Plenarprotokoll 12/70

Deutscher

Stenographischer Bericht

70. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Inhalt:

Glückwünsche zu den Geburtstagen der b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Abgeordneten , Otto Graf des von der Bundesregierung einge- Lambsdorff, Hans Gattermann und Albert brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Probst 5873 A Abkommen vom 2. November 1987 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland Ausscheiden des Abgeordneten Dr. Ulrich und Neuseeland über den Luftverkehr Briefs aus der Gruppe PDS/Linke Liste . . 5873 B (Drucksachen 12/938, 12/1849)

Bestimmung des Abgeordneten Bernhard c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Jagoda als ordentliches Mitglied im Vermitt- des von der Bundesregierung einge- lungsausschuß für den ausgeschiedenen brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abgeordneten Dr. Paul Laufs 5873 B Abkommen vom 8. April 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Erweiterung der Tagesordnung 5873 B Republik Venezuela über den Luftver- kehr (Drucksachen 12/1057, 12/1850) Absetzung der Punkte 3 g, 11 und 13 von der Tagesordnung 5873 B d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung einge- Zur Geschäftsordnung brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rudolf Dreßler SPD 5873 C Abkommen vom 25. April 1989 zwischen Dr. CDU/CSU 5874 C der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ver- Dr. PDS/Linke Liste . . 5875 C einigten Staaten von Amerika zur Ergän- Heinz Werner Hübner FDP 5875 D zung des Abkommens vom 7. Juli 1955 über den Luftverkehr (Drucksachen Tagesordnungspunkt 2: 12/1058, 12/1851 [neu]) Bericht der Bundesregierung über Um- e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung weltradioaktivität und Strahlenbela- des von der Bundesregierung einge- stung im Jahr 1989 (Drucksache 12/69) brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1986 zwi- Tagesordnungspunkt 3: 28. Januar schen der Bundesrepublik Deutschland Beratungen ohne Aussprache und der Gabunischen Republik über a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung den Luftverkehr (Drucksachen 12/1258, des von der Bundesregierung einge- 12/1852) brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 f) Zweite und dritte Beratung des von der zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Bundesregierung eingebrachten Ent- land und der Argentinischen Republik wurfs eines Dritten Gesetzes zur Ände- über den Luftverkehr (Drucksachen rung des Eichgesetzes (Drucksachen 12/759, 12/1848 [neu]) 12/746, 12/1741)

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

h) Beratung der Beschlußempfehlung und Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär des Berichts des Ausschusses für Verkehr BMF 5902 A zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . 5904 A Vorschlag für eine Verordnung (EWG) Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 5906 C des Rates über Konsultationen zwischen Flughäfen und Flughafenbenutzern so- Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . 5907 A wie über Gebührengrundsätze von Flug- Dr. PDS/Linke Liste . . . 5908 C häfen (Drucksachen 12/210 Nr. 165, 12/1771) Dr. CDU/CSU 5909 D i) Beratung der Beschlußempfehlung und Detlev von Larcher SPD 5912 A des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundes- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 5913 C regierung Detlev von Larcher SPD 5913 D Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 Titel 686 82 — Transportkosten für (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 5915B den Abzug der Westgruppe der sowjeti- schen Streitkräfte aus dem in Artikel 3 Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . . 5916B des Einigungsvertrages genannten Ge- Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär biet (Drucksachen 12/1383, 12/1808) BMWi 5917 A in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 6: Zusatztagesordnungspunkt: a) Erste Beratung des von der Fraktion Zweite und dritte Beratung des von der der SPD eingebrachten Entwurfs eines Bundesregierung eingebrachten Ent- . . . Strafrechtsänderungsgesetzes — wurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgeordnetenbestechung (Drucksache Bundesärzteordnung und weiterer Bun- 12/1630) desgesetze für Heilberufe (Drucksachen b) Erste Beratung des von dem Abgeordne- 12/1524, 12/1934) 5877 D ten Dr. und der GRÜNEN ein- Tagesordnungspunkt 4: Gruppe BÜNDNIS 90/DIE gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Vereinbarte Debatte zum Bericht der die Strafbarkeit der Abgeordnetenbeste- unabhängigen Kommission für die künf- chung (. . . Strafrechtsänderungsgesetz) tigen Aufgaben der Bundeswehr (Drucksache 12/1739) Dr. , Bundesminister Dr. Hans de With SPD 5918B BMVg 5878D SPD 5881 D CDU/CSU 5920 A CDU/CSU 5883 D Jörg van Essen FDP 5920 D Benno Zierer CDU/CSU 5885 C Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 5922 B Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 5886 C Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 5923 A Günther Friedrich Nolting FDP 5888 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . . 5923 D Dr. Andreas von Bülow SPD 5890 A CDU/CSU 5891 C , Parl. Staatssekretär BMJ . 5925 D Dr. FDP 5892 D Tagesordnungspunkt 1 5894 D Manfred Opel SPD Fragestunde (Fortsetzung) Thomas Kossendey CDU/CSU 5896 C — Drucksache 12/1912 vom 10. Januar Ortwin Lowack fraktionslos 5897 D 1992 — Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . 5898 B Forderungen der Bundesregierung gegen- 5901 A Dieter Heistermann SPD über der Imhausen-Chemie GmbH wegen zweckentfremdeter Fördermittel oder fälli- Tagesordnungspunkt 5: ger Steuerverpflichtungen Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bun- MdlAnfr 10 des und der Steuervergünstigungen ge- Norbert Gansel SPD mäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Antw PStSekr BMFT . 5926 D Stabilität und des Wachstums der Wirt- schaft (StWG) vom 8. Juni 1967 für die ZusFr Norbert Gansel SPD 5927 B Jahre 1989 bis 1992 (Dreizehnter Sub- ventionsbericht) (Drucksache 12/1525) ZusFr Franz Müntefering SPD 5928 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 III

Kontakte zwischen dem Geschäftsführer der MdlAnfr 45 mit dem Bau der Giftgasfabrik in Rabta/Liby Horst Kubatschka SPD en beteiligten Salzgitter-Industriebau GmbH Antw StM Helmut Schäfer AA 5936C und Mitarbeitern des Bundesnachrichten- dienstes ZusFr Horst Kubatschka SPD 5936 D MdlAnfr 11 ZusFr Dr. Peter Struck SPD 5936 D Norbert Gansel SPD Antw StM BK . . . 5928B Grundlage für die Koordinierung der Hilfs- maßnahmen für die GUS ZusFr Norbert Gansel SPD 5928 B MdlAnfr 48 Zahl und Ausbildungsstand der Ingenieure Hans Wallow SPD in den neuen Bundesländern; Stellenwert Antw StM Helmut Schäfer AA 5937 A der Ingenieure für den Aufbau in den neuen Bundesländern, insbesondere für den Auf- ZusFr Hans Wallow SPD 5937 C schwung Ost MdlAnfr 32, 33 Zusatztagesordnungspunkt: Christian Müller (Zittau) SPD Aktuelle Stunde betr. Situation der älte- ren Bürgerinnen und Bürger in den Antw PStSekr Torsten Wolfgramm BMBW 5928D, neuen Bundesländern nach dem Erhalt 5930A der Rentenbescheide gemäß Renten- ZusFr Christian Müller (Zittau) SPD 5929C, 5930B überleitungsgesetz Bewertung der Bildungsabschlüsse im Inge- Petra Bläss PDS/Linke Liste 5938A nieurwesen in den alten und neuen Bundes- CDU/CSU . . . 5938C ländern Günther Heyenn SPD 5939 C MdlAnfr 34, 35 Dr. Ing. Rainer Jork CDU/CSU Dr. FDP 5940 C Antw PStSekr Torsten Wolfgramm BMBW 5930D, Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . 5941B 5931 B Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 5942 B ZusFr Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . 5931D CDU/CSU 5944 A ZusFr Christian Müller (Zittau) SPD . . . 5932 A Renate Jäger SPD 5945A ZusFr Dr. Gerhard Päselt CDU/CSU . . . 5932 B CDU/CSU 5946 A Förderung der Fo rt- und Weiterbildung der Ingenieure in den neuen Bundesländern Dr. Eva Pohl FDP 5947 A MdlAnfr 36 Ulrike Mascher SPD 5948 B Dr. Gerhard Päselt CDU/CSU Heinz-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 5949B Antw PStSekr Torsten Wolfgramm BMBW 5932 B SPD 5949 D Unterschiedliche Auffassungen im Bundes- Heinz Schemken CDU/CSU 5951 C bildungsministerium über die Funktion des Abiturs für die Zulassung zum Studium Tagesordnungspunkt 7: MdlAnfr 37, 38 Beratung der Beschlußempfehlung und Eckart Kuhlwein SPD des Berichts des Ausschusses für Raum- Antw PStSekr Torsten Wolfgramm BMBW 5932D, ordnung, Bauwesen und Städtebau 5934 B zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.- Kansy , Peter Götz, Georg ZusFr Eckart Kuhlwein SPD . . . 5932D, 5935 A Ing. Dietmar Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und ZusFr Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/ der Fraktion der CDU/CSU sowie der CSU 5933B, 5935 A Fraktion der FDP: Wohnen im Alter — ZusFr Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . 5933D, Förderung der Selbständigkeit in der 5935 C Gemeinschaft ZusFr Dr. CDU/CSU . . . . 5934 A zu dem Antrag der Abgeordneten Ga- briele Iwersen, Dieter Maaß (Herne), ZusFr CDU/CSU . . . 5935 B Siegfried Scheffler, weiterer Abgeordne- ZusFr Dr. Peter Eckardt SPD 5935 C ter und der Fraktion der SPD: Wohnen im ZusFr Hubert Hüppe CDU/CSU 5935 D Alter (Drucksachen 12/434, 12/1571, 12/1763) ZusFr Dirk Hansen FDP 5936 A Peter Götz CDU/CSU 5952 D Erlaß der Portokosten für Hilfspakete in Arne Fuhrmann SPD 5954 B die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Lisa Peters FDP 5955 D IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 5957 A Dr. PDS/Linke Liste 5979 B Uta Würfel FDP 5957 D Steffen Kampeter CDU/CSU 5980 A Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 5981 A BMBau 5958 B CDU/CSU 5982 C Dieter Maaß (Herne) SPD 5959 D Dr. Günther Krause, Bundesminister BMV 5983 B Hannelore Rönsch, Bundesministerin Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 5983 D BMFuS 5961 B Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/ GRÜNE 5984 C Tagesordnungspunkt 8: Beratung der Unterrichtung durch die Klaus Lennartz SPD 5985 A Bundesregierung: Tagesordnungspunkt 12: Sondergutachten „Allgemeine ökologi- sche Umweltbeobachtung" des Rates von Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Sachverständigen für Umweltfragen — brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Oktober 1990 (Drucksache 11/8123) Bekämpfung von Lohndumping (Druck- sache 12/1060) Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär BMU 5962 D Hermann Heinemann, Minister des Landes Klaus Lennartz SPD 5963 D Nordrhein-Westfalen 5986 A Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 5987 C CDU/CSU 5965 B Petra Bläss PDS/Linke Liste 5988 D Dr. Jürgen Starnick FDP 5966 A Heinz Hübner FDP 5989 C

Tagesordnungspunkt 9: Manfred Reimann SPD 5990 A Beratung der Beschlußempfehlung und Hans-Eberhard Urbaniak SPD 5991 B des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Dr. CDU/CSU 5992 B Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Nächste Sitzung 5995 D rung: Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Aus- wirkungen der 5. Novelle zum Wasser- Anlage 1 haushaltsgesetz auf die Gewässer (Drucksachen 11/7327, 12/1700) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 5997* A Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 5967 B Anlage 2 Marion Caspers-Merk SPD 5969A Personalprobleme bei der Beratungsstelle Gerhart Rudolf Baum FDP 5970 D für private Träger in der Entwicklungszu- sammenarbeit Tagesordnungspunkt 10: MdlAnfr 39, 40 — Drs 12/1912 Beratung der Beschlußempfehlung und Hans-Günther Toetemeyer SPD des Berichts des Ausschusses für Verkehr SchrAntw PStSin Michaela Geiger BMZ . 5997' C (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abge- ordneten Harald B. Schäfer (Offenburg), Klaus Daubertshäuser, Klaus Lennartz, Anlage 3 weiterer Abgeordneter und der Fraktion Entwicklungshilfezusammenarbeit mit Kroa- der SPD: Mehr Umweltschutz, Verkehrs- tien sicherheit und Lebensqualität durch Ge- schwindigkeitsbegrenzungen (Drucksa- MdlAnfr 41 — Drs 12/1912 chen 12/616, 12/1621) Jürgen Augustinowitz CDU/CSU Elke Ferner SPD 5971D SchrAntw PStSin Michaela Geiger BMZ . 5998' A Dr. CDU/CSU 5973 D Anlage 4 Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 5975 D Verschiebung von Parteivermögen der Kom- Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . 5976 C munistischen Partei der Sowjetunion in den Westen; Nutzung dieser Guthaben für die FDP 5977 A Hilfeleistungen in die GUS Robert Antretter SPD 5977 C MdlAnfr 42, 43 — Drs 12/1912 Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/ GRÜNE 5978 A SchrAntw StM Helmut Schäfer AA . . . 5998' B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 V

Anlage 5 Anlage 11 Verleihung der angolanischen Staatsbürger- Gewährung eines 50%igen Abschlages an schaft für Verdienste ausländischer Bürger Städte bei Kauf von Grundstücken aus Lie- an der Beeinflussung der Wahlen in Angola genschaften der verbündeten Streitkräfte zugunsten des Kommunismus MdlAnfr 57 — Drs 12/1912 MdlAnfr 44 — Drs 12/1912 Robert Antretter SPD Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw PStSekr BMF 6000* B SchrAntw StM Helmut Schäfer AA . . . 5998* C

Anlage 12 Anlage 6 Sicherstellung der Erdgaslieferung in den Unterzeichnung des deutsch-tschechoslowa- neuen Bundesländern nach dem 1. Januar kischen Vertrages 1992 durch Schlichtung des Streits zwischen der Wintershall Erdgas AG und der Verbund- MdlAnfr 49, 50 — Drs 12/1912 netz Gas AG Günter Verheugen SPD MdlAnfr 58 — Drs 12/1912 — SchrAntw StM Helmut Schäfer AA . . . 5998* D Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6000* C Anlage 7 Ausstellung von Vertriebenenausweisen Anlage 13 nach dem zweiten Weltkrieg; statistische Erfassung der Heimatvertriebenen Zahl der selbständigen Ingenieure in den neuen Bundesländern seit der Wende; Fort- MdlAnfr 51 — Drs 12/1912 führung des Hospitationsförderungsprog- Ortwin Lowack fraktionslos ramms für Angehörige der freien Berufe SchrAntw PStS Eduard Lintner BMi . . . 5998* D MdlAnfr 59, 60 — Drs 12/1912 — Wieland Sorge SPD

Anlage 8 SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6000* D Freikauf politischer Gefangener von der ehe- maligen DDR zu überhöhten Preisen Anlage 14 MdlAnfr 52, 53 — Drs 12/1912 Platz der Ingenieure und Zukunft der Indu- Dr. Jürgen Schmude SPD strieforschung in den neuen Bundeslän- dern SchrAntw PStS Eduard Lintner BMi . . . 5999* A MdlAnfr 61 — Drs 12/1912 — Dr. Gerhard Päselt CDU/CSU Anlage 9 SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6001* B Gewährung einer Mitnahmeentschädigung in Höhe von 0,03 DM pro Person/Kilometer nach den Lohnsteuer-Richtlinien bei Dienst- Anlage 15 reisen mit dem privaten Kraftfahrzeug; Aus- Bedarf an Baumaterial, insbesondere in den dehnung dieser Regelung auf die Mitnahme neuen Bundesländern, im Jahre 1992; vor- von Werkzeug und Material bei Arbeitsfahr- übergehende Einfuhr hochwertiger Dachzie- ten gel und Mauersteine aus der CSFR MdlAnfr 54, 55 — Drs 12/1912 MdlAnfr 62, 63 — Drs 12/1912 — Ernst Kastning SPD Ernst Hinsken CDU/CSU SchrAntw PStS Manfred Carstens BMF . . 5999* C SchrAntw PStSekr Erich Dr. Riedl BMWi . 6002* A

Anlage 10 Anlage 16 Stand der deutsch-tschechoslowakischen Kostenübernahme für die Räumung der von Gespräche über die Entschärfung der Situa- der Wismut AG an die Kommunen zurückzu- tion an den Grenzübergängen nach Bay gebenden Grundstücke und Gebäude; Betei- ern ligung der betroffenen Kommunen MdlAnfr 56 — Drs 12/1912 — MdlAnfr 64, 65 — Drs 12/1912 — SPD SPD SchrAntw PStSekr Manfed Carstens BMF 5999* D SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6002* C

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70. Sitzung

Bonn, den 16. Januar 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Hans Klein: Guten Morgen, meine Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die lieben Kolleginnen und Kollegen. heutige Tagesordnung um die erste Beratung des von ihr eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung des (Zurufe: Guten Morgen, Herr Präsident!) Bundeskindergeldgesetzes zu erweitern. Die Sitzung ist eröffnet. Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort Zu Beginn möchte ich einigen Kollegen nachträg- gewünscht? — Das ist der Fall. Der Kollege Dreßler hat lich zum Geburtstag gratulieren: Kollege Willy Brandt das Wort. feierte am 18. Dezember 1991 seinen 78. Geburtstag, Kollege am 20. Dezember 1991 seinen 65. Geburtstag, Kollege Hans Gattermann am Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen 24. Dezember 1991 seinen 60. Geburtstag und Kol- und Herren! Bundesregierung und Koalitionsfraktio- lege Dr. Albert Probst am 29. Dezember 1991 eben- nen veranstalten derzeit ein bemerkenswertes Schau- falls seinen 60. Geburtstag. Ihnen allen spreche ich spiel. herzliche Glückwünsche des ganzen Hauses aus. (Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU (Beifall im ganzen Hause) und der FDP) Ich habe Sie darüber zu unterrichten, daß der Wenn die zweitgrößte Fraktion des Hauses die Kollege Dr. Ulrich Briefs am 19. Dezember 1991 aus Geschäftsordnung bemühen muß, um zu ihrem parla- der Gruppe PDS/Linke Liste ausgeschieden ist. Er mentarischen Recht zu kommen und zu bewirken, daß wird künftig dem Deutschen Bundestag als fraktions- ein von ihr vorgelegter Gesetzentwurf in erster loses Mitglied angehören. Lesung behandelt wird, offenbart die Mehrheit aus CDU/CSU und FDP, die das bisher verhindert hat und (Zurufe von der CDU/CSU, der FDP und der weiter verhindern will, SPD) (Michaela Geiger [CDU/CSU]: Sehr rich- Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 tig!) des Grundgesetzes scheidet der Kollege Dr. Paul Laufs als ordentliches Mitglied aus. Die Fraktion der ein gestörtes Verhältnis zu den Regeln des gesitteten CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Kollegen Bern- Parlamentarismus. hard Jagoda vor, der bisher dem Vermittlungsaus- (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ schuß als stellvertretendes Mitglied angehört hat. CSU und der FDP) Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Parlamentarische Qualität beweist sich nämlich vor Widerspruch. Damit ist der Kollege Bernhard Jagoda allem darin, wie die als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß Mehrheit die Rechte und Anlie- bestimmt. gen der Minderheit achtet und behandelt. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, interfraktionell ist ver- einbart worden, die Tagesordnung um die zweite und Unser Anliegen, den Gesetzentwurf der SPD-Frak- dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung der tion zur Erhöhung des Erstkindergeldes heute end- Bundesärzteordnung und weiterer Bundesgesetze lich in erster Lesung zu behandeln, — Drucksache 12/1524 — zu erweitern. Der Zusatz- (Zuruf von der CDU/CSU: Schauspieler!) punkt soll ohne Aussprache mit Punkt 3 der Tagesord- nung aufgerufen werden. nimmt doch nicht eine Entscheidung des Hauses in der Sache vorweg und macht auch nicht aus einer Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, Minderheit eine Mehrheit. Ich frage: Wovor fürchten die Tagesordnungspunkte 3 g, 11 und 13 abzuset- sich die Koalitionsfraktionen eigentlich, wenn sie zen. durch Verfahrensheckmeck eine Debatte in der Sache Sind Sie auch damit einverstanden? — Es erhebt verhindern? sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD) 5874 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Rudolf Dreßler Die in der Öffentlichkeit von CDU/CSU und FDP Wir wollen, daß das Erstkindergeld von 50 DM auf erhobene Behauptung, die SPD blockiere die Verbes- 125 DM erhöht wird, und das rückwirkend zum 1. Ja- serung des Familienlastenausgleichs, nuar. Die SPD-Fraktion appelliert nochmals an CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge CSU und FDP: Machen Sie endlich den Weg frei, ordneten der FDP) machen Sie Schluß damit, Mehrwertsteuererhöhung und Vermögensteuersenkung mit der Verbesserung wird durch den Schwindel, einen von uns vorgelegten des Familienlastenausgleichs zu verknüpfen. Stim- Gesetzentwurf zur Erhöhung des Kindergeldes nicht men Sie endlich der Aufsetzung unseres Gesetzent- auf die Tagesordnung zu setzen, entlarvt. wurfs auf die Tagesordnung heute morgen zu. (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang (Beifall bei der SPD) Schäuble [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn mit Ihrem Schwindel entlarven?) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Wahr ist nämlich das Gegenteil — und die Notwen- ordnete Dr. Heribert Blens. digkeit der heutigen Geschäftsordnungsdebatte be- weist das —: CDU/CSU und FDP verhindern mit ihrer Verfahrensblockade im Parlament, daß den Familien Dr. Heribert Blens (CDU/CSU): Herr Präsident! schnell geholfen und das Kindergeld schnell erhöht Meine Damen und Herren! Wer den Familien helfen wird. will und wer ihnen schnell helfen will, der muß den (Beifall bei der SPD) Antrag der SPD heute ablehnen. Aber das ist nicht alles. Wer dem Ganzen auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: Grund gehen will, findet weitere üble Absichten. Das Das ist unglaublich!) derzeit im Vermittlungsausschuß liegende Steuerän- derungsgesetz der Koalitionsfraktionen ist ein Mu- Er muß statt dessen endlich die Blockade der Sozial- sterbeispiel steuerpolitischer Einseitigkeit. Mehr- demokraten im Vermittlungsausschuß aufgeben. wertsteuererhöhung für alle und Vermögensteuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — senkung für wenige — das ist ein weiterer Meilenstein Zurufe von der SPD: Oh!) in der Politik der sozialen Ungerechtigkeit der CDU/ Der Deutsche Bundestag hat Anfang Dezember CSU und der FDP. 1991 eine Verbesserung des Familienlastenaus- (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der gleichs um 7 Milliarden DM beschlossen. Dem hat der CDU/CSU) Bundesrat nicht zugestimmt und den Vermittlungs- Und nun kommen Sie daher und knüpfen die ausschuß angerufen. verfassungsrechtlich gebotene Erhöhung des Famili- (Rudolf Dreßler [SPD]: Sie wissen sehr gut, enlastenausgleichs an die Bedingung, zugleich müß- warum!) ten dann auch die steuerpolitischen Grobheiten wie Im Vermittlungsausschuß blockieren Sie die weitere- Mehrwertsteuererhöhung und Vermögensteuersen- Beratung kung von der SPD in Bund und Ländern geschluckt werden. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dieses Manö- (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) ver machen wir nicht mit. Den darin liegenden Ver- und verhindern dadurch, daß diese 7 Milliarden DM such einer politischen Erpressung weisen wir den Familien vom 1. Januar 1992 an zugute kommen. zurück. Das sind die Tatsachen. (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sohns [FDP]: Wer erpreßt wen?) Wenn Sie diese Blockade aufgeben, dann ist den Wir wollen eine Erhöhung des Kindergeldes, ohne Familien viel schneller, nämlich bis zum 14. Februar, daß den Familien gleichzeitig ein guter Teil davon der nächsten Sitzung des Bundesrates, Klarheit zu durch die Mehrwertsteuererhöhung wieder aus der verschaffen. Das geht dann viel schneller, als Ihren Tasche gezogen wird. Wir wollen eine Erhöhung des Gesetzentwurf, den Sie jetzt neu eingebracht haben, Kindergeldes, ohne daß Rentnerinnen und Rentner durch das Parlament zu bringen. Wer schnell helfen durch die Mehrwertsteuererhöhung zusätzlich be- will, muß Ihren Antrag heute ablehnen. straft werden. Wir wollen eine Erhöhung des Kinder- (Zurufe von der SPD: Unmöglich!) geldes, ohne daß die Besitzer des großen Geldes, Graf Aber das setzt voraus, daß Sie mit Vernunft und Lambsdorff, durch die Vermögensteuersenkung da- Verantwortungsbewußtsein im Vermittlungsverfah- bei ein zusätzliches Geschäft machen. ren weiter verhandeln, (Beifall bei der SPD) (Dr. Peter Struck [SPD]: Haben wir immer Das alles geht nur, wenn Sie Ihre Blockade gegen gemacht!) unseren Gesetzentwurf endlich aufgeben. Ich nenne d. h. die Entscheidung über die Mehrausgaben des es ein schamloses Spiel mit den Familien, wenn Sie Steueränderungsgesetzes 1992 und die Entscheidung deren berechtigte Anliegen mit denen des großen über die dafür erforderlichen Mehreinnahmen durch Geldes verknüpfen, wenn Sie die Kindergeldempfän- Erhöhung der Mehrwertsteuer zusammenzuhalten. ger gleichsam für die Vermögensteuerzahler politisch Das Spiel, das Sie vorhaben — die Opposition verteilt in Beugehaft nehmen. Sie gefährden den sozialen die Wohltaten, und die Koalition kann dann sehen, Frieden in Deutschland, meine Damen und Herren. wie das finanziert wird —, spielen Sie nicht mit uns. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5875

Dr. Heribert Blens Ich sage Ihnen hier — das gilt für heute, und das gilt für desrat die Mehrheit. Sie tragen damit auch Verant- das gesamte Vermittlungsverfahren —: Die beiden wortung für das Ganze mit. Dinge bleiben für uns zusammen. (Peter Conradi [SPD]: Deswegen! Genau! Worum es konkret geht, ist sehr einfach. Ich nenne Wir lassen uns nicht erpressen!) Ihnen ein paar Zahlen. Die Sozialdemokraten verlan- Ich fordere Sie auf: Werden Sie dieser Verantwortung gen im Vermittlungsausschuß für die Jahre 1992 bis gerecht, und stimmen Sie im Vermittlungsausschuß 1994 Mehrausgaben des Bundes von 64 Milliarden möglichst schnell einem Ergebnis zu, das den Fami- DM. Dann kommt die Frage der Finanzierung. Dabei lien gerecht wird und die nötigen und sinnvollen hören wir von den Sozialdemokraten einen einsamen Ausgaben umfaßt, das aber auch die notwendige Solisten aus Niedersachsen, den Finanzminister, der Finanzierung und damit die Mehrwertsteuererhö- sagt: Die Mehrwertsteuererhöhung ist notwendig. Er hung enthält. ist der einzig Vernünftige, der bei Ihnen den Mut hat, Wenn Sie das tun, kommen wir zugunsten der das offen zu sagen. Und dann kommt der Chor der Familien sehr schnell weiter. Aber Ihrem Antrag zu Kanzlerkandidaten. Engholm: Mit den Sozialdemo- folgen hieße, parteitaktische Spielchen Ihrer Seite auf kraten keine Mehrwertsteuererhöhung. Dann kommt Kosten der Familien zu unterstützen. Dafür kriegen der nächste Kanzlerkandidat, Klose: Mit der sozialde- Sie uns niemals. mokratischen Bundestagsfraktion keine Mehrwert- steuererhöhung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Rudolf Dreßler [SPD]: Alles einvernehm Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete lich!) Dr. Ursula Fischer, Sie haben das Wo rt. Dann kommt der Kanzlerkandidat Lafontaine: Mit der SPD keine Mehrwertsteuererhöhung. Aber der Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Listenreiche von der Saar fügt noch etwas hinzu, dent! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich nämlich das Wörtchen „jetzt". Er sagt: Jetzt keine darüber, warum man diese Debatte nicht einfach mit Mehrwertsteuererhöhung. Dann ist die Frage: Wann der Debatte über den Subventionsbericht verbindet. denn, wenn nicht jetzt? Da sagt er: Wenn die Harmo- Dann hätte man unter Umständen auch eine Idee, nisierung der Mehrwertsteuersätze in der EG kommt. woher man Geld bekommen könnte. Das versteht kein Mensch draußen. Die Leute behal- Für mich ist ohnehin sehr zweifelhaft, warum eine ten nur: Die wollen jetzt nicht die Mehrwertsteuerer- Debatte über Vermögen- und Mehrwertsteuer mit höhung. Nur Eingeweihte wissen, was gemeint ist. einer Debatte über Kindergeld verknüpft wird. Die EG-Richtlinie liegt auf dem Tisch, den Mindest- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ satz der Mehrwertsteuer in der EG auf 15 % anzuhe- CSU]: Von Steuern verstehen Sie nichts!) ben. Über diese Richtlinie wird im April entschie- — Es mag sein, daß ich dabei etwas nicht verstehe. Ich den. verstehe es an dieser Stelle sogar sehr gerne nicht. - (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Vermögensteuer spielt für die Bürger in den östli- Dann ist das für uns verbindliches, geltendes Recht, chen Bundesländern mit Sicherheit nicht die Rolle, das wir umsetzen müssen. aber eine schnelle, unkomplizierte und unbürokrati- sche Kindergeldregelung auf alle Fälle. Die 125 DM (Widerspruch bei der SPD) sind aus meiner Sicht noch zu niedrig. Es gab auch schon andere zahlen. In Klarschrift heißt das, was Lafontaine sagt: Mehr- wertsteuererhöhung jetzt nicht, aber im April. Ich schlage vor, wir sollten dem Antrag der SPD zustimmen, diesen Entwurf auf die Tagesordnung zu (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Alfred setzen. Dregger [CDU/CSU]: April! Ap ril!) Danke. Ich frage Sie: Wie kommt er auf den Ap ril? Das will (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ich Ihnen auch beantworten: Am 5. April 1992 sind Landtagswahlen, und zwar u. a. in Schleswig-Hol- stein, wo einer Ihrer Kanzlerkandidaten auf dem Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Heinz Hüb- Präsentierteller steht. Er hat sich in der Sache Mehr- ner, ich erteile Ihnen das Wort. wertsteuer auf ein sehr hohes Pferd gesetzt. Er kommt jetzt vor der Wahl nicht mehr davon herunter. Viel- Heinz Werner Hübner (FDP): Herr Präsident! Meine leicht danach; denn vorher ist ja der 1. April. Das kann sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns er seinen Wählern sagen. schon mehrfach mit der Verbesserung des verfas- sungsrechtlich gebotenen Familienlastenausgleichs (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ausführlich befaßt, zuletzt erst bei der Verabschie- der FDP) dung des Steueränderungsgesetzes in verbundener Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen dieses Debatte mit dem Antrag der SPD. Spiel nicht so einfach machen. Wir werden Finanzie- Die SPD hat sich mit ihren Vorstellungen im Finanz- rung und Ausgabenentscheidung zusammenhalten. ausschuß und im Plenum nicht durchsetzen können, Ich fordere Sie auf: Spielen Sie nicht auf Opposition, und das aus guten Gründen, wie sich aus dem Bericht die weder hier noch im Bundesrat eine Mehrheit hat. des Finanzausschusses zum Steueränderungsgesetz Die kann nämlich einfach fordern und sagen, finan- 1992 ergibt, der ausführlich auf diesen Problembe- zieren müssen dann die anderen. Sie haben im Bun reich eingeht. 5876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Heinz Werner Hübner

Nun beschäftigt man sich damit im Vermittlungs- daß die Partei - und Staatsverdrossenheit bei den ausschuß. Es ist also Sache dieses Ausschusses, zu Bürgern wächst. entscheiden und nach Kompromißmöglichkeiten zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — suchen. Sie suchen diese anscheinend nicht. Zurufe von der SPD: Ach!) Wenn ich die Signale aus den anfänglichen Bera- Denn die Bürger haben es schließlich auszubaden, tungen im Vermittlungsausschuß jedoch richtig ver- wenn Fronten aufgebaut werden und die längst fällige standen habe, erscheint dort ein Kompromiß möglich, Verbesserung des Familienlastenausgleichs immer und zwar im Sinne einer weiteren Aufstockung des weiter hinausgezögert wird. Kindergeldes für Erstkinder und einer entsprechen- Was Sache des Vermittlungsausschusses ist, muß den Regelung des Kinderfreibetrages zur Wahrung Sache dieses Ausschusses bleiben. Für die FDP ist das möglichst weitgehender Aufkommensneutralität. Ich eine grundlegende verfassungsrechtliche Aussage. frage mich also, was der erneute Antrag auf Änderung Sie wird daher Ihrem Antrag nicht zustimmen. des Bundeskindergeldgesetzes zum gegenwärtigen Ich danke Ihnen. Zeitpunkt soll. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Aufbrechen oder der Versuch des Aufbrechens eines greifbaren Kompromisses bedeutet doch nur — das wurde schon erwähnt —, daß die Familien noch Vizepräsident Hans Klein: Wir kommen zur Abstim- länger auf die einvernehmliche Regelung warten mung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der müssen, weil sich die SPD querstellt. Fraktion der SPD? — Gegenprobe! — Ihre ignorante Selbstdarstellung und Ihre populisti- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ja unglaub- sche Marktschreierei lich! Unerhört! — Weiterer Zuruf von der SPD: Kinderfeinde!) (Widerspruch bei der SPD — Beifall bei der Enthaltungen? — Der Aufsetzungsantrag ist abge- FDP und der CDU/CSU) lehnt. sollen dabei überdecken, daß Sie u. a. die Fortführung (V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker) der Zusatzabgabe zur Lohnsteuer über den 30. Juni dieses Jahres hinaus anstreben, damit Ihr Abkoppe- lungsgesetz letztendlich finanzierbar wird. Wenn Sie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- dieses Paket also aufschnüren wollen, dann wird ten Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einer Ihnen der Inhalt um die Ohren fliegen. Niemand kann Reihe von Abstimmungen im vereinfachten Verfah- sagen, wie lange das geordnete Einsammeln dann ren. Ich bitte daher, eine Situation herzustellen, die es dauern wird. Warten muß allemal der Bürger. Aber erlaubt, das Abstimmungsverhalten zu erkennen. — das scheint Sie nicht zu stören. Vielen Dank. Dieser Antrag bringt nur neue Nuancen, neue Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Akzente gegenüber den bisherigen Forderungen der SPD. Was ist das für ein Verständnis vom Vermitt- Überweisung im vereinfachten Verfahren lungsausschuß, in dem die Problematik zur Zeit Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- behandelt wird? Aufgabe dieses Ausschusses ist es — regierung das wissen Sie genausogut —, vertraulich und in aller Bericht der Bundesregierung über Umwelt- Offenheit und Flexibilität die unterschiedlichen Vor- radioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr stellungen, Forderungen und Wünsche so zur Dek- 1989 kung zu bringen, daß es zu einem vernünftigen Ausgleich kommt. — Drucksache 12/69 — Überweisungsvorschlag: Durch die permanente Vorabfestlegung der Ver- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit handlungsführer im Vermittlungsausschuß von außen (federführend) durch politische Entscheidungsgremien und auch aus Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit dem Parlament heraus wird die verfassungsrechtliche Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Funktion des Vermittlungsausschusses mißachtet. schätzung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an Zuruf von der SPD: Ach!) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann Es hat den Eindruck, als ob manche den Vermittlungs- ist die Überweisung so beschlossen. ausschuß nur als Vollzugsorgan ihrer politischen Interessen betrachten. Der Wunsch der SPD, ihren Entwurf zur Änderung des Bundeskindergeldgeset- Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 f, 3h und 3i zes auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen, ist sowie den zu Beginn der Sitzung aufgesetzten Zusatz- beredter Ausdruck für diese — ich sagte es schon — punkt auf: den Vermittlungsausschuß mißachtende Haltung. Beratungen ohne Aussprache (Zuruf von der SPD: Keine Ahnung!) a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Hier wird aus parteipolitischem Kalkül und wegen wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom vermeintlicher taktischer Vorteile in Kauf genommen, 18. September 1985 zwischen der Bundesrepu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5877

Vizepräsident Helmuth Becker blik Deutschland und der Argentinischen Deutschland und der Gabunischen Republik Republik über den Luftverkehr über den Luftverkehr — Drucksache 12/759 — — Drucksache 12/1258 — Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr (16. Ausschuß) schusses für Verkehr (16. Ausschuß) — Drucksache 12/1848 (neu) — — Drucksache 12/1852 — Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordneter Ferdi Tillmann Abgeordneter Dr. Ulrich Janzen (Erste Beratung 41. Sitzung) (Erste Beratung 50. Sitzung) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des f) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- desregierung eingebrachten Entwurfs eines wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Dritten Gesetzes zur Änderung des Eichgeset- 2. November 1987 zwischen der Bundesrepu- zes blik Deutschland und Neuseeland über den — Drucksache 12/746 — Luftverkehr — Drucksache 12/938 — Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr (16. Ausschuß) — Drucksache 12/1741 — — Drucksache 12/1849 — Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger (Erste Beratung 41. Sitzung) (Erste Beratung 41. Sitzung) h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Aus- c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des schuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- regierung wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 1987 zwischen der Bundesrepublik Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Deutschland und der Republik Venezuela über Rates über Konsultationen zwischen Flughä- den Luftverkehr fen und Flughafenbenutzern sowie über Gebührengrundsätze von Flughäfen — Drucksache 12/1057 — — Drucksachen 12/210 Nr. 165, 12/1771 — Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr (16. Ausschuß) Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger — Drucksache 12/1850 — i) Beratung derund Beschlußempfehlung und des Berichterstattung: Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- Abgeordneter Ekkehard Gries schuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- (Erste Beratung 41. Sitzung) regierung d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Titel 686 82 — Transportkosten für den Abzug wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte 25. April 1989 zwischen der Regierung der aus dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages Bundesrepublik Deutschland und der Regie- genannten Gebiet — rung der Vereinigten Staaten von Amerika zur — Drucksachen 12/1383, 12/1808 — Ergänzung des Abkommens vom 7. Juli 1955 über den Luftverkehr Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) — Drucksache 12/1058 — Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Helmut Wieczorek (Duisburg) schusses für Verkehr (16. Ausschuß) ZP Zweite und dritte Beratung des von der Bun- — Drucksache 12/1851 (neu) — desregierung eingebrachten Entwurfs eines Berichterstattung: Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteord- Abgeordneter Ferdi Tillmann nung und weiterer Bundesgesetze für Heil- berufe (Erste Beratung 41. Sitzung) — Drucksache 12/1524 — e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- schusses für Gesundheit (15. Ausschuß) wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Januar 1986 zwischen der Bundesrepublik — Drucksache 12/1934 — 5878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Vizepräsident Helmuth Becker Berichterstattung: len, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Abgeordneter Dr. Hans-Joachim Sopart Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist ein- (Erste Beratung 57. Sitzung) stimmig angenommen. Zweite Beratungen und Schlußabstimmungen über Wir treten in die die von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz- dritte Beratung entwürfe zu Abkommen über den Luftverkehr mit der Argentinischen Republik, mit Neuseeland, der Repu- ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte blik Venezuela, den Vereinigten Staaten von Amerika diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer und der Gabunischen Republik: Der Ausschuß für enthält sich der Stimme? — Auch dieser Gesetzent- Verkehr empfiehlt auf den Drucksachen 12/1848 wurf ist einstimmig angenommen. (neu), 12/1849, 12/1850, 12/1851 (neu) und 12/1852, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, stimmen wir über diese fünf Gesetzentwürfe gemeinsam ab. — Ich Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: höre und sehe keinen Widerspruch. Dann können wir Vereinbarte Debatte zum Bericht der unab- so verfahren. hängigen Kommission für die künftigen Auf- Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen gaben der Bundeswehr zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Gesetzent- tionen der CDU/CSU und FDP sowie der Fraktion der würfe sind einstimmig angenommen. SPD vor. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die mung über den von der Bundesregierung eingebrach- Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich höre und ten Gesetzentwurf zur Änderung des Eichgesetzes, sehe keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlos- Drucksache 12/746. Der Ausschuß für Wirtschaft emp- sen. fiehlt auf Drucksache 12/1741, den Gesetzentwurf Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Minister Dr. Gerhard Stoltenberg das Wort. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- (Walter Kolbow [SPD]: Das ist aber unüblich; gen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- denn das ist ein Antrag des Parlaments! Aber tung angenommen. Sie werden wissen, was Sie tun!) Wir treten in die dritte Beratung Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte teidigung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Es war ein guter Beschluß, den wir am 7. Dezember len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — 1989 gefaßt haben und der am 18. Juli 1990 umgesetzt Stimmenthaltungen? — Damit ist auch dieser Gesetz- wurde: eine unabhängige Kommission für die künfti- entwurf einstimmig angenommen. gen Aufgaben der Bundeswehr einzusetzen. Sie hat Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr nach einjähriger Arbeit ihren Abschlußbericht am zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschus- 24. September 1991 dem Bundeskanzler übergeben. ses für Verkehr zu einem Vorschlag der EG über Gleichzeitig wurde der Bericht dem Hohen Haus zur Konsultationen zwischen Flughäfen und Flughafen- Kenntnis und Beratung übersandt. benutzern sowie über Gebührengrundsätze von Flug- Die Kommission unterstreicht die gewachsene welt- häfen, Drucksache 12/1771. Wer stimmt für diese politische Verantwortung des vereinten Deutsch- Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — lands und von daher die Notwendigkeit zur erweiter- Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist ten Handlungsfähigkeit national wie im Rahmen einstimmig angenommen. internationaler Bündnis- und Sicherheitssysteme. Sie Wir kommen nun zur Beratung der Beschlußemp- stellt heraus, daß eine weiterentwickelte Atlantische fehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplan- Allianz auch in Zukunft die Schlüsselrolle zur Erhal- mäßigen Ausgabe. Es handelt sich um Transportko- tung europäischer Sicherheit behält. sten für den Abzug der Westgruppe der sowjetischen Besondere Beachtung verdienen ihre Empfehlun- Streitkräfte, Drucksachen 12/1383 und 12/1808. Wer gen, in einem möglichst breiten Konsens der politi- stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- schen Kräfte die Möglichkeiten zur Mitwirkung der probe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußemp- Bundeswehr an internationalen Aktionen zur Frie- fehlung ist einstimmig angenommen. denssicherung und Behauptung des Völkerrechts zu Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und zur erweitern, der geplanten Europäischen Politischen Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Union auch sicherheitspolitische Aufgaben zu über- gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Bundes- tragen und zu gewährleisten, daß sich deutsche S treit- ärzteordnung und weiterer Bundesgesetze für Heil- kräfte nach Beschluß des Deutschen Bundestages berufe, Drucksache 12/1524. Der Ausschuß für auch an der ganzen Bandbreite internationaler Ein- Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/1934, den sätze im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte beteiligen können. Ich möchte an die SPD appellieren, diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol diese Argumente ernst zu nehmen und endlich die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5879

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg notwendige klarstellende Verfassungsergänzung zu slawien sind jedoch dramatische Beispiele, welche ermöglichen. Gefahren für Sicherheit und Frieden aus politischen, ethnischen, religiösen und territorialen Rivalitäten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — entstehen können, wenn aggres- Zuruf von der SPD: Bringen Sie doch erst militärische Macht siv gegen Recht und Selbstbestimmung zur gewaltsa- Ihren Antrag im Bundestag ein; Sie sind doch men Durchsetzung von Zielen eingesetzt wird. Zu den gar nicht fähig, einen Antrag zu stellen!) bitteren Erfahrungen des letzten Jahres gehört, daß Die Bundesregierung sieht sich in ihrer sicherheits- Krieg als Mittel der Politik leider weiter möglich politischen Einschätzung und ihrem konzeptionellen bleibt. Ansatz zur Reform, zur Neuplanung der Bundeswehr durch Analyse und Schlußfolgerungen der Kommis- Kritische Entwicklungen im Nahen Osten, im isla- sion grundsätzlich bestätigt. Der Bericht gibt uns mischen Spannungsbogen zwischen Atlantik und darüber hinaus wertvolle Denkanstöße und Empfeh- Pakistan, die auch uns berühren, können wir für die lungen zur Weiterentwicklung von Ausbildung, Aus- Zukunft nicht ausschließen. Die Proliferation moder- rüstung und Organisation der Bundeswehr, die wir in ner Waffentechnologie einschließlich Massenver- den vergangenen Monaten sorgfältig ausgewertet nichtungswaffen haben und in unsere weiteren Entscheidungen einbe- (Norbert Gansel [SPD]: Ach nein?) ziehen werden. und weitreichender ballistischer Waffenträger schafft Ich hoffe auch, daß der Bericht zu der dringend zusätzliche Risiken. Die Ergebnisse der Inspektionen gebotenen Versachlichung der öffentlichen Diskus- der Vereinten Nationen im Irak belegen, wie akut sion über Auftrag, Aufgaben und Ausgestaltung der dieses Problem bleibt. Es gewinnt durch die Abwer- künftigen Bundeswehr beiträgt bung ehemaliger sowjetischer Nuklearwissenschaft- (Walter Kolbow [SPD]: Und die Leistungsfä ler und -techniker in die Dritte Welt, für die es higkeit des Ministers steigert!) Anzeichen gibt, eine zusätzliche Brisanz. und damit hilft, eine wirklichkeitsfremde Legitima- In unserer Zeit nimmt das Verständnis für die tions- und Akzeptanzdebatte zu beenden. erforderliche politische und militärische Sicherheits- Ich möchte noch einmal allen Mitgliedern der vorsorge in Deutschland wieder erkennbar zu. Die Kommission und insbesondere ihrem Vorsitzenden, Kommission sagt übrigens zu den künftigen Aufgaben Herrn Professor Jacobsen, für die geleistete Arbeit deutscher Streitkräfte prägnant und eindeutig — ich Dank und Anerkennung aussprechen. zitiere —: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Hauptaufgabe und politische Legitimation der bei Abgeordneten der SPD) Streitkräfte sind und bleiben die Fähigkeit und Sie hat damit einen inhaltsreichen und bedeutsamen Bereitschaft zur Verteidigung, das heißt, zum Beitrag für die künftige deutsche Politik geleistet. unmittelbaren Schutz der territorialen Unver- sehrtheit Deutschlands und seiner Verbündeten,- (Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!) ungeachtet der gegenwärtig geringen Wahr- Dabei mußte sie ihre Aufgabe in der Zeit eines scheinlichkeit eines direkten Ang riffs. Weder in anhaltend dynamischen und tiefgreifenden Wandels Europa noch in der Welt ist ein Zustand absehbar, in der Welt erfüllen. in dem Deutschland seine Interessen ohne Verfü- gung über militärische Mittel hinreichend wah- Meine Damen und Herren, der historische Umbruch ren kann. Unverändert ist die Fähigkeit zur Ver- der vergangenen zwei Jahre hat das sicherheitspoli- teidigung des Landes an den Grenzen und gegen tische Umfeld auf unserem Kontinent grundlegend Angriffe aus der Luft und von See her erforder- verändert. Mit der Beendigung der traditionellen lich. Die Wahrung der Lufthoheit als Ausdruck Ost-West-Konfrontation im Herzen Europas und mit der Souveränität Deutschlands ist als weitere dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft in neue Aufgabe hinzugetreten. Sie wird durch den Staaten unserer östlichen Nachbarn sind bedeu- fliegende Kräfte der Luftverteidigung erfüllt. tende Erfolge für Stabilität und Freiheit und auch zukunftsweisende Möglichkeiten der Kooperation Meine Damen und Herren, ich unterstreiche dies verbunden, die wir nutzen wollen. Aber ohne die alles, auch die letzten Sätze. militärische Absicherung durch die NATO, ohne die Der mehrfach erhobene Vorwurf der SPD-Opposi- alliierten Soldaten und die Soldaten der Bundeswehr tion, die tiefgreifenden Organisations - hätten wir dies nicht erreicht. und Struktur- entscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — erfolgten ohne eine angemessene neue strategische Zustimmung des Abg. Walter Kolbow Konzeption, kann nicht ernsthaft aufrechterhalten [SPD]) werden. — Ich habe das oft gehört, Herr Kolbow, und Sie verdienen rückblickend wie heute für ihren vor- ich habe manchmal den Eindruck, daß Sie sich die bildlichen Einsatz Dank und Anerkennung. Ohren verstopfen, um alte Vorurteile wiederholen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen die großen Errungenschaften der ver- Im Mai 1991 haben die Verteidigungsminister der gangenen Jahre erhalten und weiter ausbauen. Der Allianz erste Entscheidungen über die künftige Struk- Golfkonflikt wie der tragische Bürgerkrieg in Jugo tur der Streitkräfte getroffen, vor allem mit der Wei- 5880 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg chenstellung für schnelle Eingreifverbände innerhalb Jahr und auch jetzt in der Sowjetunion einen hervor- des Bündnisgebietes. ragenden Beitrag geleistet. Im November 1991 beschlossen die Staats- und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Regierungschefs der NATO die Grundzüge des neuen bei Abgeordneten der SPD) strategischen Konzepts. Im Dezember haben die Ver- Im vergangenen Jahr haben wir nach den Grund- teidigungsminister die wesentlichen Elemente für die satzentscheidungen zur Führungsorganisation und künftige militärische Verteidigungsplanung gebil- Struktur der Teilstreitkräfte im Ap ril 1991 im August ligt. nach langer öffentlicher Debatte die neue Stationie- rung der Streitkräfte festgelegt. Anfang Dezember Die Entwicklung im östlichen Europa — es vergeht wurden die Grundlagen für die Neuorganisation der ja kein Tag ohne dramatische Meldungen — macht territorialen Wehrverwaltung und des Rüstungsbe- vorrangig Unterstützung und Hilfe des Westens für die reichs gelegt. Entschieden wurde auch über die per- demokratischen Reformkräfte nötig, um vor allem die sonelle Verringerung des Bundesministeriums der wirtschaftliche Erneuerung zu unterstützen. Sie erfor- Verteidigung in den kommenden Jahren um etwa dert aber auch geschärftes Problembewußtsein für 1 000 Mitarbeiter und die damit verbundene organi- eine wirksame Krisen- und Risikovorsorge. Deutsch- satorische Straffung. land braucht auch in Zukunft im Rahmen des Bünd- nisses eine militärische Grundvorsorge zur Gewähr- Meine Damen und Herren, Ende letzter Woche leistung seiner Sicherheit und seiner vertraglichen habe ich die Eckdaten des Bundeswehrplans 1993 Verpflichtungen. Hierzu ist der seit 1990 vorgegebene abschließend gebilligt. Das ist ein Ressortkonzept. Friedensumfang von 370 000 Soldaten insbesondere Natürlich steht jedes Projekt nachher zur Diskussion auch im Licht der jüngsten Entwicklungen angemes- im Parlament an. sen. Damit sind gültige Richtlinien für eine geänderte, aber moderne Ausstattung der Bundeswehr gegeben, In Anpassung an den grundlegenden sicherheitspo- die dem gewandelten Aufgabenprofil einer neuen litischen Wandel kann jedoch die Einsatzbereitschaft Sicherheitslage entsprechen und einen mittelfristig der Mehrheit unserer für eine umfassende Verteidi- absehbar engen Finanzrahmen des Verteidigungs- gung vorgesehenen Verbände im Frieden deutlich haushalts in Rechnung stellen. gesenkt werden. Hierzu wurde bereits im letzten Frühjahr die Entscheidung ge troffen, neben der voll- Wir planen Beschaffungsvorhaben von jährlich ständigen Auflösung ganzer Truppenteile den über- 9 Milliarden DM, unter Berücksichtigung von Preis- wiegenden Teil der Verbände des Heeres sowie Teile steigerungen real nur etwa die Hälfte der Mittel, über der bodengebundenen Luftwaffe und Kräfte der die wir Mitte der achtziger Jahre verfügten. So kom- Marine erheblich zu kadern. Damit verbunden sind men wir gegenüber dem letzten Bundeswehrplan zu die Zusammenfassung von Feldheer und Territorial- einer drastischen Verringerung um fast 44 Milliarden heer und eine Straffung von Kommandobehörden und DM. Wir müssen — Herr Kolbow, ich sage das zu Ihrer Stäben, was beträchtliche Rationalisierungseffekte Pressemeldung — Plan und Plan vergleichen; sonst ermöglicht. kommen wir zu irreführenden Schlußfolgerungen. Damit ist allerdings die Untergrenze des Vertretba- In konsequenter Umsetzung dieses organisatori- ren erreicht. Wenn die SPD bei den wichtigsten schen Neuansatzes wird es im Frieden künftig eine Investitionen weiterhin Milliardenkürzungen ohne wesentliche Leistung der Truppe und der Basisorga- seriöse Begründung fordert, gefährdet sie die Zukunft nisation sein, die Grundwehrdienstleistenden so aus- einer modernen Bundeswehr. zubilden, daß sie als voll einsatzbereite Reservisten im Falle einer Mobilmachung zur Verfügung stehen, und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die geordnete Mobilmachungsfähigkeit zu gewähr- Sie stellt mit ihren Anträgen leisten. (Walter Kolbow [SPD]: Die sind begrün- Aus den bereits kurz genannten Gründen muß die det!) Bundeswehr nach Ausbildung und Ausrüstung aber auch in der Lage sein, als militärisches Instrument der — das war schon im Herbst der Fall — vitale Belange Politik zur wirksamen und schnellen Krisenbeherr- der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter in Frage, und schung beizutragen. Angesichts der künftig deutlich sie schadet damit den Sicherheitsinteressen unseres reduzierten kurzfristigen Einsatzbereitschaft der Landes. Masse unserer Streitkräfte gewinnt die kurzfristige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft bestimm- Walter Kolbow [SPD]: Bleiben Sie sach- ter Verbände zentrale Bedeutung. Die hierzu erf or- lich!) derlichen Kräfte werden aus den sieben voll präsenten Brigaden des Heeres sowie aus Teilen der Luftwaffe Einzelne Erfordernisse, insbesondere im Bereich des und der Marine kommen. Die entsprechenden Ver- Lufttransports, sind noch nicht ausreichend berück- bände und Einheiten werden schon im Frieden hoch- sichtigt. Planung bleibt jedoch ein dynamischer Pro- präsent und kurzfristig einsatzbereit zu halten sein. zeß. Natürlich sind gewisse Korrekturen bei den Sie sind zusätzlich in besonderem Maße für nationale Fortschreibungen der kommenden Jahre zu erwar- ten. und internationale Unterstützungsleistungen zur hu- manitären und Katastrophenhilfe geeignet. Gerade Die Umsetzung der Reformen im Bundeswehralltag hier haben Soldaten der Bundeswehr im vergangenen hat weitreichende Auswirkungen auf Hunderttau- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5881

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg sende von Soldaten und zivilen Mitarbeitern und auf die gebotene Planungssicherheit für die personellen ihre Familien. Bei der Realisierung dieser Neuorgani- und organisatorischen Grundlagen geschaffen wor- sation muß deshalb unsere vorrangige Aufmerksam- den. Dazu gehört auch die Beibehaltung der allgemei- keit einer sozialverträglichen Gestaltung aller Maß- nen Wehrpflicht und einer Dauer des Grundwehr- nahmen gelten. dienstes von zwölf Monaten, wie dies die Entschei- dung der Bundesregierung vorsieht. Die Kommission (Beifall bei der CDU/CSU) hat dies für die vorausschaubare Zukunft ausdrück- Wir reden über Sicherheit für unser Volk, und wir lich bejaht. Ob die sicherheitspolitischen Entwicklun- reden über Menschen. Bestimmte Zahlenspiele, die in gen in einer ferneren Zukunft einmal weiter verän- der Öffentlichkeit immer wieder angestellt werden, derte Strukturen für die Bundeswehr begründen, tragen den betroffenen Menschen und der Sache nicht kann heute niemand seriös vorhersagen. Ich empfehle angemessen Rechnung. deshalb auch, mit Spekulationen vorsichtig zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr gut!) Bis 1998 wird der Personalbestand der Zivilbe- Die schnelle Abfolge und Dichte der politischen schäftigten der Bundeswehr insgesamt um etwa Entwicklung in den letzten beiden Jahren hat, wie ich 44 000 Stellen auf einen Umfang von etwa 155 000 sagte, die Bundeswehr erheblich gefordert. In beein- Beschäftigten verringert werden. Forderungen nach druckender Weise haben sich Soldaten und zivile einem weiteren kurzfristigen Abbau sind deshalb Mitarbeiter mit persönlichem Engagement, mit Sach- unrealistisch. Sie stellen sowohl die Leistungsfähig- kunde und mit Kreativität dieser Herausforderung keit der Verwaltung als auch die Sozialverträglichkeit gestellt. Diesem vorbildlichen Einsatz zolle ich mei- der Neuorganisation in Frage. nen großen Respekt und Dank; er verdient unser aller Zu den wichtigsten Aufgaben des neuen Jahres Anerkennung. gehört die baldige abschließende Entscheidung über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie eine grundlegend verbesserte Personalstruktur für bei Abgeordneten der SPD) Berufs - und Zeitsoldaten. Wir haben im vergangenen Jahr innerhalb der Bundesregierung Einvernehmen Die umfassende Reform der Bundeswehr kann aber über eine wesentliche Verbesserung der Eingruppie- nicht nur Aufgabe der unmittelbar politisch und rung von Offizieren und Unteroffizieren erreicht. Die militärisch Verantwortlichen und der damit unmittel- Koalitionsfraktionen haben sich ebenfalls grundsätz- bar befaßten Soldaten und zivilen Mitarbeiter sein. Sie lich für eine bessere Personalstruktur ausgesprochen. kann vielmehr nur gelingen, wenn sie von allen Beides ist auch erforderlich, um die Attraktivität des politisch und gesellschaftlich verantwortlichen Kräf- ten — bei allen Unterschieden im einzelnen — solida- Dienstes in der Bundeswehr zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Forde- risch in gemeinsamer Verantwortung mitgetragen rung der unabhängigen Kommission unterstreichen, wird. Deshalb unterstreiche ich gegen Schluß meiner bessere Rahmenbedingungen für die Gewinnung Rede noch einmal nachdrücklich den Appell der qualifizierten Nachwuchses zu schaffen. unabhängigen Kommission, der Landesverteidigung und der Bundeswehr als Gemeinschaftsaufgabe von Eine weitere bedeutsame Aufgabe wird es sein, Politik und Gesellschaft im öffentlichen Leben grö- eine der veränderten Personalstruktur und den neuen ßere Unterstützung zuteil werden zu lassen. sicherheitspolitischen Bedingungen entsprechende Meine Damen und Herren, Wille und Fähigkeit zu Reservistenkonzeption zu entwickeln, was im ersten einer glaubwürdigen Verteidigung bleiben weiterhin Halbjahr geschehen soll. Daneben wird das Ausbil- unverzichtbar, im Interesse von Unabhängigkeit, dungskonzept der neuen Struktur und Konzeption Sicherheit und Bündnisfähigkeit unseres Staates, aber anzupassen sein. auch im Sinne der kooperativen Gestaltung einer, wie Meine Damen und Herren, diese Bundeswehrre- wir hoffen, sicheren und friedlichen Zukunft Europas form stellt nicht nur die größte organisatorische Auf- und einer stabilen internationalen Ordnung. Dazu gabe seit dem Aufbau der Bundeswehr dar; damit wollen wir auch künftig mit einer kleineren, aber einher geht auch eine grundlegende konzeptionelle modernen und leistungsfähigen Bundeswehr unseren Neuorientierung unsere Streitkräfte von einer Prä- Beitrag leisten. Gerade wir als Mitglieder des Deut- senzarmee hin zu einer Ausbildungs - und Mobilma- schen Bundestages haben die Aufgabe, hierzu die chungsarmee mit einer begrenzten Anzahl von schon Voraussetzungen zu schaffen. im Frieden einsatzbereiten Verbänden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, dieses Konzept ist ein ausgewogener und ganzheitlicher Ansatz, um unter gewandelten Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sicherheitspolitischen und s trategischen Bedingun- Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten gen die Schutzfunktion unserer Bundeswehr in ihrer Walter Kolbow das Wort. Hauptaufgabe der Verteidigung zu gewährleisten und daneben neuen und veränderten Anforderungen Walter Kolbow (SPD): Herr Präsident! Meine sehr an die Streitkräfte als Instrument der Politik zu verehrten Damen und Herren! Es ist schon etwas entsprechen. Die Bundeswehr der Zukunft ist weder unüblich, daß in einer vom Parlament vereinbarten eine Zwei-Klassen-Armee noch eine nur bedingt Debatte über den Bericht einer von ihm eingesetzten einsatzbereite Streitkraft. Kommission der Bundesminister der Verteidigung als Mit diesen grundlegenden Entscheidungen ist nun- erster das beurteilende Wort nimmt. Es drängt sich der mehr bei aller Dynamik, die Planung immer bedeutet, Eindruck auf, als ob der Minister für die Koalition 5882 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Walter Kolbow spricht, weil die Koalition nicht mehr für den Minister dete, daß er weiter von einem Plafond des Verteidi- sprechen will. gungsetats von Jahr für Jahr 50 Milliarden DM bis (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD — 2005 ausgehe. „Friedensdividende", Herr Bundesmi- Lachen bei der CDU/CSU — Michael Glos nister der Verteidigung, ist wahrlich nicht Ihr Sprach- gebrauch. [CDU/CSU]: Der Mann soll seinen liberalen Pullover ausziehen!) (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Meine Damen und Herren, zuerst möchte auch ich CDU/CSU) — dann werden Sie sicherlich wieder etwas ruhiger Angesichts neuartiger Gefährdungen der Mensch- und gelassener — der unabhängigen Kommission für heit und des Bedarfs an Hilfen brauchen wir ein die Arbeit, die sie vollbracht hat, den Dank der erweitertes, ein internationales Verständnis von Sozialdemokratischen Partei und ihrer Fraktion im Sicherheit. Hungerkatastrophen und Elend in den Deutschen Bundestag abstatten. Wir haben hier näm- Ländern der Dritten Welt, die gewaltigen Probleme in lich eine gute Arbeit vorgefunden. den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die unge- heure Verschuldung vieler Entwicklungsländer, Um- Ein Rückblick auf die gewaltigen Veränderungen der weltkatastrophen, Flüchtlingsströme und der weitge- sicherheitspolitischen Landschaft seit der Vorlage hend immer noch unkontrollierte Waffenhandel bein- des Berichts im September macht dies deutlich; Herr halten Risiken globalen Ausmaßes, gegen die militä- Dr. Stoltenberg hat hier zu Recht darauf hingewie- rische Potentiale nicht helfen. Hier sind Risiken vor- sen. handen, aber sie können mit militärischen Potentialen Trotz der Tatsache, daß längerfristige Aspekte nur eben nicht beseitigt werden. Sicherheit ist eben nur vereinzelt berücksichtigt werden konnten und daß es noch gemeinsam möglich. Wir Sozialdemokratinnen kaum möglich schien — ich zitiere —, „die Lage und Sozialdemokraten haben seit vielen Jahren dar- Europas am Ende des Jahrhunderts einigermaßen auf hingewiesen, daß Sicherheitsprobleme künftig vor zutreffend einzuschätzen", hat die Kommission diese allem mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln zu beachtenswerte Analyse und der Diskussion werte lösen sind. Empfehlungen vorgelegt, die allerdings in verschie- (Beifall bei der SPD) denen Punkten von der SPD nicht mitgetragen wer- den können. So findet z. B. die Empfehlung, die Die umwälzenden Veränderungen in Europa bieten Einsatzmöglichkeiten von Frauen in der Bundeswehr uns heute mehr denn je die Chance, langfristig das zu erweitern, nicht unsere Zustimmung. Ziel einer stabilen gesamteuropäischen Friedensord- Wie die Minderheitsvoten ausweisen, gab es aber nung zu erreichen. Auf dem Weg dorthin gilt es, die schon in der Kommission selber zu verschiedenen positiven Entwicklungen abzusichern, damit die Fragen widerstreitende Auffassungen. Bei allen Ent- Umgestaltungsprozesse f riedlich ablaufen und nicht in praktisch unsteuerbare Konflikte und militärische scheidungen über die zukünftigen Aufgaben der Auseinandersetzungen umschlagen. In diesem Zu-- Bundeswehr und deren Struktur sollte deshalb ein sammenhang begrüßen wir, daß eine weitgehender gesellschaftlicher Konsens gesucht friedliche werden — hier treffen wir uns —, nicht nur in der Frage Lösung des Jugoslawien - Konflikts endlich möglich von Einsätzen der Streitkräfte außerhalb des NATO- erscheint. Gebietes, wie im Bericht empfohlen. Nur der Ausbau der KSZE zu einem kollektiven Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in Sicherheitssystem und die Schaffung der Vereinigten der ehemaligen Sowjetunion Ende letzten Jahres Staaten von Europa mit einer integ rierten Außen- und haben die Lage gegenüber September 1991 in der Tat Sicherheitspolitik sowie einer eigenen Verteidigungs- bereits stark verändert. Es gibt keinen monolithischen identität — nicht mit einer Renationalisierung der Block mehr: Nach dem Warschauer Pakt hat sich auch Sicherheitspolitik — können den offenbar drohenden das größte bisher noch vorhandene Imperium selbst Rückfall in nationalstaatliches Denken und traditio- aufgelöst. Damit sind zwar gewisse neue Risiken der nelle Gleichgewichtspolitik mit der Folge neuer Auf- Atomwaffen-Proliferation verbunden; rüstung verhindern. Die militärische Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland muß zukünftig im Rah- (Zuruf von der CDU/CSU: Gewisse neue?) men dieses kollektiven gesamteuropäischen Sicher- die künftige Aufgabenstellung der Bundeswehr bleibt heitssystems gewährleistet werden. Schon deshalb jedoch unberührt. Deshalb stimmt die Feststellung der bleiben die Bündnisse NATO und WEU sowie unser Kommission, die militärische Sicherheit Deutsch- Beitrag zu ihnen auf absehbare Zeit unverzichtbar. lands sei weniger denn je gefährdet, auch weiter- Auch bei uns ist demzufolge jede Tendenz zur Rena- hin. tionalisierung deutscher Streitkräfte abzulehnen Daraus muß die Bundesregierung endlich prakti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Konsequenzen ziehen. Sie muß unserer Meinung der FDP) nach aufhören mit ihrer „Als-ob-Politik": Der Bundes- und bleibt die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in kanzler kündigte in seiner Silvesteransprache an, den Deutschland wünschenswert. größten Teil früher für Rüstung ausgegebener Milliar- den nun für die dauerhafte Verankerung von Freiheit, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft überall in der CDU/CSU und der FDP — Günther Europa einsetzen zu wollen, während der Herr Ver- Friedrich Nolting [FDP]: Ihr seid doch lernfä- teidigungsminister wenige Wochen später verkün hig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5883

Walter Kolbow Das Miteinander anstelle des früheren Gegenein- Aber vielleicht, Herr Bundesminister, ist es doch so, ander in Europa ließe sich am sinnfälligsten in der wie Karl Feldmeyer in der „Frankfurter Allgemeinen mittelfristigen Öffnung des westlichen Verteidigungs- Zeitung" vom Montag analysierte, daß nämlich mit bündnisses für die neuen Demokratien in Mittel- und der Rüstungsentscheidung vom Wochenende auch Osteuropa dokumentieren. Der nordatlantische Ko- die Entscheidung über die Aufgaben der Streitkräfte operationsrat ist nur ein erster, wenn auch notwendi- gefallen ist. Er schlußfolgert jedenfalls: Die Bundes- ger Schritt. wehr wird künftig aus Truppen bestehen, die für den Einsatz außerhalb Europas ausgerüstet werden, sowie Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Es wäre aus Truppen, deren Ausrüstung nicht mehr moderni- jetzt Aufgabe der Regierung, endlich die Konsequen- siert wird und die allein der Landesverteidigung zen aus dieser Lage zu ziehen und die Aufgaben der dienen sollen. Bundeswehr unter Berücksichtigung der Kommis- sionsergebnisse neu zu bestimmen. Dies fordern wir Meine Damen und Herren, die SPD sieht den Sozialdemokraten seit langem. In dem Bericht heißt Auftrag der Bundeswehr in erster Linie in einer es, eine politische Auftragserteilung sei nur in Ansät- territorialen, weniger materialintensiven Landesver- zen erkennbar. Bitte nehmen Sie auch die Zitate auf, teidigung sowie in präsenten, gut ausgerüsteten Ver- die kritisch mit Ihnen umgehen, Herr Bundesminister, bänden als Beitrag zu den Bündnissen NATO und wie auch wir das getan haben. WEU, langfristig auch zu einer ausgebauten KSZE als einem gemeinsamen System kollektiver Sicherheit. (Beifall bei der SPD) Nicht zu vergessen ist die wichtige Rolle der Streit- Darin ist doch eine kaum verhohlene Kritik an Ihnen kräfte bei der Umsetzung und Verifikation von zu sehen. Rüstungskontrollvereinbarungen sowie beim Abbau von Mißtrauen und bei der Ausgestaltung der Koope- Die Hardthöhe und die Bundesregierung sind nicht ration mit den neuen Demokratien im Osten. selbst darauf gekommen, eine Kommission einzuset- Darüber hinaus sollten sich Bundeswehrsoldaten an zen, sondern die Bundesregierung mußte sich vom Friedensmissionen der Vereinten Nationen und an Parlament dazu zwingen lassen, obwohl die SPD in humanitären Einsätzen eines deutschen Friedens- diesem Hause schon seit 1989 eine Wehrstrukturkom- corps beteiligen können. Dies wäre ein Teil neuer mission gefordert hat. Sinnstiftung und exemplarischer Friedensdienst; (Widerspruch bei der CDU/CSU und der etwas völlig anderes als das bayerische Muskelspiel à FDP) la Kreuth, das den guten deutschen Ruf nur aufs Spiel setzen kann. Eine solche Kommission hätte zumindest einen Ent- wurf für die notwendige große Reform liefern können. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Der Wehrbeauftragte, unser ehemaliger Kollege Hören Sie doch einmal, was der interessante Kom- Biehle, hat schon vor Monaten die Orientierungslosig- mentar von Herrn Groblirsch im Bayerischen Rund- keit der Streitkräfte und dringenden Handlungsbe- funk der jüngsten Forderung von Kreuth entgegen- darf festgestellt. Nicht von Reform, sondern gar von hält. „Neugründung der Streitkräfte" sprechen die Zei- (Zuruf von der CDU/CSU: Was verstehen Sie tungskommentare. denn von Kreuth?) Auch der vorliegende Bericht fordert eine — ich Er sagte: „S treng Konservative neigen dazu, Politik an zitiere — „völlig neue Bundeswehr". Es heißt, die irrationalen Idealen festzumachen, die erst gar nicht jetzige Planung dürfe nicht einfach fortgeschrieben definiert werden müssen, weil sie angeblich von sich werden. Doch genau das geschieht mit den verab- aus gelten. Gegen dieses Denken st and der Entwurf schiedeten Einzelkonzepten: Stationierungskonzept, ,Bundesrepublik'. Er hat sich bewährt. Das Modell Konzept für die Wehrverwaltung und Rüstungspla- verdient, verteidigt zu werden. Auf jeden Fall bringt nung. es international mehr Ansehen als das gegenwärtig allzu laut zu hörende neue Auftrumpfen" von der Wir fragen Sie abermals — Sie haben darauf heute rechten Seite unseres politischen Spektrums. nicht antworten können —, auf welcher Basis das eigentlich geschehen soll. Ein außenstehender (Beifall bei der SPD) Betrachter muß den Eindruck haben, meine Damen Ich hoffe, der Kollege Kommentator bekommt kei- und Herren, hier sei ein Orchester am Werk, dem die nen Ärger mit Herrn Stoiber! Noten fehlen, und dem Dirigenten sei der Taktstock Die SPD hat im Interesse internationaler Verantwor- entfallen. tung unseres Landes — — (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Und Ihnen der Takt!) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- Entscheidend ist, schrieb am letzten Sonntag Wal- bow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen ther Stützle, der ehemalige Leiter des Planungsstabs Glos? — Bitte sehr. der Hardthöhe und Direktor des renommierten Stock- holmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, im „Berli- ner Tagesspiegel", daß die Menschen, denen der Michael Glos (CDU/CSU): Herr Kollege Kolbow, ich Staat Waffen anvertraut, zunächst eine klar formu- möchte Sie fragen, ob Sie diese Zitate aus einem lierte Aufgabe haben und zudem gewiß sein dürfen, Kommentar des Bayerischen Rundfunks deshalb daß die Regierung für die Soldaten sorgt. gebracht haben, um diesem Hohen Hause zu bewei- 5884 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Michael Glos sen, daß die Anschuldigung der Landes-SPD, dies sei sichtbares Zeichen setzen. Meine Fraktionskollegen ein schwarzer Sender, nicht stimmt. Norbert Gansel, Professor Meyer und Hans Wallow (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU) haben im Dezember Vorschläge zu beiden Komple- xen vorgelegt. Zur Ausfüllung eines veränderten grundgesetzli-

Walter Kolbow (SPD): Auch in einem schwarzen chen Rahmens für die Streitkräfte, der Blauhelm - und Sender gibt es Ausnahmen, und ich habe dies deshalb humanitäre Einsätze im Rahmen eines Friedenscorps zitiert, Herr Kollege, weil ein wackerer und vor allen einschließt, ist die Verabschiedung eines Bundes- Dingen ein weitsichtiger Kommentator eine richtige wehraufgabengesetzes angebracht. Denn unsere Sol- Schlußfolgerung gezogen hat, die ich Ihnen, da Sie daten, die an solchen Missionen teilnehmen, haben nicht immer Radio hören, nicht vorenthalten wollte. Anspruch auf eine saubere, rechtliche Grundlage für (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist Ihre ihre Tätigkeit. Der unserer Debatte zugrundeliegende Bewertung!) Bericht empfiehlt ebenfalls eine rechtliche Klarstel- lung. Es zeuge nicht von politischem Einfühlungsver- Meine Damen und Herren, die SPD hat im Interesse mögen, so jedenfalls schreibt der „General-Anzei- — ich sagte das — internationaler Verantwortung ger", daß sich der Verteidigungsminister am Wochen- unseres Landes schon im September 1991 durch ende nur der Materialschlacht gewidmet, aber kaum unseren Vorsitzenden Björn Engholm von dieser ein Wort zur Stimmung in der Truppe gesagt habe. Stelle aus angeboten, einer Verfassungsänderung Dem ist nichts hinzuzufügen: Die Motivationskrise ist zuzustimmen, die den Blauhelmeinsatz im Rahmen handfest! In der Generaldebatte im Verteidigungs- von Friedensmissionen der Vereinten Nationen ausschuß und bei der Haushaltsdebatte haben wir hier ermöglicht. Blauhelmeinsätze haben sich als wirksa- darauf hingewiesen und festgestellt, daß schnell mes Mittel erwiesen, Kriegshandlungen zu beenden gehandelt werden muß, wenn bleibender Schaden und Waffenstillstände zu sichern. Deutschland kann von den deutschen Streitkräften abgewendet werden nicht länger in Krisenregionen der Welt solche Ein- soll. sätze fordern, ohne bereit zu sein, selbst an ihnen teilzunehmen. Die Einsätze der Bundeswehrhub- Die Probleme bei der Anwerbung länger dienender schrauber im Irak wie von Bundeswehrärzten in Soldaten sind der beste Beweis dafür. Kambodscha und zuvor schon Minenstreitkräfte im Da an unseren Grenzen nicht mehr mit dem Angriff Golf bewegen sich aber bisher in einer rechtlichen großer Massenheere und Panzerarmeen — Gott sei Grauzone. Hier muß Klarheit geschaffen werden. Die Dank — zu rechnen ist, muß die Struktur der Streit- Bundesregierung ist auf das Angebot der SPD von kräfte grundlegend geändert werden; die Reduzie- dieser Stelle aus leider nicht eingegangen. Mit einer rung auf 370 000 Soldaten bietet die einmalige Politik des Alles oder Nichts will sie über öffentlichen Chance, gleichzeitig eine den neuen Aufgaben ange- Druck doch noch eine weitergehende Änderung des messene und zukunftsweisende Personalstruktur, die Grundgesetzes, nämlich den weltweiten Kampfein- Senkung der Personal- und Betriebskosten der Bun- satz — so Sie heute wieder, Herr Stoltenberg — von deswehr sowie ein neues Rüstungskonzept zu ver- Bundeswehreinheiten durchsetzen. Damit werden Sie wirklichen. Diese Gelegenheit darf nicht ungenutzt keinen Erfolg haben. Mit uns ist dies nicht zu verstreichen. machen. Im übrigen können wir uns, nachdem die Bundes- (Beifall bei der SPD) wehr die neue Struktur hingenommen hat und auch Allerdings kommt für uns auch keine Teilnahme zur Ruhe gekommen ist — mit Planungssicherheit —, von Wehrpflichtigen an Blauhelmmissionen in Frage. eine stärkere Reduzierung der Soll-Stärke vorstel- Die Begründung der Wehrpflicht liegt in der Verteidi- len. gung des eigenen Landes in einer Situation existen- tieller Bedrohung. Darauf ist auch das Gelöbnis abge- Beim Personal bedarf es einer grundlegenden stimmt. Dies kann auf ein Bündnis erweitert werden, Reform der gegenwärtigen Struktur, einer Reform an das gegenseitigen Schutz garantiert. Einsätze außer- Haupt und Gliedern. Der Generalinspekteur spricht halb des NATO-Vertragsgebietes liegen jedoch nicht zu Recht von einem Umbau, in Teilen sogar von einem in diesem Rahmen. Zu Fragen und Problemen der Neubau. Wir werden unsere Vorschläge auch zur Wehrform wird im übrigen mein Kollege von Bülow Änderung des Dienst - und Statusrechts einbringen, nachher in der Debatte noch das Wort nehmen. um hier flexibler und auch konzeptioneller werden zu können. Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß die im Rahmen der NATO jetzt neu geschaffenen Reaktions- Wir trauen uns dies zu. Wir messen uns auch an streitkräfte auf Grund ihrer Mobilität und Ausrüstung unserem eigenen reformerischen Anspruch. Die auch für Einsätze außerhalb des Vertragsgebietes Arbeit von Verteidigungsministern wie Helmut geeignet sind. Deshalb erwarten wir von der Bundes- Schmidt und ist uns Vorbild. Wir gewin- regierung, daß sie unmißverständlich klarstellt, daß nen unsere Einsichten im Einklang mit der bisherigen Staatspraxis ohne (Zurufe von der CDU/CSU) Grundgesetzänderung keine solchen Einsätze der Bundeswehr stattfinden. Mit der Einrichtung eines — hören Sie zu — aus Erfahrungen, auch aus unseren wirksamen Friedenscorps, das die für Katastrophen- Irrtümern und Fehlern. Aus diesen Erfahrungen und hilfe vorhandenen Ressourcen einschließlich von Tei- Erkenntnissen schöpfen wir unsere perspektivische len der Bundeswehr koordiniert und bündelt, könnte Gestaltungskraft zur Erfüllung der Aufgabe, die die neue Bundesrepublik ein erstes eigenes, weithin Streitkräfte neu zu begründen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5885

