Diese Probleme traten in allen Großstädten krise“: Beschädigt nach dem 2. Weltkrieg Stadtbahn-Ausbauprogramms. auf, und eine Gegenbewegung zur autoge- und in finanziell schwieriger Situation wur- [email protected]

Martin Haag, Peter Schick: 492 Erfolgsfaktoren für eine attraktive Tram in der Stadt – Praxisbeispiel Freiburg

den drei Straßenbahnstrecken zurückge- Auch wegen dieser Erfolgsgeschichte (eine baut (Burmeister 1988). Aus verschiedenen andere ist die Förderung des Radverkehrs) Gründen – das rasche Stadtwachstum und gilt Freiburg heute als Beispiel für eine be- die früh einsetzende Umweltbewegung – sonders umweltfreundliche kommunale verwarf die Stadt die ausführlich diskutierte Verkehrspolitik, ausgezeichnet mit ver- Umstellung auf den Busverkehr Anfang der schiedenen Umweltpreisen (u.a. European 1970er-Jahre jedoch wieder. Sie verknüpfte Green Capital Award 2009, European OS- den Beschluss zum Erhalt der Straßenbahn MOSE Award 2007, Bundeshauptstadt Kli- schließlich sogar mit einem Beschluss zum maschutz 2010, Deutschlands nachhaltigste Ausbau des Streckennetzes. Als Resultat Großstadt 2012). dessen wurde 1983 die erste neue Strecke in Betrieb genommen. Eine Studie zu Erfolg und Misserfolg von Stadtbahnausbauten (Hass-Klau/Crampton Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine außer­ 2003) vergleicht zudem weltweit 24 Städte gewöhnliche Erfolgsgeschichte, im Takt von und kommt zum Schluss, dass das Freibur- wenigen Jahren wurden in Freiburg Stadt- ger Stadtbahnsystem gemessen an Indika- teile mit neuen Tramstrecken erschlossen: toren wie Fahrgastzahlen pro Einwohner 1983 Lehen/Paduaallee, 1985 Landwasser, und Auslastungsgraden das erfolgreichste 1986 Klinikum, 1994 Weingarten, 1997 Rie- ist. Als besonders herausragend erwähnen selfeld, 2004 Haslach, 2006 Vauban, 2014 die Autoren der Studie die gute Integration Zähringen – und als neueste Strecke: 2016 in ein Gesamtverkehrskonzept (das auch Messe (erster Bauabschnitt). Innerhalb von Restriktionen für den Kfz-Verkehr enthält) dreißig Jahren wurde ein Großteil des Stadt- sowie die intensive Verzahnung von Stadt- gebiets an die Schiene angebunden, heute und Verkehrsplanung. Vor allem letzterer wohnen mindestens 80 % der Bevölkerung Punkt wird im Folgenden näher betrachtet. weniger als 500 m von einer Haltestelle ent- fernt.

Abbildung 1 Stadtstruktur sowie gebaute und geplante Stadtbahnstrecken in Freiburg (hellrot = 500 m Radius, dunkelrot = 300 m Radius um jeweilige Stadtbahn-Haltestelle) Quelle: Stadt Freiburg Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 493

Meilensteine der Integration von Stadt- auf eigenem Gleiskörper sowie Bevorrech- entwicklung und Stadtbahnausbau tigungen an Lichtsignalanlagen führt sie in erstaunlich kurzer Fahrzeit (kaum über Stadtentwicklung und Stadtbahnausbau zehn Minuten) vom äußeren Ende bis zum nach Westen Hauptbahnhof und in weiteren drei Minu- ten in das Zentrum der Innenstadt. In Freiburg blieb in den 1960er-Jahren nach einigen Streckenstilllegungen nur noch ein Hieran zeigt sich der Übergang von der Rumpfnetz der Straßenbahn übrig. Dieses Straßenbahn zur Stadtbahn, oder anders Rumpfnetz konzentrierte sich auf das in- formuliert: der Übergang von der langsa- nere, historische Stadtgebiet. Die intensive men, altertümlichen „Bimmelbahn“ zum Siedlungserweiterung ab den 1960er-Jahren modernen, schnellen Verkehrsmittel, das fand geografisch bedingt (der Osten der bei Fahrzeit und Komfort mit dem aufkom- Stadt grenzt unmittelbar an die Schwarz- menden Kfz-Verkehr mithalten kann. Ange- waldhänge) im Westen statt. sichts dieser Kennwerte lies der Erfolg nicht auf sich warten: Heute befördert die Linie Viel Weitsicht bewiesen Planer und 10.000 Fahrgäste pro Tag im Querschnitt Entscheidungsträger bei der Festlegung in den Außenbereichen und bis zu 50.000 eines Trassenkorridors für eine neue Stadt- Fahrgäste auf Höhe des Hauptbahnhofs bahnstrecke im Generalverkehrsplan 1969 (VEP Freiburg 2008). (Schaechterle/Holdschuer 1969). Diese Strecke sollte die neuen Stadtteile im Westen möglichst zeitnah mit deren Auf- Rieselfeld – Musterbeispiel für Integration siedelung erschließen. Die Planung sah von Stadt- und Verkehrsplanung vor, die neuen Stadtteile mit der Innenstadt und dem dort bestehenden Stadtbahnnetz Beflügelt von den ersten Erfolgen der um- auf kürzestem Wege zu verbinden, trotz ei- weltorientierten Verkehrspolitik und ange- ner dafür aufwendigen, aber notwendigen trieben von einer bundesweiten Diskussion Querung der Bahngleise am Hauptbahnhof. über die negativen Folgen des Autoverkehrs Lange wurde diskutiert, ob diese Querung beschloss der Freiburger Gemeinderat 1989 ober- oder unterirdisch erfolgen sollte. Die eine Gesamtverkehrskonzeption mit den anfangs bevorzugte Lösung in Tieflage wur- Zielen, den Autoverkehr zurückzudrängen de schließlich aus finanziellen, aber auch und die umweltfreundlichen Verkehrsträger aus städtebaulichen Gründen zugunsten zu fördern. einer Brückenlösung aufgegeben. Mit diesen neu beschlossenen Zielen im Die Stadtbahnbrücke ist heute noch das Hinterkopf begannen 1991 die Planungen Herz des ÖPNV-Systems von Stadt und Re- für einen neuen Stadtteil im Freiburger gion. Vermutlich lassen sich die positiven Westen für etwa 10.000 Einwohner. Na- Auswirkungen der Entscheidung für die heliegend war, dass dem städtebaulichen Hoch- statt für die Tieflage auf die Akzep- Wettbewerb eine gute, zentrale Erschlie- tanz der Stadtbahn und sogar auf das Image ßung über die Stadtbahn „als Rückgrat der der gesamten Stadt gar nicht hoch genug Bebauung“ mitgegeben wurde (Stadt Frei- einschätzen. Kommen Reisende mit dem burg 1997). Alle Bewohner sollten „in einem Zug in Freiburg an, haben sie das Glück, Abstand von höchstens 400 m, also max. mit Schwarzwald- und Münsterblick auf 5 bis 7 Gehminuten“ entfernt von einer die nächste Stadtbahn zu warten – kein ÖV- Haltestelle wohnen. Die Stadt gab den Pla- Nutzer muss sich durch Angsträume hin- nenden zudem zahlreiche damals zum gro- durch in muffige und dunkle Untergeschos- ßen Teil noch neuen verkehrsplanerischen se begeben. Elemente mit: Tempo-30-Zonen, ein dich- tes Radverkehrsnetz mit Fahrradstraßen, Die insgesamt 5,7 km lange Stadtbahnstre- verkehrsberuhigte Bereiche sowie die Be- cke wurde 1985 fertiggestellt, als erste neue rücksichtigung der Belange der Fußgänger. Strecke nach über 50 Jahren. Sie erschließt Einzig beim Abstellen der Kfz blieben Stadt die meisten der heute insgesamt 24.000 Ein- und Planer mit einem Stellplatz pro Woh- wohner der Stadtteile Betzenhausen, Lehen nung und Tiefgaragen unter den Gebäuden und Landwasser. Dank vollständiger Anlage konventionell.

Martin Haag, Peter Schick: 494 Erfolgsfaktoren für eine attraktive Tram in der Stadt – Praxisbeispiel Freiburg

Die Durchführung als einheitliche Erschlie- Kaserne, zu entwickeln. Wieder wurde über ßungsmaßnahme machte es möglich, dass Planungsziele diskutiert, und vieles aus dem die Stadtbahn nur ein Jahr nach Einzug der Rieselfeld, wie die Stadtbahn als Rückgrat ersten Bewohner im Jahr 1997 in Betrieb des Stadtteils, wurde wieder aufgegriffen. ging. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da die Stadtbahn in Betrieb ging, als gera- Anfang der 1990er-Jahre erreichten die de einmal etwa 1.000 Einwohner im Rie- Auseinandersetzungen um die negati- selfeld wohnten, und ein Betrieb zunächst ven Folgen des Autoverkehrs einen ersten unwirtschaftlich war. Die Stadt ging also Höhepunkt. Jahrelange Diskussionen um auch finanziell in Vorleistung, um die neu- Waldsterben, Unfallzahlen und die begin- en Bewohner von Anfang an an den ÖPNV nende Auseinandersetzung um die Gefah-

heranzuführen. ren der CO2-Emissionen führten dazu, dass Teile der Bevölkerung nicht nur Alternati- Die Aufsiedelung des Rieselfelds wird in ven zum Autoverkehr, sondern den weitge- diesen Tagen des Jahres 2016 komplettiert. henden Verzicht auf das Auto anstrebten. In den letzten zwanzig Jahren entwickel- te sich der neue Stadtteil trotz seiner Lage Resultat waren bundesweit etwa ein Dut- am Rand der Stadt zu einem vollwertigen zend Wohnen-ohne-Auto-Projekte, die Stadtteil mit sehr guter Nahversorgung. We- meisten davon mit 20 bis 50 Wohneinheiten gen zahlreicher innovativer Elemente des nur sehr klein. In Vauban wurden von den Städtebaus, der Verkehrsplanung aber auch insgesamt 2.000 Wohneinheiten etwa 800 der Bürgerbeteiligung war und ist dieser als „autoreduzierter“ Bereich definiert. Stadtteil immer noch ein Beispiel für eine gelungene Stadtentwicklung am Reißbrett. Für den Erfolg des Konzepts „Wohnen ohne Die Stadtbahn steht im Mittelpunkt dieser Auto“ ist eine hervorragende ÖPNV-Anbin- positiven Entwicklung. dung in Form einer Stadtbahn entschei- dend. Wegen planerischer Schwierigkeiten (u. a. Grunderwerb) bei der Planung der Vauban – besondere Wohn- und Trassenführung außerhalb des Stadtteils Mobilitätsformen konnte die Bahn zum Start der Aufsiede- lung noch nicht in Betrieb genommen wer- Nur wenige Jahre nach Beginn der Planun- den, sodass das Konzept der Autoreduzie- gen für Rieselfeld ergab sich die Chance, rung in den ersten Jahren Schwierigkeiten eine große freigewordene Militärfläche in- hatte, da die ÖV-Anbindung nur aus einer nerhalb des Siedlungsgebiets, die Vauban- Buslinie bestand. Im Frühjahr 2006 ging die herbeigesehnte Stadtbahn mit einem gro- ßen Stadtteilfest in Betrieb, und sehr rasch Vauban – besonders hohe Wohnqualität im autoreduzierten Bereich wies auch diese Linie hohe Fahrgastzahlen auf.

In der Folge entwickelte sich der Stadtteil sehr erfolgreich. Die Kombination aus gu- ter Förderung der Nahmobilität (Fuß- und Radverkehr), der guten ÖPNV-Anbindung und der Anlage der Wohnstraßen mit ei- ner besonders hohen Aufenthaltsqualität macht den Stadtteil in Bürgerumfragen re- gelmäßig zu einem der beliebtesten Stadt- teile. Das belegt, dass neue Stadtteile Qua- litäten aufweisen können, die vergleichbar mit den beliebtesten, schon länger beste- henden Stadtteilen sind.

In der Fachwelt und sogar in der Öffent- lichkeit erlangte der Stadtteil enorme Be- kanntheit. Immer noch kommen zahlreiche

Quelle: Stadt Freiburg Fachbesuchergruppen aus der ganzen Welt, Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 495

um – etwas provokant formuliert – zu be- grundsätzlich so viel eigener Gleiskörper staunen, dass Bürger in einem der reichsten wie möglich zur Erreichung guter Fahr- Staaten der Erde freiwillig auf das Automo- zeiten angestrebt wird, müssen auch an- bil verzichten. gepasste Lösungen mit straßenbündigem Gleiskörper möglich sein. In Freiburg finden sich hierzu inzwischen alle denkbaren Lö- Erfolgsfaktoren des Freiburger sungen, die zeigen, dass es dogmatisch kei- Stadtbahnsystems nen eigenen Gleiskörper zur Förderung des ÖPNV braucht (siehe Fotos) (Haag 2007). Vorteile des Systems Stadtbahn

Für eine Stadt in der Größe von Freiburg (ca. 220.000 Einwohner, räumliche Ausdeh- nung des größten Teils der Siedlungsfläche ca. 10 x 10 km) ist das System Stadtbahn perfekt geeignet, um eine sehr gute ÖPNV- Erschließung zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten zu erzielen.

Ausschlaggebend für den Erfolg war die Fortentwicklung von der klassischen Stra- ßenbahn zur modernen Stadtbahn. Kenn- zeichnend für diese Entwicklung der bau- lichen Infrastruktur sind insbesondere ein eigener Gleiskörper, Bevorrechtigungen an Straßenbündiger Gleiskörper im Stadtteilzentrum Lichtsignalanlagen sowie gut ausgestattete, barrierefreie Haltestellen (VDV 2000). Ne- ben den oben beschriebenen neu gebauten Strecken wurden sukzessive auch die meis- ten der bestehenden Strecken in Freiburg auf dieses Niveau ausgebaut.

Nicht notwendig hingegen (und vermutlich wäre es sogar von Nachteil gewesen) war die Fortentwicklung hin zu einer U-Bahn. Den möglichen geringen Fahrzeitvorteilen durch die unabhängige Trassenführung in Tieflage stünden gravierende städtebau­ liche Nachteile, aber auch Nachteile für die ÖV-Fahrgäste gegenüber (aufwendige Dynamischer Gleiskörper in einer Engstelle Zugangswege, unattraktive Wartebereiche). Die enormen Kosten für eine U-Bahn hät- ten zudem eine so umfassende Erschlie- ßung des Stadtgebiets für eine Stadt der Größe und Finanzkraft Freiburgs unfinan- zierbar gemacht bzw. stünden in Konkur- renz zum Ausbau in die Fläche.

Ein weiterer Vorteil des Systems Stadtbahn ist es, dass es sich sehr flexibel an die un- terschiedlichsten Anforderungen anpas- sen kann. Auch eine oft strenge Auslegung von Förderbedingungen nach Gemeinde- verkehrsfinanzierungsgesetz konnte nicht verhindern, dass der Bau oder Umbau von Stadtbahnstrecken Straßenräume und Eigener Gleiskörper als Rasengleis – die Musterlösung Stadtteilzentren aufwerten kann. Während bei Verfügbarkeit der Flächen Fotos: Stadt Freiburg

Martin Haag, Peter Schick: 496 Erfolgsfaktoren für eine attraktive Tram in der Stadt – Praxisbeispiel Freiburg

Notwendige Randbedingungen dern. Nebeneffekt einer solchen Politik der bei der Siedlungsentwicklung Stadt der kurzen Wege ist die Förderung von Fuß- und Radverkehr, der aktiven Mobilität. Hier sind vor allem Dichte und Kompakt- heit des Siedlungskörpers zu betrachten. Zwei weitere wichtige Faktoren sind eine at- Beides zusammen erschließt eine große traktive Tarifgestaltung sowie Restriktionen Zahl an Bewohnern und generiert damit ein für den Kfz-Verkehr. Die attraktive Tarifge- großes Potenzial an Fahrgästen. staltung drückt sich in Freiburg in einem einheitlichen, günstigen Ticket aus, das für Wie bereits erwähnt, wohnen in Freiburg alle Verkehrsmittel des ÖPNV in der ganzen etwa 80 % der Einwohner weniger als 500 m Region um Freiburg (ca. 60 x 70 km) gültig und damit wenige Fußminuten von einer ist. Für einen richtigen Erfolg müssen Stadt- Stadtbahn-Haltestelle entfernt. Dieser hohe bahnsysteme ein derartig attraktives Tarif- Erschließungsgrad hat einen mehrfach system haben (Hass-Klau/Crampton 2003). positiven (Rückkoppelungs-)Effekt auf die Die Restriktionen für den Kfz-Verkehr be- Nutzung der Stadtbahn: stehen in Freiburg in der Ausweisung einer großen, flächenhaften Fußgängerzone in • Eine hohe Zahl von Bewohnern im Ein- der Altstadt sowie einem weiträumig an- zugsbereich führt zu einer hohen Zahl an grenzenden Bereich mit Parkraumbewirt- Fahrgästen und dies wiederum zu einem schaftung. Dies nimmt dem Autoverkehr dichten Angebotstakt (meistens 7,5 Mi- zwei seiner großen Vorteile: die direkte Zu- nuten). fahrt zum Ziel sowie die gefühlte Kosten- freiheit der Nutzung. • Ein gutes Angebot führt schließlich wie- der zur Nachfragesteigerung (inzwischen werden Linien teilweise verdichtet gefah- Hürden und Probleme ren, und sogar ein nächtlicher Betrieb an des Systems Stadtbahn Wochenenden wurde eingeführt). Wie häufig sind die Vorteile eines Systems • Durch die gute Netzwirkung mit kurzen auch gleichzeitig potenzielle Nachteile: Die Umsteigezeiten lassen sich so gut wie Möglichkeit, hohe Fahrgastzahlen zu trans- alle wichtigen Ziele in der Stadt in kurzer portieren bedeutet umgekehrt auch, dass Zeit per Stadtbahn erreichen. hohe Fahrgastzahlen erforderlich sind, um die Investitionskosten und Betriebskosten • Zudem bleiben Streckennetz, Wege und zu rechtfertigen. Aufkommensschwache Fahrzeiten kurz und es ergibt sich da- oder dispersere, ungünstig zu erschließen- durch eine hohe Wirtschaftlichkeit des de Siedlungsbereiche können daher so gut Betriebs. wie nicht mittels einer Stadtbahnstrecke er- schlossen werden. Mit einer koordinierten Jede neue Strecke führt also nicht nur zu Siedlungs- und Verkehrsplanung lässt sich einer Neuerschließung eines weiteren Ge- dies aber zumindest über die Zeit lösen. biets, sondern ist ein Baustein, der die Netzabdeckung komplettiert. Diese Kom- Zudem gibt es die systembedingten typi- plettierung dürfte (wenngleich empirisch schen Nachteile von schienengebundenen noch nicht nachweisbar) zu einer Reduzie- Verkehrsmitteln. Obwohl Freiburg mit der rung des Pkw-Besitzgrads führt – was wie- Ein-Meter-Spur die flexibelsten aller mög- derum das Stadtbahnsystem stärkt. lichen Trassierungsparameter aufweist, sind manche Stadtteile mit historisch en- gen Straßenräumen nur äußerst schwer er- Ergänzende Randbedingungen schließbar. Hinzu kam vor allem in der Ver- gangenheit die Fixierung auf den eigenen Richtig erfolgreiche Stadtbahnsysteme er- Gleiskörper. Diese führt in einigen Fällen zu fordern eine begleitende Gestaltung mit städtebaulichen Unverträglichkeiten (Haag günstigen Rahmenbedingungen. Zu nen- 2007). nen ist dabei zum Beispiel auch ein Märk- te- und Zentrenkonzept mit dem Ziel, rein Als letzter Punkt ist die Frage der Finanzie- autoaffine Versorgungstrukturen zu verhin- rung zu erwähnen. Auch wenn die Investi- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 497

tionskosten im Vergleich zu Tunnel- oder gestaltung gelegt. Das Projekt wurde zum Hochbahnen erheblich geringer sind, kön- gemeinsamen Städtebau- und Verkehrs- nen die Kommunen neue Strecken ohne projekt, das eine ursprünglich vierstreifige, Zuschüsse von Land oder Bund kaum reali- die Innenstadt durchtrennende Hauptver- sieren. In den letzten Jahren wurden die Zu- kehrsstraße zurückbauen wird. schusshöhen wiederholt verringert, und die Realisierbarkeit von Projekten erschwert. Das Projekt sieht den Bau von etwa 2 km Angesichts langer Planungs- und Realisie- neuer Strecke vor, mit einem Finanzum- rungszeiträume ist eine Verlässlichkeit bei fang von ca. 55 Mio. Euro. Die Inbetrieb- der Finanzierung entscheidend wichtig. nahme ist für 2018 geplant.

Aktuelle und Stadtbahn Messe – gegenseitiges zukünftige Stadtbahnprojekte Antreiben von Verkehrsplanung und Stadtplanung Stadtbahn Rotteckring – die Innenstadt- Aufwertung Der zweite wichtige zurzeit in Freiburg durchgeführte Stadtbahnausbau ist die In den 1990er-Jahren wurde erkannt, dass Stadtbahn Messe, die nach ihrem Endpunkt die Freiburger Stadtbahn Opfer des eige- benannt wurde. Von der Bedeutung der Er- nen Erfolgs werden könnte, wenn nicht schließung her könnte sie auch Stadtbahn eine innerstädtische Strecke gebaut werden Nordwest genannt werden, da sie große würde, die den zentralen Knotenpunkt am Teile des Stadtgebiets neu an die Stadtbahn Bertoldsbrunnen in der Mitte der Altstadt anschließt. entlastet. Das besondere bei dieser Stadtbahnstrecke Neben der reinen Verkehrsfunktion ver- ist, dass Stadtbahn- und Siedlungsentwick- anschaulicht die Strecke der Stadtbahn lung sich gegenseitig in einer ungewöhnli- Rotteckring auch das städtebauliche Poten- chen Dynamik angetrieben haben. Anders zial, das im Ausbau von Stadtbahnstrecken als in der ersten Phase der Ideenfindung zu- steckt. Inspiriert durch die erfolgreichen nächst angedacht, wurden in dem Stadtteil Straßenraumumgestaltungen mit Stadt- große Entwicklungen angestoßen, die von bahnbau im nahe gelegenen Frankreich der Nachverdichtung einzelner Flächen bis wurde bei diesem Streckenausbau von An- hin zur großmaßstäbigen Entwicklung von fang an Wert auf eine hochwertige Stadt- Uni-Standorten, Krankenhaus und zahlrei-

Visualisierung „Stadtbahn Rotteckring“ – Inbetriebnahme 2018 Quelle: Stadt Freiburg, GD 9

Martin Haag, Peter Schick: 498 Erfolgsfaktoren für eine attraktive Tram in der Stadt – Praxisbeispiel Freiburg

chen weiteren Arbeits- und Wohnstätten schließlich Flächen, die diese Kriterien er- reichte. Als jüngstes großes Projekt kam füllten, blieben in der engeren Wahl. schließlich der geplante Neubau des Fuß- ballstadions hinzu, womit die neue Stadt- Nach intensiver Diskussion und der Betei- bahnlinie optimal genutzt werden wird. ligung der Bürger beschloss die Stadt, die Dietenbach-Fläche zu entwickeln – eine Der erste Bauabschnitt ging 2016 in Betrieb, Fläche angrenzend an den oben beschrie- vollständig soll der Bau bis 2018 erfolgen. benen Stadtteil Rieselfeld. Sie ist durchaus noch als stadtnah anzusehen (ca. 5 km zum Zentrum) und hat den großen Vorteil, dass Stadtbahn Dietenbach – neue Ideen sie durch eine Verlängerung der Stadtbahn- für die Zukunft linie vom Rieselfeld aus sehr gut erschlos- sen werden kann. Aufgrund der Lage in der wirtschaftlich dynamischen Oberrheinregion sowie der Zurzeit werden intensive Planungsüberle- attraktiven Forschungs- und Universitäts- gungen durchgeführt, wie moderne Wohn- landschaft geht die Stadt Freiburg von ei- und Mobilitätsformen für diese Siedlungs- nem weiteren Bevölkerungswachstum aus. fläche aussehen können. Ziele dafür sind zum einen die Umweltverträglichkeit, zum Zur Entlastung des Wohnungsmarkts plant anderen auch Möglichkeiten zur Kosten- sie einen eigenständigen neuen Stadtteil für einsparung im Wohnungsbau. Beide Grün- mindestens 12.000 Einwohner. Bei der Su- de führen zu Überlegungen, die Anzahl che nach der am besten geeigneten Fläche der geforderten privaten Stellplatzzahlen spielten die Argumente des Beibehaltens zu reduzieren. Bei der angestrebten dich- der kompakten Stadt sowie des Anschlusses ten Bebauung sind Stellplätze nur über im an die Stadtbahn eine zentrale Rolle. Aus- Allgemeinen sehr teure Tiefgaragenplätze zu verwirklichen. Das angestrebte Mobili- tätskonzept soll durch eine wirkungsvolle Kombination aus ÖV, Radverkehr, Fußver- Abbildung 2 kehr (Nahversorgung) sowie dem in Frei- Integrierte Planung von Städtebau und Verkehrsplanung: Ein erster Testent- burg stark aufstrebendem Carsharing die wurf für den neuen Stadtteil Dietenbach zeigt, wie dieser optimal von einer neuen Stadtbahnstrecke erschlossen wird Notwendigkeit des Autoverkehrs soweit wie möglich reduzieren.

Fazit und zukünftige Erwartungen an die Stadtbahn

Über dreißig Jahre stetiger Ausbau des Stadtbahnnetzes hat die Stadtbahn zum Rückgrat der Verkehrserschließung Frei- burgs gemacht. Das aus dem Wachstum an Arbeitsplätzen und Bewohnern resultie- rende Verkehrswachstum nahm die Stadt- bahn zu einem großen Teil auf. Das damit verbundene gedämpfte Wachstum des Au- toverkehrs ist ein wichtiger Erfolg, um die Lebensqualität in einer dicht besiedelten Stadt zu erhalten. Bei Politik und Bevölke- rung ist dies allgemein anerkannt, sodass Ausbaumaßnahmen generell von breiten Mehrheiten unterstützt werden.

Gibt es noch weitere, nicht gehobene Po- tenziale im ÖPNV, wenn in wenigen Jahren die innerstädtischen Gebiete beinahe kom-

Quelle: Stadt Freiburg, bs plus städtebau und architektur gbr und architektur städtebau bs plus Quelle: Stadt Freiburg, plett abgedeckt sind? Die Antwort könnte Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 499

in zwei Bereichen zu finden sein: im regi- einer viel komfortableren Fahrplanaus- onalen Verkehr und in neuen technischen kunft sind ganz neue Produkte möglich, Entwicklungen bei der Tarifgestaltung und wie beispielsweise multimodale Auskünfte Kundenbindung. und Produkte. Für den Bereich Multimoda- lität brachten die Stadt und die Freiburger Auch im regionalen Nahverkehr wurden in Verkehrs AG Anfang 2016 die Marke FREI. der Region Freiburg in den letzten Jahren MOBIL neu auf den Markt. Sie bündelt be- große Anstrengungen unternommen, um stehende Angebote aus dem Bereich der das Angebot zu verbessern (Breisgau-S- umweltfreundlichen Mobilität (z.B. ÖPNV Bahn-Konzept). Durch die Modernisierung und Carsharing oder Fahrradparken) als In- von Strecken und die Verbesserung des An- formationsangebot unter einem Dach und gebots ergaben sich große Wachstumsraten bietet kombinierte Produkte mit Rabatten bei den Fahrgastzahlen. Allerdings konnte an. Langfristiges Ziel ist ein weiterer Aus- das Kfz-Verkehrswachstum regional nicht bau der Mobilitätsplattform mit allen An- im selben Maße gedämpft werden wie im geboten aus dem Bereich der umweltver- innerstädtischen Verkehr. Hierfür bedarf es träglichen Mobilität. weiterer Maßnahmen. In Umsetzung sind neben weiteren großen Ausbaumaßnah- Grundlage für all diese Angebote ist aber men an der Infrastruktur (Strecken und ein gut ausgebautes und mit dichtem Takt Fahrzeuge) insbesondere Maßnahmen zur in hoher Qualität betriebenes Stadtbahn- besseren Vernetzung der einzelnen ÖPNV- netz. In Freiburg ist es bisher gelungen, Bestandteile (z. B. S-Bahn, Regionalbus und dieses Stadtbahnnetz zu erhalten und Stadtbahn). schritthaltend mit der Stadtentwicklung zu erweitern. Aber auch in den kommenden Als letzter Punkt seien zukünftige techni- Jahren muss diese Entwicklung weiterge- sche Entwicklungen abseits der klassischen hen, als Basis für die verträgliche Gestal- Infrastrukturentwicklung erwähnt. Neue tung des Verkehrs und damit für die Erhal- Informationstechnologien in Verbindung tung und Steigerung der Lebensqualität in mit mobilen Geräten (insbesondere Smart- Freiburg. phones) bergen neue Chancen zur stadtver- träglichen Gestaltung des Verkehrs. Neben

Literatur Beim, Michał; Haag, Martin, 2010: Freiburg’s Way Schaechterle, Karlheinz; Holdschuer, Guido, 1969: to Sustainability – The role of integrated urban Generalverkehrsplan Stadt Freiburg im Breisgau. and transport planning, REAL CORP 2010, Neu-Ulm. Proceedings/Tagungsband, Wien 2010. Stadt Freiburg, 1997: Der Stadtteil Rieselfeld in Burmeister, Jürgen; Köth, Arnold; Schrott, Oliver, 1988: Freiburg. Von der Planung zur Realisierung. Zum Bertoldsbrunnen mit Bus und Bahn: Stadtver- Zwischenbilanz Juni 1997. kehr in Freiburg. Alba Publikationen, Düsseldorf. VEP Freiburg – Verkehrsentwicklungsplan Freiburg, Haag, Martin, 2007: Segen und Fluch des Ge- 2008. Verkehrsentwicklungsplan der Stadt meindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. In: Freiburg, Zugriff: www.freiburg.de/verkehr Wir gestalten Mobilität – 25 Jahre imo- [abgerufen am 15.05.2016]. ve an der TU Kaiserslautern, Band 68 der Grünen Reihe, 2007, Kaiserslautern. VDV – Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, 2000: Stadtbahnen in Deutschland, Bundes- Hass-Klau, Carmen; Crampton, Graham, 2002: ministerium für Verkehr-, Bau und Wohnungs- Future of Urban Transport. Learning from wesen. Alba Fachverlag, Düsseldorf. Success and Weakness: Light Rail. Bergische Universität, Gesamthochschule Wuppertal. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 501

Straßenbahn in Bremen und umzu Gunnar Polzin Iris Reuther Strategien und Projekte einer bürgerorientierten integrierten Stadtentwicklung

Die Straßenbahn ist in Bremen nicht nur ein Kernelement eines weiterentwickelten zu- kunftsfähigen Mobilitätsangebotes, sondern zugleich auch Standortfaktor für die Entwick- lung von Quartieren wie Wohnungsbaustandorten und zentraler Bestandteil des öffentli- chen Raumsystems der wachsenden Großstadt. Stadt- und Verkehrsplanung integriert zu betreiben, ist möglich und wird in Bremen praktiziert – sowohl auf der gesamtstädtischen Ebene als auch im stadtregionalen Kontext, auch zur besseren Erschließung der äußeren Stadt und der vielfältigen Innenentwicklungspotenziale. Wie die Beispiele belegen, kann das Straßenbahnnetz auf Basis integrierter Planwerke im intensiven öffentlichen Dialog erfolgreich erweitert werden.