Walter Kolbow Tun Sie das auch; dann sind wir in diesem Land ein Mit dem Dank an unsere Soldaten sollten wir mit ganzes Stück weiter, was unsere Soldaten angeht. Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß an diese große reformerische Aufgabe herangehen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Dr. Walter Franz Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Das Altherr [CDU/CSU]: Wenn möglich, im Konzept der Inneren Führung, das die Rolle des Gleichschritt!) Soldaten als die eines Staatsbürgers in Uniform definiert, steht mit der Abrüstung vor einer neuen Herausforderung. Wir werden hierbei auch zügig auf Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die Probleme der inneren Verfassung der Streitkräfte Herren, nächster Redner ist Herr Abgeordneter Benno reagieren müssen. Hier sind die seit langem auf der Zierer. Tagesordnung stehenden Fragen der Mitbestimmung und der gesetzlichen Dienstzeitregelung anzuspre- Benno Zierer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine chen. Die SPD fordert die Anwendung des Personal- sehr geehrten Damen! Meine Herren! Auch ich vertretungsgesetzes auf alle Zeit- und Berufssolda- möchte der Kommission für ihre ausgezeichnete ten Arbeit einleitend sehr herzlich danken. (Beifall bei der SPD) Wenn der Kollege Kolbow allerdings glaubt, er müsse hier Versäumnisse der Bundesregierung und auch einen Fortschritt bei der Dienstzeitregelung. anmahnen — es ist zwar nicht gerechtfertigt, aber es Auch für unsere Streitkräfte ist gerade in dieser Zeit gehört zum Handwerk der Opposition —, dann macht gesellschaftliche Normalität gefordert. er es sich etwas allzu einfach. Schon jetzt möchte ich Sie wehren sich gegen diesen Demokratisierungs- sagen, daß Ihr Entschließungsantrag, der Entschlie- prozeß. Damit werden Sie von uns immer auch zusam- ßungsantrag der SPD, in diesem Hause keine Mehr- men mit denen, die sich mit den Soldaten darum heit finden wird. kümmern — Bundeswehrverband und Gewerkschaf- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ten —, im Deutschen Bundestag gefordert werden. wollen wir erst einmal abwarten!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu den Vorweg möchte ich sagen: Ich bejahe die allge- Rüstungsfragen wird mein Kollege Opel das Wort meine Wehrpflicht als Qualitätsmerkmal unserer nehmen. Aber eines ist klar: Diese Streichung von Demokratie. Die Wehrpflicht ist, wie Theodor Heuss Träumen, diese Problematik, daß Sie Überplanungen, sagte, „das legitime Kind unserer Demokratie". Und die finanziell überhaupt noch nicht genehmigt waren, noch eines: Das Ansehen unserer Bundeswehr ist zur Streichung vorgesehen haben und damit lediglich höher anzusetzen als das jeder bisherigen deutschen bei 550 Millionen DM Kürzungen pro Jahr sind, lassen Armee. wir Ihnen, Herr Bundesminister, nicht durchgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Für uns ist dieser Verteidigungshaushalt in der Tat kein Steinbruch, aber es muß Schluß sein mit unbe- Aber angesichts der neuen weltpolitischen Lage — zahlbaren Waffensystemen wie dem Jäger 90. Wegfall der Konfrontation mit dem Osten, Zerfall des Kommunismus — geht die Begründung für die derzei- (Beifall bei der SPD) tige Struktur unserer Bundeswehr als Wehrpflichtar- Wir haben Ihnen vorzuhalten — ich fasse dies kurz mee allmählich zum großen Teil verloren. Die Aufga- zusammen —, daß Sie aus der veränderten Lage nicht ben haben sich geändert; sie werden sich auch weiter die notwendigen Folgerungen gezogen haben. Sie ändern. waren nicht imstande, einen Antrag zur Änderung des Ich bin der Kommission dankbar, daß sie unmißver- Grundgesetzes einzubringen, der den Einsatz der ständlich sagt: Die allgemeine Wehrpflicht ist keine Bundeswehr in friedenserhaltenden Blauhelmaktio- „Glaubenssache" und nur als Übergangslösung zu nen der Vereinten Nationen sowie zur humanitären sehen. — Daher müssen wir uns auch der Frage einer Hilfe ermöglicht. Sie waren nicht imstande, den Auf- Freiwilligenarmee stellen — und das jetzt und nicht trag der Bundeswehr neu zu definieren. Sie waren erst in fünf oder sechs Jahren. nicht imstande, dem Verfall der Motivation in den Tatsache ist auch, daß die Entwicklung in Europa in Streitkräften gegenzusteuern. Richtung gemeinsamer Sicherheitsstruktur, multina- Deswegen wollen wir Sie mit unserem Entschlie- tionaler europäischer Streitkräfte läuft mit Soldaten, ßungsantrag rügen. Stimmen Sie diesem Antrag, die mit den kompliziertesten Geräten der modernen indem Sie über Ihren Schatten springen, zu. Waffenelektronik umgehen können und umgehen müssen. Dabei ergibt sich die Frage: Sind diese (Dr. Franz Wittmann [München] [CDU/CSU]: Aufgaben mit einer zwölf- oder neunmonatigen Eine Zumutung!) Wehrpflicht noch erfüllbar? Sind sie verantwortbar, Meine Damen und Herren, was militärische Gewalt auch außerhalb? bedeutet und anrichtet, haben wir in Europa bitter Meine Damen, meine Herren, wir sind uns im erfahren. Die Bürgerkriege, die wir in Europa gegen- klaren, daß sich militärische Einsätze außerhalb einander geführt haben, die entsetzlichen Weltkriege unserer Grenzen künftig nicht vermeiden lassen. haben uns an den Rand des Abgrunds ge trieben. Jetzt (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) bietet sich uns eine neue Chance. Nutzen wir dabei auch unsere Bundeswehr mit ihren von uns bestimm- Ich zitiere aus dem Entschließungsantrag der SPD: ten künftigen Aufgaben weiter als einen Beitrag zum Die gewachsene politische Verantwortung des Frieden. vereinten Deutschland darf nicht zu weltweiten 5886 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Benno Zierer militärischen Einsätzen der Bundeswehr führen, weil damit die oft angeprangerte Ungleichheit von Frau und Mann beseitigt wäre. Dazu darf ich feststellen: Die internationale Völkerge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU meinschaft erwartet von Deutschland mehr außenpo- sowie des Abgeordneten Günther Fried rich litisches Engagement als nur die Beteiligung an Nolting [FDP]) „Blauhelm"-Einheiten und Schecks, lieber Kollege Die Zeiten seit 1955 haben sich geändert. Die Kolbow. Empfehlungen der Expertenkommission, auch an den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Aufbau einer Freiwilligenarmee zu denken, sind ernst zu nehmen. Deshalb sage ich abschließend: Fest steht Walter Kolbow [SPD]: Lies mal die Zeitungen im Ausland, Benno!) eines: Die Wehrpflichtarmee ist ein Auslaufmodell. Sie wird das Jahr 2000 bestimmt nicht erreichen. „Blauhelme" haben auch die Fidschi-Inseln mit ihren Vielen Dank. 700 000 Einwohnern gestellt. Deren Sozialprodukt liegt bei 1 800 DM, das der Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und land bei 18 000 DM pro Kopf und Jahr. Ich will damit der FDP) sagen: Wir haben die Pflicht, künftig auch internatio- nal Farbe zu bekennen. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile der Frau (Norbert Gansel [SPD]: Aber keine Schwarz Abgeordneten Andrea Lederer das Wort. malerei zu betreiben!) (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wozu Es ist eine Tatsache: Die allgemeine Wehrpflicht redet die denn?) wird von den Bürgern heute nicht mehr als notwendig und sinnvoll angesehen. Die Zahlen der Kriegsdienst- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! verweigerer sprechen eine deutliche Sprache. Über Meine Damen und Herren! Hören Sie mal zu! Dann 150 000 Anträge im vergangenen Jahr — das ist ein kriegen Sie mit, wozu ich rede. trauriger Rekord. Das müssen wir als Politiker zur Ich gehe sogleich auf meinen Vorredner ein. Kenntnis nehmen und zum Teil auch mit verantwor- Erstens. Gleichberechtigung in militärischen Fragen? ten. Nein; danke! Ich schlage vor, die Gleichberechtigung (Walter Kolbow [SPD]: Das ist die Inan zwischen Männern und Frauen in dem Sinn herzustel- spruchnahme eines Grundrechts!) len, daß Sie die richtigen Schlußfolgerungen ziehen. Damit komme ich — zweitens — zu einer aus meiner Es stellt sich die Frage: Kann man heute noch von Sicht völlig irren Verknüpfung: Die Verweigererzah- einem positiven Image unserer Armee sprechen? len sind doch nicht deswegen in die Höhe geschnellt, (Manfred Opel [SPD]: Wer ist denn dafür weil diese jungen Männer Lust gehabt hätten, in den verantwortlich?) Golfkrieg zu ziehen. Was soll denn eine solche Schluß- folgerung? - Ich denke nur an die Zeit nach dem Golfkrieg. Ich komme zum Thema. (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das liegt (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) am Verteidigungsminister!) Exakt ein Jahr nach dem Beginn des Golfkriegs durch Ich habe über Verantwortung von uns Politikern, die USA findet hier heute eine Debatte über die von uns allen gesprochen. Dabei denke ich auch an Erweiterung des militärischen Handlungsspielraums die Erfindung des sogenannten Heimschläfers, der um der Bundesrepublik statt. Ich gratuliere zu diesem 17 Uhr als Zivilist die Kaserne verläßt und sie um sensiblen Timing. 1 Uhr morgens wieder betritt. Zu etwas anderem, was in den letzten Tagen und Erlauben Sie abschließend ein Wort zur Wehrge- Wochen so sehr verlautbart wurde, gratuliere ich rechtigkeit. Die Kommission stellt hierzu fest: Wehr- nicht, sondern kündige ich unseren Widerstand und gerechtigkeit bedeutet Gleichbehandlung aller hoffentlich den Widerstand aller friedenspolitisch Wehrpflichtigen. — Tatsache ist aber: Von drei Wehr- engagierten Menschen in diesem Land an. pflichtigen muß nur einer die Uniform anziehen. Bei (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Jes- der Reduzierung auf 370 000 wird nur noch einer von ses! Jesses!) vier Wehrpflichtigen eingezogen werden. So wie der NATO ihr Feindbild abhanden gekommen Natürlich darf auch der Zivildienst, an den sich ist und sie in Rom und andernorts eine neue Begrün- unsere Wohlfahrtsgesellschaft und unsere Wohl- dung für ihre künftige militärische Präsenz in Europa fahrtsverbände so gut gewöhnt haben, nicht verloren- sucht, so ähnlich stellt sich das für die Bundeswehr gehen. Aber ein Drittel der heranstehenden Jugend dar. Ihre erklärte Aufgabenbestimmung seit ihrer leistet weder Wehrdienst noch Ersatzdienst. Deshalb Gründung war maßgeblich durch die Ost-West-Kon- erlaube ich mir auch auf die Gefahr hin, in ein frontation definiert. Daß wir schon länger angenom- Wespennest zu stechen, den Hinweis auf eine allge- men haben, daß auch ohne diesen Konflikt die deut- meine Dienstpflicht, und das sowohl für Männer als schen Ambitionen, militärisch voll handlungsfähig zu auch für Frauen, sein, irgendwann in die Realität umgesetzt werden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sollen, ändert daran nichts. sowie des Abgeordneten Günther Friedrich Folgt man den Begründungen der letzten Jahre für Nolting [FDP]) die Bundeswehr, so ist sie überflüssig. Die Antwort der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5887

Andrea Lederer Kommission wie auch der Bundesregierung ist aber Meine Damen und Herren, was hindert eigentlich nicht der Vorschlag drastischer Abrüstung, sondern die Bundesrepublik daran, feierlich zu erklären, daß die Suche nach der Erweiterung des militärischen deutsche Soldaten nach zwei verheerenden Weltkrie- Handlungsspielraums. Das Schlüpfen in die Welt- gen auf fremdem Territorium gar nichts mehr zu machtrolle will gegenüber der Bevölkerung legiti- suchen haben? Die Antwort ist einfach. Die Logik der miert sein. Und wenn schon mit gutem Grund ein Bundesregierung ist, nach der deutschen Einheit flugs Aufschrei durch die Lande ging, als die Bundesregie- in die weltpolitische Verantwortung zu schlüpfen. rung während des Golfkriegs Soldaten in die Türkei Eine Nummer kleiner geht es hier offenkundig nicht. entsandte, und die Verweigererzahlen deswegen in Wenn im Ausland die Stimmen laut werden, die eine die Höhe schnellten, so zeigt das, daß diese neue Rolle Zurückhaltung des Riesen BRD fordern, dann gibt es von großen Teilen der Bevölkerung nicht geteilt wird. hierzulande die Appelle zur Gelassenheit, in der Genau damit haben Sie Probleme, und das zum sicheren Ahnung, die ökonomische Macht der Bun- Glück. desrepublik werde auf Dauer auch militärisches Mit- mischen nicht streitig machen können. Deutlich wird die politische Intention des heute vorgelegten Berichts gleich zu Beginn. Als Prämisse Natürlich ist noch viel offen in dieser Entwicklung. wird dort festgestellt: „Das Grundgesetz erlaubt der Aber allein schon die Rüstungsplanungen für das Bundesrepublik Deutschland, auf allen genannten nächste Jahrzehnt lassen die Entschlossenheit erken- Feldern politisch zu handeln, gegebenenfalls auch nen, mit der die Bundesregierung an die auch militä- unter Mitwirkung ihrer Streitkräfte." rische „Normalisierung" der Rolle der Bundesrepu- blik herangeht. (Zurufe von der CDU/CSU) Es fällt mittlerweile schon schwer, sich zu den — Ich habe aus der „Einführung" zitiert. — Als ob es Streitkräfte- und Rüstungsplanungen des Verteidi- nicht einen manifesten verfassungsrechtlichen und gungsministeriums überhaupt noch zu äußern. politischen Streit darüber gäbe, wird eine diesbezüg- liche Grundgesetzänderung unter dem Stichwort (Zuruf von der CDU/CSU: Dann lassen Sie es „Breiter politischer Konsens " behandelt. Das heißt sein!) einfach nichts anderes als: Beruhigungspillen für die — Ich wußte, daß dieser unwahrscheinlich intelligente Bevölkerung, Einbindung der SPD in eine heimliche Zwischenruf an dieser Stelle kommen mußte. große Koalition und Vorantreiben einer weiteren Militarisierung der deutschen Außenpolitik. In den nächsten 30 Jahren sollen die unproduktiven Verteidigungsausgaben bei 50 Milliarden DM jähr- Eine solche Prämisse ist unseriös und vor allem in lich liegen. Reduziert wird nur, wo sich dies förmlich höchstem Maß besorgniserregend. Das westliche aufdrängt, weil einfach das östliche Feindbild ver- Militärbündnis könnte feierlich die eigene Auflösung schwunden ist. Nicht einmal zur Streichung des erklären, da der Grund seiner Existenz entfallen ist. Wahnsinnsprojekts Jäger 90 konnten Sie sich durch- Von wem eigentlich werden die NATO-Staaten ringen — und dies, obwohl sich langsam sogar Stim- bedroht, wenn die GUS und andere osteuropäische men aus dem Regierungslager dagegen vernehmen Staaten lieber heute als morgen Mitglied der NATO lassen. Es wird vor allem auf die außerparlamentari- werden wollen? schen Aktivitäten ankommen — da hoffe ich wirklich Diese Entwicklung macht doch deutlich, daß ein auch auf Ihre Parteibasis —, um zu verhindern, daß Militärbündnis nicht das Kooperationsgremium sein dieser Vogel überhaupt jemals das Licht der Welt kann, in dem künftig Sicherheitspolitik verhandelt erblickt. wird. Wenn aber die Bedrohung fehlt, dann ist Ihrer- Nein, statt uns mit ein paar kosmetischen Kürzungs- Risiken, seits eben die Rede von künftig unwägbaren maßnahmen abspeisen zu wollen, wäre eine General- worunter ethnische Konflikte, Migrationsbewegun- inventur nötig. Jede solide Firma entledigt sich ihrer gen und der islamische Fundamentalismus fallen hohen Lagerbestände und Ladenhüter. Das Unter- sollen. Flüchtlinge lassen sich nicht von Panzern nehmen Bundeswehr sollte hiervon regen Gebrauch aufhalten, und der islamische Fundamentalismus soll machen, freilich mit dem Unterschied, daß auf neue offenkundig in Ermangelung anderer Bedrohungen Artikel dieser Branche getrost verzichtet werden kann die Erbfolge des Ostens antreten. und vor allem nicht die ausgesonderten Teile in alle (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So Welt, egal, ob dort Krieg und Unterdrückung herr- einfach ist das!) schen, verscherbelt werden, so wie Sie es mit den NVA-Waffen betreiben. Wir empfehlen Ihnen zur Nein, es ist nicht die Bedrohung von außen, die NATO Beratung die Treuhandanstalt in Berlin mit ihrem soll wohl künftig vor allen Dingen den Charakter reichen Erfahrungsschatz in Sachen Rationalisierung eines Militärpakts des reichen Nordens gegen den und Stillegung. armen Süden statt des freien Westens gegen den kommunistischen Osten annehmen, und sie wird sich Trotz der nur noch kurzen Redezeit muß ich aller- weiterhin als Ordnungsmacht für den unruhigen dings auf die Vorschläge der SPD, die vor zwei Tagen Osten von der Neiße bis zum Ural bereithalten. Die aus der Presse bekanntgeworden sind, zu sprechen NATO also als eine Art Versicherung gegen Risiken kommen. Was vorgeschlagen hat, aller Art, das wollen Sie suggerieren — nur, daß der ist nicht nur die faktische Ausdehnung des NATO- bekannte Werbeslogan „Hoffentlich Allianz-versi- Vertragsgebiets gen Osten, sondern auch die Ermög- chert" nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die lichung des Einsatzes deutscher Soldaten dort; denn Lebensversicherung sowenig vor dem Tod schützt wie was sonst sollen die vorgeschlagenen Sicherheitsga- das Militär Krieg verhindert. rantien für die GUS-Staaten, wenn dies nicht gleich- 5888 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Andrea Lederer zeitig bedeutet, daß im Ernstfall die NATO-Ver- Ich danke Ihnen. tragspartner die Sicherheit militärisch leisten? Soll (Beifall bei der PDS/Linke Liste) nicht für die ehemalige Sowjetunion das gelten, was Sie hinsichtlich Jugoslawiens gesagt haben, daß deut- sche Soldaten dort nichts zu suchen haben? Und Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt das welche Infamie steckt eigentlich in dem Vorschlag, Wort dem Herrn Abgeordneten Günther Nolting. die so dringend benötigte Wirtschaftshilfe für die GUS-Staaten mit einem Junktim an die Abrüstung zu Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Präsident! koppeln? Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der unabhängigen Kommission für die künftigen Auf- Wir sind sehr für vollständige Abrüstung aller tak- gaben der Bundeswehr liefert eine grundlegende tischen und s trategischen Atomwaffen und aller ABC- Bestandsaufnahme der Situation der Bundeswehr und Waffen und, weit darüber hinaus, die Verankerung eine Fülle von Empfehlungen für unsere künftige eines Verbots derselben in der Verfassung. Aber eben Sicherheitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion be- nicht nur im Osten, sondern vor allem auch im dankt sich für diese Arbeit nachdrücklich bei den überhaupt nicht bedrohten Westen ist das nötig. Mitgliedern der Kommission, insbesondere bei ihrem Ich hatte Sie in meiner Rede zum Verteidigungs- Vorsitzenden, Herrn Professor Jacobsen. haushalt gefragt, ob zutrifft, was Herr Engholm sagt, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nämlich daß die Stimmung in der SPD zugunsten eines Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Diese Kom- Ja zu UNO - Kampfeinsätzen wachse. Der Zuruf von mission war notwendig, und es war gut, daß die FDP der SPD lautete, im Protokoll vermerkt, „Quatsch" . diese Kommission gegen manche Widerstände hat Der Zuruf von der FDP war: „Es ist so! " Jetzt erklärt durchsetzen können. Björn Engholm, die Blauhelme seien ein erster Schritt. (Beifall bei der FDP) Die FDP scheint nicht nur recht gehabt zu haben, Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestags- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir haben fraktion hat volles Verständnis dafür, daß angesichts öfter recht! Sie sind noch nicht so lange im der Dynamik der außenpolitischen Lage eine detail- Parlament!) lierte und abschließende Empfehlung der Kommis- sion bezüglich der Einbindung der Bundeswehr in sondern seitens der SPD-Führung wird noch nicht zukünftige sicherheitspolitische Strukturen in Europa einmal ein Jahr nach ihrem Parteitagsbeschluß an nicht möglich war. Wir begrüßen aber die geäußerten dessen Revision gearbeitet. Was uns als Bremse mili- Forderungen nach sicherheits- und verteidigungspo- tärischer Pläne der CDU/CSU verkauft wurde, ent- litischer Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik puppt sich nämlich hier als das, was die Friedensbe- Deutschland im nationalen und internationalen Rah- wegung immer prognostiziert hatte: als Einfallstor für men sowie nach einer Sicherstellung der Bündnis- Schlimmeres. Genau auf dieser Linie liegt leider auch und Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Ihr Entschließungsantrag heute. Deutschland über NATO-Verpflichtungen hinaus. Die PDS/Linke Liste lehnt eine Grundgesetzände- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der rung ab. Gefragt sind nicht deutsche Soldaten in aller CDU/CSU) Welt, sondern eine Außenpolitik, die ausschließlich Die Kommission hat damit eindeutig deutlich auf radikale weltweite Abrüstung drängt und vor gemacht, daß die Bundeswehr an internationalen allem bei sich zu Hause anfängt. Dazu brauchen wir Einsätzen im Rahmen der UN-Charta beteiligt werden keine NATO und keine WEU. Wir brauchen die sollte. Das ist eine Bestätigung für die Forderungen Fortentwicklung des KSZE - Prozesses und andere der FDP. Wir haben bereits im Mai letzten Jahres Formen nichtmilitärischer Kooperation. Weltpoliti- entsprechende Beschlüsse gefaßt. Hier wende ich sche Verantwortung besteht nicht darin, daß unsere mich ausdrücklich an die SPD, die in dieser Frage Bundeswehr gut gerüstet marschieren kann, wie offensichtlich noch nicht so weit ist: Verschließen Sie Minister Stoltenberg verlautbaren ließ. Weltpolitische sich diesem Votum der Kommission nicht. Stimmen Verantwortung heißt z. B., in der Verfassung auf Sie einer Grundgesetzänderung zu. Lösen Sie sich Herstellung und Einsatz von ABC-Waffen zu verzich- auch in dieser Frage aus Ihrer außen- und sicherheits- ten, Rüstungsexporte verfassungsrechtlich zu verbie- politischen Isolation. ten, und zwar auch unter den bis zu den Zähnen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bewaffneten NATO-Staaten, radikale Abrüstungs- schritte auch in personellen Sektoren zu leisten, und Sie müssen natürlich vorher klären, liebe Kolleginnen zwar nicht nur, weil man die Bundeswehr kleiner, und Kollegen von der SPD, welcher Kanzlerkandidat aber flexibler in die Wüste schicken will, sondern als in dieser Frage das Sagen hat. wirklich ernsthaften Beitrag zur Abrüstung. Eine (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Grundgesetzänderung ist ausschließlich deshalb CDU/CSU) überflüssig, weil es Einsätze deutscher Soldaten nicht Herr Kollege Kolbow, es geht hier nicht um kriegs- geben darf. lüsterne Einsätze der Bundeswehr, wie Sie es darzu- Ich wünsche mir, daß Sie in diesem Sinne den Willen stellen versucht haben. Es geht um Einsätze zur der Bevölkerung zu spüren bekommen und daß wir Friedenserhaltung, zur Friedenssicherung, aber auch bei unserem Widerstand gegen die Politik der Bun- zur Friedensherstellung. Das sollten Sie in Ihre wei- desregierung auch auf möglichst viele Menschen aus tere Diskussion einbeziehen. der SPD treffen werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5889

Günther Friedrich Nolting Bei der Frage, welche Soldaten an solchen interna- Konzeption vorzulegen. Wir müssen auch den Reser- tionalen Einsätzen beteiligt sein sollten, hat sich die visten eine Perspektive aufzeigen. Kommission leider nicht einigen können. Ihr Minimal- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten konsens lautet: der CDU/CSU) Dies kann Wehrpflichtige einschließen. Fragen der Akzeptanz hat die Kommission aufge- Diese Frage muß also weiter diskutiert werden. Ich nommen und dazu viele gute Vorschläge gemacht. trete dafür ein, auch Wehrpflichtige zu solchen Ein- Über Aufgaben der Bundeswehr muß auch in der sätzen mitzunehmen. Ich plädiere allerdings dafür, Schule neutral informiert werden. Leider ist dies nicht eine Einverständniserklärung bei allen betroffenen immer der Fall. Wehrpflichtige müssen auch vor Soldaten einzuführen, also auch bei Längerdienen- Beginn ihres Dienstes mehr über ihre Aufgaben wis- den, wenn sie in die entsprechenden Einheiten der sen. Auch die Bildungsarbeit der Parteien muß den Bundeswehr aufgenommen werden wollen. Ich will Sinn des Wehrdienstes vermitteln. darauf hinweisen, Herr Kollege, daß es ähnliche Regelungen heute bereits bei den Luftlandeeinheiten Meine Damen und Herren, für die Attraktivität des gibt. Das könnte man also ohne weiteres übertra- Berufs des Soldaten mahnt die Kommission eine gen. größere Führerdichte an, ein altes Anliegen der FDP, das nun im Zuge der Verringerung der Bundeswehr In der Frage der Wehrpflicht hat sich die Kommis- auf 370 000 Mann verwirklicht werden kann. Das sion mittelfristig für die Beibehaltung der Wehrpflicht Personalstrukturmodell 370 muß jetzt endlich umge- von 12 Monaten ausgesprochen, langfristig dagegen setzt werden. Wir sind bereit dazu. gibt sie kein Votum ab. Bei weiterer Reduzierung der Bundeswehr solle aber die Option einer Freiwilligen- (Zuruf von der SPD: Donnerwetter, wenn wir armee ernsthaft geprüft werden. es denn schon mal hätten!) Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, besteht Meine Damen und Herren, wenn wir in den aufge- hier kein Entscheidungsbedarf. Aber die Frage der zeigten Bereichen nicht weiterkommen, kann die Wehrgerechtigkeit wird immer drängender. In der Bundeswehr schon sehr kurzfristig ihren Bedarf an FDP wird derzeit intensiv über die Alternativen der freiwilligen Bewerbern nicht mehr decken. Wehrpflicht, der allgemeinen Dienstpflicht und der (Zuruf von der SPD: Man muß die Ursachen Freiwilligenarmee diskutiert. Wir sind entschlossen, sehen!) auf einem unserer nächsten Bundesparteitage hierzu eine Entscheidung zu fällen. Die FDP-Fraktion ist bereit, die intensiven Bemühun- Meine Damen und Herren, die Kommission emp- gen des Verteidigungsministers zu unterstützen. fiehlt weiter, die Streitkräfte über den Sanitätsdienst Schließlich fordert der Bericht auch bessere Lauf-

hinaus für Frauen zu öffnen. bahn - und Aufstiegschancen. Auch dies kann mit der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Umsetzung des Personalstrukturmodells 370 erreicht der CDU/CSU) werden. Dies ist eine eindrucksvolle Bestätigung der Forde- Meine Damen und Herren, die Kommission hat eine rung der FDP. Wir fordern bereits seit etlichen Jahren Vielzahl von bedenkenswerten Vorschlägen ge- eine Öffnung der Bundeswehr für einen freiwilligen macht. Wir werden auch in der Zukunft darauf zurück- Dienst von Frauen auch zum Dienst mit der Waffe. greifen und die Diskussion fortsetzen. Im übrigen Entscheidend für die Kommission war, Frau Kollegin, kündige ich für die FDP an, daß wir es für möglich daß berufliche Qualifzierungschancen in der Bundes- halten, zu gegebener Zeit auf der Grundlage des wehr den Frauen nicht vorenthalten werden dürfen. vorliegenden Berichts Folgegutachten in Auftrag zu Wir halten dies für ein wichtiges Argument. Wir haben geben. hier einen Bereich, in dem wir den Frauen eine Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich Gleichberechtigung verweigern. Dafür gibt es über- freue mich, daß sich die SPD zumindest in Ansätzen haupt keinen Grund. bemüht — das ging aus dem Redebeitrag des Kolle- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen Kolbow hervor —, mit uns den Konsens zu finden. der CDU/CSU) Herr Kollege Kolbow, wenn das Zeichen dafür der gelbe Pullover sein sollte, den Sie heute tragen, Ich fordere auch hier insbesondere die SPD auf, diese Debatte ideologiefrei zu führen. Die Presseer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klärungen der SPD zu dieser Frage zeichnen sich bin ich gern bereit, ein paar weitere gelbe Pu llover für durch erschreckende Einseitigkeit aus. Ich frage die die SPD zu spenden. Ich hoffe, daß Ihre Vorstellungen, SPD: Mit welchem Recht wollen Sie eigentlich einer Herr Kollege Kolbow, dann in Ihrer Fraktion Mehr- jungen Frau, die in der Bundeswehr Dienst leisten heitsmeinung sein werden. will, dieses verbieten. Auch hier ist eine Grundgesetz- änderung nötig. Auch hier verweigert die SPD die Liebe Frau Kollegin Lederer, ein letzter Satz noch zu Mitwirkung bei den notwendigen Schritten. Ihnen: Nicht die Amerikaner haben den Golfkrieg begonnen, sondern der Irak durch die Besetzung (Zurufe von der SPD) Kuwaits Anfang August 1990. Meine Damen und Herren, die Kommission weist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf die Dringlichkeit einer neuen Reservistenkonzep- tion hin, nach der die Soldaten bedarfsgerecht ausge- Die Alliierten haben sich in dieser Region für den bildet werden. Die FDP fordert seit langem, diese Frieden eingesetzt, und dies auf der Grundlage von 5890 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Günther Friedrich Nolting UN-Resolutionen. Dies sollten Sie nach eineinhalb sich dem „design to cost" als dem Gebot der Stunde Jahren endlich zur Kenntnis nehmen. beugen. Sie haben hier für die SED-Nachfolgeorganisation (Dr. [CDU/CSU]: Was ist gesprochen. Ihre Partei hatte früher nur Feindbilder. das?) Dies haben Sie bis heute — auch hier wieder — nicht ablegen können. Sie sollten Ihre Rede vielleicht noch Uns ist der Abbau auf 370 000 Soldaten vorgegeben. einmal überprüfen. Das ist akzeptiert. Das bedeutet vier Soldaten auf Vielen Dank. tausend Einwohner bei uns. Die Forderung muß sein, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) daß das bei den Nachbarn im Zuge der Abrüstung ebenfalls maßstabsgerecht umgesetzt wird. Vor weiteren Personalverminderungen, die in sich Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: schon schwierig genug sind, müssen wir uns überle- Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten gen, ob nicht Abrüstung in anderen Gebieten noch Andreas von Bülow. wichtiger ist, z. B. bei Waffensystemen, die teuer in der Anschaffung, im Bet rieb und in der Wiederbe- schaffung sind. Wir haben ja das Vorbild: Waffensy- Dr. Andreas von Bülow (SPD): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rahmenbedingungen der steme, die zum tiefen Eindringen erforderlich sind, Sicherheitspolitik haben sich dramatisch verändert, sind Gegenstand der letzten Abrüstungsrunde gewe- wie wir alle wissen. Die Kommission hat die dynami- sen. Hier sollte man erneut ansetzen. Wie viele schen Elemente dieser veränderten Situation skizziert Panzer, Schützenpanzer, Panzerartillerie, Panzerab- und Lösungsvorschläge erarbeitet. Wie wir alle sehen, wehrhubschrauber brauchen wir überhaupt noch, gibt es noch Kriege innerhalb und außerhalb Europas: wenn auch unsere näheren und entfernten Nachbarn Iran-Irak, Golfkrieg, Jugoslawien sind Beispiele. Von in Europa diese invasionsgeeigneten Systeme stille- daher ist es völlig klar, daß wir als Europäer, als gen, vernichten, nicht mehr erneuern? Wie viele Deutsche eine verläßliche militärische Restsicherung Kampfbomber braucht die Luftwaffe im europäischen im Verbund der europäischen Nationen brauchen. Verbund, wenn Kampfeinsätze zur Abriegelung des Gefechtsfeldes oder zur Luftnahunterstützung wegen Aber auf der anderen Seite gibt es im Augenblick Abrüstung der Bedrohungsinstrumente entbehrlich die Chance zur Generalüberholung der Bundeswehr. geworden sind? Wir sind kein Frontstaat mehr. Wir haben Freunde vom Atlantik nicht nur bis zum Ural; es geht bis zum Vom Atlantik zum Ural und darüber hinaus in den Pazifik. Die NATO bekommt die Aufgabe einer Strukturen muß die Unfähigkeit zum weiträumigen Brandwache am erloschenen Vulkan. Wir stehen Eindringen angelegt werden. Wir müssen als Bundes- mitten in der Gestaltung einer neuen europäischen deutsche und als Europäer jetzt auf die Ukraine, auf Friedensordnung mit den Elementen NATO, KSZE, Rußland und auf die baltischen Staaten zugehen und vielleicht auch WEU, in wechselnder Gewichtung. vereinbaren, daß Streitkräfte unter Abrüstung der Wir sollten uns hüten, insbesondere als Deutsche, Angriffsfähigkeit nur noch verteidigungsoptimiert neue Gefährdungen zu erfinden, nur um Apparaten werden. Hier liegen neben der Verminderung der Fortbestand zu garantieren. Personalkosten auch die entscheidenden Einsparpo- (Beifall bei der SPD) tentiale bei Rüstung und Bet rieb. Sie können reden, wie Sie wollen: Das versprochene Mir ist völlig klar, daß die USA, Großbritannien und Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern fin- Frankreich wegen ihrer weltweiten Verpflichtungen det so nicht statt. Die Prioritäten deutscher Politik zum Teil andere Wege gehen werden und Druck auf liegen deshalb auf zehn bis zwanzig Jahre völlig fest: uns ausüben, damit auch wir uns anschließen. Gleich- Wir brauchen die Friedensdividende zum Aufbau der wohl haben wir andere und besondere Aufgaben in neuen Bundesländer; wir brauchen die Friedensdivi- Zentraleuropa, die uns andere Schwerpunkte auf- dende auch zum Aufbau Osteuropas. Dort liegt die zwingen als unseren Bündnispartnern. Verantwortung der Europäer, insbesondere der Deut- schen, nicht im Dschungel oder den Wüsten alter Die Obergrenze von 370 000 Mann beim Personal- Kolonialgebiete. umfang ist eine Scheidemarke. Wehrgerechtigkeit Unsere Aufgabe ist in den nächsten Jahrzehnten läßt meines Erachtens weitere Absenkungen kaum nicht militärisch; es geht um den Kampf gegen Hun- noch zu. Bis 1994 gibt es für uns kein Abgehen von der ger, Arbeitslosigkeit und ökologische Verwüstung. allgemeinen Wehrpflicht. In der Tendenz würden wir Der Ruf nach mehr militärischer Verantwortung gerne noch bis zur Jahrhundertwende — obwohl es Deutschlands gilt in der Regel, wenn man den Lack Diskussionen auch in unseren Reihen darüber gibt — vordergründigen Geredes abkratzt, weniger den Sol- an der Wehrpflicht festhalten. daten als dem vermeintlich noch vollen Geldbeutel. Jenseits dieses zeitlichen Horizonts, vielleicht auch Trotz der Gnade der späten Geburt sind deutsche früher, kann die dramatische Entwicklung in Europa Soldaten in vielen, in den meisten Krisengebieten so verlaufen, daß die Bedrohung auf dem europäi- keineswegs erwünscht. schen Kontinent — was größere Auseinandersetzun- Die Verteidigung muß um Faktoren billiger werden. gen angeht — so marginal werden, daß es keinen Sinn Gleichzeitig darf dieser Schrumpfprozeß nicht auf mehr macht, Massenheere in dem Umfang zu unter- dem Buckel der Soldaten stattfinden. Die Bundeswehr halten, wie dies früher in Ost und West der Fall und das Bundesverteidigungsministerium müssen war. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5891

Dr. Andreas von Bülow Dann muß man natürlich den Weg zur Freiwilligen- Industriestaaten im Zusammenhang mit dem Golf- armee gehen. Die Vor- und Nachteile sind bekannt; krieg zu verantworten hat, grenzt ans Kriminelle. Das ich will sie hier nicht aufführen. Die Freiwilligenar- gilt für Deutschland ebenso wie für die frühere UdSSR, mee ist teuer, und deswegen muß sie, wenn sie für Frankreich, Großbritannien oder auch die USA. Es überhaupt eingeführt werden würde, weniger als wäre grotesk, wenn uns hemmungslose Rüstungsex- 370 000 Mann umfassen. Die Verteidigung steht dann portpolitik eines Tages zur Entsendung deutscher am Arbeitsmarkt in Konkurrenz um Quantität und Soldaten — womöglich sogar noch Wehrpflichtiger — Qualität. zur Beseitigung dieser hochgefährlichen Militärpo- Die kleinere Armee muß aus der Sachlogik heraus tentiale zwingen würde. interventionsfähiger werden als eine größere Armee. Wir sind zur Verfassungsänderung bereit, die den Sie ist in der Tendenz hochbeweglich, hochtechnisch, Einsatz von Blauhelmen zur Erhaltung des Friedens angriffsstark, und sie ist sehr teuer. In der Struktur sicherstellen soll. Diese Grenze aber zu überschreiten bietet sich dann auf dem europäischen Kontinent gibt es für uns derzeit und in absehbarer Zukunft erneut der Anreiz zu Erstschlagüberraschung, zu keinerlei Anlaß und auch keine Rechtfertigung. Überfall. Damit ist tendenziell die Botschaft des Miß- (Beifall bei der SPD) trauens und der Instabilität verbunden, und der Anreiz zum Wettrüsten ist eingebaut. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Wir Sozialdemokraten wollen genau das Gegenteil. Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Paul Ein Ausweg könnte z. B. eine Doppelstruktur in ganz Breuer. Europa sein: Hauptlast der Verteidigung in infanterie starken Sperrverbänden, geringer Präsenz, ausgerü- stet mit modernstem Sperrmaterial. Wehrpflichtige, Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine heimatnah einberufen, könnten zusammen mit Reser- Damen und Herren! Der Bericht der Unabhängigen visten diese Funktionen übernehmen. Diese Haupt- Kommission für die künftigen Aufgaben, Aufträge struktur ist abwehrstark, aber nicht eindringfähig — und die Struktur deutscher Streitkräfte ist eine hilfrei- und dies, wie gesagt, vom Atlantik bis zum Ural. che Orientierung für eine gestaltende Politik. Der Bericht entläßt uns nicht aus der politischen Verant- In Ergänzung hierzu kämen Eingreifverbände, die wortung. Er ist eine Orientierungshilfe, nicht mehr, mehr oder weniger eine Fortentwicklung der heuti- aber auch nicht weniger. gen Struktur darstellen. Das Zusammenwirken dieser beiden Elemente — Hauptelement Sperrfähigkeit, Am Anfang des Berichts steht sehr deutlich, daß dazu Eingreifverbände in vereinbarter minimierter Hauptaufgabe und politische Legitimation der Streit- und kontrollierter Form — könnte eine wirksame kräfte darin liegen, daß die Fähigkeit und Bereitschaft europäische Verteidigungslandschaft garantieren. zur Verteidigung, d. h. „zum unmittelbaren Schutz der territorialen Unversehrtheit Deutschlands und In diesem Rahmen könnte man dann auch darüber seiner Verbündeten, ungeachtet der gegenwärtig nachdenken, die Wehrdienstzeit etwa auf Schweizer geringen Wahrscheinlichkeit eines direkten An-- Maß weiter abzusenken und die Interventionsver- griffs", aufrechterhalten werden müssen. Es ist wich- bände von Freiwilligen bemannen zu lassen. Man tig darauf hinzuweisen, daß die Kommission zu dem könnte damit massiv Einsparungen an Investitions- Ergebnis kommt: „ungeachtet der gegenwärtig gerin- mitteln, Betriebs-, Personal- und Ausbildungskosten gen Wahrscheinlichkeit eines direkten Angriffs" auf erreichen, und die moderne Bewaffnung der Interven- unser Territorium oder das Territorium der Verbünde- tionsverbände und der Sperrverbände wäre denkbar. ten. Legitimation deutscher Streitkräfte liegt in der In diesem Zusammenhang wäre dann endlich auch Legitimation des deutschen Staates und seiner politi- eine Reservistenkonzeption denkbar, die nicht Lük- schen Zielsetzungen, die in der Verfassung beschrie- kenfüller und Lückenbüßer ist wie die heutige Kon- ben sind. Die Souveränität unseres Staates erfordert struktion, sondern die ein integraler Bestandteil des den Aufbau und die Erhaltung der Streitkräfte. Gesamtsystems wäre. Die Bundeswehr wird auf Dauer Wehrpflichtarmee Die Bundesregierung geht bis zur Stunde einen bleiben. Dies ist die klare Haltung der CDU/CSU, und anderen Weg. Sie führt das prozentuale Schrumpfen das ist die klare Haltung der Koalition. der Bundeswehr durch. Der Typ der Verbände wird (Beifall bei der CDU/CSU) nur nach dem Präsenzgrad und dem Alter der Bewaff- nung unterschieden. Die Friedensdividende wird ver- Die Bundeswehr bleibt Wehrpflichtarmee, weil wir schenkt. nur mit der Wehrpflichtarmee dazu in der Lage sind, die Aufgabe der Verteidigung, so wie sie sich heute Wir sind der Meinung, daß neben der Umstellung stellt, zu organisieren und zu erfüllen. Die Bundes- der gesamten europäischen Verteidigung auf struk- wehr bleibt deshalb Wehrpflichtarmee, weil die allge- turelle Angriffsunfähigkeit als Hauptelement eine meine Wehrpflicht in einer Form, wie sie in der Rüstungsexportpolitik hinzukommen muß, die uns deutschen Geschichte einzigartig ist, die Legitimation militärische Auseinandersetzungen mit und in der deutscher Streitkräfte und deren Integration in die Dritten Welt ersparen hilft. freiheitliche und demokratische Gesellschaft gewähr- (Beifall bei der SPD) leistet hat. Der Reichtum der Ölwelt zieht Waffenhändler, (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr rich- Waffenverkäufer und waffenvermittelnde Politiker tig!) aller Industrieländer an wie das Licht die Motten. Was Die allgemeine Wehrpflicht ist es gewesen, die das westliche und auch östliche Waffenexportpolitik aller Vertrauen in die deutsche Politik durch die Veranke- 5892 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Paul Breuer rung in allen Teilen unserer Bevölkerung, bei unseren und völlig außer acht lassen, daß NATO „Beistands- Nachbarn und Partnern sowie in der ganzen Welt neu verpflichtung" heißt, dann zeigt das Ihre Hilflosigkeit begründet hat. und Orientierungslosigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) Ich denke, daß man feststellen kann — dies ist meine Unser Land ist kein Frontstaat mehr — das war so Meinung —, daß allgemeine Wehrpflicht ein Stück ziemlich das einzige Richtige, was Sie gesagt haben, Staatsräson ist. Ich halte es für notwendig, deutlich Herr Kollege von Bülow. darauf hinzuweisen, damit keine Unsicherheit in unserer Bevölkerung und insbesondere in der jungen (Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine Generation sowie in der Bundeswehr entsteht. Wir scharfe Analyse! — Dr. Andreas von Bülow sollten die Verantwortung klar erkennen, die Krise [SPD]: Lesen Sie es noch einmal nach! Das haben Sie nicht verstanden!) der Wehrpflicht nicht herbeizureden. Unser Land ist kein Frontstaat mehr. Wir waren (Beifall bei der CDU/CSU) Frontstaat, und andere haben uns geholfen, Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und (Walter Kolbow [SPD]: Mehr Bescheidenheit, Herren — um dies deutlich zu sagen —, schafft der Herr Kollege!) Bundeswehr durch den Faktor der Integration in die Freiheit und Demokratie nicht nur für die alte Bundes- Gesellschaft den Aufmerksamkeitsgrad, den sie ver- republik Deutschland, sondern für die ganze deutsche dient. Welchen Aufmerksamkeitsgrad hätte die Bun- Bevölkerung zu erhalten. Andere haben uns dabei deswehr, wenn es die allgemeine Wehrpflicht nicht unterstützt, auch durch militärische Präsenz. gäbe, d. h. nicht jede Familie potentiell mit den Das heißt für uns heute, nachdem sich die Situation Streitkräften in Verbindung stände? Der Aufmerk- gewandelt hat, daß wir als freiheitlicher und demokra- samkeitswert wäre geringer als der des Finanzamtes; tischer Rechtsstaat im Bündnis, in der Europäischen denn damit steht man zumindest bei der Steuererklä- Gemeinschaft und in der UNO rung einmal im Jahr in Verbindung. (Zuruf von der CDU/CSU: Und bald in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) WEU!) Das haben die Streitkräfte wegen der besonderen unsere Verantwortung gegenüber anderen sehen Sensibilität nicht verdient. müssen, denen geholfen werden muß. Das ist die Notwendigkeit für deutsche Politik, Meine Damen und Herren, wenn die SPD von (Zuruf von der SPD: Ein Schmarren!) Orientierungslosigkeit redet, ist, denke ich, die Auf- gabe der Orientierung vor allen Dingen in der SPD und da leisten Sie von der SPD keinen Beitrag. sehr notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]) - (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP — Zurufe von der CDU/ Da sind Sie orientierungs- und hilflos. CSU: Sehr richtig! — Sehr wahr! — Das Meine Damen und Herren, wenn wir Übereinstim- stimmt! — Gegenrufe von der SPD) mung finden wollen, muß diese Diskussion in aller Klarheit geführt werden. Ich denke, daß diese Debatte Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, die ein Beitrag dazu sein kann. Beiträge, die Sie im Zuge des Aufenthaltes der deut- schen Streitkräfte in der Türkei als Bündnisverpflich- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. tung, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Andreas von Bülow [SPD]: Das war aber keine Bündnisverpflichtung!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Wer- weil ein Angriff auf die Türkei nicht auszuschließen ner Hoyer. war, in der politischen Diskussion geleistet haben, waren keine Orientierungshilfe, sondern Ausdruck Ihrer eigenen Orientierungslosigkeit. Dr. Werner Hoyer (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als wir Herrn (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Professor Jacobsen und seinen Mitstreiterinnen und CDU/CSU: Der Hilflosigkeit!) Mitstreitern, die, wie ich hoffe, zu der Debatte heute Wenn Herr Lafontaine — gestern ging es durch die eingeladen worden sind und sie, ob sie das, was sie da Nachrichten, meine Damen und Herren — in der hören, immer so gut finden oder nicht, verfolgen heutigen Situation die Aufnahme der GUS-Staaten in können, den gegenüber unseren ursprünglichen Vor- die NATO fordert, Sie aber gleichzeitig nicht in der stellungen zugegebenermaßen etwas eingeengten Lage sind zu klären, welche rechtlichen Möglichkei- Auftrag erteilt haben, haben wir alle wohl nicht im ten und welche politischen Möglichkeiten eine deut- entferntesten daran gedacht, in welch dramatisch sche Regierung mit der Bundeswehr außerhalb des verändertem sicherheitspolitischen Umfeld wir das NATO-Gebietes haben soll, Ergebnis ihrer Überlegungen heute diskutieren wür- den. Ich bin sicher, die Arbeit, die uns vorgelegt (Manfred Opel [SPD]: In der NATO! — Wei worden ist, wird uns Hilfe sein können bei der tere Zurufe von der SPD) Bewertung auch der neuen sicherheitspolitischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5893

Dr. Werner Hoyer Prioritäten und Notwendigkeiten. Die heutige De- Opel, daß ein großer Teil der Risiken, auch der batte wird möglicherweise deutlich machen können, zusätzlichen Risiken, einer militärischen Vorsorge daß es wünschenswert und hilfreich wäre, die Arbeit nicht zugänglich ist. der Kommission mit einem neu und etwas weiter zu formulierenden Auftrag fortzusetzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Aber Risiken bleiben. der CDU/CSU) Die Frage, die sich bei jeder Entscheidung im Meine Damen und Herren, nach der Revolution in Mikrobereich, bei Einzelentscheidungen — egal, ob Europa ist nichts mehr, wie es war. es um die Beschaffung, die Ausrüstung oder die Stationierung geht — ja so leicht stellen läßt, nämlich (Dr. Andreas von Bülow [SPD]: Doch, das die Frage: Gegen wen denn eigentlich noch?, ist BMVg! — Heiterkeit bei der SPD) insofern abwegig. Sie ist dialektisch falsch und Wer vermeiden will, daß wir denen folgen, die nun bedenklich und in meinen Augen in vielen Fällen nichts Besseres im Kopf haben, als das Alte, eigentlich Ausdruck alten Denkens. Denn kaum haben wir das überwunden Geglaubte gleichwohl schlicht fortzu- Denken in konkreten Feindbildern oder zumindest schreiben bzw. schnellstens nach neu zu identifizie- Gegnerperzeptionen überwunden, wird die Frage renden Gegnern Ausschau zu halten, oder denen, die nach neuen Gegnern oder gar Feindbildern gestellt. in teilweise beängstigender Naivität übersehen, daß Es scheint mir angebracht, die Entwicklungen in die Entwicklung zu Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat- Europa eher als eine dankbar anzunehmende Chance lichkeit und Menschenrechten auf unserem Kontinent zu begreifen, die eigenen Verteidigungsanstrengun- in den nächsten Jahren noch keineswegs überall „in gen aus der Bewahrungswürdigkeit des zu Verteidi- trockenen Tüchern" ist, muß tabu- und vorurteilsfrei zu legitimieren und sich weiterhin überall über Konzeptionen sprechen. genden verstärkt um die weitere Reduzierung der Risiken zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kümmern. In diesem Jahr, meine Kolleginnen und Kollegen, Das bedeutet zum einen, die vielfältigen Formen werden uns schwierige Entscheidungen abverlangt der Kooperation zu nutzen — ich glaube, Bündnis, EG werden; denn zum einen haben sich erfreulicherweise und Bundesregierung sind hier auf dem richtigen die Rahmenbedingungen völlig verändert, unter Weg —; das heißt zum anderen, den Prozeß der denen Verteidigungspolitik innerhalb einer zu Recht Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa kräftig immer breiter zu definierenden Sicherheitspolitik voranzutreiben, und zwar auch im konventionellen relativ und absolut an Gewicht verliert. Zum anderen Bereich, wo wir bisher erst angefangen haben. wird Verteidigungspolitik komplizierter; denn mit dem Verschwinden eines klaren Bedrohungsbildes ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Orientierung der Konzepte und Strukturen der der CDU/CSU) Streitkräfte an denen eines potentiellen Gegners eben Genau hier hat Deutschland im Zusammenhang mit nicht mehr möglich bzw. nicht mehr erforderlich. dem Einigungsprozeß eine weitgehende Vorleistung Dies zu beklagen ließe auf eine abenteuerliche erbracht. Die Soldaten und zivilen Beschäftigten der Fehlinterpretation der internationalen Entwicklungen Bundeswehr setzen dies gegenwärtig um. Sie leisten der letzten zwei Jahre schließen. Die Überwindung in diesem Zusammenhang einen sehr persönlichen der Teilung Europas und unseres eigenen Landes, die Beitrag bei der Aufgabe, innerhalb von nur vier Überwindung des Denkens in Blöcken, die Abkehr Jahren die deutschen Streitkräfte von über 600 000 vom Denken in Kategorien der Vorneverteidigung auf auf 370 000 zu reduzieren. Das ist schon eine beson- engstem Raum entlang einer Grenze durch unser dere Anstrengung, eigenes Land, all das eröffnet doch gerade die Mög- lichkeit, das Verteidigungsdispositiv eines souverä- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist nen, mit allen seinen Nachbarn in Frieden lebenden es! Das verdient Respekt!) Landes unabhängig von konkreten Bedrohungssze- und das beinhaltet erhebliche individuelle Härten. narien zu gestalten und die Dimensionierung, die Das sollte deshalb von uns allen mit sehr viel mehr Strukturierung, die Ausbildung und die Ausrüstung Einfühlungsvermögen, Verständnis und Sympathie der Streitkräfte im Rahmen eines Bündnisses eher aus und sehr viel weniger mit zynischen Bemerkungen einer abstrakten Risikobewertung abzuleiten. über einen Berufsstand mit vermeintlich düsterer Es muß klar sein — ich sage das auch im Anschluß konjunktureller Perspektive begleitet werden. an das, was Paul Breuer eben ausgeführt hat —, daß (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr Verteidigungsanstrengungen nur Sinn machen, wenn gut!) es a) etwas Verteidigungswürdiges gibt und b) dieses Verteidigungswürdige Risiken ausgesetzt ist. Wir müssen die Bundeswehr als bündnisfähige Armee an die neuen Herausforderungen bzw. an das (Manfred Opel [SPD]: Hat Verteidigung verbleibende Restrisiko anpassen. Ich vermute, der überhaupt einen Sinn!) Veränderungsprozeß wird noch sehr viel tiefer gehen, Daß die Risiken für Stabilität und Sicherheit auf als wir gegenwärtig glauben, da manche z. B. noch unserem Kontinent insgesamt mit der Überwindung meinen, wir könnten Teilstreitkraftrelationen tabui- des Gleichgewichts des Schreckens nicht ausgeräumt sieren, da vordergründige Geplänkel über einzelne sind, sondern teilweise vielleicht sogar gestiegen sind, Waffensysteme nach vorne geschoben werden oder ist evident, ebenso wie es evident ist, Herr Kollege da jeder meint, sich profilieren zu können, indem er 5894 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Werner Hoyer das Zahlenlotto über Verteidigungsumfänge um eine Die Bundeswehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, neue Variante bereichert. respektiert den Primat der Politik. Er muß aber auch erkennbar sein. Statt dessen wäre es klüger, die wesentlichen Auf- gaben zu diskutieren, seien es die, die für den Fall des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Scheiterns der Politik auf dem eigenen Territorium zu der CDU/CSU) bewältigen wären, seien es die, die wir in Solidarität Versagen wir Politiker bei dieser Aufgabe, dann tun mit unseren Partnern im Bündnis zu bestehen hätten, wir nicht nur den Menschen unrecht, die in der die ihrerseits über 40 Jahre deutscher Teilung hinweg Bundeswehr Dienst leisten, sondern dann schmeißen uns ihre Solidarität gewährt haben, und seien es wir in der Tat auch Geld zum Fenster hinaus. Eine diejenigen Aufgaben, die möglicherweise nach einer Armee ist nur so viel wert wie die Motivation derer, die Verfassungsänderung im Hinblick auf Aufgaben im in ihr Dienst tun. Bereich der UNO bzw. im europäischen Zusammen- Ich denke, meine Damen und Herren, die Überle- hang auf uns zukommen könnten. gungen der Hardthöhe vom vergangenen Wochen- ende sind ein Schritt in die richtige Richtung. Ich sage dies ohne jeden Anflug von Abenteurer lust. Hier kommt eine schwere Verantwortung auf uns (Walter Kolbow [SPD]: Ein Schrittchen!) zu, keineswegs eine leichtfertig anzustrebende Ent- Natürlich ist mancher Kürzungsvorschlag eher auf faltungsperspektive für militärische Kompetenz. rüstungspolitisches Wunschdenken als auf abgesi- cherte Finanzplanung gegründet. Aber Verteidi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gungsminister Stoltenberg hat zu Recht gesagt, daß der CDU/CSU) hier Plan und Plan miteinander zu vergleichen sind und nicht parlamentarische Festlegung mit parlamen- Aber wir werden uns nicht mehr lange versagen tarischer Zukunftsperspektive. Ich denke, wir haben können und uns eine Beschränkung auf friedenser- hier eine gute Grundlage für eine sorgfältige Diskus- haltende sogenannte Blauhelmmissionen und damit sion im Verteidigungsausschuß und in diesem einen verfassungsmäßigen Ausschluß Frieden schaf- Kreise. fender und Völkerrecht durchsetzender Mission nicht leisten können. Meine Damen und Herren, wir sollten bei all dem, was wir planen, angesichts dessen, was wir in den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) letzten zwei Jahren an Veränderungen erlebt haben, vorsichtiger und bescheidener sein bei der Festlegung Ich stimme Ministerpräsident Lafontaine zwar in dessen, was wir mit einem Planungshorizont zum der von ihm ins Spiel gebrachten Erweiterung des Jahre 2005 oder 2010 schon heute glauben für über- NATO-Auftrages nicht zu; aber ich anerkenne die flüssig halten zu können. Konsequenz, die seinem Vorschlag hinsichtlich der (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Rich Einbeziehung der Bundeswehr innewohnt. Die SPD -tig!)- wird hoffentlich bereit sein, mit uns in einen Dialog darüber einzutreten, ob diese Konsequenz nicht auch Streitkräfte kann man nicht ein- und ausschalten wie im Hinblick auf Frieden schaffende und Recht durch- einen Lichtschalter; Streitkräfte brauchen einen kla- setzende Missionen der Vereinten Nationen und ren Kurs und die Möglichkeit flexibler Nachsteuerung gegebenenfalls im europäischen Zusammenhang dieses Kurses. erforderlich ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zugleich möchte ich deutlich sagen: Noch haben wir die Verfassungsänderung nicht! Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- (Zuruf von der SPD: So ist es!) ten Damen und Herren, Kollege Dr. Hoyer hat gefragt, ob die Mitglieder der Kommission eingeladen sind. Ich halte es für legitim, sich planerisch darauf vorzu- Sie sind eingeladen worden und haben zum großen bereiten, daß wir eines Tages diese Änderung werden Teil auf der Tribüne Platz genommen. Die Arbeit der vornehmen können; aber gegenwärtig haben wir Kommission — das will ich noch einmal wiederho- diese Verfassungsänderung noch nicht. len — ist von vielen Rednern gewürdigt worden, und der Beifall des ganzen Hauses war Ausdruck des Ich halte im übrigen den Ansatz für völlig falsch, bei Respekts vor der geleisteten Arbeit. unseren Bemühungen die Fragen darauf zuzuspitzen: Wie können wir möglichst rasch die Bundeswehr auf (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der 370 000 Mann herunterfahren? Die Frage, die wir zu FDP) beantworten haben, lautet: Wie soll die zukünftige Ich erteile nunmehr Herrn Abgeordneten Manfred 370 000-Mann-Armee aussehen? Wie soll sie in den Opel das Wort. gesellschaftspolitischen Kontext eingebunden wer- den? Wie wird ihre Bündnisintegration und Bündnis- fähigkeit gewährleistet? Wie ist diese in Zukunft erfreulicherweise sehr viel kleinere Bundeswehr auf- Manfred Opel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen tragsgerecht zu strukturieren, funktionsgerecht und und Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer, haushaltsverträglich auszurüsten und motivierend zu (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat eine gute führen? Rede gehalten!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5895

Manfred Opel Ihre ruhige, sachliche Analyse hätte ich vom Vertei- ohne schuldhaften Verzug. Doch auch dazu haben Sie digungsminister erwartet. offensichtlich bisher nicht die Kraft gefunden. (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie nicht Viertens. Die Weiterentwicklung des Konzepts der zugehört!) Inneren Führung wird durch die Kommission ange- Ihre Fragen und fragenden Kommentare, aber auch mahnt. Aber bei Ihnen leidet offensichtlich die Bun- Ihre Anregungen sind das schärfste Schwert der deswehr bis heute an innerer Verarmung und innerer Kritik, der sich ein Verteidigungsminister aus den Verkrustung. Reihen der Koalition ausgesetzt sieht. Ich danke Ihnen Sie haben zu all diesen Punkten heute bedauerli- für diesen Mut. cherweise nichts Richtungsweisendes gesagt. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Diese Logik ver Leider hat die Kommission zwei der vier an sie stehe ich nicht!) übertragenen Untersuchungsfelder überhaupt nicht Es lohnt nochmals darauf hinzuweisen, daß am behandeln können. Diese Arbeit ist von Ihnen, Herr Anfang die Forderung der SPD nach einer Wehrstruk- Minister, nachzutragen. Es ist ein Auftrag des Parla- turkommission stand. Diese Wehrstrukturkommis- ments, sogar ein Entschließungsantrag der Koali- sion haben wir bis heute nicht, Herr Kollege Breuer, tion. obwohl sie unverändert dringend erforderlich ist. Es sollten Möglichkeiten zur Verbesserung des Erst als die Grenzen Europas durchlässig wurden Entwicklungs - und Beschaffungssystems untersucht und der Wandel zu drängend wurde, haben Sie sich in werden. Das ist eines der Felder, die völlig fehlen. Dies der Koalition bereit gefunden, eine „unabhängige ist wahrlich dringlich, wie das aktuelle Geschehen auf Kommission" einzusetzen. Außerdem haben wir bis der Hardthöhe lehrt. Ich gebe nur einige Hinweise aus heute noch kein tragfähiges Personalstrukturmodell, der jüngsten sogenannten Planungskonferenz des obwohl es Voraussetzung jeder vernünftigen Perso- Verteidigungsministers zur Illus tration dessen, was nalplanung im Sinne gelebter Innerer Führung ich meine. Da wird am Symptom kuriert, anstatt die wäre. Ursachen der Fehlplanungen zu bekämpfen. Die „neue Bundeswehrplanung" — so steht es im Erstens. Sie wissen genau, daß Sie auf Dauer keinen Bericht — sollte Grundlage der Arbeit der schließlich höheren Anteil des Verteidigungshaushalts am Bun- vier Wochen nach dem Fall der Mauer eingesetzten deshaushalt begründen können, als es die mittelfri- „unabhängigen Kommission" sein, über deren stige Finanzplanung der Bundesregierung hergibt. Bericht wir heute debattieren. Diese neue Bundes- Deshalb war es eine eklatante Fehlleistung, die pla- wehrplanung gibt es ebenfalls bis heute nicht. Das nerische Zielprojektion für die Bundeswehr nicht auf Fehlen der Bundeswehrplanung, der Wehrstruktur- der Basis realistischer Haushalts- und Finanzdaten kommission und der Personalstrukturkonzeption durchzuführen. Im Klartext: Ihre Personalplanung wird, Herr Minister, kongenial ergänzt durch das und Ihre Investitionsplanung sind unseriös. Der Fehlen jeglicher Rüstungsplanung. Umfang der Bundeswehr ist so auf Dauer nicht zu- Angesichts dieser auf breiter Front fehlenden bewahren und zu halten. Grundlagenarbeit fragt man sich, Herr Minister, was Sie und Ihre 5 000 Mitstreiter auf der Hardthöhe den (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wie soll lieben langen Tag eigentlich so tun. Es fehlen sämtli- der Umfang denn sein?) che Grundkonzeptionen; es fehlt die Führung; es fehlt — So steht es in der Entschließung des Verteidigungs- die sichere Hand; es fehlt jede Vision. Das einzige, was ministeriums, wenn Sie es bitte nachlesen wollen. nicht fehlt, Herr Kollege Nolting, sind Pannen und Fehlentscheidungen. Zweitens. Ausgerechnet die wichtigsten Vorhaben streichen Sie aus der Planung. Sie kürzen den äußerst (Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie dürfen nicht dringlichen Investitionsbedarf in den neuen Bundes- von sich auf andere schließen!) ländern und wollen gleichzeitig eine neue Panzerhau- Die Konzeptionen haben sich nach dem Auftrag zu bitze beschaffen, obwohl Sie dabei sind, die angeblich richten. Der Bericht gibt dankenswerter Weise der so leistungsfähige Panzerhaubitze der ehemaligen Regierung hier einige deutliche Fingerzeige in Form NVA zu verschrotten oder zu verscherbeln. von Vorschlägen. Drittens. Sie sagen dem Parlament, daß Aufklärung Erstens. Das Bündnis muß überlegen, wie eine besonders wichtig sei; dies gelte obendrein auch für erweiterte Sicherheit für ganz Europa erreicht wer- die europäische Kooperation. Zugleich streichen Sie den kann. Dazu haben Sie, Herr Minister, heute nichts aber ausgerechnet das europäische Satellitenaufklä- gesagt. rungssystem aus der Planung. Zweitens. Die NATO muß den veränderten politi- Viertens. Sie wollen weiterhin einen 44 Tonnen schen und militärischen Anforderungen angepaßt schweren Schützenpanzer entwickeln und beschaf- werden. Doch wenn man das nachvollzieht, was von fen, obwohl man den Marder 1 leicht und kosteneffek- der Hardthöhe zu hören ist, dann hat man manchmal tiv modernisieren könnte. Ich frage Sie, Herr Minister: den Eindruck, als solle die Steinzeit-NATO bewahrt Wollen Sie sich morgen vom Steuerzahler vielleicht werden. die Entwicklung eines überschweren Lastenhub- Drittens. Die vorausschauende Planung — so ist im schraubers finanzieren lassen, um das Monster für die Bericht zu lesen — für die konzeptionellen Festlegun- angeblich so wichtige Luftbeweglichkeit vorzuberei- gen könnte und sollte unverzüglich beginnen, d. h. ten? 5896 Deutscher Bundestag — 12. 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Manfred Opel Fünftens. Sie beenden die Modernisierung ausge- Thomas Kossendey (CDU/CSU): Herr Präsident! rechnet des einzigen erfolgreichen und stets orga- Meine Damen und Herren! Wir haben hier heute nisch verbesserten Kooperationssystems zwischen einige Beiträge der Opposition und der Regierungs- Europa und USA, an dem sich auch Frankreich fraktionen zu dem Bericht der Kommission gehört. Der beteiligt. Ich meine das mittlere Luftabwehrraketen einzig hörenswerte Beitrag von der Opposition war system Hawk. Das bedeutet, daß Sie gleichzeitig ein eigentlich der des Kollegen Walter Kolbow. Er hat neues Luftverteidigungssystem beschaffen wollen, getreu dem Motto: Wer vieles bringt, wird manchem das wesentlich teurer, kaum leistungsfähiger und etwas ins Ohr sagen, was dieser dann auch aufnimmt, technisch erheblich risikoreicher ist. Dies ist eine einiges zu uns gesagt. Ich hoffe, daß einiges von dem, eindeutige Fehlplanung. was Sie, Herr Kolbow, gesagt haben, auch in Ihrer Die Reihe ließe sich fortsetzen. Darüber wird noch eigenen Fraktion auf fruchtbaren Boden fallen wird. zu reden sein. Ich meine, daß diese ganz wenigen Mit dem außenpolitischen Teil Ihrer Ausführungen Beispiele belegen, wie eminent wichtig eine umfas- bin ich nicht ganz einverstanden; das werden Sie sende Verbesserung des Entwicklungs- und Beschaf- verstehen. fungssystems der Bundeswehr ist. (Walter Kolbow [SPD]: Das ist Ihr gutes Wenn wir auf die Rüstungskooperation im Bündnis Recht!) nicht verzichten wollen, Herr Minister, dann benöti- Das verleitet mich nur zu der Bemerkung: Ein gelber gen wir einheitlichere Exportvorschriften in der Pullover macht noch keinen außenpolitischen Exper- NATO. Auch hier ist die Regierung gefordert. ten. Rüstungsexport kehrt sich schließlich auch gegen die Exporteure. Deshalb gibt es mit uns keinerlei (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Rüstungsexport außerhalb des Bündnisses. Lassen Sie der FDP) mich damit das erste noch offene Feld des Berichts Ich freue mich, daß wir heute die Gelegenheit verlassen. haben, über die Aussagen des Berichts zu sprechen. Das zweite Feld befaßt sich mit den Aufgaben und Dieser Bericht — lassen Sie mich das deutlich der Organisation der Wehrverwaltung. sagen — kann kein Politik-Ersatz sein; er soll uns vielmehr Hilfestellung bei unserer schwierigen Arbeit Gerade nach den letzten Entscheidungen zur Sta- geben. Ich glaube, es wäre falsch, wenn wir ihn als tionierungsplanung muß man den Eindruck gewin- Arsenal benutzen würden, um die uns im tagtäglichen nen, daß die Wehrverwaltung ein Stiefkind Ihres Kampf um Sicherheitspolitik bekannten Argumente Ministeriums ist. Die Wehrverwaltung ist der stabili- gegenseitig um die Ohren zu hauen. Deswegen war es sierende Faktor, gleichsam das Rückgrat der gesam- auch falsch, darauf hinzuweisen, daß Sie vermuten, ten Bundeswehr. Sie ist es, die dem Soldaten zuerst in daß zwischen unserer Regierungsfraktion und dem den Kreiswehrersatzämtern begegnet. Sie begleitet Minister Differenzen bestehen. Dieser Minister hat die ihn, sie betreut ihn, sie rüstet ihn aus und stattet ihn Bundeswehr in den letzten zwei Jahren einigermaßen aus. Es ist auch die Wehrverwaltung, die die S treit- ruhig und unbeschädigt durch die schwierigsten- kräfte gegenüber der Wirtschaft vertritt, die den Situationen gesteuert. Dafür gebührt ihm unser Dank. gesamten personellen und materiellen Bedarf der Das sollten wir deutlich sagen. Streitkräfte deckt. Die Wehrverwaltung, die notwendigerweise immer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) etwas im Schatten der Soldaten steht, bedarf der In diesen zwei Jahren haben wir von Ihnen selten gleichen Fürsorge wie diese. Dazu, Herr Minister, Alternativen genannt bekommen. zählt auch, daß man in dieser Verwaltung in höchste Ich glaube, dieser Bericht wird um so wertvoller, Beamtenränge aufsteigen kann. wenn wir ihn zum Anlaß nehmen, innezuhalten, (Beifall bei der SPD) nachzudenken und vielleicht auch Gemeinsamkeiten Niemandem würde wohl einfallen, den General- in der Sicherheitspolitik im besten Sinne des Wortes inspekteur aus einem Bereich außerhalb der S treit- wieder einmal zu erstreiten. S treit ist ja nichts Unkeu- kräfte zu holen. Das gleiche, Herr Minister, gilt analog sches. Auf diese Gemeinsamkeit, lieber Kollege Hei- auch für die Wehrverwaltung. Das muß man Ihnen stermann, haben die Soldaten und die zivilen Bedien- offenbar ins Stammbuch meißeln. steten unserer Bundeswehr einen sehr hohen Anspruch. Denn das trägt auch sehr zu ihrer Befind- (Zustimmung bei der SPD) lichkeit bei, trägt auch sehr zur Attraktivität des Für mich ist es wichtig, Herr Minister, daß Sie den Dienstes in der Bundeswehr bei. neuen Auftrag der Bundeswehr endlich planerisch fassen. Ich bedanke mich bei den Kollegen, die hier (Dieter Heistermann [SPD]: Wie oft haben deutlich gemacht haben, daß wir die Planungsdefizite wir das angeboten? Der Minister kommt sofort zusammen ausräumen müssen. Wir sind dazu nicht!) bereit. Lassen Sie mich ein weiteres sagen: Der prinzipielle Ich danke Ihnen. Auftrag unserer Bundeswehr bleibt. Wir müssen unseren Soldaten und den zivilen Bediensteten der (Beifall bei der SPD) Bundeswehr allerdings immer wieder klarmachen, wie der Rahmen aussieht, in dem sie sich bewegen und in dem sie arbeiten. Da hat sich, glaube ich — wir Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem haben das alle betont —, in den letzten Jahren einiges Herrn Abgeordneten Thomas Kossendey das Wort. verändert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5897

Thomas Kossendey In diesem Zusammenhang wird immer wieder die tatsächlich brauchen. Die Kommission bietet ja einige wachsende Verantwortung unseres Vaterlandes be- Perspektiven; ein paarmal erscheint das Jahr 2010. tont. Ich unterstreiche das, aber ich ergänze es dahin Dabei werden wir auch die Gewichtung der Teilstreit- gehend, daß wir diese wachsende Verantwortung kräfte auf den Prüfstand zu stellen haben. Erste nicht nur militärisch begründen dürfen. Diese wach- Änderungen sind hier ja bekannt. sende Verantwortung hat viele Aspekte, auch den Dabei müssen wir drei wichtige Faktoren beachten. militärischen. Aber Sicherheitspolitik der Zukunft Der erste wichtige Faktor ist das Geld. Ich sehe nicht, kann sich nicht nur auf militärische Aspekte stützen. daß wir in Zukunft mehr Geld bekommen. Ein zweiter Wir werden in der Zukunft verstärkt Vorsorge gegen wichtiger Punkt ist: Wir werden feststellen, daß das Risiken zu treffen haben, die eine völlig andere Personal von diesem wenigen Geld einen immer Qualität haben als die Bedrohung durch den War- größeren Anteil verschlingt. Ich nenne nur die Zahl schauer Pakt zu Zeiten der Konfrontation. von 1,6 Milliarden DM, die die letzte Tariferhöhung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verschlungen hat. Ein dritter wichtiger Faktor ist die von uns allen gewünschte Steigerung des Investitions- Ich denke nur an das explosive Bevölkerungswachs- anteils im Verteidigungshaushalt. das Armutsgefälle, an die Ungewißheit der tum, an Das heißt: Wir müssen um diese Rahmendaten Auswirkungen der Industriealisierung auf die Umwelt herum — Geld, das immer weniger wird, Personal, das und an viele andere Dinge mehr. immer teurer wird, und Investitionen, die wir dringend Unsere Sicherheitspolitik wird also in Zukunft nicht steigern müssen — Modellrechnungen anstellen und mehr nur auf politisch-ideologische Entspannung, auf dann politische Entscheidungsalternativen vorlegen. Abrüstung und Kriegsverhinderung hinzielen müs- Eines ist sicher: Die heutigen Daten und die heutigen sen. Sie muß gleichzeitig überall auf der Welt die Erwartungen an die Bundeswehr, sowohl was die wachsende Armut und die Zerstörung der Umwelt Stärke wie auch was die Ausstattung angeht, werden bekämpfen; sie muß diesem neuen Risiko- und Kon- wir auf lange Sicht nicht in Übereinstimmung mit den fliktpotential mit anderen, neuen Instrumenten heute bekannten Rahmendaten bringen können. Das begegnen. Allerdings wird im Spektrum dieser weiß auch der informierte Soldat. Wir müssen also Bekämpfungsmechanismen — das sage ich deut- möglichst schnell diese Rahmendaten koordinieren lich — auch das Militär seine wichtige Rolle behalten. und Entscheidungsalternativen auf den Tisch bekom- Darüber werden wir für die Zukunft nachzudenken men. Wenn wir das nicht schaffen, dann wird die haben. Unruhe in der Truppe verstärkt, und das Risiko von Woran soll sich denn nun aber der militärische Fehlinvestitionen steigt. Anteil dieses Risikobekämpfungsszenarios orientie- Die Bundesregierung sollte dem Parlament diese ren? Ich glaube, wir wären schlecht beraten, wenn wir Modellrechnungen möglichst schnell vorlegen, damit die — sich übrigens täglich ändernde — Situation in wir Entscheidungsalternativen haben. Das sind die Osteuropa und in der auseinanderfallenden Sowjet- Hausaufgaben, die sich für mich für das Parlament aus union zum Maßstab unserer Verteidigungsbemühun- dem Bericht ergeben. Ich hoffe, daß wir sie gemein- gen machen wollten. Wir hätten auf Jahre — ich sam machen können. befürchte, auf Jahrzehnte — überhaupt keine sichere Schönen Dank. Planungsgrundlage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch die Waffen der auf dem Boden der Sowjet- union entstehenden einzelnen Republiken können für Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und uns kein ausschließliches Kriterium sein. Wir haben in Herren, ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten der Vergangenheit immer betont, daß Waffen alleine Ortwin Lowack. noch keine Bedrohung darstellen, sondern der politi- sche Wille, sie gesammelt gegen uns zu richten, (fraktionslos): Herr Präsident! dazukommen muß. Diesen Willen sehe ich im Moment Ortwin Lowack Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, nicht. wir können gemeinsam feststellen: Die Geschichte Für unsere Bundeswehrplanungen der Zukunft der Bundeswehr ist vom Ergebnis her eine Erfolgsge- schlage ich, auch auf Grundlage dieses Kommissions- schichte. Eine deutsche Armee, die eine der härtesten berichtes, ein Vorgehen in zwei Schritten vor. Auseinandersetzungen weltweit gewonnen hat, ohne Erstens. Wir sollten bis 1994 die völkerrechtlich daß ein Krieg geführt werden mußte, ist vielleicht das vereinbarte Zahl von 370 000 Soldaten möglichst beste Ergebnis, denn es waren ja die Grundprinzipien zügig und sozialverträglich erreichen, und wir sollten dieser Bundeswehr, die sie erfolgreich gemacht haben auch die vom Minister angekündigte Reduzierung der im Verbund mit anderen Armeen, die wir im Westen zivilen Bediensteten zügig und sozialverträglich zusammengefaßt haben. umsetzen. Jede voreilige Diskussion über die Ände- Diese Verteidigung unseres Staates muß auch in rung der Wehrform zu diesem Zeitpunkt würde den Zukunft glaubwürdig bleiben, von der Ausrüstung Prozeß nachhaltig stören und zur Verunsicherung der einer modernen beweglichen Armee, aber auch von Soldaten beitragen. den Einsatzgrundsätzen her. Hier bedauere ich natür- lich, daß die Frage, die uns seit Jahren bewegt, wann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Bundeswehr eingesetzt werden kann, eventuell Zweitens. Für die Zeit nach 1994 müssen wir über- im Rahmen der Vereinten Nationen, der Westeuropäi- prüfen, was wir zu unserer Sicherheitsgrundausstat- schen Union oder der NATO, immer noch nicht tung, d. h. fremdpotential- und szenarienunabhängig, geklärt ist. Ich werfe natürlich auch ein bißchen uns 5898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Ortwin Lowack selber, dem Parlament und auch der Bundesregierung Zugleich werden wir jedoch in Europa mit neuen vor, daß diese Debatte, die schon im April angesetzt Unsicherheiten und Gefährdungen rechnen müssen. war, ohne nähere Angabe von Gründen verschoben Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, nach wurde, daß wir heute erst genauso weit sind oder es dem Ende der weltpolitischen Bipolarität sind Kriege nicht einmal sind, wie wir es vorher waren. Es muß leider wieder führbar geworden. Bisher verdeckte klargestellt werden, daß auch heute schon die Bun- Konfliktpotentiale sind aufgebrochen, und regionale deswehr im Verband mit anderen Armeen, z. B. im Konflikte sind wahrscheinlicher geworden. Für Rahmen einer UN-Aktion, nicht nur einer Blauhelm- Europa ergeben sich daraus neue, schwer kalkulier- aktion, auch außerhalb des NATO-Gebiets grundsätz- bare Risiken, die aus politischer oder wirtschaftlicher lich verfügbar ist. Das müssen unsere Soldaten wissen, Instabilität ebenso herrühren können wie aus dem damit klar ist, für wen sie da sind, wie sie einsetzbar Ausbruch ethnischer Gegensätze oder aus territoria- sind. len Besitzansprüchen. Die Vorhersehbarkeit solcher Die Verringerung auf 370 000 ist eine echte Vorlei- Entwicklungen ist leider geringer geworden. Nie- stung. Sie ist im Rahmen der deutschen Einheit mand kann mit Sicherheit sagen, ob und wie sich die zugesagt, aber sie stützt sich darauf ab, daß im Entwicklung in der Golfregion oder in den Maghreb Rahmen der KSE auch die entsprechenden Verringe- Staaten eines Tages auf unsere Sicherheitslage in rungen vorgenommen werden. Europa auswirken wird. Wir müssen darauf hinweisen, daß das die Conditio Bei nüchterner Betrachtung muß man zu dem war, unter der wir diese Zusage gemacht haben, daß Schluß kommen, daß die Risiken für uns in Westeu- wir deshalb auf den Ergebnissen der KSE bestehen ropa zukünftig vielleicht eher größer als kleiner wer- müssen. den dürften. Ich habe eine herzliche Bitte an den Herrn Vertei- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) digungsminister: daß er dort, wo heute reduziert wird, mit sehr harten Auswirkungen für einzelne Standorte, Die Herstellung und der Erhalt einer dauerhaften bitte in Zukunft doch etwas mehr den militärischen Friedensordnung in Europa sind deshalb für uns noch Sachverstand des Hauses berücksichtigt und nicht nur wichtiger geworden. Eine entscheidende Vorausset- das, was aus den Kanzleien, Staatskanzleien oder aus zung für eine solche Friedensordnung besteht in einer den Kabinetten beteiligter Landesregierungen an ausreichenden militärischen Sicherheitsvorsorge ge- Sachverstand eingebracht werden sollte, der nicht genüber urkalkulierbaren Risiken. immer mit dem militärischen Sachverstand in Ein- klang zu bringen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte letztlich darauf hinweisen, daß sich die Täuschen Sie sich nicht: Wir finden dafür in unserer Bundeswehr als Wehrpflichtarmee glänzend bewährt Bevölkerung breite Unterstützung. Unsere Bürger hat, aber daß wir uns doch in Zukunft Gedanken haben ein deutlich spürbares Bedürfnis nach einer darüber machen sollten, wie weit den Besonderheiten angemessenen Risikovorsorge in einer derart unge- im persönlichen Bereich von Menschen mehr Sorge wissen Zeit. - dadurch getragen werden kann, daß wir den Bereich einer allgemeinen Dienstpflicht erweitern und es Die CDU/CSU bleibt entschlossen, diesem legiti- damit möglich machen, relativ gleichberechtigt men Bedürfnis auch weiterhin in verantwortungsvol- nebeneinander den Wehrdienst neben anderen sozia- ler Weise politisch Rechnung zu tragen. Die Politik zur len Diensten zu leisten. Ich glaube, hier ist das Sicherung von Frieden und Freiheit behält für uns Parlament aufgefordert. Ich werde mich freuen, wenn unverändert ihren hohen Stellenwert. ich als unabhängiger Abgeordneter den einen oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anderen Beitrag dazu leisten kann. Für uns ist übrigens gegenwärtig insbesondere die Lage in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Anlaß zu erheblicher Sorge. Dies betrifft vor allem das Herren, zum Schluß der Debatte erteile ich das Wort große militärische Potential dieser Staaten, zumal dem Herrn Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble. ihre nuklearen und ihre chemischen Massenvernich- tungsmittel. Die noch von der ehemaligen Sowjet union eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsident! müssen deshalb möglichst rasch umgesetzt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße Die nuklearen und die chemischen Waffen müssen sehr, daß uns diese Debatte Gelegenheit gibt, öffent- zuverlässig gelagert und vor fremdem Zugriff gesi- lich die Diskussion über die Bundeswehr und die chert werden. Ihre Weiterverbreitung muß verhindert veränderten Aufgaben zu führen, vor die sie sich werden. gestellt sieht. Wir leben ja in einer Zeit weltpolitischer Umbrüche, die auch und gerade unsere Verteidi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gungs- und Sicherheitspolitik vor ganz neue Heraus- bei Abgeordneten der SPD) forderungen stellt. Der Ost-West-Konflikt ist beendet, Ich denke, daß ein erster, kostengünstiger Schritt die Bundesrepublik Deutschland ist nicht länger zunächst einmal die zentrale Lagerung dieser Mas- Frontstaat an der Nahtstelle zweier gegnerischer senvernichtungsmittel wäre. Militärblöcke, und unsere osteuropäischen Nachbarn stellen keine unmittelbare Bedrohung mehr für uns Wir fordern die GUS-Staaten auf, ihre Waffenpro- dar. duktion drastisch zu verringern, um die dadurch frei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5899