Gesamtstädtische Planungen einem eigens für den Bremer Flächennut- für die wachsende Stadt zungsplan entwickelten Planzeichen – einer „Grünschraffur“ für bebaute Bereiche mit Die Freie Hansestadt Bremen verzeichnet entsprechenden Orientierungen für die ver- seit 2010 kontinuierlich steigende Einwoh- bindliche Bauleitplanung – zum Tragen. nerzahlen durch Reurbanisierung und eine massiv gewachsene Auslandszuwanderung. Sowohl dem Flächennutzungsplan als auch Mit aktuell 560.000 Einwohnern ist die dem VEP liegt ein räumliches Leitbild der Halbmillionenstadt entlang der die Gesamtstadt zugrunde, das die innere Stadt zehntgrößte deutsche Stadt. Stadtentwick- als urbanen, gut erschlossenen und dicht lung und Städtebau werden durch das be- genutzten Raum interpretiert. Das schließt merkenswerte Engagement der Kaufmann- die Innovationsräume – wie das Areal der schaft sowie den ausgeprägten Eigensinn Universität mit dem Technologiepark, die einer stolzen und diskursfreudigen Stadt- Überseestadt als großen Transformations- gesellschaft getragen. Diese hat sowohl das standort und die Airportstadt als Standort große Ganze, aber vor allem die konkreten des Luft- und Raumfahrtclusters – ein. Die Stadt- und Ortsteile mit eigenen Vertretun- breite Akzeptanz für eine solche Lesart der gen und zahlreichen Bürgerinitiativen im Freien Hansestadt Bremen rechts und links Blick. der Weser wurde durch das neue Innen- stadtkonzept unterstützt. Dieses Konzept 2015 hat die Stadtgemeinde Bremen einen orientiert sich nicht mehr an den histori- neuen Flächennutzungsplan aufgestellt, der schen Konturen der Altstadt, sondern an zugleich die Grundzüge eines neuen Land- den beiden Ufern des großen Flusses – den Dipl.-Ing. Gunnar Polzin schaftsprogramms integriert. Parallel wurde prägenden alten und neuen Wallanlagen ist Leiter der Abteilung Verkehr ein neuer Verkehrsentwicklungsplan (VEP) und schließlich den großen Linien der öf- beim Senator für Umwelt, Bau erarbeitet. Im Vergleich zu bis dato gültigen fentlichen Verkehrsinfrastruktur im Kontakt und Verkehr der Freien Hanse- Plänen soll es auf Basis dieser Planwerke mit dem Stadtkörper. stadt Bremen. [email protected] gelingen, den Siedlungsraum in der Summe zugunsten der Innenentwicklung zurückzu- Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungs- Prof. Dr. Iris Reuther nehmen. Hierfür wurden neue Wohnbau- nachfrageprognosen zeigen, dass die zu- ist Senatsbaudirektorin und flächen in integrierten, gut erschlossenen sätzliche Nachfrage in Bremen bis 2020 Leiterin des Fachbereichs Bau Lagen und gemischte Bauflächen als ent- bei 1.400 Wohnungen pro Jahr liegt. Hinzu und Stadtentwicklung beim Senator für Umwelt, Bau und sprechende Potenziale ausgewiesen. Die kommen die Wohnungsbedarfe von Flücht- Verkehr der Freien Hansestadt Kernaussagen des Landschaftsprogramms lingen und Zuwanderern. Aus diesem Grund Bremen. kommen in Freiraumverbindungen und gilt die Wohnungsbauoffensive als heraus­ [email protected]

502 Gunnar Polzin, Iris Reuther: Straßenbahn in Bremen und umzu

ragender Schwerpunkt der Stadtentwick- 1970er-Jahren dominierte in diesem Zu- lung von Bremen. Mit den Prämissen der sammenhang die „Mozart-Trasse“, die weit Innenentwicklung gemäß BauGB ist die ÖP- über Bremen hinausreichte. Sie richtete NV-Erreichbarkeit wesentliches Kriterium sich auf eine geplante Stadtautobahn, die der Standortentwicklung des Wohnungs- einen Tangentenring inklusive einer neuen baus. In Bremen gehören dazu ausdrücklich Weserbrücke um die erweiterte Innenstadt auch die Leistungsfähigkeit und der Ausbau schließen sollte. Diese Planungen legte die des Straßenbahnnetzes. Stadt nach heftigen Bürgerprotesten und innerparteilichen Auseinandersetzungen schließlich zu den Akten. Ein Fragment die- Entwicklung des Bremer Straßenbahn- ser Pläne der autogerechten Stadt ist die netzes als Teil des Verkehrssystems vierspurige Hochstraße am Breitenweg, die den Stadtraum der zentral gelegenen Bahn- In der Aufbauphase der zweiten Hälfte des hofsvorstadt zerschneidet und zugleich ein 20. Jahrhunderts realisierte die Stadt in markantes städtebauliches Ensemble mit Bremen mehrere markante Großwohnsied- Bürohochhäusern, Parkhäusern, Verwal- lungen, die zunächst nicht an die Straßen- tungsgebäuden und großen Kultureinrich- bahn angeschlossen waren; allen voran die tungen nachhaltig geprägt hat. Neue Vahr im Nordosten, aber auch eine Gartenstadt und einen ausgedehnten Sied- Das Bremer Hauptstraßennetz kennzeich- lungsbereich im Süden der Stadt. In dieser nen bis heute diese Brüche aus den 1970er- Wachstumsphase Ende der 1950er- bis An- Jahren. Mehrere vierspurige, planfrei geführ- fang der 1970er-Jahre dachten die Stadtent- te Zubringer enden zweispurig im zentralen wicklungsplaner recht intensiv über ein rei- und dicht bebauten Innenstadtgebiet; ein nes U-Bahn-System für Bremen nach. Erste weiterer Ausbau hat nicht stattgefunden. vorhandene Straßenbahnstrecken aus der Dies führt um die Innenstadt herum, auf Industrialisierungsphase, wie die nach Fin- den Radialen und Tangentialen, regelmäßig dorff und Woltmershausen, wurden parallel zu Staus. Dennoch ist der Stau in Bremen zu diesen Überlegungen stillgelegt. Heute nicht so intensiv wie in anderen Großstäd- werden diese Stadtteile von hochfrequen- ten, da die Bevölkerung immer weniger tierten Buslinien bedient; sodass diese sei- Auto fährt. Im Stauindex von TomTom, dem nerzeitigen Stilllegungen in der Gegenwart Hersteller von Navigationssystemen, belegt wieder hinterfragt und als mögliche Stra- Bremen aufgrund der insgesamt geringen ßenbahnstrecken in zwei Szenarien des VEP Staus im Straßennetz im Vergleich mit den für den Prognosehorizont 2025 untersucht anderen Großstädten regelmäßig gute Plät- und bewertet wurden. Nachdem eine echte ze. Der Aus- und Neubau des Straßennetzes U-Bahn nicht mehr zur Diskussion stand, beschränkt sich deshalb im Wesentlichen begann der Ausbau der Straßenbahnlinien auf Bundesfernstraßen. Herausragende Be- auf drei Abschnitten. Ende der 1960er-Jahre deutung hat hier der Autobahnringschluss gingen die ersten als Stadtbahnstrecken ge- der A 281 mit einem Wesertunnel. Dieses planten Linien in die Neue Vahr bis Block- Projekt wird seit drei Jahrzehnten geplant diek (1967) und anschließend bis Osterholz und gebaut; mittlerweile wird unter intensi- (1968) in Betrieb. Sie verkehrten jeweils auf ver Bürgerbeteiligung eine stadtverträgliche einem unabhängigen Bahnkörper. Mitte der Linienführung umgesetzt. 1970er-Jahre wurde dieser Netzausbau mit den Verlängerungen nach Huchting (1973) Der Radverkehr ist mit rund 25 % Anteil am und Arsten (1976) abgeschlossen. Damit Modal-Split in Bremen ein Teil der Alltags- erhielten fast alle großen Wohnungsbau­ kultur und gilt deshalb politisch weniger als standorte der Aufbauphase jeweils Straßen- zu fördernde Verkehrsart; bis 15 km Wege- bahnanschlüsse. Eine Ausnahme bildete länge ist das Rad bei Fahrten ins Stadtzen- die Großsiedlung in Osterholz-Tenever. trum schneller als der ÖPNV. Der Fußver- kehr muss in den mit traditionellen Bremer Parallel dazu sollte mit einer Unterpflas- Häusern geprägten Quartieren häufig sehr terstraßenbahn die Verkehrsinfrastruktur enge Gehwege nutzen, die es nur selten in der Innenstadt ausgebaut werden. Die ermöglichen, uneingeschränkt neben den öffentliche Auseinandersetzung in den Radfahrern zu gehen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 503

Abbildung 1 Reisezeitvergleich ÖV, MIV und Rad in Bremen

Quelle: SUBV

Ende der 1980er-Jahre machte die Hanse- stadt mit der „Bremer Karte“ – einer über- tragbaren Monatskarte für Straßenbahn- und Busfahrten mit vielen, bei Sammlern hoch gehandelten Motiven – regelrecht Furore. Zu Beginn der 1990er-Jahre gehörte Bremen neben Kassel und München dann zu den ersten Städten in Deutschland, die ihren Fuhrpark konsequent auf Niederflur- straßenbahnen umstellten. Die damalige Entscheidung, basierend auf den Erfahrun- gen mit einem dreiteiligen Prototyp einer 100 %-Niederflurstraßenbahn anschließend 77 vierteilige 100 %-Niederflur-Serienfahr- zeuge zu beschaffen, führte in Verbindung mit hohen Laufleistungen der Fahrzeuge zu nicht vorhersehbaren konstruktions- und Erste Niederflurstraßenbahn 1990 vor dem Bremer Rathaus Quelle: BSAG verschleißbedingten Mängeln. In der Folge steht nun eine vorzeitige, umfangreiche Er- satzbeschaffung von 67 Straßenbahnen an. neu geordnet und ein erster Verkehrsent- wicklungsplan erarbeitet wurde. Parallel Sowohl Anregungen von Bürger- und Ver- dazu diskutierte die Politik den Ausbau des kehrsinitiativen als auch politische Anfor- Straßenbahnnetzes. Ergebnis dieser Über- derungen sorgten Mitte der 1990er-Jahre legungen war der Bau einer neuen Linie 4 dafür, dass die Verkehrsplanung in Bremen nach Horn-Lehe. Der erste Abschnitt ging

504 Gunnar Polzin, Iris Reuther: Straßenbahn in Bremen und umzu

1998 in Betrieb. Ebenfalls im Jahr 1998 und Stadtentwicklungsgebiet der Überseestadt damit fast vier Jahrzehnte nach ihrer Grün- auf dem ehemaligen Hafenareal erschlossen dung erhielt die Universität Bremen mit der sie in einem ersten Abschnitt 2006, indem Verlängerung der Linie 6 eine Straßenbahn- sie eine nicht nachfragegerechte Bündelung anbindung. Die Ansiedlung eines Techno- zweier Linien aufteilten. Seither entwickelt logieparks mit hochkarätigen Forschungs- sich dieser Standort für Dienstleistungen instituten und Produktionsstätten hatte und Wohnungsbau ausgesprochen dyna- letztlich den Ausschlag dafür gegeben, dass misch. Neben hochpreisigem Wohnungs- die erhöhten Anforderungen an eine leis- bau für das Eigentumssegment wurden die tungsfähige ÖPNV-Anbindung in das neue ersten großen Projekte mit gefördertem gesamtstädtische Konzept einflossen. Mietwohnungsbau realisiert. In dem An- fang 2016 vom Bremer Senat beschlossenen Sofortprogramm ist die Überseestadt ein Integrierte Stadt- und Verkehrsplanung aktueller Wohnungsbauschwerpunkt, so- als Basis für den Ausbau der Straßen- dass ein neues Verkehrskonzept und damit bahn auch die Verbesserung der ÖPNV-Anbin- dung für die neuen Wohnungsbaustandorte Die Einbindung der Straßenbahnplanung untersucht werden. in die Baubehörde hat sich in Bremen als Erfolgsfaktor bewährt. Um Planung und Die Straßenbahnstrecke durch die Neue Bau des Straßenbahnnetzes kümmern sich Vahr wurde bis 2013 erheblich verlän- in Bremen der Senator für Umwelt, Bau und gert und schloss die im Bundesprogramm Verkehr und das der senatorischen Behörde Stadtumbau West sanierte, zum Teil sogar nachgeordnete Amt für Straßen und Ver- zurückgebaute Großwohnsiedlung Tene- kehr. Die Zusammenarbeit mit der Bremer ver erstmalig durch eine Straßenbahn an. Straßenbahn AG erfolgt sehr kooperativ; sie Weiterhin wurde das Einkaufszentrum ist in die Projekte eng eingebunden. Das „Weser-Park“ erschlossen. Seit 2013 ist es Projektmanagement erfolgt in der Regel am Bahnhof Mahndorf möglich, in den durch die BSAG-Tochter Consult Team Bre- Regional-Express nach Hannover, Bremer- men (CTB). haven oder Oldenburg und in die S-Bahn umzusteigen. Basierend auf dem ersten Bremer VEP nah- men die verantwortlichen Akteure weitere Die Verlängerungen der Straßenbahnlinien Ausbaustrecken im Straßenbahnnetz in An- über die Stadt- und Landesgrenze hinaus in griff. Die realisierten Entwicklungsschwer- die niedersächsischen Nachbargemeinden punkte lagen im Süden (Verlängerung nach haben unterschiedliche Planungsgeschich- Arsten-Süd 1998) und im Nordosten (Ver- ten. Die Verlängerung der Linie vom Bremer längerung nach Borgfeld 2002). Das große Stadtteil Borgfeld in die niedersächsische

Straßenanbindung in der Überseestadt Quelle: BSAG Eröffnung des Bahnhofes Mahndorf an der Endhaltestelle Quelle: BSAG Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 505 Abbildung 2 Abbildung des Bremer Straßenbahnnetzes 1939-2014 Entwicklung Historische Quelle: BSAG

506 Gunnar Polzin, Iris Reuther: Straßenbahn in Bremen und umzu

Der Planungsprozess zum VEP setzt sich aus fünf Bearbeitungsphasen zusammen, an denen die Stadt die Bürger intensiv be- teiligte. Das Beteiligungskonzept umfasste folgende Module: Regionale Bürgerforen; Regionalkonferenzen der Beiräte; Inter- net; interne Abstimmung im Senatsressort Umwelt, Bau und Verkehr; Beteiligung aller Senatsressorts und der Träger öffentlicher Belange. Die verantwortlichen Akteure ent- wickelten das Beteiligungskonzept frühzei- tig und erörterten es vor Beschlussfassung durch die Baudeputation auf vier Terminen – davon zwei mit der „Beirätekonferenz“ mit in der Regel je zwei Vertretern aller 22 Stadtteilbeiräte. Alle Beteiligungen erfolg- ten aus Termingründen parallel. Die Inten- Verlängerung Linie 4 nach Lilienthal – hier die Bauarbeiten Quelle. BSAG sität der Beteiligung in fünf Phasen und die Anforderung, den VEP-Erarbeitungsprozess aufgrund der Wahlen zur Bremischen Bür- gerschaft spätestens vor der Sommerpause Nachbargemeinde Lilienthal war dort poli- 2014 abzuschließen, ließen kein gestaffeltes tisch schwer umkämpft. Als Ortsumgehung Vorgehen zu. wurde eine Entlastungstraße gebaut. Im Sommer 2014 ging die Straßenbahnverlän- In der Phase der Zieldiskussion führten gerung nach etwa 20 Jahren Planungsge- die verantwortlichen Akteure zwei zentra- schichte in Betrieb. le Bürgerforen durch. In den anschließen- den Planungsphasen gab es fünf regiona- Sowohl durch die beschriebenen Ausbau- le Termine, an denen die Verwaltung und vorhaben, als auch durch – im Vergleich zu der Gutachter ein regionales Bürgerforum anderen Städten – eher punktuelle Stillle- durchführten und einige Wochen später gungen von Strecken verfügt Bremen damit fünf weitere Termine, an denen ein Regio- in weiten Teilen der inneren Stadt über ein nalausschuss unter der Leitung der jeweili- sehr dichtes und durch die ausschließliche gen Beiräte stattfand. In der Phase der Dis- Führung an der Oberfläche auch im Stadt- kussion des Handlungskonzepts ergänzten raum präsentes Straßenbahnnetz. So wer- die Planer das Beteiligungsspektrum durch den der unmittelbare Zentrumsbereich mit aufsuchende Beteiligung in mehreren Ein- der Domsheide als „guter Stube“ der Stadt kaufszentren. wie auch der Hauptbahnhof mit zahlrei- chen Straßenbahnlinien erschlossen und Die Einführung eines Projektbeirats führte im öffentlichen Raum sichtbar mitgestaltet, dazu, dass es in der Deputation und in der ebenso viele der angrenzenden Stadterwei- Öffentlichkeit keine relevanten Auseinan- terungen. dersetzungen zum VEP gab. Die intensive Aufbereitung von Themen für die Beteili- gung wirkte zugleich als interne Qualitäts- Der neue VEP 2025 sicherung – die Methodik musste den Bür- gern und Fachpolitikern gleichermaßen Der gestalterische Wille einerseits und der verständlich vermittelt werden. Wunsch nach Verlässlichkeit der Verkehrs- politik andererseits führten Mitte 2011 zur Der ÖV wurde in zwei Szenarien des VEP Entscheidung, einen neuen Verkehrsent- besonders intensiv untersucht: zum einem wicklungsplan für Bremen zu erarbeiten. In im Szenario ÖV-Offensive, zum anderen diesem Rahmen wurde in den Jahren 2012 in Kombination mit Fahrrad- und Fußver- bis 2014 auch der weitere Ausbau des Stra- kehrsmaßnahmen. Aufgrund der Reisezeit- ßenbahnnetzes abgestimmt. verhältnisse und der geringen durchschnitt- lichen Wegelänge der Bremer Bevölkerung wurde von der Aufnahme mehrerer avisier- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 507

Abbildung 3 Prozessablauf VEP Bremen

Quelle: SUBV

ter Straßenbahnverlängerungen und Stre- der Maßnahme und den Perspektiven der cken in das Handlungskonzept abgeraten. vor Ort Betroffenen ab: Wie sieht die Nut- Zudem verlagert der im VEP untersuchte zung entlang der Straßenbahntrasse aus? und beschlossene Ausbau der S-Bahn mit Verläuft sie durch Gewerbegebiete? Welche Taktverdichtung und zusätzlichen Halte- Baustrukturen und Wohnformen umfassen punkten das Fahrgastpotenzial auf einigen der Bestand und die angrenzenden Ent- Achsen teilweise weg von der Straßenbahn, wicklungsstandorte (Geschosswohnungs- da die S-Bahn mit höheren Reisegeschwin- bau, Einfamilienhäuser)? Welche Struktur digkeiten punkten kann. haben die öffentlichen Räume und Grün- flächen? Welche Betroffenheiten (Immis- sion, Weg-Zeit-Beziehungen) sind zu be- Netzausbau als Entwicklungspfad rücksichtigen? Wie kann die Straßenbahn für Stadtteile stadtteilverträglich geplant und gebaut werden? Diese Fragen sind in den kom- Der VEP 2025 unterscheidet im Handlungs- menden Jahren zu beantworten, wenn der konzept drei Pfade (vgl. Abb. 4), die von der Straßenbahnausbau als wichtiger Baustein finanziellen Ausstattung abhängig sind. Die nachhaltiger Mobilität weiter vorankom- Finanzierung des Straßenbahnausbaus im men und in die Stadtteilentwicklung sowie oberen Pfad ist durch die Entscheidungen die Standortentwicklung des Wohnungs- des Bundes und der Länder, das GVFG- baus integriert werden soll. Die Anforde- Bundesprogramm über den 1. Januar 2020 rungen an eine nachhaltige Stadt- und hinaus zu verlängern, sowie in Verbindung Verkehrsentwicklung sind umsetzbar, wenn mit der Fortschreibung der Regionalisie- Planung und Politik einen zielorientierten rungsmittel gegeben. Somit lassen sich alle Dialog mit der Bevölkerung führen. Diese avisierten Maßnahmen planen. Parallel zu Prozesse sind aufwendig, aber möglich, wie den Planungsphasen findet die Bürgerbe- die Beispiele aus Bremen zeigen. An dieser teiligung statt. Das Ziel und die Formate Stelle werden einige Projekte genauer be- dieser Bürgerbeteiligung hängen dabei von leuchtet.

508 Gunnar Polzin, Iris Reuther: Straßenbahn in Bremen und umzu

Abbildung 4 verbindung in die Innenstadt und weitere Drei finanzielle Entwicklungspfade des VEP Stadtteile, die es bisher nicht gibt. Massi- ve Proteste im Stadtteil und innerhalb der Bremer Stadtpolitik, auch auf Seiten der Regierungsfraktionen, führten schließlich – eingebunden in einen zähen, da zu spät begonnenen Beteiligungsprozess – zu einer Reihe von Kompromissen in der Strecken- führung. Diese sind verkehrlich und städte- baulich nicht optimal, aber vertretbar, und gefährdeten die Wirtschaftlichkeit der Maß- nahme und somit die Förderfähigkeit nicht. An dieser Stelle zeigt sich die Diskrepanz zwischen der sukzessiven Entwicklung einer Straßenbahn in einem bestehenden Wohn- quartier und Auswirkungen auf die städte-

Quelle: SUBV bauliche Einbindung der neuen Trassen.

Die Verlängerung der Linie 1 nach Mittels- huchting verläuft teilweise gemeinsam mit Eine Straßenbahn durch Huchting der geplanten Verlängerung der Linie 8 in in die Nachbargemeinden die Gemeinden Stuhr und Weyhe über die Gleise der Bremen-Thedinghauser Eisen- Im Bremer Süden enden die Straßenbahn- bahn. Dieses interkommunale Projekt ent- linien seit 1976 am Ortsrand von Huchting wickelt der Bremer Senator für Umwelt, am Roland-Center, dem ersten ECE-Ein- Bau und Verkehr federführend. Zu allen we- kaufcenter von Bremen. Der Plan, die Stra- sentlichen Punkten sind Gremienentschei- ßenbahn durch die bestehenden vier- und dungen in Bremen, Stuhr und Weyhe er- fünfgeschossigen Siedlungsbauten des in forderlich. Die Öffentlichkeitsarbeit erfolgt den 1960er-Jahren geprägten Stadtteils zu gemeinsam. Der Planfeststellungsbeschluss verlängern, wurde in der Trassenführung in Niedersachsen kann erst vollzogen wer- mehrfach geändert. Die Bevölkerung wollte den, wenn dieser auch für den Bremer Ab- ihr Ringbussystem, das im Betrieb teurer ist schnitt vorliegt. Mit der Fertigstellung der als die zukünftige Straßenbahn, unbedingt Linie im Jahr 2019 entsteht für diese stadt- behalten. Die Straßenbahnverlängerung regionale Verbindung eine attraktive Alter- bietet jedoch eine umsteigefreie Direkt- native zum Pkw.

Abbildung 5 Visualisierung Linie 1 auf der Heinrich-Plett- Visualisierung Linie 1 und 8 auf der Bremen- Allee in Huchting Thedinghauser Eisenbahn in Huchting Quelle: SUBV Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 509

Querverbindung Ost Abbildung 6 Visualisierung Querverbindung Ost Ebenfalls bis zum Jahr 2019 wird die Quer- verbindung Ost realisiert. Diese verknüpft die Innenstadt und die östliche Vorstadt direkt mit der Neuen Vahr und bietet er- hebliche Fahrzeitverbesserungen von der Vahr in die Innenstadt und in das beliebte Bremer „Viertel“, einem urbanen Stadtteil mit vielen inhabergeführten Geschäften so- wie umfangreichen gastronomischen und kulturellen Angeboten. Zudem verringert es den Betriebsaufwand im Verkehrsbetrieb um rund 400.000 € jährlich. Neben der bes- seren Verknüpfung der Großwohnsiedlung, in der eine städtebauliche Arrondierung der Wohnbauten ansteht, mit der Innenstadt kann diese neue Linienführung die ÖV-Er- reichbarkeit weiterer städtebaulicher Ent- Quelle: SUBV wicklungsbereiche verbessern. Dazu gehört insbesondere das Neue Hulsbergviertel auf einem bis dato als Klinik genutzten Areal, in dem bis zu 1.200 neue Wohnungen realisiert Die Straßenbahn als werden sollen. Schließlich verbessert eine Aufwertungsstrategie für Stadtteile attraktive Querverbindung in diesem Teil und Wohnungsbaustandorte der Stadt auch die Verbindungen zwischen Wohn- und Arbeitsplatzgebieten sowie die Im Ergebnis des VEP (vgl. Abb. 7) stehen die Erreichbarkeit der großen Freizeitbereiche Verlängerung der Linie 2 vom Weserwehr (E entlang der Weser. 3 + E 4) über Sebaldsbrück und Osterholz weiter zum Bahnhof Mahndorf, eine zwei- Dieses Projekt wurde aufgrund der Erfah- te Anbindung der Universität (E 5) über rungen in Huchting von Planungsbeginn die Linie 8, eine Linienverknüpfung der an in einem Arbeitskreis mit Stadtteilbeirat, Linien 4 und 6 (E 2) und die Verlängerung ADAC und Handelskammer sowie auf drei der Linien 3 und 10 über Gröpelingen bis Bürgerforen kommuniziert. Nach einem zum Bahnhof nach Oslebshausen (E 1) an. noch teilweise konfrontativen ersten Infofo- Entlang dieser Linien sind in den kommen- rum gestalteten die verantwortlichen Akteu- den Jahren Wohnungsbauvorhaben und re das zweite und dritte Forum als „Lernen Schwerpunkte der Stadtentwicklung vorge- an Stationen“; an mehreren thematisch ge- sehen. Für die Programmgebiete der Städ- gliederten Informationsbereichen erläuter- tebauförderung wurden deshalb integrierte ten sie unter anderem die Signalsteuerung, Entwicklungskonzepte erarbeitet und kon- die Baumstandorte und Ersatzpflanzungen, krete Projekte entwickelt, die die Straßen- den Straßenraumentwurf, die Ergebnisse bahntrassen in die Stadträume einbinden der Lärmschutzuntersuchungen und mög- und Haltestellen sowie Umsteigepunkte liche Ansprüche daraus, den Bauablauf, gestalten sollen. Diese Schnittstellen fun- den Ablauf des Planfeststellungsverfahrens gieren als ausgezeichnete Stadtteilentwick- und das veränderte Liniennetz. Fragen wur- lungsmotoren. Sie generieren neue Adres- den im persönlichen Gespräch ausführlich sen im öffentlichen Raum mit einem hohen und sachlich beantwortet. Raum für Pole- Aufwertungspotenzial für die angrenzen- mik und Agitation gegen den Umbau gab es den Quartiere. Dabei müssen technische dabei kaum; die wenigen Gegner versam- Maßnahmen des Gleisbaus und der bau­ melten sich draußen vor der Tür. lichen Ausgestaltung der Haltestellen- und Servicebereiche mit den Qualifizierungen der jeweiligen Straßen- und Platzräume verknüpft werden. In der Regel werden die Kommunikationsprozesse zwischen den Akteuren der Verwaltung, den Beirä-

510 Gunnar Polzin, Iris Reuther: Straßenbahn in Bremen und umzu

Abbildung 7 VEP Handlungskonzept – Maßnahmen Straßenbahnnetzausbau

Quelle: SUBV

ten sowie der Bevölkerung deshalb mit den im ÖV-Netz und öffentlichen Raum des Planungen verknüpft. Zur Gestaltung we- Stadtteils grundlegend qualifiziert werden. sentlicher Architekturobjekte und Freirau- Neben einem Flächengewinn für die Hal- melemente werden Wettbewerbsverfahren testellen- und Verkehrsbereiche wurde der durchgeführt oder ausgewiesene Architek- Stadtraum wesentlich übersichtlicher und ten beauftragt. Die Projekte haben Signal- vielfältiger nutzbar gestaltet. Kernstücke wirkung für das städtebauliche Umfeld und sind die zentrale Umsteigeanlage mit den sind Anknüpfungspunkte, um Stadtquar- durch das Architekturbüro Hild und K ge- tiere aufzuwerten und neue Wohnquartiere stalteten Fahrgastunterständen, die einen zu entwickeln. Dies lässt sich an folgenden optischen Bezug zum ebenfalls neu gestal- beiden Beispielen verdeutlichen. teten Stadtplatz und zum Huckelrieder Park herstellt. Diese Lösung wurde in einem intensiven Beteiligungsprozess entwickelt Endhaltestelle Huckelrieder Park und wirkt inzwischen als Katalysator für die Entwicklung eines neuen Wohnquar- Die am Rand des Huckelrieder Parks lie- tiers am Niedersachsendamm. Sie schließt gende Haltestelle der Straßenbahnlinien 4 zukünftig auch die etwa 900 m entfernte und 5 sowie Umsteige- und Endhaltestel- Gartenstadt Werdersee mit etwa 600 neuen le mehrerer Stadt- und Regionalbuslinien Wohnungen an den ÖV an. war einschließlich der zugehörigen Bauten und technischen Anlagen stark sanierungs­ bedürftig. Deshalb wurde dieser Bereich Schaufenster und Hotspots Gröpelinger in einer städtebaulichen Sanierungsmaß- Heerstraße nahme in die Entwicklung einer neuen Quartiers­achse integriert und umfassend Die Heerstraßen stellen als Verkehrsverbin- saniert. Damit konnte eine funktional be- dungen und ÖV-Trassen zentrale und ad- deutsame und identitätsstiftende Adresse ressbildende Schaufenster für die Stadtteile Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 511

Haltestelle Huckelriede: Vorher – Nachher Quelle: BSAG

Fazit im Bremer Westen dar. Sie wurden deshalb Stadtentwicklung und Verkehrsplanung als Leitprojekte in einem integrierten Stadt- auf der Ebene der Gesamtstadt, Qualifizie- teilentwicklungskonzept für Gröpelingen rungen und Erweiterungen des Straßen- ausgemacht. Unter anderem die Stadt- und bahnnetzes sowie Stadtteil- und Stand- Verkehrsplanung, aber auch Vertreter der ortentwicklung in Bezug auf die Trassen, BSAG und Immobilieneigentümer als An- Knotenpunkte und Haltestellenbereiche rainer identifizierten in einem interdiszipli- greifen eng ineinander. Die Straßenbahn nären Planungs- und Kommunikationspro- ist damit Teil eines zukunftsfähigen Mo- zess Hotspots entlang der Heerstraße, die bilitätsangebotes, aber zugleich Standort- als Schnittstellen zwischen Haltestellen und faktor für die Entwicklung von Quartieren wichtigen Wegeverbindungen im Stadtteil wie Wohnungsbaustandorten und schließ- qualifiziert werden sollen. Eine besondere lich zentraler Bestandteil des öffentlichen Herausforderung stellen dabei die besse- Raumsystems der wachsenden Großstadt. ren Querverbindungen über die trennen- Sie ist in vielfältiger Weise sichtbar und den Gleisanlagen hinweg dar. Deshalb ist es prägend für den Stadtraum. Stadt- und wichtig, verkehrstechnische, gestalterische Verkehrsplanung integriert zu betreiben, und städtebauliche Aspekte zu verknüpfen ist möglich und wird in Bremen prakti- und in Projekten zu bündeln. ziert – sowohl auf der gesamtstädtischen Ebene und im stadtregionalen Kontext als auch zur besseren Erschließung der äuße- ren Stadt und der vielfältigen Innenent- wicklungspotenziale. In Bremen kommt die Straßenbahn als Instrument der Stadt- entwicklung traditionell und offensiv zum Einsatz.

Abbildungs- und Fotoquellen:

BSAG = Bremer Straßenbahn AG

SUBV = Der Senator für Umwelt, Bau und Verkehr Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 513

Stadtbahnausbau in Braunschweig Klaus Benscheidt Michael Krech Ein offener Prozess Heinz-Georg Leuer

Die Stadt Braunschweig untersucht stadtweit ihr Stadtbahnnetz auf sinnvolle wirtschaft­ liche Erweiterungen und erstellte aus 230 Einzelvorschlägen aus der Bevölkerung ein Stadt­ bahnausbaukonzept. In zwei Stufen erarbeitete sie partizipativ ein Konzept mit sechs mög­ lichen Trassenkorridoren, das vom Rat beschlossen wurde. In einer dritten Stufe werden alle Trassenkorridore des Stadtbahnausbaukonzeptes auf ihre Wirtschaftlichkeit unter­ sucht. Auf dieser Basis wird eine fundierte Grundlage für die politische Auseinandersetzung über den weiteren Ausbau des Stadtbahnnetzes zur Verfügung stehen. Die ganzheitliche Herangehensweise des stadtweiten Stadtbahnausbaukonzeptes führt zu verkehrlich, städ­ tebaulich und betrieblich sehr unterschiedlichen sinnvollen Stadtbahntrassen

Mit rund 250.000 Einwohnern bildet das des Autos und hin zum Umweltverbund Oberzentrum Braunschweig als zweitgrößte ein klassisches Verkehrsplanungsthema ab. Stadt in Niedersachsen das Herz der Regi- Der Radverkehrsanteil stieg innerhalb von on Braunschweig. Der Trend, in die Stadt 17 Jahren um rund die Hälfte auf 21 % der zu ziehen – und dort in die zentralen La- Wege an (WVI 2012: 9). gen –, ist hier deutlich ausgeprägt. Damit wächst nicht nur die Gesamtmobilität, sondern auch das Bedürfnis nach stadtver- „Die an einzelnen Teilstrecken und träglicherem Verkehr. Die mit diesem Trend teilweise ideologisch geführten verbundene Verdichtung bietet also zum ei- Diskussionen blieben letztlich nen gute Voraussetzungen, einen leistungs­ stets ergebnislos.“ fähigen ÖPNV weiterzuentwickeln, macht Dipl.-Ing. Klaus Benscheidt es zum anderen aber auch notwendig. Be- leitet seit 2012 den Fachbe- reits in den letzten Jahrzehnten wurden im In diesem Kontext wird in Braunschweig reich Tiefbau und Verkehr in Braunschweig. Er ist Prüfer für Stadtbahnnetz, in dem derzeit fünf Linien seit einigen Jahren kontrovers über den Stadtbauwesen-Referendare auf insgesamt 40 km Gleisstreckennetz ver- weiteren Ausbau der Stadtbahn diskutiert. und war Projektleiter für die kehren, immer wieder Erweiterungs- und Die an einzelnen Teilstrecken und teilweise Erstellung des Stadtbahnaus- Ausbaumaßnahmen umgesetzt. ideologisch geführten Diskussionen blieben baukonzeptes. dabei letztlich stets ergebnislos. Dies gilt klaus.benscheidt@ braunschweig.de Die Region Braunschweig mit großen For- auch für die politische Auseinandersetzung schungszentren und Unternehmen der über eine Verlängerung der Stadtbahnlinie Dipl.-Ing. Michael Krech Fahrzeugtechnik, der Luft- und Raumfahrt 3, die derzeit vor dem Stadtteil Volkmarode Baudirektor a. D., studier- und des Bahnwesens, mit Forschungsflug- im Osten der Stadt endet. Die Verlängerung te Bauingenieurwesen an hafen, Hochschule Ostfalia und TU Braun- war als Ergänzung eines neuen Wohnge- der Technischen Universität Braunschweig. Nach Tätigkeiten schweig gilt als Verkehrskompetenzregion. biets konzipiert worden. Bewohner des in Wolfsburg und bei der Lan- Braunschweigs Straßennetz dient über die neuen Gebiets erwarten die im Bebauungs- deshauptstadt München war er Anwendungsplattform Intelligente Mobi- plan berücksichtigte Verlängerung bis in ihr von 1989 bis 2016 bei der Stadt lität unter anderem als Reallabor für Ver- Quartier. Andererseits ergab eine von dieser Braunschweig für die Verkehrs- kehrstechnik und autonomes Fahren. Der Verlängerung losgelöste Standardisierte Be- planung zuständig. [email protected] technologische Fokus auf das Thema Mo- wertung ein schwaches Nutzen-Kosten-Ver- bilität prägt das Bewusstsein in der Region. hältnis. Eine Förderung war auf dieser Basis Dipl.-Ing. Heinz-Georg Leuer Projekte wie ein Umweltorientiertes Ver- ausgeschlossen. leitet seit 2012 als Stadtbaurat kehrsmanagement (UVM) und induktiv- das Bau- und Umweltschutz- ladende Elektrobusse („Emil“) untermau- Die Verhältnisse um die Stadtbahnverlänge- dezernat. Seit 2014 ist er Mitglied im Aufsichtsrat der ern die technologische Vorreiterrolle. Paral- rung in Volkmarode warfen die Frage auf, ob Braunschweiger Verkehrs- lel zeichnet sich für Braunschweigs Mobili- – wenn in den Ausbau des Stadtbahnnetzes GmbH.heinz-georg.leuer@ tät mit der Tendenz weg von der Dominanz investiert werden soll – dieses das richtige braunschweig.de