Dr. Wolfgang Schäuble werdenden Mittel zur Deckung des zivilen Bedarfs zur Bekämpfung einer Aggression, zur Wiederherstel- der Bevölkerung einzusetzen. lung des Friedens gegebenenfalls auch militärische Mittel eingesetzt werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Vereinten Nationen sind durch diesen Konflikt Die Republiken der ehemaligen Sowjetunion soll- bedeutend aufgewertet worden. Sie sind einem ten deutlich den Zusammenhang sehen, der für uns Aggressor erfolgreich entgegengetreten. Das Ent- zwischen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit scheidende dabei ist die abschreckende Wirkung, die ihnen und der Einhaltung, Durchführung und Fortset- hiervon auf andere potentielle Friedensstörer ausge- zung des Abrüstungsprozesses auf ihrem Territorium hen kann und ausgehen muß. besteht und bestehen muß. Es ist für uns nicht akzep- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tabel, daß von westlicher Seite beträchtliche wirt- schaftliche Hilfe zur Linderung der Not der dortigen Wir wollen, daß die Vereinten Nationen bei der Bevölkerung geleistet wird, gleichzeitig aber die Waf- Sicherung und Bewahrung des Friedens zukünftig fenproduktion in den GUS-Staaten ungehindert fort- eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Wenn wir eine gesetzt wird. solche Friedensordnung wollen, müssen wir auch unseren Beitrag dazu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die positiven Ergebnisse, die die erste Arbeitssit- zung des NATO-Kooperationsrats über Ratifizierung Nachdem wir unsere staatliche Einheit und Souverä- und Erfüllung des Wiener Vertrags zur Abrüstung nität wiedererlangt haben, werden wir unseren vollen konventioneller Waffen in Europa erbracht hat, sind Beitrag zur Sicherung und Wiederherstellung des in diesem Zusammenhang ein hoffnungsvolles Zei- Friedens und der internationalen Sicherheit leisten chen. Die Tatsache, daß die teilnehmenden Staaten müssen. Dies bedeutet, daß notfalls auch Soldaten der — neben den NATO-Staaten die ehemaligen Mit- Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen gliedsländer des Warschauer Pakts und die Vertreter sowie im Rahmen eines europäischen Streitkräftever- der wichtigsten GUS-Republiken — sich darin einig bundes eingesetzt werden müssen. Ein Land von der waren, alles zu tun, damit der Vertrag bis zum Größe, der politischen Bedeutung und der wirtschaft- Abschluß des KSZE-Folgetreffens am 24. März in lichen Stärke Deutschlands kann nicht auf Dauer nur Helsinki ratifiziert ist, ist uneingeschränkt positiv zu Nutznießer einer internationalen Ordnung sein, ohne bewerten. Die Chance für eine Abrüstung konventio- sich selber daran auch aktiv zu beteiligen. neller Waffen in Europa muß auch nach dem Ausein- anderbrechen der ehemaligen Sowjetunion gewahrt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden. Aus verfassungspolitischen Gründen wollen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie hierzu eine entsprechende Klarstellung in unserem bei Abgeordneten der SPD) Grundgesetz. Ich begrüße, daß der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff — wie der Kollege Hoyer hier in der Auf dem Weg zu einer neuen dauerhaften Friedens- Debatte — erklärt hat, die FDP unterstütze aus Grün- und Sicherheitsordnung für Europa kommt der NATO den der internationalen Handlungsfähigkeit der Bun- auch weiterhin entscheidende Bedeutung zu. Wir desrepublik Deutschl and den Einsatz von Bundes- müssen versuchen, die NATO noch stärker als bisher wehrsoldaten auch bei Kampfeinsätzen, die auf Ent- europäisch zu nutzen. Aber genauso unverzichtbar scheidungen des UN-Sicherheitsrates beruhen, und bleibt das amerikanische Engagement, die amerika- er trete dafür ein, die entsprechende Grundgesetzän- nische Präsenz in Europa. Die NATO ist und bleibt das derung noch vor anderen möglichen Verfassungser- unverzichtbare Fundament für Stabilität und Sicher- gänzungen vorzunehmen. heit in Europa. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch die SPD muß sich endlich zu einer verantwor- Die neue NATO-Strategie ist ein entscheidender tungsvollen Politik durchringen. Sonst entlarvt sie Ansatz, den veränderten sicherheitspolitischen Rah- Behauptungen wie die jüngst von ihr verbreitete, sie menbedingungen Rechnung zu tragen. Erhöhte Flexi- sei bereits „auf dem Weg in die Regierungsverantwor- bilität und Mobilität sind die vorrangigen Gesichts- tung", als leere Phrasen, an die sie selbst nicht punkte dieser neuen Strategie. An ihnen wird sich glaubt. auch die notwendige Umstrukturierung der Bundes- Ich will übrigens gleich in aller Freundschaft hinzu- wehr orientieren müssen. fügen — vielleicht sagen Sie das dem Kollegen Die alte, wesentlich auf dem Ost-West-Gegensatz Klose —: Ich würde es, wenn wir Plenardebatten noch basierende Weltordnung ist untergegangen, und ihr attraktiver gestalten wollen, begrüßen, er würde uns ist auch nicht nachzutrauern. Wie eine neue Weltord- seine Meinung dazu heute nicht durch ein Interview nung aussehen wird, wissen wir heute noch nicht. Fest bei dpa, sondern im Rahmen dieser Debatte mittei- steht nur, daß auch eine neue, globale Ordnung auf len. militärische Mittel vorläufig nicht wird verzichten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- können. Ohne angemessene militärische Mittel kön- ordneten der FDP) nen Sicherheitssysteme, soweit wir die Zukunft abzu- sehen vermögen, nicht funktionieren. Der Golfkrieg Im übrigen finde ich es noch weniger schön, daß er hat gezeigt, daß zur Durchsetzung des Völkerrechts, seine Meinung in diesem Interview geändert hat. Er 5900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Wolfgang Schäuble stellt sich nämlich jetzt auf die Linie des SPD-Partei- unsere Solidarität auch gegen unsachliche Angriffe, tagsbeschlusses, was ich besonders bedaure; wie wir sie immer wieder erleben müssen. (Detlev von Larcher [SPD]: Ist das bei Ihrer Dieser Dank gilt im übrigen genauso unseren Ver- Parteiführung anders?) bündeten, die uns Frieden und Freiheit bewahrt, die uns die Herstellung der deutschen Einheit und die denn er hat ja die Gegengründe dazu bisher zu Recht weitreichenden Abrüstungsschritte ermöglicht ha- vorgetragen. Aber bitte sehr, wir werden das gerne ben, von denen wir alle in Europa heute profitieren. miteinander diskutieren — nur müssen wir dafür zusammensein —, und der Ort, das zu diskutieren, ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in erster Linie der Plenarsaal des Deutschen Bundes- Die Bundeswehr steht heute in dem wohl einschnei- tages. dendsten Strukturwandel seit ihrem Bestehen. In den (Beifall bei der CDU/CSU) zurückliegenden Monaten ist dazu Bemerkenswertes geleistet worden. An den getroffenen Grundsatzent- Zur Wahrhaftigkeit dieser Diskussion, wie wir sie scheidungen wollen wir festhalten. führen müssen — auch im Interesse unserer Bundes- wehr und aus unserer Verantwortung für unsere Dies gilt insbesondere für den Umfang unserer Soldaten —, gehört, meine Damen und Herren, daß Streitkräfte von künftig 370 000 Mann. Die Reduzie- wir sagen, daß auch bei UNO-Einsätzen der Bundes- rung der Bundeswehr auf 370 000 Mann ist nicht nur wehr Soldaten zu Schaden kommen können. Aus eine vertragliche Verpflichtung und auch ein Preis für diesem Grunde ist eine verstärkte öffentliche Diskus- die deutsche Einheit, sondern sie ist zugleich Vorlei- sion über die Schutzfunktion des handlungsfähigen stung der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick Staates notwendig. Frieden, Freiheit, Sicherheit gibt auf weitere Vereinbarungen im Rüstungskontrollpro- es eben nicht zum Nulltarif. Unsere Bürger verstehen zeß. das, wenn sich die politisch Verantwortlichen dazu (Dr. Gerhard Stoltenberg [CDU/CSU] und bekennen. Bernd Wilz [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir fordern die anderen beteiligten Staaten auf, Wenn unsere Bundeswehr auch künftig den Auftrag diesen Schritt nachzuvollziehen. hat, zusammen mit unseren Partnern und Verbünde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten den Schutz und die Sicherheit unseres Landes und Im übrigen zeigt dies, wie erfolgreich diese Bundes- die Bewahrung des Friedens zu gewährleisten, dann regierung auch auf dem Feld der Abrüstung ist. Das müssen unsere Streitkräfte auch in Zukunft die Fähig- Versprechen von Bundeskanzler , Frie- keit zu einer glaubwürdigen Verteidigung besitzen. den zu schaffen mit weniger Waffen, ist voll eingelöst Dann müssen ihnen auch in Zukunft die hierzu worden. Ich möchte hinzufügen: Dieser Erfolg ist auch erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt wer- durch die konsequente Umsetzung des NATO - Dop- den. pelbeschlusses durch diese Bundesregierung Anfang (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der 80er Jahre möglich geworden. - ordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zur Verteidigung gehört im übrigen auch die Fähig- Lachen bei der SPD) keit zur Luftverteidigung. Es ist unbestreitbar, daß wir Dies zeigt, daß beides zugleich möglich ist: eine spätestens dann, wenn die derzeit dazu eingesetzten Politik der verteidigungspolitischen Vorsorge und Flugzeuge um das Jahr 2005 ihre Lebensdauergrenze Abschreckung ebenso wie eine Politik der aktiven erreicht haben, über ein neues Jagdflugzeug verfügen abrüstungs- und friedenspolitischen Gestaltung. Es müssen. gehört zu den großen Leistungen der Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge rung unter Bundeskanzler Kohl, diesen Gleichklang ordneten der FDP) erreicht und beibehalten zu haben. Über die Beschaffung eines neuen Jagdflugzeugs Auch diese verkleinerte Bundeswehr bleibt eine werden wir dann im Sommer dieses Jahres entschei- Wehrpflichtigenarmee. Wir müssen allerdings noch den, wenn alle Alternativen auf dem Tisch liegen. einiges tun, um das Problem der Dienstgerechtigkeit in den Griff zu bekommen. Denn für die allgemeine Unsere Soldaten dienen, um Kriege und militärische Zustimmung zum Wehrdienst ist es entscheidend, daß Auseinandersetzungen zu verhindern, um mögliche das Gerechtigkeitsempfinden nicht verletzt wird. Gefährdungen für die Bundesrepublik Deutschland auszuschließen. Dienst in der Bundeswehr ist unver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ändert Dienst für den Frieden. Die neue Bundeswehrplanung stellt eine gewaltige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leistung aller Verantwortlichen dar, eine Leistung, der ihre Kritiker auch nicht im Ansatz gerecht werden. Ich will an dieser Stelle den Angehörigen der Ich nenne nur die enormen Probleme der Umstellung Bundeswehr, den Soldaten und auch den zivilen auf eine Personalstärke von 370 000 Mann und die Beschäftigten, für den von ihnen geleisteten Beitrag Integration der ehemaligen NVA in die Bundeswehr. ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung Für die geleistete Arbeit spreche ich dem Bundesmi- sagen. nister der Verteidigung im Namen der CDU/CSU- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fraktion meinen Dank und meine Anerkennung Sie haben in vier Jahrzehnten dafür gesorgt, daß der aus. Frieden in Freiheit erhalten blieb. Sie verdienen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5901

Dr. Wolfgang Schäuble Ich möchte in diesen Dank auch meinerseits aus- ten vielleicht größer sind, als sie in Ihrem Redebeitrag drücklich die Mitglieder der unabhängigen Kommis- zum Ausdruck kamen. sion einbeziehen, deren Bericht wertvolle Anregun- (Beifall bei der SPD) gen und Empfehlungen für die künftigen Planungen enthält. Vizepräsidentin : Zu einer Erwide- Die Bundeswehr kann sich darauf verlassen, daß die rung auf diese Kurzintervention Herr Kollege CDU/CSU-Fraktion weiter die erforderlichen Ent- Schäuble. scheidungen treffen wird, um die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte zu sichern. Und unsere Bürger können sich darauf verlassen, daß wir, unbeirrt von Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden- lautstarken Parolen und populistischen Forderungen, tin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heister- das Notwendige tun werden, um ihnen ein Leben in mann, ich will das gleich in Ordnung bringen, damit Frieden und Freiheit auch in Zukunft zu sichern. kein Mißverständnis entsteht. Es ist völlig klar, daß der Kollege Klose, wie ich, wie alle anderen Kollegen (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und dieses Hauses, nicht ständig im Plenarsaal anwesend der FDP) sein kann. Das ist überhaupt nicht mein Kritik- punkt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer Kurzin- Gleichwohl finde ich es nicht in Ordnung, daß, tervention erhält der Kollege Dieter Heistermann das wenn wir hier im Deutschen Bundestag über Vertei- Wort. digungspolitik diskutieren, der Kollege Klose, der, was völlig in Ordnung ist, nur teilweise an der Debatte teilnehmen kann, in Form eines Interviews zu dieser Dieter Heistermann, (SPD): Herr Kollege Schäuble, Debatte Stellung bezieht. Das wollte ich einmal klä- lassen Sie mich zu Ihrer doch etwas billigen Replik auf ren. den Kollegen Klose einiges antworten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens. Der Kollege Klose war hier anwesend. Er Man kann das eine oder das andere, an der Debatte konnte leider nicht bei der gesamten Debatte dabei teilnehmen oder nicht; aber wenn man sich an der sein. Diskussion beteiligt, sollte man seinen Beitrag inner- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann halb dieser Debatte leisten. sollte er keine Interviews geben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Hören Sie doch bitte erst in aller Ruhe zu! Zweitens. Kollege Schäuble, auch Ihnen könnte es Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- recht bald passieren, daß Sie bei einer wichtigen dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache Debatte in diesem Hause nicht dabei sein können. Wir zu diesem Tagesordnungspunkt. würden es uns dann aber versagen, das hier in dieser Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- - Art und Weise festzustellen. Vielleicht überlegen Sie ßungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sich diese Bemerkung noch einmal. auf Drucksache 12/1846. Wer stimmt für diesen Ent- (Beifall bei der SPD — Paul Breuer [CDU/ schließungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthal- CSU]: Nicht zugehört und nichts beg riffen!) tungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag so angenommen. Ich glaube, den Stil wie eben sollten wir hier nicht einführen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa- Weitere Bemerkung: Ich denke, Kollege Schäuble, che 12/1928. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Sie müssen registrieren, daß zu Beginn des letzten antrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Jahres anläßlich des Golfkrieges plötzlich sehr viele Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt. ehemalige Soldaten als Kriegsdienstverweigerer auf- getreten sind. Das hatte ja Ursachen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: (Paul Breuer [CDU/CSU]: Unter 2 %!) 5. Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Über diese Ursachen sollten wir hier sprechen. Ich regierung sage in aller Deutlichkeit: Die Sozialdemokraten tre- ten dafür ein, daß man das Grundrecht auf Kriegs- Bericht der Bundesregierung über die Ent- dienstverweigerung und die Wehrpflicht so stehen- wicklung der Finanzhilfen des Bundes und der läßt wie im Grundgesetz ausgeführt. Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Ge- setzes zur Förderung der Stabilität und des Wir treten dafür ein, daß auch der Frieden in dieser Wachsstums der Wirtschaft (StWG) vom 8. Juni Gesellschaft erhalten bleibt, daß wir nicht wieder die 1967 für die Jahre 1989 bis 1992 (Dreizehnter alten Debatten darüber bekommen: Was ist wichtiger? Subventionsbericht) Ich denke, wir sollten uns auf diese Grundwerte — Drucksache 12/1525 — verständigen und sie beide schützen, sowohl das eine als auch das andere. Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß (federführend) (Beifall bei der SPD) Finanzausschuß Herr Kollege Schäuble, da Sie uns in Ihrem Beitrag Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in wesentlichen Punkten nicht widersprochen haben, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung können wir davon ausgehen, daß die Gemeinsamkei Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 5902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt Im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinviertel betrieblichen Investitionen aus dem Haushalt haben Stunden vorgesehen worden. Gibt es dazu irgendei- schnell günstige Rahmenbedingungen geschaffen. nen Widerspruch? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Mit diesen Maßnahmen ist die Wende zum Besseren Dann ist das so beschlossen. in den neuen Bundesländern eingeleitet worden. Die Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat Herr Erfolge sind bereits sichtbar: im Handwerk und bei der Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grüne- Bauindustrie. Weil es Ihnen nicht gefällt, zitiere ich wald das Wort. noch die Neujahrsumfrage des Allensbacher Instituts: In Ostdeutschland war der Optimismus in den vergan- genen Monaten größer als je zuvor seit der Vereini- gung. Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Der von der Bundesre- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir sind beim gierung turnusgemäß vorgelegte Dreizehnte Subven- Subventionsbericht!) tionsbericht informiert über die Entwicklung der Ich füge hinzu: Das ist gut so. Zwei Drittel jeder Hilfe Finanzhilfen des Bundes auf der einen Seite und der — also auch der Subventionen — ist, Mut einzuflößen; Steuervergünstigungen auf der anderen Seite in der so sagt ein israelisches Sprichwort. Zeit von 1989 bis 1992. Über die Auswirkungen, die mit den beispiellosen (Detlev von Larcher [SPD]: Zitieren Sie Herrn Herausforderungen für die Finanzpolitik durch die Möllemann aus dem „Spiegel" ! ) deutsche Einheit verbunden sind, ist in diesem Hause Insgesamt sind im Subventionsbericht für 1991 wiederholte Male intensiv gesprochen worden, 11 Milliarden DM ausgewiesen, die als Finanzhilfen zuletzt bei der Verabschiedung des Haushaltsplans. und Steuervergünstigungen in die jungen Länder Dabei ist eines klargeworden: Notwendige Hilfen für flossen. Im Zuge der Verabschiedung des Bundes- die neuen Bundesländer beeinflussen maßgeblich die haushalts 1992 hat sich das Volumen auf 11,8 Milliar- Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünsti- den DM erhöht. Diese Subventionen — darüber gungen des Bundes, die in Ost und West entgegenge- besteht wohl Einigkeit — sind sozusagen Investitio- setzt verläuft. Der Anstieg der Subventionen in 1991 nen in den wirtschaftlichen Gesundungsprozeß und ist ausschließlich — ich betone: ausschließlich — damit in die Zukunft, also zukunftssicherende Investi- durch die Vereinigung bedingt. tionen, die für unsere Kinder und Kindeskinder reich- Es ist als großer Erfolg zu werten, daß die unabweis- haltige Ernte in die Scheuern einbringen werden. baren zusätzlichen Anforderungen im Zuge der deut- Auf der anderen Seite ist entgegen allen Unkenru- schen Einheit gesamtwirtschaftlich und finanzpoli- fen deutlich abzulesen, daß für das Gebiet der alten tisch verträglich abgefangen werden konnten. Es ist Bundesrepublik die Subventionen des Bundes 1991 gelungen, den Ausgabenanstieg im Finanzplanungs- und 1992 absolut zurückgehen. Obwohl in den zeitraum von 1992 bis 1994 auf nur 2,3 v. H. zu abschließenden Haushaltsberatungen aus guten begrenzen. Die Weichen stehen also auf Konsolidie- Gründen — daran sieht man auch die ganzen Schwie- rung. Wir knüpfen damit an den Konsolidierungskurs rigkeiten — der ausgelaufene Einkommensausgleich der 80er Jahre an. Die kommenden Jahre erfordern für die Landwirtschaft durch Finanzhilfen ersetzt und strikte Ausgabendisziplin. Nach wie vor gilt das von insbesondere die Kokskohlenbeihilfe wieder aufge- der Koalition beschlossene Morato rium für neue Lei- stockt worden ist — daran sieht m an die ganze Sensi- stungsgesetze. bilität und auch die Grenzen der politischen Durch- Die Subventionen zu begrenzen und abzubauen ist setzbarkeit —, dabei ein wichtiger Baustein der Konsolidierung. Das (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Da kann wird in den kommenden Jahren im alten Bundesge- man sehen, was der Möllemann alles biet zwangsläufig stärker zu Buche schlagen als in den erreicht!) jungen Bundesländern. gehen die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen 40 Jahre Sozialismus hinterließen eine nicht wett- für die alten Bundesländer 1991 und 1992 bewerbsfähige und in der Substanz schwer geschä- digte Volkswirtschaft. Ich erinnere, daß wir uns heute (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ohne morgen im Unterausschuß Treuhand wiederholte Erfolg von Möllemann!) Male mit diesem Problem befaßt haben. Die ganzen um 13 % zurück. Für 1992 sinkt auch die Gesamt- Auswirkungen spülen nahezu täglich wieder hoch. Es summe aller Bundessubventionen wieder. fehlen leistungsfähige Unternehmen. Vor allem fehlt Der Dreizehnte Subventionsbericht dokumentiert private unternehmerische Initiative. Ohne vorüberge- in den alten hende staatliche Hilfen wäre der einschneidende also deutlich, daß der Subventionsabbau Bundesländern in Gang gekommen ist. Prozeß der Umstellung auf unsere marktwirtschaftli- che Ordnung überhaupt nicht zu bewältigen. Es ist Subventionsabbau — das haben wir, meine lieben ganz unerläßlich, daß neue Finanzhilfen und Steuer- Kolleginnen und Kollegen, im letzten Jahr alle mitein- vergünstigungen für die jungen Bundesländer die ander, vor allen Dingen wir in der Arbeitsgruppe, Umstellung beschleunigen und die beispiellose struk- leidvoll erfahren — ist äußerst schwierig. Ein soforti- turpolitische Anpassung abfedern. Den Grundstein ger und radikaler Subventionsabbau ist zwar schnell für wirtschaftliche Gesundung und mehr Wachstum gefordert. Wenn es aber ans Konkrete geht und legen private Investitionen. Insbesondere die befri- erkennbar wird, welche Gruppe oder welcher Wirt- stete Investitionszulage und die Sonderabschreibun- schaftsbereich betroffen wird, dann finden sich regel- gen auf der steuerlichen Seite sowie die Hilfen für die mäßig schnell engagierte Verteidiger der betreffen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5903

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald den Subvention. In der Tat können häufig auch gute steuerlichen Belastungen, die vorgesehenen Entla- Gründe gegen allzu rigorose Einschnitte angeführt stungen aber nicht mehr enthält. werden. Deshalb ist auch hier Augenmaß gefordert. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie blok- Die Bundesregierung folgt daher dem Grundsatz, kieren Mißbrauchsbeseitigung!) die Marktkräfte zu stärken und nicht den nationalen Die Bundesregierung hat im übrigen ihr Einsparziel und internationalen Wettbewerb durch Subventionen nie auf den Subventionsbericht beschränkt. Das wäre zu verzerren. Andererseits ist sie sich aber auch auch falsch gewesen. Sie wissen, daß der Begriff der bewußt, daß zur sozialen Marktwirtschaft in eng Subvention wissenschaftlich höchst umstritten ist. begrenzten Fällen auch Hilfen gehören, um den Strukturwandel zu erleichtern und abzufangen, wie (Lachen bei der SPD) am Beispiel der neuen Länder so besonders deutlich Der Abbau von 10 Milliarden DM umfaßt vielmehr wird. auch steuerliche Privilegien (Zuruf von der SPD: Sind es nun neue oder (Zuruf von der SPD: Meinen Sie Gehälter für junge?) Staatssekretäre?) Die Erfahrung lehrt: Dauerhafte Erfolge können und Sondervergünstigungen, die eben nicht unter den deshalb meist nur relativ langsam und in Schritten Subventionsbericht fallen, weil im Subventionsbe- erzielt werden. Der langfristige Vergleich zeigt: Die richt eine ganz strenge Abgrenzung vorgenommen Bundesregierung war erfolgreich in ihrem Ziel, Wild- wird. wuchs zu beschneiden und die Subventionen zu (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Zwi- begrenzen. schen Ihnen und Möllemann liegen Wel- Von 1982 bis 1990 stiegen die Finanzhilfen und ten!) Steuervergünstigungen des Bundes deutlich langsa- Das ist doch aber auch überhaupt nicht bedeutsam. mer als das Bruttosozialprodukt. Gemessen am Brut- Aus der Sicht des Bundesfinanzministers und des tosozialprodukt verringerte sich ihr Anteil in diesem Haushalts kommt es doch allein auf die Wirkungen Zeitraum von 1,5 auf 1,2 v. H. Nach dem unabweisba- dieser Maßnahmen an, und die liegen bei über 10 Mil- ren, einigungsbedingten Anstieg 1991 ist die Quote liarden DM. 1992 wieder rückläufig und wird sich bei etwa knapp Trotz der dargelegten Erfolge beim Subventionsab- 1,3 % einpendeln. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nimmt der Stellenwert von Finanzhilfen und Steuer- bau vergünstigungen somit ab. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Dieser Mümmelmann hat doch keine Ahnung!) Ein wichtiger Schritt in Richtung Subventionsabbau war die Steuerreform 1990: Den wachstumsfördern- möchte ich Ihnen deutlich sagen, daß für den Bundes- den Tarifentlastungen stand eine erhebliche Ein- finanzminister damit die Politik der Begrenzung und schränkung steuerlicher Vergünstigungen gegen- Verringerung von Subventionen keineswegs abge- über. schlossen sein kann. Auch weiterhin müssen alle Möglichkeiten zur Einsparung und Konsolidierung (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) ausgeschöpft werden. Ins Gewicht fällt darüber hinaus, daß seit 1991 die (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- Berlin- und Zonenrandförderung zurückgeführt wird, gen] [FDP]) im Endeffekt um 10 Milliarden DM im Jahr. Der Abbau teilungsbedingter Lasten trägt so dazu bei, die Auch zukünftig gilt: Jede einzelne Maßnahme muß Kosten der Einheit zu finanzieren. auf den Prüfstand und ist genau zu prüfen, wohlwis- send — auch das haben wir gelernt —, daß das eine Die besondere Situation im Zusammenhang mit der Sisyphusarbeit ist. Wir haben schon einiges erreicht, deutschen Einheit erfordert aber zusätzliche Anstren- dürfen uns aber keineswegs damit zufriedengeben; gungen. denn der Abbau von Subventionen ist ein dauerhafter Prozeß. (Zuruf von der SPD: Die Reden schreibt !) (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- gen] [FDP]) Deshalb hatte die Koalition bereits vor einem Jahr beschlossen, ein Paket von Einsparungen in Höhe von In diesem Zusammenhang appelliere ich abschlie- insgesamt 10 Milliarden DM zu erreichen. Diese Vor- ßend auch einmal an die Länder und die Gemeinden gabe ist durch das Konzept der Bundesregierung im alten Bundesgebiet, ihr Ausgabeverhalten zu eingehalten worden, überprüfen. Auch die haben ja ganz erhebliche Sub- ventionen. Sie mögen sich auch bitte bemühen, ihre (Beifall bei der CDU/CSU) großen Haushaltsdefizite zurückzuführen. Sie mögen das Haushalts- und Steuermaßnahmen im Durch- bitte schön auch endlich Ihren angemessenen Anteil schnitt der Jahre 1992 bis 1994 sogar um etwas mehr an den Kosten der deutschen Einheit übernehmen. als 10 Milliarden DM umfaßt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der steuerliche Teil liegt, wie Sie wissen, zur Zeit im Denn die Wiedervereinigung ist eine gesamtstaatli- Vermittlungsverfahren. Doch kann es mit uns — und che Aufgabe, an der alle Gebietskörperschaften, alle das sei an dieser Stelle ganz deutlich gesagt — keine Ebenen, egal, ob Bund, Länder oder Gemeinden, Lösung geben, die zwar für die Unternehmen noch die ihren angemessenen Beitrag zu leisten haben. 5904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald Ich danke Ihnen sehr. Sie sucht ständig, die Schuld einseitig auf die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Tarifrunde dieses Jahres abzuwälzen. Damit ganz klar Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Der Land werden soll, wer die Schuld für einen wirtschaftlichen kreis Olpe und der Hochsauerlandkreis Einbruch zu tragen hat, heizt der Wirtschaftsminister z. B.!) den sogenannten Verteilungskampf so richtig an und verlangt eine Vier vor dem Komma der Tarifab- schlüsse. Das ist tarifpolitische Brandstiftung. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Jede Bundesregierung hat das Recht, sich zu unser Kollege Helmut Wieczorek das Wort. gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der Tarifpolitik zu äußern. Was die Gewerkschaften aber zu Recht Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Frau Vorsit- empört, ist, daß dies mit dem Ruf „Haltet den Dieb" zende! geschieht. Dieser Taktik der Bundesregierung, Sün- denböcke für das eigene finanzpolitische Versagen zu (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Präsiden suchen, erteilt die SPD-Fraktion eine klare Absage. tin!) — Frau Präsidentin! Schon wieder derselbe Fehler, (Beifall bei der SPD) der mir bei Ihnen immer unterläuft. Ich bitte vielmals Die Tarifforderungen der Gewerkschaften ent- um Entschuldigung, Frau Präsidentin. springen ja nicht den Köpfen einer Handvoll von (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Vor Funktionären. Sie sind das Ergebnis eines vielschich- sitzende wollte sie nicht werden!) tigen und aufgestauten Unmuts der Arbeitnehmer: aufgestauter Unmut über die Umverteilungspolitik Das kommt daher, weil Sie so freundlich einführen der Bundesregierung in den 80er Jahren, in denen die und dann die Stimmung bei Ihren anderen Kollegen Unternehmergewinne zehnmal so stark stiegen wie etwas anders wird als normal. die Kaufkraft der Arbeitnehmereinkommen bei (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gleichzeitiger lohnpolitischer Zurückhaltung der Ge- GRÜNE — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] werkschaften; gerechter Zorn über die Schulden- und [FDP]: Keine Disziplinierung des Präsidiums! Steuerpolitik der Bundesregierung, die sich als unfä- — Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/ hig erwies, ein finanzpolitisch überzeugendes und CSU]: Jetzt kommt's! — Weitere Zurufe von sozial gerechtes Konzept für die ökonomische Verei- der CDU/CSU) nigung zu entwickeln. Statt dessen wurden die Arbeit- — Schön, nicht? — nehmer einseitig belastet, so daß die Realeinkommen stagnieren. Jetzt aber richtig: Die heutige Debatte zum Drei- zehnten Subventionsbericht der Bundesregierung Letzlich gibt es die Zukunftssorge vor ständig stei- bildet für mich zugleich den Auftakt der finanzpoliti- genden Belastungen als Ausdruck der Krise des schen Auseinandersetzungen dieses Jahres. Zurück Vertrauens in eine Politik, die mit Wortbruch und aus der Weihnachtspause muß man sich schon die Täuschung ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. - Augen reiben: Das wirtschafts- und finanzpolitische Umfeld scheint sich dramatisch verändert zu haben. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! Lei Noch während der Haushalts- und der Europadebatte der!) Ende letzten Jahres tauchte die Bundesregierung die Meine Damen und Herren, vor nicht langer Zeit, vor Zukunft in das von ihr sattsam bekannte optimistische ein paar Wochen, habe ich hier in der zweiten Lesung Licht. zum Bundeshaushalt den Bundesfinanzminister ange- Jetzt aber, in den Pressekonferenzen von Kanzler sprochen und habe ihn gewarnt. Ich habe ihm wörtlich und Wirtschaftsminister, ist das Jahr 1992 plötzlich ein gesagt: „Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister, selbst drohendes Krisenjahr geworden. Es wird zum wirt- den Mut zur Umkehr nicht aufbringen, wird die schaftspolitischen Schicksalsjahr der Nation herauf Bundesbank Sie mit einer restriktiven Politik dazu stilisiert. zwingen müssen." Das ist wahr, aber nicht neu. Dies ist nämlich die (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Stramm- sozialdemokratische Botschaft des letzten Jahres. Seit gestanden!) Monaten fordern die Opposition, die Forschungsinsti- — Ohne Erfolg; denn die Bundesbank hat sich jetzt tute, die Sachverständigen und die Bundesbank einen zum Handeln genötigt gesehen, Herr Kollege, und hat klaren Kurs der Finanzpolitik, um die Schulden- und trotz der abflauenden Konjunktur einen Diskontsatz Steuerschraube in den Griff zu bekommen. Seit Jah- beschlossen, den wir in der Nachkriegsgeschichte ren sprechen wir uns gegen die gesamtwirtschaftlich noch nie gehabt haben. Das hätte die Regierung zum schädlichen Folgen einer Mehrwertsteuererhöhung Handeln bringen müssen und nicht ein Kontrollinstru- aus. Seit Monaten wird das wirtschaftliche Wachstum für 1992 auf eine mittlere Größenordnung von 1 bis ment. 1,5 % geschätzt, was jetzt der Bundeswirtschaftsmini- (Beifall bei der SPD) ster als große Neuigkeit seines Jahreswirtschaftsbe- richts auszugeben versucht. Wenn die Bundesbank in ihrer verantwortungsvol- len Politik vor der Entwicklung neuer Tarife dieses Der Bundesregierung scheint jede Fähigkeit abhan- Zinssignal geben muß, dann ist das ein für die den gekommen zu sein, die in Richtung Selbstkritik Bundesbank genauso schmerzlicher Eingriff wie für geht. uns alle. Sicherlich hat es sich niemand leicht (Beifall bei der SPD) gemacht, diese Dinge durchzusetzen. Die Finanzpoli- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5905

Helmut Wieczorek (Duisburg) tik ist nicht dadurch geschädigt worden, sondern Im nächsten Jahr werden sich die Steuersubventionen durch Ihre verfehlte Politik. sogar wieder um 1,8 Milliarden DM erhöhen. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Es kommt ganz darauf an, wie man das definiert!) Die gesamtwirtschaftliche Vernunft der Gewerk- schaften hat für die Wettbewerbsfähigkeit des Indu- Denken Sie immer daran: Eine Milliarde sind 1 000 striestandortes Bundesrepublik Deutschland in der Millionen, Herr Kollege. An Ihrer Reaktion merke ich Vergangenheit mehr bewirkt, als ganze Politiker- aber, daß Sie noch nicht einmal die Dimension dieser generationen vom Schlage eines Möllemann je bewir- Zahl erkennen. Die Finanzhilfen, Herr Kollege Weng, ken werden. werden sogar noch einmal um knapp 2 Milliarden DM aufgestockt. Das werden mehr als 10 % aller im (Beifall bei der SPD) Subventionsbericht überhaupt angesprochenen Fi- nanzhilfen sein. Deshalb, meine Damen und Herren: Wer an die gesamtstaatliche Verantwortung der Gewerkschaften In einem Punkt sind Sie allerdings zugegebenerma- appelliert, muß selbst zu solidarischem Handeln, zum ßen hart geblieben, nämlich da, wo es darum ging, Kurswechsel und zur Korrektur seiner Politik bereit Langzeitarbeitslose in den alten Bundesländern wei- sein. terhin in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einzu- betten. 560 Millionen DM haben Sie dort gespart und (Beifall bei der SPD) haben das als Subventionsabbau ausgegeben. Hier ist die Bundesregierung gefordert. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ein Skandal! — Beifall bei der SPD) In kaum einem anderen Punkt zeigt sich die Mit- schuld der Bundesregierung so exemplarisch wie bei Ist das intellektuell redlich, Herr Kollege Müller? dem makabren Subventionstheater zu Lasten einer (Zuruf von der SPD: Nein!) soliden Haushaltspolitik. Vorausschauend hat Graf Lambsdorff im Herbst 1990 geweissagt: In dem Meine Damen und Herren, Subventionen müssen Augenblick, in dem die Steuererhöhungsschleuse danach bewertet werden, ob sie Zukunftschancen geöffnet wird, kann man die Diskussion über den verbessern oder ob sie sich sinnvoll in ein wirtschafts- Subventionsabbau beenden. Während der Altmeister und finanzpolitisches Gesamtkonzept einfügen. wußte, wovon er redete, glaube der Lehrling im Sessel (Zuruf von der FDP: Endlich sagt er mal was des Bundeswirtschaftsministers, Herr Möllemann, das Gutes!) ideale Profilierungsfeld gefunden zu haben. Diese Regierung braucht nicht mehr zuzugeben, daß sie mit Aus diesen Gründen schreibt das Stabilitäts- und ihrem Vorhaben, die Subventionen um 10 Milliarden Wachstumsgesetz vor, die Subventionen in Erhal-

DM abzubauen, gescheitert ist; denn jeder sieht es tungs - , Anpassungs - und Produktivitätshilfen zu inzwischen. untergliedern. Während 1982 — das Jahr, auf das Sie so gern eingehen — der Anteil der Erhaltungshilfen Als Subventionsabbau wurde ausgegeben, was lediglich 18 % betrug, erhöhte er sich nach den lange im Haushalt stand, nämlich das Auslaufen Haushaltsberatungen für 1992 auf fast 39 %. gesetzlich feststehender Subventionen und der Ver- zicht auf die Aufstockung von Subventionen. Die Es ist ein strukturelles Problem Ihrer Politik, daß Sie bloße Absicht, bei der Europäischen Gemeinschaft für als konservative Regierung das Instrument Subventio- einen Subventionsabbau einzutreten, wurde in ihrer nen vornehmlich zur Konservierung alter Strukturen Rechnung mitgezählt. Wenn das intellektuell redlich einsetzen, statt Umstrukturierungs- und Produktivi- ist, dann möchte ich mal wissen, wie Sie das Wort tätshilfen zu forcieren. Auch wenn die Abgrenzungen Redlichkeit eigentlich definieren, meine Damen und nicht immer sachgerecht erscheinen, an der Grund- Herren. aussage ändert sich nichts. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das sind Es ist auch nicht zu bestreiten, daß es sich bei den alles Schwindler! — Weiterer Zuruf von der Ergebnissen der Kohlerunde 1991 um ein Anpas- SPD: Das können die nicht beschreiben!) sungskonzept handelt. Vollkommen richtig! Unter- nehmen wie Gewerkschaften, Herr Kollege Müller, Es geht hier um das vorgezogene Etatisieren von Bund und Länder haben sich auf ein struktur- und Einsparungen, die in späteren Jahren überhaupt erst sozialpolitisch abgestimmtes Kohlegesamtkonzept kassenwirksam werden sollen. verständigt, das die Zukunftschancen der betroffenen Regionen verbessern soll. Hier liegt auch der entschei- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Alles dende Unterschied zu den drastischen Aufstockungen Schwindel, Möllemann-Schwindel!) der Agrarsubventionen. Ergebnis der Beratungen zum Steueränderungsge- Um Mißverständnissen allerdings von vornherein setz und zum Haushalt 1992 war, daß von den im vorzubeugen: Es geht nicht darum, Bauern und Kum- Subventionsbericht enthaltenen Steuersubventionen pel gegeneinander auszuspielen. Inhaltlich geht es statt der angekündigten 5 Milliarden DM in diesem darum, die ökonomisch nicht mehr verkraftbaren Jahre ganze 67 Millionen DM eingespart werden Dauersubventionierungen in der Landwirtschaft von sollen. der Mengensubventionierung auf die direkten Ein- kommenshilfen umzustellen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ach, das haben Sie nicht richtig verstanden!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Richtig!) 5906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Helmut Wieczorek (Duisburg) Die Agrarhilfen sind so hoch wie nie, und dennoch wieder im Wirtschaftsministerium. Wirtschaftsmini- haben wir die ärmsten Bauern, die es jemals in der ster Möllemann marschiert nämlich auch hier mit an Geschichte unseres Landes gab. der Spitze: Er hat 16 hochdotierte Stellen bekommen, und von diesen 16 Stellen sind 12 fehlbesetzt. Das sind (Beifall bei der SPD) drei Viertel. Die Bundesregierung hintergeht hier den Meine Damen und Herren, mit der Aufstockung des Willen des Parlamentes. Wir werden im Haushaltsaus- soziostrukturellen Einkommensausgleichs für Ost schuß dafür zu sorgen haben, daß nicht nur das in der und West um 1,4 Milliarden DM wird nach dem Presse steht, sondern auch die Erfolge des Haushalts- gesetzlichen Auslaufen der steuerlichen Regelungen ausschusses dabei. Ob Ihnen dann das Lachen nicht eine neue Dauersubventionierung eingeführt. Hand- vergehen wird, darauf bin ich gespannt. werklich geschieht das sogar in einer stümperhaften Herzlichen D ank. Weise, die der Qualität des Finanzministeriums abso- lut nicht entspricht. Die gesetzliche Grundlage für (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste diese Subventionierung ist nämlich überhaupt noch sowie des Abg. Dr. Wolfg ang Ullmann nicht in Sicht, weil der Versuch einer Abstimmung mit [Bündnis 90/GRÜNE]) den Ländern zur Übernahme des ergänzenden Kostenanteils von 35 % festgefahren ist. Damit droht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat eine zusätzliche Aufstockung der neuen Subventio- der Kollege Hans-Werner Müller das Wort. nen auf über 2 Milliarden DM ausschließlich aus (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Jetzt bin Bundesmitteln, Herr Kollege Weng. ich mal gespannt, Hans-Werner, was du (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Ich sagst!) fordere das doch nicht!) Ich habe Sie gestern gefragt, wie Sie eigentlich das Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Frau Risiko für dieses Jahr einschätzen. Da hat Ihre Regie- Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! rung großspurig geantwortet, sie habe kein Risiko. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das war Aber Risiken in Größenordnungen von tausend Mil- schon mal gut!) lionen werden bei Ihnen schon nicht mehr mitgezählt. Eine Milliarde geben Sie schlicht einmal über den Herr Kollege Walther, Sie sind gespannt, was ich Tisch, was das auch immer für unsere Kinder und sage. Kindeskinder an zusätzlichen Zinsen bedeutet. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Richtig!) Ein besonders dunkles Kapitel ist die Effizienzkon- Ich bin enttäuscht von dem, was der Kollege Helmut trolle der Subventionen. Nur ein Beispiel dafür: Für Wieczorek gesagt hat. die sogenannte Denaturierung von Magermilch und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Magermilchpulver zur Verfütterung an Schweine Wir kennen ihn ansonsten als einen sehr sachkundi- wurde im sogenannten Beitrittsgebiet eine Sonderbei- gen Kollegen. hilfe gewährt. Als Anspruchsberechtigte für diese Subvention taucht nun eine Handels- und Grund- (Detlev von Larcher [SPD]: Ich wäre ent- stücksaktiengesellschaft mit Sitz in München auf. täuscht, wenn Sie nicht so anfangen wür- Meine Damen und Herren, ich frage Sie: War das den!) eigentlich so gewollt? Kontrollieren Sie so die Ausga- Das, was er hier vorgebracht hat, ist so das Rituelle, ben des Bundes, und gehen Sie so mit dem Geld des was bei den Debatten zum Subventionsbericht seitens Steuerzahlers um? der Opposition immer vorgebracht wird. Ich habe mir nämlich einmal die Mühe gemacht, nachzulesen, was Aber dazu paßt auch noch eine andere Sache der Kollege Wieczorek schon zum 11. und zum 12. Be- hervorragend: Der Bundesrechnungshof ist jetzt einer anderen grotesken Fehlentwicklung auf die Spur richt gesagt hat. gekommen, über die wir uns im Haushaltsausschuß (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: sicherlich noch unterhalten müssen. Während näm- Nichts Neues!) lich die Mitglieder der Bundesregierung den öffentli- Ich habe nur noch gewartet, daß die „Perspektivlosig- chen Dienst wegen seiner Forderungen schelten, keit" und die „Passivität gegenüber Lobby-Interes- bedienen sie sich selbst in großzügigster Weise mit sen" kommen; das hat noch gefehlt. Aber ansonsten hochdotierten, zusätzlichen Stellen in den Ministe- war es dasselbe Strickmuster. rien, die ihnen eigentlich für zusätzliche Aufgaben Die erfolgreichen Bemühungen der Bundesregie- wegen der deutschen Einheit bewilligt wurden. rung bezüglich des Subventionsabbaus, die aus die- Der Bundesrechnungshof hat jetzt festgestellt, daß sem Bericht hervorgehen, insbesondere die Differen- von 97 höchstwertigen Stellen mehr als die Hälfte, zierung zwischen dem Abbau West und dem notwen- nämlich 51, bestimmungsfremd verwendet worden digen Aufbau Ost, zeigen doch, meine sehr verehrten sind. Damen und Herren, daß Sie mit Ihrer ganzen Polemik im letzten Halbjahr völlig daneben gelegen haben. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das heißt, sie haben mit der deutschen Einheit über- haupt nichts zu tun, sondern sie werden so eingesetzt, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Mül- wie es dem Ministerium und dem Minister gerade ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie wird Ihnen gefällt. Den Spitzenreiter haben wir auch hier leider nicht angerechnet. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5907

Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Aber Hier will ich auch noch etwas Grundsätzliches selbstverständlich. sagen, und das ist auch wieder bei Ihrem Beispiel zum Ausdruck gekommen, daß die Steuervergünstigung nur auf 67 Millionen DM heruntergefahren worden Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Kollege ist. Sie bedienen sich eines Subventionsbegriffes, wie Müller, meine Zwischenfrage ist auch sicherlich nicht Sie sozusagen gerade lustig sind. Da nimmt jeder die polemisch. Ich möchte Sie eigentlich nur fragen, ob Definition, die ihm gerade gefällt. Da sagen Sie z. B., Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß jeder Redner wenn staatliche Zuwendungen mit Subventionscha- seine Reden der Vorjahre nachlesen sollte, bevor er rakter gekürzt werden, das seien im Grunde genom- eine neue macht. men nur Kürzungen von verschiedenen Haushaltsti- (Beifall bei der CDU/CSU) teln. Oder Sie ereifern sich, der Abbau von überhöh- ten Steuerbelastungen von Unternehmen sei im Prin- zip auch eine Subvention. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Sehr gut, selbstverständlich! Ich habe mir darüber hinaus Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Während der auch noch das Vergnügen gemacht, Ihre Reden Subventionsbericht, den wir hier debattieren, von durchzulesen. Insofern war ich in der guten Position, 99 Milliarden DM spricht, sprechen andere Wirt- daran anknüpfen zu können. schaftsforschungsinstitute von Subventionen in einer Meine Damen und Herren, Sie sprechen von „bei- Größenordnung von 130 Milliarden DM, weil sie z. B. spiellosem Desaster" bei dem Abbau von Subventio- auch Bezuschussungen oder Kapitalzuführungen an nen in der Vergangenheit. „Hohles Geschwätz" Bundesunternehmen dazuzählen. Das heißt — ich haben Sie der Bundesregierung vorgeworfen. Von darf es noch einmal sagen —: Da wir uns auf keine einem „selbstgesponnenen Geflecht von Halbwahr- vernünftige Definition einigen können, haben wir heiten", „Mogelpackungen" und vielem anderem trefflich die Tür für jedermanns Polemik geöffnet, weil mehr war die Rede. jeder das nimmt, was er in seiner Argumentation gerade braucht. (Zuruf von der SPD: Möllemann!) Wir machen uns hier bei dieser Debatte das zu Es ist leider so, daß durch solche Polemik der Blick für eigen, was das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz dazu eine vernünftige Auseinandersetzung verstellt wird. sagt, und da haben wir die Subventionen in der Bevor ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen Größenordnung von 99 Milliarden DM. mache, darf ich die Doppelzüngigkeit, die hier zutage tritt und die auch Sie schon angesprochen haben, noch Es ist doch völlig unbestritten, daß sozialpolitische einmal anführen. Sie haben zu Recht, Herr Kollege Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen unverzicht- Wieczorek, den Kohlekompromiß angesprochen. Sie bare Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft und haben ihn gewürdigt; ich würdige ihn auch. Aber damit auch unserer Wirtschaftsordnung sind. Subven- wenn die Bundesregierung ihr positives Erschei- tionen sind kein Selbstzweck, und das ständige In- nungsbild darstellt, indem sie z. B. durch Bundeswirt- fragestellen von Hilfen zerstört ja die eventuell auf- schaftsminister Möllemann fordert, daß Subventionen kommende Subventionsmentalität. Dauersubventio- abgebaut werden, auch im Kohlebereich, dann erfährt nen werden unternehmerische Talente zum Verküm- das bei Ihnen die Polemik, die wir kennen. Ich habe mern bringen. Deshalb hilft der Subventionsabbau die Presseerklärungen des Kollegen Jung von Ihrer ganz selbstverständlich auch bei der Freisetzung Seite hier vorliegen. marktwirtschaftlicher Kräfte. — Wem sage ich das? Meine Damen und Herren, damit keine Legende Insofern ist dieser Bericht Zeugnis einer erfolgrei- entsteht: Ich habe mich für den leistungsfähigen chen Politik, erfolgt doch in den alten Bundesländern Bergbau in Deutschland als einzige sichere heimische ein substantieller Subventionsabbau von 17 %. In Energie eingesetzt und werde das auch in Zukunft absoluten Zahlen ausgedrückt sind dies 5 Milliarden tun. Was zu der Möllemannschen Aktion in diesem DM, um die das Volumen der Finanzhilfen und Zusammenhang zu sagen ist, habe ich ja, wie Sie Steuervergünstigungen abnimmt. wissen, im Haushaltsausschuß zum Ausdruck ge- Einerseits — dies muß hier noch einmal gesagt bracht. werden — liegt dies im Wegfall teilungsbedingter (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sehr gut Lasten, andererseits an der Verminderung von steuer- sogar!) lichen Vergünstigungen und Sonderregelungen im — Herzlichen Dank für das Kompliment! — Rahmen der Steuerreform 1990, die sich jetzt zuneh- mend auswirken; der Staatssekretär hat darauf hinge- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das kannst wiesen. du schon wiederholen!) Wenn das Steueränderungsgesetz, das wir hier Wir haben im Haushaltsausschuß dann die Kokskoh- vorgelegt und verabschiedet haben, durchgeht, lenbeihilfe noch um 200 Millionen DM erhöht. Da habe ich von Ihrer Seite überhaupt keinen Wider- würde das in 1992 10 Milliarden DM bringen und in spruch gehört. Das sind immerhin 10 % der zusätzli- 1993 und 1994 noch einmal je 12 Milliarden DM. Allein aus diesem Gesichtspunkt wäre es gut, wenn chen Finanzhilfen gegenüber dem 13. Subventions- bericht, die wir in den Haushalt eingebaut haben. Ich wir bald im Vermittlungsausschuß erreichten, daß kann mich nicht daran erinnern, daß da von Ihrer Seite dieses Steuerpaket verabschiedet werden kann, um irgendein Widerspruch oder ein Widerstand gekom- diese Anstrengungen zu realisieren. men ist. Also bitte etwas mehr Redlichkeit in der Das Maßnahmepaket für den beispiellosen Um- politischen Auseinandersetzung, verehrte Kollegen! strukturierungsprozeß im Zuge der deutschen Ein- 5908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Hans-Werner Müller (Wadern) heit ist ebenfa lls eine Subvention, aber eine notwen- Meine Damen und Herren, ich habe von einer dige. Deshalb nahmen auch die Finanzhilfen und Daueraufgabe gesprochen. Wie hat Goethe schon so Steuervergünstigungen des Bundes in 1991 vorüber- schön gesagt: Wer immer strebend sich bemüht, den gehend um 8 1/4 Milliarden DM zu. Diese Hilfen die- können wir erlösen. nen zur Förderung betrieblicher Investitionen sowie Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben. der Modernisierung, Instandsetzung und Privatisie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung des Wohnungsbestandes und der Umstellung der Landwirtschaft. Steuervergünstigungen, insbe- sondere die befristete Investitionszulage und die Son- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun derabschreibungen, schaffen doch erst die Rahmen- Herr Abgeordneter Dietmar Keller. bedingungen für notwendige Investitionen. Der wirt- schaftliche Aufschwung in den neuen Bundesländern (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- wäre ohne diese Maßnahme nicht denkbar. Wer Dr. Dietmar Keller tin! Meine Damen und Herren! Der 13. Subventions- würde denn das kritisieren wollen? bericht beweist vor allem eines: Auch dieser Bundes- Dieser Bericht arbeitet klar heraus, daß Steuerver- regierung ist es nicht gelungen, bei der Gewährung günstigungen und Finanzhilfen seitens des Bundes und bei der Kürzung von Finanzhilfen dem Lobbyis- aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, aber auch innerhalb mus zu entsagen. Zu deutlich tritt auch in diesem des Bundeshaushaltes abnehmen. Nehmen wir bei- Bericht hervor, spielsweise die Größenordnung des Bruttosozialpro- (Zuruf von der CDU/CSU: Den haben Sie dukts, so stellen wir fest, daß die Summen in der nicht ordentlich gelesen!) Definition, wie wir uns hier verständigt haben, nach daß nicht zuletzt mit dem Steueränderungsgesetz dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, wie beschrie- 1992 die Tendenz fortgesetzt wird, den Unternehmern ben, zwischen 1980 und 1990 von 1,7 auf 1,2 % massive Steuererleichterungen, ja, sogar Steuerstrei- zurückgehen. chungen zu bescheren. Nach dem Anstieg, der auf Grund der Vereinigung Ich habe schon während der Haushaltsdebatte unumgänglich ist, wird 1992 die bekannte Größenord- gesagt, daß es aus meiner Sicht nicht darum geht, nung wieder erreicht. Der Anteil der Steuervergünsti- Subventionen schlechthin zu kritisieren bzw. abzu- gungen an den Steuereinnahmen ist von 1988 bis 1992 lehnen, sondern daß Subventionen vor allem mit einer ganz deutlich von 7,7 auf 4,7 % zurückgegangen. Perspektive verbunden werden müßten. Aus Sicht der PDS/Linke Liste ist eine Verknüpfung staatlicher (Zuruf von der CDU/CSU: Ordentliche Finanzhilfen mit einer ökologischen und sozialen Arbeit!) Kriterien folgenden Wirtschafts- und Finanzpolitik Schließlich sinkt der Anteil der Finanzhilfen an den unerläßlich. Ausgaben des Bundes 1992 auf 4,6 %. Damit liegen Mittels steuerlicher Anreize könnte vor allem in der wir deutlich unter dem Wert von 1990. Die Zahlen die Umweltpolitik eine ressourcenschonende Energie- wir gestern im Haushaltsausschuß gehört haben, die struktur aufgebaut werden. Statt dessen schiebt die noch nicht ganz zu quantifizieren sind, werden diesen Bundesregierung die Entscheidung über steuerliche Prozentsatz wohl noch einmal um einige Zehntel- Fördermöglichkeiten bei Heizungsanlagen und beim punkte herunterdrücken — dank der Finanzpolitik Wärmeschutz weiter auf. Ebenso unverständlich ist des letzten Jahres. aus unserer Sicht, daß die Abschreibungserleichte- rungen für den Einsatz erneuerbarer Energien nur in (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ach den neuen Ländern gelten, während sie in den Altlän- Gott, ach Gott!) dern zum 31. Dezember 1991 ausgelaufen sind. Aus- — Ach Gott, ach Gott! Hervorragende konsequente gelaufen ist auch seit 1991 das Programm Zuschüsse und stringente Politik zum Ausbau der Fernwärmeversorgung in städtischen Schwerpunktbereichen. Wollen Sie ernsthaft behaup- (Lachen des Abg. Detlev von Larcher ten, daß bei der Fernwärme inzwischen ein optimaler [SPD]) Versorgungsgrad erreicht ist? Gleiches gilt für die führt zu diesen Ergebnissen. Zuschüsse zum beschleunigten Ausbau der Fern- wärme auf der Basis der Kraft-Wärme-Koppelung, die (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von 1992 nur knapp 7 % der 1989 ausgegebenen Mittel Larcher [SPD]: Was Sie stringent nennen!) betragen werden. Lassen Sie mich die Bereitschaft unserer Fraktion Ich will keiner Rasenmähermentalität das Wort zum Ausdruck bringen, die marktwirtschaftlichen reden, sondern aufzeigen, daß Subventionen bis hin Erneuerungen stetig mit dem Subventionsabbau zu zu Markteinführungshilfen dann sinnvoll und unter- verbinden. Dies gestaltet sich zu einer unverzichtba- stützenswert sein können, wenn sie Bestandteil eines ren Daueraufgabe, wenn wir Wachstum und Beschäf- Gesamtkonzeptes sind. Finanzhilfen für krisenge- tigung aufrechterhalten wollen. Leichtfertige Nach- schüttelte Branchen und Wirtschaftsregionen — ich giebigkeit auf diesem sensiblen Gebiet wird schnell nenne Kohle, Werften und Stahl — sind berechtigt, zu Wettbewerbsverzerrungen, bürokratischer Ober- wenn und solange sie Umstrukturierungsprozesse wucherung, ökonomischer Fehlsteuerung sowie so- fördern und beschleunigen und wenn sie einer regio- zialer Ungerechtigkeit führen. Dies lähmt die private nal- und arbeitsmarktpolitischen Strategie folgen. Initiative und stellt sich einem unausweichlichen Wenn man, wie dies der Wirtschaftsminister offen- Strukturwandel in den Weg. bar tut, Subventionen für Kohle und Stahl ausschließ- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5909

Dr. Dietmar Keller lich unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten Finanzhilfen. 1991 lag die Summe der vom Bund betrachtet, dann verstößt z. B. die Subventionierung gewährten Finanzhilfen und Subventionen mit eines Arbeitsplatzes im Bergbau mit rund 20 000 DM 38,5 Milliarden DM um 10,3 Milliarden DM über den gegen dieses ordnungspolitische Weltbild; wenn man Zahlen des Jahres 1987. In vier Jahren wuchsen die diese Finanzhilfe aber unter volkswirtschaftlichen Subventionen des Bundes um mehr als ein Drittel. Aspekten bewertet, dann wird deutlich, daß sich die Betrug das Gesamtvolumen der Subventionen von Subventionierung von Arbeitsplätzen angesichts der Bund, Ländern und Gemeinden, ERP und EG im Jahre nicht geringen Kosten der Arbeitslosigkeit und der 1980 60,8 Milliarden DM so stieg es um fast 32 % auf Neuansiedlung von Unternehmen volkswirtschaftlich 80,1 Milliarden DM im Jahre 1990. Für die kommen- rechnet. den Jahre sind weitere Subventionserhöhungen in Milliardenhöhe zu erwarten. Für branchenspezifische Subventionen, die in der Regel an Anpassungsauflagen gebunden sind, die Die Bundesregierung bekennt sich zwar verbal zum Arbeitsplatzabbau nach sich ziehen, müssen klare Subventionsabbau; aber sie unterbreitet dem Bundes- Entscheidungsregeln entwickelt werden, um willkür- tag nur unzureichende Pläne zur Verwirklichung lich erscheinende Entscheidungen auszuschließen. dieses Ziels. Die Subventionspolitik ist weit davon entfernt, integraler Bestandteil einer umfassend kon- Generell fehlt der Subventionspolitik der Bundesre- zipierten Wirtschafts- und Finanzpolitik zu sein. gierung jegliche Qualitätskontrolle. In den bisher vorgelegten Subventionsberichten konnte von einer Wir bekennen uns gerade vor dem Hintergrund der Zielkontrolle keine Rede sein. Es fehlen klare Aussa- vor allem hausgemachten Krise auf dem ostdeutschen gen darüber, ob das, was mit den Subventionen Arbeitsmarkt dazu, mittels Subventionen die Absiche- bewirkt werden sollte, erreicht wurde. Ist die Bundes- rung von Arbeitsplätzen und Produktion und die regierung überhaupt in der Lage, eine Bewertung der Sanierung mittelfristig sanierbarer Betriebe zu Subventionen hinsichtlich ihrer Effizienz vorzuneh- ermöglichen. Wir sind bereit, an der Ausarbeitung men, deren Kriterium nicht die Medienwirksamkeit eines Konzepts mitzuwirken, das Subventionskürzun- der einen oder anderen kritischen Bemerkung des gen mit klaren Förderprioritäten und Zielvorgaben Wirtschaftsministers ist? verbindet. Gleichzeitig weisen wir den Generalangriff der Bundesregierung gegen die Gewerkschaften, an Herr Möllemann reitet Attacken gegen die dem der Wirtschaftsminister federführend beteiligt ist, Gewerkschaften, sei es, daß er die Streichung der entschieden zurück. Finanzhilfen für Kohle und Stahl fordert und dabei Danke. offenbar darauf spekuliert, daß die IG Bergbau und Energie unter Rechtfertigungsdruck gerät, sei es, daß (Beifall bei der PDS/Linke Liste) er in die Tarifautonomie eingreift. Er tut dies, weil er sich weigert, den Offenbarungseid für seine eigene Wirtschaftspolitik abzulegen, und statt dessen be- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat strebt ist, schon jetzt aktive Vorsorgemaßnahmen zu der Kollege Kurt Faltlhauser das Wort. ergreifen. Für die Folgen des marktwirtschaftlichen Crash-Kurses dieser Regierung sollen die Gewerk- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wie, hat schaften und die angeblich überzogenen Tarifforde- die FDP denn heute gar nichts zu sagen? — rungen verantwortlich gemacht werden. Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger- lingen] [FDP]: Wir schlagen am Schluß mäch- Indem der Wirtschaftsminister die Kürzung der tig zu! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wo Hilfen für Werften, Kohle und Stahl fordert, will er ist denn der Herr Möllemann bei diesem davon ablenken, daß die Bundesregierung jahrelang Thema? — Gegenruf des Abg. Dr. Wolfg ang Projekte wie den Schnellen Brüter in Kalkar oder den Weng [Gerlingen] [FDP]: Bei der praktischen Hochtemperaturreaktor in Hamm noch bis in das Jahr Arbeit, Frau Kollegin!) 1990 hinein gefördert hat. Heute steht in Kalkar eine unvollendete Investitionsruine. Milliarden DM wur- den buchstäblich in den Sand gesetzt. Wo bleiben die Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Dies wird Ihnen Vorschläge des Hauses Möllemann, die dazu beitra- Herr Weng, Frau Kollegin, sicherlich noch mitteilen. gen, die Diskussion über den Subventionsabbau und über die Umlenkung von Finanzhilfen an Hand von Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin klaren politischen Zielvorgaben zu führen? Warum eigentlich erstaunt über den Mut, den der Herr Keller verkündet der Wirtschaftsminister beifallheischend von der PDS aufgebracht hat, als er hierherging und die Aktion Subventionsabbau, während er in den überhaupt über Subventionen redete. Bei den Sub- Haushaltsberatungen von der Koalitionsmehrheit ventionen geht es ja um die Abgrenzung privatwirt- eine Aufstockung der Subventionen um 2,6 Milliar- schaftlicher Tätigkeit einerseits von staatlichem Ein- den DM absegnen ließ? griff andererseits. Für eine Partei, für die der staatliche Eingriff umfassend zur Ideologie — in der Vergangen- 1992 wollte Herr Möllemann bei der Werftenhilfe heit in der Praxis und heute noch in der Theorie — 70 Millionen DM einsparen. Vor dem Hintergrund der gehört, ist es schon außergewöhnlich erstaunlich, Bürgerschaftswahl in Bremen knickte er ein. Es wäre wenn sich einer ihrer Vertreter hierhinstellt und über interessant, von ihm eine Antwort darauf zu hören, Subventionen in unserer freien Marktwirtschaft redet warum. und auch noch so anmaßend urteilt. Ich fasse zusammen: Dem angekündigten Abbau (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der der Steuersubventionen folgte die Erhöhung der PDS/Linke Liste) 5910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Kurt Faltlhauser Wir glauben ja, meine Damen und Herren, aus diesem Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Liebe Kollegen, Haus heraus viele Berichte — — ein genauer Blick in den Bericht macht klar, daß Subventionsabbau ein schwieriges Geschäft ist. (Anhaltende Zurufe von der PDS/Linke Liste) (Joachim Poß [SPD]: Lesen Sie mal die Reden von Häfele nach!) — Haben Sie sich wieder beruhigt? Ich bitte, weiter- reden zu dürfen. Wenn Sie sich z. B. ansehen, daß wir 1992, also im nunmehr laufenden Jahr, 5 Milliarden DM an Finanz- Wir glauben ja, aus diesem Haus heraus viele hilfen für die neuen Bundesländer und Steuervergün- Berichte von der Verwaltung anfordern zu müssen. stigungen in Höhe von 10 Milliarden DM, also insge- Wenn wir es uns genau ansehen, dann stellen wir fest, samt 15 Milliarden DM, in den Haushalt eingestellt daß viele nicht immer sehr zweckdienlich sind. Es haben, dann kann man nicht einfach sagen, das wird viel Papier verbraucht. Wir müßten uns eigent- müßten wir abbauen. Genau das haben wir nicht lich kritischer fragen: Was passiert damit? Ist das für getan. Wir haben diese zielgerichteten Subventionen uns Grundlage der politischen Arbeit? — Das ist es aus guten Gründen bewußt in den Haushalt einge- vielfach nicht. stellt. Dies gilt nicht für den Subventionsbericht. Es ist gut, Obwohl es so schwierig ist, Subventionen abzu- daß es diesen Bericht gibt. Er mahnt uns, Subventio- bauen, waren wir, liebe Kollegen, in den vergangenen nen nicht nur permanent abzubauen, sondern neuen Jahren beim Subventionsabbau erfolgreich, sehr Versuchungen nicht nachzugeben. Er hilft, wie ich erfolgreich! Der Herr Kollege Grünewald hat schon gerade im letzten Jahr erfahren habe, in der Praxis darauf hingewiesen: Wir haben in den vergangenen sehr konkret bei der Arbeit am Subventionsabbau. dreieinhalb Jahren allein im steuerlichen Bereich Im übrigen ist es hochinteressant, liebe Kollegen Subventionen in Höhe von insgesamt 19,1 Milliarden von der SPD: Am Ende dieses Jahres wird das Land, DM abgebaut: Im Rahmen der großen Steuerreform das von Ihrem Herrn Lafontaine regiert wird, das haben wir steuerliche Subventionen in Höhe von einzige in der Bundesrepublik sein, das keinen Sub- insgesamt 13,6 Milliarden DM und in dem Steuerän- ventionsbericht vorgelegt hat; das einzige! derungsgesetz 1992, das von der SPD unsinniger weise blockiert wird, wiederum Subventionen in (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Der hat Höhe von 5,5 Milliarden DM abgebaut. Das sind keine Zeit, der ist dauernd bei Waigel!) zusammen 19,1 Milliarden DM. Jetzt sagt der Herr Es täte ihm gut, so etwas zum Zwecke der Selbstprü- Wieczorek: Von den 5,5 Milliarden DM sind ja nur fung einmal zu machen, damit er auch einmal sieht, 67 Milliarden DM übriggeblieben. wo in seinem Land Wucherungen vorhanden sind. Wir (Zurufe von der SPD: Millionen!) warten auf einen Bericht von Herrn Lafontaine. Aber das Saarland hat ja so viel Geld; wir wissen es! Dann — Millionen! braucht man solche Überprüfungen ja nicht .. . (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der - (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Er hat Umgang mit großen Zahlen fällt Ihnen die größte Altlast von euch übernommen!) schwer! — Weitere Zurufe von der SPD) Ich darf wieder zu unserem Subventionsbericht — Herr Wieczorek, bitte nicht dazwischenrufen, ich zurückkommen. Ich wünschte, daß der Subventions- erkläre es Ihnen! — Hören Sie doch zu, ich will es bericht etwas mehr Verbreitung fände. Dann nämlich Ihnen doch gerade erklären! — In der Summe von könnten manche Wirtschaftsführer, manche Gewerk- 5,5 Milliarden DM waren von vornherein Maßnah- schaftssekretäre, Verbandsgeschäftsführer und auch men zum Abbau von Subventionen im steuerlichen Journalisten auch einmal darin blättern. Ich bin sicher, Bereich in Höhe von genau 4,27 Milliarden DM ent- dann würden sie in der Zukunft nicht mehr so leicht- halten, die nicht im Subventionsbericht verzeichnet fertig daherschwätzen, wie der Subventionsabbau zu waren. Es macht ja gerade den Charme und die bewerkstelligen sei, daß man noch wesentlich mehr kreative Leistung dieser Subventionsabbau-Arbeits- machen müsse und daß das eine spielerische Sache gruppe aus sei. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Ich bitte die (Lachen bei der SPD) Bundesregierung, die gute Information, die dieser Subventionsbericht enthält, etwas weiter zu streuen, — das war ein Selbstlob; ich gebe es zu —, damit Sachkenntnis im Lande eintritt. (Beifall des Abg. Hans-Werner Müller [Wa- (Zurufe von der SPD) dern] [CDU/CSU]) Die Redezeit von sechs Minuten macht mich etwas daß sie Subventionen gesucht hat, die nicht im Sub- nervös, Frau Präsidentin. Die Geschäftsführerin hat ventionsbericht enthalten sind. Im Subventionsbe- mir etwas mehr zugeteilt. Ich wäre dankbar, wenn Sie richt waren vom Gesamtpaket nur 1,3 Milliarden DM das sicherstellen können. verzeichnet. Das Ergebnis war unbes treitbar ein Beschneiden steuerlicher Mißbräuche und Umgehun- gen. Sie verhindern eine derartige Beschneidung, wenn Sie im Vermittlungsausschuß weiterhin eine Vollbremsung vornehmen. Dann lassen Sie solche Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann sollte die steuerlichen Umgehungen und Mißbräuche weiterhin Geschäftsführerin mir das einmal sagen. zu. Herr Lafontaine und die SPD-regierten Länder Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5911

Dr. Kurt Faltlhauser sind dafür verantwortlich, daß steuerlicher Mißbrauch Drittens. Wir sollten in diesem Subventionsbericht, in diesem Lande weitergeht. Herr Staatssekretär, auch Übersichten über die Ent- wicklung der 20 wichtigsten Sozialleistungen aufneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men. Denn ich meine, daß wir auch diese Entwicklun-

Im übrigen, Herr Wieczorek, sage ich Ihnen — auch gen — gerade weil die Abgrenzung zwischen Sozial- dies zur weiteren Aufklärung —, daß beim Abbau leistungen und Subventionen so schwierig ist — mit steuerlicher Subventionen sinnvollerweise nur das beobachten sollen, gewissermaßen zur Kenntnis. Entstehungsjahr und nicht das kassenmäßige Jahr gezählt werden kann. Das wissen wir doch alle. Viertens. Wir sollten in diesem Subventionsbericht Angaben darüber aufnehmen, ob es auch in den

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber übrigen EG - Mitgliedsländern vergleichbare Sub- vorher genauso wie nachher!) ventionen gibt. Das wird verstärkten Druck zugunsten Lassen Sie also diesen alten Käse mit den 67 Millionen einer Abschaffung bewirken. DM! Durch das Steueränderungsgesetz 1992 sollen Meine Damen und Herren, die Bundesregierung 5,5 Milliarden DM an steuerlichen Subventionen hat die Finanzentwicklung, wie ich meine, gut im abgebaut werden. Ich fordere Sie noch einmal auf, Griff. Das zeigt die Entwicklung im Jahr 1991. Ober- dieses Steueränderungsgesetz im Bundesrat mög- stes Limit der Nettoneuverschuldung war zunächst lichst bald passieren zu lassen. einmal 70 Milliarden DM; dann wurden 66 Milliarden Im übrigen will ich nur noch daran erinnern, daß wir DM angepeilt. Im Nachtragshaushalt strebten wir in den Jahren 1990 und 1991 auch ansonsten massive schließlich 61 Milliarden DM an. Nunmehr liegen wir Kürzungen vorgenommen haben. Es wurden in den im Ist-Ergebnis für 1991, wie wir jetzt wissen, wesent- zwei Haushalten insgesamt 50,5 Milliarden DM lich unter 60 Milliarden DM. gestrichen. Im Jahr 1990 waren es 5,56 Milliarden DM (Detlev von Larcher [SPD]: Und das ist das und im Jahr 1991 zunächst 7,6 Milliarden DM, dann Verdienst der Bundesregierung?) noch einmal 37,3 Milliarden DM — das macht zusam- men 44,9 Milliarden DM. Die Gesamtsumme der Ein- Natürlich, Herr Kollege Wieczorek, haben wir in sparungen innerhalb von zwei Jahren beträgt also dieser Situation mit der Öffnung der östlichen Staaten 50,5 Milliarden DM. Das kann sich sehen lassen. Das erhebliche Haushaltsrisiken auf der Ausgabenseite. sage ich nicht nur in diesem Haus, sondern auch an die (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ich Adresse derjenigen, die im ständigem Abschreiben weiß das auch!) ihrer eigenen gleichen Floskeln sagen, man müßte wesentlich mehr Subventionsabbau betreiben. Es ist Wir haben auch ein gewisses Risiko auf der Einnah- schon viel geschehen. menseite. Ein Prozentpunkt des Bruttosozialprodukts weniger heißt 6 Milliarden DM weniger Einnahmen Sicherlich ist die Abgrenzung des Subventionsbe- für den Bund. Dazu haben wir das Risiko der Mehrheit griffs sehr schwierig. In der Anlage 8 gibt der Subven- der SPD-regierten Länder im Bundesrat — siehe tionsbericht wieder sachkundige Hinweise hierzu. Blockade der Anhebung der Mehrwertsteuer auf Problematisch ist insbesondere die Abgrenzung zu 15 %! den Sozialleistungen. Das Wohngeld war darin früher einmal enthalten, heute ist es das nicht mehr. Aber ich (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das meine bei aller Abwägung: Wer am Subventionsab- Schlimmste! — Zuruf von der SPD: Die brau- bau tatsächlich interessiert ist, müßte eigentlich an chen wir!) einem möglichst weiten Subventionsbegriff interes- Wenn ich das zusammenrechne, sehe ich persönlich siert sein. die Möglichkeit, daß wir uns Mitte des Jahres der Ich stelle mir vor, daß unter diesem Gesichtspunkt Notwendigkeit weiteren Subventionsabbaus gegen- für den zukünftigen Umgang mit dem Subventionsbe- übersehen, gerade wenn eine Anhebung der Mehr- richt vielleicht vier Anregungen diskutiert und aufge- wertsteuer auf 15 % auf Grund Ihrer Haltung wegfal- griffen werden sollten: Erstens. Ich meine, daß in len sollte. Dann müßten wir uns meiner Vorstellung Zukunft ausnahmslos alle Subventionen befristet nach ein Paket mit einem sehr weit gefaßten Subven- werden sollten, tionsbegriff ansehen. Ich habe für mich persönlich schon einen Probelauf gemacht. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) (Joachim Poß [SPD]: Sozialleistungen als wenn möglich — dies ist rein technisch — befristet bis Subventionstatbestand?) zu einem immer gleichen Stichtag. Dann nämlich können wir revolvierend immer wieder alles überprü- — Nein, nein. Subventionen, die sich im wesentlichen fen. Wir dürfen keine Daueraufträge geben. am Subventionsbericht orientieren. Wir müssen das Zweitens. Wir sollten im Subventionsbericht das mit wirklich einmal genauer anschauen. der Übersicht 3 seit den 70er Jahren bestehende Bei diesem „Probelauf" sind mir skurrile Dinge Versteckspiel beenden. Damals, im Sechsten Subven- aufgefallen. Wegen des Zeitlichtes, das hier leuchtet, tionsbericht, sind viele Subventionen herausgenom- nenne ich nur eines: Es gibt nach § 16 des Rennwett- men worden; später geschah das nur noch punktuell. und Lotteriegesetzes die Gegebenheit, daß Rennver- Ich glaube, daß diese Subventionen wieder in die eine, die einen Totalisator betreiben, bis zu 96 % des Anlage 2 hereingenommen werden sollten. Wenn wir Aufkommens der Totalisationssteuer zu Zwecken der das genauer anschauen, stellen wir fest, daß es doch öffentlichen Leistungsprüfung für Pferde, erhalten. Subventionen sind. Wir sollten sie auch entsprechend „Der Reichsminister für Ernährung und Landwirt- deklarieren. schaft und der Reichsminister der Finanzen setzen die 5912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Kurt Faltlhauser Anteile der Rennvereine fest und treffen die erforder- Sache freilich nicht. Auch die anderen Diener halfen lichen Bestimmungen. " So heißt es hier noch. ihm nicht und der, der in dieser Sache eigentlich am Dies ist eine Regelung aus einer Zeit, als der Staat engsten mit ihm zusammenarbeiten sollte, der Theo noch ein Interesse hatte, genügend Pferde für seine nämlich, stellte ihm gar mehrfach ein Bein. Kavallerie zu bekommen. Heute brauchen wir die Den Fürsten Helmut aber interessierten solche Pferde überwiegend noch, damit Politiker ge treten Sachen schon gar nicht; den interessierte nur sein werden könnten oder daß irgendwelche Politiker der eigener Ruhm, oder er saß gerade mal wieder aus. Staats-, Lord- und Luxusklasse sehr hoch auf ihnen Vielleicht aber war es auch so, daß kurz bevor er zu reiten können. So etwas muß weg und kann weg. mähen anfangen wollte, ein Chor von bösen Geistern Ich glaube — das zeigten mir diese Beispiele, die ich gar furchtbar laut rief: Ihr Subventionen, flieget alle bei dieser kritischen Durchsicht, bei meinem Probe- fort, Jürgen Großmaul kommt an diesen Ort, will lauf gemacht habe —, daß wir immer wieder einen 10 Milliarden fangen. Da verschanzten sich die Sub- Anlauf machen müssen, um Subventionen im steuer- ventionen, alarmierten ihre Verteidiger, und an dieser lichen Bereich ebenso wie bei den Finanzhilfen abzu- Phalanx prallt unser Dienerlein mitsamt seinem Glit- bauen. Dies ist und bleibt eine Daueraufgabe. Wenn zerding so hart ab, daß es nur so krachte. Jedenfalls die Rahmenbedingungen in finanzieller und wirt- konnte er statt 10 Milliarden nur 67 Millionen in seine schaftlicher Hinsicht so sind, daß wir hier wieder Scheuer einfahren. angreifen müssen, dann müssen wir ein neues Paket Da fuhr unserem Diener für einen Augenblick der schnüren. Ich glaube, daß wir Möglichkeiten haben. Schreck mächtig in die Glieder, hatte er doch öffent- Ich hoffe, daß wir es in diesem Jahr nicht machen lich versprochen, bei einem solch mageren Ergebnis müssen. Die sozialdemokratischen Länder mit ihrer seinen Platz für einen besseren Diener freizuma- Mehrheit im Bundesrat sind nicht unwesentlich mit- chen. verantwortlich, wenn wir an diese schwierige Auf- gabe herangehen müssen. Doch bald faßte er sich wieder und sagte: Was geht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mich mein Geschwätz von gestern an? Und außerdem dachte er bei sich: Wenn auch die 10 Milliarden nicht zu kriegen waren, da gab es doch einmal des Kaisers Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat unser neue Kleider. Wenn ich nur oft genug behaupte, ich Kollege Detlev von Larcher das Wort. hätte sie doch eingefangen, dann wird das dumme Volk das gar bald glauben, denn es ist ja nicht in der Detlev von Larcher (SPD): Als Mitglied im Finanz- Lage, dieses Subventionsdickicht zu durchdringen. ausschuß müßte ich nun zum wiederholten Male So dachte das freche Kerlchen, und weiter dachte darauf eingehen, wie wenig im steuerlichen Bereich es: Wenn ich dann alsbald andere dumme Sprüche entgegen der Rede von Herrn Faltlhauser von dem mache, werden die Medien, aufmerksam, wie sie sind, großspurig angekündigten Subventionsabbau tat- wieder dafür sorgen, daß ich in aller Munde bin, aber sächlich geblieben ist. Wir haben das oft genug diesmal mit einer anderen Seifenblase. Und wenn die vorgerechnet. Nun könnte man sagen: „Repetitio est dann platzt, dann mache ich wieder eine neue und mater studiorum", aber diese Bundesregierung ver- dann wieder eine neue und dann wieder. Und jedes- steckt und camoufliert, aber sie studiert nicht. Außer- mal wird die neue Seifenblase wie ein schönes Blend- dem zum hundertsten Mal das gleiche, dazu habe ich werk die alten verblassen lassen. So dachte der alte keine Lust. Schlaumeier, denn er hielt das Volk, wie gesagt, für Soweit in der Vorbereitung auf heute gekommen, gar dumm und vergeßlich. fragte ich mich: Was tun? Da fiel mir ein Märchen ein, ( [CDU/CSU]: Jetzt müßte und dieses Märchen will ich Ihnen heute erzählen. Es Prinz von Larcher kommen!) fängt an wie alle Märchen mit: Es war einmal. Es war einmal ein Diener. Dieser diente dem Volk mehr Doch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit der schlecht als recht zu der Zeit, da Fürst Helmut in bösen Fee Ingrid und ihrer Gehilfen gerechnet. Die Germanien regierte. Dieser Diener dachte Tag und gab es nicht nur in den Reihen der Volksvertreter Nacht nichts anderes, als wie er dem Volke groß und reichlich, sondern auch bei Hofe. Hofnarren und einflußreich erscheinen könnte, denn er wollte mehr einige Herolde, sie alle sorgten dafür, daß das böse als nur ein Diener sein. Er wollte unbedingt den Spiel herauskam und jeder sehen konnte, daß unser Grafen beerben. Diener nackt vor seiner fast leeren Scheune stand. Eines Tages besorgte sich unser Diener ein wunder- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da wurde schönes güldenes Gerät. Das glänzte so schön in der das Fräulein aber unruhig!) Sonne, und der Diener zeigte es dem staunenden Volk via Medien und tänzelte damit auf dem Rasen seines Seither werden Lästerreime im Volk herumgereicht, Palais wie ein Pfau. Und er pries sein Gerät als etwa: ein Wort, ein Mann — ein Wortbruch, ein Wunderwerkzeug. Doch es zeigte sich bald, daß das Möllemann; oder: Möllemann — Theaternummer, Gerät zwar schön funkelte, aber zur Arbeit gar nicht Lachnummer, Nullnummer; oder: ein typischer Mölle- taugte. Es hatte technische Mängel, und seine mann — viel Wirbel, Möllemann auf allen Kanälen, Gebrauchsanweisung war so kompliziert, daß unser leider kein Erfolg. Diener damit nicht zu Rande kommen konnte. Auch Jedoch sagt sich auch das Volk: Jede Regierung war die Mäharbeit für unseren Diener viel zu mühse- braucht einen Buffo. Ganz böse und gemeine Lacher lig. Denn flotte Sprüche, da war er in seinem Element, und Schießer legen gar seiner Mutter folgendes in den aber hart und gewissenhaft arbeiten, das war seine Mund: Unser Lauserle ist so gestört, richtig unfähig; na Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5913