Klaus Benscheidt, Michael Krech, Heinz-Georg Leuer: 514 Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess

Projekt wäre und ob nicht andere Projek- Die Partner te oder Kombinationen von Teilprojekten ganz andere volkswirtschaftliche Vorteile An den Fachplanungen beteiligen sich fol- erbringen würden. In der Folge beauftrag- gende Akteure: te der Rat die Stadtverwaltung 2013 über die unterschiedlichen verkehrsplanerischen • Stadt Braunschweig, Bau und Umwelt- Positionen hinweg mit breiter Mehrheit, das schutzdezernat gesamte Stadtbahnnetz auf sinnvolle Erwei- terungen und Ergänzungen zu untersuchen • Braunschweiger Verkehrs-GmbH, Ver- und so eine fundierte Entscheidungsgrund- kehrsunternehmen lage zu schaffen (Stadt Braunschweig 2013). Das Stadtbahnausbaukonzept liegt inzwi- • Zweckverband Großraum Braunschweig schen beschlossen vor (Stadt Braunschweig ZGB, Aufgabenträger ÖPNV 2014b). Aktuell laufen Wirtschaftlichkeits- untersuchungen. • Ingenieurbüro WVI GmbH, Braun- schweig

Das Ziel • Ingenieurbüro BPR GmbH, Hannover

Ziel des Stadtbahnausbaukonzeptes mit • Verwaltungsvertreter aus den Bereichen den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen ist Schule, Sport, Statistik und Gleichstel- es, eine fundierte Entscheidungsgrundlage lung für zukünftige Investitionen zu haben.

Das Beteiligungsverfahren „Die fachliche Erarbeitung des Stadtbahn- ausbaukonzeptes ist klar getrennt vom Die fachplanerische Bearbeitung wird politischen Interesse am weiteren Ausbau durchgehend von der Bevölkerung beglei- des Stadtbahnnetzes.“ tet, um deren Bedürfnisse möglichst früh- zeitig und möglichst direkt in die Bearbei- tung einfließen zu lassen. Seine fachliche Erarbeitung ist klar vom politischen Interesse am weiteren Ausbau des Stadtbahnnetzes getrennt. Diese Tren- Ideensammlung nung spiegelt sich in der Methodik der Bearbeitung wieder, die frei von Vorfest- Noch vor allen fachplanerischen Überle- legungen rein nach fachplanerischen und gungen wurde die Braunschweiger Bevölke- wirtschaftlichen Kriterien erfolgt. Dieses rung informiert und gebeten, Wünsche und Vorgehen erlaubt den Fachplanern unbe- Ideen zum Stadtbahnausbau einzubringen. einflusstes Arbeiten und verschafft allen Insgesamt gingen innerhalb von zwei Wo- politischen Entscheidungsträgern für die chen 230 (!) Vorschläge für Neubau(-Teil-) noch bevorstehende politische Beratung – strecken im gesamten Stadtgebiet und nur unabhängig von ihrer Position zum Stadt- sehr wenige ablehnende Rückmeldungen bahnausbau – eine vollwertige und neutrale ein. Da sich Fachleute aus dem Verkehrs- Entscheidungsgrundlage. sektor in Braunschweig auch ehrenamtlich zusammengeschlossen haben, wurden ne- Im Ratsauftrag ist das Ziel wie folgt formu- ben Vorschlägen für Einzelprojekte netz- liert: „Ziel dieser Untersuchungen ist es, aus weite umfassende Betrachtungen vorgelegt. den Planfällen des Stadtbahnausbaukon- Diese ließ sich die Stadtverwaltung von zeptes ein nach den Kriterien der Standar- den Autoren zusätzlich erläutern. Auffällig disierten Bewertung förderfähiges und in war, dass die Bevölkerung und die ehren- den Folgekosten beherrschbares zusam- amtlichen Fachleute sämtliche aus Sicht menhängendes Erweiterungsnetz abzulei- der Fachplaner prüfenswerten Teilstrecken ten“ (Stadt Braunschweig 2014b: 6). bereits vorgeschlagen hatten. Die 230 Vor- schläge aus dem Beteiligungsprozess wur- den vollständig als Grundlage für die Fach- planungen berücksichtigt. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 515

Information und Austausch Abbildung 1 Stadtbahnausbaukonzept mit allen Bürgervorschlägen Vor der politischen Entscheidung über die einzelnen Bearbeitungsstufen des Kon- zeptes zum Stadtbahnausbau wurden die Zwischenergebnisse öffentlich präsentiert und zur Diskussion gestellt. Die Rückmel- dungen aus der Bevölkerung, die direkt in den Informationsveranstaltungen oder im Nachgang schriftlich gegeben wurden, waren ganz überwiegend konstruktiv und flossen in die anschließende politische Be- ratung ein. Regelmäßig nehmen auch Ver- treter des Rates und der Stadtbezirksräte an den öffentlichen Informationsveranstal- tungen teil, stehen als Ansprechpartner zur Verfügung und bekommen einen direkten Eindruck von den Rückmeldungen aus der Bevölkerung. In diesen Veranstaltungen zeigt sich regelmäßig, dass die ergebnis­ offene Position der Fachverwaltung eine gute Grundlage für einen sachlichen Aus- tausch im Beteiligungsprozess bietet.

Die Stadt Braunschweig machte wie auch schon bei anderen Projekten sehr gute Er- fahrungen mit dieser konsequenten Art der Bürgerbeteiligung. Der offene Austausch mit der Bevölkerung, deren Überlegungen in der Arbeit der Stadtverwaltung und in der politischen Beratung Berücksichtigung finden, zieht sich über alle Projektstufen und kostet teilweise viel Zeit. So gelingt es Stadtbahnausbaukonzept Braunschweig Bürgervorschläge für zukünftige Stadtbahntrassen Bestandsstrecken vorgeschlagene Trassen jedoch regelmäßig, auch in schwierigen (insgesamt 230 Streckennennungen) Konstellationen Lösungen zu finden, die Quelle: WVI 2013: 9 politisch und gesellschaftlich mitgetragen werden.

Bürgerinformation 2013 zum Stadtbahnausbaukonzept Quellen: Stefan Vockrodt, SHP Ingenieure

Klaus Benscheidt, Michael Krech, Heinz-Georg Leuer: 516 Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess

Werden die aktuellen Planungen für die in Betrieb ist (Höltge 1997: 9). In der Nach- Stadtbahn in Braunschweig im Kontext der kriegszeit blieb die Straßenbahn mit der Stärkung des Umweltverbundes und der heute in Deutschland einmaligen Spur- stadtentwicklungspolitischen Rahmenbe- weite von 1.100 mm erhalten. Der 1960 in dingungen betrachtet, dann zeichneten sich Betrieb genommene neue Hauptbahnhof bereits in vorhergehenden Entwicklungs- wurde angebunden. Weitere Netzausbau- phasen einige wichtige Weichenstellungen ten folgten. Zwischenzeitliche Planungen, ab. Diese erleichtern es heute, die anste- mit einer die Stadtbahn und die Eisenbahn henden Aufgaben zur Weiterentwicklung verbindenden RegioStadtBahn das Umland einer leistungsfähigen und städtebaulich zu erschließen, wurden vom Zweckverband integrierten Stadtbahn für Braunschweig Großraum Braunschweig (ZGB) – dem Auf- mit dem aktuellen Stadtbahnkonzept anzu- gabenträger für den ÖPNV im Verbandsge- gehen. biet auf Schiene und Straße – 2010 aus wirt- schaftlichen Gründen beendet. Ein späterer Ausbau zu einer RegioStadtBahn bleibt al- Rückblick lerdings Perspektive des ZGB.

Die Stadtbahn in Braunschweig Die Braunschweiger Stadtbahnen fahren zwar auf Sicht und abschnittsweise auf stra- Historisch geht die Stadtbahn in Braun- ßenbündigem Bahnkörper, den auch der schweig auf eine Pferdebahn von 1879 so- Kraftfahrzeugverkehr benutzt. Inzwischen wie eine erste elektrische Straßenbahnlinie verlaufen aber 81 % des Netzes auf beson- in die Nachbarstadt Wolfenbüttel aus dem derem Bahnkörper. An Knotenpunkten ist Jahr 1897 zurück, die seit 1954 nicht mehr die Stadtbahn bevorrechtigt. Nahezu alle Haltestellen sind niederflurgerecht ausge- baut, voraussichtlich ab 2019 ist auch die Stadtbahnflotte vollkommen barrierefrei.

Tramino Braunschweig auf der Linie 3 nach Volkmarode Prioritätenkonzept Stadtbahnplanung 1992 – Praxisbeispiele

Ebenso wie beim aktuellen Konzept zum Stadtbahnausbau wurden auch für die letz- ten Stadtbahnausbauten in Braunschweig gesamtstädtische konzeptionelle Planun- gen vorangestellt. Diese fasst ein Prioritä- tenkonzept zusammen (Stadt Braunschweig 1992), in dem fast alle Projekte der Priori- tätsstufen 1a, 1b und 2 umgesetzt wurden (vgl. Abb. 2).

Aufbauend auf dem Prioritätenkonzept zur Stadtbahnplanung von 1992 wurden in gut 20 Jahren etwa 300 Mio. DM in das Braunschweiger Stadtbahnnetz investiert. Die Maßnahmen wurden mit fast 170 Mio. DM gefördert. Beispielhaft ist der Ausbau der Stadtbahnlinie 1 von Wenden im Nor- den bis Stöckheim im Süden der Stadt. Der letzte Teilabschnitt wurde 2006 in Be- trieb genommen. Im Stadtteil Stöckheim verläuft die Stadtbahn entlang der und im letzten Abschnitt teilweise auf der zentra- len Hauptverkehrsstraße Leipziger Straße. In Teilabschnitten folgt sie damit der ersten

Foto: Braunschweiger Verkehrs-GmbH 2015 Foto: Braunschweiger Verkehrs-GmbH elektrischen Straßenbahn von 1897. Nach Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 517

Abbildung 2 Übersicht Prioritätenkonzept Stadtbahnplanung 1992

Prioritäts- Neubau oder stufe Projekt Ausbau Länge Inbetriebnahme 1a Humboldtstraße / Fallersleber Straße Ausbau 0,8 km November 2011 1a Gliesmaroder Straße Ausbau 1,5 km November 2001 1a Wendentor – Ring Neubau 0,7 km August 1999 1a Fr.-Wilh.-Straße - Waisenhausdamm Neubau 0,6 km Juli 1998 1a Lehndorf – Kanzlerfeld Neubau 5,0 km – (Nicht realisiert) 1a *) Wenden Neubau 2,0 km August 1999

1b Melverode – Stöckheim Neubau 3,2 km Oktober 2006 1b Heinrich-Büssing-Ring Neubau 0,7 km Oktober 2004 1b Nahverkehrsbahnhof am Hbf. Neu-/Ausbau 0,7 km Mai 2000

2 Südstadt – Mascherode Neubau 3,5 km – (Nicht realisiert) 2 Leonhardstraße – Helmstedter Straße Ausbau 0,9 km Oktober 1996 / Dezember 2013 2 Siegfriedstraße Ausbau 1,3 km August 2004 2 Hamburger Straße Ausbau 0,7 km November 2014 2 Westliche Innenstadtstrecke Neubau 0,9 km – (Nicht realisiert)

–**) Bohlweg Umbau 0,5 km August 2005 –**) Neuer Betriebshof Neubau Februar 2009

3 Volkmarode Nord Neubau 1,4 km – (Nicht realisiert) 3 Salzdahlumer Straße Neubau 2,4 km – (Nicht realisiert) *) Nachträglich von Stufe 2 3 Südstadt – Rautheim Neubau 3,6 km – (Nicht realisiert) nach Stufe 1a hochgestuft **) Nicht im Prioritätenkonzept 4 Weitere 7 Projekte Neubau – (Alle nicht realisiert) enthalten

Klaus Benscheidt, Michael Krech, Heinz-Georg Leuer: 518 Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess

anfänglich großen Bedenken in der Bevöl- cke vom Alten Bahnhof über die Friedrich- kerung ist die Stadtbahn in Stöckheim in- Wilhelm-Straße zum Bohlweg. Nachdem zwischen selbstverständlich. Zur Akzeptanz bis 1960 ein Cityring für den Kfz-Verkehr beigetragen hat auch die im Zuge des Gleis- geschaffen wurde und alle innerhalb dieses baus erfolgte hochwertige Neugestaltung Rings verlaufenden Straßenbahnstrecken der Straßenräume. Bei der Planung von eingestellt waren, konnte die Stadtbahn Standorten für Neubaugebiete in Stöckheim 1998 erstmals direkt die große zentrale Fuß- ist die Nähe zur Stadtbahn inzwischen all- gängerzone anfahren und die Innenstadt gemein anerkannte Standortvoraussetzung. deutlich besser erschließen als zuvor.

„Nach anfänglich großen Bedenken in der Das aktuelle Stadtbahnausbaukonzept Bevölkerung ist die Stadtbahn in Stöckheim und die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung *) Das Verkehrsmodell Braun- inzwischen selbstverständlich.“ schweig bildet alle in Stadt Der Planungsprozess erfolgt iterativ und und Region Braunschweig zurückgelegten Wege für gliedert sich im Wesentlichen in drei Stufen, alle Verkehrsmittel und für Für die städtebauliche Entwicklung sehr in denen die möglichen Trassenkorridore verschiedene Zeithorizonte auf der Basis der Software VISEM/ wichtig war in diesem Zusammenhang mit zunehmender Genauigkeit untersucht VISUM ab. auch der Neubau der innerstädtischen Stre- und bewertet werden. Besonderer Wert wurde auf die Aktualisierung des Verkehrs- modells Braunschweig* mit aktuellen Pro- gnosen zu Strukturdaten wie Einwohner-, Die Leipziger Straße im Stadtteil Stöckheim 2004 vor dem Bau der Stadtbahnstrecke und zum Vergleich der heutige Zustand Arbeitsplatz- und Schulplatzzahlen gelegt. Ebenso steht die Prognose der ÖPNV-Ent- wicklung ohne weiteren Stadtbahnausbau (Prognose-Null-Fall) im Fokus der Planen- den, da diese die Vergleichsbasis für die Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen bildet.

Bewertungsstufe I: Vorbewertung

In dieser ersten Bewertungsstufe wurden die Kosten unter Berücksichtigung beson- derer Ingenieurbauwerke (Brücken etc.) geschätzt. Der Nutzen wurde über Kriteri- en wie erreichbare Einwohnerzahlen, be- triebliche Aspekte (z. B. möglicher Ersatz Foto: Stadt Braunschweig 2004 Foto: Stadt Braunschweig für Buslinien), städtebauliche Wirkung oder Behinderung zwischen MIV und Stadtbahn bewertet. Die zusammenfassende Bewer- tung der 73 Trassenkorridore erfolgte in Qualitätsstufen.

Nach Beteiligung der Öffentlichkeit stimm- te der Rat dem Vorschlag der Verwaltung zu, die neun aussichtsreichsten Korridore in der zweiten Bewertungsstufe vertieft zu untersuchen.