Detlev von Larcher ja, wir werden schon a Platzerl für ihn finden, notfalls Vielleicht trifft aber auch Lach und Schieß ins schieben wir ihn in die Regierung ab! Schwarze, wenn sie Möllemann sagen läßt: Ich glaube mir nicht, was ich weiß. Viele aber wollen ihn doch im Amte behalten, weil (Beifall bei der SPD) er so einen hohen Unterhaltungswert hat und ander- weitig so schwer unterzubringen ist. Seine Freunde Meine Damen und Herren von den Koalitionsfrak- aber murmeln schon leise, und das Murmeln wird tionen, wie lange wollen Sie noch mit so einem immer lauter: lieber kinkeln statt klingeln, lieber Minister leben? kinkeln statt klüngeln. Und wenn er nicht gestorben Ich danke für die Aufmerksamkeit. ist, macht er heute noch seine Seifenblasen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder weiß oder lege Dr. Wolfgang Weng das Wort. könnte doch nun wissen, was von den Worten und Auftritten unseres Ministers Möllemann zu halten ist. Sein Märchen vom Subventionsabbau haben nicht Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsi- nur wir hier im Bundestag wiederholt widerlegt; die dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wirtschaftsblätter und Tageszeitungen haben das Frage, was von dem, was der Kollege von Larcher hier ebenfalls mehrfach getan. Das Finanzministerium gerade vorgetragen hat, in dieses Haus gehört, muß entlarvt ihn schriftlich auf unsere Fragen hin als jeder der Kollegen sicherlich selbst bewerten und notorischen Aufschneider. Sogar in Provinzblättern beurteilen. wurde sein Gerede als Mogelei entlarvt, und er wurde (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — aufgefordert, seine Rücktrittsankündigungen wahr zu Zurufe von der SPD: Oh!) machen. Da er bei seinem Märchen u. a. die Hofnarren einge- Mein Sohn Stefan fragt mich — und mit ihm fragen führt hat, hat er ganz sicher auch an sich selbst mich viele —: „Wie kann so einer Minister sein und gedacht; dafür ist er jedenfalls zu loben. bleiben?" (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Abg. Detlev von Larcher [SPD] (Beifall bei der SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage) Was, meine Kolleginnen und Kollegen, antworten — Es ist vielleicht besser, wenn Sie das vorweg Sie auf so eine Frage? Soll man sagen, Kanzler Kohl machen wollen, ehe ich in die Sache einsteige. habe in seinem Kabinett wahrscheinlich einen Wett- bewerb um das größte Windei ausgeschrieben, der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Wettbewerb laufe noch und sei nicht entschieden? Weng, Sie gestatten also eine Zwischenfrage? — Herr Oder gibt die von mir schon zitierte Münchner Lach Kollege von Larcher, bitte schön. und Schieß, der ich herzlich für die Zitate danke, die richtige Antwort, wenn sie sagt: „Paß mal auf, Hansi, dieser Möllemann ist im Grunde nur die visuelle Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Weng, Aufbereitung der allgemeinen mittelmäßigen Be- wissen Sie, daß Hofnarren in Königreichen die einzi- schränktheit" ? gen waren, die die Wahrheit sagen durften, ohne daß sie geköpft wurden? Es kann aber auch sein, daß das Phänomen Mölle- (Beifall bei der SPD — Heiterkeit) mann so zu erklären ist: Wir normalen Sterblichen rechnen nach Adam Riese, beispielsweise 2 +2=4. Herr Möllemann hat jedoch seine eigene Rechen- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Das mag, methode: Er nimmt jede Zahl, die er sieht, mindestens Herr Kollege von Larcher, in manchen Königreichen für das Doppelte, also 2 +2 = 8. Aber dann wäre ja seine so gewesen sein, hat aber sicher nicht beinhaltet, daß Vier vor dem Komma im Zusammenhang mit der die Hofnarren immer die Wahrheit gesagt haben. Besoldungserhöhung für die Beamten mindestens Vielmehr haben auch diese Hofnarren manches von eine Acht. Warum dann die Aufregung bei den dem getan, was Narren eben tun. Gewerkschaften? (Zustimmung bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Ich glaube, daß der Beitrag des Kollegen Faltlhauser dagegen gezeigt hat, wie man das Thema sachlich Aus 67 Millionen werden bei ihm sogar 5 Milliar- angehen kann. Die Forderung nach Transparenz, die den, also fast das Hundertfache. er aufgestellt hat, ist meines Erachtens begründet, weil das eine sachliche Debatte über Subventionsab- Auf jeden Fall würde ich Theo, wenn er zuhören bau, über Subventionen ganz allgemein ermöglicht. würde, Ich will auch, Herr Kollege Faltlhauser, die vier (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich sage es Punkte aufgreifen, die Sie hier genannt haben. Die ihm!) FDP würde das, was Sie hier gefordert haben, freudig mitmachen. Insoweit wünscht die Koalition, die zurufen: Hüte dich und deine Kasse vor dem flotten Regierung sollte das berücksichtigen. Ich würde es Jürgen! allerdings gern noch um einen Punkt erweitert haben, 5914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) und zwar um ein Aufführen der Subventionen, die die rat, im Vermittlungsausschuß gegenwärtig eine ganze EG bezahlt. Menge an Subventionsabbau anhält, den wir uns wünschen würden. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ja, sehr gut!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jawohl!) Man sollte sich also nicht nur darauf beschränken, Auf die Frage, wo sie Subventionen selbst reduzieren offenzulegen, was in anderen EG-Ländern an Sub- würde, schweigt sie sich natürlich aus; denn an der ventionen gezahlt wird, sondern auch das offenzule- Stelle wird es unbequem. gen, was der deutsche Steuerzahler — oder die übri- gen Steuerzahler innerhalb der Europäischen Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) meinschaft — mit seinem EG-Beitrag indirekt an Sub- Im Moment muß Einigkeit darüber bestehen, daß ventionen zahlt. Das sollte zumindest nachrichtlich die Subventionierung des Aufbaus in den neuen mit dabeisein, weil das die Transparenz für den Bundesländern notwendig ist. Sie wird noch lange nationalen Bereich erhöhen würde. und in großem Umfang notwendig sein. Das schränkt Eine Schlagzeile der „Stuttgarter Nachrichten" vom ja unsere Möglichkeiten im Westen entsprechend gestrigen Mittwoch zeigt ganz deutlich, warum das ein. Thema „Subventionen" von immer neuer Aktualität ist und warum das Thema „Subventionsabbau" eine Wie schwierig das richtige Maß ist, zeigt die augen- Sisyphus-Arbeit beschreibt. Die Schlagzeile lautet: blicklich in der Regierung noch kontrovers geführte „Streit um Postpläne: Zeitung im Urlaub bald teurer?" Diskussion über den Umfang der Verbürgung von Weiter heißt es: „Die Verleger üben heftige Kritik an Warenlieferungen aus den neuen Bundesländern in den neuen Gebührenvorhaben" der Post. Dem Ver- die Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. braucher, d. h. dem Zeitungsleser, war bisher wahr- Konsequentes und ordnungspolitisches richtiges Ver- scheinlich gar nicht bewußt, daß das Nachsenden halten würde einen im Moment unver tretbaren seines Tageblatts in den Urlaub von der Post zu einem zusätzlichen Verlust an Arbeitsplätzen in Ostdeutsch- Gefälligkeitspreis durchgeführt wird, der die Unko- land bedeuten. Uneingeschränkte Subventionierung sten in keiner Weise deckt — wie übrigens der aber wäre ein unerträgliches Zukunftsrisiko für uns gesamte Zeitungsversand durch die Post. alle. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich Falsch wäre es — es ist eigentlich bedenklich, wie tig!) leicht die Politik geneigt ist, in eine solche Richtung zu denken —, wenn man hier einen einfachen Weg Und die Zeitungsverkäufer haben selbstverständlich ginge. Die beginnende Diskussion über eine mögliche Angst, daß die Subvention entfallen könnte. Denn sie Verstaatlichung ganzer Industriezweige in den neuen befürchten, daß im Falle ihrer Beendigung, im Fall Bundesländern zeigt: Hier würde der Teufel mit dem kostendeckender Preise die Zahl der Abonnenten Beelzebub ausgetrieben. Für mich ist es unbegreiflich, zurückgehen würde. daß man auf die Idee kommen kann, das bankrotte- Diese Subvention steht zwar nicht im Subventions- System Staatswirtschaft durch Staatswirtschaft in bericht der Bundesregierung, ist aber ein Beispiel für Ordnung bringen zu wollen. Eine nachhaltige Störung die vielfältige Durchsetzung unseres Lebens mit der Marktkräfte würde nichts nützen, sondern die direkten oder indirekten staatlichen Förderungen. vorhandenen gesunden Strukturen in Deutschland in Wenn z. B. die Gebühren für eine öffentliche Dienst- Gefahr bringen. leistung deren Kosten nicht abdecken und die Diffe- Ich glaube auch — erlauben Sie mir die Randbe- renz mit allgemeinen Steuermitteln ausgeglichen merkung —, es wäre wichtiger, die Rechtsfragen in wird, dann wird das üblicherweise als soziale Großtat Sachen Grund und Boden einer schnelleren Abwick- gefeiert. Aber bezahlen, meine Damen und Herren, lung zuzuführen. Die Rechtsunsicherheit beim Eigen- tut am Schluß doch wieder der Bürger, nämlich als tum ist neben einiger bürokratischer Unfähigkeit Steuerzahler. Nur, wegen fehlender Transparenz wie- weiterhin das entscheidende Hemmnis für Investitio- derum wird ihm das nicht bewußt. Deswegen: mehr nen in den neuen Bundesländern. Transparenz, mehr Ehrlichkeit! Dann ist Subventions- abbau auf jeden Fall leichter. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ja! Aber Der heute zur Debatte stehende Subventionsbericht das liegt bei dem Herrn Kinkel!) der Bundesregierung steht im Zeichen der Deutschen — Herr Kollege Walther, der Zuruf ist von der fachli- Einheit und kann damit natürlich nicht nur eine chen Zuständigkeit her natürlich begründet. Aber es normale Fortschreibung früherer Berichte sein. Er ist ist auch eine Aufforderung an die Bundesregierung in der augenblicklichen Übergangssituation, in der insgesamt, hier weiterzudenken. Der Deutsche Bun- massive Finanztransfers in die neuen Bundesländer destag hat die Situation deutlich verbessert. Doch die erforderlich sind, auch schwerer zu diskutieren als ergriffenen Maßnahmen reichen eben immer noch seine Vorgänger. Sonst hat sich die politische Diskus- nicht aus, wie die Praxis zeigt. sion immer so abgespielt, wie wir es in Teilen auch hier gesehen haben: Die handelnde Mehrheit des (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das wuß- Parlaments tritt für den Subventionsabbau ein, hat ihn ten wir aber vorher!) aber selten mit der nötigen Konsequenz verwirklicht. — Das wußte man nicht vorher. Die Opposition geht in ihren Forderungen wesentlich weiter. Aber wenn sie sie konkretisieren soll, versteckt (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Aber ja! sie sich. Es ist tatsächlich so, daß die SPD im Bundes Sicher!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5915

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) — Wenn man es vorher gewußt hätte, Herr Kollege verweist die Bundesregierung darauf, daß die Ent- Walther, hätte man es ja nicht so gemacht, wie man es wicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigun- gemacht hat. gen ganz im Zeichen der deutschen Einheit steht. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nein, nein! Ideologie ist immer der Feind des Leider vergißt sie, hinzuzufügen, daß es ihr nicht pragmatisch Möglichen!) gelungen ist, die Prioritäten der Finanzpolitik entspre- chend neu festzulegen. Während im Osten der wirt- Beim Stichwort Subventionsabbau ist die FDP zu schaftliche Anpassungsprozeß — bis jetzt ein nicht Recht vorn an der Front. Natürlich sind auch wir nicht gerade kreativer Zerstörungsprozeß — große finan- ganz frei von Schwächen; aber wir sind zweifellos die zielle Anstrengungen erfordert, betreibt die Bundes- Partei, die am wenigsten auf Interessengruppen Rück- regierung im Westen business as usual. Im neuen sicht nehmen muß und deshalb am konsequentesten gemeinsamen Gutachten von DIW und Institut für Subventionsabbau fordert und verwirklicht. Weltwirtschaft wird festgestellt: (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich über reiche Ihnen die Tapferkeitsmedaille!) Vor dem Hintergrund dessen, was den Bewoh- Die erfolgreiche Initiative des Bundeswirtschaftsmini- nern in Ostdeutschland gegenwärtig an Anpas- sters hat dies deutlich gemacht. Sie hat allerdings sungslasten aufgebürdet wird, sind die bisheri- auch deutlich gemacht, wie schwierig diese Dauerauf- gen Maßnahmen sehr halbherzig. gabe zu bewältigen ist. Wir stellen uns ihr immer wieder. Ich möchte deshalb zitieren, der ebenfalls einen grundsätzlichen Kurswechsel einfor- Der vorliegende Subventionsbericht verbessert die dert: Transparenz und damit auch den Ansatz zur Zurück- führung von Subventionen: Sämtliche Steuersubven- Ohne eine nachhaltige Gefährdung des gesamt- tionen, die nicht ausdrücklich soziale Aspekte haben, wirtschaftlichen Gleichgewichts ist der Aufbau in bleiben auf dem Prüfstand. Wir werden uns weiterhin den neuen Bundesländern auch bei sparsamster für den Abbau wettbewerbsverzerrender staatlicher Haushaltsführung und bei effizientem Mittelein- Förderung einsetzen. Ob bei der produktbezogenen satz nur zu finanzieren, wenn öffentlichen und Forschungsförderung, ob bei den sogenannten Wett- privaten Investitionen im Osten für längere Zeit bewerbshilfen in Luftfahrt und Schiffsbau, vor allem Priorität eingeräumt wird. aber bei den ordnungspolitisch wie umweltpolitisch unsinnigen Energiesubventionen, insbesondere bei Von einer solchen Neuorientierung ist aber nichts der Steinkohle: wir sind zum weiteren Abbau der zu sehen. Die Haushaltsdebatte 1992 und davor schon Förderung bereit. die Diskussion zum Steueränderungsgesetz belegen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Bundesregierung hat trotz ihrer Ankündigung Das gilt auch im Agrarbereich da, wo die Subven- keinen Kurswechsel in ihrer Subventionspraxis voll- tionierung falsche Strukturen erhält oder begünstigt. zogen. Die Regierung war nicht in der Lage, die - Volkswirtschaftlich müssen wir dringend an einem Subventionierung der Wirtschaft und anderer Berei- Erfolg der augenblicklichen GATT-Verhandlungen che auf ein ökonomisch vernünftiges Maß zu interessiert sein. Das heißt, eine Rückführung von beschränken. Die „Süddeutsche Zeitung" brachte es Agrarsubventionen wird unabänderlich sein. Aber auf den einfachen Nenner: „Der Abbau von Subven- natürlich darf es keine Politik eines totalen Kahl- tionen war ein Reinfall." schlags in der Landwirtschaft geben. Das Beispiel der Ich möchte dabei nicht verschweigen, daß die Landwirtschaft zeigt aber ebenfalls, wie schmal der Beschneidung von Besitzständen kein leichtes Unter- Grat zwischen ordnungspolitischer Vernunft und fangen ist. Anthony Eden hatte dieses Problem bereits Sachzwängen einer sich entwickelnden Politik ist. erkannt: „Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Die FDP-Fraktion dankt der Bundesregierung für allgemeinen und Freigebigkeit im besonderen." die Vorlage des Berichts und stellt sich weiterhin an die Spitze derer, die die Daueraufgabe des Subven- Auch frühere Finanzminister in der Bundesrepublik tionsabbaus ernsthaft zu leisten bereit sind. hatten schon erfolglos den Abbau von Subventionen Wir fordern allerdings den Finanzminister auf, sich versucht. Deshalb ist es auch nicht besonders glaub- als treibende Kraft bei der Überprüfung und dem würdig, wenn sich nun sozialdemokratische Finanz- Abbau von Subventionen zu verstehen und vor allem politiker zu den schärfsten Subventionskritikern der Einführung großvolumiger Dauersubventionen in gewandelt haben, nachdem sie seinerzeit diese Sub- den Bundeshaushalt besser als in der Vergangenheit vention eingeführt hatten. zu widerstehen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es kann auch nicht sein, daß die Bundespolitiker der SPD den Abbau von Finanzhilfen forde rn, während in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- lege Werner Schulz das Wort. den Ländern eben diese Subventionen verteidigt werden.

Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Recht der FDP) 5916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Werner Schulz (Berlin) Dies entlastet aber nicht die Bundesregierung, die 1990 auf 1991 die vom Bund gewährten Finanzhilfen entgegen den Ankündigungen nur wenig geleistet und Steuervergünstigungen um fast 30 %. Im Haus- hat. haltsjahr 1991 gewähren allein Bund, Länder und (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt hat Gemeinden insgesamt 76 Milliarden DM Subventio- ten Sie so gut angefangen!) nen. Das sind 11 Milliarden DM mehr als im Vorjahr. Die Struktur der Bundessubventionen zeigt: Die höch- Besonders fatal ist, daß die Subventionspraxis nicht sten Beiträge fließen in die gewerbliche Wirtschaft. Ihr im Hinblick auf ökologische Problemstellungen Anteil am gesamten Subventionskuchen beträgt 1991 geprüft worden ist. Ein Beispiel dafür ist der private fast 46 % und 1992 über 48 %. Straßenverkehr. Die tatsächlichen Kosten werden den Verbrauchern von Mineralöl und den Nutzern der Der vorgebliche Subventionsabbau hat sich im Straßennetze nicht in Rechnung gestellt. Ergebnis als Etikettenschwindel erwiesen. Tatsäch- Geplante Subventionsreduzierungen wurden dabei lich handelt es sich bei diesem Subventionsabbau wieder rückgängig gemacht. Im ursprünglichen Ent- überwiegend um Subventionen, die ohnedies auslau- wurf des Steueränderungsgesetzes 1992 war bei- fen sollten, um den Verzicht auf die Erhöhung von spielsweise vorgesehen, die weitgehende Kfz-Steuer- Subventionen und um die erneute Einbeziehung befreiung für Lkw-Anhänger zu streichen. Zugunsten bereits beschlossener Maßnahmen. des Fuhrgewerbes wurde diese Streichung rückgän- (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Kommen Sie gig gemacht. Auch auf die Einbeziehung der Motor- jetzt zu dem Abschnitt Ihrer Rede, wo Sie boote in die Kfz - Steuer wurde verzichtet. Insgesamt selber Vorschläge machen!) ergeben sich bei diesen Abstrichen Steuerminderein- nahmen von 1,2 Milliarden DM. Die Probleme der deutschen Einheit bringen eine Andere ursprünglich geplante Kürzungen bei steu- zusätzliche Herausforderung für die bestehende Sub- erlichen Subventionen sind überhaupt nicht debat- ventionspraxis. Geboten wäre eine deutliche Sen- tiert worden. Dazu gehören der Abbau der Mineralöl- kung der Finanzhilfen und Steuersubventionen in steuerbefreiung für die Luftfahrt und für die Binnen- Westdeutschland, um die notwendigen Mittel für den Aufbau der Wirtschaft im Osten aufzubringen. Die schiffahrt. neuen Bundesländer benötigen nach der schnellen politischen Einheit umfangreiche wirtschaftliche Hil- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Schulz, fen, um den ökonomischen Anpassungsprozeß mög- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltl- lichst rasch zu bewerkstelligen und sozial abzufedern. hauser? Die anhaltende Strukturkrise in Ostdeutschland zeigt, daß noch für eine lange Zeit Finanzhilfen für den Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Ja. wirtschaftlichen Aufbau benötigt werden. Dabei sind die Mittel vor allem in jene Bereiche zu lenken, die Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege, darf strukturpolitische und regionalpolitische Bedeutung ich Sie fragen, ob Sie zugestehen würden, daß einer, haben. Die Vereinigung Deutschlands muß deshalb- der mit zu den Erfindern dieser beiden Maßnahmen zum Anlaß genommen werden, die bisherige Subven- im steuerlichen Bereich — einerseits Lkw-Anhänger, tionspraxis einer grundsätzlichen Überprüfung zu andererseits Motorboote — gehörte, im Laufe der unterziehen und dabei neue Schwerpunkte und Prio- Debatte auch klüger werden kann — bei den Anhän- ritäten festzulegen. gern etwa im Hinblick auf die Tatsache, daß die Belastung der Lastwagen in der Bundesrepublik Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben schon vor einem Deutschland heute schon, ohne diese Anhänger- Jahr darauf hingewiesen, daß der wirtschaftliche steuer, bis zu zehnmal höher ist als in EG-Konkurrenz- Aufbau in den neuen Bundesländern durch ein breit unterstützt wer- ländern — und daß man, wenn dies so ist, von einer angelegtes Strukturhilfeprogramm den muß. Die Bundesregierung hat diese Forderung Maßnahme doch Abstand nehmen kann? Ähnliches gilt bei den Motorbooten, wo wir — im übrigen lange Zeit unberücksichtigt gelassen. Auch die jetzi- gen Aufbauprogramme sind zu zögerlich und zu gemeinsam mit den Kollegen der SPD — zu dem widersprüchlich. Es gibt nach wie vor kein konsisten- Ergebnis gekommen waren, daß mehr Bürokratie Aufbau im Osten. entstünde und es deshalb unter dem Strich mehr tes strukturpolitisches Konzept zum Ebenso fehlt ein schlüssiges Finanzierungskonzept. kosten würde als ein Subventionsabbau. Aber auch für den Westen besteht Handlungsbe- Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr darf. Angesichts der hohen Finanzierungserforder- Faltlhauser, es ist nur peinlich, wenn denjenigen, die nisse für die Umstellung der Wirtschaft in den neuen solche Vorschläge unterbreiten und diese in die Bundesländern werden zusätzliche Einsparmaßnah- öffentliche Diskussion bringen, die Gegenargumente, men bei den Subventionen im Westen unumgänglich. die Sie eben in Ihrer Frage gebracht haben, erst Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, die notwen- hinterher einfallen. dige Umlenkung der Finanzmittel für den wirtschaft- (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sie haben es lichen Aufbau in den neuen Bundesländern sozial doch bis eben nicht gewußt, Herr Schulz! Tun verträglich und ökologisch wirksam zu gestalten. Sie doch nicht so, als ob Sie die Weisheit mit Dazu muß sie aber erst einmal ihren Willen bezeugen, Löffeln gegessen hätten!) die notwendigen Maßnahmen im Westen einzulei- ten. Die Verbände haben viele ihrer Ziele erreicht. Die Besitzstände wurden nicht angetastet. Im Gegenteil: Die bisherige Politik des „Weiter so!" wird ange- Wie der Subventionsbericht ausweist, stiegen von sichts der gewaltig angestiegenen Haushaltsdefizite Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5917

Werner Schulz (Berlin) nicht mehr möglich sein. Die Bundesregierung sollte erfüllt. Durch Änderungen im parlamentarischen Ver- deshalb eher der Empfehlung Martin Luthers folgen: fahren und die Verhandlungen in der Kohlerunde Der ersparte Pfennig ist redlicher als der erworbene. wurde das Ergebnis auf 32,26 Milliarden DM redu- Der Finanzminister kann diese Maxime schon in den ziert, das Abbauziel damit aber immer noch übertrof- nächsten Tagen beherzigen, indem er auf die fen. geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichtet und dafür bei den Finanzhilfen und Steuersubventio- Der Subventionsabbau verteilt sich etwa hälftig auf nen Ausgaben einspart. Finanzhilfen und ähnliches sowie steuerliche Vergün- stigungen. Von den einzelnen Jahresergebnissen des (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Subventionsabbaupakets geht in den öffentlichen der PDS/Linke Liste) Haushalten ein substantieller, ansteigender Konsoli- dierungsbeitrag aus. Gleiches gilt für das beschlos- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat sene Auslaufen der Berlin- und Zonenrandförde- das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Klaus rung. Beckmann. Nun hat die Opposition heute versucht, die Debatte in eine Märchenstunde umzufunktionieren. Dabei Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- war der Kollege Wieczorek besonders anspruchsvoll. minister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Meine sehr Er erzählte das Märchen, die SPD habe keine Mehr- verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung der wertsteuererhöhung gefordert. Aus diesem Märchen Subventionsvolumina für das bisherige Bundesgebiet muß ich ihn und uns aber auf den Boden der Realität und die neuen Bundesländer ist gegenläufig. Es gilt: zurückholen. Wenn ich mich recht erinnere, war es Subventionsabbau in den alten Bundesländern, um Ministerpräsident Engholm, der sich im Herbst 1990 den finanzpolitischen Spielraum für den Aufschwung für ein Vorziehen der für 1993 erwarteten Mehrwert- Ost und dessen Beschleunigung zu gewinnen. Das ist steuererhöhung ausgesprochen hat. die wesentliche Botschaft, die der Dreizehnte Subven- tionsbericht vermitteln will. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie Vor diesem Hintergrund sollte allerdings das nach erinnern sich nicht richtig!) wie vor hohe Subventionsvolumen für die alten Bun- Im übrigen hat Herr von Larcher versucht, sich eben desländer Anlaß sein, uns nicht mit den bisherigen in der deutschen Märchenliteratur zu etablieren. — wenn auch beachtlichen — Abbauerfolgen zufrie- denzugeben. Denn ohne die berechtigten Ausnahme- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das fälle bestreiten zu wollen, werfen Subventionen in der hat weh getan! Das glaube ich!) Regel erhebliche markt- und haushaltspolitische Pro- bleme auf. Allerdings muß ich dazu bemerken: Zu unseren aus Subventionsabbau ist also nach wie vor eine der Literatur bekannten Klassikern wie Hauff und schlichte volkswirtschaftliche Notwendigkeit; denn Grimm verhält er sich nach Form und Inhalt seiner Subventionen bewirken die Fehlleitung von Kapital Darbietung wie Hedwig Courths-Mahler. Mehr und Arbeit. Sie führen zur Verschwendung von möchte ich zu dem Niveau seiner Darbietung nicht Ressourcen und zur Minderung des Wohlstandes für sagen. alle. Subventionsabbau ist also das Programm dieser (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Regierung: für Strukturwandel und Wettbewerbs- der CDU/CSU) fähigkeit, für mehr Markt und für weniger Staat. Es kommt hinzu: Die Bewältigung der dringenden Die solide Finanzpolitik der Bundesregierung war Aufgaben im Zusammenhang mit der Einheit es, die den bis heute anhaltenden Aufschwung ermög- Deutschlands zwingt zur Ausschöpfung aller Finan- licht hat. Der während der 70er Jahre verschüttete zierungsspielräume, Einsparungs- und Umschich- finanzpolitische und wirtschaftspolitische Handlungs- tungsmöglichkeiten in den öffentlichen Haushalten. spielraum konnte nur auf der Grundlage solider Dazu gehört vor allen Dingen auch die Überprüfung Finanzpolitik wiedereröffnet werden. Solide Finanz- der Subventionen. Wir können nicht so tun, als hätte politik ist auch in der jetzigen schwierigen Situation sich in Deutschland nichts geändert. Mancher Luxus, des vereinigten Deutschlands der richtige Weg. Die den sich die Gebietskörperschaften bisher leisten Rückführung der Neuverschuldung und strikte Haus- konnten, muß heute im Licht der politischen Gesamt- haltsdisziplin der ersten Stunde sind eine Notwendig- situation in Deutschland und in Europa neu überdacht keit ersten Ranges. werden. Meine Damen und Herren, mit dem Steuerände- Aus diesen haushalts- und ordnungspolitischen rungsgesetz 1992 hat die Bundesregierung die erste Motiven heraus faßte die Koalition im Februar vergan- Stufe auf den Weg gebracht. Allerdings bremst der genen Jahres den Beschluß, ab 1992 ca. 10 Milliarden Bundesrat durch sein Veto dieses Gesetz und damit DM bzw. 30 Milliarden DM Subventionen über die den beschäftigungspolitischen Fortschritt gerade im Jahre 1992 bis 1994 einzusparen. Beitrittsgebiet der Bundesrepublik. Der Bundesrat hat Als Beitrag zu einer mittelfristigen Konsolidierungs- es auch zu verantworten, daß die beschlossenen strategie war die Umsetzung des Beschlusses zum Schritte zum steuerlichen Subventionsabbau noch Abbau von Subventionen ein wichtiger und notwen- nicht umgesetzt werden können, was den tatsächli- diger Schritt. Entsprechend dem Beschluß der Bun- chen Subventionsabbau entsprechend verzögert. Die desregierung vom 10. Juli 1991 wurde das Ziel zum Verantwortung hierfür kann sich die Bundesregie- Abbau von Subventionen mit 33,32 Milliarden DM rung nicht zuschieben lassen. Sie liegt allein bei der 5918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Mehrheit der Länder. Mein Appell also an die Länder: setzbuches, wird klargestellt, daß hierunter die Räumen Sie die Barrikaden. Wahlen und Abstimmungen im Parlament eben nicht (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) fallen, sondern daß nur Bestechungshandlungen bei Bundestagswahlen, Landtagswahlen oder Kommu- Gehen Sie mit der Bundesregierung den Weg der nalwahlen gemeint sind. finanzpolitischen Vernunft und Solidarität. Begeht ein Beamter oder, wie es im Strafgesetzbuch Vielen Dank. heißt, ein Amtsträger eine solche Tat oder wird diese (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ihm gegenüber begangen, so wird ein Strafverfahren als selbstverständlich eingeleitet, weil das Strafge- setzbuch für Straftaten im Amt nach den §§ 331 ff. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- dungen liegen nicht vor. bekanntermaßen einen ganzen Katalog von Straf- sanktionen vorsieht. Der Volksmund spricht ganz Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf richtig von Beamtenbestechung. Drucksache 12/1525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Für entsprechende Handlungen des Abgeordneten damit einverstanden? — Das ist der Fa ll. Dann ist die oder Handlungen diesem gegenüber besteht damit Überweisung so beschlossen. eine Lücke. Wer als Abgeordneter 100 000 DM von einem Bauunternehmer in einer bestimmten Stadt nähme, damit er sein Votum für diese Stadt als Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 a und b auf: Hauptstadt abgäbe — solche Gerüchte gab es bei den a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Abstimmungen über die Hauptstadtfrage Bonn oder eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechts- Berlin —, änderungsgesetzes — Abgeordnetenbeste- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber nur Ge- chung rüchte!) — Drucksache 12/1630 — bliebe straflos. Klärung könnte allenfalls ein Untersu- Überweisungsvorschlag: chungsausschuß bringen. Das gab es übrigens schon Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- einmal im Deutschen Bundestag. nung Nach den Verhaltensrichtlinien des Bundestages b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten könnte außerdem, wenn es denn erwiesen ist, die Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜND- Bundestagspräsidentin die Sache ans Licht bringen NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs und den Abgeordneten damit an den Pranger stellen. eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Ab- Der Bürger wird sich natürlich verwundert die Augen geordnetenbestechung (... Strafrechtsände- reiben und fragen: Wieso das? rungsgesetz) Vom 15. Mai 1871 an, dem Inkrafttreten unseres — Drucksache 12/1739 — Strafgesetzbuches, bis 1953 wurde der eben erwähnte- Überweisungsvorschlag: § 108b in der Tat auch als Bestechungsstraftatbestand Rechtsausschuß (federführend) für Abgeordnete ausgelegt. 1953 aber wurde die Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- erwähnte Einschränkung in Gestalt des § 108 d hinzu- nung gefügt, weil ein — das war der Grund — eigener Im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache herausgehobener Straftatbestand für Abgeordnete eine 10-Minuten-Runde vereinbart worden. Gibt es geschaffen werden sollte. dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Der ist nie gekommen!) Als erster Redner ist der Kollege Hans de With vorgesehen. Es blieb aber bei der Absicht. Es blieb dabei, obwohl es — das sei erwähnt — eine ganze Reihe von Initiativen — im Grunde von allen Dr. Hans de With (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In § 108 b unseres Seiten des Hauses — gab und obwohl auch der Strafgesetzbuches heißt es unter „Wählerbeste- Entwurf der Großen Strafrechtskommission 1962 eine chung": entsprechende Vorschrift vorschlug. Ich denke, wir müssen unumwunden gestehen: eine peinliche Wer einem anderen dafür, daß er nicht oder in Lücke. einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder ge- (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ währt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren GRÜNE, der PDS/Linke Liste sowie bei oder mit Geldstrafe bestraft. Abgeordneten der CDU/CSU) Ebenso wird bestraft, wer dafür, daß er nicht oder Eine peinliche Lücke auch deshalb, weil in der in einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke Mutter aller modernen Demokratien, nämlich in Eng- oder andere Vorteile fordert, sich versprechen land, die Abgeordnetenbestechung als breach of läßt oder annimmt. privilege seit dem Jahre 1615 als Kapitalverbrechen Wer nun guten Mutes davon ausgeht, daß damit bestraft wird, auch wenn die Strafgewalt dort beim auch der bestochene Abgeordnete und der ihn beste- Parlament liegt. chende Bürger erfaßt sind, irrt sich. Denn zwei Para- In den Vereinigten Staaten, in den meisten Staaten graphen weiter, nämlich in § 108d unseres Strafge der USA, ebenso wie in Dänemark und Griechenland Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5919

Dr. Hans de With ist die aktive und passive Abgeordnetenbestechung nungsumkehr aber, die das Licht des Wahlkreises und speziell normiert und ausdrücklich unter Strafe damit der Öffentlichkeit zu scheuen hat. gestellt. In Belgien, Frankreich und Italien ebenso wie Damit ist dreierlei klar: Erstens. Es gibt einen in den Niederlanden sind die Abgeordneten bei der Bereich — freilich nur im eng umgrenzten Fall —, der Bestechung strafrechtlich den Beamten gleichge- mit dem Begriff des Stimmenkaufs strafrechtlich ganz stellt. sicher erfaßt werden kann. Daß es sich bei der Abgeordnetenbestechung um Zweitens. Daneben bewegt sich eine breite Grau- strafwürdiges Unrecht handelt, ist, soweit ich sehe, im zone, die zunächst strafrechtlich kaum definierbar Bundestag unumstritten. Eine Regelung haben wir in erscheint und auch noch nicht — das ist wichtig — Deutschland noch nicht, weil das zu regeln wegen des dem Maß des Unwertes nach wirklich durchdacht und besonderen Schutzes des Abgeordneten — das sei erfaßt ist. zugegeben nicht ganz einfach, ja ich sage: äußerst Drittens. Offenkundige Parteinahmen in Form von schwierig und kompliziert ist. Interessenvertretungen mit öffentlich gemachten Bin- Aber natürlich sollten wir auch zugeben, daß bei dungen und Verbindungen scheiden als strafwürdig uns offensichtlich der erforderliche Druck gefehlt aus. hat, Daraus aber, meine ich, müssen drei Konsequenzen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider ja!) gezogen werden: Erstens. Der Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung sollte in Form des Stim- hier mit anderen Demokratien gleichzuziehen. menkaufs ausgestaltet werden, wie es die SPD- Warum sollte es den Deutschen bei aller Penibilität Bundestagsfraktion vorgeschlagen hat. Ich darf unse- — die uns nicht immer, aber oft genug auszeichnet — ren Vorschlag vorlesen: nicht gelingen, das zu tun, was andere als selbstver- Wer es unternimmt, für eine Wahl oder Abstim- ständlich vorweisen können? mung in einer Volksvertretung des Bundes, der (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbände dem Bündnis 90/GRÜNE) eine Stimme zu kaufen oder zu verkaufen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geld- Aber in der Tat: Der Teufel steckt schon im Detail. strafe bestraft. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Klar ist dabei, daß unter „kaufen" nicht lediglich die Mit den Beamten gleichgestellt werden sollte der Geldhingabe im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbu- Abgeordnete nicht; einmal weil er kein Beamter ist, ches zu verstehen ist, sondern die Hingabe und und zum zweiten weil sein Wirkungsfeld völlig anders Annahme all dessen, was geldeswert ist, auch die aussieht. Hat der Amtsträger ein präzise abgestelltes berühmt-berüchtigte Karibikreise. Natürlich muß Wirkungsfeld und darf er niemandes Interessenver- sorgfältig geprüft werden, ob darüber hinaus eine treter sein, sondern nur der des Gesetzesvollzuges, so Erweiterung nötig ist, um den Bereich der Grauzone wenigstens etwas mehr einzuengen. - ist der Abgeordnete in seinem Wirkungsfeld frei. Er kennt keine Zuständigkeiten. Er darf Interessen ver- Zweitens. Der große und sicher ständig in Bewe- treten, z. B. die des Radfahrers. gung befindliche Bereich der Grauzone muß aufgear- beitet, durchsichtig gemacht und in den Verhaltens- Was ist, wenn er von einem Bundesverband der regeln umfänglicher als bisher beschrieben werden. Radfahrer einen Mitarbeiter gestellt bekommt und dann für das Einbringen einer Gesetzesvorlage, die Drittens. Bei aller Unzulänglichkeit unseres Vor- die Interessen der Radfahrer besser als bisher — wohl- schlages muß sich der Bundestag endlich zu einer abgewogen mit denen der Allgemeinheit — schützt, Strafvorschrift durchringen. ein Fahrrad geschenkt bekommt und er damit auch (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und noch nicht nur durch seine heimischen Zeitungen, dem Bündnis 90/GRÜNE) sondern auch durch die überregionalen Medien wan- Der Hinweis, die Materie sei nicht bef riedigend regel- dert? bar, wird nicht mehr verstanden werden. Es kommt noch anders. Wie steht es mit dem Die Arbeit, meine sehr verehrten Damen und Her- Abgeordneten, der aus dem Arbeitgeber- oder Arbeit- ren, die wir uns damit aufhalsen, sollte nicht als Last nehmerbereich kommt und seit seiner Aufstellung als empfunden werden. Sie muß als Möglichkeit beg rif- Kandidat mit dem Wissen seines Wahlkreises in fen werden, den Meinungsbildungsprozeß offener hohem Maß die Interessen — sagen wir es — seiner und bewertbarer, damit verständlicher und besser Klientel vertritt und als Aufsichtsratsmitglied oder nachvollziehbar zu machen. Demokratie ist keine Arbeitnehmervertreter für jeden offenkundig in der Routine. Demokratie über die Köpfe der Bevölkerung Chefetage „Zusatzbrötchen" verdient? In all diesen machen zu wollen schadet ihr ebenso wie deren Fällen wird nicht von einem strafwürdigen Mandats- Repräsentanten. mißbrcauh gesprochen werden können. Vielen Dank. Wann bekommt eine Vorteilsgewährung gegen- über einem Abgeordneten den Hautgout strafrechtli- (Beifall im ganzen Hause) chen Unrechts? Sicherlich dann, wenn mit heimlicher Geldhingabe eine Meinungsumkehr im Sinne einer bestimmten Stimmabgabe erreicht werden soll, die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat vielleicht sogar vertreten werden kann, eine Mei der Kollege Erwin Marschewski das Wort. 5920 • Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! oder bei der Ankündigung, z. B. nicht wieder als Meine Damen und Herren! Aus der Begründung eines Abgeordneter aufgestellt zu werden? Unionsentwurfs zur Abgeordnetenbestechung vom Und was die Rechtspflege anbetrifft: Ist es nicht für März 1974: einen Richter sehr schwer, mangels deskriptiver oder Nach geltendem Recht sind zwar Wahlbeste- mangels normativer Tatbestandsmerkmale bei seiner chung sowie aktive und passive Bestechung von Entscheidung die richtige Grenzziehung vorzuneh- Richtern und Beamten strafbar, nicht jedoch die men? Auch die Einführung normativer Tatbestands- Bestechung von Angehörigen der gesetzgeben- merkmale, wie z. B. das Merkmal „in verwerflicher den Gewalt in Bund und Ländern. oder pflichtwidriger Weise", würde Schwierigkeiten machen. Diese Gesetzeslücke verhindert ein wirksames Einschreiten gegen unlautere Einflußnahme auf (Dr. Hans de With [SPD]: Das habe ich nicht politische Entscheidungen, die von großer Trag- vorgeschlagen!) weite sein können. Es fehlt eben am Verhaltenskodex für das Parlament. Da sind wir, Herr Kollege de With, sicherlich einer Ja, sie hatten damals bei der Einbringung dieses Meinung. Gesetzentwurfes recht, die Abgeordneten von Weiz- säcker, Professor Carstens und Wolfgang Schäuble. Bereits diese kurze Darstellung zeigt, daß es zwar Der fehlende Strafrechtsschutz gegen Bestechung in vonnöten ist, die Abgeordnetenbestechung zu bestra- demokratischen Einrichtungen ist, so meine ich, deren fen. Es ist aber sehr schwer, einen spezifischen Beste- Ansehen abträglich. chungstatbestand zu formulieren. Ich meine auch — wir werden an die Arbeit gehen; das ist selbstver- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD ständlich —, daß es nicht gut wäre, hier ein Ad- und dem Bündnis 90/GRÜNE) hoc-Gesetz zu verabschieden. Aber auch diese Kollegen reihten sich in die Viel- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das haben wir zahl der Antragsteller ein, die seit Ende der 50er Jahre noch nie gemacht!) versuchten, die Lücke, die dadurch entstanden war, — Da sind wir einer Meinung, Herr Kollege Wiefels- daß das dritte Strafrechtsänderungsgesetz eine pütz. andere Regelung vorgesehen hatte, zu schließen, Es ist einfach nicht einsehbar, die Bestechung bei (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Wahlen zu Volksvertretungen zu ahnden, die Beste- Es wäre keinem damit gedient, eine Vorschrift zu chung im Parlament aber straflos zu lassen. formulieren, die es ermöglicht, Abgeordnete z. B. in pressewirksamen Wahlkampfzeiten der Bestechung Auch diese Kollegen waren sich wie die Große zu bezichtigen, ohne daß danach außer der Einstel- Strafrechtskommission, wie Adolf Arndt, wie der lung des Verfahrens Weiteres geschähe. Dies brächte Deutsche Anwaltverein, wie auch die heutigen — da sind wir einer Meinung — dem Betroffenen, dem Antragsteller Bündnis 90 und SPD darin einig, daß die Parlament und, so meine ich, auch der parlamentari- genaue Eingrenzung des Tatbestandes doch, Herr schen Demokratie Schaden. Kollege de With, erhebliche Schwierigkeiten berei- tet. Vielleicht ist — das ist unser Vorschlag — der Gesetzentwurf der CDU von 1974 eine Hilfe. Er Wer, wie es im vorliegenden SPD-Entwurf beschreibt als strafrelevante Gegenleistung das geschieht, ohne normative Tatbestandsmerkmale Anbieten oder Annehmen von Geld oder anderen uneingeschränkt von Stimmenverkauf spricht, erfaßt Vermögenswerten. Oder vielleicht hilft die Fragestel- er nicht — zumindest seinem Wortlaut nach — auch lung eines ehemaligen Kollegen: Blicken wir nicht, Verhaltensweisen, die keineswegs als strafwürdig, meine Damen und Herren, zu sehr auf das Strafrecht vielmehr als im politischen Leben unumgänglich als einzige Abhilfe? Denken wir nicht zu justizstaat- angesehen werden? Was ist z. B., wenn eine Partei lich? Wäre es vielleicht denkbar, die Verhaltensre- Koalitionsgespräche führt, einer anderen Partei für geln zu erweitern oder, etwas erweitert, so etwas den Fall, ebenfalls eine politische Gegenleistung in Ähnliches wie die Abgeordnetenanklage in Bayern Form von Wahlen erbracht zu bekommen, Ämter einzuführen? Vielleicht ergänzt um die Folge, daß der anbietet? Der Tatbestand des § 108b des Strafgesetz- angeklagte Abgeordnete auch seines Mandats für buches, Herr Kollege, ist natürlich erfüllt. Ich weiß, Sie verlustig erklärt werden kann, wenn das Verfassungs- werden eine solche Regelung natürlich dem alltägli- gericht die Anklage für begründet erachtet? Rechtlich chen politischen Geschäft zurechnen wollen. Das ist gangbar wäre dieser Weg. Er würde, so meine ich, Ihre klar. Aber, Herr Kollege de With, es bleibt die Frage, neuen — sprich: alten — Vorschläge zumindest wir- ob und inwieweit die Rechtsprechung die hier ein- kungsvoll ergänzen. schlägige Lehre von der Sozialadäquanz überhaupt Ich danke Ihnen. anwendet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ein weiteres: Sind wir nicht auf Grund des Art. 103 bei Abgeordneten der SPD) Abs. 2 des Grundgesetzes gehalten, ein bestimmtes und ein bestimmendes Gesetz zu formulieren? Und was Sie vorhin selber angesprochen haben: Wie ist es Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- bei gewissen Arbeitsverhältnissen oder Nebentätig- ordnete Jörg van Essen. keiten von Abgeordneten (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Dafür habe ich Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Meine keine Zeit!) Damen und Herren! Die Abgeordnetenbestechung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5921

Jörg van Essen muß strafbar sein. Mit der Unterstützung dieser For- In diesem Zusammenhang stellt sich gleich eine derung kann man sich des öffentlichen Wohlwollens weitere Frage. Die Abgrenzung zwischen zulässiger sicher sein. Auch das eigene Rechtsgefühl sagt einem, und erwünschter Einflußnahme einerseits und dem daß die Bestechung von Abgeordneten doch nicht strafbewehrten Stimmenkauf und -verkauf mit, wie es anders geregelt sein darf als die von Beamten oder genannt wird, unangebrachten Vorteilen andererseits sonstigen Amtsträgern. Wer die Gerüchte noch im Ohr will der SPD-Entwurf den Strafverfolgungsorganen hat, daß bei der Entscheidung über den Regierungs- überlassen. Die Justiz erhält dadurch nach meiner sitz gegen Bonn ebenso bestochen worden sein soll Auffassung eine mit der Rechtsstellung des Abgeord- wie bei dem Votum für Bonn in der Nachkriegszeit, neten nicht zu vereinbarende Reglementierungs- und wird die Notwendigkeit dieser Debatte ebensowenig Kontrollkompetenz über die Angehörigen des Parla- bestreiten wie der, der gerade über Erkenntnisse ments und über deren Arbeit. gelesen hat, nach denen das Ministerium für Staatssi- Auch ein weiteres, bereits früher diskutiertes cherheit der DDR die Entscheidung über das Mißtrau- Bedenken ist nicht ausgeräumt. Der Druck durch ensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt mit immaterielle Vor - und Nachteile ist nicht weniger erheblichen Geldzahlungen an Abgeordnete beein- verwerflich und damit auch nicht weniger strafwürdig flußt haben soll. als eine Bestechung mit Geld und anderen Vermö- Die Fraktionen der SPD, der FDP und der CDU gensvorteilen. Ein Abgeordneter, dem damit gedroht haben — in dieser zeitlichen Reihenfolge — in den wird, er werde nach einer bestimmten Entscheidung vergangenen Wahlperioden immer wieder Anläufe nicht wieder aufgestellt werden — ein Beispiel dafür unternommen, einen solchen Straftatbestand zu haben wir in der Vergangenheit auch erlebt —, kann schaffen. Keine der Diskussionen hat bisher zu einem in seiner Unabhängigkeit sehr viel mehr einge- wirklich befriedigenden Ergebnis und damit zu einer schränkt sein als einer, dem ein bestimmter Geldbe- gesetzlichen Regelung geführt. Es ist offensichtlich trag zugewandt worden ist. alles nicht so leicht und einfach, wie es zunächst Es ist nicht einzusehen, daß die Integrität der aussieht. parlamentarischen Willensbildung nur einseitig ge- Ausgangspunkt für die Schwierigkeiten ist das gen Geldzahlungen und andere Vermögensvorteile Dilemma zwischen dem Idealbild des unabhängigen geschützt werden soll. Es ist auch nicht nachzuvollzie- Abgeordneten und der nicht zu leugnenden Tatsache, hen, daß nur Abstimmungen in den parlamentari- daß wir alle vielfältigen Abhängigkeiten ausgesetzt schen Gremien, nicht aber die in den Fraktionen und sind — aus dem sozialen Umfeld, aus der Erziehung, ihren Untergliederungen durch eine Strafvorschrift aus der beruflichen und der sozialen Stellung, seitens geschützt werden sollen. Jeder, der den parlamenta- der Partei und der Fraktion. Die repräsentative Demo- rischen Betrieb kennt, weiß, daß die entscheidenden kratie lebt gerade von diesen Einbindungen ihrer Weichenstellungen sehr oft nicht im Plenum, sondern Volksvertreter und auch davon, daß einzelne Wähler schon viel früher bei den Beratungen der Fraktionen und Interessengruppen die Parlamentarier in ihrem erfolgen. Sinne zu beeinflussen suchen. Demokratie wird Völlig unmöglich ist schließlich eine praktikable dadurch lebendig, daß in vielfältiger Form auf Abge- Abgrenzung bei den Abgeordneten, die Angehörige ordnete eingewirkt wird. beratender Berufe sind, z. B. bei Rechtsanwälten. Diese Juristen werden gerade wegen ihrer Rechts- Wo also ist die Grenze zwischen zulässiger und kenntnisse „eingekauft". Wo ziehen wir die Grenzen, unzulässiger Einwirkung zu ziehen? Ist es unredlich — ich bringe hier das gleiche Beispiel wie der Kollege wenn sich der Auftraggeber auch politische Vorteile de With —, daß zum Beispiel Gewerkschaften und erhofft? Auch wenn Zusammenhänge mit dem Stimm- verhalten nicht erkennbar sind, so erleben wir derzeit Industrieverbände durch die Gehaltszahlungen an einen solchen Mischfall mit all der sich daraus erge- von ihnen weiterbeschäftigte Abgeordnete Abstim- benden Problematik bei einer Strafverteidigung in mungen in ihrem Sinne erhoffen? Es ist sehr leicht Dresden. möglich und ohne Auslegungsschwierigkeiten zu begründen, daß diese Kollegen, auf deren Sachver- Es sind nicht nur die Abgeordneten des Deutschen stand wir dringend angewiesen sind, als „gekauft" im Bundestages gewesen, die sich wegen dieser aufge- Sinne der hier vorliegenden Vorschläge angesehen zeigten Schwierigkeiten nicht zu einer strafrechtli- werden — Monat für Monat mit jeder Gehaltszah- chen Bestimmung haben entscheiden können. Auch lung. der sicher unverdächtige Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins hat in einer sorgfältigen Nur diejenigen Abgeordneten könnten vor einem Stellungnahme die Einführung eines Straftatbestan- strafrechtlichen Vorwurf sicher sein, die wie ich als des der Abgeordnetenbestechung abgelehnt. Beamte für ihre Tätigkeit im Parlament in den Ruhe- stand versetzt und daher von jedem Arbeitgeber Noch zu einer Petition in der vergangenen Legisla- unabhängig sind. turperiode hat der Deutsche Bundestag festgestellt, daß es bisher nicht gelungen sei, mit der für das (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nicht in den Strafrecht erforderlichen Bestimmtheit die Vorteile zu Ruhestand! — Weitere Zurufe von der SPD: beschreiben, deren Annahme die Strafbarkeit auslö- Einstweiliger Ruhestand! — Außer Dien sen soll. -sten!) Aber die von mir zu Beginn meiner Rede skizzierten Wollen wir das eigentlich: ein Parlament nur aus Ereignisse in der letzten Zeit sind einen neuen Ver- Beamten? Mit Sicherheit nicht. such wert. Ich sage für die FDP zu, daß wir uns 5922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Jörg van Essen konstruktiv an diesen Bemühungen beteiligen wer- — Lassen Sie mich doch zuerst ausreden, Herr Wie- den. felspütz! — Der Text von Bündnis 90/GRÜNE wurde bereits am 18. September 1991 veröffentlicht. Geben wir uns aber nicht der Illusion hin, daß wir mit einer Straftatbestimmung qua Gesetz den unab- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unser Text ist hängigen Abgeordneten schaffen. Der Schwerpunkt aber besser!) unserer Aktivität muß weiterhin darin liegen, uner- wünschte Abhängigkeiten zu vermeiden und notwen- Das sage ich nicht, weil ich unseren Entwurf für der dige so weit wie möglich transparent zu machen. Die Weisheit letzten Schluß halte, und im übrigen weiß ich Verhaltensregeln des Deutschen Bundestages sind auch, daß die CDU/CSU schon ähnliche Initiativen ein guter und, wie sich gezeigt hat, rechtlich klarer gestartet hat. Wir sind also nicht die allerersten. Weg. Jedoch muß man einfach wissen, daß diese Datierung zwar stimmt, aber den geschichtlichen Verlauf nicht Nachgeordnete Volksvertretungen zeigen aber, wiedergibt, und ich denke, es ist zur Würdigung daß es auch dort noch Entwicklungsmöglichkeiten unseres Textes wichtig, diesen Sachverhalt zu berück- gibt. Ich denke etwa an den Ausschluß von Abstim- sichtigen. mungen bei offenkundigen Interessenkollisionen. Kommunalparlamente und einige Landesparlamente Immerhin haben beide Entwürfe so viel gemeinsam, haben damit bereits lange Erfahrungen gesammelt. daß die Hoffnung auf Einigung durchaus gerechtfer- tigt erscheint. Beide gehen von dem Strafrecht vor Diskutieren wir offen und umfassend; der Ruf dieses seiner Reform von 1953 aus, definieren die Beste- Hauses und unser eigener sollten es wert sein. Es sollte chung als Unternehmensdelikt und schlagen darum auch mehr Kollegen geben, die sich für dieses Thema eine Änderung in § 108 Strafgesetzbuch und nicht, interessieren. Ich bin sehr beunruhigt, daß nur so was Herr Marschewski erwogen hat, in den Verhal- wenige Kollegen an dieser Debatte teilnehmen. tensregeln vor. Freilich unterscheiden sie sich darin, Vielen Dank. daß der SPD-Entwurf die Einfügung eines § 108 e (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie vorsieht, der Entwurf des Bündnisses 90 eine Ände- bei Abgeordneten der SPD) rung in §§ 108b und 108d. Dabei handelt es sich um mehr als eine Differenz in der Gesetzessystematik; es handelt sich auch um eine inhaltliche Differenz, über die man wird reden und, so denke ich, sich auch einigen können. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Ullmann. Der SPD-Entwurf definiert einen eigenen Straftat- bestand „Abgeordnetenbestechung", der des Bünd- nisses ordnet ihn in den umfassenden Deliktbereich der Stimmenbestechung ein und muß darum § 108 Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr — Geltungsbereich — neu formulieren, um die Abge- Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeord- ordnetenbestechung dort unter Ziffer 3 einzufügen. neten des Deutschen Bundestages haben Privilegien, Beides mag geringfügig erscheinen, ist es aber die ihnen wohl anstehen; sie sind Ausdruck und nicht. Die SPD-Formulierung läßt bei mir die Frage Konsequenz ihrer Würde als Vertreter des ganzen aufkommen, ob die bei dem behandelten Delikt Volkes, und sie sind Ausdruck ihrer Gewissensver- ohnehin schwierige Beweislage noch zusätzlich durch pflichtung und ihrer Unabhängigkeit. die Pflicht erschwert wird, nachzuweisen, daß ein Es gibt aber auch Privilegien, die mit dieser Würde ganz bestimmter Zusammenhang zwischen Geld- unvereinbar sind, sie beeinträchtigen oder gar aufs oder Sachleistung und dem Inhalt einer bestimmten Spiel setzen. Dazu gehört sicherlich das seltsame Wahl oder Abstimmung besteht. Aber hierüber wird Privileg, daß Abgeordnete im Unterschied zu Beam- man sich, so denke ich, in der Ausschußarbeit ebenso ten und Richtern straflos bestochen und daß ihre einigen können wie über die Differenzen im Gültig- Stimmen zu wichtigen Abstimmungen gekauft wer- keitsbereich. den können. Ihnen droht höchstens — darauf ist hingewiesen worden — die in § 8 der Abgeordneten- Besonders begrüßenswert am SPD-Entwurf er- verhaltensregeln vorgesehene Veröffentlichung über scheint mir die Strafbestimmung nach § 108e Abs. 2: das Annehmen unerlaubter Bezüge. Die Beendigung Aberkennung passiven und aktiven Wahlrechts. Für dieses Zustands — das setze ich voraus, und davon bin ihre Beibehaltung möchte ich mich einsetzen. ich nun noch mehr überzeugt als vorher — müssen wir Die Tatsache, daß unter den zahlreichen Versu- einmütig baldmöglichst anstreben. chen, die Berlin-Entscheidung des Bundestages vom Die jetzige Gesetzesinitiative ist ein Schritt hierzu. 20. Juni 1991 zu diskreditieren, auch die leichtfertig Das Verfahren wäre sicherlich einfacher gewesen, ausgesprochene Verdächtigung des Stimmenkaufs hätten wir von einem einzigen Entwurf ausgehen eine Rolle gespielt hat, spricht für eine zügige Verab- können. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, schiedung des intendierten Gesetzes. darauf aufmerksam zu machen, daß die Datierung der Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch Drucksachen nicht der eigentlichen Chronologie der zwei Nachbemerkungen, die auf eben Gesagtes Entwürfe entspricht. Bezug nehmen. Wir sind ja nun wieder einmal belehrt (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Jetzt sind Sie aber worden, wie entsetzlich schwierig es ist, den Tatbe- ganz schön eitel, Herr Ullmann!) stand zu eruieren. Das ist offenkundig sehr viel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5923

Dr. Wolfgang Ullmann schwieriger, als leichtfertige Verdächtigungen auszu- längere Zeit das Vertrauen in unseren demokrati- sprechen; schen Staat nachhaltig erschütterten. Denken Sie nur (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da haben Sie an die Steiner-Wienand-Affäre. Wer will ausschlie- recht!) ßen, daß sich solche Affären irgendwann, vielleicht schon bald, im Bundestag oder in einem der 16 Land- ich weiß aber nicht, ob es sich in Wirklichkeit so tage oder bei den Kommunen wiederholen? verhält. Nach dem Beispielmaterial, das Herr Mar- schewski hier vorgeführt hat, war ich nun freilich als In der Tat: Ein Beamter, der sich 20 DM zustecken politischer Quereinsteiger zu der naiven Bemerkung läßt, damit er die Paßverlängerung etwas schneller veranlaßt: Irgendwo, so finde ich, meine Damen und bearbeitet, muß schon mit harten Konsequenzen rech- Herren, muß doch die Öffentlichkeit auch merken, nen. Aber wenn sich ein Abgeordneter des Bundes- daß es irgendeinen Unterschied zwischen Politik und tages, Mitglied des höchsten Verfassungsorgans, der Geschäftemachen gibt. Daran, daß das früher oder durch seine Stimme an wichtigsten Entscheidungen später einmal klargestellt wird, habe ich ein gewisses für unser Land mitwirkt, mit 200 000 DM kaufen ließe, Interesse. dann könnten wir ihn nicht einmal aus dem Parlament schmeißen. Der aktiv Bestechende bei dem schmutzi- Schlußbemerkung: Aus einer früheren Begründung gen Geschäft geht nicht das geringste Risiko ein. Was für die entsetzlichen Schwierigkeiten einer Straftatbe- für eine Auswirkung hat das — und was für eine standsformulierung möchte ich folgenden klassischen Auswirkung muß es haben — auf das Ansehen unse- Satz verlesen. Als Begründung wurde angeführt, es res demokratischen Parlaments? sei unmöglich, Bestechungsfälle von legitimen politi- schen Verhandlungen abzugrenzen. Ich denke, es ist Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten alle eine politische Aufgabe, diese Abgrenzung vorzuneh- Kraft aufbieten, um die unerträgliche und — wie ich men und diesen Satz nicht das letzte Wort in der Sache auch sagen möchte — peinliche Lücke im Strafgesetz- sein zu lassen. buch doch noch zu schließen. Noch einmal: Die rechtstechnischen Probleme sind wirklich schwieriger (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei als anderswo. Aber spielt nicht auch dies eine Rolle: Abgeordneten der CDU/CSU) unsere Scheu, präziser als bisher die Grenzen zuläs- sigen Verhaltens für den „freien Abgeordneten" abzustecken? Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Rolf Olderog, Sie haben das Wort. Es wird immer wieder gesagt, das Strafrecht dürfe und solle auch nicht das politische Geschäft honoriger machen, als es nun einmal sei. Warum eigentlich Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nicht? Wäre es nicht vielleicht durchaus ein Gewinn, sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße die an diesem oder jenem Punkt eine Korrektur anzubrin- neuen Initiativen, die Abgeordnetenbestechung un- gen? Die Verhaltensrichtlinien sind doch nur ein ter Strafe zu stellen, sehr. Ich empfinde dies auch als erster Schritt. eine persönliche Herausforderung; denn ich habe Gehen wir nicht mit einem resignativen Zug an die über die Abgeordnetenbestechung meine Doktor- Arbeit, sondern mit Mut und dem festen Willen zu arbeit geschrieben. In dieser Arbeit, die mein Doktor- einer positiven Lösung. Für unser Parlament ist das vater Professor Friedrich Geerds ausgezeichnet eine gewichtige Chance, bei unseren Bürgern mehr betreut hat, habe ich nachdrücklich für eine Strafvor- Vertrauen zu gewinnen. schrift plädiert und einen Gesetzesvorschlag ge- macht. Danke schön. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Einen guten?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP und der SPD) Natürlich weiß ich, wie extrem schwierig es ist, eine rechtstechnisch treffsichere Gesetzesformulierung zu finden. Ich weiß auch, daß es manchem Richter, Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr unkundig der Besonderheiten des politischen Kräfte- Abgeordnete Professor Heuer. spiels, schwerfällt, das Do ut des, das nun einmal Bestandteil des Ausgleichs politischer Interessen ist, Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- zu verstehen. dent! Meine Damen und Herren! Nach beiden zur Aber warum haben denn alle anderen demokra- Debatte stehenden Gesetzentwürfen soll sich jeder- tisch-parlamentarischen Staaten das geschafft? In mann strafbar machen, der es unternimmt, für eine den USA, in England, in Frankreich, in Italien, überall Abstimmung in den Volksvertretungen eine Stimme in demokratischen Ländern gibt es doch heute diese zu kaufen oder zu verkaufen. Vorschriften. Nur in Deutschland soll das rechtstech- Der Entwurf des Abgeordneten Dr. Ullmann und nisch unmöglich sein? der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht davon (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das werden wir aus, daß der Kauf oder Verkauf nicht nur mit Geld, ändern!) sondern auch mit anderen Vermögenswerten straf- Sehen Sie einmal in die strafrechtliche Literatur. Sie rechtlich relevant sein soll und daß nicht nur Abstim- werden weitgehend Unverständnis und Kopfschütteln mungen in der Volksvertretung des Bundes, sondern finden. Kaum ein Wissenschaftler und selten ein auch solche in anderen Einrichtungen erfaßt werden Strafrechtspraktiker begreifen das, dies um so mehr, sollen. als es auch bei uns in der Bundesrepublik immer Wir halten die Intention beider Entwürfe, diese wieder handfeste Skandale gegeben hat, die über „peinliche Lücke" zu füllen — das ist hier heute schon 5924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Uwe-Jens Heuer mehrfach gesagt worden —, für voll zustimmungs- auch noch über Nebenverdienste. Dabei sind Spen- würdig, insbesondere auch die des Entwurfs der denzahlungen nicht einmal eingerechnet. Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, da wir keinen In der SPD-Vorlage wird dieser Tatsache auch Grund dafür sehen, Abgeordnete und andere Perso- volles Verständnis gezollt. Es sei „nicht zu beanstan- nen hinsichtlich der Abstimmung in Volksvertretun- den", heißt es, „wenn bei der Stimmabgabe politische gen von den Strafbestimmungen völlig auszuneh- Zwecke mitverfolgt werden, die den eigenen Interes- men. sen des Stimmberechtigten entgegenkommen". „Bei Die Strafbarkeit soll sich auf das Abstimmungsver- Abstimmungen in politischen Fragen widerspre- halten beschränken, da — so die Begründung der chen", heißt es, „an den Abgeordneten gerichtete SPD-Fraktion — der Tätigkeitsbereich der Abgeord- Versprechungen und Erwartungen nicht schon des- neten ansonsten begrifflich kaum zu fassen sei. Gefor- halb den Spielregeln der Demokratie, weil sie dert wird völlig zu Recht ein nachweisbarer Zusam- zugleich auch auf eine Verbesserung der Lebensver- menhang von Vermögensvorteil und Abstimmungs- hältnisse des Abstimmenden oder der von ihm vertre- verhalten, wobei die Beschränkung der Strafbarkeit tenen politischen Gruppe hinauslaufen." auf den Kauf oder Verkauf einer Stimme in einer Ein naiver Mensch könnte sich nun fragen, ob eine bestimmten Abstimmung erfolgt. solche Beeinflussung im Widerspruch zur Aussage in Art. 38 des Grundgesetzes steht, wonach die Abge- Die heftigen Diskussionen der Vergangenheit um ordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge § 44 a des Abgeordnetengesetzes, um die Verabschie- und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewis- dung und Neufassung der entsprechenden Verhal- sen unterworfen" sind. Wenn nun die Gesamtheit der tensregeln und um den Parteienfinanzierungsskandal Abgeordneten des Bundestages Vertreter des gesam- zeigen aber, daß der Kauf oder Verkauf von Stimmen ten Volkes sein soll, soll es dann nicht erforderlich für bestimmte Abstimmungen gar nicht das eigentli- sein, daß sich die einzelnen Abgeordneten auch an che Problem ist. Ich möchte sagen: Es geht oder es diesen Gesamtinteressen orientieren? Ein solches sollte in unserer Debatte auch um das viel komplexere Gebot ist Verfassungsrechtlern unter dem Begriff der Problem gehen, das ja schon angedeutet worden ist, Gemeinpflichtigkeit des Mandats bekannt. nämlich um die Frage der Beeinflussung politischer Macht durch das große Geld insgesamt. Man könnte In der gesellschaftlichen und politischen Ordnung frei nach Bertolt Brecht sagen: Der strafrechtlich der Bundesrepublik Deutschland ist es — das ist hier verfolgbare Stimmenkauf verhält sich zu diesem Pro- heute mehrfach gesagt worden — nun aber offenbar blem wie der Einbruch in eine Bank zur Gründung so, daß kein Abgeordneter umhin kann, sich bestimm- einer Bank. ten Interessengruppen, insbesondere Parteien anzu- schließen, die aber wiederum selbst an bestimmten Damit komme ich notwendigerweise auf die Pro- Interessengruppen orientiert sind. Parteien und bleme zu sprechen, die in den Verhaltensregeln Abgeordnete sind in ihren politischen Interessen und aufgeworfen worden sind. Es geht um die vielfältigen Tätigkeiten real vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. Nebentätigkeiten der Abgeordneten für Industrie- Die Antwort — offenbar auch der SPD — lautet nun, und Versicherungsunternehmen und Banken in Form daß sich die Orientierung auf das Gemeinwohl des von Beraterverträgen, Tätigkeiten im Aufsichtsrat Gesamtparlaments gleichsam automatisch aus der oder Verwaltungsrat und sogar Geschäftsführungstä- Orientierung der einzelnen Gruppen und ihrer Abge- tigkeiten. Sie bringen, wie man immer wieder lesen ordneten auf ihre jeweiligen Interessen ergibt, etwa kann, Beträge von 200 000 bis 500 000 DM jährlich nach dem Motto: Jeder für sich und das Gemeinwohl ein. Diese Einnahmen werden nun keineswegs als für uns alle. Diese Vorstellung vom Parallelogramm unzulässig betrachtet. Nach § 44a Abs. 2 Nr. 4 des der Kräfte setzt allerdings die gleiche Kraft der ver- Abgeordnetengesetzes und § 9 der Verhaltensregeln schiedenen Gruppen sowie die öffentliche Durchsich- sind die mit den genannten Tätigkeiten verbundenen tigkeit ihres Einflusses voraus. oder durch sie begründeten Einnahmen nur dann unzulässig, wenn die Tätigkeiten von dem Abgeord- Angesichts der offensichtlichen Macht des Geldes neten tatsächlich nicht geleistet werden, er aber ist diese Vorstellung von der Parität der Mittel jedoch dennoch das Geld bezieht. Werden sie jedoch tatsäch- nur ein frommer Wunsch, aber keine Realität. Viele lich geleistet oder sonstwie nachgewiesen, so fragt der Abgeordneten scheinen — wie ihre Parteien — so niemand mehr danach, ob nicht dennoch von dem an bestimmte Interessengruppen gebunden zu sein, Abgeordneten ein bestimmtes Verhalten erwartet und daß selbst Erscheinungen wie massenhafte Arbeitslo- diese Erwartung von ihm dann auch erfüllt wird. sigkeit oder Wohnungsnot sie nicht aus der Ruhe bringen können. Nach den genannten Regeln sind im Umkehrschluß Die deutsche Industrie macht gegenwärtig ein Rie- auch Kulanzzahlungen, d. h. die Weiterzahlung von sengeschäft mit der Treuhand. Der vielfältig Gehältern von Unternehmen für ihre Angestellen, gebrauchte Ausdruck „negativer Kaufpreis" heißt ja, auch dann nicht unzulässig, wenn der Abgeordnete daß der Käufer für den Erwerb auch noch bezahlt wird. keinerlei Tätigkeit mehr für das Unternehmen Ist unser Parlament gegenüber diesen vitalen Interes- erbringt. Eine solche Erwartung erscheint nicht ein- sen genügend widerstandsfähig? mal dann als nachweisbar, wenn der Abgeordnete von dem kulanten Unternehmen im Einzelfall um die Offenbar kann man nicht auf eine sich selbst her- Unterstützung eines bestimmten Interesses gebeten stellende Parität vertrauen. Es ist vielmehr — so sehe wird. Insgesamt verfügt ca. ein Drittel der Mitglieder ich jedenfalls die Dinge — auch durch gesetzgeberi- des Hauses zusätzlich zu den Abgeordnetendiäten sche Maßnahmen dafür zu sorgen, daß der finanzielle Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5925

Dr. Uwe-Jens Heuer Einfluß auf die Abgeordneten und damit deren subtile Sanktionen bei Pflichtverstößen bis hin zur Mißbilli- Korrumpiertheit eingeschränkt wird. Ich denke, Rea- gung durch das Parlament. list zu sein. Ich halte eine wesentliche Einschränkung Ich möchte dem Abgeordneten van Essen sehr des politischen Einflusses des großen Geldes unter zustimmen, daß wir auch in diesem Zusammenhang den Verhältnissen dieser Gesellschaft für wünschens- über die Verhaltensregeln diskutieren sollten. Ich wert, aber nur begrenzt möglich. Was aber jedenfalls meine, wenn wir es ernst meinen mit einem demokra- mehr angestrebt werden soll, ist größere Öffentlich- tischen gemeinwohlverpflichteten Abgeordneten, keit. Das Bundesverfassungsgericht hat die Einwir- sollten wir auch über diese Fragen diskutieren; sonst kung von Interessengruppen für verfassungsrechtlich hat unser Gesetz wohl nur eine Alibifunktion. normal und erlaubt gehalten. Es seien sogar Massen- aktionen zur Beeinflussung erlaubt; Bundesverfas- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dieter sungsgerichtsentscheidung Band 5, Seiten 85 und Wiefelspütz [SPD]: Sie haben ein bißchen 232. Derartige Aktionen sind öffentlich; ja, ihre Wir- übertrieben, Herr Heuer!) kung hängt von ihrer Öffentlichkeit ab. Der Einfluß — Ein bißchen machen Sie das doch auch! des Geldes lebt aber gerade — wenn ich es so sagen darf — von seiner Lautlosigkeit. „Das Geld flüstert", formulierten amerikanische Korruptionsforscher. Was Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- die Öffentlichkeit betrifft, so trifft die Formulierung ren, zur Gewissensfreiheit der Abgeordneten gehört vom Kapital als scheuem Reh — eine in der Volkskam- zweifelslos auch, die Priorität zu setzen, an welcher mer oft gebrauchte Formulierung — augenscheinlich Plenardebatte sie teilnehmen oder nicht. Ich bin mir zu. auch der Problematik bewußt, über die wir, glaube ich, im Ältestenrat noch einmal zu diskutieren haben Wie ist nun die Lage in bezug auf die Verhaltens- werden, nämlich Plenardebatten zu einem Zeitpunkt regeln? Sie kennen keine Einschränkungen hinsicht- anzusetzen, wo Ausschußsitzungen stattfinden und lich weiterer Tätigkeit von Abgeordneten neben ihrer andere Gremien tagen. Tätigkeit als Abgeordneter — mit Ausnahme der Heute haben wir es allerdings mit einem Phänomen Tätigkeit im öffentlichen Dienst. Sonst können sich die zu tun, das ich nicht ganz verdrängen kann. Die größte Abgeordneten grundsätzlich unbeschränkt finanziell Fraktion dieses Hauses — jetzt ist noch schnell ein an irgendein Unternehmen binden. Es gibt Anzeige- Parlamentarischer Staatssekretär aufgetaucht, der pflichten für bestimmte Nebentätigkeiten und für aus anderem Grunde da ist, nämlich weil er gleich in Einkünfte ab einer bestimmten Höhe. Die anzuzei- der Fragestunde auftreten wird — ist zur Zeit durch genden Einkünfte müssen aber nicht einmal veröf- die Vertreter auf der Regierungsbank, durch die fentlicht werden. Die Nebentätigkeiten werden im Parlamentarische Geschäftsführerin, die Schriftführe- Amtlichen Handbuch des Bundestages veröffentlicht, rin und den amtierenden Präsidenten vertreten. Nicht für das sich aber anscheinend kaum jemand interes- einmal die Kollegen, die in dieser Debatte gesprochen siert. Spenden müssen nicht einmal veröffentlicht haben, sind noch da. Ich finde, das gehört zu den werden. Falls Abgeordnete ihren Anzeigepflichten Dingen, über die wir auch ruhig — es tut mir leid, daß nicht oder nur unzureichend nachkommen oder unzu- es meine eigene Fraktion ist — einmal sprechen lässige Zuwendungen erhalten, sind die Möglichkei- müßten. So dürfen wir nicht weitermachen! ten für den Bundestag, Zwang auszuüben oder Sank- tionen auszusprechen, nur sehr gering. Die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP tagspräsidentin hat allerdings das Recht, festgestellte und der PDS/Linke Liste) Verhaltensverstöße in einer Drucksache zu veröffent- Ich erteile als letztem in dieser Debatte dem Parla- lichen. mentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Rainer Funke, das Wort. Wir meinen, daß gerade in bezug auf die Verhal- tensregeln mehr notwendig ist. Ich weise darauf hin, daß andere Länder erheblich radikaler sind. In den Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- USA wird beispielsweise das Einkommen aus einer an nister der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und sich erlaubten Tätigkeit auf einen bestimmten Pro- Herren! Mit den vorliegenden Entwürfen verfolgt die zentsatz der Diäten beschränkt. In den USA und Fraktion der SPD ebenso wie die Gruppe Bündnis 90/ Großbritannien sind die Offenlegungspflichten der DIE GRÜNEN ein Anliegen, das auch von der Bun- Abgeordneten viel umfassender und tiefgreifender, so desregierung nachhaltig begrüßt wird. Ich darf in auch die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bei diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die der- Verstößen. zeitigen Koalitionsparteien in der Vergangenheit Ich akzeptiere also nicht die Alternative des Kolle- ebenfalls bereits Entwürfe vorgelegt haben, 1956 die gen Marschewski: strafwürdig oder normales politi- FDP-Fraktion und 1974 die CDU/CSU-Fraktion. Diese sches Geschäft. Wir schlagen vor, nicht durch das Entwürfe waren jeweils weitgehend mit den heute zur Strafrecht, wohl aber durch Änderung der Verhaltens- Debatte stehenden Entwürfen identisch. regeln die umfassende Information der Bevölkerung Dennoch: Wenn die Bundesregierung heute davon über die finanziellen Nebeneinkünfte der Abgeordne- absehen möchte, zu den vorliegenden Entwürfen im ten einschließlich der Spenden sowie über ihre zuge- einzelnen Stellung zu nehmen, so liegt dies vor allem lassenen Nebentätigkeiten zu sichern. Für erforder- daran, daß die Frage, in welchem Umfang es notwen- lich halten wir weiterhin die Aufstellung eines diffe- dig und vertretbar erscheint, zur Verhinderung gra- renzierten Katalogs über unzulässige Nebentätigkei- vierender Mißbräuche eine Überprüfung parlamen- ten und Nebeneinkünfte mit einer Regelung über tarischer Vorgänge durch die Justiz vorzusehen, noch 5926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Parl. Staatssekretär Rainer Funke intensiver Erörterung an Hand der hier in Betracht zu bißchen ins Gerede gekommen ist, und im Bezirksver- ziehenden Fallbeispiele bedarf. Die Bundesregierung waltungsgesetz haben, durchaus für zweckmäßig. bietet hierfür ihre Mithilfe an, um gemeinsam mit (Detlev von Larcher [SPD]: Oft ist das auch Ihnen befriedigende Lösungen zu finden. eine Farce!) — Natürlich kann das, Herr Kollege, eine Farce sein, Wir müssen Klarheit schaffen, welche Verhaltens- wenn sich der Abgeordnete nicht ordnungsgemäß weisen akzeptiert und welche untersagt zu werden verhält. Aber gerade deswegen muß man darüber verdienen, ob der von den Entwürfen vorgeschlagene nachdenken, welche Sanktionen es für ein nicht Tatbestand seinerseits geeignet ist, hinreichend ordnungsgemäßes Verhalten gibt. bestimmt die akzeptablen von den zu mißbilligenden Verhaltensweisen abzugrenzen. Das muß miteinan- Lassen Sie mich schließlich noch zu der Frage der diskutiert werden. Stellung nehmen: Wollen wir hier im Plenum wirklich Abgeordnete haben, die überhaupt keinem Beruf Unstreitig scheint mir zu sein, daß es im Bereich des mehr nachgehen können, die auch keine beratende politischen Lebens zulässig sein muß, gewisse Vor- Tätigkeit mehr wahrnehmen können? Die Gefahr, daß teile, wie etwa die Wiederwahl des Volksvertreters für wir uns auf diesem Weg sehr schnell auch in den den Fall in Aussicht zu stellen, daß der Abgeordnete politischen Elfenbeinturm begeben und nicht mehr bei seiner Stimmabgabe den Wünschen seiner Wäh- den Bezug zum wirklichen Leben haben, ist sehr lerschaft entspricht. Ebenso zweifelsfrei dürfte die groß. Entgegennahme eines Geldbetrages für eine dem (Zustimmung bei der SPD) Gewissen des Volksvertreters widersprechende Deswegen halte ich es für durchaus zweckmäßig, daß Stimmabgabe strafwürdiges Unrecht darstellen. Abgeordnete auch wegen ihrer Unabhängigkeit gegenüber ihrer eigenen Partei oder Fraktion einem Das sind zwei Extrembeispiele, aber die Kollegen Beruf nachgehen können. Auch dieses Spannungsfeld haben bereits, insbesondere Herr van Essen, darge- müssen wir bei den Beratungen mit bedenken. stellt, welch breites Spektrum es zwischen diesen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. beiden extremen Beispielen gibt. Es könnte durchaus zweifelhaft sein, welcher Fall strafwürdiges Unrecht (Beifall bei der FDP und der SPD) sein sollte und welcher nicht. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Ob tolerable von den strafrechtlich zu mißbilligen- che. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der den Verhaltensweisen allein durch das Merkmal des Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/1630 und Stimmenkaufs bzw. Stimmenverkaufs abgegrenzt 12/1739 an die in der Tagesordnung aufgeführten werden können, wird sicherlich im Laufe des Gesetz- Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vor- gebungsverfahrens noch vertieft zu prüfen sein. Die schläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die SPD-Fraktion ihrerseits sagt in der Begründung, daß Überweisungen so beschlossen. die Definition des § 433 BGB für Kauf und Verkauf Meine Damen und Herren, meine Vorgängerin hat nicht gelten soll, sondern mehr der sprachliche vorhin bekanntgeben lassen, daß die Fragestunde um Begriff. Auch da ist es natürlich sehr schwer, ob das 14.15 Uhr beginnen soll. Aber sowohl der erste Frage- — darauf ist von Herrn Kollegen Marschewski, wie ich steller als auch auf der Regierungsseite der Parlamen- meine zu Recht, hingewiesen worden, eine hinrei- tarische Staatssekretär, der antworten wird, sind chende Definition, Bestimmbarkeit nach Art. 103 bereits im Saal. Wenn Sie einverstanden sind, setzen Grundgesetz sein würde. Darüber muß man sicherlich wir uns über diese Ankündigung hinweg und begin- diskutieren. Allein die umgangssprachliche Defini- nen mit der Fragestunde.— tion von Kauf und Verkauf dürfte, wenigstens für Straftatbestände, nicht ausreichen. Gerade § 433 BGB Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: wollen Sie ja nicht als Grundlage nehmen, und wie ich meine, auch zu Recht. Aber dennoch teilt die Bundes- Fragestunde regierung mit Ihnen die Auffassung, daß hier eine — Drucksache 12/1912 — Gesetzeslücke besteht. Wir wollen gemeinsam mit Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Ihnen diese Gesetzeslücke möglichst in dieser Legis- Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung laturperiode schließen. Wir bieten unsere Hilfe an. und Technologie. Zur Beantwortung ist der Parlamen- tarische Staatssekretär Bernd Neumann erschienen. Lassen Sie mich abschließend noch kurz zu den Ich rufe die Frage 10 des Abgeordneten Norbert Vorschlägen des Kollegen Marschewski und auch von Gansel auf: Herrn van Essen Stellung nehmen. Die Vorschläge Welche Forderungen hat die Bundesregierung gegenüber der von Herrn Kollegen Marschewski sind wohl auch mit Imhausen-Chemie bislang wegen zweckentfremdeter Förde- von der Tatsache geprägt, daß er genauso wie ich aus rungsmittel oder fälliger Steuerverpflichtungen geltend ge- der Kommunalpolitik kommt. Da ist es selbstver- macht, und trifft es zu, daß die Bundesregierung anläßlich des ständlich, daß man sich in den Fällen, in denen man Verkaufs von Teilen der Imhausen-Chemie auf Forderungen befangen sein könnte, z. B. als Anwalt, weil man einen verzichtet hat? Mandanten berät, der von einem Bebauungsplan Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben betroffen ist, aus der Beratung zurückzieht und dann das Wort. natürlich auch nicht an den Abstimmungen teilnimmt. Ich halte diese Regelung, wie wir sie z. B. im Hambur- Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gischen Abgeordnetengesetz, das vor kurzem ein minister für Forschung und Technologie: Auf Grund Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5927

Parl. Staatssekretär Bernd Neumann von Verstößen gegen die Abrechnungsvorschriften Fest steht, daß unsere dinglichen Sicherungen, fordert der BMFT von der Imhausen-Chemie GmbH bezogen auf die der anderen Gläubiger, nachrangig eine Rückzahlung von insgesamt 11,7 Millionen zu behandeln sind, so daß es gar keine Chance DM. gegeben hätte, sie in irgendeiner Weise zu realisie- Zur Höhe der Steuerverpflichtungen der Imhau- ren. sen-Chemie kann die Bundesregierung keine Aus- Wir standen vor der Situation, daß ein anderes kunft geben. Das Steuergeheimnis (§ 30 Abgabenord- Unternehmen, ein neues Unternehmen, beträchtliche nung) verbietet es, Auskünfte über die Steuerschul- Vermögensteile der Imhausen-Chemie aufkaufen den und den Erlaß von Steuerschulden der Imhausen wollte, was im Hinblick auf die Strukturschwäche Chemie zu machen. Im übrigen werden die Besitz- dieses Raumes und die Sicherung von 120 Arbeits- und Verkehrssteuern durch die Landesfinanzbehör- plätzen in der Tat richtig und wichtig ist. Hier gab es den verwaltet. Verhandlungen zwischen dem Käufer, dieser Firma, Es trifft nicht zu, daß die Bundesregierung auf und — natürlich — den Gläubigern. Als Paket ist Forderungen verzichtet hat. Allerdings wird die Bun- herausgekommen, daß wir — im Verhältnis zu den desregierung gegen Zahlung von 1,5 Millionen DM Finanzbehörden — von den Summen, die uns norma- aus dem Verkaufserlös der wesentlichen Teile des lerweise zustanden, 1,5 Millionen DM realisieren Imhausen-Chemie-Vermögens dingliche Sicherhei- konnten — das war sozusagen schon eine Gegen- ten freigeben. Darin liegt kein Verzicht, weil diese gabe — und, bezogen auf diese Vermögensteile, auf Sicherheiten gegenüber den höheren Steuerforderun- die dingliche Sicherung verzichtet haben; sonst wäre gen der Finanzverwaltung nachrangig und daher der Kauf gar nicht zustande gekommen. Aber sie wäre praktisch wertlos waren. auch faktisch wertlos gewesen, weil die Finanzbehör- den als erste ein Zugriffsrecht gehabt hätten. Im übrigen wird von dieser Freigabe der Fortbe- Insofern sind wir mit den Möglichkeiten, die wir stand der BMFT-Forderungen nicht berührt, ebenso- wenig wie der Fortbestand von Schadensersatzan- haben, sorgsam umgegangen. Wir haben also nicht sprüchen gegen Verantwortliche der Imhausen-Che- auf etwas verzichtet, was wir noch hätten erreichen mie GmbH wegen falscher Abrechnungen. können, sondern haben uns — letztlich auch im Inter- esse der Sicherung dieser Arbeitsplätze — zu diesem Kompromiß entschlossen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gansel, Zusatzfrage. Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel. Norbert Gansel (SPD): Aus welchen Gründen ver- zichtet die Bundesregierung gegenüber dem Eigentü- Norbert Gansel (SPD): Das wird eine Doppelfrage: mer der Imhausen-Chemie, Hippenstiel, der wegen Erstens. Aus welchen Gründen macht die Bundesre- der Beteiligung an dem Bau der libyschen Giftgas- gierung nur eine Schadensersatzforderung von etwas fabrik rechtskräftig verurteilt worden ist, beim Ver- über 11 Millionen DM geltend, wenn von dem Gift-- kauf von Teilen des Unternehmens auf dingliche gasfabrikanten 26 Millionen DM aus öffentlichen Mit- Sicherheiten, da diesbezüglich doch ein beträchtli- teln erschwindelt worden sind? cher Wert vorhanden sein muß, wie der Kaufwert von Zweitens. Warum hat die Bundesregierung ihre Teilen des Unternehmens trotz der selbstverursachten Forderungen in Anbetracht des beträchtlichen Privat- Rufschädigung ausweist? vermögens des Herrn Hippenstiel noch nicht einge- trieben, das ja auch darin besteht, daß er die Verfü- gung über die ihm im Zusammenhang mit dem Bau Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Herr Abge- der Giftgasfabrik gezahlten Gelder behalten hat? ordneter Gansel, hier müssen zwei Bereiche unter- schieden werden: Zum einen geht es um die Forde- Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Sie können rung von Schadenersatz gegen den Geschäftsführer. davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung über Der BMFT fordert diesen Schadenersatz in Höhe von jede zusätzliche Mark freut, die diesen Haushalt zunächst 2,9 Millionen DM, da ein Betrugstatbestand bereichert, und daß sie alle möglichen Schritte tut, um in Höhe dieses Betrages sicher nachweisbar ist. — Das an das Geld zu kommen, das ihr zusteht. Daß dies von ist der eine Bereich. einer Reihe auch rechtlicher Entscheidungen ab- Der andere Bereich bezieht sich auf die Forderung hängt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Insofern gibt im verwaltungsrechtlichen Sinne. Hier haben wir auf es für mich mindestens keine Kenntnis darüber, daß Grund der Aktenlage festgestellt, daß von der Summe wir in irgendeiner Weise nachlässig oder nicht zügig für die bewilligten Projekte, die, was unser Haus uns ere Forderungen einzutreiben versuchen. angeht, eine Größenordnung von insgesamt 26,9 Mil- In der ersten Frage, Herr Abgeordneter Gansel, lionen DM ausmacht, die Summe, die auf Grund haben Sie gesagt: Über 26 Millionen DM waren falscher Angaben auch ausgezahlt wurde, nämlich bewilligt und ausgezahlt, und es werden nur 11,7 Mil- 11,7 Millionen DM, zurückzufordern ist. lionen DM zurückgefordert. — Im Laufe der Projekte, Nun ist es so, daß nicht nur wir, sondern auch eine die ja nicht erst 1989, als der Rabta-Skandal aufkam, Reihe privater Gläubiger Forderungen haben. Be- begannen, also schon in den vorangegangenen Jah- trächtliche Forderungen, über deren Höhe ich aus den ren, sind tatsächliche Leistungen mit Ausgaben genannten Gründen keine Auskunft geben kann, erfolgt, so daß es auch aus rechtlichen Gründen nicht werden von den Finanzbehörden Baden-Württem- möglich gewesen wäre, all das zurückzufordern. Wir bergs gestellt. haben uns auf die Tatbestände konzentriert, die sich 5928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Parl. Staatssekretär Bernd Neumann auf falsche Angaben und betrügerische Maßnahmen Warum können Sie das nicht einfach dementieren? bezogen. Diese Tatbestände haben nach genauer Damit bringen Sie sich doch aus dem Schneider. Kalkulation diese Summe ergeben. Mehr war nicht drin. Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich sagte schon eingangs, daß wir bereit sind, Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage, dem zuständigen Gremium zu antworten, auch auf Herr Abgeordneter Müntefering. diese Frage. Aber wenn Sie es so sehen wollen, gibt es theoretisch und praktisch natürlich die Möglichkeit, Franz Müntefering (SPD): Herr Staatssekretär, ist daß Nachrichtendienste ein solches Vorgehen prakti- von den Forderungen der Bundesregierung über- zieren. Dies ist für mich überhaupt keine Frage. Ich haupt schon etwas realisiert worden? Ist schon irgend will nur — was ich eingangs sagte — nicht hier in der etwas von dem Geld gekommen? Wieviel? Öffentlichkeit über die Praxis von Nachrichtendien- sten Auskunft geben. Dazu gehört, daß ich weder Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ja. Es ist eine dementiere noch bestätige, ich aber der PKK darüber Teilsumme eingetroffen, und zwar, wenn ich richtig Auskunft geben werde bzw. die PKK über diese informiert worden bin, von den 1,5 Millionen die erste Vorgänge bereits informiert wurde. Rate von 750 000 DM. (Norbert Gansel [SPD]: Sonst nichts?) Vizepräsident Hans Klein: Die zweite Zusatzfrage. (SPD): Können Sie in allgemeiner Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen? — Norbert Gansel Das ist nicht der Fall. Ich danke, Herr Parlamentari- Form bekanntgeben, an welcher Giftgasfabrik in scher Staatssekretär Neuman, für die Beantwortung. welchem Land sich ein deutscher Staatsbürger betei- ligen muß, damit auch er von der Bundesregierung ein Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Paket mit Sekt und Kaviar und Gänseleberpastete kanzleramts. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmi- erhält? nister Bernd Schmidbauer zur Verfügung. Ich rufe die Frage 11 unseres Kollegen Norbert Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Darüber will Gansel auf: ich in dieser Fragestunde keine Auskunft geben. Aber Ist die Meldung im „Spiegel" (52/91) zutreffend, daß der schon die Qualität der Frage hat darauf abgehoben, Geschäftsführer der Salzgitter-Industriebau GmbH , Andreas daß ich darüber keine Auskunft geben kann und Böhm, von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes ein Paket mit Kaviar und Gänseleberpastete erhalten hat, nachdem will. die Beteiligung des Unternehmens am Bau der Giftgasfabrik in (Ulrich Irmer [FDP]: Für Sozis gibt's nur Rabta/Libyen öffentlich bekanntgeworden ist, und seit wann haben Kontakte zwischen Andreas Böhm und Mitarbeitern des Pressack!) Bundesnachrichtendienstes bestanden? Herr Staatsminister, Sie haben das Wort. Vizepräsident Hans Klein: Möchte zu diesem The- menbereich noch jemand eine Zusatzfrage stellen? — Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Herr Staatsmi- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Herr Kollege, die Bundesregierung kann in nister. der Öffentlichkeit keine Angaben über die Kontakte Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- des Bundesnachrichtendienstes machen. Auskunft nisters für Bildung und Wissenschaft. Der Parlamen- über nachrichtendienstliche Tätigkeit kann nur dem tarische Staatssekretär Torsten Wolfgramm ist zur für die Kontrolle zuständigen Gremium gegeben wer- Beantwortung erschienen. den, also der PKK. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die Ich rufe die Frage 32 des Abgeordneten Christian von Ihnen zitierte Person dem Bundesnachrichten- Müller auf: dienst zu keiner Zeit über die Errichtung einer Gift- Wie viele Ingenieure gibt es in den neuen Bundesländern, gasanlage in Rabta berichtet hat. gegliedert nach Abschlüssen an Fachschulen, Technischen Hochschulen, Ingenieurschulen und Universitäten sowie we- Die erste Zusatzfrage, sentlichen Fachrichtungen, und wie sehen die entsprechenden Vizepräsident Hans Klein: Relationen zu Abschlüssen und Fachrichtungen in den alten Herr Kollege Gansel. Bundesländern — auch hinsichtlich des Verhältnisses Anzahl der Ingenieure zur Bevölkerungszahl und -dichte in den jewei- Norbert Gansel (SPD): Ich habe Verständnis, wenn ligen Bundesländern — aus? die Bundesregierung nicht in jedem Fall operative Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben Einzelheiten über Kontakte zu einem BND-Informan- das Wort. ten bekanntgeben will, obwohl es in diesem Fall — Beteiligung deutscher Firmen; mögliches Wissen Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär beim Bun- der Bundesregierung über den Bau einer Giftgasfa- desminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Präsi- brik in Libyen — besondere Gründe geben sollte, die dent! Herr Kollege Müller, ich erlaube mir, vor der Öffentlichkeit zu informieren. eigentlichen Beantwortung der Frage 32 ein paar Aber warum ist die Bundesregierung nicht in der Punkte mit Ihrem Einverständnis vorauszuschicken. Lage, klipp und klar zu sagen: Es trifft nicht zu, daß der Der erbetene statistische Vergleich zur Zahl der Informant des Bundesnachrichtendienstes, der am Ingenieure in der Bundesrepublik vor der Vereini- Bau der Giftgasfabrik in Libyen beteiligt war, nach- gung und in der DDR kann nur mit folgenden Ein- dem der Bau der Giftgasfabrik unter deutscher Betei- schränkungen erfolgen: ligung in der Öffentlichkeit bekannt wurde, eine Kiste Während die DDR Ingenieure sowohl in Hochschu- mit Kaviar und Gänseleberpastete erhalten hat. len als auch in Fachschulen ausgebildet hat, wurden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5929

Parl. Staatssekretär Torsten Wolfgramm in der Bundesrepublik seit 1968 Ingenieure nur an Differenziert nach Hochschularten verteilen sich die Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen, Absolventen zu 36 % auf die Universitäten und zu also Hochschulen, ausgebildet. Das Qualifikations- 64 % auf die Fachhochschulen, wobei zu berücksich- niveau von Ingenieuren, die an Fachschulen der DDR tigen ist, daß die Fachhochschulen erst Ende der 60er ausgebildet wurden, entspricht nicht voll dem von Jahre gegründet wurden und dementsprechend erst Fachhochschulabsolventen. seit 1973 Absolventen von dort kommen. Aus diesem Grunde hat die Kultusministerkonfe- Dritter Teil. Bezogen auf den jeweiligen Jahrgang renz beschlossen, daß die Gleichwertigkeit von Inge- ist die Zahl der Absolventen ingenieurwissenschaftli- nieurabschlüssen mit einem Fachhochschulabschluß cher Fächer in der ehemaligen DDR etwa zwei- bis gemäß Art. 37 Einigungsvertrag grundsätzlich nur dreimal so hoch gewesen wie in der Bundesrepublik nach dem Erwerb zusätzlicher Qualifikationen festge- Deutschland. Bezogen auf je 1 000 Beschäftigte in der stellt werden kann. Industrie hat die Zahl der Ingenieure in der DDR kontinuierlich zugenommen, von 31 in 1961 auf 120 im Ein Vergleich zwischen den Fachschulingenieuren Jahre 1985. Im selben Zeitraum ist die vergleichbare der DDR und den Absolventen der Vorgängereinrich- Zahl in der Bundesrepublik Deutschland von 29 auf 48 tungen der Fachhochschulen in der Bundesrepublik angewachsen. Differenziertere Angaben dazu kön- macht heute keinen Sinn mehr, weil diese Ausbildung nen im Augenblick nicht gemacht werden, weil die seit etwa 1970 ausgelaufen ist. entsprechenden Daten nicht zur Verfügung stan- den. Die Einbeziehung von Technikerqualifikationen in den erbetenen statistischen Vergleich ist nicht ange- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Müller, zeigt, weil diese zwar auch in den Vorgängereinrich- wünschen Sie eine Zusatzfrage zu stellen? — Bitte tungen der Fachhochschulen, nicht aber an den Bil- sehr. dungseinrichtungen der DDR vermittelt wurden. (Zittau) (SPD): Herr Staatssekretär, Das wollte ich zum Verständnis vorausschicken. Christian Müller hält die Bundesregierung berufliche Praxis über einen Die folgenden Angaben erfolgen im übrigen unter noch näher zu definierenden Zeitraum für eine der dem Vorbehalt einer noch nicht hergestellten Kompa- möglichen Voraussetzungen für die Nachdiplomie- tibilität statistischer Daten und von Mängeln in den rung? zur Verfügung stehenden statistischen Unterlagen. Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich Erstens. Im Zeitraum von 1961 bis 1989 wurden in nehme an, daß Sie auf den Kultusministerbeschluß der DDR 550 000 Ingenieure ausgebildet, davon abheben, der für diejenigen, die keinen Facharbeiter- 183 900 Ingenieure an Hochschulen und 357 600 abschluß haben, im Augenblick keine Umsetzung der Ingenieure an Fachschulen. Hinzu kommen ca. Führung dieser Bezeichnung vorgesehen hat. Ich bin 100 000 Ingenieure, die vor 1961 an den genannten der Meinung, daß durch die Festlegung einer entspre- Bildungseinrichtungen ausgebildet worden sind. chenden Zeitspanne von beruflicher Erfahrung durch- Der Schwerpunkt der Ingenieurausbildung in der aus eine Möglichkeit gegeben wäre, das entspre- DDR lag in den vergangenen Jahren in den Fachrich- chend gleichzusetzen. tungen Maschinenwesen, Elektrotechnik, Elektronik Eine weitere Zusatz- und Bauwesen. Vizepräsident Hans Klein: frage. Der prozentuale Anteil an den Hochschulen belief sich dabei auf 25 % beim Maschinenwesen, auf 30 % Christian Müller (Zittau) (SPD): Ich glaube, das ist bei der Elektronik und Elektrotechnik und auf 20 % ein bißchen falsch angekommen. Darf ich nachsetzen? beim Bauwesen, an den Fachschulen auf 30, 16 und — Ich meinte die berufliche Praxis nach dem Erwerb 13%. des Ingenieurabschlusses. Differenziert nach Hochschularten kamen die Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ja, das Absolventen der Ingenieurwissenschaften im Jahre meinte ich. 1990 zu 51 % aus den Universitäten, zu 26 % aus den Technischen Hochschulen, zu 21 % aus Spezialhoch- Christian Müller (Zittau) (SPD): Gut, okay. — Die schulen und zu 2 % aus Ingenieurhochschulen. zweite Frage: Sind der Bundesregierung Maßnahmen oder Maßnahmepläne der Länder bekannt, um die Zweitens. Im Zeitraum von 1961 bis 1989 wurden in Nachdiplomierung in Gang zu setzen? der Bundesrepublik Deutschland 448 136 Ingenieure ausgebildet, davon 162 277 Ingenieure an Universitä- Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Für das ten, 285 859 Ingenieure an Fachhochschulen. Hinzu spezielle Problem, das ich eben angesprochen habe, kommen ca. 30 000 Ingenieure, die vor 1961 im gibt es augenscheinlich keine Überlegungen. Aber Universitätsbereich ausgebildet worden sind. ich habe deutlich gemacht, daß ich der Meinung bin, Der Schwerpunkt der Ingenieurausbildung in der daß Abhilfe geschaffen werden sollte. Bundesrepublik lag in den Fachrichtungen Maschi- Vizepräsident Hans Klein: Werden zur Frage 32 aus nenbau, Elektrotechnik und Bauingenieurwesen. dem Kreis der Kollegen weitere Zusatzfragen gestellt? Der prozentuale Anteil an den Universitäten belief — Das ist nicht der Fall. sich dabei auf 30, 27 und 9 %, an den Fachhochschulen Dann rufe ich die Frage 33 auf, ebenfalls gestellt auf 38, 28 und 10 %. vom Kollegen Christian Müller. 5930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Vizepräsident Hans Klein Welchen Wert mißt die Bundesregierung den Ingenieuren für Vizepräsident Hans Klein: Keine weitere Zusatz- den Aufbau in den neuen Bundesländern, insbesondere für das Gelingen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost", bei, frage? — Aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen und wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammen- auch nicht? — hang den Kenntnis- und Erfahrungsstand der Ingenieure aus Dann rufe ich die Frage 34 des Kollegen Dr. Rainer den neuen Bundesländern, auch in Relation zu demjenigen der Ingenieure in den alten Bundesländern, bezogen auf die jewei- Jork auf: ligen spezifischen Fachrichtungen? Wie beurteilt die Bundesregierung den Beschluß der Kultus- Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben ministerkonferenz „zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikels 37 Abs. 1 des Eini- das Wort. gungsvertrages" bei den Fach- und Ingenieurschulabschlüssen, und inwieweit sind Ingenieure, die nach dem Abitur, jedoch ohne Facharbeiterabschluß eine Ingenieurschule erfolgreich Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- abgeschlossen haben, in den Beschluß der Kultusministerkonfe- lege Müller, die Bundesregierung mißt den Ingenieu- renz miteinbezogen? ren für den Aufbau in den neuen Bundesländern, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben insbesondere für das Gelingen des Gemeinschafts- wieder das Wort. werkes „Aufschwung Ost", große Bedeutung bei. Sie geht davon aus, daß sie entscheidend zu einer Steige- Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- rung der Produktivität in der Wirtschaft und zur lege Dr. Jork, die Bundesregierung hat den Beschluß Modernisierung von Produktionsanlagen und der Ent- der Kultusministerkonferenz vom 10./11. Oktober wicklung neuer Produkte beitragen können und wer- 1991 zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bil- den. dungsabschlüssen im Sinne des Art. 37 Abs. 1 des Soweit für sie der Erwerb zusätzlicher Kenntnisse Einigungsvertrages begrüßt. Die von der Kultusmini- und Fertigkeiten notwendig ist, gibt es im Rahmen des sterkonferenz vorgenommene Bewertung der Fach- gemeinsamen Erneuerungsprogramms für Hoch- und Ingenieurschulabschlüsse der DDR scheint unter schule und Forschung in den neuen Ländern vom hochschulpolitischen, sozialen und deutschlandpoliti- 11. Juli 1991 die Möglichkeit zu ergänzenden Quali- schen Gesichtspunkten angemessen. fizierungsmaßnahmen. Die Entscheidung darüber Der Beschluß der Kultusministerkonferenz regelt treffen die neuen Länder. die Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen jedoch nicht erschöpfend. Wir haben das eben schon bei der letzten Frage mit behandelt. So sind Ingenieure, die Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. nach dem Abitur, jedoch ohne Facharbeiterabschluß eine Ingenieurschule erfolgreich abgeschlossen ha- Christian Müller (Zittau) (SPD): Sieht es die Bundes- ben, in den Beschluß der Kultusministerkonferenz regierung aus heutiger Sicht als ein möglicherweise nicht einbezogen. eingetretenes Versäumnis an, daß im Prozeß der Einbezogen sind nur die Abschlüsse derjenigen deutsch-deutschen Einigung den Ingenieurschulen in Fachrichtungen, in denen in den alten Ländern, wenn der DDR, ähnlich wie das 1968 in der Bundesrepublik auch zum Teil mit anderer Zuordnung oder Bezeich- geschah, durch eine Übergangsregelung generell der nung, Fachhochschulabschlüsse erworben werden Weg zur Fachhochschule nicht eröffnet worden ist? können und für die als Eingangsvoraussetzung in der DDR der Abschluß der zehnjährigen polytechnischen Oberschule, eine abgeschlossene Berufsbildung Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das ist — Facharbeiterabschluß in diesem Fall — und in der eine sehr schwierige Frage, Herr Kollege. Der Fall in Regel eine mindestens einjährige Berufstätigkeit der Bundesrepublik liegt zwanzig Jahre zurück. gefordert worden sind. Damals hat man bei der Einrichtung von Fachhoch- schulen für einen gewissen Zeitraum entsprechende Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Jork, wollen Abstriche in Kauf genommen. Es wäre also keine Sie eine Zusatzfrage stellen? Wettbewerbsgleichheit im Vergleich zu den heutigen Fachhochschulen, wenn man für die bestehenden Dr.-Ing. Rainer Jork Ingenieurschulen diesen Weg beschreiten würde. (CDU/CSU): Ja, bitte. — Herr Staatssekretär, welchen Wert hat aus der Sicht der Wenn Fachhochschulen eingerichtet werden, h andelt Bundesregierung die Anerkennung des Titels „Inge- es sich in jedem Fall um eine Neugründung mit den nieur", bezogen auf die Einstellung in einen Be entsprechenden Qualitätsanforderungen an Professo- trieb? ren und Mitarbeiter. Oder anders gesagt: Führt die Anerkennung des Titels zur Einstellung eines Diplomingenieurs (FH)? Es gibt Überlegungen, die bisher aber nur marginal gediehen sind, im Bereich der Berufsakademien tätig Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Aner- zu werden. Baden-Württemberg hat sich in diesem kennung soll natürlich versuchen, die Gleichwertig- Bereich sehr engagiert. Ganz augenscheinlich sieht es keit eines Ingenieur- und Fachschulabschlusses mit so aus, daß sich auch Sachsen und Berlin diesem Weg dem eines Fachhochschulabschlusses herzustellen. der Berufsakademien nähern wollen. Wir müssen Sie hat wesentlich das Ziel, daß am Arbeitsmarkt eine dabei aber berücksichtigen, daß es dafür in der entsprechende Gleichwertigkeit erreicht werden Europäischen Gemeinschaft bisher keine Anerken- kann. Ob das jeweils im Einzelfall geschieht und ob im nung gibt. Auch die KMK müßte dann einverstanden Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer das sein. jedesmal voll zum Tragen kommt, ist dann Sache der (Christian Müller [Zittau] [SPD]: Vielen Bewertung des Einzelfalls. Aber generell ist das Dank, Herr Staatssekretär!) jedenfalls die Zielvorstellung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5931

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage? diums in den neuen Bundesländern hat sich der Wissenschaftsrat mit seinen Empfehlungen zu den Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ja, bitte. —Es geht Ingenieurwissenschaften an den Universitäten und mir noch einmal um die Frage der Gleichwertigkeit. In Technischen Hochschulen der neuen Länder und den dem Beschluß der KMK, den Sie vorhin bereits zitier- Empfehlungen zur Errichtung von Fachhochschulen ten, ist der Begriff der Einschlägigkeit der dreijähri- in den neuen Ländern am 5. Juli 1991 geäußert. gen Berufstätigkeit benannt. Uns ist bekannt, daß die Auf der Basis einer Bestandsaufnahme hat der Industrie in den neuen Bundesländern weitgehend Wissenschaftsrat dabei eine Reihe von Empfehlungen nicht mehr oder nicht mehr so existiert wie früher. Wer genereller Art zur Entwicklung der Ingenieurfächer beurteilt aus der Sicht der Bundesregierung die Ein sowie spezielle Stellungnahmen zu jeder Hochschule schlägigkeit? mit einem Ingenieurfach erarbeitet. Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Nach dem Im Ergebnis empfiehlt der Wissenschaftsrat, die drei Beschluß der KMK wird die Beurteilung der Einschlä- bisherigen Technischen Universitäten in Dresden, gigkeit von den für das Hochschulwesen zuständigen Chemnitz und Magdeburg sowie die Bergakademie Ministern oder Senatoren der einzelnen Länder vor- Freiberg und die Hochschule für Architektur und genommen. In Berlin ist der Senator für Wissenschaft Bauwesen In Weimar zu erhalten und auszubauen. und Forschung zuständig. Es ist davon auszugehen, Die Technische Hochschule Ilmenau soll Technische daß gemeinsame Absprachen der Länder noch ent- Hochschule mit Universitätsrang bleiben, während wickelt werden. die Technische Hochschule Leuna/Merseburg künftig als Technische Fakultät der benachbarten Universität Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfragen von ande- Halle/Wittenberg in Universitätsrang fortgeführt wer- ren Kolleginnen oder Kollegen? — Das ist nicht der den soll. Fall. Aus den bisher drei Ingenieurhochschulen sowie Dann rufe ich die Frage 35 auf, die ebenfalls der den übrigen Technischen Hochschulen sollen Fach- Kollege Dr. Jork gestellt hat: hochschulen gegründet werden. Insgesamt empfiehlt Wie viele Studenten aus den neuen Bundesländern studieren der Wissenschaftsrat die Gründung von zwanzig Ingenieurwissenschaften in den alten Bundesländern und Fachhochschulen in den neuen Ländern. umgekehrt, und wie wird die Zukunft des Ingenieurstudiums in Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist Sache der den neuen Bundesländern aussehen? Länder. Zum Teil sind sie bereits realisiert. Im Ergeb- Zur Beantwortung wieder der Parlamentarische nis wird dann für die Ingenieurwissenschaften in den Staatssekretär Torsten Wolfgramm. neuen Ländern ein differenziertes Hochschulsystem aus Universitäten und Fachhochschulen entstehen, Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- das von seiten des Bundes nicht nur im Rahmen der lege Dr. Jork, die gewünschten Angaben sind aus der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, sondern auch Bundesstatistik für das Hochschulwesen nicht zu aus Mitteln des gemeinsamen Erneuerungspro- ermitteln. Lediglich die Hochschul-Informations- gramms für Hochschulen und Forschung in den neuen- System GmbH in Hannover, kurz: HIS, befragt seit Ländern vom 11. Juli 1991 gefördert wird. 1983 in jedem Wintersemester auf freiwilliger Basis — auf Stichprobenbasis — mit Förderung durch den Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft die deutschen Studienanfänger nach einer Stichproben- (CDU/CSU): In welchem methodik, urn Informationen über den Prozeß der Dr.-Ing. Rainer Jork Umfang — absolut und relativ zu den Ingenieurab- Studienaufnahme zu gewinnen und bereitzustellen. schlüssen — wird die Umwandlung des früheren Seit Wintersemester 1990/91 sind die neuen Bundes- Fachschulingenieurstudiums auf dem Gebiet der länder in die Untersuchung einbezogen. neuen Bundesländer in Ausbildungsformen der beruf- Daten aus den Untersuchungen im Wintersemester lichen Bildung, der Berufsakademien und der Fach- 1990/91 weisen aus: Der Anteil der deutschen Stu- hochschulen erwartet? dienanfänger, die in den neuen Bundesländern ihre Hochschulreife erworben haben und deren Studium Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Zu dem im Wintersemester 1990/91 an Hochschulen in den Umfang können wir nichts sagen, weil uns dazu nichts alten Bundesländern begann, betrug rund 5 %, also vorliegt. Die Entscheidung liegt bei den Ländern. knapp 6 000. Ich weise noch einmal darauf hin, daß ich vorhin Von diesen wählten zu ca. 28 % ein Studienfach in schon eine Anmerkung zu den Berufsakademien den Ingenieurwissenschaften. Dieser Anteil liegt gemacht habe. Zum Beispiel wird Mecklenburg- geringfügig über dem ihrer westdeutschen Kommili- Vorpommern seine Ingenieurschulen in Berufsschu- tonen, die die Hochschulreife in den alten Bundeslän- len umwandeln. In Sachsen werden sie möglicher- dern erworben haben. Hier sind es nicht 28 %, sondern weise in Berufsakademien umgewandelt, in Berlin 26 %. möglicherweise auch in Berufsakademien. Also sind Im Wintersemester 1990/91 war der Anteil der Fachhochschulen, auch wenn sie die Gebäude von Studienanfänger aus den alten Bundesländern, die in Ingenieurschulen übernehmen, Neugründungen. den neuen Bundesländern studierten, sehr gering. Zahlen hierüber liegen HIS allerdings nicht vor. Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. Deswegen kann ich sie auch nicht zitieren. Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Muß ich Ihre letzte Dr. Jork: Zur zukünftigen Struktur des Ingenieurstu Antwort so verstehen, daß Strukturkonzeptionen der 5932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr.-Ing. Rainer Jork Länder der Bundesregierung nicht bekannt sind und veranschlagt. Die Entscheidung über einzelne Maß- zur Zeit auch noch nicht vorgelegt werden können? nahmen liegt bei den Ländern selbst. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Der Bun- hat im Wege der Auftragsvergabe ein umsetzungsrei- desregierung sind Strukturkonzeptionen der Länder fes Konzept für Femstudienmaßnahmen zur Zusatz- über diesen eben von mir angesprochenen sehr rudi- qualifizierung von Absolventen der Ingenieurschulen mentären Bereich hinaus nicht bekannt, weil sie wohl der DDR entwickeln lassen. Es eröffnet berufsbeglei- auch noch nicht existieren. tende Qualifizierungsmöglichkeiten zum Erwerb eines Fachhochschuldiploms für etwa 70 % der Absol- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Müller, eine venten des Wissenschaftszweiges „Technische Wis- Zusatzfrage? senschaften" und etwa 24 % der Absolventen des Wissenschaftszweiges „Agrarwissenschaften" der Christian Müller (Zittau) (SPD): Herr Staatssekretär, DDR in acht ingenieurwissenschaftlichen Fachhoch- da in der ehemaligen DDR die höheren Bildungsein- schulstudiengängen. richtungen sehr ungleichmäßig verteilt waren — z. B. Die Entscheidung über die Durchführung dieser befinden sich deshalb heute etwa zwei Drittel dieser Maßnahmen, an deren Notwendigkeit aus der Sicht Einrichtungen im Bundesland Sachsen —: Hätte es des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft die Bundesregierung für sinnvoll gehalten, die Hoch- angesichts des großen Nachfragepotentials und der schulkapazitäten in dieser Form zu erhalten, auch die politischen Bedeutung dieser Maßnahmen kein Zwei- jetzt in Fachhochschulen umzuwandelnden Techni- fel bestehen kann, liegt bei den Wissenschaftsmini- schen Hochschulen zu erhalten und die Bildungsauf- stern der neuen Länder und dem Wissenschaftssena- gaben im Rahmen von Staatsverträgen zwischen den tor für Berlin, denen das Konzept vor wenigen Tagen einzelnen Bundesländern zu regeln? übersandt worden ist. Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Bun- Zur generellen Förderung der Fort- und Weiterbil- desregierung hat, ohne zuständig zu sein, empfohlen, dung der Ingenieure in den neuen Ländern stehen rasch zu einer Aussage der KMK zur Gleichwertigkeit — wie den übrigen beruflichen Fachkräften — die von Abschlüssen zu kommen. Empfehlungen, bilate- Möglichkeiten des Arbeitsförderungsgesetzes zur rale Verträge abzuschließen, möchte die Bundesre- Verfügung. gierung nicht abgeben. Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfragen? — Keine. Vizepräsident Hans Klein: Besteht der Wunsch nach Dann rufe ich die Frage 37 des Abgeordneten weiteren Zusatzfragen zu diesem Thema? — Herr Eckart Kuhlwein auf: Kollege Päselt, bitte. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentari- schen Staatssekretärs beim Bundesminister für Bildung und Dr. Gerhard Päselt (CDU/CSU): Wenn die Qualifi- Wissenschaft, Dr. , daß das Abitur seine Funk- kation der Unterrichtenden an diesen Ingenieurschu- bon als allgemeine Hochschulreife eingebüßt habe und daß sich len so schlecht war, wie erklären Sie sich dann, daß die Hochschulen ihre Studierenden z. B. durch Tests und Aus- wahlgespräche selbst aussuchen können sollten? man einen Teil der neu eingestellten Lehrer für die Fachhochschulen gerade aus diesem Kreis rekrutiert Herr Parlamentarischer Staatssekretär und Herr und nicht aus dem Kreis der Hochschullehrer? Kollege Kuhlwein, ich weiß nicht, ob die Fragen 37 und 38 der inneren Logik folgend gemeinsam beant- wortet werden sollen. Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Da ich den Einzelfall nicht kenne, unterstelle ich, daß diese Kollegen besonders gut qualifiziert waren. Eckart Kuhlwein (SPD): Nein, dieses Mal ausnahms- weise nicht. Ich bitte darum, sie getrennt zu beantwor- Vizepräsident Hans Klein: Werden zu diesem ten. Bereich weitere Zusatzfragen gestellt? — Nein. Dann rufe ich die Frage 36 unseres Kollegen Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich habe Dr. Gerhard Päselt auf: mich auf beide Möglichkeiten eingerichtet, Herr Kol- lege. Inwieweit wird die Fort- und Weiterbildung der Ingenieure in den neuen Bundesländern gefördert? Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben in ihren hochschulpolitischen Zielsetzungen vom das Wort zur Beantwortung. 29. November 1990 — Drucksache 11/8506 — festge- stellt, daß das Reifezeugnis generelle Voraussetzung Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- für den Hochschulzugang bleibt. Auf Grund der lege Dr. Päselt, ich darf die Frage 36 beantworten. Der langen Verweilzeit ist die Schule besser in der Lage, Bund und die neuen Länder — leider nicht die alten eine notwendige Auslese nach Leistung und Eignung Länder; sie haben sich daran nicht beteiligt — stellen zu treffen, als dies die Hochschulen durch zusätzliche im Rahmen eines gemeinsamen Erneuerungspro- Eingangsprüfungen könnten. gramms für Hochschule und Forschung vom 11. Juli

1991 auch Mittel für die Fort - und Weiterbildung von Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. Ingenieuren zur Verfügung. Für ergänzende Studienangebote, mit denen im Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, Sie ganzen Bundesgebiet verwertbare Abschlüsse ange- sind nicht ganz genau auf meine Frage eingegangen. strebt werden sollen, sind für 1992 5 Millionen DM Ich habe danach gefragt, ob die Bundesregierung die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5933

Eckart Kuhlwein Auffassung teilt, die Herr Parlamentarischer Staatsse- weil es der Text der hochschulpolitischen Zielsetzun- kretär Dr. Lammert öffentlich geäußert hat. Ich hätte gen ist, die Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen gerne, daß Sie meine Frage klar mit Ja oder Nein sind? beantworten. Vizepräsident Hans Klein: Eine Sekunde, Herr Par- Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Die Bun- lamentarischer Staatssekretär. Ich muß hier erst eine desregierung teilt diese Auffassung nicht, sondern sie Klarstellung treffen. Der Kollege Graf Waldburg-Zeil unterstreicht die Auffassung, die in der Koalitionsver- war klug genug, diese längere Passage, die in der Tat einbarung steht und der Politik der Bundesregierung für Fragestunden entspricht. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ungeeignet ist!) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das wäre aber ein — ungeeignet nicht — relativ ausführlich war — ich schwerer Konflikt in der Bundesregierung, will auch mit euch nicht so s treng sein —, mit der Herr Staatssekretär! — Dr. Norbert Blüm Wendung „würden Sie mir zustimmen" zu beginnen. [CDU/CSU]: So schwer wie um den Kanzler Die Frage war gleich an den Anfang gestellt, also von kandidaten!) der Form her korrekt. Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär zur Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. Beantwortung.

Parl. Staatssekretär: Die Diffe- Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, hält die Torsten Wolfgramm, Bundesregierung einen Parlamentarischen Staatsse- renzierung, die Sie vorgetragen haben, ist richtig; kretär für dieses bedeutsame Amt für ausreichend denn sie steht genauso in der Vereinbarung, und sie ist qualifiziert, dessen Äußerungen von seinem beamte- voll Gegenstand der Politik der Bundesregierung. Es ten Kollegen Schaumann laut „Die Welt" vom 5. De- ist ganz klar gesagt, daß generelle Voraussetzung für zember 1991 für töricht gehalten werden? den Hochschulzugang das Abitur, das Reifezeugnis, bleibt. Das ist die Kernposition. Sie wird durch die Position, ergänzende Nachweise zu verlangen und Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- selbst Leistungsfeststellung treffen zu können, wenn lege Kuhlwein, ich möchte — das werden Sie verste- das Reifezeugnis eine den fachlichen Anforderungen hen — über Kollegen in der Weise, die Sie prognosti- des gewählten Studiums entsprechende Vorbereitung zieren, nicht antworten. Ich möchte vielmehr festhal- nicht ausweist, ergänzt. ten, daß diese Problematik, die wir alle kennen und Die Bundesregierung weist in diesem Zusammen- die damit zusammenhängt, natürlich sehr schwierige hang auch darauf hin, daß die Länder beschlossen Fragen aufwirft und daß es dazu Einzelmeinungen haben, bei der ZVS in einer zweijährigen Erprobungs- geben kann und gibt. Aber sie sind eben nicht phase bis zu 15 % der Studienplätze an Hochschulen, Meinung der Bundesregierung. die das wollen, nach eigenen zusätzlichen Leistungs- (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Trotzdem ist kriterien zu vergeben. Das wird dazu führen, daß sich - der Lammert qualifiziert!) bestimmte Schwerpunkte bei den Hochschulen mög- licherweise noch deutlicher herausarbeiten. Wir wer- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage des Abge- den sehen, wie das wirkt. Die Bundesregierung hat ordneten Graf Waldburg-Zeil. das unterstützt. Das ist im Rahmen der koalitionspoli- tischen Grundlagen selbstverständlich. Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß Ihnen Vizepräsident Hans Klein: Zu einer weiteren Zusatz- die Beantwortung der gestellten Frage deshalb frage der Kollege Dr. Jork. schwergefallen ist, weil — fragestundengerecht — der Kollege Kuhlwein die Ansicht des Kollegen Staats- Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Staatssekre- sekretär Dr. Lammert verkürzt dargestellt hat, tär, wie beurteilen Sie, daß vom Kollegen Dr. Lammert und auch im FDP-Tagesdienst, also den Pressemittei- (Heiterkeit) lungen der FDP-Bundestagsfraktion, nicht nur eine und würden Sie mir zustimmen, daß, wenn ich die Bildungsreform und eine Hochschuldebatte ohne Ansicht des Parlamentarischen Staatssekretärs Scheuklappen gefordert wurden, sondern auch die Dr. Lammert meinerseits verkürzt in fragestundenge- Einführung fachspezifischer Hochschuleingangsprü- rechter Form folgendermaßen formulierte — es käme fungen als ein wichtiger Beitrag angesehen wurde ihm, glaube ich, näher —, es solle auch geprüft und daß von FDP-Bundestagskollegen ausdrücklich werden, ob die Hochschulen zusätzlich zum Reife- die Auffassung vertreten wurde, daß das Abitur als zeugnis, das generelle Voraussetzung für den Hoch- Ausweis allgemeiner Hochschulzugangsberechti- schulzugang bleibt, ergänzende Leistungsnachweise gung zu hinterfragen sei? verlangen oder selbst Leistungsfeststellungen treffen können, wenn das Reifezeugnis eine den fachlichen Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Anforderungen des gewählten Studiums entspre- lege Dr. Jork, daß man eine bildungspolitische chende Vorbereitung nicht ausweist, dies genau die Debatte ohne Scheuklappen führen sollte, ist eine Ansicht der Bundesregierung darstellen würde, wichtige Voraussetzung für alle. Daß der oder dem (Dr. Peter S truck [SPD]: Ist das eine Frage, einzelnen Kollegen auch unterschiedliche Meinun- Herr Präsident? Sie lesen einen ganzen Auf gen zur Politik der Regierung zuzubilligen sind, dies satz vor!) ergibt sich aus der Position des Abgeordneten selbst. 5934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Pari. Staatssekretär Torsten Wolfgramm Ich war über 13 Jahre Parlamentarischer Geschäfts- Die Bundesregierung begrüßt diese Zielsetzung, führer und weiß aus der Zeit der Koalition mit den die sie bereits seit längerem befürwortet hat. Die Sozialdemokraten wie auch aus der Zeit der jetzigen hochschulpolitischen Zielsetzungen will ich jetzt nicht Koalition, daß es immer unterschiedliche Meinungen wiederholen; ich habe sie vorhin in der Antwort auf gegeben hat und natürlich auch geben wird. die Frage des Kollegen Graf Waldburg-Zeil schon (Zuruf von der SPD: Dunkel, aber er erinnert genannt. Ich darf betonen, daß es unsere Zielsetzung sich!) ist, daß das Abitur die generelle Voraussetzung für den Hochschulzugang bleibt. Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage, (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) Frau Kollegin Professor Lehr. In diesem Zusammenhang unterstützt die Bundesre- gierung ergänzende Maßnahmen, die Hochschulen in Dr. Ursula Lehr (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, größerem Umfang als bisher an der Auswahl ihrer hat die Bundesregierung bemerkt, daß in der breiten Studienanfänger zu beteiligen und die Verantwor- Öffentlichkeit, insbesondere bei den Hochschulen tung der Hochschulen für die Ausbildung ihrer Stu- selbst, zunehmend Zweifel an der Einschätzung des denten zu stärken. Abiturs zumindest in der heute üblichen Form als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife geäußert werden, so z. B. durch den Präsidenten des Wissen- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage schaftsrats, Professor Simon, und den langjährigen des Kollegen Kuhlwein. Präsidenten der DFG, Professor Markl? Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, Sie Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das ist haben sich wieder einmal haarscharf an der Antwort richtig. Aber auf der anderen Seite haben die Kultus- auf meine Frage vorbeigemogelt. Sie lautete, ob die minister der Länder, die ja sowohl für die finanzielle von mir dargestellte Meinung des Bundesministers Ausstattung, was das Personal, also die Mitarbeiter in für Bildung und Wissenschaft von der Bundesregie- den Hochschulen, betrifft, als auch für die sachliche rung geteilt wird. In ihr hieß es präzise, daß das Abitur Ausstattung zuständig sind — bei letzterem unabhän- als Hochschulzugangsprüfung ausreiche und daß gig von der einen oder anderen Unterstützung durch zusätzliche Prüfungen nur zu mehr Bürokratie an den den Bund —, deutlich festgestellt — sowohl durch den Hochschulen führten. Sprecher der von der Union geführten Bundesländer, Zehetmair, als auch durch den Vorsitzenden der Ich frage Sie jetzt, ob diese vom Bundesminister für Kultusministerkonferenz Breitenbach —, daß sie am Bildung und Wissenschaft öffentlich und gestern noch Abitur als Hochschulzugangsvoraussetzung festhal- einmal im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ten. sehr dezidiert vertretene Auffassung nicht vielleicht doch im Widerspruch zu der Interpretation der hoch- schulpolitischen Zielsetzungen steht, die wir eben aus Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall. den Reihen Ihres Koalitionspartners hier gehört haben. Dann rufe ich die Frage 38 auf, die ebenfalls der Kollege Eckart Kuhlwein gestellt hat: Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesmini- Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- sters für Bildung und Wissenschaft, Dr. , daß das lege Kuhlwein, auch ich habe das eben hier zitiert. Ich Abitur als Hochschulzugangsprüfung ausreiche und daß zusätz- sehe darin keinen Widerspruch, sondern dies ent- liche Prüfungen nur zu mehr Bürokratie an den Hochschulen führten? spricht der Politik der Bundesregierung, die ich mir eben darzustellen erlaubt habe. Im übrigen fällt es mir Sie haben wieder das Wort, Herr Parlamentarischer schwer, mich an irgend etwas vorbeizumogeln. Wenn Staatssekretär. Sie allein mein Gewicht und meinen Umfang betrach- ten, werden Sie erkennen, daß so etwas schon aus Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Torsten Wolfgramm, physischen Gründen für mich schwierig ist. lege Kuhlwein, das Reifezeugnis muß seine grund- sätzliche Funktion als Hochschulzugangsvorausset- (Heiterkeit) zung aus den vorgenannten Gründen behalten. Diese Ich möchte aber mit Ihrer Erlaubnis eine zusätzliche Auffassung hat auch der Sprecher der unionsgeführ- Anmerkung machen: Es wird bei dieser Problematik ten Bundesländer in der Kultusministerkonferenz, der eine Vielzahl von Maßnahmen notwendig sein, um zu bayerische Kultusminister Zehetmair, deutlich be- einer Entlastung der Hochschulen zu kommen. Dazu kräftigt. Vorrangiges Ziel sei es danach, das Niveau gehört eben nicht die Schaffung einer allgemeinen des deutschen Abiturs zu erhalten. Hierzu seien Zugangsprüfung an den Hochschulen, sondern dazu gegebenenfalls auch Maßnahmen in dem von den gehört der — auch überproportionale — Ausbau der Ländern verantworteten Schulbereich erforderlich. Fachhochschulen. Dazu gehört, daß die Länder ihre Um die Hochschulen stärker an der Auswahl ihrer Verpflichtungen zur Einstellung von mehr Personal Studierenden durch ergänzende, studienfachbezo- erfüllen, dazu gehört die nachhaltige Verkürzung vor gene Kriterien zu beteiligen, haben die Länder im allem der universitären Studienzeiten durch eine Rahmen des zentralen Verteilungsverfahrens der ZVS verbesserte Studien- und Prüfungsordnung, dazu beschlossen, daß in einer zweijährigen Erprobungs- gehört der Wettbewerb in der Lehre. All diese Dinge phase bis zu 15 % der Studienplätze von Hochschulen, muß man angehen. Es gibt dazu auch schon seit die das wollen, nach eigenen Leistungskriterien ver- längerem Empfehlungen der Kultursministerkonfe- geben werden können. renz, die nun der Umsetzung harren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5935

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kuhl- Neuregelung der Hochschulzulassung nachdenken wein, eine weitere Zusatzfrage. müsse, wenn der Standard nicht zu sichern wäre?

Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, Sie Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- haben vorhin meine Frage, ob die Bundesregierung legin, das Nachdenken wird uns alle beschäftigen, vor die von Herrn Staatssekretär Lammert vertretene allen Dingen in schwierigen und programmatischen Auffassung teile, mit einem deutlichen Nein beant- Situationen. wortet. Nun würde ich gerne wissen, wie der Bundes- minister für Bildung und Wissenschaft, der in dieser Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Frage für die Bundesregierung offenbar eine andere des Kollegen Eckardt. Auffassung als der Parlamentarische Staatssekretär Lammert vertritt, in Zukunft sicherstellen will, daß Dr. Peter Eckardt (SPD): Herr Staatssekretär, wie seine, des Bundesministers Auffassung als Auffassung beurteilen Sie die von mir festgestellten — so hoffe der Bundesregierung in seinem Ministerium und nach ich — Widersprüche zwischen Ihren Aussagen und außen durchgesetzt wird und daß Herr Lammert der Verpflichtung nach der Geschäftsordnung der künftig die Auffassung der Bundesregierung ver- Bundesregierung, daß Mitglieder der Bundesregie- tritt. rung immer die Meinung der Bundesregierung vertre- ten müssen, in bezug auf Herrn Dr. Lammert? Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Es han- delt sich hier um eine Überlegung des Kollegen Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich habe Dr. Lammert, die nicht Meinung der Bundesregierung erklärt, welche Meinung die Bundesregierung hierbei ist. Ich gehe nicht davon aus, daß wir uns mit solchen vertritt. Sie ist in den koalitionspolitischen Beschlüs- Fragen des Kollegen Kuhlwein in der Zukunft häufi- sen niedergelegt, und diese Zielsetzungen sind vom ger beschäftigen werden. Kabinett beschlossen und in der Zwischenzeit nicht geändert worden. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Waldburg-Zeil. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine letzte Zusatz- frage des Kollegen Dr. Jork. Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß sich die angeb- Dr. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, lichen Widersprüche dadurch aufklären, daß nach den wie beurteilt die Bundesregierung die schriftliche hochschulpolitischen Zielsetzungen etwas geprüft Stellungnahme der Bundesvorsitzenden des Bundes- werden soll und insofern eine Ansicht noch nicht verbandes liberaler Hochschulgruppen anläßlich der feststeht, sondern folgendes geschehen soll: Die Aner- öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages kennung des Abiturs als allgemeine Hochschulreife zum Thema Perspektiven der Hochschulentwicklung steht nicht in Frage; vielmehr müssen in bestimmten — ich zitiere —: Situationen, wo es für einen Studienplatz wesentlich Der Hochschulzugang sollte, wo nötig, durch mehr Bewerber als Angebote gibt, andere Formen Tests, Auswahlgespräche und einen Notendurch- gesucht werden; Sie haben bereits eine Form genannt, schnitt aus bestimmten für die jeweils ge- nämlich daß die Hochschulen die Möglichkeit haben, wünschte Studienrichtung relevanten Fachnoten sich 15 % ihrer Studenten aus den Bewerbern in geregelt werden. gewissem Sinne selber auszusuchen? (Zuruf von der SPD: Hört! Hört)

Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Das Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Ich halte ganze ZVS-Verfahren zeigt, daß in vielen Bereichen noch einmal fest, Herr Kollege Dr. Jork, daß wir das mehr Bewerber anstehen, als Studienplätze zur Ver- Abitur dabei nicht tangieren lassen. Bei den 15 %, die fügung stehen. Aber wir haben nun gerade in der DDR die Hochschule jetzt auswählen können, wird sich die Situation gehabt, daß durch rigorose Zugangs- zeigen, wie die Hochschulen reagieren und handeln beschränkungen sowohl in der erweiterten Ober- werden. schule als dann auch im Studium nicht mehr Studien- anfänger aufgenommen wurden, als Studienplätze Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und vorhanden waren. Herren, wir sind mit dem Bereich Bildung und Wis- Die Bundesregierung hält das nicht für den richti- senschaft schon eine ganze Weile beschäftigt. Ich will gen Weg. Deswegen bleibt für uns das Abitur die Sie nur darauf aufmerksam machen, daß sehr viele Zwangsvoraussetzung zum Studium. In Einzelfällen Kollegen auch noch Antworten aus anderen Ge- — wir kennen das — gibt es allerdings Zulassungsbe- schäftsbereichen erwarten, so wichtig das hier auch schränkungen. Wir werden aber durch Rat und Unter- sein mag. Ich lasse diese beiden Zusatzfragen noch zu, stützung bemüht sein, sie abzubauen. und dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Bitte sehr. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Baumeister. Hubert Wilhelm Hüppe (CDU/CSU): Es ist nur Höf- lichkeit, daß ich erst so spät dran bin; ich habe die Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Staatssekre- anderen vorgelassen. Ich habe eine Frage an den tär, würden Sie mir zustimmen, daß die Bundesregie- Staatssekretär: Wenn die Bundesregierung die Ziel- rung der Vollständigkeit halber vortragen sollte, daß setzung begrüßt, bis zu 15 % der Studienplätze nach die Stellungnahme des Kultusministers Zehetmair in eigenen Leistungskriterien zu vergeben, und zwar in ihrer letzten Passage aussagt, daß man über eine solchen Fachbereichen, in denen bundesweit genü- 5936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Hubert Wilhelm Hüppe gend Plätze vorhanden sind, müßte dies nicht erst Das ist unser Grundprinzip. Bei diesem Grundprinzip recht für die Fächer gelten, in denen weniger Studien- sollten wir bei unserer Fragestellung nach Möglich- plätze vorhanden sind? keit auch immer bleiben. (Dr. Peter Struck [SPD]: Die Bundesregie- Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- rung bei den Antworten auch!) lege, das soll jetzt erst einmal erprobt werden. Eine Nun kommen wir zur Frage 45 des Abgeordneten zweijährige Erprobungsphase ist vorgesehen, und Horst Kubatschka: man sollte nicht schon wieder den Fehler machen, der Welche Initiativen hat die Bundesregierung ergriffen, um in den 70er Jahren häufig begangen worden ist, daß, Bundesbürgern einen portofreien Versand von Hilfspaketen in bevor eine Erprobungsphase überhaupt ausgewertet die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu ermöglichen, worden ist, s hon wieder neue und erweiterte Kon- wie es z. B. auch Luxemburg für die Monate Dezember 1991 und Januar 1992 für Hilfspakete in alle osteuropäischen Länder zepte vorgelegt werden. geregelt hat, und wie wird sie bei zukünftig notwendigen Hilfsaktionen verfahren? Vizepräsident Helmuth Becker: Zur letzten Zusatz- frage bitte sehr, Herr Kollege. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Kollege, die Bundesregierung würdigt die Dirk Hansen (FDP): Herr Staatssekretär, sind Sie Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung für die nicht mit mir der Auffassung, daß — so wie verkürzte notleidenden Menschen in der ehemaligen Sowjet- Fragestellungen seitens der Kollegen hier im Hause, union. Portofreiheit für Hilfspakete ist aber zum wie bewiesen — auch vermehrtes Nachhaken auf gegenwärtigen Zeitpunkt nicht das geeignete Mittel, verkürzte Fragestellungen nicht dazu geeignet ist, ihnen notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Diese etwa Zwietracht in die Bundesregierung oder gar Einschätzung ergibt sich aus den folgenden beiden zwischen die Koalitionspartner zu tragen, genau- Gründen: sowenig wie es nach meiner Einschätzung Aufgabe Erstens. Es gibt in den Nachfolgestaaten der Sowjet der Bundesregierung sein kann, die Meinungsäuße- union zur Zeit keine zuverlässig funktionierenden rungen von Vorsitzenden studentischer Verbände Postverwaltungen. Unter diesen Umständen ist zu etwa zu kommentieren oder gar zu bewerten? befürchten, daß die Hilfspakete ihre Empfänger nicht (Zuruf von der FDP: Das ist wohl wahr!) oder mit ganz erheblicher Verspätung erreichen wür- den. Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Zweitens. Portofreiheit müßte aus den Mitteln für lege Hansen, der Bundesregierung steht es nicht zu, humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes finanziert Fragen der Kolleginnen und Kollegen in der Frage- werden. Diese äußerst begrenzten Mittel können bei stunde zu bewerten. Deshalb möchte ich mich beim weitem effizienter und direkter eingesetzt werden, ersten Teil einer Anmerkung enthalten, und beim wenn mit ihnen die Hilfslieferungen anerkannter zweiten Teil stimme ich grundsätzlich zu. deutscher karitativer Organisationen unterstützt wer- den. - Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Herren, wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Vizepräsident Helmuth Becker: des Kollegen Kubatschka. Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Herzlichen Dank dem Herrn Parla- (SPD): Wenn die Postverwaltun- mentarischen Staatssekretär Torsten Wolfgramm, der Horst Kubatschka gen funktionierten, wäre die Bundesregierung dann zur Beantwortung zur Verfügung gestanden hat. bereit, über internationale Abmachungen wenigstens Wir kommen zum Bereich des Bundesministers für eine Gebührenverringerung zu erreichen? wirtschaftliche Zusammenarbeit. Alle Fragen aus die- sem Bereich sollen schriftlich beantwortet werden. Es Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, diese handelt sich um die Fragen 39 und 40 des Kollegen Frage stellt sich deshalb nicht, weil sie nicht funktio- Hans-Günther Toetemeyer und um die Frage 41 des nieren. Wenn Sie zusätzlich zu den bereits jetzt Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten wer- herrschenden schwierigen Zuständen die sowjetische den als Anlagen abgedruckt. Post mit einer großen Anzahl von Paketlieferungen Damit ist auch dieser Geschäftsbereich erledigt. belasteten, könnten Sie sicher sein, daß die Empfän- Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des ger nicht schnell, wenn überhaupt, in den Genuß der Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung Waren kämen, die in den Paketen sind. steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung. Die Fragen 42 und 43 des Abgeordneten Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Dr. Peter Ramsauer sollen schriftlich beantwortet wer- des Kollegen Dr. Struck. den. Das gleiche gilt für die Frage 44 des Abgeordne- (SPD): Herr Staatsminister, darf ich ten Ortwin Lowack. Die Antworten werden als Anla- Dr. Peter Struck dann aus Ihren beiden Antworten schließen, daß Sie gen abgedruckt. der Bevölkerung hier in der Bundesrepublik Deutsch- Bevor ich die Frage 45 aufrufe, will ich noch einmal land empfehlen, überhaupt keine Pakete in die Staa- auf unsere Regeln für die Fragestunde aufmerksam ten der ehemaligen Sowjetunion zu schicken? machen. In der Anlage 4 zur Geschäftsordnung steht: Helmut Schäfer, Staatsminister: Nein, das habe ich Die Fragen müssen kurz gefaßt sein und eine natürlich nicht gesagt. Ich habe vielmehr darauf kurze Beantwortung ermöglichen. hingewiesen, daß der Postversand nicht der richtige Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5937

Staatsminister Helmut Schäfer Weg ist, sondern daß die Zusammenarbeit mit den Gruppe der G 7. So war dieses Thema ein Tagesord- vielen Organisationen, die unmittelbar mit Hilfe von nungspunkt für das Sherpa - Treffen in Bonn vom 10. Lastwagen, Zügen und Flugzeugen solche Mittel bis 12. Januar dieses Jahres. Ferner wird die Bundes- transportieren und auch vor Ort dafür sorgen, daß regierung an der Konferenz zur Koordinierung der diese an die Empfänger gelangen, unterstützt werden humanitären Hilfe für die Staaten der GUS am 22. und sollte und daß es sicher nicht gut wäre, wenn sich 23. Januar in Washington aktiv teilnehmen. unsere Bevölkerung auf den schwierigen Weg von Postpaketen verließe. Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Kollegen Wallow. Vizepräsident Helmuth Becker: Danke sehr. Hans Wallow (SPD): Herr Staatsminister, hat die Jetzt kommen wir zu den Fragen 46 und 47 unserer Bundesregierung eine Übersicht, wie viele nationale Kollegin Katrin Fuchs. — Frau Abgeordnete Fuchs ist Organisationen und parastaatliche Einrichtungen an nicht im Saal. Die Fragen werden nach der Geschäfts- dieser Hilfe beteiligt sind? ordnung behandelt, d. h. sie werden nicht beantwor- tet. Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich gehe davon aus, Wir kommen dann zur Frage 48 des Kollegen Hans daß unser Stab im Auswärtigen Amt eine solche Wallow: Übersicht hat. Ich kann nicht sicher sagen, ob kleinere Aufgrund welcher Bedarfsanalyse der Staaten auf dem Terri- private Organisationen zusätzlich zu den uns bekann- torium der ehemaligen UdSSR koordiniert die Bundesregierung ten Organisationen noch solche Hilfe leisten. Ich weiß die nationalen (staatliche und private) und internationalen nicht, ob wir eine hundertprozentige Übersicht haben, Nothilfemaßnahmen? aber wir verfügen selbstverständlich über eine Über- Bitte sehr, Herr Staatsminister. sicht der wesentlichen Organisationen.

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die in Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere erheblichem Umfang durch deutsche karitative Ein- Zusatzfrage des Kollegen Wallow. richtungen geleistete bilaterale Hilfe für die Staaten der GUS erfolgt im wesentlichen auf Grund von Hans Wallow (SPD): Ich möchte zunächst fragen, ob Erkenntnissen, die diese Organisationen durch Kon- ich die Liste bekommen kann. takte mit ihren Partnern in den Staaten der ehemali- Meine zweite Zusatzfrage ist: Gibt es im Auswärti- gen Sowjetunion unmittelbar gewinnen. Dabei ermit- gen Amt eine Übersicht — ich nehme an, daß Sie dort teln die Organisationen die Bedürftigen und deren in der Art eines Lagezentrums arbeiten — über die Bedarf in aller Regel selbst. regionalen Schwerpunkte der Bedürfnisse? Die Bundesregierung unterstützt und koordiniert die Tätigkeit der karitativen Organisationen durch Helmut Schäfer, Staatsminister: Auch das gibt es. den Arbeitsstab „Hilfe für die Staaten der GUS" im Sie wissen, daß die Hilfe je nach den Geberländern Auswärtigen Amt, früher „Arbeitsstab Sowjetunion- oder Geberorganisationen etwas verschieden ver- Hilfe " . läuft, daß sich beispielsweise die EG-Hilfe sehr stark Der Koordination humanitärer Hilfsmaßnahmen mit auf die zwei größten Städte mit einer besonders der russischen Seite liegt bislang ein am 28. Novem- schwierigen Versorgungslage — Moskau und Sankt ber 1990 von Ministerialdirektor Teltschik und sowje- Petersburg — konzentriert, daß unsere Organisatio- tischen Regierungsvertretern unterzeichnetes Memo- nen aber darüber hinaus Hilfsgüter breit gefächert randum of Understanding zugrunde, mit dem bisher verteilen, d. h. in sehr viele Städte bringen. Wie erfolgreich gearbeitet wurde. gesagt, eine solche Übersicht gibt es. Die russische Regierung ist jetzt mit der Bitte um ein neues Memorandum an die Bundesregierung heran- Vizepräsident Helmuth Becker: Die Fragen 49 und 50 des Abgeordneten Günter Verheugen sollen auf getreten. Eine neue Übereinkunft, die u. a. den kari- tativen nichtstaatlichen Charakter der betreffenden Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet wer- den. Die Antworten werden als Anlagen abge- Hilfslieferungen betonen und Erfahrungen aus der bisherigen praktischen Arbeit umsetzen wird, steht druckt. derzeit kurz vor dem Abschluß. Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers des Auswärtigen. Im Bereich der internationalen Nothilfemaßnah- men für die Staaten der GUS ist die Bundesregierung Die übrigen Fragen aus dieser Woche werden nach im Rahmen des deutschen Beitrags zum EG-Haushalt der Geschäftsordnung behandelt, d. h. sie werden — ca. 28 % — an der EG-Hilfe beteiligt. Die EG hat für schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als diesen Winter Nahrungsmittelhilfen im Wert von Anlagen abgedruckt. insgesamt 450 Millionen ECU, eine Kreditbürgschaft zum Kauf von Nahrungsmitteln von 500 Millionen Ich rufe den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf: ECU und einen Kredit, ebenfalls für Nahrungsmittel- Aktuelle Stunde käufe, von 1,25 Milliarden ECU bewilligt. Die im Situation der älteren Bürgerinnen und Bürger Rahmen dieser Zusagen erfolgten Lieferungen beru- in den neuen Bundesländern nach dem Erhalt hen auf entsprechenden Absprachen mit den zustän- der Rentenbescheide gemäß Rentenüberlei- digen russischen Stellen und deren Anforderungen. tungsgesetz Letzter Punkt. Ein weiteres wichtiges Forum zur Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Abstimmung der Hilfe für die Staaten der GUS ist die Stunde zu dem erwähnten Thema verlangt. 5938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Vizepräsident Helmuth Becker Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- Im Osten also auch, obwohl von dort 1,2 Millionen ordnete Frau Pe tra Bläss. Beitragszahlerinnen und -zahler in den Westen über- siedelten bzw. pendeln. Rentnerinnen und Rentner West gegen selbige Ost auszuspielen, ist der absolut Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! falsche Weg. Daß der Westen den Osten finanziert, Meine Damen und Herren! „Deutschland wächst stimmt auf diesem Gebiet einfach nicht. Stattdessen zusammen — die Renten wachsen mit. " — Mit dieser sollte rasch an eine wirkliche Reform des Renten- Losung sind die neuen Bundesländer geradezu zupla- systems gegangen werden, und zwar gemeinsam mit katiert. Doch die Konsequenzen des im Juni 1991 im Verbänden, Vereinen und Initiativen der be troffenen Bundestag verabschiedeten RentenÜberleitungsge- betagten und behinderten Bürgerinnen und Bürger, setzes, nämlich die Rentenbescheide, die im Dezem- an eine Rentenreform, die zu sozialer Gerechtigkeit ber in die betroffenen Haushalte geflattert sind, spre- und sozialer Sicherheit für alle Bürgerinnen und chen eine andere Sprache. Bürger führt. Für 300 000 Rentnerinnen und Rentner, die verhei- Danke. ratet sind, fielen die Sozialzuschläge weg. Das bedeu- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) tet Einbußen bis zu 155 DM. 500 000 Pflege- und Blindengelder wurden gestrichen. Sie können — füge ich hinzu — nicht anderweitig ersetzt werden, weil Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und noch nicht alle neuen Bundesländer entsprechende Herren, nächster Redner ist unser Kollege Wolfgang Folgesätze haben. Engelmann. Über 300 000 Rentenempfängerinnen und -emp- fänger, die Zusatz- und Sonderversorgungssystemen (CDU/CSU): Verehrter Herr zugeordnet waren, können ihre Rentenerhöhung um Wolfgang Engelmann Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, wie geht es sage und schreibe 2 bis 5 Pfennig wohl nur als Hohn denn nun wirklich unseren Rentnern in Ostdeutsch- empfinden, letzteres insbesondere deshalb, weil der Kompromiß des Renten-Überleitungsgesetzes ver- land? sprach, daß Berufsgruppen wie Ärztinnen und Ärzte, (Zuruf von der SPD: Wie denn nun?) Technikerinnen und Techniker, Künstler und Künst- Leben sie am Rande des Abgrunds? Bedarf es nur noch lerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einer weiteren Rentenerhöhung, und sie stürzen ab? aus der sogenannten Sonderbehandlung wegen Diese und ähnliche Schreckensvisionen geistern seit Staatsnähe heraus seien. geraumer Zeit durch linkslastige Massenmedien, um Der eigentliche Hintergrund dafür, daß 83 % der den Bürgern glaubhaft zu machen: Das Gespenst des Rentnerinnen und Rentner nur deshalb nicht absolut bösen Kapitalismus geht um wie ein brüllender Löwe weniger bekommen, weil sie der Auffüllbetrag und sucht seine hungrigen Ostrentner, auf daß er sie schützt, ist in dem verwirrenden Zahlendschungel der verschlinge. Rentenbescheide wohl den wenigsten klar geworden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Die nächste Welle der Ernüchterung ist also schon ordneten der FDP) vorprogrammiert, nämlich für den Zeitpunkt, ab dem Tatsache ist: Die Rentenempfänger in der ehemali- nur die Rente nach SGB VI — also die in den meisten gen DDR haben am ehesten die Vorzüge der sozialen Fällen bedeutend niedrigere Rente — dynamisiert Marktwirtschaft erfahren. wird. Fakt ist: Viele ältere Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern merken nichts von den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hochangepriesenen 11,65 % der Rentenerhöhung. Bereits bei der Währungsumstellung haben sie Wir fragen deshalb die Bundesregierung: Wie will 2 000 DM mehr, also insgesamt 6 000 DM zum Kurs sie der Widerspruchswelle derer, die jetzt ernüchtert 1 : 1 erhalten. Die Rentenangleichung am Tage darauf sehen, was ihnen verloren geht — bereits jetzt sind brachte eine sofortige Erhöhung um 30 %. Bis zum beispielsweise bei der Bundesversicherungsanstalt in heutigen Tage wurden die Rentenbezüge in den Berlin allein 11 000 Widersprüche eingegangen —, neuen Bundesländern fast verdoppelt. Nicht nur eine begegnen? Mit neuen Versprechungen? Wir fordern unglaubliche Leistung erneut — heute wohl mit mehr Verständnis vieler (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Betroffener in Ost und West — die Erarbeitung eines [PDS/Linke Liste]) neuen Rentenrechts, das Frauen im Sinne eines eigen- finanzieller Art, sondern vor allen Dingen auch eine ständigen Lebens absichert und durch eine Mindest- technische Höchstleistung! rente viele Betroffene vor der entwürdigenden So- zialhilfe bewahrt. Denn erst dann wird Herr Blüm sein (Beifall bei der CDU/CSU) Argument nicht mehr anbringen können, daß bei Zweimal jährlich folgen Rentensteigerungen auf den Weiterführung der Sozialzuschläge die Rentnerinnen jetzt ermittelten Rentenbetrag in den nächsten Jah- und Rentner in den neuen Bundesländern gegenüber ren. denen in den alten besser gestellt seien. Erwidern Sie Meine Damen und Herren, viele Leistungen sind uns bitte nicht, dazu reiche das Geld nicht! Die bekannt. Ich möchte sie hier nicht wiederholen. Ich „Sozialpolitischen Informationen" aus dem Bundes- behaupte mit Fug und Recht: Unseren Senioren geht arbeitsministerium, Nr. 1 1992, besagen es schon auf es gut. Sie können sich jetzt Wünsche erfüllen, von der Titelseite: Rentenkassen in hervorragender Ver- denen sie vor zwei Jahren noch geträumt haben. Wer fassung — und das in Ost und West. waren denn die Leute, die damals nicht in die teuren (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) Delikatessenläden gehen konnten, wo eine Tafel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5939

Wolfgang Engelmann West-Schokolade 8 Ostmark und eine Dose Ananas mationsmaterial in ein allgemein verständliches 18 Ostmark gekostet haben? Das waren nicht die gesamtdeutsches Deutsch übersetzen. Stasi-Offiziere und SED-Funktionäre. Nein, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) waren die normalen Rentner Ost. Zur Erinnerung: Das SED-Regime hat es in 40 Jah- ren geschafft, einem Großteil der Frauen eine Rente in Vizepräsident Helmuth Becker: Diesen Satz zu Höhe von 330 Ostmark zuzumuten, hören hat sich noch gelohnt. — Nun spricht unser (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Günther Heyenn. und pries dies noch als soziale Errungenschaft an. (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Günther Heyenn (SPD): Vielen Dank, Herr Kollege, [PDS/Linke Liste]) für die Vorschläge an Herrn Norbert Blüm. Jetzt begibt sich die Nachfolge-SED/PDS in die Rolle Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor eines Anwalts und Rächers der Renten! Das finde ich wenigen Wochen, nämlich zur Jahreswende, haben äußerst grotesk. die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Eines jedoch möchte ich hier anmahnen: So positiv 4 Millionen Umwertungsbescheide verschickt an die bisherigen Rentenangleichungen und Erhöhun- 3,1 Millionen Rentner. Dabei wurde gleichzeitig der gen waren und von einem Großteil der Bevölkerung neue Zahlbetrag vom 1. Januar 1992 an mitgeteilt. Ich begrüßt wurden, so ungeschickt und unpopulär ist das möchte zu Beginn für diese außergewöhnliche Lei- Renten-Überleitungsgesetz mit seiner Rentenerhö- stung allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der hung propagiert worden. Die verheißungsvoll ange- deutschen Rentenversicherung herzlichen Dank sa- kündigten Steigerungen von 11,65 % erwiesen sich gen. für viele Rentner als eine Enttäuschung. Ein weiterer (Beifall bei der SPD und der FDP) Beweis der noch vorhandenen Sprachschwierigkei- ten, denn unsere Bürger verstehen unter Rente das, Aber — und insofern verstehe ich die Aussagen der was sie auf die Hand bekommen, ohne nach Auffüll- Kollegin Bläss — es hat vielfach Unsicherheit, Unver- beträgen und Sozialzuschlägen zu fragen. Sie kom- ständnis gegeben. Es ist auch nicht leicht, diese men auch mit den Informationsbroschüren nicht Bescheide zu lesen. Es wird noch problematischer, zurecht, da diese zu umfangreich sind, zu schwer wenn man bedenkt, daß ein Rentner in den neuen verständlich und in einem Beamtendeutsch verfaßt Bundesländern der undifferenzierten Ankündigung wurden, das die Bürger im Osten noch nicht verste- des Bundesarbeitsministers vertraut hat, die Rente werde um 11,65 % angepaßt. Hier sind in unnötiger hen. und wenig verantwortungsvoller Weise mehr als (Zuruf von der SPD: Kommen die nicht von 2,5 Millionen Rentenempfänger, deren Rente nicht Blüm?) um 11,6 % angepaßt wird, getäuscht worden. Unsere Bürger glaubten der Schlagzeile: 11,65 % Wenn sich nach der Umstellung gegenüber dem- Erhöhung. Die Welt war in Ordnung. Jeder rechnete Zahlbetrag vom Dezember 1991 eine niedrigere Rente sich die Rente selbst aus. ergibt, wird der Differenzbetrag als Auffüllbetrag Besonders schockiert waren die Ehegatten, denen weitergezahlt. Dieser Betrag wird jedoch nicht ange- der Sozialzuschlag gestrichen wurde. Meiner Mutter paßt; die Erhöhung ist also geringer als 11,65 %. Zu ging es ebenso, als sie laut ihrem Rentenbescheid einer Erhöhung nur um Pfennigbeträge kommt es im 120 DM weniger erhielt, den nur hochqualifizierte übrigen bei Behindertenrenten, beim gleichzeitigen Rentensachverständige lesen können. Selbst Bundes- Bezug einer Unfallrente und bei zusätzlichen Leistun- tagsabgeordnete haben damit Probleme. Auch hier gen aus einer Zusatzversorgung, wo der Zahlbetrag sollte man versuchen, die Form der Rentenbescheide besitzgeschützt ist. Auch hier gibt es keine Erhöhung einfacher zu gestalten. Nachdem ich meiner Mutter um 11,6 %. die Zusammenhänge erläutert hatte, nachdem ich ihr (Julius Louven [CDU/CSU]: Aber das war erklärt hatte, daß mein Vater jetzt 180 DM mehr erhält uns doch klar, Herr Heyenn!) und beide jetzt über 2 000 DM erhalten, hat meine Mutter schon verstanden, daß sie keine bedürftige — Das war uns klar, aber das war den Bürgerinnen Sozialhilfeempfängerin ist, also den vormals pauscha- und Bürgern in den neuen Ländern nicht klar. Es ist lierten Sozialzuschlag nicht mehr erhält. ihnen auch nicht verdeutlicht worden. Norbert Blüm hat Millionen und Abermillionen in die Öffentlich- keitsarbeit, in teure Broschüren gesteckt, aber den Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Engel- Leuten in den neuen Ländern hat er gesagt: 11,6 %. mann, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Deswegen ist die Unsicherheit völlig erklärlich. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Wolfgang Engelmann (CDU/CSU): Bitte noch einen dem Bündnis 90/GRÜNE) Satz. Ich will aber, um Ihnen entgegenzukommen, das Wenn man die Bürger sachlich aufklärt, in einer für Renten-Überleitungsgesetz in seiner Bedeutung nicht sie begreifbaren Sprache, stößt man auf Verständnis. schmälern. 900 000 Witwenrenten werden erhöht, es Meine Damen und Herren, um künftige Mißverständ- gibt 150 000 neue Witwenrenten. Die Herabsetzung nisse bei Informationen besonders für die neuen der Altersgrenze betrifft 200 000 Menschen allein in Länder zu vermeiden, schlage ich vor, daß Ost 1992. Durch die Neufassung des Rechts der Invalidität Abgeordnete zu Rate gezogen werden, die das Infor- wird die Zahl dieser Renten um ca. 50 % erhöht. Die 5940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Günther Heyenn SPD hat durch ihre Mitarbeit an diesem Gesetz Dr. Gisela Babel (FDP): Herr Präsident! Meine wesentliche Verbesserungen erreicht. Damen und Herren! Im Sommer 1991 hat der Deut- Ich kritisiere das Gesetz nicht, obwohl es nicht voll sche Bundestag das Gesetz zur Überleitung unseres unseren Erwartungen entspricht. Wir tragen es mit. Rentenrechts für die Rentner in den neuen Bundeslän- Wir haben die Geltungsdauer der Besitzstandsbestim- dern beschlossen. In der Diskussion haben die Vertre- mungen bis zum 1. Januar 1997 verlängert. Das ter von SPD, CDU und FDP die Vorzüge unseres bedeutet: Der Sozialzuschlag wird weitergezahlt. Das Rentenrechts und die sich durch das Gesetz ergeben- bedeutet, daß wir ab 1997 in der Lage sein werden, den Verbesserungen für ostdeutsche Rentner darge- wenn wir es denn gemeinsam wollen, zur Bekämp- stellt. Haben wir den Mund zu voll genommen? Sind fung der Altersarmut für unsere Republik eine übermäßige Erwartungen geweckt worden? Konnten Anschlußregelung im Bereich der bedarfsorientierten die Rentner nicht annehmen, daß bei einer angekün- sozialen Mindestsicherung zu finden. digten Rentenanhebung um 11,6 % diese Erhöhung auch tatsächlich und rechnerisch nachvollziehbar aus Unsere Beteiligung bedeutet weiter, daß bei der dem Rentenbescheid folgt? Überführung von Sonder- und Zusatzversorgungsein- richtungen ein Eindringen von strafrechtlichen Ele- Meine Damen und Herren, die positiven Meldun- menten in das Sozialrecht verhindert wurde. Es gen des Sommers 1991 waren berechtigt. Insgesamt bedeutet eine Begrenzung bei Rente und Zusatzrente stehen sich die Rentner in den neuen Bundesländern nicht bei 1 500 DM, sondern bei 2 010 DM. besser als vor Einführung des westdeutschen Renten- Durch den Ausbau des Bestandsschutzes sind rechts. soziale Ungerechtigkeiten weitgehend vermieden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) worden. Lassen Sie mich das kurz begründen: In den andert- Das wäre der wesentliche und auch vor dem Hin- halb Jahren stiegen die Renten um 90 %. Die Kaufkraft tergrund der Entwicklung in den neuen Ländern der Renten, auch wenn man gestiegene Mieten mit besonders gebotene Grund für die Einführung einer berücksichtigt, hat sich im Vergleich zu 1989 um 45 % sozialen Grundsicherung. In diesen Themenkomplex erhöht. Durchschnittlich haben Männer heute nicht gehört auch die eigenständige Alterssicherung der 11 %, sondern 16 % mehr. Frauen haben durch die Frau. Hinterbliebenenrente im Durchschnitt 21 % mehr in Nicht alle Verbesserungen dieses Gesetzes sind für der Rententüte. Meine Damen und Herren, das wollen die Menschen in den neuen Ländern sofort erkennbar, wir hier doch einmal festhalten. werden sofort wirksam. Dies mag zu negativen Urtei- len beigetragen haben. Dies wird sich ändern. Es mag (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber auch Fehler geben. Dies wäre bei dem Umfang Warum also die Enttäuschung? Viele — der Durch- der Aufgabe, der wir uns gestellt haben, verständlich. schnitt — haben mehr, einige haben weniger bekom- Es mag auch Ungerechtigkeiten geben, die nicht men. An uns ist es — insofern hat auch einmal eine erkannt wurden. Aktuelle Stunde ihr Gutes, die von der PDS beantragt Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sollte worden ist —, dies zu erklären. Nicht zuletzt auf sich daher noch in diesem Frühjahr mit den ersten Grund politischer Äußerungen haben die Rentner Erfahrungen aus der Rentenüberleitung beschäftigen geglaubt, daß sich der Zahlbetrag nicht mindert, und gegebenenfalls Konsequenzen anregen. sondern sich, wie in früheren Anpassungen, um 11,6 % erhöht. Die Bescheide sind schwer verständlich und kaum Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, Ihre nachzuvollziehen. Das liegt nun auch an der schwie- Redezeit ist abgelaufen. rigen Rentenmaterie, die ja deswegen so hochdiffe- renziert und komplex ist, weil sie individuelle Gerech- tigkeit mit Grundsätzen der Gleichheit in Einklang Günther Heyenn (SPD): Ich komme zum letzten Satz. bringen muß. Aber es liegt sicher auch daran, daß — Insgesamt, so meine ich feststellen zu müssen, ist bestimmte Informationen untergegangen sind, näm- uns die Rentenüberleitung gelungen. lich die, die eine Minderung des Zahlbetrages erklä- Vielen Dank. ren. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Ein paar Beispiele! Es entfällt der Sozialzuschlag für FDP) Ehepaare, wenn das gemeinsame Einkommen 960 DM überschreitet. Der Sozialzuschlag ist, wie bei uns die Sozialhilfe, an Bedürftigkeit gebunden. Die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Frau eines Staatssekretärs mit einer Mindestrente von ten Damen und Herren, noch zwei Bemerkungen zu 330 DM bekommt nun auf Grund des guten Einkom- den Regelungen für die Aktuelle Stunde: Die Rede- mens ihres Mannes keinen Sozialzuschlag mehr. beiträge dürfen maximal fünf Minuten dauern. Ich habe keine Chance, das zu verlängern. Das ist bei (Zuruf von der FDP: Das ist auch richtig!) sonstigen Debatten anders. Das haben wir hier einvernehmlich so geregelt. Ich Frau Kollegin Dr. Enkelmann, es gibt während der denke, das entspricht auch unseren gemeinsamen Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen. Vorstellungen von Gerechtigkeit, meine Damen und Herren. Als nächste Rednerin hat Frau Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5941

Dr. Gisela Babel Allerdings hat die Rentenversicherung jegliche Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema: In der Zahlung des Sozialzuschlags an Ehepaare eingestellt, Ex-DDR sind in letzter Zeit — die Kollegin Bläss hat auch wenn ein Anspruch besteht. Hierfür muß jetzt das schon gesagt — in nicht geringer Anzahl großfor- also erst ein Antrag gestellt werden, um die Höhe des matige Plakate aufgetaucht, die das Konterfei unseres individuellen Einkommens feststellen zu können. Herrn Arbeitsministers Blüm zeigen. Darunter steht (Günther Heyenn [SPD]: Wieviel Staatsse die Zeile: „Deutschland wächst zusammen — die kretäre muß es da früher gegeben haben!) Renten wachsen mit". Der Ernst der tatsächlichen Lage hat den Lachanfall erstickt, der sich bei mir Die Renten sind pauschaliert berechnet worden; melden wollte. Es sind genau diese vollmundigen anders war das in sechs Monaten gar nicht zu leisten. Versprechungen, die die Menschen im Osten so Nach korrekter Rechnung können sich hier in man- enttäuschen und so verbittern, wenn sie nicht einge- chen Fällen höhere Renten ergeben. halten werden. Wie im ganzen Bundesgebiet zahlen jetzt auch die (Beifall bei der SPD) Rentner in den neuen Bundesländern 6,84 % in die Krankenkasse. Dies ist für sie zwar neu und unge- Sie müssen es als Hohn empfinden, daß man solche wohnt, aber die Rentner in den alten Bundesländern Sprüche plakatieren läßt, während ihnen gleichzeitig tun das auch. Es wäre also ein Verstoß gegen Gleich- die Rentenbescheide ins Haus flattern, die oft das heit, wenn sich das in einem einheitlichen Renten- glatte Gegenteil davon ausweisen. recht heute nicht so darstellte. Auch hier sind die (Zuruf von der CDU/CSU: Sozialistische ag erhöht worden — es ist also Renten um den Be tr Sprüche!) keine Einbuße —, aber es besteht nun die Zahlungs- pflicht. Weitere Fälle wird meine Kollegin Dr. Pohl So mußten viele Rentnerinnen und Rentner zu Beginn darlegen. des Jahres feststellen, daß sie eben nicht, wie verspro- Fazit: Rentenbescheide sind schwer verständlich. chen, 11,65 % mehr Rente erhielten. Im Gegenteil: Die FDP forderte ja schon sehr früh — und jetzt Hunderttausende fühlten sich betrogen, weil sie gar erneut — eine genauere Aufklärung. Eine Informa- nicht oder nur in geringem Maß von der Anhebung tionskampagne sollte die enttäuschten Rentner auch profitieren bzw. sogar Kürzungen hinnehmen müs- über die Tatbestände aufklären, die ihre Renten jetzt sen. Für die Betroffenen ist das nicht nur bitter, um einen Zahlbetrag gemindert haben. sondern auch in keiner Weise nachvollziehbar. Insgesamt aber halten wir fest: Auch für Rentner in Für die meisten Rentnerinnen und Rentner ist das den neuen Bundesländern ist die Übernahme der komplexe Verfahren der Rentenumwertung mit sei- leistungsbezogenen und mitwachsenden Rente eine nem teils anpassungsfähigen, teils nicht anpassungs- soziale Errungenschaft. fähigen Rentenanteil nur schwer durchschaubar. Das ist ein Vorwurf, den man schon dem westdeutschen Vielen Dank. Rentenrecht insgesamt machen muß und der leider (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch — und in besonderer Weise — für die Überlei-- tungsregelungen mit ihrem mehrfach abgestuften Bestandsschutz zutrifft. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile das Wort jetzt der Abgeordneten Frau Christina Schenk. Aber es sind nicht nur die rechentechnischen Details, sondern auch die leitende sozialpolitische Philosophie und die Logik, die von den Be troffenen Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi- nicht nachvollzogen werden können. Nehmen wir dent! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu z. B. die angekündigte Rentenanhebung von 11,6 %, Herrn Engelmann: Wenn Sie sich hier auf die durch- die zu Beginn des Jahres gleichzeitig mit der Renten- schnittlichen Frauenrenten in der ehemaligen DDR umwertung zum Tragen kommen sollte. beziehen, die übrigens nicht bei 320 DM — eine Wer bei der Umwertung nach dem Renten-Überlei- ähnliche Zahl haben Sie hier genannt —, sondern bei tungsgesetz einen niedrigeren Zahlbetrag als bisher 454 DM lagen, dann nehmen Sie bitte auch zur bekäme, erhält einen sogenannten Auffüllbetrag. Kenntnis, daß man seinen Lebensunterhalt mit diesen Damit soll — das versteht man unter Bestands- 454 DM ohne weiteres bestreiten konnte und durch- schutz — zumindest die bisherige Rentenhöhe nomi- aus besser oder müheloser — — nell garantiert werden. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und Die angekündigte Anhebung bezieht sich nun nicht der FDP: Oh!) auf den garantierten Zahlbetrag, sondern nur auf den — Ich bedanke mich bei Ihnen für diese Reaktion. Das anpassungsfähigen Rentenanteil, der sich nach west- zeigt Ihre Inkompetenz in dieser Frage. deutschem Rentenrecht errechnet. Daher fällt die (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Anhebung für all jene, deren Rente lediglich infolge Liste) des Bestandsschutzes in bisheriger Höhe weiterge- zahlt wird, niedriger aus. Auch konnte man mit diesem Be trag von 454 DM besser leben als mit dem durchschnittlichen Altersru- Das sozialpolitisch Widersinnige dabei ist, daß dies hegeld von westdeutschen Arbeiterinnen, das bei vor allem für Renten aus niedrigerem Einkommen und 785 DM liegt, oder von westdeutschen weiblichen geringerer Versicherungszeit zutrifft. Je niedriger also Angestellten, das bei 1 072 DM liegt. Nehmen Sie das die nach dem Renten-Überleitungsgesetz errechnete bitte zur Kenntnis! Vielleicht setzen Sie sich einmal Rente ist, um so niedriger fällt insgesamt die prozen- damit auseinander. tuale Anhebung aus. Vor allem die Frauen sind davon 5942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Christina Schenk betroffen, die im Osten mit der Rentenüberleitung bestimmten Bedingungen wegfällt und das Pflege- ohnehin strukturelle Verschlechterungen hinnehmen geld wegfällt. mußten. Ich erinnere hier nur an den Wegfall der (Ottmar Schreiner [SPD]: Der Nebelwerfer frauenspezifischen Zurechnungszeiten, der additiven als Aufklärer!) Anerkennung von Kindererziehungszeiten und der Mindestrenten. Aber wir können immer besser werden. Noch problematischer als die unterschiedlich aus- (Günther Heyenn [SPD]: Sagen Sie etwas zur gefallene Anhebung wirkt sich die ab dem 1. Januar Anpassung!) 1992 geltende Neuregelung des Sozialzuschlags aus. — Zur Anpassung habe ich vor dem Deutschen Hier kann es infolge der neu eingeführten Ehegatten Bundestag erklärt: 11,65 % ist der Durchschnittssatz. subsidiarität zu regelrechten Einschnitten in der Er wird variiert. Es wird etliche geben, die weniger Haushaltskasse kommen. Bisher stand einem Ehepaar erhalten; es wird beim Zusammenzählen sogar einige mit niedrigem Renteneinkommen mit Sozialzuschlag geben, die keine Erhöhung bekommen. immerhin ein garantiertes gemeinsames Rentenein- kommen von 1 200 DM zur Verfügung. Laut Renten (Zuruf des Abg. Günther Heyenn [SPD]) Überleitungsgesetz haben Ehepartner nun nicht mehr — Lassen Sie mich doch ausreden! individuell Anspruch auf Aufstockung der Rente auf jeweils 600 DM, sondern gemeinsam auf maximal Diese 11,65 % sind für die Mehrheit der Be troffenen 960 DM. nicht eine Übertreibung, sondern eine Untertreibung. Der durchschnittliche Erhöhungssatz ist bei den Män- In diesen Fällen ist es nicht übertrieben, vor allem nern 16 % und bei den Frauen 21 %. 11,6 % sind für angesichts der enorm gestiegenen Lebenshaltungs- den Durchschnitt eine Untertreibung, in Wahrheit kosten und der drastischen Anhebung der Mieten von sind es mehr. einer dramatischen Verschlechterung der Lebensver- hältnisse zu sprechen. Ich glaube nicht, daß wir mit so einem Schlagab- tausch hier den Rentnern wirklich helfen. Mein Bemü- Unabhängig davon, ob solche Fälle nun häufig oder hen um Konsens war nicht zuletzt davon ge tragen, weniger häufig eintreten, bleibt festzuhalten, daß die eine hohe Rentenübereinstimmung zu erreichen, Frauen in Ostdeutschland mit der Einführung des damit Vertrauen entsteht. Das wollen wir jetzt auch Subsidiaritätsprinzips de facto ihren eigenständigen nicht zerstören. Anspruch auf Mindestrente verlieren. Allerdings, meine lieben Kolleginnen und Kollegen Wir dürfen gespannt sein, zu welchen Ergebnissen von der PDS, die geplante Kommission, die sich auch mit dem Ausbau einer eigenständigen Alterssicherung für ( [CDU/CSU]: Die sind nicht Frauen befassen soll, kommt. Das Renten-Überlei- „lieb"!) tungsgesetz zumindest läuft dem proklamierten Auf- ausgerechnet Sie spielen sich als Anwalt der Rentner trag dieser Kommission klar entgegen. Ich versichere auf! 40 Jahre hat die SED die Rentner gequält.- Ihnen an dieser Stelle, daß der Unabhängige Frauen- 40 Jahre hat die SED die Rentner be trogen. Den Bock verband diese Entwicklung mit großer Sorgfalt beob- zum Gärtner, das machen wir hier im Deutschen achten wird. Bundestag nicht. Ausgerechnet die! (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Rente wächst mit. Die Renten stiegen mit der Sozialunion um 30 %, am 1. Januar 1991 um 15 %, am Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile dem 1. Juli 1991 um 15 % und am 1. Januar 1992 um Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unse- 11,65 %. rem Kollegen Norbert Blüm, das Wort. (Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Man kann für Prozente nichts kaufen!)

Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Seit Einführung der Sozialunion, in eineinhalb Jahren Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und — ich sage das, damit das hier nicht verlorengeht —, Herren! Ich bin der PDS für diese Aktuelle Stunde sehr sind die Renten in den neuen Bundesländern um dankbar. durchschnittlich 90 % gestiegen. Wann gab es das in der Geschichte der Rentenversicherung noch einmal? (Zurufe von der PDS/Linke Liste) Ich lasse mit mir nicht darüber streiten, daß die Deutschland wächst zusammen. Die Rente wächst Rentner die ersten Gewinner der deutschen Einheit mit. Wenn die PDS, wenn die SED noch an der Macht sind. Sie haben es auch verdient; sie haben unter der wäre, würde weder Deutschland zusammenwachsen Trennung am längsten gelitten. noch die Rente steigen. Das ist der Unterschied. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Frauenrente: früher 432 Mark, heute 779 DM, Das gibt mir Gelegenheit zu weiterer Aufklärung, mit der Witwenrente 937 DM. Das sind Zahlen, die Sie an der wir uns ja alle beteiligen müssen. Das Renten- doch nicht wegdiskutieren können. Durchschnitts- recht ist kompliziert. Man kann nicht mehr als das tun, rente bei den Männern am 30. Juni 1990 — da war was wir versucht haben, nämlich alle Details in noch die SED am Ruder —: 572 Mark, heute, nach der 7,5 Millionen Broschüren unter ausdrücklichem Hin- Anpassung vom 1. Januar, 1 165 DM. Das ist doch weis darauf zu erläutern, daß der Sozialzuschlag unter eine massive Erhöhung. Darüber sollten wir uns doch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5943

Bundesminister Dr. Norbert Blüm bei aller Detailkritik und meinetwegen auch der rente, durchschnittlich 240 DM mehr. So viel haben Kritik, daß die Aufklärung noch besser werden sollte, manche im ganzen Monat vorher nicht bekommen. nicht streiten. Das Faktum bleibt bestehen, daß wir für Die Überleitung hat also diese Erhöhung um 240 DM die Rentner zuerst und am besten gesorgt haben. gebracht. 150 000 Witwen, die zu SED-Zeiten nichts bekamen, bekommen zum erstenmal eine Witwen- Daß die Rente jetzt dynamisch ist, daß sie lohnbe- rente. Die Altersgrenze wird gesenkt. BU- und EU- zogen ist, daß die Rentner nicht betteln müssen und Renten werden im Unterschied zum alten DDR-Recht nicht davon abhängig sind, ob der Staat in guter Laune nun vielen erstmals gezahlt. Das ist eine menschliche ist und auch für sie etwas übrig hat, — ist das kein Leistung. Und da schütteln Sie den Kopf? Ist das keine Fortschritt? Zu Honeckers Zeiten war es so: Wenn er handfeste Verbesserung? Ich frage die Arbeitnehmer gute Laune hatte, hat er auf einem SED-Kongreß in den neuen Bundesländern, ob sie auf die Propa- Apfelsinen verteilt und den Rentnern eine Erhöhung ganda der Miesmacher hereinfallen oder sich an die gegeben. Das war doch eure Rentenpolitik. Fakten halten wollen. Ich halte mich an die Fakten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Rentner waren Almosenempfänger. Die Rentner Jetzt kommt es dazu, daß einige ausgezahlte brauchen heute niemandem „Danke schön" zu sagen, Beträge niedriger sind als vorher. Warum? Weil bisher keinem Blüm, keinem Kohl, niemandem. Die haben mit der Rente auch Leistungen gezahlt wurden, die sich ihre Rente selber verdient. Sie sind in Solidarität, mit der Rente nichts zu tun hatten. Wir haben in in einem Boot mit den Arbeitnehmern. Wenn die Broschüren gesagt, daß diese Leistungen wegfallen Löhne steigen, steigen auch die Renten. Im Unter- bzw. nicht mehr mit der Rente gezahlt werden. Bei- schied zur Rentenanpassung West, wo die Renten mit spielsweise ist es nicht Aufgabe der Rentenversiche- einem Jahr Abstand folgen, steigen die Renten in den rung, Pflegegeld zu zahlen. Das wird von der Kran- neuen Bundesländern jetzt noch unmittelbar. Wäh- kenversicherung bezahlt. Für Blindengeld muß es die rend die Renten im Westen jedes Jahr nur einmal entsprechenden Ländergesetze geben. Bei Blindheit angepaßt werden, werden sie in den neuen Bundes- auf Grund von Unfall zahlt die Unfallversicherung. ländern, damit sie aufholen, halbjährlich angepaßt. Dieses Geld fällt also nicht einfach weg, sondern wird Die Aufholjagd hat doch bereits erste Früchte gezei- nur nicht mehr über die Rentenversicherung gezahlt. an der Macht waren tigt. Als Sie, liebe PDS, noch Die Kriegsopferfürsorge zahlt für Kriegsopfer, die (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Die sind nicht blind sind. Wenn all diese Gelder nicht mehr von der „lieb"! Das sind Diebe!) Rentenversicherung gezahlt werden, heißt das nicht, daß sie in den Kamin gerauscht sind, sondern alles — ich bin heute christlich, wie ich bin; also gut: PDS wird jetzt ordnungsgemäß dorthin gepackt, wo es ohne Zusatz —, war der Abstand zur westdeutschen hingehört. Rente 70 %; 30 zu 100 %, das macht 70 %. Inzwischen, nach eineinhalb Jahren, sind wir bei fast 60 %, also bei Lassen Sie mich noch etwas zum Sozialzuschlag einem Abstand von ca. 40 % angelangt. Wenn die sagen. — Herr Präsident, dies ist wichtig zur Aufklä-- Rentenaufholjagd so weitergeht — ich hoffe, wir rung. — Der Sozialzuschlag ist eine pauschalierte betreiben sie gemeinsam —, dann werden wir auch Sozialhilfe. Wir gewähren ihn grundsätzlich länger, die Rentengleichheit erreichen. als er im Einigungsvertrag vorgesehen war: einein- halb Jahre länger. Aber für diejenigen, die als Allein- Jetzt noch zu dem im Rentenchinesisch, wie ich stehende mehr als 600 DM oder als Verheiratete mehr zugebe, sehr schwierig darzustellenden Phänomen. als 960 DM haben, entfällt er. Jetzt bitte ich, einmal Zwei unterschiedliche Systeme von ganz unterschied- unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu prüfen, ob licher Herkunft und Bauart zusammenzufügen ist ein das nicht richtig ist. Es gibt in Westdeutschland kaum zu schaffendes Werk. Das müssen Sie sich so 4,4 Millionen Rentner, die 600 DM Rente haben. Sie vorstellen, als müßten zwei Güterzüge während der bekommen keinen Sozialzuschlag. Wenn die Rente Fahrt umgeladen werden — während der Fahrt, und zusammenwachsen soll, müssen wir auch darauf ach- zwar in entgegengesetzter Richtung. ten, daß West und Ost im Gleichgewicht ist. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens. Ist es denn gerecht, daß jemand zu seiner — Ja, so ähnlich ist das. Ein Fürsorgesystem während Mindestrente von 330 DM einen Sozialzuschlag der Fahrt auf ein Leistungssystem umzustellen ist ein bekommt, der in einer Familie mit einem Familienein- kaum zu bewerkstelligendes Unternehmen. Wir kommen von 2 300 DM lebt? Das bekommt nicht nur haben es doch gemeinsam geschafft. Ich bedanke der Staatssekretär. Wenn es zwei Einkommen in einer mich ausdrücklich bei allen Gutwilligen, die dabei Familie gibt, eine kleine Rente mit Sozialzuschlag und mitgewirkt haben und die in der Vorbereitung dieser ein sehr hohes Einkommen, haben beide Partner mehr Überleitung doch gesehen haben, welche fast nicht zu als ein Rentner, der nur 800 DM bekommt und der bewerkstelligenden Schwierigkeiten darin steckten. keinen Sozialzuschlag erhält. Jetzt frage ich Sie: Was Überleitung und Anpassung gleichzeitig zu handha- ist daran gerecht? ben, das ist selbst für mich kaum zu schaffen. Ich gebe zu: Das Rentenrecht ist kompliziert. Wir (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) können alle dazu beitragen, es zu erklären. Daß es die Rentenversicherungsträger bei 4 Millionen Rentnern — Es ist jedenfalls sehr schwer. schwer hatten, die Renten in so kurzer Zeit umzustel- Dann dürfen wir nicht vergessen — der Kollege len, neu auszurechnen, auszuzahlen und die Leute Heyenn hat es schon gesagt —: 900 000 Witwen aufzuklären, das erkenne ich an. Daß es auch Fehlbe- bekommen zum erstenmal eine anständige Witwen rechnungen gibt, ist ganz selbstverständlich. 5944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Nun kann man in einem demokratischen Rechts- genau, was die SED angerichtet hat. Die Menschen staat Einspruch erheben. Ich freue mich, daß die BfA würde aber interessieren, ob Modrow noch immer so heute erklärt hat, daß sie auf die übliche Einspruchs- ruhig im Deutschen Bundestag sitzen könnte, wenn frist von vier Wochen verzichtet. Bei einer solchen man tatsächlich wissen würde, was er alles zu verant- Umstellung muß man die Einspruchsfrist verlän- worten hat. Die PDS würde also gut daran tun, in ihrer gern. eigenen Gruppe eine öffentliche Aktuelle Stunde (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord durchzuführen, um Licht ins Vergangenheitsdunkel neten der FDP) ihrer einflußreichen Mitglieder zu bringen. Sie sehen, wir liegen nicht auf dem Chaiselongue (Zuruf von der PDS/Linke Liste — Joachim und schlafen. Ich trete mit Ihnen in einen Wettbewerb Feilcke [CDU/CSU]: Auch bei den Einflußlo- darüber ein, wie wir die Aufklärung verbessern kön- sen ist es schlimm!) nen. Was nicht passieren darf, ist Angst aus Unsicher- Es fällt mir schwer, in einer Debatte zu sprechen, die heit, Angst aus Unkenntnis. Ich versichere allen eine Gruppierung wie die PDS beantragt hat. Rentnern in den neuen Bundesländern — nicht aus kleinkarierter parteipolitischer Taktik —, daß der (Ottmar Schreiner [SPD]: Sagen Sie so etwas Sozialstaat Deutschland für sie da ist, daß Deutschland zu Ihren Freunden der Block-CDU! — zusammenwächst und die Rente mitwächst. Gegenruf des Abg. Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Das ist selbst unter Ihrem Niveau, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — „Schreier" !) Gred Andres [SPD]: Alles wächst, nur Blüm wird kleiner! — Gegenruf des Abg. Volker — Herr Schreiner, wer so argumentiert wie Sie, stellt Kauder [CDU/CSU]: Ist das wieder ein sich ins Abseits. schlauer Spruch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich tue es aber, weil wir gar nicht oft genug sagen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- können, was wir in der kurzen Zeit seit der Erlangung ten Damen und Herren, nächster Redner ist unser der deutschen Einheit für die Menschen in Ost- Kollege Volker Kauder. deutschland erreicht haben. Das gilt in besonderer (Ottmar Schreiner [SPD]: Vom Wahlkampf in Weise auch für die Rentner in Ostdeutschland. Baden-Württemberg zurück, Herr Kollege!) Zu dem, was die Rentenversicherung für die Men- schen in Ostdeutschland tatsächlich gebracht hat, ist Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine hier schon einiges gesagt worden. sehr verehrten Damen und Herren! Angst geht um im (Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Osten unseres Landes. Nicht von Ihnen!) (Ottmar Schreiner [SPD]: In Württemberg!) Dies alles war nur möglich, weil die Menschen im - Es ist aber nicht die Angst vor der wirtschaftlichen und Westen Deutschlands einen kräftigen finanziellen politischen Zukunft. Es ist die Angst davor, daß die als Beitrag erbringen. Das ist richtig. Das ist unser Beitrag überwunden geglaubte SED-Diktatur nun doch noch für die Gestaltung der inneren Einheit. Die Menschen auf die persönliche Zukunft einen düsteren Schatten im Osten Deutschlands müssen einen persönlich viel- werfen könnte. Es ist die Furcht und Sorge, daß sich in fach schwereren Beitrag leisten. den nun zugänglichen Akten bittere Erkenntnisse finden, daß der von der SED eingesetzte Stasi-Appa- Wir werden auch weiterhin dazu beitragen, daß aus rat auch die eigene Familie und den engsten Freun- den Ruinen des Sozialismus in einigen Jahren eine deskreis vereinnahmt haben könnte. blühende Industrielandschaft entsteht, damit so die Renten auch in Zukunft sicher sind. (Ottmar Schreiner [SPD]: Sagen Sie mal etwas zu Baden-Württemberg!) Ich bitte unsere Landsleute im Osten aber auch um Es ist die Sorge und Furcht, nun bittere Wahrheiten Verständnis dafür, daß wir unsere Wirtschaft und erfahren zu müssen, die man vielleicht nicht so ohne Finanzen zusammenhalten müssen und nicht in weiteres verkraften könnte. Unordnung bringen dürfen. Ohne stabile Mark gibt es keine positive Entwicklung, weder im Osten noch im Ich komme gleich zur Sache. Westen. (Lachen bei der SPD) Wir wissen aber selbstverständlich, daß wir in Die SED des Sozialismus und Kommunismus hat Ostdeutschland nicht alles mit dem gleichen Maßstab Tausenden von Menschen das Leben so zerstört, daß messen können wie in den alten Bundesländern. Wir sie trotz radikaler materieller Verbesserungen in müssen aber auch darauf achten, daß aus notwendi- ihrem Leben nie mehr richtig glücklich werden kön- gen Übergangsregelungen nicht Dauertatbestände nen. Wer dies verantworten muß, hat jedes moralische mit unübersehbaren Folgen geschaffen werden. Recht verloren, sich als Interessenvertreter von Men- schen darzustellen. Beide Aussagen treffen auf die Rentenbescheide zu, von deren Empfängern nun kritisch nachgefragt wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) oder deren Empfänger sogar unzufrieden sind. Wir Die Menschen in Deutschland interessiert nicht, sind den Menschen in Ostdeutschland entgegenge- wozu die PDS eine Aktuelle Stunde im Deutschen kommen, indem wir das differenzierte System von Bundestag beantragt. Sie würden auch keine Schuld- Rente und Sozialhilfe für eine Übergangszeit haben bekenntnisse interessieren. Dazu weiß jeder nur zu zusammenlaufen lassen. Solange die Sozialhilfeträger Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5945

Volker Kauder ihre Aufgaben noch nicht erfüllen können, haben wir fordere ich die Bundesregierung hiermit auf, diese gesagt — das haben wir gemeinsam mit der SPD und Zahlen schnellstmöglich festzustellen, um reagieren FDP gesagt —, dürfen die Menschen nicht darunter zu können. leiden. Deshalb der Sozialzuschlag als pauschalierte (Beifall bei der SPD) Sozialhilfe. Ebenso hätte in dem verteilten Informationsmaterial Wir dürfen aber, wie Professor Ruhland sagte, die des Ministeriums klar ausgeführt werden müssen, Grenze zwischen dem Versicherungs- und staatlichen warum es bei den neuen Rentenbescheiden häufig zu Hilfssystem nicht verwischen, damit die spezifischen Pauschal- und Fehlberechnungen kommt. Die Tatsa- Garantien versicherungsmäßiger Leistungen nicht che, daß das u. a. oft auf fehlende, weil bisher nicht gefährdet werden. Unsicherheiten sind entstanden. benötigte Unterlagen zurückzuführen ist, hätte jeder Deswegen haben wir alle miteinander die Aufgaben, verstanden. die Menschen mit Geduld und mit ganzer Kraft aufzuklären. Daß dazu die PDS nicht geeignet ist, (Dieter-Julius Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: wissen wir. Wir werden aber nicht zulassen, daß sie, Das steht drin! Sie müssen es durchlesen!) wie ihre Vorgängerpartei es gemacht hat, verdunkelt Auf zwei Punkte möchte ich in diesem Zusammen- und die Menschen irreführt. hang nochmals eingehen, und zwar zum ersten auf die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frauenrenten. In den Kompromißverhandlungen zum Zuruf von der PDS/Linke Liste — Christina Rentenüberleitungsgesetz konnten wir als SPD den Schenk [Bündnis 90/GRÜNE): Das machen Bestandsschutz für Frauen wesentlich verbessern. Das Sie doch in ausreichender Weise!) gilt im besonderen für die Anrechnung von Kinderer- ziehungszeiten nach altem DDR-Recht, die wir um anderthalb Jahre verlängern konnten, also bis zum Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Renate Dezember 1996. Jäger das Wort. Da Frauen auch in der ehemaligen DDR das niedri- ger verdienende Geschlecht darstellten, erhielten sie nach der Einigung zu ihrer Rente oft einen Sozialzu- (SPD): Verehrter Herr Präsident! Renate Jäger schlag. Seine Gewährung ist auf unsere Initiative hin Meine Damen und Herren! Das, was die Menschen zwei Jahre länger gesichert. direkt betrifft, wird am intensivsten wahrgenommen. Deshalb gibt es jetzt, nach der Verabschiedung der Eine ebensolche Verlängerung haben wir für die Rentenbescheide, auch die heißesten Diskussionen Laufzeit der Sozialzuschläge erreicht. Bis zu diesem um das im Sommer verabschiedete Rentenüberlei- Zeitpunkt sollte es uns gelungen sein, eine eigenstän- tungsgesetz. dige Alterssicherung für Frauen zu schaffen und vor Doch manche Regelungen im Gesetz hätten die allen Dingen die Wertigkeit der Kindererziehung neu Menschen nicht so erschreckt, wenn ihnen vorher zu durchdenken. klare Informationen gegeben worden wären. In einem Artikel von Dr. Jürgen Borchert, Richter- (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Das ha am Sozialgericht Darmstadt, fand ich ein kurioses ben wir doch!) Beispiel über das derzeitige Maß der Anrechnung von Kindererziehung. Danach müßte eine Frau 35 Kinder Das laute Getöne der Regierung „Keiner bekommt erziehen, um eine Rente in Höhe der durchschnittli- weniger" hat viele Rentnerinnen und Rentner irri- chen Sozialhilfe zu erhalten. Nach Fried rich List ist es tiert. leider tatsächlich so, daß der, der Schweine pflegt, als Zu einer offenen Information gehört auch das produktives und der, der Menschen pflegt oder Benennen von unbequemen und unliebsamen Wahr- erzieht, als unproduktives Glied der Gesellschaft heiten. angesehen wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Schönfärberei hat in diesem Falle auch etwas mit Lüge GRÜNE — Zuruf von der SPD: Leider zu tun. Schöngefärbt hat die Regierung den Wegfall wahr!) des Sozialzuschlags für Verheiratete und ebenso die Zum zweiten geht es um den Wegfall von Blinden-, 1. Ja- Rentenerhöhung in den neuen Ländern zum Pflege- und Sonderpflegegeld. Für diese in der ehe- nuar 1992. maligen DDR erbrachten Leistungen an bestimmte Ich zitiere aus einem Rentnerinnenbrief: Behindertengruppen gibt es im westdeutschen Ren- Im Vertrauen auf Äußerungen verantwortlicher tenrecht keine Entsprechung. Da diese Leistungen Politiker und dadurch im festen Vertrauen auf die aber ab 1. Januar 1992 entfallen, bleibt vielen Men- Beständigkeit unseres Gesamteinkommens ha- schen nur die Abhängigkeit von der Sozialhilfe; in ben wir unseren Lebensstil gestaltet, Versiche- besonderen Fällen ist über die Krankenversicherung rungen abgeschlossen und bescheidene Einkäufe Unterstützung möglich. An diesem Beispiel wird getätigt. Statt der angekündigten Erhöhung von nochmals deutlich, wie wichtig und notwendig eine 11,65 % wurden mir 26,58 % gekürzt. gesetzliche Pflegeversicherung für Behinderte ist. Besonders kraß wirkt sich ihr Fehlen jetzt in den neuen Da der Bundesregierung nach Beantwortung der Bundesländern aus. gestrigen Fragen des Abgeordneten und Kollegen Manfred Kolbe noch keine Informationen über die Unser Gesetzentwurf, der dieses Problem regeln Zahl der Rentner vorliegen, deren Renten und Zusatz- würde, ist eingebracht. Die weitere Lösung liegt in leistungen im Januar niedriger als im Dezember sind, den Händen und Köpfen der Koalitionsfraktionen. 5946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Renate Jäger Danke schön. tenbetrag enthalten. Außerdem wurden die Renten im (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Osten Deutschlands grundsätzlich als Einzelrenten Liste) berechnet, auch bei Verheirateten. Beides ist in der Bundesrepublik anders. Die Rente ist das eine; die gibt es von der Renten- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und versicherung. Pflegegeld und Blindengeld z. B. erhält Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Rainer der Rentner aber von der Krankenkasse, und dort muß Eppelmann das Wort. er es extra beantragen. Bei Verheirateten werden, wenn es um die Feststel- Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! lung der Bedürftigkeit geht, die Renten der Verheira- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dieser teten zusammengezogen. Das bedeutet: Wenn ein Debatte wird es vermutlich immer wieder vorkom- Mann über eine hohe Rente verfügt, wird seine Frau, men, daß Fakten doppelt genannt werden; aber bei auch wenn sie eine niedrige Rente hat, keinen Sozial- der Kompliziertheit dieses Problems ist das vielleicht zuschlag bekommen. Ich finde, das ist gerecht. ganz gut. Ziel aller bisherigen Maßnahmen war es, das DDR- ( [SPD]: Sie haben Ihrer Mutter Rentensystem möglichst sanft überzuleiten und so den Bescheid erklärt, oder?) rasch wie möglich dem bundesdeutschen System — Sie ist Bundesbürgerin, und zwar schon lange. —Es anzugleichen. Dabei war von Anfang an geplant, die zeigt sich erneut, daß das Zusammenwachsen der Renten insgesamt an die Lohn- und Einkommensent- beiden Teile Deutschlands kompliziert ist und Zeit wicklung im Westen zu binden und anzugleichen. braucht. Die Herstellung der inneren Einheit erfordert Nimmt man den Sommer 1989 als Meßzahl, dann u. a. Einfühlungsvermögen, Verständnis und Informa- haben sich die Renten in Ostdeutschland seitdem um tionen, aber auch die Bereitschaft eines jeden, sich 90 % erhöht und sind auf knapp 60 % des Westniveaus selbst zu informieren. angehoben worden. Diese „sanfte Überleitung" In diesem Heft, das in jeden Haushalt in den neuen konnte nur gelingen, weil die Annäherung der Ost- Bundesländern gekommen ist, steht auch das, was ab renten durch halbjährliche Erhöhungen ermöglicht 1. Januar 1992 nicht mehr gezahlt werden kann. wurde. Von 35 % des Westniveaus am Tag der deut- Vielleicht werden diese Hefte jetzt gelesen, nachdem schen Vereinigung über die 58 % des Westniveaus man festgestellt hat, daß m an weniger Geld bekom- heute wird sich die vollkommene Angleichung in den men hat. nächsten Jahren vollzogen haben. Die Schwierigkeiten, die wir beim Zusammenwach- Wir betreiben das mit solcher Eile, weil die Rentner sen und beim Finden der inneren Einheit haben, zu den besonders Benachteiligten in der DDR gehör- werden am Rentenüberleitungsproblem besonders ten und zugleich die kürzeste Lebenszeit zur Verfü- deutlich. Es mußten in kürzester Zeit zwei Rentensy- gung haben, um noch aufzuholen. steme miteinander verbunden werden, die völlig Da wir diese Debatte einem Antrag der PDS/Linke- unterschiedlich waren. Während in der DDR ein Liste zu verdanken haben, sei den SED-Nachfolgern fürsorgeorientiertes starres Rentensystem eingerich- in Erinnerung gerufen, daß zu DDR-Zeiten jede Ren- tet war, gab und gibt es in der Bundesrepublik ein tenerhöhung ein majestätischer Generalsekretärs- leistungs- und lohnbezogenes dynamisches Renten- gnadenakt gewesen ist. Heute gibt es dagegen auch system. bei uns dynamische Renten. Diese folgen automatisch Bei dieser Unterschiedlichkeit war es nicht möglich, der Lohn- und Einkommensentwicklung der Berufstä- alle Rentner gleichermaßen zufriedenzustellen. So tigen; d. h. nicht mehr „Honis Renten-Gnadenakt", kommt es diesmal auch zu geringeren Auszahlungs- sondern endlich Rentenerhöhungsrecht. beträgen. Konkret heißt das: Von den 3,9 Millionen Und dennoch stimmt: Wir muten etwa 4,6 % der Rentnern, die es im Osten gibt, erhalten vermutlich Rentner zu, daß sie diesmal ab Januar 1992 weniger etwa 150 000 bis 180 000 ab dem 1. Januar 1992 Geld bekommen, als sie im Dezember 1991 erhalten weniger, als sie bis zum 31. Dezember 1991 bekom- haben. men haben. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- Für 3,7 Millionen Menschen hat sich das Renten- nenberg) überleitungsgesetz schon jetzt vorteilhaft ausgewirkt: Alle Rentner gleich zu behandeln wäre in manchem Bei Frauen stieg die Rente durchschnittlich um 16 % konkreten Fall Unrecht gewesen. Wie soll eine Frau, und bei den Männern durchschnittlich um 21 %. die sozialhilfeberechtigt ist, verstehen, daß den (Günther Heyenn [SPD]: Ist das noch mal die Zuschlag, den sie erhält, auch die Ehefrau eines Rede von Blüm?) Rentners mit sehr hoher Rente bekommt? Darum ist — Ich habe versucht zu sagen, daß m an manches ein Rentnerehepaar erst dann sozialhilfeberechtigt, vielleicht zweimal sagen muß. wenn beide Partner zusammen weniger als 960 DM Wie kommt das, daß bei der Angleichung der Rente erhalten. Systeme 180 000 — hauptsächlich verheiratete — Frauen ab dem 1. Januar weniger Geld zur Verfügung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- haben als vorher? geordneter Eppelmann, schon mein Vorgänger im In der DDR war der Auszahlungsbetrag identisch Amt hat das Plenum darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Rente. Pflegegeld, Blindengeld, Kinderzu- die Gestaltungsfreiheit des Präsidenten bei einer schläge und andere Sozialzuschläge waren im Ren Aktuellen Stunde sehr eingeschränkt ist. Ich muß Sie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5947

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg darauf aufmerksam machen, daß Sie am Ende Ihrer Wir haben uns schweren Herzens für letzteres ent- Redezeit sind. schieden und müssen das den Bürgern verdeutli- chen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Danke schön. Bevor ich auf die hauptsächlichen Klagen eingehe, Zwei gute Nachrichten zum Schluß; ich möchte sie lassen Sie mich zunächst den Rentenversicherungen nennen: Die nächste Rentenerhöhung kommt gewiß, und insbesondere ihren Mitarbeitern dafür danken, für Ostdeutsche schon in sechs Monaten. daß sie oft bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähig- (Ottmar Schreiner [SPD]: Morgen gibt es keit gearbeitet haben, um die gleichzeitige Umstel- schönes Wetter!) lung des Rentenrechts im Westen wie im Osten Sie wird nach dieser Anpassung voll durchschlagen. voranzubringen. Wenn dabei Fehler auftreten, so ist Die 3,9 Millionen Rentner in den neuen Ländern dies bei dem Massengeschäft nicht völlig zu vermei- gehören in ihrer übergroßen Mehrheit zu den eindeu- den. tigen Gewinnern der deutschen Einheit. Ich finde, das Verständnis muß man aber auch für die Bürger ist gut so. haben, wenn Rentenerhöhungen nur wenige Pfen- Ich danke Ihnen für Ihr dummes Dazwischenge- nige ausmachen oder die Zahlbeträge niedriger sind rede. als bisher; denn erfahrungsgemäß blickt der Rentner zu Recht nur auf das, was als Zahlbetrag auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Rentenbescheid steht. Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das war aber zu Herrn Schreiner gesagt, nicht zum Präsiden Lassen Sie mich einige Gründe für mögliche Min- ten!) derungen anführen. Die Kollegin Frau Dr. Babel und auch andere Redner haben schon darauf hingewie- sen, daß sich mit dem Wegfall des Sozialzuschlages Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bei Verheirateten zwangsläufig Änderungen erge- hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl. ben. Ein niedrigerer Zahlbetrag kann aber auch darauf zurückzuführen sein, daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis bestimmte Leistungen, wie z. B. Dr. Eva Pohl (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Blinden- und Pflegegeld oder der Kinderzuschlag zur Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Rente, nicht mehr von der Rentenversicherung ausge- Debatte gibt Anlaß, sich mit einem Problem auseinan- zahlt werden. Sie müssen jetzt bei den zuständigen derzusetzen, das gerade jetzt uns Abgeordnete aus Trägern — der gesetzlichen Krankenversicherung, den neuen Bundesländern besonders betrifft. Seit die der Sozialhilfe oder beim Arbeitsamt — beantragt ersten vier Millionen Bescheide von seiten der Ren- werden. — Dies ist ein Komplex. tenversicherung an die Rentner geschickt wurden, Ein weiterer betrifft die Hinterbliebenenrente. kommen in Ihre wie in meine Sprechstunde viele Grundsätzlich werden Hinterbliebenenrenten im Ver- - Bürger mit ihren Rentenbescheiden. Sie erwarten, daß gleich zum früheren DDR-Recht erhöht; aber es gibt wir als Teil des Gesetzgebers ihnen möglichst rasch auch einige Fälle, wo das nicht so ist, z. B. dann, wenn Auskunft geben und Korrekturen mitveranlassen eigenes Einkommen auf den Zahlbetrag der Hinter- können. Sie verstehen oft die abstrakte Sprache der bliebenenrente zu 40 % angerechnet wird, weil der Rentenjuristen nicht. Auch ich muß gestehen, daß ich, Freibetrag in Höhe von 622,25 DM überschritten wird. obwohl am Gesetzgebungsverfahren beteiligt, große Bei hoher eigener Rente oder hohem eigenem Schwierigkeiten habe, diese in einer Reihe von Fällen Arbeitseinkommen kann dies dazu führen, daß die nachzuvollziehen. Hinterbliebenenrente teilweise oder ganz ruht. Ver- Deshalb ist mehr Klarheit und mehr Verständlich- schärft wird diese Situation dadurch, daß auch bei der keit in den Rentenbescheiden und ihren Erklärungen Hinterbliebenenrente zunächst eine Pauschalierung unerläßlich. Das gilt insbesondere in all den Fällen, in vorgenommen wird. Das heißt, der Berechnung wer- denen zunächst nur vorläufige Umrechnungen vorge- den 35 Versicherungsjahre mit einer Bewertung von nommen wurden. Warum kann nicht auf jedem dieser 75 % des Durchschnittsentgelts zugrunde gelegt. Bescheide deutlich stehen: Achtung, vorläufige Folge in einer Reihe von Fällen ist, daß sich entwe- Umwertung; Korrektur erfolgt von Amts wegen? der nichts ändert oder sogar Einbußen hinzunehmen (Ottmar Schreiner [SPD]: Achtung, Blüm!) sind, während sich bei exakter Berechnung Erhöhun- Dann wären auch die zahlreichen Widersprüche gen in beträchtlichem Umfang ergeben würden. — 15 000 in der ersten Woche — nicht erforderlich. Was Minierhöhungen um zwei bis drei Pfennige Der Hintergrund dieser vorläufigen Regelungen betrifft, die insbesondere bei Empfängern von SV- war doch folgender: Entweder berechnen wir wenig Rente und früheren Zusatzversorgungen zu verzeich- Renten ganz korrekt und lassen alle anderen war- nen sind, so sind sie auf Rundungsdifferenzen bei der ten, Einführung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner zurückzuführen. Da die Überführung von (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Sehr rich Zusatzversorgungen in die Rentenversicherung eben- tig!) falls vorläufig pauschaliert erfolgt, gibt es auch hier oder wir geben allen etwas und müssen später Kor- eine Menge von Irritationen. rekturen vornehmen. Hier steht im Vordergrund, zunächst einen soge- (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Richtig!) nannten anpassungsfähigen Rentenbetrag aus SV- 5948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Eva Pohl Rente und Zusatzversorgung zu ermitteln. Mit Hilfe möchte ich nur sagen: Der Mensch lebt nicht von bestimmter Hochwertungsfaktoren wird zunächst im Kaffee allein. Durchschnitt eine Gleichstellung des Rentners mit (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Zusatzversorgung mit einem Rentner aus der FZR dem Bündnis 90/GRÜNE) erreicht. Aber natürlich gibt dies nicht die im Einzel- Es gibt eben auch Verzerrungen bei den Lebenshal- fall individuell zustehende Rente wieder, und je später tungskosten, die keine so günstige Relation zulas- der Rentenbeginn, desto höher die Abweichungen. sen. Also auch hier nur eine vorläufige Rentenberechnung, aber aus den Rentenbescheiden für den Laien nicht Herr Kauder hat zu Beginn seiner Rede den Kolle- deutlich zu erkennen. ginnen und Kollegen von der PDS gegenüber erklärt, daß sie kein moralisches Recht haben, hier die Inter- Gerade bei diesen oft gravierenden Abweichungen essen ihrer Landsleute zu vertreten. appelliere auch ich an die BfA, diese Fälle möglichst rasch aufzugreifen und eine exakte Neuberechnung (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Richtig!) durchzuführen. Ich begrüße daher, daß der Bundesar- Ich finde das eine unhaltbare Position. Ich denke, die beitsminister insoweit schon aktiv geworden ist, und Kolleginnen und Kollegen von der PDS sind gewählte hoffe, daß unser gemeinsamer Appell rasch Wirkung Abgeordnete, genauso wie ihre Kollegen von der zeigen wird. CDU und der FDP, die aus den Blockparteien gekom- Bei der Rentenanpassung zum 1. Januar 1992 — das men sind. Ich möchte diesen Kollegen und Kollegin- wird trotz klarstellender Presseberichte oftmals nicht nen der CDU und der FDP verstanden — bezieht sich die Anpassung nur auf den (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie sprechen sogenannten lohnbezogenen, das heißt dem jetzt von Äquidistanz, ja?) bundesdeutschen Rentenrecht entsprechenden Ren- kein moralisches Recht absprechen, hier die Interes- tenbetrag. sen ihrer Landsleute zu vertreten. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- CSU: Sie können tun, was Sie wollen, und wir geordnete Dr. Pohl, ich darf und will Sie nicht besser tun, was wir wollen! — Weiterer Zuruf von behandeln als den Pfarrer Eppelmann. Ich möchte der CDU/CSU: Sie möchten sich bei der SED mich auch nicht dem Verdacht aussetzen, Sie zu anbiedern; das ist wohl vorbei! — Weitere privilegieren. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende zu kom- Zurufe) men. — Ich habe keine Veranlassung, mich hier anzubie- dern, sondern ich denke, daß wir als Parlamentarier Dr. Eva Pohl (FDP): Ich komme sofort zum Ende. — uns hier nicht gegenseitig so behandeln sollten. Nur diese wird um 11,65 % angehoben.

Ich möchte noch eines sagen. Schönfärberei ist hier Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Entschul- nicht angebracht. Aber trotz aller Schwierigkeiten digen Sie bitte, ich will Sie eben unterbrechen. — muß erneut klar gemacht werden, welche Verände- Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter rungen — im Positiven und im Negativen — sich Feilcke, die Zwischenrufe werden durch ihre Vielzahl tatsächlich ergeben. Gestatten Sie mir, ein positives unverständlich. Ich bitte daher, wenn Sie schon Beispiel zu nennen. dazwischenrufen, es nacheinander zu tun. Aber in (Widerspruch bei der SPD) jedem Fall bitte ich darum, dafür Sorge zu tragen, daß — Ich möchte das noch sagen. Meine Mutter hat im sich die Rednerin noch verständlich machen kann. — „glorreichen" SED-Staat eine Rente mit Witwenrente Frau Mascher, ich habe Ihnen die Zeit nicht angerech- von 440 Mark gehabt. Jetzt bekommt sie 1 581 DM net; Sie können fortfahren. ausgezahlt. (Zurufe von der CDU/CSU: Bravo!) Ulrike Mascher (SPD): Die Haltung, die hinter Das ist eine Erhöhung von 360 %. Frau Schenk, ich diesen Zwischenrufen steht, hat uns bei einem Bereich darf Ihnen sagen: Meine Mutter konnte sich für ihre des Rentenüberleitungsgesetzes eine sehr schwierige Rente in der DDR 10 Pakete Kaffee kaufen; jetzt kann Debatte beschert. Sicher war die angreifbarste Rege- sie 200 kaufen. lung im Rentenüberleitungsgesetz die Frage der pau- schalen Kürzungen bzw. der individuellen Aberken- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — nungen von Renten aus Zusatz- und Sonderversor- Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Kaf- gungssystemen. In diesem Bereich gibt es ganz erheb- fee kann man nicht essen! — Günther liche Verunsicherungen, Verärgerungen und auch Heyenn [SPD]: Täglich ein Paket Kaffee! — eine große Anzahl von Widersprüchen. Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist ungesund!) Ursprünglich hatte der Entwurf der Koalition und des Arbeitsministeriums sofortige Kürzungen der Son- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- derrenten bzw. der Gesamtversorgung aus Sozialver- geordnete Mascher, jetzt kann ich Ihnen das Wort sicherungs- und Zusatzrenten auf 1 500 DM vorgese- erteilen. hen und für Leistungen aus dem Sonderversorgungs- system der Staatssicherheit eine Kürzung auf 600 DM. Ulrike Mascher (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Frau Dr. Pohl, zu Ihrem Die SPD hat sich in den Beratungen dafür einge- anschaulichen Beispiel mit den 200 Paketen Kaffee setzt, daß bei den laufenden Renten aus den Zusatz- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5949

Ulrike Mascher versorgungssystemen die Begrenzung auf Ich bin etwas verwundert gewesen, daß die Kollegin 2 010 Mark, die von der demokratisch gewählten Mascher die PDS so verteidigt hat. Volkskammer vorgenommen wurde, auch im Renten- (Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Sie überleitungsgesetz festgeschrieben wurde. hat die Würde des Parlaments verteidigt und Bei der Umrechnung der Sonder- und Zusatzver- nicht die PDS!) sorgungsrenten in Renten nach dem bundesdeut- Das hat fast den Eindruck gemacht, als ob Sie doch das schen Rentenrecht gibt es jetzt keine pauschale gemeinsame Strategiepapier im Auge hatten; aber Begrenzung. Es gibt allerdings eine Begrenzung für das mag ich nicht recht glauben. diejenigen, die in leitender Stellung tätig waren. Da kommen im Einzelfall für bestimmte Personengrup- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) pen sicher Ungerechtigkeiten vor; jedenfalls geht das Ich will jetzt noch einmal auf die Rentenbescheide aus den Schreiben hervor. Ich denke, daß es hier eingehen. Es ist natürlich ganz selbstverständlich, daß Widersprüche und Prozesse geben wird. bei Rechenfehlern auf Rentenbescheiden bzw. bei Wir haben uns im Ausschuß bemüht, einen mög- fehlerhafter Anwendung des Rentenrechts durch die BfA sofort die Korrigierung vorgenommen wird. Wir lichst tragbaren Kompromiß zu finden; jedenfalls hat sich die SPD dafür eingesetzt. Das ist dann auch müssen aber auch bedenken, daß gerade die Senioren gemeinsam von allen Parteien so im Rentenüberlei- in den neuen Bundesländern mit der Frage von nicht allzu tungsgesetz formuliert worden. Einspruchsrechten und Einspruchsfristen bewandert sind. Das betrifft nicht nur die Senioren in Gerade in diesem Bereich muß man, glaube ich, den fünf neuen Ländern, sondern auch die Senioren in überlegen, ob eine solche Regelung z. B. für Schuldi- allen Bundesländern. Gerade ältere Menschen tun rektoren auf Dauer wirklich tragfähig ist. Ich denke, sich sehr schwer, ehe sie in ein Widerspruchsverfah- wir sollten uns nach den Erfahrungen mit dem Ren- ren eintreten. Wir sollten die Bitte formulieren, daß die tenüberleitungsgesetz in einigen Monaten zusam- BfA die verwaltungstechnischen Fristen kulant hand- mensetzen und prüfen, ob hier Änderungen notwen- habt. dig sind; das gilt aber nicht nur für diesen Bereich. Wir Wenn ich zu mir nach Thüringen sehe und unsere haben schon einige Reparaturen vorgenommen, und achte, muß ich sagen: Ich bin optimi- ich denke, wir sollten im Lichte der Erfahrungen mit Wirtschaft be tr dem Rentenüberleitungsgesetz prüfen, ob wir noch stisch, und ich bin deswegen optimistisch, weil die weitere Veränderungen vornehmen müssen. Strukturdaten eine entsprechende Sprache sprechen. Jetzt so zu tun, Frau Bläss, als ob die Rentner durch das Ich danke Ihnen. Renten-Überleitungsgesetz in ein Elend, in ein tiefes (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Elend verfallen, ist in meinen Augen politische Brand- beim Bündnis 90/GRÜNE) stifterei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich be- Alle politisch Verantwortlichen, die dieses Gesetz mit danke mich, daß Sie mit Ihrer Zeit so hervorragend beraten und beschlossen haben — und da sind Sie von ausgekommen sind. der PDS zum Glück draußen vor gewesen —, sind sich Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Kronberg ihrer Aufgaben bewußt. Ich denke, wir werden das aus Neudietendorf das Wort. auch weiterhin in gemeinsamem Einvernehmen lösen. Wenn ich Ihre Einwürfe höre, Frau Bläss, denke ich Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Sehr geehrter mir, vielleicht wäre es besser gewesen, auch bei den Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Beratungen des Gesetzes in der Ausschußsitzung (Ottmar Schreiner [SPD]: Bringen Sie jetzt dabeizusein und sich dort einzubringen. Ihre Tante ins Spiel?) (Petra Bläss [PDS/Linke Liste]: Ich war dabei! — Meine Tante lasse ich jetzt lieber draußen. — Sie können gern in Protokoll schauen!) Ich denke, die Debatte hat gezeigt, daß die von der — Ich kann mich nicht daran erinnern; aber gut, ich PDS beantragte Aktuelle Stunde ein weiterer mißlun- will mich nicht darum streiten. — Ich denke mir aber, gener Versuch ist, Unsicherheit in den Reihen der wir sollten uns von unserer gemeinsamen Arbeit nicht Senioren in den neuen Ländern zu verbreiten. Sie als abbringen lassen. SED-Nachfolgepartei wollen hier den Eindruck Vielen Dank. erwecken, als ob die Einführung des bundesdeut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Rentenrechtes unrechtmäßige Nachteile be- wirkt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wir haben in der Zusammenarbeit innerhalb aller Fraktionen das Vizepräsident Hans Klein: Nun erteile ich dem Renten-Überleitungsgesetz beraten und auch be- Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort. schlossen. Ich denke mir, das war ein gemeinsamer Erfolg. Es ist ein Zeichen vom Zusammenwachsen der beiden deutschen Teile. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Herr Kollege Kronberg, Frau Es gibt viele Verbesserungen. Ich will sie nicht noch Mascher hat nicht die PDS verteidigt; einmal aufzählen; sie sind hier oft genannt worden. Ich will auch nicht extra auf die Vorwürfe eingehen, (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!) die von Ihrer Seite aus erhoben worden sind, weil auch Frau Mascher hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, darauf schon mehrfach geantwortet worden ist. daß die Damen und Herren der PDS frei gewählte 5950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Ottmar Schreiner Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind und gierung selbst systematisch Illusionen in Ostdeutsch- die gleichen Rechte und Pflichten wie andere frei land geweckt und geschürt hat. gewählte Abgeordnete dieses Hauses haben. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE — Volker Kauder dem Bündnis 90/GRÜNE) [CDU/CSU]: Das ist überhaupt nicht wahr!) Nun sagt der Herr Kollege Kauder, das sei nicht Das entspricht unserem Demokratieverständnis, und wahr. Ich will Ihnen ein Zitat vortragen, um zu zeigen, wenn Sie dies anders sehen, sollten Sie es sagen. daß es wahr ist. Das Arbeitsministerium hat mit Datum Zum Thema selbst: Ich denke, daß wir allen Grund vom 14. November 1991 folgende Presseerklärung haben, sehr sensibel mit diesem Thema umzugehen, unter der Überschrift „Kabinett beschließt Renten- weil es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, erhöhung um 11,65 % für Ostdeutschland" veröffent- die an ihrem Lebensabend zum erstenmal erfahren, licht. Darin heißt es: was Demokratie ist, und denen man zumindest unnö- Das Kabinett hat heute auf Vorschlag von Bun- tige Enttäuschungen an und mit dieser Demokratie desarbeitsminister Norbert Blüm eine Anhebung ersparen sollte. der Renten in den neuen Bundesländern um (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke 11,65 % zum 1. Januar 1992 beschlossen. Liste) — Wörtliches Zitat Blüm: Deshalb will ich darauf hinweisen, daß zumindest Die Rentenanpassung ist ein weiterer Schritt hin meine Erfahrungen aus der vergangenen Woche — ich zum einigen Sozialstaat. Die Aufholjagd in den bin mehrfach in Ostdeutschland gewesen — — neuen Bundesländern ist erst beendet, wenn in Ost- und Westdeutschland die Renten gleich hoch (Zuruf von der CDU/CSU: Mitteldeutsch sind. land! — Oh-Rufe von der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) — Ich war nicht in Mitteldeutschland, ich war nicht in — Nein, so ist es gerade nicht. Wir haben ja jetzt Hessen; ich war in Ostdeutschland, ich war u. a. in offenkundig nicht nur einen Jäger 90, sondern einen Rostock und in Potsdam. Wenn Sie von Mitteldeutsch- Aufholjäger 92. land reden, haben Sie möglicherweise Erklärungsbe- darf, sehr verehrter Herr! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Mit dieser Erklärung haben Sie den Menschen beim Bündnis 90/GRÜNE — Oh-Rufe von drüben eingeredet, ihr Rentenzahlbetrag würde zum der CDU/CSU) 1. Januar 1992 um 11, 65 % erhöht werden. (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Er ist ja Ich habe erfahren, daß es in der Tat sehr viel noch höher als 11,6 %! Er be trägt 21 % bei Verunsicherung bei den Menschen drüben gibt, daß - den Frauen!) manche auch enttäuscht sind und daß manche auch unzufrieden sind; ob zu Recht oder zu Unrecht, sei erst Ich wiederhole: Sie haben ihnen eingeredet, ihr Ren- einmal dahingestellt. tengesamtbetrag würde zum 1. Januar 1992 um die Summe von 11,65 % erhöht werden. Deshalb werden wir nach der umfänglichen Peten- tenpost, die wir erhalten und die vermutlich auch das (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Noch Bundesarbeitsministerium erhalten hat, und nach höher!) einer an Fallgruppen orientierten systematischen Nun sage ich Ihnen: Gerade das ist falsch. Sie Auswertung dieser Petentenpost uns vorbehalten, ob wußten es damals, so wie wir es wissen, die wir uns mit wir als SPD-Fraktion — konsensorientiert, Herr der Problematik beschäftigt haben, und Sie wissen es Blüm — anregen, möglichst schnell innerhalb des heute: Mehr als 50 % der Männer und nahezu alle ersten Quartals dieses Jahres eine Überprüfung in Frauen erhalten Renten, die zum 1. Januar 1992 nicht den Bereichen vorzunehmen, die anhand der Anhalts- in vollem Umfang dynamisiert werden. Sie haben aber punkte, die wir gewinnen, besonders fraglich erschei- genau das Gegenteil mit der zitierten Presseerklärung nen könnten. Das gilt auch für das Pauschalverfahren, suggeriert. Sie haben nämlich den Eindruck erweckt, das Sie, Frau Kollegin Pohl, angesprochen haben. Zu zum 1. Januar 1992 gibt es bezogen auf den Renten- diesem Verfahren gab und gibt es keine Alterna- gesamtbetrag 11,65 % mehr. tive; (Widerspruch bei der CDU/CSU — Clemens (Günther Heyenn [SPD]: Doch, Kaffee!) Schwalbe [CDU/CSU]: Wieso hat die SPD denn zugestimmt?) aber wenn sich herausstellen sollte, daß dieses Ver- fahren zu einer Unterbewertung tendiert, müßte es Nun sage ich Ihnen: Wenn jemand wie Sie, Herr möglich sein, zumindest über einen denkbaren Feh- Aufholjäger 92, durch grobschlächtige Propag anda lerausgleich, insbesondere für ältere Rentnerinnen (Zuruf von der CDU/CSU: Militarist Schrei- und Rentner aus Ostdeutschland, nachzudenken. ner!) Die Enttäuschungen, Herr Minister Blüm, und die und Selbstbeweihräucherung völlig unnötig das Ver- Unzufriedenheiten liegen nicht nur an nicht lesbaren trauen in die Demokratie und in die Solidität unserer Formularen, sondern sie hängen zu einem erhebli- Entscheidungen aufs Spiel setzt, dann tut er der chen Teil auch damit zusammen, daß die Bundesre Demokratie insgesamt keinen Gefallen; er schwächt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5951

Ottmar Schreiner sie auch im Ansehen der Menschen in Ostdeutsch- zusammen mit der Überleitung die Beträge, und zwar land. Das ist der Vorgang, um den es hier geht. so, daß bei den Männern — ich wiederhole mich — die (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ durchschnittliche Erhöhung am 1. Januar nicht GRÜNE und der PDS/Linke Liste — Jochen 11,65 %, sondern 16 % beträgt und daß bei den Frauen Feilcke [CDU/CSU]: Fünf Minuten können die durchschnittliche Erhöhung nicht 11,65 %, son- doch lang sein!) dern 21 % ausmacht. Nun sage ich Ihnen, daß wir als sozialdemokratische Außerdem ist es richtig, daß es in einigen Fällen Fraktion aus einer absoluten Minderheitenposition durch den Wegfall des Sozialzuschlags keine Erhö- heraus hung und in einigen Fällen sogar eine Kürzung gegeben hat. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es auch recht! — Heiterkeit bei der CDU/CSU) Aber es bleibt dabei: Die Renten sind um 11,65 % erhöht worden. Der Zahlbetrag ist im Durchschnitt bei mit den Ergebnissen des Rentenüberleitungsgesetzes den Männern um 16 % und bei den Frauen um 21 % insgesamt durchaus zufrieden sein können. Wir haben gestiegen. für die Menschen drüben den Sozialzuschlag beim Zugang um zwei Jahre verlängern können, wir haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Sozialzuschlag beim Bestandsschutz um zwei Jahre verlängern können. Uns ging es im wesentli- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letzter chen darum, eine bloße Überstülpung der Westrege- Redner in der Aktuellen Stunde hat der Abgeordnete lungen auf Ostdeutschland zu verhindern; wir wollten Heinz Schemken das Wort. vielmehr herausfinden, inwieweit strukturell progres- sive Elemente — — Heinz Schemken (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube die Praxis Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- draußen und insbesondere die Diskussion hier geordneter Schreiner, Sie demonstrieren dem Haus, machen doch deutlich, daß bei uns — wie in keinem daß Sie die Kunst der freien Rede perfekt beherr- anderen Land — festzustellen ist, daß uns der Anpas- schen. sungsprozeß von einer sozialistischen Planwirtschaft, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mißwirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft in der PDS/Linke Liste) besonderer Weise forde rt. Dabei treten markante Damit fällt es Ihnen auch überhaupt nicht schwer, nun Schnittstellen zutage. aufzuhören; Im übrigen, Herr Schreiner, wir wissen sehr wohl, (Heiterkeit) daß ein Tupfer in die Diskussion gehört, aber ich darf denn Ihre Redezeit ist abgelaufen. den Sozialdemokraten ausdrücklich bestätigen: Das waren moderate und der Sache angemessene Bei- Es könnte sein, daß der Bundesminister für Arbeit träge. und Sozialordnung, der sich geschäftsordnungsmäßig korrekt gemeldet hat, so lange spricht, daß ich die Ich meine, daß sich Schnittstellen in besonderem Debatte erneut eröffnen muß. Sollte dies der Fall sein, Maße bei den sozialen Sicherungssystemen ergeben. kann Ihre Fraktion Sie wieder melden. Aber bis dahin Nun haben wir bei der Rentenüberleitung auf die muß ich darauf bestehen, daß Sie zum Ende kom- neuen Bundesländer den bewährten Generationen- men. vertrag eingeführt. Das ist wohl der schwierigste Teil des Unternehmens überhaupt. Wenn Sie von einem „Aufholjäger 92" sprechen und damit den Bundesar- Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident, ich darf auf beitsminister meinen, dann muß ich hier einmal aus- Ihre freundliche Ermahnung hin mit einem Satz drücklich sagen: Er ist ja wirklich der Minister, der schließen. reparieren muß, Ich versuche immer wieder bei meinen Veranstal- (Dr. Peter Struck [SPD]: Aber nicht mehr tungen in Ostdeutschland, den Menschen deutlich zu lange, Herr Schemken!) machen, daß mehr Stimmen für die SPD auch mehr soziale Gerechtigkeit in Ostdeutschland bedeuten. denn die Wirtschaft hat Schwierigkeiten, so voranzu- Das gelingt meistens. kommen, wie wir es uns wünschen. Deshalb muß er permanent reagieren, und das trifft doch auch auf Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im zuständigen Fachausschuß zu. Wir sind doch der PDS/Linke Liste — Lachen bei der CDU/ ständig gefordert. CSU) (Zuruf von der SPD: Aufholjäger im Tiefflug! — Gegenruf von der CDU/CSU: Passen Sie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort auf! Der trifft Sie noch!) hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, den an die Geschäftsordnung zu erinnern ich mir Daher wollen wir dem Minister einmal unseren Dank erlaube. abstatten. Das darf ich hier auch einmal ausdrücklich sagen.

Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sozialordnung: Die Rentenanpassung in den neuen Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sehr gut, Herr Bundesländern zum 1. Januar betrug 11,65 %. Wenn Minister! Weiter so!) es anders gewesen wäre, frage ich mich, warum Sie Um noch einmal auf die Frage des Generationen- dann zugestimmt haben. Allerdings verändern sich vertrages zurückzukommen: Die Be troffenen — es 5952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Heinz Schemken sind die älteren Menschen, die durch die SED- Schönen Dank. Herrschaft um ihren Lebensertrag gebracht wurden; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das darf ich hier ausdrücklich sagen — warten auf eine schnelle ihres Angleichung Lebensstandards an den Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Meine Lebensstandard hier im Westen. Der Sozialbeirat stellt Damen und Herren, damit sind wir am Ende der in seinem Gutachten vom 6. Dezember 1991 eindeutig Aktuellen Stunde. fest — das können Sie nachlesen —, daß die Lage der Rentenversicherung, was die einheitlichen Anpas- Ich kann nun den nächsten Tagesordnungspunkt sungsverfahren zwischen Ost und West angeht, damit aufrufen. Es handelt sich um den Tagesordnungs- in Zusammenhang steht, daß das Entgeltniveau in Ost punkt 7: und West weitgehend angenähert wird. Das ist das Beratung der Beschlußempfehlung und des eigentliche Ziel, das wir erreichen müssen. Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß) Damit es bei der Zusammenführung in unserem Vaterland keine Gewinner und Verlierer gibt, haben zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. wir in einem ungewöhnlichen Kraftakt — der Minister Dietmar Kansy, Peter Götz, , hat soeben noch einmal darauf hingewiesen — halb- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der jährlich Erhöhungen um jeweils mehr als 10 % zugun- CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP sten der Rentner im Osten vorgenommen. Ich darf Wohnen im Alter — Förderung der Selbstän- sagen: Es fließen 19 Milliarden DM von West nach digkeit in der Gemeinschaft Ost, und das wollen wir doch auch. Wir wollen doch zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele teilen und Solidarität beweisen. Das war doch der Iwersen, Dieter Maaß (Herne), Siegfried Schef- Ausgangspunkt der Wiedervereinigung. fler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wir brauchen auch Akzeptanz, denn mittelfristig Wohnen im Alter — das müssen wir auch einmal deutlich sagen — führt dieser Aufholprozeß zu einer Schieflage, was die — Drucksachen 12/434, 12/1571, 12/1763 — Rentner in den westlichen Ländern angeht. Das sollte Berichterstattung: man hier ausdrücklich einmal sagen. Aber das wollten Abgeordnete Peter Götz wir ja auch, um den älteren Menschen in den neuen Gabriele Iwersen Bundesländern schnell zu einem besseren Lebens- Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von standard zu verhelfen. einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann darf ich dies als Um aus dem Rentental des Arbeiter- und Bauern- beschlossen feststellen und die Debatte eröffnen. staates herauszukommen — das wollen wir ja auch —, Zunächst erteile ich das Wort dem Abgeordneten gab es keine andere Wahl, als Auffüllbeträge und Götz. auch Sozialzuschläge zu gewähren. Bei Männern waren es 50 %, bei Frauen 90 %. Der Minister hat die Peter Götz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr übrigen Zahlen schon genannt. Ich darf feststellen, geehrten Damen und Herren! Die zunehmende Zahl daß hier noch ein großes Bedürfnis nach Aufklärung älterer Menschen fordert neue Konzepte, auch beim besteht. Dies gehört dazu. Wir müssen auch feststel- Wohnungsbau. Wir alle wissen, die in den vergange- len, daß das Verwirrspiel, das hier betrieben wird, das nen Jahren erfreulicherweise stark gestiegene Le- Ziel hat — das macht die PDS ja ganz geschickt —, bei benserwartung hat auch Probleme mit sich gebracht. diesem Erklärungsprozeß möglichst Sperrfeuer zu Mit unserem Initiativantrag „Wohnen im Alter" wol- legen. Ich muß sagen, sie hängen an alten Strickmu- len wir erreichen, daß sich die Wohnungs- und Städ- stern. Die Wolle hat sich zwar geändert, aber gestrickt tebaupolitik im Bund, aber auch in den Ländern und wird mit gleichem Muster. Es sind auch dieselben den Gemeinden frühzeitig mit den zu erwartenden Schablonen, mit denen sie arbeiten. demographischen Veränderungen befaßt, diese Her- ausforderungen angeht und die politischen Weichen (Zuruf von der CDU/CSU: Die Schafe sind rechtzeitig stellt. auch dieselben!) Für das Jahr 2030 wird ein Ansteigen der über Das haben sie über Jahrzehnte getan. Aber wir lassen 60jährigen von heute 16 Millionen auf 23 Millionen uns nicht von der soliden Grundlage auch für eine prognostiziert. Die jährliche Zunahme unserer Bevöl- sichere Rente auf die mittelfristige Perspektive hin kerung zwischen 500 000 bis zu 1 Million, die erwartet ablenken. Wir werden die Lage der Menschen Tag für wird, vor allem durch Zuzug von Aussiedlern und Tag, Stück für Stück verbessern. Das ist der solide Asylbewerbern, die eine menschenwürdige Wohn- Weg. Wir werden auch die Lasten gemeinsam tragen, raumversorgung erwarten, ist hierbei noch nicht die es aus der Wiedervereinigung zu tragen gilt. berücksichtigt. Bei diesen sich elementar verändernden Rahmen- Ich darf allen herzlichen Dank sagen, die an dieser bedingungen und gleichzeitig bei einem immer enger großen Aufgabe mitgewirkt haben, die Rente überzu- werdenden finanziellen Korsett der öffentlichen leiten und den Generationenvertrag in seiner Faszina- Haushalte ist es nicht damit getan, einfach nur nach tion auch für die Menschen in den neuen Bundeslän- mehr Geld des Steuerzahlers zu rufen. Was wir dern einzuführen. Ich glaube, hiermit ist ein Stück brauchen, sind neue Wege, die den sich künftig noch Hoffnung verbunden und wir sind angehalten, dies mehr verändernden Strukturen Rechnung tragen. gemeinsam auch weiter zu leisten. Zukunftsorientiertes Handeln muß sich den daraus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5953

Peter Götz erwachsenden sozialen Fragestellungen, vor allem Die im Juli vergangenen Jahres beschlossene neue auch dem Wohnungsmarktgeschehen und der städte- Baunorm DIN 18025 über barrierefreie Wohnungen baulichen Entwicklung, verstärkt zuwenden. Das sollte, wo immer möglich, Anwendung finden. Solche heißt: Wohnungspolitik für die ältere Generation Maßnahmen kosten, wenn sie frühzeitig bei der Pla- muß Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik nung berücksichtigt werden, nicht unbedingt mehr sein. Geld. Wir wollen erreichen, daß die Länder ihre Richtlinien für den öffentlich geförderten Wohnungs- Beim Bau von neuen Wohnungen ist bereits an das bau darauf abstimmen. Leben im Alter zu denken. Wir brauchen im Woh- nungsbau mehr Multifunktionalität. Je flexibler und Ein anderes Thema, liebe Kolleginnen und Kolle- vielfältiger die Nutzungsmöglichkeiten sind, die die gen: Ist es nicht humaner und gesamtwirtschaftlich einzelnen Räume einer Wohnung, die das Gebäude gesehen auch richtiger, gezielt Steuergelder in die und vor allem das Wohnumfeld für Menschen in Förderung betreuter altengerechter Wohnungen zu verschiedenen Lebensphasen und -situationen, für stecken, damit älteren Menschen die Selbständigkeit Familien, Behinderte und für ältere Menschen offen- und die Möglichkeit der Selbstbestimmung, solange hält, desto attraktiver bleibt die Wohnungsumgebung es geht, zu erhalten und nur für solche Fälle, wo eine auf lange Sicht. Wir brauchen Wohnungen, die teilbar häusliche ambulante Betreuung nicht oder nicht mehr sind, die zusammengelegt werden oder in einzelnen vertretbar ist, Pflegeheime zu bauen? Wir brauchen Räumen zugeordnet und nach Bedarf wieder abgeteilt sicher beide Wohnformen im Alter. Aber sollte das werden können. Wir brauchen Häuser, deren einzig Pflegeheim nicht die Ultima ratio sein, sollten wir nicht Beständiges die tragenden Wände sind, denn die alles daran setzen, das großartige Engagement der Menschen wohnen im Leben mal allein, mal als Paar sozialen Dienste in unserer Gesellschaft zu stärken? oder mit Familie, dann im Alter in der Regel zu zweit Zur Förderung der Selbständigkeit älterer Menschen oder wieder allein. Da sollte sich das Haus anpassen gehört auch, daß wir den Sozialstatus der Pflegekräfte und nicht umgekehrt. in unserer Gesellschaft deutlich anheben. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sehr (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sehr rich- gut!) tig!) So wäre gewährleistet, daß die Infrastruktureinrich- Viele Menschen pflegen in sozialen Diensten bei tungen über lange Zeit gleichmäßig ausgenutzt wer- Trägern der freien Wohlfahrtspflege und auch bei den können. Es gäbe keine Alterswellen, die nachein- privaten Einrichtungen oder als Angehörige oft über ander zunächst Engpässe und dann überzählige viele Jahre aufopfernd ältere Menschen in deren Kapazitäten bei den Kinderbetreuungseinrichtungen, Wohnung. Ich denke, es ist angemessen, in dieser Schulen und Alteneinrichtungen entstehen lassen. Debatte dafür ein herzliches Dankeschön zu sagen Durch verschiedene Wohnungstypen könnte eine und unsere Anerkennung auszusprechen. Entzerrung der Nachfrage erreicht werden, d. h. (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke - keine Gettobildung, sondern eine gesunde Mischung Liste]) von Jung und Alt, in der Kinder genauso wie ältere Menschen und Behinderte ihren Platz finden. Ziel Wir brauchen jedoch nicht nur altengerechte Woh- sollte sein, eine Situation zu schaffen, in der sich nungen, wo es dem Zufall überlassen bleibt, ob eine Bewohner in allen Phasen des Familienzyklus wohl Betreuung möglich ist, sondern wir benötigen im fühlen. Eine Fluktuation könnte so verhindert werden, Hinblick auf die zunehmende Berufstätigkeit beider Nachbarschaftshilfen könnten sich langfristig auf- Ehepartner aus der Generation der Kinder künftig bauen. verstärkt betreute altengerechte Wohnungen. Das Land Baden-Württemberg hat ein vorzügliches Pro- Wir sollten auch neuen psychosozialen Erkenntnis- gramm, wie ich meine, zur Förderung betreuter alten- sen Rechnung tragen und mehr Chancen zur Kommu- gerechter Wohnungen aufgelegt. Vielleicht kann dies nikation ermöglichen. Das beginnt beim Wohnungs- auch für andere Länder, in denen es solche Pro- grundriß. Wir brauchen wieder einen Gemeinschafts- gramme noch nicht geben könnte, beispielgebend raum statt eines Fernsehzimmers. Das kann z. B. eine sein. große Küche sein, in der Hausarbeit als Familienarbeit erfahren wird und nebenbei Gespräche möglich sind, Für ältere Menschen, die ihre bisherige, in der Regel eigentlich ein sehr traditionelles Konzept. größere Wohnung räumen, in eine meist kleinere, betreute altengerechte Wohnung umziehen, ist es Es sollte selbstverständlich werden, dem Prinzip psychologisch von großer Hilfe und von Vorteil, wenn des barrierefreien Wohnens bei der Wohnungsver- ein mehrstufiges Betreuungsangebot vorliegt. Das sorgung vor allem — aber nicht nur — älterer Men- heißt, die anzustrebende Kombination wäre, eine schen und Menschen mit Behinderung verstärkt Gel- ambulante Betreuung in der altengerechten Woh- tung zu verschaffen, nung durchzuführen, dabei die Selbständigkeit im Vordergrund zu sehen und zu wissen, daß für den Fall (Zustimmung des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/ der Fälle ein fast nahtloses Überwechseln in ein Linke Liste]) Pflegeheim gesichert ist. d. h. möglichst stufen- und schwellenlose Haus- und Von einem solchen Angebot an betreuten altenge- Wohnungszugänge, ausreichende Durchgangsbreiten rechten Wohnungen machen ältere Menschen in der bei Türen oder benutzerfreundliche Haus- und Sani- Regel gern Gebrauch. Sie machen damit meist preis- tärtechnik, um nur einige Beispiele zu nennen. werte, oft größere Wohnungen frei, die wohnungssu- 5954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Peter Götz chenden Familien mit Kindern zur Verfügung gestellt „Wohnen im Alter" heißt also, auch dann, wenn die werden könnten. Zeit der Erwerbstätigkeit beendet ist, wenn Behinde- Ebenso ist die Förderung betreuter Seniorenwohn- rungen — welcher Art auch immer — das „normale" gemeinschaften in die Überlegungen mit einzubezie- Leben schwer machen, wenn Betreuung nötig ist, in hen, wenn wir über neue Wohnformen nachdenken. der eigenen Wohnung, der Stätte der persönlichen, Das Zusammenleben und Zusammenziehen von der individuellen Entfaltung bleiben, leben und im alleinstehenden älteren Menschen in einer betreuten Zweifel auch sterben zu dürfen. altengerechten Seniorenwohngemeinschaft ist nicht Im Grunde wäre es wünschenswert, wenn Wohnun- nur für die Betroffenen billiger und entlastet den gen, Wohnformen, Wohnumfeld und der Umgang mit Wohnungsmarkt, sondern hilft, der Vereinsamung vor dem Alter diesen heute zur Abstimmung vorliegen- allem Hochbetagter entgegenzusteuern. den Antrag überflüssig machen würden. „Wohnen im Auch das Mehrgenerationenwohnen unter einem Alter" gilt für alle Generationen, gilt für alle Wohnfor- Dach wäre wohl eine denkbare und sinnvolle Lösung men und gilt für eine Gesellschaft, die vorgibt, für eine Reihe Älterer, wobei sicher auf die eigene Daseinsfürsorge ernst zu nehmen. Haushaltsführung in einer abgeschlossenen Wohn- Alter ist nicht abhängig vom Kalender oder vom einheit Wert gelegt wird. Die Forschung bezüglich Geburtstag. Alter begleitet unsere Kinder, die „erst" solcher Wohnformen sollte daher fortgesetzt werden drei oder sechs Jahre oder „schon" 18 Jahre alt sind, — ein weites Feld, meine Damen und Herren, das sich Alter begleitet den Studenten, der mit 40 Jahren „viel für Architekten, für Bauherren, für soziale Betreu- zu alt" für das Studium an der Universität ist, und Alter ungsdienste öffnet. begleitet den Arbeitslosen, der mit 50 Jahren „zu alt" Wohnungspolitik für alte Menschen muß aus unse- für diese oder jene Aufgabe ist. rer Sicht dem Ziel dienen, das Zusammenleben der Generationen zu fördern und einer Ausgrenzung Alter ist kein ausschließliches Synonym für älterer Menschen entgegenzuwirken. Gebrechlichkeit, verwirrten Geist, Krankheit, Ein- samkeit oder Pflegebedürftigkeit; Alter ist auch Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Gelassenheit, Klugheit, Ruhe, Reife und Ausgegli- Städtebau empfiehlt einstimmig die Annahme der chenheit. Jugend bedeutet nicht immer Kraft, Stärke, Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlung. Ich bitte Fleiß, Gesundheit; Jugend besteht auch aus Gebre- Sie im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion um chen, verwirrtem Geist, Krankheit, Einsamkeit oder Ihre Zustimmung. Pflegebedürftigkeit. Vielen Dank. „Wohnen im Alter" ist also auch „Wohnen a ller (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Generationen" , ist also auch „Wohnen und Leben". bei Abgeordneten der SPD und der PDS/ Linke Liste) Und doch unterscheiden sich Wohnungen und Wohnformen, die auch für „Alte, Behinderte und Pflegebedürftige" geeignet sind, ganz elementar von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- den nach DIN und Norm erstellten Wohnungen für die teile ich dem Abgeordneten Fuhrmann das Wort. „Normalbürger". Wir alle kennen sie, diese 30 Qua- dratmeter kleinen „Altenwohnungen", eingebettet in 50, 100 oder mehr solcher Wohnungen entweder in Arne Fuhrmann (SPD): Herr Präsident! Meine der „Altensiedlung" möglichst am Rande der Stadt Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- oder im dörflichen Bereich. gen! Die heutige Debatte und damit auch die Beschäf- Und wir kennen die andere Wohnform von alten tigung mit dem Thema „Wohnen im Alter" hat zwei oder pflegebedürftigen Menschen: das Zimmer im sozialpolitische und gesellschaftliche Einzelbereiche Alten- oder Pflegeheim, meist ein Mehrbettzimmer, zum Inhalt, die jeweils für sich und in der Verbindung mit Gemeinschaftstoilette und Hubbadewanne; Woh- zueinander Aufgabe und Auftrag, eigentlich auch nungen und Wohnformen, von denen wir uns im Verpflichtung für Staat und Gesellschaft darstellen. Regelfalle fernhalten und distanzieren und die uns — Wohnen — Wohnung, Lebensmittelpunkt, Stätte wenn Angehörige dort wohnen, die etwas mit uns zu der persönlichen Entfaltung und Entwicklung — ist tun haben — mit so etwas wie einem „schlechten heute mehr denn je abhängig von Einkommen, Fami- Gewissen" belasten. lienstand, Zugehörigkeit zu religiösen, politischen oder anderen Gruppen und nicht zuletzt von der Natürlich gibt es auch die große, helle Vier-, Fünf- Willkür der Haus- und Wohnungseigentümer und oder Sechszimmerwohnung, in der zwei alte Men- -besitzer. schen wohnen oder in der die alte Witwe „immer noch lebt" . Nur — die Treppen, die sind viel zu steil, die Alter ist ein lebenslanger Prozeß, der weniger machen den Betroffenen zu schaffen, die Schwellen in Gewicht hat, solange sich Frau und Mann im gesell- der Wohnung sind Stolperfallen, das Saubermachen schaftlich anerkannten und wirtschaftlich interessan- geht nicht mehr so recht, und die Bushaltestelle ist viel ten Stadium des Verbrauchers, Produzenten, Machers zu weit entfernt — und dies und jenes und noch und Gestalters befinden, der erst dann zur Kenntnis was... genommen wird, wenn die Gesundheit nicht mehr so recht will, wenn sich die wirtschaftliche Situation Dennoch werden diese Wohnungen nicht aufgege- verändert, wenn der Lebenspartner gestorben ist und ben. Die Betroffenen setzen sich mit den Widrigkeiten wenn die Kolleginnen und Kollegen, die Freunde, die und Unzulänglichkeiten auseinander, weil sie „hier Nachbarn immer weiter entfernt erscheinen. zu Hause sind", weil sie in der gewohnten Umgebung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5955