Bewertungsstufe II: Verkehrliche und bautechnische Untersuchungen

Die neun Korridore wurden anhand der Kriterien Reisezeit, Umstiegshäufigkeit,

Foto: Michael Krech 2016 Krech Foto: Michael Betriebsaufwand, Verkehrsnachfrage, In- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 519

vestition und bauliche Umsetzbarkeit be- Abbildung 3 wertet. Dabei kam das Verkehrsmodell Netzübersicht aktuelles Stadtbahnausbaukonzept Braunschweig zum Einsatz. Im Ergebnis wurden sechs Korridore zur Aufnahme in das aktuelle Stadtbahnkonzept vorgeschla- gen und nach einer weiteren Bürgerbetei- ligung am 16. Dezember 2014 vom Rat be- schlossen.

Bewertungsstufe III: Wirtschaftlichkeitsuntersuchung

Die dritte Bewertungsstufe, die aktuell läuft, erfolgt nach der Methode der Stan- dardisierten Bewertung, um auf Grundlage der derzeit vorliegenden konzeptionellen Planungstiefe möglichst genau abschätzen zu können, ob eine später durchgeführte, tatsächliche Standardisierte Bewertung der konkretisierten Planung zu Nutzen-Kosten- Verhältnissen von über 1,0 – also zur För- derfähigkeit – führen wird.

In den laufenden Berechnungen zeichnen sich erste wirtschaftliche Korridore ab. In dieser Bewertungsstufe zeigt sich beson- ders deutlich, dass sich ein Nachsteuern, zum Beispiel durch die Konkretisierung von Baukosten oder durch Änderungen am ge- planten Netz, sehr deutlich auf die Ergeb- nisse auswirken kann.

So deutet sich etwa bei der Stadtbahnver- längerung in den Stadtteil Volkmarode, die Quelle: WVI 2014: 22 einer der Auslöser für die Erarbeitung des Stadtbahnausbaukonzeptes war, an, dass sich das Nutzen-Kosten-Verhältnis bei Ge- samtbetrachtung des Netzes zum Beispiel Aktuelle Trassenoptionen im stadtent- deutlich verbessert, wenn eine Zwischen- wicklungspolitischen und städtebau- wendeschleife mit vertretbarer Taktausdün- lichen Kontext nung im Endbereich des Linienweges ein- geplant wird. Die ganzheitliche Herangehensweise des stadtweiten Stadtbahnausbaukonzeptes In den kommenden Monaten wird sich zei- führt zu verkehrlich, städtebaulich und be- gen, welche Korridore mit welchen konkre- trieblich sehr unterschiedlichen sinnvollen ten Trassen wirtschaftliche und damit för- Stadtbahntrassen. Dies ist insbesondere derfähige Ergebnisse erwarten lassen. Dann auch im stadtentwicklungspolitischen und wird die Braunschweiger Bevölkerung sich städtebaulichen Kontext sehr bedeutsam, mit den Ergebnissen auseinandersetzen, da Stadtbahnausbau sowohl die Erweite- bevor der Rat der Stadt entscheiden wird, rung in die äußere Stadt, die Erschließung ob das Stadtbahnnetz weiter ausgebaut neuer Potenziale und die Verlängerung von werden soll und wenn ja, für welche der Strecken als auch die Erschließung der in- förderfähigen Trassen konkrete Planungen neren Stadt/Innenstadt durch Netzergän- aufgenommen werden. zungen meint, die zudem das Netz enger in sich verknüpfen.

Klaus Benscheidt, Michael Krech, Heinz-Georg Leuer: 520 Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess

Beispiel 1: Westliche Innenstadtstrecke die vorhandenen Straßenräume eine gestal- terisch und funktional sehr anspruchsvolle Das einzige in der Innenstadt vorgeschla- Aufgabe dar. gene Projekt hat sowohl für den Stadtbahn- verkehr als auch für die Stadtentwicklung Ein weiteres Argument für eine zweite In- große Bedeutung. Bei einer Realisierung nenstadtstrecke ist schlichtweg die hohe würden Einzelstrecken im nordwestlichen Belastung der bestehenden Stammstrecke. Innenstadtbereich erstmals zu einem Netz Dies spiegelt sich im Wesentlichen an den verknüpft, wie es im südöstlichen Bereich Knotenpunkten mit dem MIV wieder, an schon länger vorhanden ist. Das ermöglicht denen die Stadtbahn grundsätzlich bevor- bei der Liniennetz- und Fahrplangestaltung, rechtigt wird. Auch die Haltestellen errei- aber auch bei Baustellen, Veranstaltungen chen ihre Kapazitätsgrenzen. oder Unfällen einen bedarfsgerechten und flexiblen Betrieb. Gleichzeitig wären die Als separater neuer Linienweg ist die kurze bisher nicht im Einzugsgebiet der Stadt- westliche Innenstadtstrecke wirtschaftlich bahn gelegenen westlichen Teilbereiche der nicht darstellbar. Sie wird daher in der Wirt- Innenstadt künftig direkt erreichbar. Die schaftlichkeitsberechnung zusammen mit Lagegunst des Teilbereichs entlang des öst- anderen Teilstrecken zu einer sinnvollen lichen Cityrings, der schon heute von den neuen Linie kombiniert. meisten Stadtbahnlinien aus direkt zu er- reichen ist, wäre dann auch für die übrigen Teilbereiche der Innenstadt gegeben. Des- Beispiel 2: Salzdahlumer Straße – Heidberg sen ist sich auch der örtliche Einzelhandel bewusst, der die Planungen dennoch mit Das Projekt einer längeren neuen Radial- Skepsis begleitet, insbesondere in Bezug strecke beginnt am Hauptbahnhof und da- auf den für den Handel wichtigen Lieferver- mit am Rand der gründerzeitlichen Stadt. kehr. Im Zuge der weiteren Planungen muss Es führt in den schon heute von der Stadt- abschließend zwischen zwei grundsätz­ bahn bedienten Stadtteil Heidberg, eine lichen Varianten für die Trassenführung ei- typische Großsiedlung der 1960er- und ner westlichen Innenstadtstrecke entschie- 1970er-Jahre. Damit würde eine zweite Stre- den werden. Bei einer Führung über den cke zu den beiden vorhandenen Endpunk- westlichen Cityring geht es vor allem um ten im Braunschweiger Süden geschaffen. Eingriffe in die Anlagen für den Kraftfahr- Die Besonderheit dieses Projekts liegt darin, zeugverkehr, außerdem wären die Fußwege dass die heutige „Überbedienung“ der Wol- zur City relativ lang. Bei einer Führung am fenbütteler Straße durch zwei Linien nach westlichen Rand der Fußgängerzone stellt Stöckheim und in den Heidberg reduziert die Einpassung der Stadtbahnanlagen in werden könnte. Dadurch könnte die Anbin- dung der Großsiedlung Bebelhof, einer gro- ßen Berufsschule, eines großen Klinikums und weiterer Wohngebiete nahezu ohne zu- Westliche Innenstadtstrecke, Variante über Brabandtstraße-Altstadtmarkt- sätzliche Betriebsleistungen erfolgen. Dass Gördelingerstraße (Fotomontage) diese Überlegungen wirtschaftlich tragfähig sein könnten, deutet sich in der laufenden Wirtschaftlichkeitsberechnung mit Zwi- schenergebnissen eines Nutzen-Kosten- Faktors von nahe 1,0 an.

Beispiel 3: Nördliches Ringgebiet (Campusbahn) – Querum

Die Campusbahn ist eine teils radial, teils tangential verlaufende Strecke im nord- östlichen Stadtgebiet. Sie verdankt ihren Namen der Tatsache, dass sie erstmals die drei wichtigsten Standorte der Technischen

Quelle: Braunschweiger Verkehrs-AG 2002 Quelle: Braunschweiger Verkehrs-AG Universität direkt miteinander verbinden Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 521

würde: Den Zentralcampus, den Nord- Abbildung 4 campus und den Ostcampus. Ihre hohe Lageplan Campusbahn mit Baugebieten und Hochschulstandorten Bedeutung erhielt sie weiterhin dadurch, dass in Braunschweig dringend zusätzli- cher Wohnraum benötigt wird und dass gleich fünf innenstadtnah gelegene, zum Teil hoch verdichtete Baugebiete mit etwa 2.500 zusätzlichen Wohneinheiten durch sie erschlossen würden. Dort sollen eigene Mo- bilitätskonzepte umgesetzt werden, die den zu erwartenden fließenden und ruhenden PKW-Verkehr reduzieren. Auch dafür wäre die Campusbahn ein wichtiger Baustein. Im Zuge dieses Projekts werden Stadtent- wicklung und Verkehrsplanung beispielhaft parallel berücksichtigt und schaffen so für die Neubaugebiete von vornherein beste Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Mobilität. Die Campusbahn ist die städte- Quelle: Stadt Braunschweig 2016 baulich wichtigste Trasse im Stadtbahnaus- baukonzept, die zugleich wirtschaftlich und planerisch mit zu kreuzenden Bahntrassen In den nächsten Monaten werden die und Gewässerauen eine große Herausforde- Braunschweiger Verkehrs-GmbH und die rung darstellt. Stadtverwaltung die Wirtschaftlichkeits- untersuchung für das Stadtbahnausbau- konzept als fundierte Beratungsgrundlage Ausblick vorlegen. Wie darüber entschieden wird, ist offen. Derzeit wird unter ebenfalls intensiver Bürgerbeteiligung ein Integriertes Stadt- Wenn der Rat der Stadt Braunschweig sich entwicklungskonzept für Braunschweig er- für den Ausbau des Stadtbahnnetzes ent- stellt. Eines der Leitziele des Zukunftsbildes scheidet, geht es weiter: dann mit dem kon- für Braunschweig lautet „Eine zukunfts- kreten Ziel „Stadtbahnausbau“. orientierte Mobilität gestalten“. In diesem Zuge gilt es auch zu klären, wie die Ver- kehrsflächen zukünftig gerechter zwischen Fußgängern, Fahrrad- und Autofahrern so- wie ÖPNV zu verteilen sind. Der Stadtbahn als effektivem Verkehrsträger wird in dieser Diskussion ohne Zweifel eine wichtige Rol- le zukommen. Dabei kann und soll an die positiven Erfahrungen ihrer städtebaulich hochwertigen Integration in den Stadt- und Straßenraum angeknüpft werden, wie sie in den bereits umgesetzten Projekten gelun- gen ist.

Klaus Benscheidt, Michael Krech, Heinz-Georg Leuer: 522 Stadtbahnausbau in Braunschweig. Ein offener Prozess

Literatur Höltge, Dieter, 1997: Die Braunschweiger Straßen- WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infra- bahn. München strukturplanung GmbH, 2012: Mobilitätsuntersu- chung für den Großraum Braunschweig, Präsen- Stadt Braunschweig. Der Oberbürgermeister, 2013: tation ausgewählter Ergebnisse der regionalen Stadtbahnausbaukonzept, Drucksache 15903/13. Verkehrsuntersuchung im Planungs- und Zugriff: http://www.braunschweig.de/leben/ Umweltausschuss der Stadt Braunschweig am stadtplan_verkehr/verkehrsplanung/stadtbahn- 7. März 2012. Zugriff: https://ratsinfo. konzept.html [abgerufen am 31.05.2016]. braunschweig.de/index.php?site=fulltex t&action=anlagen&type=pdf&id=8277& Stadt Braunschweig. Der Oberbürgermeister, idx=0 [abgerufen am 31.05.2016]. 2014a: Stadtbahnausbaukonzept, Drucksache 16624/14. Zugriff: http://www.braunschweig.de/ WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infra- leben/stadtplan_verkehr/verkehrsplanung/stadt- strukturplanung GmbH, 2013: Stadtbahnausbau- bahnkonzept.html [abgerufen am 31.05.2016]. konzept Braunschweig, Bürgerinformation zu den Ergebnissen der ersten Bewertungs- Stadt Braunschweig. Der Oberbürgermeister, stufe, Präsentation am 12.12.2013, S. 9. 2014b: Stadtbahnausbaukonzept, Drucksache Zugriff: http://www.braunschweig.de/leben/ 17231/14. Zugriff: http://www.braunschweig.de/ stadtplan_verkehr/verkehrsplanung/stadtbahn- leben/stadtplan_verkehr/verkehrsplanung/stadt- konzept.html [abgerufen am 31.05.2016]. bahnkonzept.html [abgerufen am 31.05.2016]. WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Stadt Braunschweig, Stadtplanungsamt, 1992: Infrastrukturplanung GmbH, 2014: Stadtbahn- Stadtbahnplanung, Prioritätenkonzept 1992. ausbaukonzept Braunschweig, Ergebnisse der Schriften der Stadt Braunschweig zur kommu- Bewertungen und Empfehlungen, Präsentation im nalen Planung, Reihe 3, Heft 15. Braunschweig. Planungs- und Umweltausschuss am 03.12.2014, WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und S. 22. Zugriff: http://www.braunschweig.de/ Infrastrukturplanung GmbH, 1998: Verkehrsent- leben/stadtplan_verkehr/verkehrsplanung/stadt- wicklungsplan Braunschweig. Braunschweig. bahnkonzept.html [abgerufen am 31.05.2016]. Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 523

Eine Regionalstadtbahn und Tram Christian Korda für Erlangen!? Josef Weber Was sie leisten soll und kann

In Erlangen führt das 1:1-Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Einwohnern zu starken Pendlerströmen. Die Stadt-Umland-Bahn (StUB) soll das ÖPNV-Angebot auf den wichtigs- ten Verbindungsachsen übernehmen. Trotzdem war ihre Einführung in Teilen der Politik und Bürgerschaft seit Jahren umstritten. Nach intensiver Öffentlichkeitsarbeit wurde 2016 der Bürgerentscheid, dass die Stadt Erlangen aus dem Vorhaben aussteigt, mit über 60 % abgelehnt. Der neu gegründete Zweckverband StUB hat jetzt die Aufgabe, innerhalb der nächsten Jahre die notwendigen Unterlagen für den formalen Zuschussantrag der 15,6 km langen Strecke zu erarbeiten. Die StUB wird in Erlangen auch als Stadtentwicklungsmotor gesehen, um weitere Projekte entlang der Trasse zu ermöglichen.

ÖPNV in der Fahrrad- und Pendlerstadt Erlangen

Erlangen ist mit etwa 110.000 Einwohnern Auch Projekte in der Region, wie die Herzo und 110.000 Arbeitsplätzen die kleinste Base in der Nachbarstadt Herzogenaurach, Großstadt Bayerns. Über 30.000 Studieren- beeinflussen den stadtgrenzüberschreiten- de, eine ebene Topographie und kurze Wege den Verkehr. im gesamten Stadtgebiet bieten hervorra- gende Voraussetzungen, um das Fahrrad zu Daher hat der motorisierte Individualver- nutzen (s. Abbildung 1). Der Modal-Split- kehr (MIV) in der Fahrradstadt Erlangen Anteil des Radverkehrs im Binnenverkehr mit 62 % am Gesamtverkehr trotzdem einen kann daher im Sommer auf bis zu 50 % an- hohen Anteil, was den meisten Einwohnern steigen, was Erlangen bundesweit als Fahr- aufgrund der hohen Präsenz an Fahrrädern radstadt bekannt gemacht hat. nicht bewusst ist. Der öffentliche Personen- nahverkehr (ÖPNV) ist mit einem Anteil Seit mehreren Jahren kommt es bei den von etwa 6 % am Binnen- und Gesamtver- Arbeits- und Studienplätzen in Erlangen kehr hingegen unterdurchschnittlich reprä- zu einer dynamischen positiven Entwick- sentiert. lung, weitere Zuwächse sind für die nächs- ten Jahre prognostiziert. Siedlungsflächen Während dieser Effekt im Binnenverkehr stehen nur begrenzt zur Verfügung, hinzu durch die Konkurrenz des Radverkehrs zum kommt bereits heute ein Wohnungsdefizit. ÖPNV erklärbar ist, deutet der niedrige An- Das 1:1-Verhältnis zwischen Erwerbstätigen teil am Gesamtverkehr auf erhebliche Ver- und Einwohnern führt zu starken Pendler- besserungspotenziale bei der Angebotsqua- strömen aus dem Umland, die das Straßen- lität des ÖPNV hin. netz überlasten. Dr.-Ing. Christian Korda Eine Ursache könnte sein, dass das Ange- Leiter der Abteilung Verkehrs- planung am Amt für Stadt- Hinzu kommen zahlreiche Stadtentwick- bot des kommunalen und regionalen Bus- entwicklung und Stadtplanung lungsprojekte für Gewerbe und Wohn- verkehrs bisher nicht als ein Gesamtsystem der Stadt Erlangen. nutzung wie der neue Siemens-Campus, gestaltet und wahrgenommen wird. So sind [email protected] daraus resultierende Veränderungsentwick- die Busse des Landkreises auf den Erlanger lungen im Erlanger Zentrum, die Entwick- Hauptbahnhof ausgerichtet, die Arbeits- Josef Weber Referent für Planen und Bauen lung der Universität im Erlanger Süden so- plätze in Erlangen liegen aber überwiegend der Stadt Erlangen, Stadtbaurat, wie die Entwicklungsgebiete Großparkplatz dezentral. Darüber hinaus existiert bei- Architekt und Stadtplaner DASL am Hauptbahnhof und Erlangen-West. spielsweise zwischen Erlangen und Fürth [email protected]

Christian Korda, Josef Weber: 524 Eine Regionalstadtbahn und Tram für Erlangen!? Was sie leisten soll und kann

Abbildung 1 sentlichen auf den bestehenden und teil- Luftlinienentfernungen in Erlangen weise erweiterten Bahnstrecken mit ihren jeweiligen Lagebeziehungen zu den Sied- lungsschwerpunkten abgewickelt wird.