Arne Fuhrmann bleiben wollen und weil sie hier selbständig und in gehören und damit einer Zentralisierung von Dien- Würde weiterleben können. sten und Betroffenen vorbeugen. „Wohnungspolitik für alte Menschen ist Teil einer Einrichtungen wie das Kuratorium Deutsche Alten- umfassenden Gesellschaftspolitik", so heißt es im hilfe, Köln, das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Eingangsabschnitt der vorliegenden Beschlußemp- Berlin, der Deutsche Verein in Frankfurt oder andere fehlung. Wohnungspolitik für alte und behinderte sind — gemeinsam mit Hochschulen, Universitäten, Menschen ist ein Spiegelbild und ein Signal für das den vielen kommunalen Seniorenvertretungen und Selbstverständnis im Umgang mit allen Altersgrup- den Landesseniorenräten — als Berater und Fachver- pen und — darüber hinaus — mit den unterschiedli- treter bei neuen Modellvorhaben und dem Ausbau -chen sozialen Gruppierungen in unserer wohlstands und der Weiterentwicklung eines ausgewogenen und und kapitalorientierten Gesellschaft. an den Bedürfnissen der Be troffenen orientierten Wohnungsbaus zu beteiligen. Die Versorgung mit altengerechtem und behinder- Entscheidend für das Gelingen eines Neuansatzes tengerechtem Wohnraum, die Schaffung wirklich im Verhältnis unserer Leistungsgesellschaft zu den „barrierefreier Wohnungen" bei Neubau, Umbau und Wünschen und Bedürfnissen der alten und behinder- Modernisierung vorhandenen Wohnraums muß unter ten Mitbürger wird aber sein, daß wir uns als Lei- Einbeziehung zweier Schwerpunkte geschehen: er- stungsträger und Meinungsbildner dieser Gesell- stens unter Berücksichtigung der sozialen Bedürfnisse schaft in ihnen, den altgewordenen oder durch Behin- und Wünsche der Betroffenen und zweitens unter derung eingeengten Menschen, selber wiederentdek- Würdigung der finanzpolitischen Komponente, die in ken. erster Linie nicht den Bund, sondern die Kommunen und die Länder betrifft. Auch im Bereich „Wohnen im Alter" gilt das, was Kinder bereits im Kindergarten als Weisheit für ihr Zu den sozialen Aspekten einer Neuorientierung im ganzes Leben gelernt haben: Vorbeugen ist immer Wohnungsmarkt für alte und behinderte Menschen besser als Heilen. zählen: erstens der Verbleib in der gewohnten Umge- Die SPD-Bundestagsfraktion wird der Beschluß- bung; zweitens der Erhalt von gewachsenen Bindun- empfehlung „Wohnen im Alter" zustimmen. gen und Beziehungen, die auch den geliebten Baum im Garten oder den Hund des Nachbarn betreffen Vielen Dank. können; drittens das Gefühl der Selbständigkeit und (Beifall im ganzen Hause) Eigenverantwortung und viertens — ein elementarer Punkt — die Selbstbestimmung. Natürlich gehört zur Selbstbestimmung auch der Weg zur Krankenkasse Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es spricht oder zum Sozialamt, um Pflege- oder Betreuungsko- nun die Abgeordnete Frau Lisa Peters. sten zu sichern — allerdings mit der Gewißheit ver- bunden, weiterhin den eigenen Haushalt zu führen und die Eigenständigkeit dabei zu bewahren. Lisa Peters (FDP): Herr Präsident! Meine Herren! Zu den finanzpolitischen Überlegungen, die in der Meine Damen! In diesen Wochen beschäftigt sich der offenen Altenhilfe und damit auch beim Bau von Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städte- alten- und behindertengerechten Wohnungen zu bau sehr intensiv mit den Raumordnungsberichten berücksichtigen sind, zählen die Erkenntnisse, daß der Jahre 1990 und 1991. Diese Raumordnungsbe- „geschlossene Altenhilfe" — also Heime jeder Art — richte zeigen sehr genau, wie die Entwicklung der aus volkswirtschaftlichen Gründen dann abzulehnen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ist, wenn durch die Bereitstellung von alternativem bisher verlaufen ist und in den nächsten Jahren Wohnraum und ambulanten Hilfsdiensten kostengün- verlaufen wird. stiger verfahren werden kann; daß Sozialhilfeleistun- Ganz nüchtern müssen wir feststellen, daß die gen auf Dauer immer dann eingespart werden kön- Alterspyramide, unser „Lebensbaum", immer kopfla- nen, wenn Bund, Länder und Kommunen eine voraus- stiger wird. Es ist ein etwas eigenartiger „Baum", der schauende Daseinsfürsorge betreiben; daß alten- und im Raumordnungsbericht abgebildet ist. Er ist unten behindertengerechte Wohnungen, mit Beratungs- leider etwas schmal. Dort zeigt sich die gesunkene diensten und Betreuungsangeboten ausgestattet, eine Geburtenrate. In der Mitte ist dieser Baum etwas dauerhafte Alternative zu teuren „Reparationsleistun- breiter angesetzt. Wir, die Eltern, haben für die gen" in der Sozialarbeit für alte und behinderte Nachfolge gesorgt. In den 60er Jahren sind genügend Menschen bedeuten und daß ein ausreichendes Kinder geboren worden. In der Spitze ist unser Baum Angebot von ambulanten Diensten wie beispielsweise noch schmal. Die Menschen der heute älteren Gene- „Essen auf Rädern", „Handwerkerhilfsdienst", „Bü- ration sind durch den unglückseligen Zweiten Welt- cherdienst", „Haus- und Pflegehilfe", „Besuchs- krieg dezimiert. Viele haben die Auswirkungen nicht dienst", „Fußpflege" usw. einer aus Resignation und überlebt, nicht überleben können. Vereinsamung entstammenden Heimaufnahme ent- Wenn man diesen Lebensbaum weiter be trachtet, gegenwirkt. stellt sich die bange Frage: Was wird denn nun Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, eigentlich aus uns? Noch stehen wir im Erwerbsleben. neue Wege in der Versorgung mit alten- und behin- In nur wenigen Jahren aber sind wir Altenteiler — wie dertengerechten Wohnungen zu gehen. Neue Stan- ich —, Rentner oder Pensionäre. dards wie „Notrufdienste", „Serviceleistungen durch Unsere Jahrgänge sind stark. Die Bevölkerung der Betreuungszentren" und ähnliche müssen zum Alltag Bundesrepublik hat viele „alte Leute", ältere Mitbür- 5956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Lisa Peters ger und Mitbürgerinnen. Wir alle wollen und müssen Noch nie gab es auf dem Bausektor so viele Mög- wohnen. Das ist unser Thema: Wohnen im Alter. lichkeiten wie heute, um altengerechte Wohnungen Dafür müssen wir vorsorgen und rechtzeitig Vor- zu bauen. Ideen und Kreativität ermöglichen die sorge treffen. Die älteren Menschen müssen sich nicht praktische Gestaltung altengerechten Wohnens. nur ernähren, sondern sie müssen auch wohnen, Viele Möglichkeiten gibt uns seine Fülle von Bau- möglichst altersgerecht wohnen. Die Themen, die wir materialien. Die Industrie bringt täglich neues Zube- heute in unseren Reden berühren, werden sich sicher hör auf den Markt. ein bißchen gegenseitig überschneiden. Es zeigt sich auch immer mehr, daß alte Menschen in „ihrer" Stadt, in ihren angestammten Wohnberei- Gerade in diesen Wochen und Monaten wird uns chen, in „ihrer" Straße auch im Alter wohnen wollen. bewußt und täglich deutlicher vor Augen geführt, was Nachbarschaften, Freundschaften, persönliche Bezie- es heißt, nicht genügend Wohnraum zu haben. Nicht hungen — der Hund von nebenan wurde schon nur Familien mit Kindern und Alleinerziehende, son- genannt — sollten weiter gepflegt werden. Diesem dern auch ältere Menschen — und gerade ihr Anteil müssen wir ebenfalls Rechnung tragen. wird immer größer — gehören zu den Wohnungssu- chenden. Bisher gibt es nicht genügend Wohnungen, Weiter müssen wir an die Vermieter appellieren. Sie die den Bedürfnissen und Ansprüchen der älteren müssen in Zukunft die große Gruppe der älteren Menschen genügen und gerecht werden. Hier muß Menschen entsprechend einbeziehen. Die Verant- ein Umdenken einsetzen. wortlichen in Politik und Gesellschaft sind aufgefor- dert, Hilfen für alte Menschen zu geben und zu Der Deutsche Bundestag will durch diese Anträge schaffen. Hilfe zur Selbsthilfe ist die richtige Form. und die gemeinsame Beschlußempfehlung der Frak- Unterstützen, nicht bevormunden — das muß das tionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP dazu Handlungsmotto sein. beitragen und helfen, diese Situation zu verbessern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Gisela Babel [FDP]: Sehr gut!) Flexibel reagieren, neue Formen in Betreuung und Wir sind sehr glücklich, daß wir diese Gemeinsamkeit Pflege finden: Hierzu zählt auch der Ausbau der erreicht haben. Das sollte man hier erwähnen. sozialen Dienste in den Gemeinden und Städten. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten müssen uns dieser Herausforderung stellen. Ich der CDU/CSU) denke, da ist schon eine Menge getan worden. Wir wissen, daß es noch ein langer Weg sein wird, Eine Ausweitung der Forschung auf diesem Gebiet bis wir die notwendigen Maßnahmen eingeleitet und wäre wünschenswert. Es gibt noch nicht genügend umgesetzt haben. Wir wissen auch, daß wir bloß experimentellen Wohnungs- und Städtebau für ältere dadurch, daß wir uns mit diesem Thema intensiv Menschen. Hier haben Architekten und Stadtplaner beschäftigen, keine zusätzlichen altersgerechten noch ein weites Feld der Arbeit. Wohnungen auf den Weg bringen. Hier muß mehr Auch die Mehrgenerationenfamilie, deren Angehö- getan werden. Wir müssen das Problem der Öffent- rige nicht unbedingt miteinander verwandt sein müs- lichkeit deutlich machen. sen, ist wieder gefragt. Sie bietet viele Vorteile, hat Konkret bedeutet dies: Wir sind darauf angewiesen, gute Chancen, die Zukunft zu meistern. Es zeigt sich daß die Bundesregierung unseren Appell aufnimmt nämlich immer deutlicher, daß wir nicht weiterkom- und dem Prinzip des altersgerechten barrierefreien men, wenn wir das Miteinander-Leben generell Wohnens mehr Raum verschafft. Auch ältere Men- ablehnen. schen mit Behinderungen müssen in Häusern, die auf Deshalb: Der Generationenvertrag muß auch wei- ihre Behinderung Rücksicht nehmen, wohnen kön- terhin in unserer Gesellschaft seinen Stellenwert nen. Wir brauchen noch viele benutzerfreundliche haben. Lebensmodelle, bei denen jeder sich selbst Wohnungen zu ebener Erde, in Wohnquartieren, die überlassen bleibt, wären auch bei gutem Willen und ein angenehmens Umfeld haben, die noch oder schon vollen Staatskassen, die wir nicht haben, nicht bezahl- wieder — auch das sieht man hier und dort — mit bar. Versorgungseinrichtungen des täglichen Bedarfs aus- gestattet sind. Die FDP-Fraktion stellt fest, daß die Forderung nach einer altersgerechten Wohnung eine elementare For- Wir wissen auch, daß mit den Bundesländern Ver- derung ist. Wir appellieren an alle Beteiligten in Bund, handlungen geführt und Verwaltungsvereinbarun- Ländern und Gemeinden, Verbänden und Kirchen, gen getroffen werden müssen. Die Förderprogramme die Verantwortung tragen, sich dieser Verantwortung der Länder sollten in Zukunft altengerechte Wohnun- bewußt zu sein und entsprechend zu handeln. gen angemessen berücksichtigen. Auch bei Um- und Wir danken allen Männern und Frauen unserer Ausbauten im Mietwohnungsbau und im sozialen Wohnungsbau müssen die inzwischen gewonnenen Gesellschaft, die sich täglich — oft in ehrenamtlicher Erkenntnisse über altersgerechtes Wohnen Berück- Arbeit — um alte Menschen kümmern, mit ihnen reden, sie betreuen und versorgen. Diese Arbeit kann sichtigung finden. nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie wird leider (Dr. Gisela Babel [FDP]: Sehr wahr!) oft unterbewertet. Aber auch dann, wenn das eigene Einfamilienhaus Wir haben eine große Chance, unser Ziel, zu geeig- — meist in jüngeren Jahren — gebaut wird, sollte man netem Wohnraum für ältere Mitbürger und Mitbürge- schon bei der Planung an die spätere Nutzung im Alter rinnen zu kommen, erreichen zu können. Die zu denken. erwartende große Bautätigkeit in den neuen Ländern Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5957

Lisa Peters in den nächsten Jahren zwingt uns förmlich dazu, machen kann, wie derjenige oder diejenige es Vorreiterfunktionen wahrzunehmen, die Bedürfnisse braucht. Hier haben neben den Politikern und — das der älteren Menschen angemessen zu berücksichti- möchte ich sagen, auch wenn kaum jemand von ihnen gen. Auch die Phantasie hat hier genügend Spiel- hier ist — den öffentlichen Meinungsmachern die raum. Hier sollten Wettbewerbe für optimale Bau- Architekten, Projektanten, Städteplaner und Bauaus- lösungen ausgeschrieben werden. führenden eine große Verantwortung. An ihnen liegt Alle, auch die ältere Generation, einbeziehen — das es, durch originelle Lösungen ihre Kreativität nachzu- ist unser Appell heute. Wir dürfen die Zeit nicht weisen. verpassen. Wir müssen handeln. Eine alten- und behindertengerechte Wohnung Meine Herren und Damen, ich danke Ihnen. kann jederzeit von jedermann und jeder Frau genutzt werden. Umgekehrt ist das nicht möglich. Wenn in (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der jeder Phase der Ausschreibung, der Planung, der SPD) Projektierung und selbstverständlich der Bauausfüh- rung prinzipiell die Belange der alten- und behinder- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort tenfreundlichen Bauweise hinreichend berücksichtigt hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Seifert. werden, sind die Mehrkosten relativ gering. Auch darauf wurde bereits hingewiesen. In diesem Zusam- menhang darf ich sagen, wie paradox es ist, wenn in Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Berlin sogenannte behindertengerechte Wohnungen Meine Damen und Herren! Ich bin erstaunt, daß in gebaut werden — ich wohne darin — und vor der zwei aufeinanderfolgenden Debatten — hie um die Haustür die Bordsteine so hoch sind, daß man mit dem Renten, da um Bauen im Alter —, die sich inhaltlich Rollstuhl nicht drüber kann. Paradoxer geht es sehr überschneiden, einmal ein so großer Dissens und nicht. einmal ein so weitgehender Konsens im Hohen Hause Ein letzter Tip an die Architekten und an uns zum Ausdruck kommen. Ich denke, es wird erf order- Politiker: Nutzen Sie und nutzen wir doch den Sach- lich sein, daß wir genau aufeinander hören. Herr verstand der Betroffenen. Menschen im höheren Hitschler, Sie sagten neulich, daß Sie das tun. Es geht Lebensalter und Menschen mit Behinderung verfü- nicht darum, nur Schelte zu verteilen, sondern hinzu- gen über konkrete Erfahrungen, die ihnen und uns hören, was vorgeschlagen wird, egal, von wo es originelle Lösungen erleichtern werden. Beispiels- kommt. weise ist der Allgemeine Behindertenverband in Wir reden immerhin über Dinge, die uns alle ange- Deutschland jederzeit bereit und in der Lage, kompe- hen. Jeder von uns wird alt, und jeder und jede kann in tente Auskünfte zu geben; andere übrigens auch. die Situation kommen, auf Pflege angewiesen zu sein. Die PDS/Linke Liste stimmt der Ausschußempfeh- Es geht also darum, daß jeder Mann und jede Frau lung zu. Allerdings füge ich hinzu, daß wir selbstver- überall dort wohnen können, wo er oder sie es möchte: ständlich die Aufforderung an alle Verantwortlichen im angestammten Kiez, in der Nähe von Freunden richten, mehr zu tun und nicht lange zu reden. und Bekannten, bei den Kindern und Enkeln oder in alternativen Wohngemeinschaften. Die freie Wahl hat Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. man aber nur dann, wenn die baulichen Vorausset- (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der CDU/ zungen und die finanziellen Belastungen überhaupt CSU, der SPD und der FDP) gleiche Chancen bieten. Das heutige Thema ist leider auf die baulichen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Voraussetzungen eingeschränkt. Ich werde mich erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Uta daran halten, obwohl ich den anderen Aspekt, die Würfel zu einer Kurzintervention. finanzielle Chancengleichheit, für mindestens ge- nauso wichtig halte. Die weitgehende Übereinstimmung im Hohen Uta Würfel (FDP): Herr Präsident! Die Ausführun- Hause zeigt aber, daß der Bedarf so offensichtlich ist, gen meiner Kollegin Lisa Peters zum experimente llen daß ihn niemand mehr ignorieren kann. Insofern ist es Wohnungsbau und die Forderungen nach Modellvor- auch kein Zufall, daß gerade in dieser Woche bei- haben haben mich ermutigt, hierzu noch einige Aus- spielsweise im Landtag Mecklenburg-Vorpommern führungen zu machen. über behindertengerechten Wohnraum debattiert Tatsächlich hat es noch nie in einer Gesellschaft so wird. Damit ist der entscheidende Zusammenhang viele Menschen gegeben, die nach der Berufsphase bereits genannt: In verschiedenen Lebensphasen und noch aktiv sein wollen und über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Lebenssituationen ist der qualitative aktiv sein können. Immer mehr Menschen werden und quantitative Bedarf an Wohnraum unterschied- immer älter. Deren Ansprüche und Bedürfnisse wer- lich. Herr Götz, Sie haben darauf sehr eindringlich den und sind immer differenzierter. Es ist doch eine hingewiesen. Ich finde, dem kann man nur zustim- Tatsache, daß in sehr vielen Fällen Menschen in men. Es geht also darum, daß die Wohnungen so Wohnungen oder Häusern leben, die für sie viel zu flexibel sind, daß sie ohne großen Aufwand dem groß sind. Beispielsweise können sie die Arbeit im jeweils konkreten Bedarf angepaßt werden können. Garten oder die Hausarbeit nicht mehr bewältigen. Nicht zufällig gibt es neben den Begriffen alters- Für sie wäre es erstrebenswert, ganz andere Wohnfor- und behindertengerechte Wohnungen auch die Kate- men zu haben. gorie alters- und behindertenfreundliches Bauen. Das Also muß unsere Forderung sein, in der dritten heißt, die Voraussetzungen sind da, daß man es so Lebensphase einerseits die Lebensqualität, die man 5958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Uta Würfel vorher hatte, sicherzustellen und andererseits eine Dabei kann es nicht darum gehen, eine eigenstän- größtmögliche Selbständigkeit zu gewährleisten. dige Wohnungs- und Städtebaupolitik nur für alte Aber das ist nicht alles. Menschen zu be treiben. Wohnen im Alter muß viel- Viele von uns erwerben im Laufe ihres Berufslebens mehr in einer Wohnungs- und Städtebaupolitik für erhebliche Kenntnisse und Qualifikationen, die sie alle eingebettet sein. Aber innerhalb dieses umfassen- nach dem Aussscheiden aus dem Berufsleben gerne den Ansatzes muß den besonderen Bedürfnissen der an die nachfolgende Generation oder an diejenigen, älteren Generation verstärkt Rechnung getragen wer- die das in Anspruch nehmen wollen, weitergeben den. Das gilt sowohl für die dauerhaft Pflegebedürfti- möchten. Das können sie nicht, solange wir Älterwer- gen wie auch für die sehr vielen sehr vitalen älteren den als ein notwendiges Übel betrachten und uns bei Mitbürger. Viele von ihnen haben eine höhere beruf- unseren Überlegungen im Grunde genommen nur liche Qualifikation, haben ein breiteres Spektrum an darauf kaprizieren, daß Älterwerden gleichbedeu- Interessen, als es noch in der Generation ihrer Eltern tend ist mit schwächer sein und inaktiv sein. und Großeltern der Fall war. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß wir gemein- (Uta Würfel [FDP]: Sehr wahr!) sam mit Ihnen, Frau Ministerin Rönsch, und anderen Kräften wie beispielsweise Oberbürgermeistern, die Auch die Politik muß dem Rechnung tragen. ein Interesse daran haben, bei neuen Wohnformen Gerade für Menschen, die aus dem Berufsleben experimentell zu arbeiten, ein Modell in der Nähe ausgeschieden sind, gewinnen die Wohnung und einer Stadt entwickeln. Denn es gibt Menschen, die auch das unmittelbare Wohnumfeld eine viel höhere bereits mit 50 überlegen, was sie tun, wenn sie 60 oder Bedeutung als für junge Menschen. Dies gilt um so 65 sind, was sie dann mit ihren Qualifkationen, ihren mehr, wenn ihre Bewegungsfreiheit aus gesundheit- Kenntnissen, ihren pädagogischen Fähigkeiten an- lichen Gründen eingeschränkt ist. Deshalb brauchen fangen. Sie wollen dann z. B. das tun, was sie sich wir Wohnformen, die sowohl die Betreuung und während ihrer 30-, 40-, 45jährigen Berufstätigkeit Pflege im eigenen Hause möglich machen wie auch immer schon gewünscht haben: endlich einmal zu gleichzeitig soziale Bindungen erhalten und Kontakte schreinern, zu gärtnern, anderen Hobbys nachzuge- fördern. Die Politik muß die Voraussetzungen dafür hen. schaffen, daß dem Wunsch der weit überwiegenden Es sollte also in der Nähe einer Stadt ein Wohnkom- Mehrheit der älteren Menschen Rechnung getragen plex geschaffen werden, wo Dienstleistungsunterneh- wird, möglichst lange in der angestammten Umge- men angesiedelt werden, die hinsichtlich der Infra- bung wohnen zu bleiben. struktur sicherstellen, daß man im äußersten Notfall Für die Wohnungspolitik ergibt sich daraus eine gepflegt werden kann, daß Essen auf Rädern kommt, doppelte Aufgabe: einmal für ein ausreichendes daß die Arbeiten im Haushalt durch fremde Kräfte Angebot an Wohnungen Sorge zu tragen, zum ande- erledigt werden können. Andererseits sollte man die ren aber auch gleichzeitig sicherzustellen, daß die Qualifikationen und Kenntnisse in Schreinereibe- Bedürfnisse älterer Menschen berücksichtigt werden trieben, in Gärtnereien, in anderen Be trieben, die bzw. bei verändertem Bedarf eine schnelle Anpas- darum herum angesiedelt sind, weitergeben können. sung ermöglicht werden kann. Das gilt auch für die pädagogischen Fähigkeiten, indem man Kinder betreut. Die Bundesregierung hat erst vor kurzem mit der Verabschiedung des Wohnungspolitischen Konzeptes Ich bitte Frau Rönsch, sich dieses Modells, dieser deutlich gemacht, welch hohen Stellenwert sie dem Phantasie im Wohnungsbau einmal anzunehmen. Wohnungsbau beimißt. Ich nenne beispielhaft nur die Danke. erhöhten Bundesmittel von 3,7 Milliarden DM für den (Beifall bei der FDP) sozialen Wohnungsbau. Damit können auch die Län- der, die ja für die Durchführung dieses Programms Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr verantwortlich sind, verstärkt altengerechte Wohnun- erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Ech- gen bauen. ternach das Wort. Außerdem wollen wir mit dem Steueränderungsge- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär bei der setz 1992 den Bau einer zusätzlichen Wohnung im Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und selbstgenutzten Eigenheim fördern, wenn diese Woh- Städtebau: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! nung unentgeltlich einem Familienangehörigen zur Der Ablauf der Debatte und die gemeinsame Be- Verfügung gestellt wird. Wir wollen damit noch Reser- schlußempfehlung zeigen, daß es bei der Frage des ven im Eigenheimbereich mobilisieren. Wir wollen Wohnens im Alter und seiner politischen Beurteilung gleichzeitig den Wohnungsmarkt entlasten, aber auch einen breiten Grundkonsens in diesem Hause gibt. Ich das Zusammenleben mehrerer Generationen unter kann diesen Grundkonsens nur begrüßen; denn die einem Dach fördern. Ich hoffe sehr, daß diese Vor- starke Veränderung der Alterspyramide bedeutet, schrift nach dem Abschluß des Vermittlungsverfah- daß in fast allen Politikfeldern neue Aufgaben auf uns rens möglichst bald wirksam wird. zukommen. Der Wohnungs- und Städtebau ist dabei Aber auch für Anpassungsmaßnahmen im Woh- nur ein Teil. Aber er ist eben für das Zusammenleben, nungsbestand gibt es bereits eine Reihe von Förder- für das Leben im Alltag — für die Jüngeren genauso möglichkeiten, sei es im Rahmen der Wohnungsbau- wie für die Älteren — von ganz entscheidender förderprogramme der alten Bundesländer, sei es Bedeutung. Er ist einer der Schlüsselbereiche für die durch die attraktiven steuerlichen Anreize oder durch Frage, wie sich die Gesellschaft weiterentwickelt und die direkten Hilfen für die Modernisierung und wie die Generationen miteinander leben. Instandsetzung in den neuen Ländern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5959

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach Weitaus besser aber als ein nachträglicher Umbau im europäischen Rahmen. Nicht zuletzt deshalb hat ist es, wenn die Wohnungen grundsätzlich so geplant die Europäische Gemeinschaft das Jahr 1993 zum und gebaut werden, daß sie den Bedürfnissen älterer Jahr der älteren Menschen und der Solidargemein- und behinderter Menschen entsprechen. Ziel muß schaft der Generationen erklärt. Wir sind mit unseren sein, daß Wohnungen grundsätzlich barrierefrei europäischen Nachbarn darüber bereits im Gespräch, gebaut werden. Im übrigen sollten alle planerischen bauen unsere Forschungskontakte aus und arbeiten und baulichen Vorkehrungen ge troffen werden, um auch bei gemeinsamen Projekten bereits zusam- spätere Anpassungsmaßnahmen ohne größeren Auf- men. wand durchführen zu können. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren Vor diesem Hintergrund ist die Planungsnorm für bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Erleich- Behindertenwohnungen, die DIN 18 025, vollständig terung des Wohnens im Alter beschlossen. Dazu überarbeitet worden. Ich appelliere an die Länder, sie gehören die Wohngeldanpassungen, Änderungen auch für den Wohnungsneubau nutzbar zu machen, des Wohnungsbindungsgesetzes, um die Möglichkeit sie in die Wohnungsbauförderungsbestimmungen der älterer Mitbürger, im wohnnahen Bereich umzuzie- Länder zu übernehmen. hen, zu erleichtern. Dazu gehört die Verlängerung der Kündigungssperrfrist bei der Umwandlung von Miet- Wohnungspolitik für ältere Menschen darf jedoch wohnungen in Eigentumswohnungen. Dazu gehört nicht nur auf die Wohnung oder auf das Haus die Änderung der Baunutzungsverordnung, um auch beschränkt sein. Sie muß auch das Wohnumfeld die Errichtung von Behinderten- und Pflegeeinrich- einbeziehen und mit der Städtebaupolitik verknüpft tungen in reinen Wohngebieten möglich zu machen. sein. Dies ist der Ansatzpunkt für das Forschungsfeld Das ist auch von der Beschlußempfehlung des zustän- experimenteller Wohnungs- und Städtebau, das wir digen Ausschusses ausdrücklich aufgenommen wor- seit 1989 durchführen. Mit insgesamt 21 Modellvor- den. haben untersuchen wir, wie bei Planung und Organi- sation, in Gesetzgebung und Verwaltung und vor Wir sind offen für weitere Maßnahmen, die die Wohnverhältnisse der älteren Mitbürger verbessern. allem mit welchen baulichen Maßnahmen wir den Lebensinteressen der älteren Mitbürger noch besser Denn diese Mitbürger, die entscheidend zum Aufbau Rechnung tragen können. Wir wollen damit auch unserer heutigen Gesellschaft beigetragen haben, -Impulse für eine sozial orientierte Stadterneuerungs erwarten von uns mit Recht, daß ihnen auch nach und Wohnungspolitik und überzeugende Alternati- Beendigung ihrer Berufstätigkeit ein Leben in Selb- ven zum herkömmlichen Altenwohnheim aufzeigen. ständigkeit, aber auch ein ausreichender Raum für die aktive Teilnahme am Leben dieser Gesellschaft Im Rahmen dieser Modellvorhaben hat sich gezeigt, ermöglicht wird. Dem müssen wir mit unserer Politik daß bei den älteren Mitbürgern noch deutliche Infor- Rechnung tragen. mationsdefizite über spezielle Anpassungsmaßnah- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men und Wohnungshilfen vorhanden sind. Beratung und Information müssen also verbessert werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Ebenso hat sich gezeigt, daß im Bereich des Wohn- erteile ich dem Abgeordneten Maaß das Wort. umfeldes teilweise gravierende Mißstände bestehen. Das betrifft sowohl die Nutzerfreundlichkeit für ältere Menschen wie auch das versorgungsnahe Angebot Dieter Maaß (Herne) (SPD): Herr Präsident! Meine und seine Qualität für soziale und wirtschaftliche Damen und Herren! An dieser Stelle sollte jetzt meine Dienstleistungen. Kollegin Gabriele Iwersen sprechen. Durch den Tod ihrer Mutter, die morgen früh beigesetzt wird, ist Die Modellmaßnahmen belegen aber auch, daß Gabriele Iwersen nicht in der Lage, selbst ihren derartige Schwierigkeiten, derartige Wohnbarrieren Redebeitrag zu leisten. Aus diesem Grunde trage ich durch quartierbezogene Konzepte überwunden wer- Ihnen den Text vor. Er entspricht der Auffassung den können; dafür gibt es gute Beispiele, die wir auch unserer Arbeitsgruppe. publiziert haben. Es ist bedauerlich, daß das Thema „Wohnen im Dies gilt um so mehr, je stärker Sozialpolitik und Alter" fast immer am Schluß der Tagesordnung auf- Wohnungs- und Städtebaupolitik zusammenwach- taucht und in der Diskussion deshalb eindeutig zu sen, je stärker also das wohnungs- und städtebauliche kurz kommt, als wären die Alten eine lästige Gruppe Instrumentarium mit sozialen Maßnahmen verbun- in unserer Gesellschaft. Trotzdem sprechen wir gerne den wird. Wir sind auch hier in einem intensiven von ihrer Integration und davon, daß sie nicht an den Diskussionsprozeß mit den Ländern, Gemeinden und Rand gedrängt werden dürfen. Deshalb sollten wir Verbänden mit dem Ziel, ein harmonisches Zusam- diesen Antrag — auch wenn er nur das Problemfeld menleben der Generationen, die soziale Integration umreißt und Aufmerksamkeit auf Wünsche und For- der älteren Mitbürger zu ermöglichen und nicht etwa derungen lenkt — wirklich nur als Einführung in das der Isolierung einzelner oder ganzer Bevölkerungs- Thema verstehen, um in den folgenden Jahren für die gruppen Vorschub zu leisten. Dabei ist auch die Frage finanziellen Grundlagen zur Umsetzung unserer zu klären, ob wir die Erfahrungen aus den alten Erkenntnisse zu sorgen. Bundesländern so auch auf die neuen Bundesländer (Beifall bei der SPD) übertragen können oder ob wir hier andere Wege Im Vordergrund steht die Forderung nach mehr beschreiten müssen. pflege- und betreuungsgerechten Wohnungen. Das Diese Frage nach gemeinsamen Entwicklungen sind Wohnungen, in denen bei Bedarf tatsächlich ein und übertragbaren Problemlösungen stellt sich auch Pflegebett Platz findet, das nun einmal 10 cm länger 5960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dieter Maaß (Herne) ist als ein normales Bett. Pflege- und betreuungsge- big hohen Modernisierungsaufwandes die Mietpreise recht bedeutet: stufen- und schwellenlos, mit ausrei- in astronomische Höhen treiben können, bleiben chender Türbreite auch zum Bad und zum WC, unsere Rentner auf der Strecke. rutschfester Boden und eine Fensterbrüstungshöhe, (Dr. Walter Hitschler [FDP]: Das ist wahr!) die auch aus dem Bett den Blick nach draußen möglich macht. Die Frauen, die auf Witwenrenten von wenigen All diese Forderungen sind für keinen Menschen hundert D-Mark angewiesen sind, können auch mit zum Nachteil, auch nicht für die jüngeren. Deshalb Hilfe des Wohngeldes nicht zurechtkommen, wenn sie sollten wir uns dazu durchringen, alle kleineren keine Chance finden, aus der angestammten, für sie Wohnungen, die für Ein- und Zweipersonenhaushalte allein zu großen und natürlich auch zu teuren Woh- geeignet sind, in Erdgeschossen und in ersten Ober- nung auszuziehen. Der freie Wohnungsmarkt ist nicht geschossen oder in Häusern mit Aufzügen prinzipiell sozial, und Hilfe zur Selbsthilfe ist Augenwischerei. barrierefrei und damit pflege- und betreuungsge- (Dr. Walter Hitschler [FDP]: Das ist falsch!) recht zu bauen; wenigstens in allen öffentlich geför- derten Mietshäusern. Schließlich ist es allgemein Der überwiegende Wunsch der Älteren ist klar und bekannt, daß die Rentner noch stärker als andere bei allen Parteien unumstritten: Selbständigkeit bis Altersgruppen auf den sozialen Wohnungsbau ange- ins hohe Alter, nach Möglichkeit unter Beibehaltung wiesen sind und daß die Frauen, die unter den alten der sozialen Kontakte in der gewohnten Umgebung. Menschen ohnehin in der Mehrheit sind, meist noch Für den Notfall sollte schnell und einfach Hilfe bei der weniger Geld haben. Bewältigung des täglichen Lebens bis hin zur Pflege erhältlich sein. Dabei wäre es wünschenswert, die Diese Erkenntnis führt zu der logischen Schlußfol- Sozialstationen zu festen Bestandteilen aller Wohn- gerung, daß bei öffentlich gefördertem Mietwoh- quartiere zu machen und ihnen nicht nur die Betreu- nungsbau die Zahl der Wohnungen, die für Ein- und ung der Alten und Kranken zu übertragen, sondern Zweipersonenhaushalte geeignet sind, mindestens den Aufgabenbereich so zu erweitern, daß alle Alters- dem prozentualen Anteil der über 60jährigen in gruppen, vom Kind bis zum alten Menschen, in diesen unserer Gesellschaft entsprechen sollte. Das sind Häusern eine natürliche Anlaufstelle zum Knüpfen heute etwa 20 %, und es werden in 30 Jahren viel- notwendiger Kontakte finden. leicht 30 % sein. (Uta Würfel [FDP]: Gar nicht so schlecht!) Aber im Zuge der Wohnungsbauförderung mit den Sonderprogrammen zum Bau von Altenwohnungen Das heißt, auch ohne zusätzliche öffentliche Finan- sind z. B. 1988 in den alten Bundesländern zusammen zierung kann hier von der Organisation einer Still- nur 2 229 Altenwohnungen — das sind 5,7 % der gruppe über die Vermittlung von Babysittern und Sozialwohnungen — für die über 60jährigen fertigge- Schularbeitshilfen, über die Einrichtung von Nach- stellt worden. Rechnet m an nun noch jeden geförder- barschaftstreffs für die aktiven Bürger, die ihr Wohn- ten Platz in einem Alten- oder Pflegeheim dazu, so umfeld mitgestalten wollen, bis hin zum gemeinsa- kommt man immerhin auf 13,5 % der geförderten men Kegeln, Kartenspielen, Mittagessen oder Kaf-- Wohneinheiten, bleibt damit aber noch immer weit feetrinken vieles in G ang gesetzt werden, was gute hinter dem ständig wachsenden Bedarf zurück, so daß Nachbarschaft kennzeichnet. Aus diesen Kontakten sich das Defizit stetig erhöht. heraus sollte auch für die Alleinlebenden die selbst- verständliche Suche nach Hilfe im Bedarfsfall entste- Darauf wollen wir mit dem gemeinsamen Antrag hen; denn bei zunehmendem Alter wird die Auf- die Aufmerksamkeit der Bundesregierung und der nahme neuer Kontakte immer schwieriger. Länderregierungen verstärkt lenken. Dieser Antrag mußte gemeinsam erarbeitet und eingebracht wer- Aber es gibt noch andere Probleme, die alte Men- den, damit keine politische Partei, wo immer sie schen besonders stark betreffen und die im Bericht zu gerade die Regierung stellt, den Antrag ungelesen zur dem vorliegenden Antrag fast unauffällig enthalten Seite legen kann. sind: die wohnungsortnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs. Bezogen auf den ländlichen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Raum- heißt es da: „Eine Stärkung des Versorgungs FDP) und Einkaufsniveaus ist notwendig." Dieser von der Nur wenn Bund und Länder gemeinsam das immer CDU eingebrachten Formulierung habe ich nur zu dringender werdende Problem der Wohnungsknapp- gerne zugestimmt, kann man doch die Hoffnung auf heit für die alten Menschen und die endlosen Warte- ein gemeinsames Vorgehen in dieser fast ausweglo- listen der Pflegeeinrichtungen sehen sowie ihre sen Situation daraus ableiten. Bereitschaft zum Handeln erheblich verstärken, nur Diese Forderung wird leider zeitgleich mit der dann können wir unseren Traum von der humanen Schließung der letzten kleinen Lebensmittelläden Gesellschaft in die Wirklichkeit hinüberretten. erhoben, denen die neuen Supermärkte auf der grü- Die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft und nen Wiese und die — auch in den neuen Bundeslän- die Hilfe zur Selbsthilfe sind zwei Schlagworte. Mit dern — explosionsartig gestiegenen Gewerbemieten beiden Instrumenten sollen unter weitestgehender das Wasser abgegraben haben. Über die Gewerbe- Schonung der öffentlichen Haushalte viele Probleme mieten ist ein rücksichtsloser Verdrängungs- und unserer Gesellschaft behoben werden. Aber für die Vernichtungswettbewerb in Gang gekommen, der alten Menschen taugen diese Rezepte nicht. Wo gerade die gewachsenen Strukturen in den bislang Angebot und Nachfrage den Mietpreis für die Woh- gut durchmischten Wohngebieten zerstört und damit nung bestimmen und umlagefähige 11 % eines belie die Versorgung der nicht motorisierten Bevölkerung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5961

Dieter Maaß (Herne) mit Waren des täglichen Bedarfs und mit Dienstlei- angenehmens Wohnen im Alter möglich machen. Ich stungen starkt einschränkt. will jetzt nicht das wiederholen, was Sie, die Kollegin- Mit dem Verschwinden von Bäcker und Schlachter nen und Kollegen, heute schon über die Mobilität und ist aber nicht nur die Versorgung gefährdet, sondern die Flexibilität der Wohnformen vorgetragen haben. es fehlen die Gesprächspartner. Die kann auch der Ich will mich darauf beschränken, vielleicht den einen junge Mann nicht ersetzen, der in Eile das Essen auf oder anderen Punkt anzusprechen, der noch nicht Rädern in die Wohnung bringt. vorgetragen worden ist. (Beifall bei der SPD) Frau Kollegin Würfel, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß Sie darauf aufmerksam gemacht haben, Diese Anpassung an westdeutsche Verhältnisse stellt daß ältere Menschen nicht isoliert, sondern in der gerade für die alten Menschen in den neuen Ländern Gemeinschaft mit jungen und mit mittleren Genera- eine Verschlechterung der Versorgung dar und ver- tionen, aber vor allem auch mit Kindern wohnen sollen hindert die von allen gewünschte Selbständigkeit im und daß für sie auch die Möglichkeit einer aktiven Alter. Teilnahme am Leben im Umfeld gegeben sein soll. Der autofahrende, bärenstarke Kunde, der kilo- weise Waschmittel, kastenweise Getränke, zentner- Ich nehme das deshalb gerne auf, weil wir in der weise Kartoffeln, sackweise Zwiebeln und andere Bundesrepublik Deutschland — hier muß ich sagen: Nahrungsmittel nach dem Motto „Je mehr, um so in der alten Bundesrepublik — das experimentelle billiger" einkauft, ist zum Leitbild der Firmenstrategie Wohnen schon in den verschiedensten Einrichtungen im Einzelhandel geworden, und nicht der alte praktiziert haben. Unmittelbar vor unserer Haustür, Mensch, der auf seinem täglichen Gang durch sein hier in Köln, können Sie sich bei einer gemeinnützi- Wohnquartier oder sein Dorf seine Einkäufe erledigt, gen Wohnungsbaugesellschaft ein hervorragendes verbunden mit der notwendigen Kommunikation und Modell anschauen. Dort wird das Leben der Genera- orientiert an der eigenen Leistungsfähigkeit, d. h. tionen miteinander praktiziert. Dort leben alte Men- kurze Wege und kleine Gewichte. schen, alte Ehepaare und Alleinstehende, die die Kinder der jungen Familien betreuen, und man hilft An diesem Beispiel kann man erkennen, daß der sich gegenseitig beim Renovieren der Wohnungen; es gemeinsame Antrag nur ein Einstieg in das Thema ist ein großes Haus. Man hat — Gott sei Dank! — noch „Wohnen im Alter" sein kann, wenn wir dem demo- eine Baulücke mitten in Köln gefunden, so daß die graphischen Wandel ernsthaft Rechnung tragen wol- älteren Menschen gemeinsam mit den jungen einkau- len. Zufrieden sein sollte dieses Parlament erst, wenn fen gehen können. Man erledigt sich gegenseitig die ausreichend Tages-, Kurzeit- und Vollzeitpflege- Besorgungen. Ich meine, das ist ganz ideal, und plätze und die dazugehörenden Rehabilitationsein- empfehle Ihnen, sich das anzuschauen. Es ist nur eine richtungen gebaut und mit gut ausgebildetem Perso- halbe Stunde entfernt. Es ist eines der vielen Bei- nal besetzt sind, wenn der Wohnungsmangel für alte spiele, die wir in der alten Bundesrepublik erfreuli- Menschen nicht nur erkannt, sondern auch behoben cherweise schon haben. ist, wenn humaner Städtebau, der auch den Belangen der älteren Menschen Rechnung tragen muß, nicht Aber es ist unsere besondere Verpflichtung, solche nur ein Forschungsfeld des experimentellen Städte- Wohnformen jetzt gerade in den fünf neuen Bundes- baus ist, sondern zur Wirklichkeit in unseren Städten ländern zu entwickeln. Ich meine durchaus, daß wir und Gemeinden geworden ist. aus dem, was wir in der Vergangenheit falsch Deshalb bitte ich alle hier anwesenden Kolleginnen gemacht haben, in dem einen oder anderen Fall auch und Kollegen um Zustimmung zu diesem Antrag. — lernen können, damit wir nicht dieselben Fehler Danke schön. wiederholen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Kollegin Professor Lehr sitzt hier im Hause. Ihr der CDU/CSU und der FDP) möchte ich ausdrücklich dafür danken, daß sie die Ausstellung „Mehr-Generationen-Wohnen" auf den Weg geschickt hat. Nunmehr ist in vielen Städten und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr in vielen Rathäusern — auch da muß ich wieder erteile ich der Bundesministerin für Familie und sagen: in der alten Bundesrepublik — Gelegenheit Senioren, Frau Rönsch, das Wort. gewesen, die Generationen miteinander in Verbin- dung zu bringen. Ich wünsche und erhoffe mir, daß Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie jetzt auch sehr, sehr viele Kommunen aus den fünf und Senioren: Herr Präsident! Meine sehr geehrten neuen Bundesländern diese Ausstellung anfordern Damen und Herren! Ich bin Ihnen, liebe Kolleginnen und dann auch in ihren Rathäusern deutlich machen, und Kollegen von den antragstellenden Fraktionen, wie man eine neue Stadtplanung und eine neue ausgesprochen dankbar dafür, daß Sie heute mit Stadtentwicklung für alle Generationen entwickeln großer Sensibilität an dieses Thema herangegangen kann. sind und daß bei Ihnen der ältere Mensch, der alte Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Mensch im Vordergrund gestanden hat, nicht die davon gesprochen, daß wir den älteren, den alten Baunormen oder die DIN-Normen, wie es bei uns im Menschen so lange wie möglich in eigener Kompe- Ausschuß — ich habe acht Jahre Wohnungsbaupolitik tenz wohnen und leben lassen wollen, daß er so gemacht — sonst sehr oft der Fall gewesen ist. wohnen und leben soll, wie er will, und daß wir ihn Ich meine, für uns sollte der ältere, der alte Mensch unterstützen müssen, damit er sich diese Kompetenz ganz besonders in den Vordergrund rücken, und wir so lange wie möglich erhält. Denn es schafft bei dem müssen für ihn Wohnformen finden, die ihm ein alten Menschen Zufriedenheit, wenn er in eigener 5962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Bundesministerin Hannelore Rönsch Verantwortung leben und arbeiten kann. Das erwei- ermuntern und auffordern, zu einer guten Zeit, bei tert seine Mobilität. Ich glaube, daß auch der alte wirklich guter geistiger und körperlicher Verfassung, Mensch immer in das Miteinander eingebunden sein ihre Wohnsituation für die zukünftigen Jahre zu will. bedenken. Bedenken wir einmal, wie wir noch in den 70er (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Jahren Wohnkonzepte für alte Menschen entworfen Ich will auf eines noch hinweisen: Das Ministerium und gedacht haben, ein alter Mensch, ein älterer für Familie und Senioren bietet umfangreiche Bro- Mensch, der aus dem Berufsleben ausgeschieden ist, schüren an, die gerade auf diese Situation hinweisen habe keinen sehnlicheren Wunsch, als an einem und Hilfestellung geben. Ich kann nur jeden bitten Stadtrand die Rehe im Grünen weiden zu sehen. Aber und ermuntern, diese Broschüren anzufordern bzw. in wir wurden sehr schnell eines Besseren belehrt; denn seinem persönlichen Umfeld dafür zu werben, daß war gerade eine solche Altenwohnanlage bezogen, diese Broschüren dann weitergeben werden. war der dringendste Wunsch des Heimbeirates eine Ich glaube, wenn wir uns, wie wir es heute hier Busanbindung mitten in die Innenstadt, und das am getan haben, in breitem Konsens an diese Aufgabe besten im Achtminutentakt. heranmachen, ist der alte, der ältere Mensch der Das hätte uns damals eine Lehre sein müssen, und Gewinner, und so sollte es eigentlich auch sein. wir hätten das umgehend abändern müssen. Es hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie eine ganze Weile gedauert. Aber wir werden jetzt bei Abgeordneten der SPD) — da bin ich ganz sicher — diese Fehler nicht mehr machen; denn auch der alte Mensch will mitten im Leben stehen und will unmittelbar teilhaben. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der (Uta Würfel [FDP]: Er ist ja auch noch fit!) Aussprache. — Selbtverständlich, er will mit seinen Nachbarn, mit Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung des seinen Freunden Kontakt haben. Es wurde der Hund Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und des Nachbarn und der schöne Baum in Nachbars Städtebau abstimmen, die Ihnen auf Drucksache Garten angesprochen. Er will daran teilhaben. Das 12/1763 vorliegt. Wer für diese Beschlußempfehlung sollten wir dem alten Menschen so lange wie möglich ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich kann erhalten. erfreulicherweise Einstimmigkeit feststellen und die- Man kann als älterer, als alter Mensch natürlich nur sen Tagesordnungspunkt somit abschließen. das wahrnehmen, was man kennt. Deshalb bin ich dem Ausschuß für Familie und Senioren sehr dankbar, Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: daß er das Thema der Beratung mit eingebracht hat, Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- daß er angesprochen hat, daß die Familien der älteren, regierung der alten Menschen, aber auch die alten Menschen selber, beraten werden. Ich meine, wir müssen von Sondergutachten „Allgemeine ökologische- dieser Komm-Struktur, die sich bei uns festgesetzt hat, Umweltbeobachtung" des Rates von Sachver nämlich daß man um Beratung nachsucht, wegkom- ständigen far Umweltfragen — Oktober 1990 men. Es muß eine Bring-Struktur werden. Wir müssen — Drucksache 11/8123 — versuchen, an die alten Menschen heranzukommen, Überweisungsvorschlag: und müssen die Beratungen und die Hilfsangebote, Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die zur Verfügung stehen, dem alten Menschen (federführend) nahebringen. Das gilt wieder ganz besonders für die Innenausschuß fünf neuen Bundesländer; denn an den vielen B riefen, Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die unser Ministe rium momentan erhält, merke ich, Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- daß noch ein großer Informationsbedarf besteht und schätzung daß wir diese Informationen dringend weitergeben Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine halbe Stunde müssen. Debattenzeit vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ganz besonderen Wert müssen wir darauf legen Das ist offensichtlich der Fall. — auch da müssen wir alle informieren —, daß der Dann kann ich die Debatte eröffnen und erteile ältere, der alte Mensch sich auf die Wohnsituation, in zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär der er in der nächsten Zeit, vielleicht bis ans Lebens- Dr. Laufs das Wort. ende, leben will, rechtzeitig einstellt. Es ist sicher wesentlich besser, wenn man sich zu einer guten Zeit bei guter geistiger Kondition, bei guter Gesundheit Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- mit seiner Familie, mit Freunden bespricht und sich nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: vielleicht auch von einem liebgewordenen Möbel- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Natur- stück zur rechten Zeit trennt, haushalt ist nicht unbegrenzt belastbar. Neue Erkenntnisse mahnen zur strikten Vorsorge. Das (Uta Würfel [SPD]: Mit warmer Hand!) Treibhausgas CO2 z. B. galt lange Zeit als harmlos, als wenn man es dann zu einem Zeitpunkt tut, wo man unproblematisch und ungiftig, bis seine Klimarele- vielleicht krank und gezwungen ist, in eine Alten- vanz entdeckt wurden. wohnanlage, in ein Altenheim umzuziehen. Mir liegt Die Belastbarkeit des Naturhaushalts läßt sich aller- sehr viel daran, daß wir die älteren und alten Men- dings nicht allein auf Grund der Bewertung der schen Schädlichkeit einzelner Stoffe und ihrer über die Zeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5963

Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufs kumulierten Wirkungen bestimmen. Zu berücksichti- Erstens. Die bestehenden Umweltbeobachtungssy- gen sind auch Synergismen und Kombinationswir- steme des Bundes und der Länder müssen zusammen- kungen unterschiedlicher Schadstoffe, Eingriffe und geführt und aufeinander abgestimmt werden. Ohne natürlicher Einflüsse, deren ökologischer Schaden die Länder geht es nicht. Deshalb werden wir mit den sich nicht selten schleichend und mit langer zeitlicher Bundesländern intensiv zusammenarbeiten, damit Verzögerung entwickelt. Die neuartigen Waldschä- noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für die den sind dafür ein Beispiel. Einführung eines bundesweiten Öko-Monitoring ge- schaffen werden können. Ich wäre Ihnen dankbar, - Was wir brauchen, ist ein zuverlässiges Frühwarn wenn alle Fraktionen des Deutschen Bundestages den und Kontrollsystem, um die Grenzen der Belastbar- Umweltminister dabei unterstützen könnten. keit des Ökosystems rechtzeitig erkennen zu können. Es gilt, den sektoral und zentral vorhandenen Daten- Zweitens. Der Dauerbetrieb der Umweltproben bestand konzeptionell neu zusammenzuführen, um bank des Bundes ist aufgenommen worden. Die verantwortliche Umweltpolitik auf eine verläßliche bundesweite Ausdehnung wird derzeit vorbereitet. Datengrundlage zu stellen. Umweltschutz muß noch Damit steht ein Archiv von repräsentativen Umwelt- stärker wirkungsorientiert betrieben werden können. und Humanproben für retrospektive Analysen bereit, Die vorhandene Datenbasis reicht hierfür nicht aus. um Stoffe neu zu bewerten, die zum Zeitpunkt ihrer Einwirkung noch nicht bekannt oder nicht analysier Praktisch wird dieser Ansatz etwa in neuen Auswir- bar waren oder nicht für bedeutsam gehalten wurden. kungsprognosen bei standortbezogenen Genehmi- Die Umweltprobenbank hat sich, wie die Sachver- gungsverfahren, bei denen künftig auch die Anforde- ständigen in ihrem Sondergutachten bestätigen, rungen der Umweltverträglichkeitsprüfung berück- bewährt. Sie wird ein wichtiger Baustein einer ökolo- sichtigt werden müssen. gischen Umweltbeobachtung sein. Drittens. Das Öko-Monitoring muß von vornherein Anders als bei früheren Ansätzen für Datensysteme auch international angelegt sein. Anläßlich der UN- im Umweltbereich können wir heute auf umfangrei- Konferenz „Umwelt und Entwicklung" wird sich die chen Datenvorarbeiten in Bund und Ländern auf- Bundesregierung deshalb nachdrücklich für ein inter- bauen. Ich nenne beispielhaft das Emissionsursachen- national koordiniertes Konzept einer ökologischen kataster, die Luftimmissionsdatenbank, das Früh- Umweltbeobachtung einsetzen. In Europa haben wir warnsystem für Fälle des ferntransportierten Smog erste grenzüberschreitende Ansätze geschaffen, oder die Hydrologische Datenbank. (Zuruf von der SPD: Wattenmeer!) Wenn wir nunmehr also darangehen, ein Netz und zwar für die Ökosysteme Wattenmeer — sehr repräsentativer Dauerbeobachtungsflächen aufzu- richtig — und Alpen. Der Ausbau dieses Öko-Monito- bauen, dann müssen wir die vorhandenen Bestände in ring ist uns ein großes Anliegen. das neue Konzept einbinden und die bei ihrem Aufbau gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen. Wir wol- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. len keine neuen Datenfriedhöfe. Wir wollen mit Hilfe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie - einer modernen ökologischen Umweltbeobachtung, bei Abgeordneten der SPD) die man im Ausland als Öko-Monitoring bezeichnet — auch dieser Begriff hat sich bei uns inzwischen eingebürgert —, Veränderungen wichtiger Ökosy- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort steme erfassen und die Langzeitwirkungen anthropo- hat nunmehr der Abgeordnete Lennartz. gener Stoffeinflüsse abschätzen können. Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr belegt in seinem nun von der Bundesregierung vorge- verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, legten Sondergutachten, daß die Einrichtung einer ich möchte Ihnen erst einmal einen Glückwunsch zu ökologischen Umweltbeobachtung eine unverzicht- Ihrem neuen Amte aussprechen. bare Grundlage für die Umwelt- und Naturschutz- (Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufs: Vielen politik ist. Dies bestätigt unsere bisherigen Vorarbei- Dank!) ten an diesem neuen Datensystem. Die Sachverstän- digen heben hervor, daß sektorale Umweltbeobach- Ich darf Ihnen eine glückliche Hand — es wäre hier tungen auch nach weiterem Ausbau, verbesserter besser zu formulieren: eine ökologisch glückliche Koordination und Abstimmung den Anforderungen Hand — wünschen und will Ihnen für meine Fraktion einer ganzheitlichen Umweltpolitik nicht genügen. eine gute Zusammenarbeit im Interesse der Lösung Vielmehr soll die ökologische Umweltbeobachtung der Probleme anbieten, die es zu bewältigen gilt. In integriert, also mit einem neuen konzeptionellen, diesem Sinne von dieser Stelle aus ein herzliches umfassenden Ansatz durchgeführt werden. Die Glückauf! Umwelt muß als Einheit beg riffen werden. Das heißt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die abiotischen und Biotischen Einflußgrößen sowie — Das zeigt, daß wir unvoreingenommen an Personen die Reaktionen des beobachteten Systems müssen und Sachen herangehen, sie analysieren und uns erfaßt sein, und die Umwelt muß durch repräsentative dann ein Urteil erlauben. Daran, daß wir nicht vorein- Standorte modellhaft abgebildet und an den Stand- genommen sind, sehen Sie den guten Einstieg. orten sektorübergreifend beobachtet werden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Len- Was bleibt uns, meine Damen und Herren, nun zu nartz, daran werden wir Sie im Umweltaus- tun? schuß erinnern!) 5964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Klaus Lennartz — Das dürfen Sie. Das gesprochene Wort wird bei mir nen. Das Ziel sollte ein allgemeines Umweltinforma- auch in die Tat umgesetzt; das wissen Sie ja. tionssystem, miteinander harmonisierte verschiedene Datenbanken und auch Teilsysteme, sein. Es wird Meine sehr verehrten Damen und Herren, der wohl so sein, daß hierzu eine ständige Institution Sachverständigenrat für Umweltfragen hat festge- erforderlich ist. Das gilt erst recht, wenn die so stellt, daß wir in der Bundesrepublik zur Zeit den vernetzte Umweltbeobachtung auf die europäische Zustand unserer Umwelt weitgehend nur sektoral Ebene übertragen werden soll, z. B. in Form einer betrachten, so wie es eben auch von Ihnen vorgetra- zukünftigen europäischen Umweltagentur. gen wurde. Umweltdaten werden an vielen verschie- denen Stellen mit unterschiedlichen Methoden Herr Staatssekretär, dann wird auch Streit darüber gewonnen und mit unterschiedlicher Systematik in entstehen, wo diese Umweltagentur ihren Sitz haben vielen verschiedenen, nicht miteinander verknüpfba- wird. Wenn man die Entwicklung auf der europäi- ren Datenbanken gesammelt und — wie sollte es auch schen Ebene verfolgt, dann darf der Streit über den anders sein? — nur sektoral ausgewertet. Es gibt kein Sitz nicht dazu führen, daß darüber Zeit verlorengeht, Erfassungssystem, das die Umwelt als Ganzes, als die wir für ein derartiges integriertes Netz für Europa kompliziertes Wirkungsgeflecht behandelt. Es gibt insgesamt brauchen. Wir sollten aber darauf achten — keine allgemeinverbindliche und anerkannte ökolo- das sage ich ganz bewußt auf Grund der federführen- gische Systematik für das Erheben, Verknüpfen und den Rolle, die wir spielen —, daß der Sitz dieser Auswerten von Umweltdaten. Die Analysetechnik hat Umweltagentur nach Möglichkeit in Deutschland sein sich in den letzten Jahren so rasant fortentwickelt, daß soll. Wissen Sie, wie am Klang meiner Sprache un- wir immer feiner und genauer messen und unterschei- schwer erkennbar, hätte ich natürlich nichts dagegen, den können und so natürlich auch über eine größere wenn sie in der Region Köln/Bonn ihren Sitz nähme. Anzahl von Umweltdaten verfügen, als es bisher Ich nehme an, da werden wir uns auch treffen. jemals der Fall war. Was nützt uns jedoch das ganze Messen und Zusam- Wenn wir das System Umwelt, wie ich es gerade menfassen beispielsweise von Einleitungsdaten, dargestellt habe, auch im europäischen Maßstab als wenn die Ergebnisse nicht zusammenfassend aufbe- ein Ganzes begreifen, werden wir um eine solche reitet werden können, weil weder ökologische Bewer- Vernetzung nicht herumkommen und gleichzeitig tungsverfahren noch eine einheitliche Verknüpfungs- auch ein Interesse daran haben, daß die Staaten technik für verschiedene Daten existieren? Osteuropas auf längere Sicht in das europäische System der Umweltbeobachtung integriert werden. Hinzu kommt, meine Damen und Herren: Schad- stoffe machen vor Länder- und Staatsgrenzen nicht Nun ist das Umwelt-Monitoring ja nicht als Selbst- halt. Deshalb darf die zur Zeit in den Ländern ange- zweck gedacht, sondern es ist nötig, damit wir bes- siedelte Umweltbeobachtung nicht dazu führen, daß sere, klarere Informationen über den Zustand unserer länderübergreifende Schadstoffeinzuggebiete ge- Umwelt erhalten. Dies macht jedoch nur dann Sinn, trennt beobachtet und ausgewertet werden. Wenn in wenn die politische Ebene bereit ist, die gewonnenen- den Datensammlungen zu Luftschadstoffen keine Erkenntnisse auch zu verwerten. Ob unsere preußi- Verbindung zu Bio-Monitoring und Nahrungsmittel- sche Kabinettsordnung dazu weiter in der Lage sein analysen hergestellt wird, dann ist dies nicht richtig. wird, wage ich zu bezweifeln. Ich denke z. B. an ein Wenn bei Trinkwasserdaten die allgemeinen Quali- Umweltkabinett, welches auch wirklich den Namen tätskontrollen nicht nur unterschiedlich, sondern auch verdient. Vernetztes Denken sollte nicht nur bei der unzureichend sind, dann ist dies nicht richtig. Wenn Umwelt anfangen, sondern sich auch im Kabinett ein Bodeninformationssystem erst in kleinen Ansät- fortsetzen, um den Problemen begegnen und auch zen erkennbar ist, dann, meine Damen und Herren, handeln zu können. haben wir mehr als Handlungsbedarf. Was wir brau- chen, ist ein integriertes, flächendeckendes Umwelt- Herr Staatssekretär, was nützt die beste und breite- beobachtungssystem. ste Information, was nützen Erkenntnisse, wenn sich beispielsweise der Bundesumweltminister und der Die Umweltbeobachtung muß in einem Institut Bundesverkehrsminister beim Tempolimit, das ja zusammengefaßt werden. Die föderale Struktur der auch zu einer Reduzierung der Luftschadstoffe führen Umweltbeobachtungen darf diesem Ziel nicht weiter würde, gegenseitig Abstinenz in bezug auf politisches im Wege stehen. Vielmehr müssen wir die unter- Handeln verordnen? Aber Sie haben nachher die schiedlichen Beobachtungsebenen — von der lokalen Möglichkeit, mich hier Lügen zu strafen, indem Sie ein über die regionale, die nationale und die übernatio- koordiniertes Handeln befürworten und sich für ein nale bis zur globalen Ebene — miteinander verknüp- Tempolimit aussprechen. fen und die Datenerfassung der verschiedenen Ebe- nen untereinander abstimmen. Was nützt ein ausgefeiltes Umwelt-Monitoring im Das vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Mo- Waldschadensbericht, wenn der Landwirtschaftsmi- dell einer vertraglichen Kooperation zwischen dem nister das Sterben unserer Wälder wie ein unabwend- Bund und den Ländern ist richtig und wichtig, um die bares Schicksal hinnimmt? Was nützt die erschrek- Umweltbeobachtung weiter zusammenzuführen. Wir kende Erkenntnis, daß das Trinkwasser in weiten meinen, Herr Staatssekretär, daß auf lange Sicht auch Teilen Ostdeutschlands lebensgefährlich ist, wenn gesetzliche Grundlagen für die ökologische Umwelt- das Bundesgesundheitsministerium diese Tatsache beobachtung geschaffen werden sollten, damit beste- wider besseres Wissen bestreitet und bis zum heuti- hende Rechtsunsicherheiten beseitigt und Lücken in gen Tage nicht einmal bereit ist, diese Daten über- behördlichen Befugnissen geschlossen werden kön haupt bekanntzugeben? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5965

Klaus Lennartz Wir hoffen dennoch, daß die Voraussetzungen für auf die Nutzung als Trinkwasser größte Aufmerksam- eine Koordination zwischen Bund und Ländern bei der keit. Dabei ist es z. B. unbedingt notwendig, die Umweltbeobachtung noch in diesem Jahr geschaffen Palette der zu untersuchenden Parameter — im werden. Herr Staatssekretär, meine eingangs ge- Moment Nitratgehalt und pH-Wert — auf toxikolo- wählte Formulierung, daß wir Sie unterstützen, gilt gisch gefährliche organische Verbindungen, z. B. auch hierfür. Wir werden Sie unterstützen, um zu Halogenkohlenwasserstoffe und Pestizide, und vor erreichen, daß eine solche Koordination auf Bund- allem auf Schwermetalle auszudehnen. Dies gilt im Länder-Ebene durchgeführt wird. Nur, es liegt auch Prinzip auch für Bodenbeobachtungen, vor allem im an Ihnen, den entsprechenden Anstoß zu geben, daß Hinblick auf vermutete und bekannte Altlasten. wir 1992 wirklich zu einem Ergebnis kommen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir kontrollie- In den Ländern muß insbesondere ein System ren werden, ob das, was Sie heute als Staatssekretär aufgebaut werden, das diese Aktivitäten sinnvoll gesagt haben — anders als bei dem, was Sie vormals koordiniert. In den östlichen Bundesländern besteht als Parlamentarier gesagt haben —, auch wirklich in die große Chance, sektorale und integrierende die Tat umgesetzt wird. Umweltbeobachtungen in direkter, sachbezogener Verknüpfung zu installieren. Ich glaube, diese Wir rechnen — das sage ich ganz offen — nicht Chance birgt große und bisher nirgendwo erprobte damit, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung Möglichkeiten in sich. im Jahre 1992 zu einer ausgewogenen ökologischen Betrachtung unserer Welt kommt und so endlich die Erste gute Ansätze sind auf sektoralem Gebiet aber Maßnahmen zur Erhaltung unserer natürlichen schon vorhanden: Ich selbst war 1990 verantwortlich Lebensgrundlagen ergreifen könnte. Ich wäre froh, beteiligt an der Einrichtung des ersten großflächigen wenn Sie diese meine Worte angenehm enttäuschen Immissionsmeßnetzes in Sachsen, das in der Region würden und das Gegenteil bis zum 31. Dezember Freiberg auf einer Fläche von 180 km 2 im Einkilome- 1992 auf den Tisch des Hauses legen könnten. terraster angelegt wurde und das zur Grundlastermitt- In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerk- lung in einem vor allem schwermetallbelasteten samkeit. Gebiet dient. Dabei stehen Cadmium und Blei als Parameter von Schweb- und Sedimentationsstaub- (Beifall bei der SPD) messungen im Mittelpunkt. Das Programm wird durch SO2-Messungen ergänzt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Nach 18 Monaten Untersuchungsdauer — das Pro- hat nunmehr Herr Dr. Schmidt (Halsbrücke). gramm ist auf drei Jahre angelegt — lassen sich im Hinblick auf die Umweltbeobachtung in den östlichen Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) (CDU/ Bundesländern einige grundsätzliche Schlußfolge- CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen rungen bereits ziehen. Zuerst sei die erfreuliche, aber und Herren! Der Rat von Sachverständigen für für uns eigentlich nicht überraschende Feststellung Umweltfragen empfiehlt am Schluß seines Sondergut- genannt, daß hinsichtlich der sachlich-fachlichen achtens eine schrittweise Ausdehnung der vorge- Kompetenz bei der Durchführung der Messungen und schlagenen Aktivitäten auf das Gebiet der ehemali- der Auswertung und Interpretation der Meßergeb- gen DDR. Da ich überzeugt bin, daß auch und vor nisse sowie hinsichtlich der Zuverlässigkeit und der allem im Bereich des Umweltschutzes die Vollendung Einstellung der mit dem Meßprogramm beauftragten der deutschen Einheit die Gegenwartsaufgabe Mitarbeiter keinerlei Defizite im Hinblick auf westli- schlechthin ist, erlauben Sie mir, zum Problemkreis chen Standard existieren. der ökologischen Umweltbeobachtung aus der Sicht Zweitens. Es ist aber notwendig, die apparativen der östlichen Bundesländer kurz Stellung zu neh- Ausrüstungen erheblich zu verbessern. Dies wird men. durch entsprechende Investitionen möglich und nötig Es war eines der herausragenden Ziele der friedli- sein. Ich möchte in diesem Zusammenhang die sehr chen Revolution des Herbstes 1989, die Lebensquali- hilfreiche apparative Unterstützung hervorheben, die tät der Bevölkerung entscheidend zu verbessern. Dies die westlichen Bundesländer — auch im Falle des von bedeutet, wirtschaftlichen Aufschwung und ökologi- mir genannten Immissionsmeßprogramms — bisher sche Sanierung gleichzeitig in unmittelbarer, sachli- geleistet haben. cher Verflechtung in die Tat umzusetzen. Eine wich- tige Voraussetzung dafür sind zuverlässige Informa- Die dritte Schlußfolgerung betrifft ein Kernproblem tionen über den derzeitigen Stand der Umwelt. Das aller Umweltaktivitäten: die Akzeptanz der Ergeb- heißt: Eine wichtige Voraussetzung ist eine gezielte nisse in der Bevölkerung. Wir stellen fest, daß nega- ökologische Umweltbeobachtung, die im Prinzip alle tive Ergebnisse sofort akzeptiert werden. Dort, wo die Umweltmedien wie Luft, Wasser, Boden, Pflanzen- Ergebnisse besser sind als befürchtet, z. B. in dem und Tierwelt einschließt und das System Umwelt als genannten Immissionsmeßprogramm, müssen wir zur Ganzes erfaßt und begreift. Es überrascht nicht, wenn Kenntnis nehmen, daß die Ergebnisse nicht angenom- ich feststelle, daß auf diesem Gebiet ein bedeutender men werden. Nachholbedarf besteht, wobei die integrierende Diese Reaktion ist angesichts der eigenen Vergan- Umweltbeobachtung bisher vollständig fehlte. Aber genheit, in der ausschließlich Umweltschönfärberei auch auf sektoralem Gebiet gilt es, vieles aufzuho- mit verantwortungsloser Bagatellisierung der Gefah- len. renmomente betrieben wurde, sicher sehr verständ- Besonders der Beobachtung der Oberflächenge- lich. Aber für die Verbesserung der Umweltbedingun- wässer und des Grundwassers gebührt im Hinblick gen ist die konstruktive Mitwirkung der Bevölkerung 5966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) unabdingbar. Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt heit zu groß und die behördlichen Befugnisse zu darin, ein Vertrauen zu begründen, das die Annahme lückenhaft sind. der ermittelten Umweltinformationen zuläßt. Die Sachverständigen weisen im Gutachten zwar Es müssen deshalb alle Anstrengungen auf eine darauf hin, daß in der Länderverantwortung sektoral fachlich überzeugende, seriöse, faire, durchschau- zum Teil recht intensiv einzelne Umweltmedien beob- bare und nachvollziehbare Informationspolitik ge- achtet werden — das kann ich aus eigener Erfahrung richtet werden. Nur durch verantwortungsbewußtes nur bestätigen, das gilt insbesondere für Emissio- Vorgehen aller, insbesondere der Medien, wird es nen —, sie bemängeln jedoch und das auch zu Recht, gelingen, das ausgeprägte Mißtrauen abzubauen. daß dabei nur unzureichend die Nur dann werden ökologische Sanierung und Auf- Umwelt als System begriffen wird und die biotischen und abiotischen schwung gleichzeitig erfolgreich bewältigt werden Einflußgrößen nicht hinreichend mit Veränderungen können. Wir alle sind aufgefordert, dabei mitzuwir- von Ökosystemen korreliert werden. Diese Kritik ist ken. im Grundsatz berechtigt. Wir sollten uns deshalb Herzlichen Dank. anstrengen, das, was von den Gutachtern inhaltlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorgeschlagen wird, zu realisieren. Um der Komplexität von Ökosystemen gerecht zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile werden, brauchen wir auch eine stärkere Verknüp- dem Abgeordneten Professor Dr. Starnick das Wort. fung der sektoralen Umweltbeobachtungen auf einer höheren Ebene, als die Länder sie schaffen können. Es erhebt sich aber die Frage, ob die nationale Ebene Dr. Jürgen Starnick (FDP): Herr Präsident! Meine schon übergreifend genug ist, um wesentlich mehr als Damen und Herren! Es wurde bereits gesagt: Uns liegt die Länder leisten zu können. Wenn sich die Wir- ein Sondergutachten zur ökologischen Umweltbeob- kungszusammenhänge, die man mit einer solchen achtung des Rates der Sachverständigen für Umwelt- Beobachtungsstrategie erfassen möchte, nicht mehr fragen zur Beratung vor. Ich freue mich, daß ich von punktuell und in abgegrenzten Testgebieten beob- vornherein sagen kann, daß ich mich mit allen meinen achten lassen, sind sie in der Regel raumübergreifen- Vorrednern inhaltlich in einem Boot befinde; insbe- der als unsere nationalstaatlichen Grenzen. sondere mit dem Herrn Staatssekretär, Um zwei Beispiele zu geben: Weder das Watten- (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der meer als Küstenökosystem noch die Hochgebirgsöko- SPD: Aha!) systeme machen vor diesen Grenzen halt. Ich bin dem ich natürlich recht herzlich zu seiner neuen deshalb der Meinung, daß wir von vornherein eine Würde — zugleich Bürde; ich kenne diese Bürde aus europäische Konzeption für eine integrierte Umwelt- eigener Erfahrung, die sehr oft darin besteht, daß man beobachtung anstreben sollten. im Umweltschutz nie genug tut — gratulieren möchte. - Ich hoffe, daß die Zusammenarbeit genauso eng und Die zweite Frage, die sich in diesem Zusammen- vertrauensvoll weitergeführt wird, wie das bisher der hang sogleich erhebt, lautet: Warum sieht das Gutach- Fall gewesen ist. tergremium die Notwendigkeit, eine eigenständige Institution einzurichten, die sich ausschließlich mit Das Ziel, das von den Sondergutachtern vorgetra- dieser Aufgabe beschäftigen soll, obwohl ganze Auf- gen und beschrieben wird, ist unter uns wohl unbe- gabenbereiche, die in dem Gutachten beschrieben stritten. Deshalb möchte ich auf das eingehen, wo mir werden, bereits vom Umweltbundesamt abgedeckt beim Lesen bzw. beim vertieften Studium des Gutach- sind? Dort existiert z. B. schon eine funktionierende tens mehr und mehr Fragen gekommen sind. Die Struktur eines Umweltinformationssystems. Auch die Gutachter schlagen vor, eine integrierende, die ver- regelmäßige Umweltberichterstattung wird vom Um- schiedenen Umweltmedien Luft, Wasser, Böden, weltbundesamt hinreichend geleistet. Ich persönlich Pflanzen - und Tierwelt zusammenfassende Umwelt- habe keine Zweifel daran, daß das Umweltbundesamt einzurichten und hierfür eine dies tra- beobachtung mit einer Zusatzausstattung, die weit weniger kosten gende zu schaffen. Diese Institution neue Institution dürfte als das, was der Bund bei der Schaffung einer könne Informationen aus verschiedenen Meßnetzen neuen Institution aufzuwenden hätte, die Aufgaben und Langzeituntersuchungen zusammenführen und einer integrierten Umweltbeobachtung aus der Kom- ein Netz repräsentativer Flächen für die Beobachtung petenz des Bundes heraus leisten könnte. der Veränderung der wichtigsten Ökosystemparame- ter aufbauen und die Umweltprobenbank aus- Die dritte Frage, die sich erhebt, lautet: Brauchen bauen. wir zusätzliche gesetzliche Grundlagen, gar ein eige- Der Sachverständigenrat hält es für erforderlich, nes Gesetz, um die angestrebte ökologische Umwelt- eine ständige Institution einzurichten, die sich aus- beobachtung durchführen zu können? Das Problem schließlich mit diesen Aufgaben beschäftigt. Sie soll besteht doch in erster Linie darin, daß die Ökosystem- Verfahren entwickeln, mit deren Hilfe Daten systema- forschung noch gar nicht all diejenigen standardisier- tisch erfaßt werden, um sie für Umweltinformationen ten Methoden zur Verfügung gestellt hat, die unerläß- auszuwerten und abrufen zu können. Letztendlich soll lich sind, um lokal und sektoral vorgenommene eine gesetzliche Grundlage für die Durchführung der Umweltbeobachtungen miteinander vergleichen zu ökologischen Umweltbeobachtung geschaffen wer- können. Ebenso fehlen die Konventionen zur Daten- den, weil man der Meinung ist, daß — wie auch Herr handhabung, mit denen man diese Beobachtungen Lennartz schon ausgeführt hat — die Rechtsunsicher beschreibt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5967