Der Bevölkerung Erlangens sind diese ver- kehrlichen Rahmenbedingungen teilweise nicht bekannt. Eine der wichtigsten Auf- gaben bei der seit 2012 laufenden Fort- schreibung des Verkehrsentwicklungsplans Erlangen ist daher, durch intensive Öffent- lichkeitsarbeit auf die Defizite im ÖPNV aufmerksam zu machen und Verbesse- rungspotenziale gemeinsam mit der Bür- gerschaft zu erarbeiten.

In den vergangenen Jahren konnte so ein ÖPNV-Konzept entwickelt werden, das so- wohl zeitnahe Verbesserungen im stadt- grenzüberschreitenden Busnetz als auch langfristige Verbesserungen durch ein Straßenbahnsystem vorsieht. Ziel dieses Stufenkonzepts ist es, mit umsteigefreien attraktiven Direktbeziehungen die räum- lich im Stadtgebiet verteilten Arbeitsplatz- schwerpunkte, Universitätsstandorte und sonstigen größeren Verkehrserzeuger anzu- binden.

Eine moderne Straßenbahn ist als schie- nengebundenes Verkehrsmittel prädesti- niert für die Aufgabe, das ÖPNV-Angebot auf den wichtigsten Verbindungsachsen zu übernehmen. Sie bietet hohe Beförderungs- leistungen bei wirtschaftlichem Betrieb, geringen Emissionen und hohem Fahr­ Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung der Stadt Erlangen komfort. Trotz des vorgesehenen schrittwei- sen Umsetzungsprozesses von kurzfristigen Verbesserungsmaßnahmen im Busnetz bis zum langfristigen Bau einer Stadt-Um- trotz der unmittelbaren Nachbarschaft im land-Bahn blieb und bleibt die Einführung Tagesverkehr bis heute keine durchgehende dieses schienengebundenen ÖPNV-Systems Buslinie. Der ÖPNV kann hinsichtlich Rei- neben der S-Bahn in Erlangen in Teilen der sezeiten meistens nicht mit dem MIV kon- Politik und Bürgerschaft umstritten. kurrieren, das Fahrrad ist selbst auf stadt- grenzüberschreitenden Relationen häufig schneller. Die Stadt-Umland-Bahn: Vom „Karlsruher Modell“ zur Straßenbahn- Der Ausbau des S-Bahnnetzes in der Met- verlängerung als „L-Netz“ ropolregion Nürnberg im Jahr 2010 führte zu einer verbesserten Wahrnehmung des Am 6. März 2016 fand eine Grundsatzent- ÖPNV-Angebots und zu einer Verbesse- scheidung zur Stadt-Umland-Bahn (StUB) rung in Teilen der Metropolregion. Für die per Bürgerentscheid statt, der mit 60,4 % Veränderung des Modal-Splits im Erlanger Zustimmung und einer Wahlbeteiligung Gesamtverkehr zugunsten des Umweltver- von 44,9 % überraschend deutlich ausfiel. bundes besteht aber weiterhin dringender Diese Entscheidung beinhaltete die Zu- Handlungsbedarf, da die S-Bahn im We- stimmung, den „Zweckverband StUB“ zu Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 525

gründen, dessen Aufgabe es ist, die Stadt- wickelte verschiedene Konzepte für die Umland-Bahn zu planen, zu bauen und zu StUB und untersuchte diese durch über- betreiben. Für die weiteren Planungsschrit- schlägige Berechnungen des Nutzen-Kos- te bis zur Realisierung des Projekts muss, ten-Verhältnisses. um die Zustimmung der Erlanger Bevölke- rung zu behalten, weiterhin durch Öffent- Basierend darauf wurde im Auftrag der lichkeitsarbeit und aktive Bürgerbeteiligung Stadt Erlangen sowie den beiden Landkrei- geworben werden. sen Erlangen-Höchstadt und Forchheim eine technische Machbarkeitsstudie durch- Worum geht es hier konkret? Anders als vie- geführt. Deren Grundlage war die Errich- le andere Städte vergleichbarer Größenord- tung eines Stadtbahnnetzes von Nürnberg nung verfügte Erlangen bislang noch nicht aus in die Region („Karlsruher Modell“). über eine Straßenbahn. Zwar gab es bereits Hierfür sollten neben dem Bau neuer Stre- zu Beginn des 20. Jahrhunderts Überlegun- ckenabschnitte insbesondere auch die oben gen, Erlangen und Nürnberg mit einer Stra- genannten Bahnstrecken sowie weitere von ßenbahn zu verbinden, nachdem Fürth und der Stilllegung gefährdete Bahnstrecken Nürnberg seit langem über eine gemein- mitgenutzt werden. Die 1993 fertig­gestellte same Straßenbahn und mittlerweile auch Studie hatte zum Ziel, die technische über eine gemeinsame U-Bahn verfügen. Durchführbarkeit einer Stadt-Umland- Konkrete Planungen für ein Straßenbahn-/ Bahn aufzuzeigen und die Akzeptanz dieser Stadtbahnsystem in der Region entstanden Bahn bei den Städten und Gemeinden zu aber erst Mitte der 1980er-Jahre, nachdem fördern. der Personenverkehr auf der Sekundärbahn Erlangen-Eschenau („Seekuh“) 1963 und Ergebnis dieser Untersuchungen war, dass auf der Bahnstrecke Erlangen-Bruck-Her- ein Stadtbahnnetz weit in die Region hinein zogenaurach („Aurachtalbahn“) 1984 ein- mit damals knapp einer Milliarde DM aus gestellt wurde. wirtschaftlichen Gründen nicht umsetzbar ist. Weiter verfolgt werden sollte stattdes- Konkrete Planungen wurden in den 1990er- sen das Konzept einer regionalen Stadt- Jahren in einer Machbarkeitsstudie durch- bahn, die Nürnberg mit den Städten Erlan- geführt. Basis hierfür war die „Teilfort- gen und Herzogenaurach sowie weiteren schreibung Gesamtverkehrsplan Großraum Gemeinden im nördlichen Ballungsraum Nürnberg“ (GVGN). Diese Vorstudie ent­ verbindet. Dieses „T-Netz“ (s. Abbildung 2)

Abbildung 2 StUB T-Netz und BI-Variante

Quelle: Verkehrsverbund Groß- raum Nürnberg GmbH (VGN)

Christian Korda, Josef Weber: 526 Eine Regionalstadtbahn und Tram für Erlangen!? Was sie leisten soll und kann

verbindet auf der Ost-West-Achse die Stadt Stiel – erstellt. Endpunkt in Erlangen war Herzogenaurach über Erlangen mit der Ge- die damalige Hauptpost (heute Arcaden), meinde Eschenau und übernimmt damit eine direkte Verknüpfung mit dem Erlanger die Funktion der ehemaligen Bahnstrecken Hauptbahnhof war aus trassierungstechni- „Aurachtalbahn“ und „Seekuh“. Der Stre- schen Gründen nicht vorgesehen. ckenverlauf ist aber mit diesen ehemaligen Bahnstrecken (je nach Trassenvariante) Die standardisierte Bewertung kam im Jahr nur auf Teilabschnitten identisch. Der Stiel 2005 für zwei unterschiedliche Varianten dieses T-Netzes in Nord-Süd-Richtung soll- zum überraschend deutlichen Ergebnis, te die Verbindung zwischen Erlangen und dass die Verbindung Nürnberg-Erlangen Nürnberg sein. als Einzelmaßnahme nicht zuschussfähig ist. Die Gründe hierfür waren sowohl auf 1997 lehnte das bayerische Wirtschafts- der Nutzen- als auch auf der Kostenseite zu ministerium die Aufnahme des Projekts, sehen. So hätte diese Einzelmaßnahme als für dessen Grundnetz Kosten in Höhe von Straßenbahnverlängerung nur eine beste- 413 Mio. DM ermittelt wurden, in die För- hende hochfrequentierte Buslinie zwischen derprogramme des Landes und Bundes ab. Nürnberg und dem Zentrum Erlangens Ohne diese Kofinanzierung hatte das Pro- ersetzt. Die Vorteile der StUB resultieren jekt StUB keine Chance auf Umsetzung. aber aus ihrer Funktion als stadtgrenzüber- schreitende Regionalbahn mit Verknüpfung Trotzdem blieb es auch weiterhin Bestand- wichtiger Verkehrserzeuger im gesamten teil der öffentlichen und politischen Dis- Erlanger Stadtgebiet und mit der Stadt Her- kussionen. So haben neun der 30 größten zogenaurach. mittelfränkischen Arbeitgeber eine oder mehrere Niederlassungen in unmittelbarer Die Vorteile der StUB ergeben sich somit Nähe zur StUB. Für diese großen regiona- vor allem durch die Kombination einer in- len Arbeitgeber ergäbe sich durch die StUB nerstädtischen klassischen Straßenbahn für eine deutlich verbesserte Erreichbarkeit Erlangen und einer Regionalstadtbahn. Ihre im ÖPNV, was die Sicherung sowie die Er- Qualität gewinnt sie auch daraus, dass sie weiterung von Arbeitsplätzen in Erlangen unmittelbar mit dem Nürnberger Straßen- beeinflussen würde. Die StUB könnte so- bahnnetz verknüpft und linientechnisch mit eine wichtige Funktion als Standort- eingebunden werden soll. Folglich soll und Ansiedlungsfaktor übernehmen. Der sie mit Straßenbahnfahrzeugen aus dem Trassenverlauf wurde daher in den Flä- Nürnberger Straßenbahnnetz betrieben chennutzungs- und Bebauungsplänen der werden, deren zulässige Höchstgeschwin- betroffenen Städte und Gemeinden für un- digkeit dann auf 70 km/h erhöht wird. terschiedliche Trassenvarianten weiterhin gesichert. Für eine Teilstrecke – die Verlängerung der bestehenden Nürnberger Straßenbahn­ Anlass für eine Neubewertung der StUB war strecke um 2,9 km vom derzeitigen End- die deutliche Erweiterung des S-Bahnnet- punkt Thon bis Am Wegfeld (noch auf zes in der Metropolregion Nürnberg im Jahr Nürnberger Stadtgebiet) – konnte trotzdem 2010. Eine Stadtbahnverbindung zwischen ein Nutzen-Kosten-Indikator von über 3,1 Nürnberg und Erlangen ist im unmittelba- nachgewie­sen werden. Dieser ausschließ- ren Zusammenhang mit der im Bau befind- lich auf Nürnberger Stadtgebiet liegende lichen S-Bahn-Verbindung von Nürnberg Streckenabschnitt ist derzeit im Bau und über Fürth und Erlangen nach Forchheim soll Ende 2016 in Betrieb gehen. zu sehen. Die StUB sollte hier sinnvoller- weise eine Komplementärfunktion über- Trotz der Ergebnisse blieb das T-Netz der nehmen. StUB aber weiter in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung. So hatte sich Ergänzend wurde eine standardisierte Be- während der Diskussionen zum ursprüng- wertung für die als Einzelmaßnahme sinn- lichen Grundnetz die „BürgerInitiative für volle Stadtbahnverbindung vom Nordwes- Umweltverträgliche Mobilität Im Schwa- ten der Stadt Nürnberg entlang der B 4 zum bachtal“ gegründet, die für die im T-Netz Erlanger Zentrum – also der oben genannte vorgesehene Verbindung Erlangen-Herzo- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 527

genaurach einen Alternativvorschlag hin- einen zusätzlichen Streckenast in den sichtlich Trassenführung und Bedienungs- Ortsteil Büchenbach (s. Abbildung 2). konzept einbrachte (s. Abbildung 2). • Ein mit der Schieneninfrastruktur ver- Auf Initiative der betroffenen Städte und gleichbarer Nutzen-Kosten-Indikator Landkreise wurden unter der Federführung ist methodisch für das RoBus-Konzept des Verkehrsverbundes Großraum Nürn- nicht vergleichbar. berg (VGN) die ursprünglichen Untersu- chungen zum T-Netz aus den 1990er-Jahren Zum ersten Mal wurde 2012 auch eine Fol- wieder aufgegriffen und eine standardisier- gekostenrechnung nach dem Verfahren der te Bewertung nach den aktuellen Vorgaben standardisierten Bewertung durchgeführt. durchgeführt. Ergänzend zum ursprüngli- chen Trassenverlauf wurde auch das oben Die für das Projekt zuständigen Aufgaben- genannte Alternativkonzept untersucht. träger Nürnberg, Erlangen und der Land- kreis Erlangen-Höchstadt beantragten In Anbetracht der hohen Investitionen in noch 2012 die Aufnahme in das Förderpro- die Stadtbahninfrastruktur und auch im gramm von Bund und Land. Seit August Hinblick auf die sich daraus ableitenden 2013 ist das Projekt im neuen GVFG-Bun- Folgekosten sollte außerdem ein verbesser- desprogramm 2013–2017 in der Kategorie tes Busnetz als Alternative zur schienenge- C „Vorhaben bedingt aufgenommen“ auf- bundenen Infrastruktur entwickelt werden. geführt. Diese Planungsvariante (Arbeitstitel: „Regi- onal-optimiertes Busnetz“ (RoBus)) sollte hinsichtlich der verkehrlichen Wirkungen Standardisierte Bewertung – Ergeb- und auch hinsichtlich der Folgekosten mit nisse und öffentliche Wahrnehmung dem T-Netz der Stadt-Umland-Bahn vergli- chen werden. An den zahlreichen Untersuchungen zur StUB beteiligten sich bisher neben exter- Diese neue Untersuchung kam im Jahr 2012 nen Beratern und Experten aus den Ver- zu folgenden Ergebnissen: waltungen auch politische Vertreter in Ar- beitskreisen. Informationsveranstaltungen • Das T-Netz ist nicht in seiner vollen Län- und Pressemitteilungen informierten die ge zuschussfähig. Das Streckennetz wur- Öffentlichkeit über wichtige (Zwischen-) de daher soweit verkürzt, dass der für die Ergebnisse. Zuschussfähigkeit notwendige Nutzen- Kosten-Indikator größer 1,0 nachgewie- Während die Reaktion der Öffentlichkeit sen werden konnte. Übrig blieb damit auf das Projekt überwiegend positiv ausfiel, auf der Ost-West-Achse eine Verbindung änderte sich das öffentliche Meinungsbild – vom Zentrum in Herzogenaurach über nach Auffassung der Autoren – durch eine Erlangen bis zur Gemeinde Uttenreuth. Informationsveranstaltung im Jahr 2012. Die Verbindung nach Nürnberg blieb un- Diese stellte die Ergebnisse der standardi- verändert (s. Abbildung 2). sierten Bewertung sowie die Folgekosten dezidiert vor. • Darüber hinaus wurde eine Verbindung von Herzogenaurach über Erlangen nach Die von der Öffentlichkeit in Erlangen vor Nürnberg, also ohne den Ost-Ast, unter- allem wahrgenommen Ergebnisse waren: sucht. Auch diese als L-Netz bezeichnete Variante war mit einem Nutzen-Kosten- • Die vom MIV auf den ÖPNV verlager- Indikator von 1,1 eindeutig zuschuss­ ten Verkehre unterscheiden sich nur in fähig. geringem Maße zwischen der StUB und dem ausschließlich auf Bussen basieren- • Für die Alternativvariante konnte keine den Konzept RoBus. Zuschussfähigkeit nachgewiesen wer- – 10.930 Kfz/Werktag beim StUB-T-Netz den. Ursache hierfür sind zum einen die (Stand. Bew. 9/12) längeren Reisezeiten, vor allem aber der – 8.300 Kfz/Werktag beim StUB-L-Netz deutlich höhere Betriebsaufwand durch (Stand. Bew. 9/12)

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– 6.600 Kfz/Werktag beim RoBus (Stand. im ÖPNV und die Auswirkungen auf den Bew. 9/12) städtischen Haushalt. • Die Folgekosten für das T-Netz der StUB sind mit etwa 6,5 Mio. E im Bezugsjahr Die Fragestellung, welche Vorteile und 2019 deutlich höher als bei einem Bus- Chancen sich für Erlangen und seine Um- system. gebung durch die StUB ergeben, ging in der öffentlichen Wahrnehmung fast vollständig • Von den förderfähigen Planungskosten unter. Für das Verfahren der standardisier- für den Zuschussantrag in Höhe von ten Bewertung sind derartige Indikatoren etwa 20,9 Mio. € übernimmt die Stadt bekanntlich nicht relevant. Erlangen mit fast 63 % den größten An- teil. So waren viele Erlanger der Auffassung, dass sie als Radfahrer kein Schienenver- In Erlangen thematisierten Öffentlichkeit, kehrsmittel innerhalb Erlangens nutzen Presse und Politik im Anschluss an die Ver- würden. Dass Pendler fast zwei Drittel des anstaltung daher nahezu ausschließlich das Berufsverkehrs in Erlangen verursachen, Verhältnis von Kosten zur Fahrgastmehrung thematisierten sie dabei kaum. Darüber hi- naus bezweifelten sie, dass die auf die StUB verlagerten Fahrgäste den Verkehr spürbar verändern. Der Aspekt, dass die punktu- ellen verkehrlichen Entlastungen an den Abbildung 3 neuralgischen Kreuzungen die täglichen Vorläufige Trassenführung der StUB in Erlangen gemäß standardisierter Stauerscheinungen deutlich reduzieren, Bewertung (Stand November 2015) ließ sich aufgrund der fehlenden Berück- sichtigung in der standardisierten Bewer- tung nicht ausreichend belegen.

Bürgerentscheid am 19. April 2015 im Landkreis Erlangen-Höchstadt

Aufgrund der ab 2012 einsetzenden Kosten- diskussion, vor allem aber durch die deutli- che Verkürzung des Ost-Astes von Eschenau auf einen Endhalt in Uttenreuth, regte sich bei den Gemeinden im Landkreis Erlangen- Höchstadt Widerstand gegen das Projekt. So profitierten nur noch wenige Gemein- den im Landkreis eindeutig von der StUB. Alle gemeinsam mussten aber zusätzliche Belastungen durch eine für die Finanzie- rung notwendige Kreisumlage befürchten. Darüber hinaus war die eingeplante För- derung des Bundes in Höhe von 60 % der zuwendungsfähigen Kosten (GVFG) nicht gesichert.

Rechtzeitig vor dem Beschluss im Kreistag, einem noch zu gründenden Zweckverband StUB beizutreten, wurden im Jahr 2014 die notwendigen Unterschriften für die Durch- führung eines Bürgerbegehrens eingereicht.

Im Rahmen dieses Bürgerbegehrens fan- den mehrere Informationsveranstaltungen

Quelle: Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung der Stadt Erlangen auf Basis Schellenberg statt. Schwerpunkt der Diskussion waren + Bäumler Architekten GmbH die Fragen, wer denn von der StUB profi- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 529

tiert (wenige) und wer mitfinanziert (alle gestellt sowie zum Download bereitgestellt Gemeinden). Damit war das Solidarprinzip wurden. Im Jahr 2014 wurde eine umfas- im Landkreis in Frage gestellt, was auch das sende Bürgerbefragung mit der Fragestel- Hauptargument der Projektgegner war. lung „Wie sieht das Netz aus, das die Erlan- ger/innen sich wünschen?“ durchgeführt. Der Entscheid am 19. April 2015 brachte ein eindeutiges Ergebnis: Der Bürgerentscheid Öffentliche Informations- und Diskussi- wurde mit 59,2 % gegen die StUB angenom- onsveranstaltungen mit weit mehr als 100 men, das zeitgleich durchgeführte Kreis- Teilnehmern begleiteten diesen Prozess. tagsbegehren für die StUB mit 45,2 % ab- Außerdem fanden in kleinen Runden ge- gelehnt. Konsequenz hieraus war, dass der zielte nutzerspezifische Diskussionen statt, Landkreis dem Zweckverband nicht beitritt mit denen die Bedürfnisse der Nutzergrup- und sich auch finanziell nicht am Projekt pen Berufspendler, Schüler und Studieren- StUB beteiligt. de sowie Versorgungs- und Freizeitwege ermittelt wurden. Schwerpunkt der Dis- Die größte Ablehnung der StUB kam von kussionen waren primär das bestehende Bürgern aus den Gemeinden, die nicht vom ÖPNV-Angebot sowie kurz- bis mittelfristig Projekt profitierten. In Herzogenaurach, mögliche Verbesserungsmaßnahmen im mit großen Arbeitgebern wie Adidas, Puma Busnetz. Diskussionen zum langfristigen und Schäffler, lag die Zustimmung der Bür- Projekt StUB waren dabei aber unumgäng- ger dagegen bei über 75 %. Die Stadt Her- lich. zogenaurach, als Teil des Landkreises und unmittelbar mit Erlangen benachbart, ver- Art und Umfang der Bürgerbeteiligung folgte daher nach dem Bürgerentscheid das wurden hierbei durchwegs positiv bewer- Ziel, den Landkreis als Partner des Zweck- tet, zahlreiche Anregungen konnten in die verbands zu ersetzen. Der in den Landkreis Planungen übernommen werden. Trotz- führende Ost-Ast nach Uttenreuth würde dem war die Bandbreite des vorhandenen entfallen (s. Abbildung 3). Um dies in die Wissens überraschend groß. Während zahl- Wege zu leiten, übertrug der Kreistag im reiche Bürger mit einem hohen Experten- Juli 2015 die entsprechenden Aufgaben zur wissen über die fachlichen Details diskutie- ÖPNV-Finanzierung an die Stadt Herzogen- ren wollten, war anderen völlig unklar, wie aurach. beispielsweise eine Straßenbahn im Stra- ßenraum geführt wird und wie deren Schie- nen mit einem Fahrrad überquert werden Bürgerentscheid am 6. März 2016 können. Diese Wissensdefizite waren des- in der Stadt Erlangen wegen überraschend, weil in der Nachbar- stadt Nürnberg bereits seit Jahrzehnten ein Nach den Erfahrungen beim Landkreis Straßenbahnsystem etabliert ist. musste auch in Erlangen damit gerechnet werden, dass die notwendigen Unterschrif- Nach der Übertragung der Aufgaben an die ten für ein Bürgerbegehren zusammen- Stadt Herzogenaurach stand für Ende 2015 kommen. Die Erlanger Verwaltung ver- der Beschluss des Erlanger Stadtrates an, suchte daher in ihrer Öffentlichkeitsarbeit, dem „Zweckverband Stadt-Umland-Bahn neben den Ergebnissen der standardisier- Nürnberg-Erlangen-Herzogenaurach“ bei- ten Bewertung auch die bislang offensicht- zutreten. Dieser hat die Aufgaben, die StUB lich zu wenig kommunizierten Chancen zu planen, zu bauen und zu betreiben. für Erlangen zu verdeutlichen. Die für die Fortschreibung des Erlanger Verkehrsent- Im Vorfeld wurden Diskussionen auf allen wicklungsplans bereits laufende Öffentlich- Ebenen mit teilweise ungewöhnlichen Kon- keitsarbeit mit dem Schwerpunkt ÖPNV bot stellationen geführt. So widersprachen sich hierfür eine gute Basis. politische Gremien der gleichen Partei, aber auch zwischen den wirtschaftlichen Inter- So war unter www.vep-erlangen.de im essensvertretungen und wichtigen Arbeit- Jahr 2013 eine eigene Internet-Plattform gebern herrschte Uneinigkeit zum Projekt geschaffen worden, auf der zahlreiche Un- StUB. Auffällig rund um den Erlanger Bür- terlagen (auch zur StUB) und der laufende gerentscheid war, dass das Projekt außer- Kommunikationsprozess transparent dar- halb der Stadt überwiegend Zustimmung

Christian Korda, Josef Weber: 530 Eine Regionalstadtbahn und Tram für Erlangen!? Was sie leisten soll und kann

fand, in Erlangen selbst aber aufgrund der zu vermitteln (s. Abbildungen 4 und 5). dortigen finanziellen Betroffenheit häufig Darüber hinaus musste auch das von den abgelehnt wurde. StUB-Gegnern als Alternative eingebrachte „Bus Rapid Transit System“ (BRT) entspre- Um die Diskussion zu versachlichen und chend dargestellt werden. die zahlreichen bislang zu wenig betrachte- ten Aspekte zur StUB zu verdeutlichen, fand Diese vom Erlanger Oberbürgermeister ge- am 11. November 2015 eine Informations- leitete Veranstaltung bewerteten nahezu veranstaltung mit über 300 Teilnehmern zur alle Teilnehmer positiv. Um auf die zahl- StUB in Erlangen statt. Wichtig hierbei war, reichen Fragen der Teilnehmer reagieren alle Informationen neutral und sachlich zu zu können, aber auch um eine faire und vermitteln, also auch die Bedenken der Pro- gleichwertige Behandlung aller Teilnehmer jektgegner angemessen darzustellen. zu ermöglichen, wurden alle Fragen wäh- rend der Veranstaltung schriftlich per Kar- Ein wichtiges Ziel dieser Veranstaltung war, ten gesammelt. Soweit möglich, wurden den Zusammenhang zwischen StUB und diese noch in der Veranstaltung durch die beteiligten Fachgutachter beantwortet. Es • räumlicher Entwicklung, wurde auch zugesichert, dass die Fragen im • städtebaulicher Entwicklung, Anschluss im Internet veröffentlicht werden • Lebensqualität und Ökologie, und jede einzelne von ihnen schriftlich be- • Wirtschaft, antwortet wird. • Anbindung an Nürnberg und Herzogen- Die weit über 100 Fragen wurden folgenden aurach Themenblöcken zugeordnet und auf 35 Sei- ten umfassend beantwortet:

Abbildung 4 • Was verbessert sich im Verkehr? Zukunftsstadt Erlangen mit der StUB • Wo soll die StUB entlang führen? • d Wer wir die StUB zahlen und betreiben? • Was sind die Vorteile von Straßenbahn, BRT oder Bus? • Welche Chancen hat Erlangen mit der StUB? • Sonstiges Die auch direkt in Papierform kommuni- zierten Antworten blieben nach Einrei- chung des Bürgerbegehrens am 10. De- zember 2015 die einzige Möglichkeit der Verwaltung, noch über das Projekt StUB zu informieren. Aus Gründen der Neutralitäts- pflicht war es der Stadt Erlangen eindeutig untersagt, Partei für oder gegen das Projekt zu ergreifen. Im Vorfeld zum Bürgerent- scheid, der am 6. März 2016 in Erlangen durchgeführt wurde, blieb es den Interes- sensgruppen vorbehalten, ihre Sichtweise in Form von Plakaten, Veranstaltungen und Internet-Auftritten zu kommunizieren.

Am 6. März 2016 wurde der privat initiier- te Bürgerentscheid mit der vom Initiator formulierten Fragestellung durchgeführt: „Sind Sie dafür, dass die Stadt Erlangen das Projekt StUB (Stadt-Umland-Bahn) nicht realisiert?“. Der beantragte Ausstieg der Quelle: Planungs- und Baureferat der Stadt Erlangen Stadt aus dem Vorhaben Stadt-Umland- Informationen zur Raumentwicklung Heft 4.2016 531

Bahn wurde hierbei mit über 60 % der Stim- Ein auf diese Äußerungen folgendes ex- men abgelehnt. ternes, neutrales Einzelhandelsgutachten erbrachte jedoch den Nachweis, dass die Die Eindeutigkeit des Ergebnisses war Kaufkraft in der Stadt stabil bleibt, obwohl überraschend. Begründung hierfür könnte der stationäre Handel wegen des Online- sein, dass sich sowohl das Studentenwerk Handels deutschlandweit abnimmt. Unter als auch wichtige Arbeitgeber kurz vor der dem Strich führt das schienengebundene Abstimmung deutlich für das Projekt posi- System zwischen Nürnberg, Erlangen und tionierten. Darüber hinaus widersprachen Herzogenaurach in Erlangen also zu einem sich die Gegner des Projekts teilweise in ih- Zugewinn an Kaufkraft. ren Zielsetzungen. So plädierte der Initiator des Bürgerbegehrens dafür, das bestehende Des Weiteren führte die Stadt eine städ- Bussystem mit Umrüstung auf moderne tebauliche Potenzialanalyse durch, die Antriebstechnologien beizubehalten, wäh- aufzeigt, welche baulichen Perspektiven rend zahlreiche weitere Gegner ein eben- im neuen StUB-Verlauf liegen. Diese zeigt falls bautechnisch aufwendiges und kosten- deutlich, dass Grundstücke an der Tras- intensives BRT-System wollten. se und speziell an den Haltepunkten an Wert gewinnen und eine Entwicklung zum Wohnungsbau in den Randlagen und zu StUB und Stadtentwicklung Wohn- und Geschäftshäusern an den Hal- tepunkten führen kann. Der Straßenraum, Der Bürgerentscheid machte deutlich, der sich derzeit häufig mit der Hausrück- dass neben verkehrlichen Themen und der seite zum lauten Verkehr hin orientiert, betriebswirtschaftlichen Kostendiskussion wird zum Begegnungsraum mit gebauten auch die Stadtentwicklung mit Ihren Wohn- und Geschäftshäusern, der sich zu positiven wie negativen Bildern deutlich an einem lebendigen und urbanen Raum ent- Gewicht gewinnt. So wurden das „Abhol- wickelt. Auch die zentralen Umsteigepunk- zen von alten Straßenbäumen“ wie auch te werden mit öffentlichen Plätzen an einer die „Änderung des Erscheinungsbildes der neuen Straßenrandbebauung gefasst und Fußgängerzone in der Innenstadt“ ange- damit die Grundstücke in Wert gesetzt. Die führt sowie eine „ungewisse Zukunft des Immobilienentwickler und Wohnungsun- Einzelhandels“. ternehmen begleiteten das Vorhaben auch

Abbildung 5 Bauflächenpotenziale entlang der StUB

Quelle: Planungs- und Baurefe- rat der Stadt Erlangen auf Basis Schellenberg + Bäumler Archi- tekten GmbH

Christian Korda, Josef Weber: 532 Eine Regionalstadtbahn und Tram für Erlangen!? Was sie leisten soll und kann

deswegen positiv in ihren Gremien und in Beteiligung zu erfüllen. Dabei wird es auch der Öffentlichkeit. Somit kann der hohen darauf ankommen, die Bürger mit einer Wohnungsnachfrage in Erlangen mit stei- entsprechenden Darstellung der konkreten genden Mieten ein Entwicklungsangebot Ausgestaltung der StUB sowohl im regio- entgegengebracht werden. nalen als auch im innerstädtischen Kon- text weiterhin vom Projekt zu überzeugen. Insbesondere muss in den einzelnen Bau- Weitere Vorgehensweise abschnitten bei der direkt betroffenen Be- völkerung für die Zustimmung zum Projekt In der wichtigen Phase der Entscheidungs- weiter geworben werden. findung zum Bürgerbegehren gelang es den federführenden Akteuren in Erlangen, Infrastrukturverbesserungen wie eine Stadt- die Öffentlichkeit transparent, offensicht- Umland-Bahn in Erlangen können die Ver- lich wirksam und bei den Bürgern akzep- kehrsmittelwahl erheblich verändern und tiert zu informieren und zu beteiligen. Wie damit das Stadtgebiet vom MIV entlas- auch in anderen Städten mit neuen Stra- ten. Darüber hinaus setzen sie einen neu- ßenbahnvorhaben bestand hier ein sehr en Impuls, der die Grundstücke an deren hohes Informations- und Mitwirkungsbe- Trassenverlauf in Wert setzt und damit die dürfnis der Bürger, dem mittlerweile in vie- Entwicklung des Stadtwachstums positiv len Städten mit umfassenden Angeboten beeinflusst. Dies lässt sich als Chance be- und Verfahren entsprochen wird. greifen, um dem angespannten Markt mit einem ergänzenden Wohnungsangebot ent- Am 17. März 2016 beschloss der Erlanger gegenzuwirken. Daneben werden aber auch Stadtrat die Gründung eines Zweckver- für den Bestand Verbesserungen erreicht, bands, um die Stadt-Umland-Bahn gemein- wie die neue Möglichkeit der Lärmschutz- sam mit den Städten Herzogenaurach und bebauung, die auch die Belastungssituation Nürnberg weiter zu planen, die diesen Be- durch Straßenverkehrslärm im Wohnungs- schluss bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestand deutlich verbessert. So haben die gefasst hatten. Am 27. April 2016 fand die meisten Mieter den Mehrwert einer Stadt- konstituierende Sitzung der zugehörigen entwicklung, die mit einer StUB einhergeht, Verbandsversammlung statt. erkannt und wertgeschätzt.

Der Zweckverband hat jetzt die Aufgabe, Die StUB wertet die Stadt daher in Zukunft innerhalb weniger Jahre die notwendigen deutlich auf, sowohl in verkehrlich-funkti- Unterlagen des formalen Zuschussantra- onaler Hinsicht als auch in städtebaulicher ges für die gesamte Streckenlänge von etwa Hinsicht. Sie wird beides sein: attraktive 15,6 km zu erarbeiten. Eine der wichtigsten Straßenbahn für Erlangen und attraktive Aufgaben wird hierbei sein, die hohen Er- Regionalstadtbahn – gemeinsam mit der S- wartungen in Erlangen an die öffentliche Bahn.

Literatur

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