Dr. Jürgen Starnick Um solche Vergleichbarkeiten herzustellen, muß Novellierung erwartet, und wie hat man die ange- man aber nicht gleich die dicke Keule eines Gesetzes strebten Ziele zu erreichen versucht? Zweitens. Inwie- zur Hand nehmen, sondern kann sich anderer Mög- weit wurden diese Erwartungen erfüllt? Drittens. lichkeiten bedienen. Ein Beispiel dafür ist in unserem Welche Forderungen bzw. Änderungen sind aus heu- Nachbarland Schweiz gegeben. Auch der Bund tiger Sicht zusätzlich erforderlich? könnte — wie dort — eine Kommission einrichten, in Zwei wichtige Neuerungen standen bei der 5. No- der die Länder, die Wissenschaft und er selbst vertre- vellierung im Vordergrund. Der erste — so möchte ich ten sind und die sich des Problems der Standardisie- sagen — Glanzpunkt des Gesetzes war die Hervorhe- rung von integrierten Umweltbeobachtungen an- bung der Belange der Gewässerökologie, um deutlich nimmt. Erst wenn sich herausstellen sollte, daß eine zu machen, daß die Gewässernutzung nicht das allei- solche Kommission für die Vereinheitlichung der nige Ziel eines modernen Wasserhaushaltsgesetzes Standards für die Umweltbeobachtungen wegen allzu sein kann — ein ungemein wichtiger Aspekt für ein konkurrierender Länderzuständigkeiten nicht mehr dichtbesiedeltes Industrieland, in dem beide Aspekte, wirken kann, wäre ein Gesetz gerechtfertigt. Nutzung und naturnahe Erhaltung, gleichberechtigt Meine Damen und Herren, ich will mich in der nebeneinander stehen müssen. Ausschußberatung gern von gegenteiligen Argumen- ten überzeugen lassen. Mein erster Eindruck von Der zweite wichtige Aspekt war die Einführung des dieser Debatte ist jedoch, daß wir in unserer Einschät- „Standes der Technik" statt der „allgemein aner- zung des hier vorliegenden Berichts gar nicht so weit kannten Regeln der Technik" bei der Vermeidung auseinanderliegen. Ich freue mich auf die Diskus- von Einleitungen gefährlicher Stoffe, also solcher sion. Stoffe, bei denen die Besorgnis einer Giftigkeit, Lang- lebigkeit, Anreicherungsfähigkeit oder einer krebser- Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zeugenden, fruchtschädigenden oder erbgutverän- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie dernden Wirkung gegeben ist. Diese Forderung hat bei Abgeordneten der SPD) nicht nur zu einem technischen Innovationsschub bei der Entwicklung neuer Vermeidungsmethoden, son- Damit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: dern — durch den Einsatz und die Erprobung dieser diese angekündigte Debatte im Ausschuß stattfinden neuen Techniken — gleichzeitig auch zu einer schnel- kann, bitte ich das Haus, der Überweisung an die in len, weitgehenden Anpassung der „allgemein aner- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuzu- kannten Regeln der Technik" an den „Stand der stimmen. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann Technik" geführt. Deshalb stehen heute hervorra- darf ich das als beschlossen feststellen. gend ausgereifte Techniken zur Verfügung, und es Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf: kommen immer neue, preisgünstige, teilweise überra- Beratung der Beschlußempfehlung und des schende und vor allen Dingen noch umweltfreundli- Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- chere Lösungen dazu. schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Als besonders spektakuläres und dennoch weitge- der Unterrichtung durch die Bundesregierung hend unbekanntes Beispiel für solch überraschende Bericht der Bundesregierung an den Deut- Entwicklungen mag die Phosphateliminierung in schen Bundestag über die Auswirkungen der Kläranlagen dienen. Noch vor einem Jahr war unter 5. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz auf die Fachleuten sehr umstritten, ob die theoretische Mög- Gewässer lichkeit, in der biologischen Stufe einer Kläranlage — Drucksachen 11/7327, 12/1700 — die nach dem Nord-/Ostseeprogramm geforderten Grenzwerte sowohl für Nitrat als auch für Phosphat zu Berichterstatttung: erreichen, in der Praxis zu verwirklichen sei. Inzwi- Abgeordnete Dr. Norbert Rieder schen zeigt das Beispiel der Kläranlage in Berlin, wozu Marion Caspers-Merk Kollege Starnick sicherlich etwas sagen kann — jetzt Uwe Lühr ist er verschwunden; wenn man ihn bzw. seine Stadt Hierzu liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion einmal lobt, dann ist er nicht da vor. (Gerhart Rudolf Baum [FDP]: Wir werden es Der Ältestenrat schlägt Ihnen hier ebenfalls eine ihm sagen! — Weitere Zurufe von der FDP Debattenzeit von einer halben Stunde vor. — Das und der SPD) Haus ist damit einverstanden. Ich kann also die Debatte eröffnen und dem Abgeordneten Professor — ja, das kriegt er auch so mit —, daß die soeben Dr. Rieder das Wort erteilen. genannten Grenzwerte allein mit der biologischen Stufe, also ohne die dritte, chemische Stufe, locker Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Herr Präsident! erfüllt werden können. Eine zweite Anlage in einer Meine Damen und Herren! Vor etwa fünf Jahren hat anderen deutschen Großstadt ist derzeit in der Opti- der Deutsche Bundestag die 5. Novellierung des mierungsphase und wird diese Werte wohl ebenfalls Wasserhaushaltsgesetzes verabschiedet. Damals war rein biologisch einhalten können. Allerdings geht das die Bundesregierung aufgefordert worden, über die bisher — das ist leider Gottes der Wermutstropfen — Auswirkung dieser Novellierung bis Ende 1989 zu nur bei sehr großen Anlagen mit einem sehr gleich- berichten. Heute haben wir nun über diese Novellie- mäßigen Klärgutaufkommen. Aber immerhin steht rung und die damit gemachten Erfahrungen zu bera- damit ein Verfahren zur Verfügung, daß äußerst ten. kostengünstig ist und — ohne die Probleme bei der Dabei stehen drei Fragenkomplexe im Vorder- chemischen Fällung — sehr harte Grenzwerte er- grund: Erstens. Was hat man sich von der damaligen füllt. 5968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Norbert Rieder Da das Wasserhaushaltsgesetz ein Rahmengesetz Hinsicht überlegene biologische Lösung, die ich vor- des Bundes ist, ist nicht verwunderlich, daß die hin erwähnt habe, nicht zum Zuge gekommen. Umsetzung durch die notwendigen länderspezifi- Andersherum: Die geforderten Grenzwerte haben das schen Regelungen und die danach folgenden prakti- Endergebnis, das die SPD erreichen möchte, auf schen Anwendungen noch keineswegs vollständig marktwirtschaftliche Art und Weise zum großen Teil, vollzogen ist. Das gilt für die alten Bundesländer, noch nämlich für Phosphate und Nitrate, vorweggenom- mehr natürlich für die neuen Bundesländer, bei denen men. die Umsetzung allenfalls ansatzweise zu erkennen ist Den Rest — so denke zumindest ich — bekommen — und das bei einem beachtlichen Nachholbedarf. wir über unsere gemeinsame Forderung nach der Die Gesamterfahrungen sind also noch begrenzt. Förderung der natürlichen Entwicklung der Gewässer Die vollständige Umsetzung in den Ländern wird und der Schaffung von naturnahen Gewässerrand- sicherlich noch bis zum Ende dieses Jahrzehntes streifen in den Griff, da dadurch die Selbstreinigungs- dauern. Insgesamt läßt sich aber jetzt schon sagen, daß kraft der Gewässer so weit angehoben werden kann, sich dieses Gesetz hervorragend bewährt und wesent- daß weitere Maßnahmen in der Regel nicht nötig sein liche Fortschritte gebracht hat. werden. Es lassen sich aber auch jetzt schon verschiedene Sollten aber — und das sage ich in aller Deutlich- Bereiche erkennen, in denen Veränderungen bzw. keit — Verbesserungen der bisherigen Regelungen einge- fordert werden müssen. Diese Forderungen liegen (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Und Ihnen als Beschlußempfehlung vor. Ich will auf die Entschiedenheit!) wichtigsten dieser Forderungen etwas näher einge- die soeben genannten Forderungen nicht erfüllt wer- hen, ebenso auf einen Punkt, in dem der Ihnen den, dann müßten wir in der Tat mit weiteren teueren ebenfalls vorliegende Antrag der SPD, der in wesent- technischen Maßnahmen arbeiten. lichen Teilen deckungsgleich mit der Beschlußemp- fehlung des Ausschusses ist, von dieser Beschlußemp- (Klaus Lennartz [SPD]: 2005!) fehlung abweicht. Daß entsprechend naturnah entwickelte Gewässer Nach dieser Beschlußempfehlung sollte die Bun- außerdem für das Gesamtökosystem und für die desregierung z. B. die Anforderungen für die Abwas- Erholungsvorsorge eine große Rolle spielen, sei nur serreinigung nach dem Stand der Technik für ver- der Vollständigkeit halber erwähnt. schiedene gefährliche Stoffe, die etwa — und ich bringe jetzt ganz bewußt eine zufällige Auswahl, die Der letzte Grund, den ich anführen möchte, ist die nichts mit einer Prioritätenliste zu tun hat — in der Situation in den neuen Bundesländern. Hier sind der chemischen Industrie, bei der Herstellung von Leder Nachholbedarf und der entsprechende Kapitalbedarf oder Pelzen oder auch in Arztpraxen und vielen im technischen Bereich der Kläranlagen so hoch, daß anderen Bereichen anfallen, nach einer zu erstellen- mit einer Umsetzung entsprechend verschärfter Vor- den Prioritätenliste schnellstmöglich festlegen. schriften frühestens in zehn Jahren begonnen werden könnte. Aber auch in vielen Kommunen und Land- Bei den übrigen Einleitungen, also bei den Einlei- kreisen bzw. Abwasserzweckverbänden der alten tungen nicht gefährlicher Stoffe, muß derzeit noch auf Bundesländer, besonders in den Ländern, in denen die generelle Einführung des Standes der Technik die SPD an der Regierung beteiligt ist, — und da sind wir mit der SPD nicht im Konsens — verzichtet werden. (Klaus Lennartz [SPD]: Na, na! — Dr. Peter Struck [SPD]: Vorsicht!) (Gerhart Rudolf Baum [FDP]: Richtig!) Selbstverständlich liegt auch uns daran, daß auch in sind wir noch weit entfernt von der Umsetzung der diesem Bereich modernste Technik eingesetzt wird. jetzt schon geltenden Regelungen. Wir sollten deshalb Dennoch sollten wir derzeit auf eine gesetzliche nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun, Festlegung verzichten. Ich möchte das etwas genauer (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Oh, begründen. oh, oh!) Der erste Grund — wohl der gravierendste — ist sondern erst das durchsetzen, was bereits beschlossen der, daß wir im Nord-/Ostseeprogramm schon sehr ist. Ich würde sagen: Wiedervorlage in fünf Jahren! harte Grenzwerte für Kläranlagen festgelegt haben, Dann wissen wir mehr und haben keinerlei Zeit Grenzwerte, die so hart sind, daß viele Fachleute in verloren. der Vergangenheit und auch heute noch sie für überzogen halten. (Zurufe von der SPD) (Klaus Lennartz [SPD]: Aber ich bitte Sie!) Im übrigen glaube ich, daß die inhaltlichen Unter- — Das ist so. Reden wir gemeinsam mit den entspre- schiede zwischen der vom Ausschuß vorgeschlagenen chenden Fachleuten! Kommen Sie mal mit! Beschlußempfehlung und dem Antrag der SPD so gering sind, (Klaus Lennartz [SPD]: Streichen Sie das nicht aus dem Protokoll!) (Klaus Lennartz [SPD]: Ein hervorragendes Verfahren!) Hätten wir diese Grenzwerte nun mit der Forderung nach dem „Stand der Technik" gekoppelt, wären daß alle hier Anwesenden dem Ausschußantrag zwangsläufig nur dritte chemische Stufen mit all ihren zustimmen können, ohne sich etwas zu vergeben. Nachteilen in Frage gekommen und wäre die in jeder Dazu fordere ich Sie hiermit auf. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5969

Dr. Norbert Rieder Vielen Dank. Diese Eckpunkte unseres Beschlußvorschlages sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für uns aber erst der Auftakt zu einer breiten Diskus- sion über die Wasserpolitik der Bundesregierung. Darüber hinaus sollte im Rahmen der Neufassung des Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Wasserhaushaltsgesetzes auch einmal ganz grund- hat nun die Abgeordnete Frau Caspers-Merk. sätzlich über die Art und Weise unserer Umweltge- setzgebung nachgedacht werden. Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Präsident! Meine Das WHG steht noch ganz in der verstaubten sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Rieder Tradition der preußischen Wassergesetzgebung, wo hat schon festgehalten, daß wir im Umweltausschuß man alle Materien ausschied, „welche nicht unmittel- bereits über diesen Bericht der Bundesregierung bar das Element des Wassers zum Gegenstande debattiert haben. Oft ist auf Grund der drangvollen haben", wie es im Vorwort von „Wasserrecht im Tagesordnung solch eine Beratung eine reine Routi- preußischen Staat" von 1866 heißt. neangelegenheit. Solche Berichte werden von der (Klaus Lennartz [SPD]: Das liegt 125 Jahre Regierungskoalition zustimmend, von der Opposition zurück!) meist kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. In diesem speziellen Fall hat sich die SPD-Bundestags- — Nichts geändert, sehr richtig. fraktion aber angesichts der Bedeutung des Themas Genau wie sein preußischer Vorgänger handelt das entschlossen, den Kopf nicht nur zu schütteln, sondern WHG in den allermeisten Paragraphen noch davon, ihn sich auch zu zerbrechen und eine Initiative zur wie das Eigentum im und am Gewässer zu handhaben Novellierung des WHG zu starten. Es war nämlich ist. Dagegen stehen aber mittlerweile ganz andere unsere Initiative, etwas dazu vorzulegen. Wir wollen Probleme, beispielsweise — ich nenne nur drei Bei- nicht länger warten, bis ein schleppend arbeitendes spiele — die Versauerung der quellnahen Bäche und Umweltministerium irgendwann einmal die der oberflächennahen Grundwasservorkommen, Schwachstellen erkennt und mit großer Verzögerung zweitens die möglicherweise schwerwiegenden Ver- einen Gesetzentwurf vorlegt. Es genügt eben nicht, änderungen im Abflußsystem unserer Flüsse im nur mal eben durch den Rhein zu schwimmen, son- Gefolge des Treibhauseffektes, drittens das allgegen- dern man muß auch etwas tun. wärtige Eindringen von Luftschadstoffen in unsere (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Grundwasserressourcen — dies kann man sehr gut beim Thema Pflanzenbehandlungsmittel nachlesen. Deshalb haben wir die Vorlage des Berichts zum Anlaß genommen, eigene Eckpunkte für eine Novel- Heute ist eine medienübergreifende Betrachtungs- lierung des Wasserhaushaltsgesetzes einzubringen. weise gefragt. So finden sich Regelungen, die die Das grundsätzliche Anliegen unserer Initiative wurde Wasserqualität direkt betreffen, auch im Bundes- vom Ausschuß aufgegriffen. Heute liegt dem Bundes- Immissionsschutzgesetz und im Abfallgesetz. Auch tag eine Beschlußempfehlung vor, die immerhin noch die diskutierte Düngemittelanwendungsverordnung, in Teilbereichen des Forderungskatalogs unsere das Pflanzenschutzgesetz, das Chemikaliengesetz Handschrift trägt, in weiten anderen Bereichen aber und das Waschmittelgesetz betreffen die Wasserqua- von Ihnen verwässert wurde. Unsere Forderungen lität unmittelbar. Wir haben hier also eine Fülle von gingen in zentralen Bereichen deutlich weiter: Gesetzen und Verordnungen, die endlich einmal in Wir forderten den Stand der Technik für die Abwas- einem Umweltgesetzbuch zusammengefaßt werden serreinigung auch in bezug auf Nährstoffe. sollten. Dieses Umweltgesetzbuch ist von der Regie- rung, wie so oft, angekündigt, aber bislang leider nicht Wir forderten die bundeseinheitliche Festlegung umgesetzt worden. von Fristen für die Umsetzung der Mindestanforde- rungen für Direkt- und Indirekteinleiter nach § 7 a des Vieles, was wir bislang haben, ist doppelt oder Wasserhaushaltsgesetzes. dreifach geregelt und dann auch noch unterschied- lich. Betroffene Industriebetriebe können hiervon ein Wir forderten endlich die Umsetzung der vielen Lied singen. So kann es durchaus passieren, daß ein EG-Richtlinien, die nach wie vor nicht umgesetzt Betrieb nach Anhang 40 der Wasserverwaltungsvor- worden sind. schriften zum WHG zu Vermeidungs- oder Verwer- (Gerhart Rudolf Baum [FDP]: Da sind wir uns tungsmaßnahmen verpflichtet wird, nach erfolgrei- einig!) chem Abschluß dieser Maßnahmen von der zuständi- Gerade im Bereich der Wasserpolitik ist nämlich die gen Abfallbehörde gebeten wird, seinen Betrieb noch Bundesregierung nicht der Musterknabe, für den sie einmal umzustellen, diesmal entsprechend der Ver- sich immer ausgibt, sondern sie mußte sich schon waltungsvorschrift zum Abfallgesetz. Doppelter Auf- verschiedene Male vom Europäischen Gerichtshof wand, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, für bestätigen lassen, daß sie die Hausaufgaben nicht separate Verwaltungsvorschriften. Dabei sind die gemacht und eben das Klassenziel in der Wasserpoli- Entstehung von Abwasser einerseits und Abfall ande- tik nicht erreicht hat. rerseits nur zwei Seiten derselben Medaille. Das ist keine moderne Umweltpolitik, sondern bürokrati- (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider scher Aufwand ohne Ertrag. wahr!) Wir fordern eine Klarstellung, daß als Benutzung (Beifall bei der SPD) des Grundwassers auch landwirtschaftliche Maßnah- Manches ist aber bislang überhaupt nicht geregelt men gelten, die zu einer Schädigung des Wassers worden. Das betrifft vor allen Dingen die Schnittstel- beitragen können. len zwischen den einzelnen Gesetzen. Das fällt oft 5970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Marion Caspers-Merk durch sämtliche Zuständigkeitsraster. Auch darüber Sie erinnern sich: Im allerersten Beschlußvorschlag sollten wir im Rahmen der Novellierung des WHG des Ausschusses war eine entsprechende finanzielle nachdenken. Forderung enthalten. Leider wurden diese Forderun- Was uns nötig erscheint, ist eine medienübergrei- gen schon in der ersten Beratung abgeschmettert. Wer fende Gesetzgebung, die auch einmal Überflüssiges sieht, wie es um die Trinkwasserqualität in den neuen wegläßt. Diese zentrale Forderung bei einer Gesetzes- Ländern bestellt ist, kann die Bundesregierung nur novellierung sollte auf jeden Fall bei allen Umweltge- dringend zum Handeln auffordern, um die Bürgerin- setzen der Zukunft beachtet werden. nen und Bürger der neuen Länder vor Gesundheits- gefahren zu schützen. Wir wollen bei der Novellierungsdiskussion auch von der Schutz- und Reservatepolitik wegkommen, In diesem Zusammenhang weise ich auch auf die skandalöse was das Grundwasser angeht. Es kann doch nicht Zersplitterung der Zuständigkeiten im angehen, daß immer mehr Wasserschutzgebiete aus- Wasserbereich hin. Es gleicht einem Würfelspiel, wer auf parlamentarische Fragen antwortet und wer sich gewiesen und der Landwirtschaft hohe Entschädi- gungen dafür gezahlt werden, gleichzeitig aber auf zuständig fühlt: für Düngung und Pflanzenschutz der der verbliebenen Fläche intensiver denn je gedüngt Landwirtschaftsminister, für die Trinkwasserverord- und gespritzt wird. Die Wasserverbraucher, nämlich nung die Bundesgesundheitsministerin. Das Sofort- programm Trinkwasser wurde unter Federführung wir alle, zahlen die Rechnung. Den Landwirten in des Bundesumweltministers durchgeführt. Ich fordere Wasserschutzgebieten geht es an die Existenz. Der Rest wirtschaftet wegen einer verfehlten Agrarpolitik Sie auf, im Bereich der Wasserpolitik endlich für klare weiter nach dem Motto: Viel hilft viel. Kompetenzen zu sorgen. Wer hier wegen Kompetenz- gerangel nicht handelt, macht sich am Gesundheits- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das zustand der Bürgerinnen und Bürger der neuen Län- ist außerordentlich praxisfremd, was Sie hier der schuldig. Ich bitte Sie deshalb, unseren Ände- erzählen!) rungsantrag, der viel weitergehend ist, als Ihr Vor- Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang einen schlag, zu unterstützen, und danke Ihnen für die historischen Exkurs. Im Jahre 1909, als die erste Aufmerksamkeit. Beratung des neuen preußischen Wassergesetzes (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ stattfand, eröffnete der Versammlungsvorsitzende die GRÜNE) Diskussion mit folgenden Worten: Als wir erfuhren, daß die Regierung beabsichtigte, der Vorlage eines Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Wassergesetzentwurfes näherzutreten, war unser spricht der Abgeordnete Rudolf Baum. Gedanke der: Das ist gut und schön, aber wenn wir uns nicht mit der Landwirtschaft verständigen können, wird aus der Sache nichts, und der traurige Zustand Gerhart Rudolf Baum (FDP): Herr Präsident! Meine bleibt für eine Reihe von Jahren bestehen. Damen und Herren! Wir sollten uns im Bereich der Wassergesetzgebung und des Vollzugs der Wasserge- Dieses Zitat hat leider an Aktualität nichts verloren. setzgebung nicht überfordern. Ich meine den Gesamt- Ich finde, die Feststellung sollten wir beherzigen. Wir staat. Ich meine die Länder und Gemeinden. Ich stelle sollten bei der Novellierungsdiskussion vor allen fest, daß es ein erhebliches Vollzugsdefizit gibt. Es Dingen über Neuregelungen zum § 19 Abs. 4 nach- geht nicht an, daß wir uns hier in Gesetzen sonnen und denken, d. h. daß in Zukunft beispielsweise auch die feststellen, daß die Länder nicht umsetzen, aus wel- Überdüngung in der Landwirtschaft geregelt werden chen Gründen auch immer. Manchmal liegt es auch muß. Hierzu sind neue Regelungen dringend erfor- an uns. Die Vorschriften sind kompliziert. In vielen derlich. Denn schon 1984 wurde das von der Bundes- Fällen liegt es an den Ländern, die zuständig sind, daß regierung geplant und 1987 vom Sachverständigenrat unsere gesetzgeberischen Vorstellungen nicht umge- nochmals verlangt. In der Diskussion damals ging es setzt werden. Es hat überhaupt keinen Sinn, ein auch schon um die Erlaubnispflicht. Vor allen Dingen Gesetz nach dem anderen zu produzieren und in der sollten damals typische Überdüngungsbetriebe und Wirklichkeit damit nichts zu erreichen. typische Überdüngungslagen separat behandelt wer- den. Andere Bewirtschaftungsformen und Hilfen zur (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Umstellung schützen das Grundwasser besser als der Bündnis 90/GRÜNE) Wasserpfennig — was im übrigen von unverdächtiger Deshalb muß man sich zunächst einmal klar werden Seite genauso gesehen wird. Denn das Büro für — das hat ja auch Herr Kollege Rieder zum Ausdruck Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundesta- gebracht —: Was ist möglich? Was ist nach dem ges kommt im Rahmen seines Projekts Grundwasser- vorhandenen Gesetzgebungsinstrumentarium not- schutz und Wasserversorgung zu ähnlichen Ergebnis- wendig? Was ist dort an Defiziten festzustellen? Meine sen. Fraktion hat seit langem gefordert, daß wir uns einmal einen Bericht geben lassen — das ist natürlich sehr Ein zentrales Anliegen unserer Wasserpolitik ist die heikel — über den Vollzug des Bundesrechts auf Sorge um die Wasserqualität in den neuen Ländern. diesem Gebiet. Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker der SPD haben sich in den vergangenen Monaten intensiv um Der erste Einwand gegen hohe neue Gesetzge- die Trinkwasserqualität in den neuen Ländern bungsforderungen resultiert aus dem mangelnden bemüht. In unserem Beschlußvorschlag waren Forde- Vollzug. Wir täuschen uns über die Wirklichkeit rungen nach einer Sonderfinanzierung von Abwas- hinweg. serreinigungsanlagen in den neuen Ländern enthal- Der zweite Einwand ist, daß wir einen wirklich ten. fundamentalen Themenwechsel haben. Wir können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5971

Gerhart Rudolf Baum nicht mehr so tun, als hätten wir nicht erhebliche wirtschaft zu erreichen. Die Düngemittelanwen- Probleme in den neuen Bundesländern zu lösen. Dies dungsverordnung spielt hier eine Rolle. Insbesondere muß Priorität haben. Wasserversorgung und Abwas- ist die Schädigung des Grundwassers und der Ober- serentsorgung in den neuen Ländern bedürfen flächengewässer zu vermeiden. In diesem Zusam- rascher Sanierung. Erhebliche Aufwendungen sind menhang fordern wir die Bundesregierung auf, diese dafür erforderlich; m an schätzt bis zu 100 Milliarden wirksame Düngemittelanwendungsverordnung zu DM. Der Bund tut hier schon einiges. Er hat angesto- verabschieden. ßen, er hat wichtige Maßnahmen mitfinanziert, die die (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- Trinkwasserqualität und auch die Abwasserentsor- gen] [FDP]) gung betreffen. Also einerseits Fortschritte, andererseits ein Hand- Der Bund, die öffentliche Hand können das nicht lungsbedarf, der aber unter die Prämisse gestellt allein schaffen. Meine Fraktion setzt sich nachhaltig werden muß, daß ein wirksamer Vollzug gewährlei- dafür ein, privates Kapital zu aktivieren. Wir begrü- stet sein muß und daß wir in erster Linie jetzt alle ßen, daß die Umweltminister und die Wirtschaftsmini- unsere Kräfte zusammennehmen, um die erheblichen ster der neuen Bundesländer beim Bundeswirtschafts- Schädigungen in den neuen Bundesländern zu besei- minister und beim Bundesumweltminister festgelegt tigen. Das ist das Thema Nummer eins, bevor wir uns haben, daß sie die Mobilisierung privaten Kapitals an komplizierte, auch die Verwaltung belastende zur Entlastung der öffentlichen Haushalte vorneh- Novellierungen begeben. men wollen und dazu auch ganz konkrete Maßnah- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. men in den neuen Bundesländern treffen, z. B. die gesetzliche Zulässigkeit der Einschaltung Privater (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und die Gewährung öffentlicher Zuschüsse auch für Private. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit sind wir am Ende der Aussprache. Ich stelle überhaupt die Frage: Warum muß es erst Ich komme nun zur Abstimmung, und zwar die Einheit Deutschlands geben, um auf diese Gedan- zunächst einmal über den Änderungsantrag der Frak- ken zu kommen? Das wäre auch ein Ins trument in den tion der SPD auf der Drucksache 12/1930. Wer diesem alten Bundesländern, um den Gesetzesvollzug zu beschleunigen. Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wir haben in unserem Antrag festgestellt, daß die Dann ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalitions- 5. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz eine Menge fraktionen abgelehnt. bewirkt hat. Wir haben wesentliche Verbesserungen Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfeh- der Wasserqualität festzustellen. Wir haben in den lung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und letzten Jahren im Gewässerschutz beachtliche Fort- Reaktorsicherheit auf der Drucksache 12/1700 ab. schritte gemacht. Wir verkennen nicht, daß es nach Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. wie vor erhebliche Lücken bei der Erfassung und — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei- Überwachung der Indirekteinleiter, hinsichtlich der Enthaltungen der Oppositionsfraktionen angenom- unzureichenden Ausweisung von Wasserschutzzo- men. nen, bei den Anforderungen an Anlagen zum Umgang mit gefährlichen Stoffen gibt. Die dritte Reinigungs- Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf: stufe ist noch längst nicht überall eingeführt. Die ökologische Ausrichtung des Gewässerschutzes ist Beratung der Beschlußempfehlung und des vielfach mangelhaft. Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Aus- schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Die FDP setzt sich für eine Novelle zum Wasser- Harald B. Schäfer (Offenburg), Klaus Dauberts- haushaltsgesetz ein. Wir müssen die Umsetzung der häuser, Klaus Lennartz, weiterer Abgeordneter EG-Gewässerschutzrichtlinien vornehmen, insbe- und der Fraktion der SPD sondere der EG-Richtlinien über die Behandlung Mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit und kommunaler Abwässer. Lebensqualität durch Geschwindigkeitsbe- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin grenzungen gen] [FDP]) — Drucksachen 12/616, 12/1621 — Wir sind auch der Meinung, daß das Umweltinforma- Berichterstattung: tionsgesetz kommen muß. Wir müssen die Umweltsi- Abgeordneter tuation transparenter machen. Die Umsetzung der Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von EG-Richtlinie steht aus. einer Stunde vor. — Das wird offensichtlich akzep- tiert. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin gen] [FDP]) Dann können wir mit der Debatte beginnen. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Ferner das Ich nehme an, daß die Bundesregierung dazu Stellung Wort. nimmt. Alles in allem sind wir der Meinung, daß wir die Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Landwirtschaft erneut auf ihre Verantwortung hin- Liebe Kolleginnen! Joh ann Wolfgang von Goethe weisen müssen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, schrieb einmal, man reise nicht, um anzukommen, daß ein Regelungsbedarf besteht, um eine flächen- sondern um zu reisen. Es liegt mir fern, den Bundes- deckende, umweltverträgliche und nachhaltige Land- verkehrsminister in die Nähe dieses notorischen Fuß- 5972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Elke Ferner gängers zu rücken. Aber nach den Äußerungen der bewährt. Warum sollte man es der Sache wegen letzten Woche könnte man bei Herrn Krause wohl ändern? — so fragte er diese Woche in „Monitor". sagen: Er rast, um zu rasen, und nicht, um anzukom- Aber Sie sehen die Tatsachen nicht, Herr Krause. So men. behaupten Sie beispielsweise in der besagten Sen- Unser Antrag dagegen zieht die richtige und not- dung, daß in Ostdeutschland gar nicht mit über wendige Konsequenz aus der Tatsache, daß das Auto 200 Stundenkilometer gefahren wird. Dann kam ein und der ungebremste Autoverkehr längst zu einer Szenenwechsel. Die mit einem Radarwagen ausge- erstrangigen Umweltbelastung und zu einem uner- stattete Polizei wurde gefragt: Was ist gerade gemes- träglichen Sicherheits - und Gesundheitsrisiko ge- sen worden? Antwort: 212 Stundenkilometer. Das ist worden sind. Über 7 900 Verkehrstote im Jahr 1990 in ja sicherlich kein Einzelfall. Westdeutschland, über 3 100 Verkehrstote in den fünf Sie sollten die Augen endlich einmal aufmachen neuen Ländern, insgesamt über 11 000 Menschen und sich nicht den Realitäten auf unseren bundes- kamen 1990 auf unseren Straßen ums Leben. deutschen Autobahnen verschließen. Von 100 Kindern zwischen fünf und fünfzehn Jah- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ren, die sterben, werden fast ein Viertel, also 25 %, Liste) direktes Opfer des Straßenverkehrs. Dies sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, als Die CSU, die im vergangenen Jahr mit mehr als unvermeidliches Opfer des motorisierten Individual- 300 000 DM an Spenden vom BMW-Konzern bedacht verkehrs an. wurde, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine üble (Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD hat noch Polemik!) mehr bekommen!) Wir müssen endlich Konsequenzen ziehen; denn hat die vernünftige Forderung nach Geschwindig- wir werden so lange nicht zu einer sinnvollen Einbin- keitsbegrenzungen aus ihrem Umweltprogramm ge- dung des Autos in ein integriertes umwelt- und strichen. Ich sage da nur: Die Automobilindustrie gesellschaftsverträgliches Verkehrskonzept kom- sollte mehr Geld und Intelligenz in die Entwicklung men, solange Motorstärke und Höchstgeschwindig- umweltgerechterer, sparsamerer und schadstoffär- keit der Maßstab für die Bewertung eines Autos sind. merer Autos stecken, als immer stärkere und schnel- Dieses irrationale Potenzdenken liegt jenseits jeder lere Autos zu bauen. Auch deshalb brauchen wir ein Wirtschafts-, Energie-, Umwelt- und Sicherheitslo- Tempolimit. Diesen unvernünftigen Streit in den gik. Koalitionsparteien versteht auch niemand: die Bürge- rinnen und Bürger nicht und unsere europäischen In der Bundesregierung und den sie tragenden Nachbarn erst recht nicht. Parteien gibt es ja auch Stimmen, die unserer Position zustimmen. Der brandenburgische CDU-Landesvor- Die Koalition verwechselt Raserei mit Freiheit. sitzende Fink hat ein Ende der sinnlosen Raserei Wenn der Kollege Lühr die Argumente und Fakten für gefordert. Der Vorsitzende der CDU-Landtagsfrak- Geschwindigkeitsbegrenzungen fadenscheinig und tion in Stuttgart ist für Geschwindigkeitsbegrenzun- technikfeindlich nennt und sogar von staatlichem gen, hoffentlich auch noch nach der Landtagswahl. Dirigismus spricht, muß ich sagen: Der CSU-Minister Goppel meinte noch vor dem CSU- (Zuruf von der SPD: Jedes Gesetz ist dirigi- Parteitag, mit der freien Fahrt für Raser sei es bald stisch!) vorbei. Aber auch da: weit gefehlt. Er irrt, wenn er Technik mit mehr Geschwindigkeit (Zuruf von der CDU/CSU) gleichsetzt, und er irrt, wenn er es für staatlichen Nicht zuletzt Umweltminister Töpfer — ich verstehe Dirigismus hält, wenn es darum geht, die Mehrheit der ja, daß Sie das nicht gerne hören — plädiert für Verkehrsteilnehmer vor der rasenden Minderheit zu Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dies sei für ihn kein schützen. Glaubensbekenntnis, sondern eine Frage der nüch- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ternen Analyse der Fakten. Liste) (Zuruf von der SPD: Und vor allem seiner Denn bei Unfällen, die durch zu schnelles Fahren eigenen Umfrage!) verursacht werden, werden auch Verkehrsteilnehmer Auch die veröffentlichte Umfrage spricht für sich. An verletzt und getötet, die sich die Freiheit herausneh- der Abstimmung will er sich, wie ich sehe, bis jetzt men, nicht zu rasen. Immerhin wollen 72 % der noch nicht beteiligen. Ich hoffe aber, daß er es tut und Verkehrsteilnehmer Geschwindigkeitsbegrenzungen endlich einmal zu dem steht, was er sagt. von 120 Kilometern pro Stunde, wie wir sie auch fordern. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Zuruf von der FDP: Deswegen halten sich nur 20 % daran!) Offenbar zählen jedoch diese Stimmen bei denen, die in der Koalition den Ton angeben, überhaupt Betrachten wir die Fakten. Es gibt keinen Zweifel nicht. Nüchterne Analysen und Fakten haben weder darüber, daß niedrigere Geschwindigkeiten zu weni- Sie, Herr Krause, erreicht noch die Ausschußvorsit- ger Unfällen und zu weniger schweren Unfällen zenden im Umweltausschuß und im Verkehrsaus- führen. Durch Geschwindigkeitsbegrenzungen auf schuß. Für Herrn Krause hat sich offenbar die Raserei Autobahnen, Landstraßen und in Ortschaften lassen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5973

Elke Ferner sich die Zahlen der Unfälle und der Unfallopfer Stunde beträgt der Anhalteweg 30 Meter, bei 30 Kilo- weiter drastisch reduzieren. metern pro Stunde nur knapp 15 Meter. Das lernt Die Erfahrungen in Dänemark und in der Schweiz jeder in der Fahrschule. Selbst wenn es zu einer nach Einführung von Tempolimits und die Erfahrun- Kollision kommt, haben bei einer Aufprallgeschwin- gen mit den zeitweiligen Geschwindigkeitsbegren- digkeit von 20 Kilometern pro Stunde immer noch zungen in den 70er Jahren bei uns zeigen, daß sich die 90 % der Fußgänger Überlebenschancen; während Todesrate auf Autobahnen um über 25 % senken läßt. bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 60 Kilometern Warum sollen die Rückgänge denn jetzt plötzlich pro Stunde — z. B. auf Landstraßen — nur noch 15 % geringer sein als vorher oder in anderen Ländern? überleben. Tempo 30 wäre vor allem ein Schritt zu weniger Das gleiche gilt für Bundes- und Landstraßen, auf Vorrang für das Auto und mehr Gleichberechtigung denen tödliche Unfälle durch Geschwindigkeitsbe- aller Verkehrsteilnehmer. grenzungen auf 90 Stundenkilometer ebenfalls ver- ringert werden könnten. Ich fasse zusammen. Die Diskussionen der vergan- genen Wochen haben gezeigt, daß Sie von der Koali- Bei Tempo 30 in den Ortschaften könnten die tion mit Ihrer Ablehnung allein stehen, gegen die Unfälle mit Fußgängern um 80 % und mit Kindern um Mehrheit der Bevölkerung entscheiden und auch 60 % zurückgehen. Ich frage Sie: Ist Ihnen das keine gegen die besseren Einsichten aus den eigenen Rei- Geschwindigkeitsbegrenzung wert? hen. Weiterhin werden Sie zu einem Sicherheitsrisiko Bei den Autobahnen wollen Sie den teuren Umweg ersten Ranges für Kinder, ältere Menschen, Fußgän- über flächendeckende rechnergesteuerte Verkehrs- ger und Radfahrer. Nichts wäre einfacher, als wenn beeinflussungsanlagen gehen, um, wie Sie sagen, den Sie unserem Antrag zustimmen würden. Verkehrsfluß zu verbessern, um also angepaßte (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Geschwindigkeiten elektronisch zu verordnen. Wenn dem Bündnis 90/GRÜNE) Sie dann in einigen Jahren für sehr viel Geld — das man gerade in der Verkehrspolitik auch sinnvoller Es wäre die billigste und schnellste Va riante, die einsetzen könnte — diese Anlagen installiert haben, Verkehrssicherheit zu erhöhen, und in Europa wür- dann wird Ihnen der Rechner als optimale Geschwin- den wir in Sachen Tempolimit auch nicht mehr im digkeit wohl auch höchstens 120 Kilometer pro Abseits stehen. Stunde ausrechnen. Offensichtlich geht es Ihnen aber weniger um Warum beschließen wir heute nicht unseren Vernunft als vielmehr um die Lust am Rasen. Viel- Antrag? Das kostet nichts und wirkt sofort. leicht gehören Sie auch zu einem neuen Typ gelang- weilter Freizeitmenschen, die der Autoraserei als Ich will die Frage der Geschwindigkeitsbegrenzung außergewöhnlichem Nervenkitzel frönen. innerhalb geschlossener Ortschaften noch etwas ver- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der tiefen. In der Stadt gehören die Straßen nicht allein FDP) den Autos, obwohl manche das gerne noch immer so - hätten. Wir müssen also insbesondere die gefährdeten Ich hoffe, nicht. Verkehrsteilnehmer — wie Fußgänger und Radfah- Ich fordere Sie nochmals auf: Lassen Sie Vernunft rer — vor den Autos schützen. Das Beispiel der Ham- walten, machen Sie den Weg für mehr Verkehrssi- burger Stresemannstraße spricht, denke ich, für cherheit, mehr Umweltschutz und mehr Lebensquali- sich. tät frei. Stimmen Sie also unserem Antrag zu. Nirgendwo in Europa verunglücken so viele Kinder Ich danke Ihnen. auf Straßen wie in Deutschland. In erster Linie hat das (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und auch etwas mit der Geschwindigkeit zu tun. dem Bündnis 90/GRÜNE) (Klaus Lennartz [SPD]: Da kann der Krause nur lachen!) Eine allgemeine Tempobeschränkung in den Ort- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schaften auf 30 Kilometer pro Stunde — mit Aus- hat der Abgeordnete Dr. Bauer. nahme der Hauptstraßen — wäre ein Beitrag zur Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer. Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der SPD) sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolle- Im „Spiegel" Nr. 45 des letzten Jahres stand zu gen! Alle Jahre wieder — und das mit erstaunlicher lesen, zwei Drittel der etwa 3 300 innerörtlichen Hartnäckigkeit — kommt von der linken Seite dieses Verkehrsopfer, also 2 200 Menschen, sterben als Fuß- Hauses die Forderung nach einer generellen gänger oder Radfahrer. So ist es dann auch kein Geschwindigkeitsbeschränkung auf unseren Auto- Wunder, daß 74 % aller Zehnjährigen Angst vor dem bahnen. Wenn meine verehrte Frau Kollegin Ferner Verkehr haben. M an muß sich das vorstellen: Sie soeben etwas sachlicher geblieben wäre, hätte ich mir haben Angst vor dem Verkehr. Wir müssen den die Bemerkung verkniffen; aber so sehen Sie mir bitte Autoverkehr also den Menschen anpassen und nicht nach, wenn ich feststelle, daß unsere Opposition umgekehrt. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Un- Für einen Fußgänger oder Radfahrer ist es oft eine sere!) Entscheidung über Leben und Tod, ob das Auto 50 in diesem Punkt nicht nur eine generelle Beschrän oder 30 km/h gefahren ist. Bei 50 Kilometern pro kung der Geschwindigkeit fordert, sondern ganz 5974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Wolf Bauer offensichtlich in ihrer Verkehrspolitik einer generel- Reduzierung um lediglich 1,2 %, so Prognos. Bereits len Beschränkung unterliegt. der Abgasgroßversuch von 1985 hat gezeigt, daß solch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - geringe Ergebnisse durch die Fortentwicklung der Technik weit mehr als ausgeglichen werden. Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist aber unter der Gürtellinie!) Neuerdings wird behauptet, daß der Drei-Wege- Neue Erkenntnisse, die für die Einführung eines Katalysator oberhalb einer Geschwindigkeit von Tempolimits sprechen, gibt es weder aus Gründen der 130 Stundenkilometern unzuverlässig arbeitet. Diese Verkehrssicherheit noch aus Gründen des Umwelt- Aussage ist so nicht richtig. Aus technischen und aus Gründen der Bet schutzes. riebssicherheit muß der Katalysator in bestimmten Betriebsbereichen kurzzeitig so ge- (Marion Caspers-Merk [SPD]: Da sagen die steuert werden, daß von der emissionsgünstigsten Zahlen aber etwas anderes!) Regelung abgewichen wird, wie z. B. beim Kaltstart Bis heute sind folgende Argumente nicht widerlegt: und bei der Beschleunigung. Erstens. Die Hauptursache für Unfälle auf unseren Die Frage stellt sich doch hier, was auf unseren Autobahnen ist vor allem individuelles Fehlverhal- Straßen überhaupt noch zu beschränken ist. Hier ten, sollten wir nicht mit Polemik herangehen, Frau Kolle- gin, sondern mit Fakten. Bei einer Gesamtstraßen (Marion Caspers-Merk [SPD]: Rasen z. B.!) länge von 624 000 km sind nur noch ganze 1,1 % ohne z. B. nicht angepaßte Geschwindigkeit, Vorfahrtsmiß- Geschwindigkeitsbegrenzung. Das heißt, meine Da- achtung und Fahrt unter Alkoholgenuß. Hinzu kommt men, meine Herren, nahezu 99 % unseres Straßennet- ein Nichtbeachten der speziellen Verhältnisse vor Ort zes sind mit einem Tempolimit versehen. wie Verkehrsdichte und Ausbauzustand der Stra- (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das stimmt ßen. doch gar nicht!) Zweitens. Die weitaus größte Zahl der Unfälle Die Geschwindigkeitsbegrenzung für ein Drittel ereignet sich deutlich unterhalb der Richtgeschwin- unserer Autobahnen — auch das ist bekannt — ist digkeit. signifikant. Auf unseren Autobahnen wird im Durch- Drittens. Meinungsumfragen — das stimmt so nicht, schnitt mit einer Geschwindigkeit von weniger als wie Sie das gesagt haben — haben ergeben, daß die 120 Stundenkilometern gefahren. Von der Gesamt- individuelle Betroffenheit bei der Frage des Tempo- fahrleistung entfallen 70 % auf Bereiche unterhalb limits eine wesentliche Rolle spielt. Wer die Autobahn dieser Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich will damit nur wenig benutzt, tendiert stärker zu einem Tempo- nur belegen, daß alles das, was gefordert ist, durch limit. Die beruflichen Vielfahrer hingegen setzen sich andere Maßnahmen viel leichter zu erreichen ist. in aller Regel gegen ein Tempolimit ein. Es gibt Hinzu kommt, daß bereits heute ein Drittel der Fahr- leistungen auf unseren Autobahnen bei Verkehrs- übrigens auch Umfragen des Emnid-Instituts aus dem - letzten Jahr — diese sind sicher auch Ihnen dichten erbracht wird, die keine Geschwindigkeits- bekannt —, in denen sich von 2 000 Befragten nur wahl mehr erlauben. 31 % für ein Tempolimit ausgesprochen haben. Aus Sicherheits- und Umweltgesichtspunkten ist zu Viertens. Verkehrsregelungen werden um so mehr begrüßen, daß 30 % der Fahrleistungen 1989 z. B. auf befolgt, je sinnvoller sie dem Verkehrsteilnehmer unseren Autobahnen abgewickelt wurden. Wir müs- erscheinen. sen deshalb alles tun, damit die Attraktivität unserer Autobahnen nicht negativ beeinflußt wird. Denn nur (Zuruf von der FDP: Das ist wahr!) dann würden keine Verkehre von der Autobahn auf Auch hier ist Akzeptanz eine der wesentlichen Vor- die Landstraße verlagert, wenn letztendlich auch auf aussetzungen zum Erfolg. den übrigen Straßen die jetzt gültigen Geschwindig- keitsbeschränkungen entsprechend herabgesetzt (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr würden. Auch das findet sich im Antrag der SPD- richtig!) Fraktion wieder, und das scheint mir auch der Grund Übrigens, Sie hatten das Thema Dänemark ange- dafür zu sein. sprochen. Dänemark schreibt 100 Stundenkilometer Meine Damen, meine Herren, unsere Autobahnen vor, die bis zu 90 % überschritten werden. Mangelnde sind nach wie vor die sichersten Straßen, die wir Akzeptanz ist das Problem, vor dem wir stehen. haben. (Elke Ferner [SPD]: Das ist auch eine Frage (Zuruf von der SPD: Das sind Argumente! der Kontrolle!) Kein Gegenverkehr!) In diesem Zusammenhang ist eine Aussage von Obwohl, wie bereits angeführt, auf ihnen 30 % der Prognos über CO2-Emissionen interessant. Ein Ver- gleich von Verschärfung der Geschwindigkeitsbe- Fahrleistung erbracht werden, ereignen sich dort nur schränkungen mit Verschärfung der Geschwindig- 7 % der Unfälle mit Personenschäden. keitskontrollen zeigt ganz deutlich, daß mit Letztge- Für 1989 zeigt ein internationaler Vergleich der nanntem wesentlich mehr erreicht werden kann. Ein Unfallzahlen, daß Deutschland unter 14 dort aufge- Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf Autobah- führten Ländern an sechster Stelle liegt. Außer nen und 80 Stundenkilometern auf Außerortsstraßen Deutschland sind alle von einer Geschwindigkeits- bringt im Vergleich mit der — ich zitiere — trendmä- begrenzung betroffen. Die Skala der tödlich Verun- ßigen Entwicklung in 2005 gegenüber 1987 eine glückten pro 1 Milliarde Fahrkilometer, meine Da- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5975

Dr. Wolf Bauer men, meine Herren, reicht hierbei von 3,2 in den — Bei allen vernünftigen Vorschlägen sind wir immer Niederlanden bis 61,0 in Spanien. Für Deutschland einer Meinung. sind 6,0 angegeben. Mit den beiden genannten Beispielen will ich auf- Wir alle sind uns einig, daß jeder Verkehrstote zeigen, daß wir tunlichst davon wegkommen sollten, bereits ein Toter zuviel ist. irgendwelchen liebgewonnenen, aber unvernünfti- gen Ideologien nachzulaufen wie die SPD, (Elke Ferner [SPD]: Aha! Dann können Sie ja nur zustimmen!) (Elke Ferner [SPD]: Sie hängen Ihrer Ideolo- gie an!) Deshalb müssen wir uns überlegen, welche Möglich- und uns statt dessen, meine Damen, meine Herren, keiten wir haben, unsere Straßen noch sicherer zu der praktischen Verkehrspolitik widmen sollten. machen. ( [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr (Elke Ferner [SPD]: Unserem Antrag zustim gut!) men!) Gleichwohl lege ich Wert auf die Feststellung, daß Ich möchte dies an Hand von zwei Beispielen aufzei- unsere Fraktion alle neuen Erkenntnisse der Wissen- gen, bei denen erkennbar ist, was sinnvoller als ein schaft und Technik sehr sorgfältig analysieren und generelles Tempolimit ist. insofern auch den Fragenkomplex Tempolimit nicht (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt es!) dogmatisch behandeln wird, — Genau jetzt kommt es. Das erste ist der weitere (Zurufe von der SPD: Ah!) Ausbau von Verkehrsbeeinflussungsanlagen. Bishe- vor allem dann — Moment! Sie müssen mich den Satz rige Erfahrungen mit derartigen Anlagen haben aussprechen lassen —, wenn diesbezüglich wirklich Unfallrückgänge zwischen 20 und 30 % erbracht, in etwas überzeugend Neues vorliegt. Einzelfällen sogar bis zu 50 %. Den Antrag der SPD-Fraktion lehnen wir ab. (Zuruf von der CDU/CSU: Das bringt wenig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — stens etwas!) Zuruf von der SPD: Wo ist denn Töpfer? — Die 550 Millionen DM, die im Etat des Bundesver- Zuruf von der CDU/CSU: Sehr sachlich, sehr kehrsministers für rechnergestützte Verkehrsbeein- vernünftig!) flussungsmaßnahmen eingeplant sind, sind eine wesentlich sinnvollere Maßnahme als ein generelles Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Tempolimit. Die Maxime, meine Damen, meine Her- teile ich dem Abgeordneten Dr. Feige das Wo rt. ren, muß also lauten: Die Beseitigung von bestimmten Unfallschwerpunkten, nicht zuletzt durch den Einsatz moderner Technik, ist effektiver als ein starres und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr unflexibles Tempolimit, das noch dazu wenig respek- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! tiert wird. Was soll ich nach dem Vortrag von Frau Ferner nun- noch sagen? Sie hat alle Argumente eingebracht. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) hat auch daran erinnert, daß Herr Töpfer insbeson- Vor Nebel und Glatteis zu warnen ist besser, als dere gesagt hat, daß es nicht um ein Glaubensbe- Autofahrer bei einem sturen Tempolimit in Sicherheit kenntnis geht. Trotzdem habe ich mich bei der Dis- zu wiegen, kussion im Vorfeld zu diesem Tagesordnungspunkt doch irgendwie an eine Religion erinnert. (Widerspruch von der SPD) Aber ich habe bei der Diskussion im Verkehrsaus- das in keiner Weise Gefahrenquellen berücksichtigt. schuß und im Umweltausschuß auch eine andere Das können Sie übrigens in der einschlägigen Fach- Erfahrung gemacht: Ich hatte bisher immer geglaubt, presse nachlesen; auch dort ist das niedergelegt. daß nur Einzelpersonen schizophren sein können. (Zuruf von der SPD: Das tut weh!) Aber ich glaube nun, ganze Regierungsparteien lei- den unter einer gewissen Bewußtseinsspaltung. — Ja, Wahrheit tut gelegentlich weh; so ist es nun einmal. (Beifall bei der SPD) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Es ist Ich komme nämlich gerade aus der Enquete-Kommis- schlimm, wenn Wahrheit weh tut!) sion zum Schutz der Erdatmosphäre. Da sitzen wir gemeinsam beieinander: Christdemokraten, Sozial- Zweitens müssen wir schnellstmöglich dafür sor- demokraten, Liberale, Vertreter vom Bündnis 90/DIE gen, daß die Problematik der Anschnallpflicht für GRÜNEN. Die ganze Anhörung war hochinteressant. Kinder unter zwölf Jahren gelöst wird. Über 40 Es geht um den Schutz der Erdatmosphäre, um dieser Kinder fahren ohne jegliche Sicherung im Auto; Treibhauseffekt und ähnliche Dinge. Wir bereiten uns nur knapp 60 % benutzen also Gurte. Von diesen 60 auf einen Weltkongreß, die UNCED, vor. Ganz, ganz wiederum ist ein Drittel mit Erwachsenengurten gesi- tolle Sachen! Und alles basiert darauf, daß es darauf chert, die für Kinder häufig ungeeignet sind. Eine ankommt, den CO2-Ausstoß so gering wie möglich zu allgemeine Anschnallpflicht und die richtigen Rück- halten. haltesysteme sind unbedingt erforderlich. In der Diskussion dort haben Fachexperten — die (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD nicht von mir gestellt werden, denn ich darf überhaupt und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der niemanden benennen — ganz klar und deutlich aus- SPD: Die FDP ist dagegen!) gesagt, daß eine der wesentlichen Ursachen dafür das 5976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Klaus-Dieter Feige Verkehrschaos ist und daß in einem erheblichen eine ganze Reihe von Demonstrationen und Protesten, Ausmaße der Ausstoß durch die Verbrennung bei die nur die eine Position, nämlich 30 km/h fordern. hohen Geschwindigkeiten eine Rolle spielt. Tolle Wenn Sie schon nicht an Ihre „heilige Kuh", die Sache! Ich freue mich, daß ich in der Enquete- Autobahn, heranwollen, warum dann nicht an die Kommission mit meinen christdemokratischen Kolle- Stadt? Denn in der Argumentation im Ausschuß ist gen einer Meinung bin: Das muß sich ändern. eindeutig gesagt worden, daß es Geschwindigkeits- (Klaus Lennartz [SPD]: War der Krause begrenzungen genau dort geben sollte, wo es die größten Gefahren gibt, und dabei?) Städte sind nun einmal das Hauptgefahrenpotential. Aber kein Wort davon steht in der Begründung des Ich möchte noch einmal auf die „sichersten Stra- Verkehrsausschusses. In der Begründung des Ver- ßen" eingehen: Ich glaube, es gibt keinen Grund, die kehrsausschusses — das kann sich jeder genau durch- Bemühungen einzustellen; denn unsere Straßen kön- lesen — geht es nur um die Frage der Verkehrssicher- nen ganz einfach dadurch noch sicherer werden, daß heit. Dort steht nichts zum Umweltschutz und zu den wir die Geschwindigkeit herunterdrehen. Problemen, die auftreten, nichts zum Steigen der Lebensqualität. — Das ist sicherlich konsequent: Man ist doch wahrscheinlich im Verkehrsausschuß, weil Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Dr. Feige, man sich mit Verkehr beschäftigen will, und nicht gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? unbedingt, weil man ihn vielleicht reduzieren möchte. Man hat ja auch einen Minister, der deutlich sagt, daß Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Aber er gerne Auto fährt. ja doch, gerne. Aber was heißt das denn: Freie Fahrt hat sich bewährt! Auch Geschwindigkeiten über 200 km/h Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr können sinnvoll sein! Man muß die Unfälle differen- Kollege. ziert sehen!? — Das erscheint mir sehr makaber; denn die Schwere der Unfälle — das ist ein ganz einfaches Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Dr. physikalisches Gesetz —nimmt mit der Geschwindig- Feige, können Sie mir erklären, warum die SPD- keit und mit der Masse zu. Und die Autos werden Landesregierung in Hamburg, wenn sie schon das schwerer, und die Geschwindigkeit nimmt deutlich Tempo 30 flächendeckend innerorts befürwortet, eine zu! sehr große Zahl von Stadtstraßen durch Zusatzschil- Auch wenn man sagt — das ist für mich ein der sogar noch auf Tempo 60, 70 und 80 beschleunigt Problem —, unsere Straßen seien die sichersten der hat? Welt, so gibt es trotzdem immer noch Tote. Für mich ist etwas unverständlich. Aus der CDU/CSU-Fraktion Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Es ist waren so kluge Worte wie die des Enquete-Vorsitzen- sicherlich das Problem meines Nachredners von der den Herrn Lippold oder in den letzten Jahren auch die SPD, diese Frage zu beantworten. Für mich ist das von Herrn Schmidbauer zu hören, die ganz klar und nicht nachvollziehbar; denn ich würde — und Sie deutlich eine ganz andere Position fordern. Wo und scheinen da j a mit mir übereinzustimmen — auch dort wann kommt endlich dieser Umbau? Tempo 30 fordern und versuchen, das durchzuset- (Klaus Lennartz [SPD]: War der Krause nicht zen. dabei?) (Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der — In der Anhörung heute, Herr Lennartz? CDU/CSU: Überall?) Da sind wir also völlig in Übereinstimmung. (Weiterer Zuruf von der SPD) Herr Friedrich hat in seiner Begründung mehr — Er ist nicht als Experte benannt worden; aber das ist Verkehrssicherheit durch den Bau von Ortsumgehun- sicherlich nicht seine Aufgabe. gen und die Herausnahme des Durchgangsverkehrs Unverständlich ist für mich z. B. das Stimmverhal- aus Städten und Gemeinden gefordert. Tolle Sache! ten im Umweltausschuß. Die Kollegen waren dort Dem kann ich folgen. Das ist eine ganz ausgezeich- mitberatend. Dort sitzen zum Teil auch Kollegen aus nete Geschichte; aber eigentlich ist das ja eine Forde- der Enquete-Kommission. Es ist für mich völlig unver- rung nach Geschwindigkeitsverringerung, für einen ständlich, wie es dort zu einem solchen Abstimmungs- Teil des Verkehrs, sogar auf Null. Völlige Überein- verhalten kommen konnte. Denn dort liegt meines stimmung! Aber warum tun wir dann für den verblei- Erachtens das ökologische Fachwissen vor. Für mich benden Teil des Verkehrs nicht auch noch etwas? ist dort der Beleg einer Doppelmoral sogar in Perso- Denn das Argument der Scheinsicherheit stimmt nalunion gegeben. nicht. Es ist keine Scheinsicherheit; es ist absolute Sicherheit, die dazukommt. Und wenn Sie jetzt kom- Mit dem Wissen über den Treibhauseffekt und die men und sagen: „Gut, das mit der Verkehrsreduktion industrielle Entwicklung werden wir, wenn wir nicht ist eine tolle Sache", so wäre das eigentlich genauso zu einem konsequenten Umstieg in der Verkehrs- Scheinsicherheit, wenn wir das andere Argument politik kommen, weiterhin viele Verkehrstote zu nehmen. beklagen haben. Wir stimmen dem Antrag der SPD zu. Ich befürchte Herr Fischer, Sie haben das letztens einmal ange- aber, die Koalition wird ihn ablehnen. Man muß deutet — Sie sind ja, glaube ich, Hamburger —: In der sagen, daß man angesichts eines so aktiven Verkehrs- Stadt Hamburg passiert vor Ort einiges. Dort gibt es fanatikers wie des Herrn Professor Krause schon Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5977

Dr. Klaus-Dieter Feige zufrieden sein muß, wenn nicht bundesweit Mindest- sage Ihnen noch etwas — das ist hier schon zweimal pflichtgeschwindigkeiten eingeführt werden. gesagt worden —: Meinungsumfragen sind für uns (Heiterkeit und Zurufe von der SPD) alle, Politiker und Parteipolitiker, die wir sind, wichtig. Auch das, was man — vorhin fiel das Wort schon Wer glaubt, daß das das letzte Mal war — Herr einmal — Akzeptanz nennt, alles das ist wichtig; aber Breuer, Sie haben es angekündigt —, daß hier über es ersetzt nicht die politisch verantwortliche Entschei- solche Geschwindigkeitsbegrenzungen diskutiert dung in der Sache. Das ist doch der Punkt. wird, den werden, glaube ich, die Wähler bzw. den wird die Öffentlichkeit sehr deutlich korrigieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich sage Ihnen auch — alle, die hier sitzen, wissen (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD das doch; es ist doch immer die kleine Schar, diese und der PDS/Linke Liste) Glaubensgemeinde, die da besteht —: Man kann durch die schablonenhafte Wiederholung von Argu- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile nunmehr menten doch die Einsicht vor Fakten und Realitäten unserem Kollegen Ekkehard Gries das Wort. nicht verschließen. Ich sage Ihnen — und ich bin fest davon überzeugt —: Das führt am Ende zum Vertrau- (Zuruf von der SPD: Da sind wir aber sehr ensverlust und zur Unglaubwürdigkeit von uns allen, gespannt!) aller Politiker, weil wir darüber reden und nicht gehandelt wird und die einen so tun, als hätten sie die Ekkehard Gries (FDP): Wenn die Erwartung so hoch Rezepte und die anderen hätten sie nicht. Wir kennen ist, will ich sie gern erfüllen; denn, meine Damen und doch die Schwierigkeiten des Verkehrs zu Wasser, in Herren, ich bin sehr erfreut darüber, daß wir diesmal der Luft und auf der Straße, und jetzt frage ich schon zu Beginn der Legislaturperiode die Gemeinde Sie — — der Gläubigen und vermeintlich Nichtgläubigen des Tempolimits versammeln. Wie alljährlich und wie Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, immer sind wenige dabei, die bereit sind, diese gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen rituellen Handlungen quasi wie Exerzitien auch zu Antretter? vollziehen. Ekkehard Gries (FDP): Wenn es mir nicht auf die (Zuruf von der SPD: Vorsicht!) Zeit angerechnet wird, natürlich! Die SPD-Opposition dreht wieder einmal die Gebets- mühle zur Befriedigung der Anti-Tempolimit- Robert Antretter (SPD): Herr Kollege Gries, wären Gemeinschaft. Ich frage mich — nun ist er gerade Sie angesichts der Tatsache, daß Sie sich auch im hinausgegangen —, ob es nicht doch so ein kleines Vorfeld der bußgeldbewehrten Anschnallpflicht ve- Harald-Schäfer-Stündchen ist mit ein bißchen Töpfe- hement gegen diese Anschnallpflicht gewehrt haben, rei — der ist nicht dabei —, und am Ende kommt dann und der Tatsache, daß die heutigen Zahlen, nachdem aus Albrecht Müllers Mühle irgendein Ergebnis her- wir sie haben, belegen, daß dramatisch weniger — im - aus. positiven Sinne dramatisch — Verletzungen erfolgen (Zuruf von der SPD: Das ist sehr despektier und weniger Todesfälle zu verzeichnen sind, bereit, lich!) auch Ihr vehementes Vorurteil gegen das Tempolimit zu revidieren und nochmals zu überdenken? Nein, ich finde das gar nicht despektierlich; ich denke, wir sollten über das Thema so reden, wie es hier immer Ekkehard Gries (FDP): Herr Kollege Antretter, ich wieder behandelt wird, nämlich jedes Jahr; aber das bin bereit, über jeden vernünftigen Vorschlag nach- kann Herr Feige noch nicht wissen. zudenken; das ist völlig klar. (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ (Klaus Lennartz [SPD]: Wer entscheidet GRÜNE]: Doch; ich habe nachgelesen!) denn, was vernünftig ist?) Ich bin weit davon entfernt — und wir alle miteinan- Ich habe das ja auch beim Tempolimit getan. Es gibt der —, die Probleme des Verkehrs, der Sicherheit der aber einen großen Unterschied: Die Anschnallpflicht Verkehrsteilnehmer, die Gefahren für Gesundheit ist eine Maßnahme, die sich offensichtlich bewährt und Leben und auch die Schäden für die Umwelt hier hat, auch wenn es viele Sünder gibt. Aber beim in irgendeiner Weise zu verniedlichen. Tempolimit sprechen alle Zahlen, alle Erfahrungen Ich sage auch — ich bin das meinen Kolleginnen und alle internationalen und auch nationalen Auswer- und Kollegen aus der eigenen Fraktion schuldig —: tungen schlichtweg gegen die beabsichtigte Wirkung. Wir haben auch eine Reihe von Freunden bei uns, die Ich wehre mich dagegen, daß das einfach verglichen in der gleichen Weise glauben, daß das ein probates wird. Aber ich bin bereit, über jeden vernünftigen Mittel sei, nämlich das Tempolimit einzuführen, und Vorschlag mit Ihnen zu diskutieren. ich respektiere das. Das sind Kolleginnen und Kolle- (Zuruf von der SPD: Aber was vernünftig ist, gen, die ich sehr schätze, und ich bitte Sie alle, Sie von sagen Sie!) der Opposition und meine eigenen Freunde, um eine sachgerechte und vorurteilslose Betrachtung. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Gries, Ich sage aber auch dazu, meine Damen und Herren gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen — und das muß einfach auch hier einmal gesagt Dr. Feige? werden —: Wir sind hier, um solche Probleme, die wir gemeinsam eigentlich gleich beurteilen, zu lösen, und Ekkehard Gries (FDP): Natürlich, das ermöglicht es nicht, um ideologische Wünsche zu befriedigen. Ich mir, noch mehr Argumente vorzubringen. 5978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Das Ich sage Ihnen: Ihr Vorschlag ist verkehrspolitisch ist ja schön. Danke, Herr Gries. und umweltpolitisch völlig ungeeignet. Wir haben bei Ich beziehe mich auf Ihre Aussage zur Akzeptanz. uns die sichersten Straßen; Herr Bauer hat schon Können Sie sich vorstellen, daß ein Alkoholsüchtiger darauf hingewiesen. Wir haben bei uns rückläufige freiwillig seine Flasche hergäbe, und können Sie sich Unfallzahlen wie noch nie, und zwar seit Jahren. eine Parallelität zum Temporausch vorstellen? (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE]: Aber nicht im Osten!) Ekkehard Gries (FDP): Das kann ich mir nicht — Das ist eine neue Situation, Herr Feige; das will ich vorstellen. Ich rede von der Akzeptanz von Parolen. zugeben; das müssen wir anders betrachten. Wenn Sie bei Meinungsumfragen eine Frage richtig In den alten Ländern haben wir trotz steigender formulieren, werden Sie immer eine Akzeptanz für die Verkehrsbelastung die geringsten Unfallzahlen. Ich erwartete Antwort finden. Das hat aber mit dem bestreite auch nicht, damit wir uns da nicht mißver- Problem nichts zu tun. stehen, die Schadstoffbelastung, die durch den Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kehr entsteht. Meine Damen und Herren, ich frage hier einmal (Zurufe von der SPD: Aha!) ganz deutlich: Haben wir — ich meine jetzt meine — Also, Sie sollten soviel Fairneß aufbringen. Natür- eigene Fraktion und mich selber — oder hat die lich bestreite ich das nicht. Ich sage nur eines: Ihr Opposition ein Patentrezept? Ich sage nein. Antrag, der 120 km/h als Höchstgeschwindigkeit auf (Dietmar Schütz [SPD]: Das stimmt!) Autobahnen fordert, aber in Wirklichkeit 140 km/h als Ich wehre mich nur dagegen, daß die SPD so tut, als Toleranzgrenze vorsieht, führt zu keiner nennenswer- hätte sie ein solches. Denn was beinhaltet denn in ten Schadstoffminderung; das ist unser gemeinsames Wirklichkeit Ihr Antrag? Sie wollen Tempo 30 flä- Problem. Ihr Antrag wird jedoch seine Lösung nicht chendeckend einführen. 30 km/h sind jetzt schon erreichen. möglich und sind überall da sinnvoll, wo sie sinnvoll Ich wollte hier bewußt keine Zahlen nennen. Es gibt umgesetzt werden. Aber wohin führt das? Ich sage es eine neue Untersuchung der Technischen Universität Ihnen; ich komme aus der Kommunalpolitik und bin in Wien, die 57 — oder wieviel auch immer; vielleicht heute dort noch tätig. kann ich das irgendwo nachlesen — oder 54 interna- (Zurufe von der SPD: Wir auch! — Schilder tionale Untersuchungen über Umweltauswirkungen wald!) bzw. die von Temporeduzierungen dadurch entste- henden Schadstoffverminderungen ausgewertet hat. — Also, meine Freunde von der SPD, Ihre Kommunal- politiker — Sie haben nämlich wesentlich mehr als die Sie kommen alle zu dem Ergebnis, daß das Tempoli- mit kein probates Mittel ist; da muß uns etwas anderes anderen — werden diejenigen sein, die die Schilder einfallen. auswechseln. Im Gesetz stehen 30 km/h flächendek- kend, und dann kommen Ihre Kommunalpolitiker Meine Damen und Herren, ich frage mich deshalb- daher und stellen Schilder mit den Ausnahmen 40, 50, immer wieder, weshalb Sie solche Anträge stellen, 60 oder 70 km/h auf. Natürlich wird das die Folge sein. jedes Jahr wieder, seit zehn Jahren. Herr Feige hat ja Das sehen wir ja heute schon, und das ist doch die angekündigt, solche Anträge würden jedes Jahr wie- Realität. der gestellt, vielleicht im nächsten Halbjahr schon (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wieder. Warum stellen Sie diese Anträge? Einige, die mich kennen, wissen, was es bedeutet, wenn ich sage: der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD) Zu meiner eigenen Enttäuschung glaube ich allmäh- lich, es zu wissen. Sie haben kein besseres Verkehrs- Was passiert denn mit den 90 km/h auf den Straßen konzept oder ein sachpolitisches Konzept. Aber viele außerhalb geschlossener Ortschaften? Wir haben ja von Ihnen haben eine feste Überzeugung, nämlich Tempo 100. Wer kontrolliert diese denn? Nur die die, daß der Mensch beliebig steuerbar ist und daß die Gemeinden, die Einnahmen brauchen. Gesellschaft total reglementiert werden muß. Das ist (Zuruf von der SPD: Welche Gemeinde das, was mich erschreckt. Anders kann ich das gar braucht denn keine Einnahmen?) nicht verstehen. Und wer hält sich daran? Wer hält sich denn dann an (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — 90 km/h? Es hält sich natürlich keiner daran, weil man Zuruf von der SPD: Wer hat Ihnen das aufge- keine Kontrollen durchführen kann, da man sonst am schrieben?) Ende einen in der Tat überreglementierten Kontroll- Sie glauben in der Tat, mit einer Geschwindigkeits- staat hätte. begrenzung auf 30, 90, 120 Stundenkilometer sei die Was ist mit den 120 km/h auf der Autobahn? Die Welt in Ordnung. Das ist nicht der Fall. Darin können Lawine auf der Autobahn läuft heute bei 100 km/h; Ihnen Liberale nicht folgen. das wissen Sie doch alle. Die Durchschnittsgeschwin- digkeit auf der Autobahn liegt bei 119 km/h. Und was (Dietmar Schütz [SPD]: Wir müssen auch passiert auf der freien Strecke? Jetzt nehme ich einmal noch die Macht haben!) an, Sie wären alle anständig. Sie werden sich als Wir bemühen uns zusammen mit unserem Koali- Normale ärgern, weil Sie nur 120 km/h fahren dürfen. tionspartner, die negativen Umwelteinwirkungen, die Aber die Raser, die wir jetzt haben, werden wir auch in doch niemand bestreiten kann — das wäre doch Zukunft haben; sie rasen weiter. Was ist denn das für Unsinn —, oder die nach wie vor zu hohen Unfallzah- ein Effekt? len — auch wenn sie sinken; auch wenn wir im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5979

Ekkehard Gries europäischen Maßstab an der Spitze stehen, sind sie kaden bewegten die Verantwortlichen dazu, Ge- immer noch zu hoch — zu reduzieren, aber wir setzen schwindigkeitsbegrenzungen einzuführen. dabei auf vernünftige Konzepte, auf Schritte, auf das Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik hält Bemühen, nicht jedoch auf Überzeugungen und ideo- einen traurigen Rekord: Sie nimmt den unrühmlichen logische Beschlüsse. ersten Platz in der internationalen Kinderunfallstati- Wir versuchen, das Schienennetz auszubauen. Wir stik ein. Da sprechen Sie, Herr Kollege Gries, von den versuchen, EG-weit — wir leben doch nicht auf einer sichersten Straßen in Deutschland! Das allein wäre Insel — bessere Sicherheitsvorschriften, Abgas-, Ver- — jedenfalls für mich — ein Grund, für ein allgemei- brauchs-, Lärmschutzvorschriften durchzusetzen. Wir nes Tempolimit zu stimmen. versuchen, mit flexiblen Verkehrsbeeinflussungs- maßnahmen das zu erreichen, was Sie durch einen Darüber hinaus belegen Berechnungen des Bun- Beschluß des Bundestages zu erreichen glauben; das desumweltamtes, daß eine Verminderung der Ge- erreichen Sie nämlich nicht. Aber wenn Sie eine schwindigkeit auf Autobahnen von 130 auf 120 km verkehrsgeleitete Strecke installieren und dafür pro Stunde beispielsweise den Kohlenmonoxidaus- Haushaltsmittel zur Verfügung stellen, dann sind Sie stoß bereits um 21 % senkt. Die Erfahrungen unserer ein ganzes Stück weitergekommen. europäischen Nachbarn mit einer Tempolimitierung belegen überzeugend deren nachhaltige Wirkung auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verkehrssicherheit und Senkung der Umweltbela- Wir versuchen nicht, die Menschen zu reglementie- stung. Sie sollten nicht überheblich ignoriert wer- ren, sondern wir versuchen, die Menschen aufzuklä- den. ren, sie zu informieren und sie zu überzeugen, daß sie Dennoch — hier, Herr Minister Krause, befinde ich sich als Verkehrsteilnehmer vernünftig zu verhalten mich ausnahmsweise in Übereinstimmung mit haben. Und wir tun eines — da sind wir vielleicht nicht Ihnen —, Tempolimits können die bestehenden gra- mehr so weit auweinander; aber das gilt dann für vierenden Verkehrsprobleme nicht dauerhaft lösen. alle —: Wir versuchen auch, das zu Kontrollsystem Aber die Lösung liegt auch nicht im weiteren und vor verbessern. Der Mensch ist ja nicht nur gut; er muß allem beschleunigten Ausbau des Straßennetzes oder auch kontrolliert werden, er muß auch zur Rechen- beim Bau immer schnellerer und technisch raffinier- schaft gezogen werden, wenn er gegen Gesetze terer Autos. Wo schon der Verkehrsminister den Bau verstößt. Das heißt: Wir brauchen ein ganz anderes von Straßen beschleunigt, kann man von den Benut- Überwachungssystem. Die Vorschriften müssen ein- zern wohl keine angemessene Geschwindigkeit gehalten werden. erwarten. Es ist heute allerhöchste Zeit, nicht nur an Nur, durch eines werden wir unser Ziel nicht die nächste Wahl zu denken, sondern weit darüber erreichen — lassen Sie mich das zum Schluß sagen; es hinauszuschauen und ein neues Verkehrskonzept zu leuchtet nicht einmal die rote Lampe, sondern nur die entwickeln, das eine echte Alternative zum drohen- gelbe; ich bin ganz stolz darauf, Herr Präsident —: Sie den Verkehrskollaps darstellt. können den Menschen nicht alles vorschreiben, son- - dern Sie müssen sie überzeugen. Mit Beschlüssen, die Die Alternative kann nur dort liegen, wo folgende eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30, 90, 120 Prämissen gesetzt werden: Wirksame Maßnahmen Stundenkilometer vorsehen, erreichen Sie gar nichts. zur Dämpfung der Verkehrsnachfrage, unter ande- Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. rem durch Senkung der Mobilitätsanforderungen, Vermeidung von Leerfahrten usw.; radikale Umkeh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rung des Prinzips „Vorrang der Straße zu Lasten der Schiene", eine deutliche Verlagerung des Güterfern- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt verkehrs auf die Schiene und eine sinnvolle Anbin- unserer Kollegin Frau Dr. Dagmar Enkelmann das dung des Nahverkehrs; Ausbau und umfassende Wort. Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs, also eine annehmbare Fahrpreisgestaltung, Bus- und Taxispuren, Rufbussysteme und anderes; eine ver-

Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr kehrspolitisch vernünftige Raum - und Städteplanung Präsident! Meine Damen und Herren! Die neunjäh- sowie die Schaffung günstiger Bedingungen für den rige Katja H. aus Bernau im Land Brandenburg nichtmotorisierten Verkehr, also für Fußgänger und verunglückte im November vorigen Jahres bei einem Radfahrer. Verkehrsunfall tödlich. Nur wenige Tage zuvor war Es muß endlich Schluß gemacht werden mit der das Ortseingangsschild so versetzt worden, daß der Bevorzugung der Autolobby. Warum eigentlich for- Schulweg von Katja und vielen anderen Kindern von dert der Verkehrsminister nicht, daß auf jeder Auto- einem Tag zum anderen zur Fernverkehrsstraße reklame die Aufschrift „Mit Alkohol am Steuer im wurde. Die willkürliche Versetzung des Ortsein- Temporausch gefährden Sie Ihre und die Gesundheit gangsschildes stellte eine akute Unfallgefahr dar, weil anderer" steht? Es war von Aufklärung die Rede. Das damit in einem Wohngebiet, vor einer Kaufhalle und könnte ein Beispiel sein. vor allem vor einer Schule die Geschwindigkeit von 80 km pro Stunde gestattet worden war. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe von Hinweise von Eltern und Lehrern darauf beim der CDU/CSU) zuständigen Straßenbauamt Strausberg sofort nach Daß es auf dem Verkehrsgebiet so wie bisher nicht der Versetzung des Schildes blieben ungehört. Nicht weitergehen kann — immer mehr, immer schneller einmal der schwere Verkehrsunfall, sondern erst mas- und auch immer aggressiver —, hat inzwischen die sive Proteste und die Ankündigung von Straßenblok Mehrheit der Bundesbürger begriffen. 72 % der 5980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Dagmar Enkelmann Befragten einer im Auftrag des Bundesumweltmini- schneidung durch Verkehrswege und Verkehrsanla- steriums erstellten Untersuchung sprachen sich für gen im Interesse von Umwelt-, Natur- und Land- Geschwindigkeitsbegrenzungen aus. Es gibt also schaftsschutz. auch andere Untersuchungsergebnisse, Herr Kollege Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Ke rn Bauer. Zeigen Sie, meine Damen und Herren, daß des Handelns der Bundesregierung bei Umwelt und Ihnen die Meinung einer Mehrheit nicht egal ist, Verkehr stand unter anderem die technische Verbes- stimmen Sie für ein Tempolimit und verhindern Sie serung des Verkehrsmittels Automobil. Hier werden Verkehrszustände, wie sie heute schon am Popocate- wir auch zukünftig weitermachen. Die verkehrsorga- petl zu erleben sind! nisatorischen Maßnahmen hingegen stehen erst am Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Anfang. Wir Umweltpolitiker sind daher — und das ist (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der das entscheidende Kriterium — offen für zielführende SPD) Vorschläge in diesem Bereich. Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß die Poten- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tiale zur Verlagerung auf umweltverträgliche Ver- Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen kehrsmittel nach unserer Meinung noch lange nicht Steffen Kampeter. ausgeschöpft sind. Umweltpolitiker verlangen in die- sem Zusammenhang mit Recht, daß die verursa- chungsgerechte Anlastung von Wegekosten und Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! externen Effekten Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ver- kehr verursacht nach wie vor große Umweltbelastun- (Zurufe von der SPD: Aha!) gen, und trotz zahlreicher von der Bundesregierung zu einer ökologisch wie ökonomisch rationalen Ver- ergriffenen Maßnahmen bleiben diese Belastungen kehrsmittelwahl führen soll. Als marktwirtschaftliches hoch. Die Zunahme des Straßenpersonen- und des Instrument erwarten wir auch dringend den Entwurf Straßengüterverkehrs zeigt uns die Grenzen der Auf- zur Umgestaltung der Kfz-Steuer von einer Hubraum nahmekapazität unseres Infrastruktursystems auf. steuer in eine Steuer mit einer umweltfreundlichen Diese Wachstumstendenz wird sich nach Meinung Bemessungsgrundlage, in die z. B. auch der Kraftstoff- von Experten weiter verschärfen. verbrauch einfließen soll. (Zuruf von der SPD: Was tun wir dage (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ gen?) GRÜNE]: Sehr richtig!) Um die Auswirkungen für die Umwelt auf ein für Ein wichtiger Aspekt ist die Information und Auf- Mensch und Ökosystem auch langfristig vertretbares klärung über umweltschonendes Verhalten im Ver- Maß zu beschränken, hat die Umweltministerkonfe- kehr. Hier kommt dem Bildungssystem eine zentrale renz für den Verkehrsbereich Emissionsminderungs- Aufgabe für eine umweltförderliche Verkehrserzie- ziele für Stickoxide, Kohlenwasserstoff und Kohlen- hung zu. dioxid vorgegeben. Für kanzerogene Stoffe wie Ben- - zol und Dieselabgaspartikel gelten die scharfen For- (Zurufe von der SPD: Aha!) derungen des Minimierungsgebotes. Der Verkehr, Transparenz über die verkehrsbedingten Folgen für meine sehr verehrten Damen und Herren, steht ganz Menschen, Umwelt und Atmosphäre durch den moto- oben auf der Tagesordnung der Umweltpolitik. Wel- risierten Verkehr könnte — neben den preislichen ches sind daher aus Sicht der Umweltpolitik die Signalen — eine wichtige Entscheidungshilfe für Ver- vorrangigen Handlungserfordernisse? Lassen Sie kehrsvermeidung sein. Dazu gehört auch eine selbst- mich zu diesem Bereich einige Stichworte geben: kritische Überprüfung unseres eigenen Verhaltens als Erstens sollte es uns gehen um die Minderung zu Abgeordnete. Hier sind wir als Vorbild in bezug auf hoher verkehrsbedingter Schadstoffkonzentrationen, Verkehrsverhalten gefragt. die beispielsweise an den Hauptverkehrsstraßen in Der sozialdemokratische Antrag verspricht, all Innenstädten entstehen. Aus diesem Grunde muß unsere Probleme durch die Einführung einer generel- dringend die nach § 40 Abs. 2 Bundesimmissions- len Geschwindigkeitsbegrenzung auf Blechschildern schutzgesetz mögliche Verordnung erlassen wer- zu lösen. Dieser Ansatz greift so nicht. Der Bundesver- den. kehrsminister hat sich ebenso wie der Bundesumwelt- Der zweite Punkt: Die weitestgehende Minderung minister für verkehrslenkende Maßnahmen im Ge- kanzerogener Emissionen sowie die Minderung der schwindigkeitsbereich ausgesprochen, die an die Emissionen mit Treibhauspotential, insbesondere jeweilige Situation angepaßt sind. Dieser Situations- beim CO2, ist eine wichtige Aufgabe, die es zu lösen bezug fehlt völlig in den Vorschlägen des Antragstel- gilt, beispielsweise durch eine gesamteuropäische lers. Flottenverbrauchsregelung. Wir Umweltpolitiker bedauern diese Scheindiskus- Einen dritten wichtigen Punkt sehe ich in der sion der Sozialdemokraten, die nicht an den Ursachen Minderung des Verkehrslärms, der von den Men- der eigentlichen Probleme ansetzt. Der Antrag redu- schen als immer unerträglicher wahrgenommen wird. ziert den komplexen Zusammenhang zwischen Dies gilt sowohl für die Verkehrswege, aber auch vor Umweltsystem und Verkehrssystem auf ein kleines allen Dingen beim Kraftfahrzeug. rotes Blechschild. Wir haben — bei Offenheit für Das vierte, was ich hier als wichtigen Punkt anfüh- weitere wichtige Erkenntnisse — unter Aufzeigung ren möchte, ist die Frage der Begrenzung des wach- dieser Argumente den wenig weiterführenden Antrag senden Flächenverbrauchs und der Flächenzer- der Sozialdemokraten im Ausschuß für Umwelt, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5981

Steffen Kampeter Naturschutz und Reaktorsicherheit abgelehnt; heute Von einem gleichmäßigen Verkehrsfluß kann keine wird dies im Plenum die gesamte CDU/CSU-Bundes- Rede sein. Sie sollten sich einmal überlegen, ob das tagsfraktion tun. aggressive Verhalten mancher Autofahrer nicht auch Herzlichen Dank. mit dieser Hetze, mit dieser Jagerei, mit dieser Raserei auf den Autobahnen zu tun hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP — Zurufe von der SPD) Die Folge ist — Sie wissen es —: Viel zu viele Menschen verunglücken und sterben im Straßenver- kehr. Bei knapp einem Drittel aller Unfälle war die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Unfallursache ein unzureichendes Gefühl für die Herren, ich erteile das Wort unserem Kollegen Harald Geschwindigkeit und den notwendigen Abstand. B. Schäfer. Gegen alle Vernunft, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung aus der ungebremsten Raserei Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Herr Präsi- auf unseren Straßen einen Fetisch gemacht. Mich dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe erinnert auch die heutige Debatte etwas an die Kolleginnen, liebe Kollegen! Zwei Vorredner, Herr Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Bauer und Herr Gries, haben beklagt, daß wir Sozial- Forderung, bei uns die Geschwindigkeitsbegrenzung demokraten alle Jahre wieder diesen Antrag einbrin- einzuführen, wird von vielen bei uns so beantwortet gen. Ich sage Ihnen: Wir werden uns alle Jahre wieder wie die Forderung in Amerika, den Bürgern nicht hier im Deutschen Bundestag, wenn es sein muß, noch mehr den freien Zugang zu den Schießwaffen zu häufiger, für mehr Verkehrssicherheit, für mehr gestatten. Was für eine Art und Weise der Diskussion Umweltschutz und für Energieeinsparungsmaßnah- über eine wichtige Sachfrage, die rational geführt men einsetzen. werden müßte! (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Ich habe gelesen, was einige Herren von den GRÜNE) Regierungsparteien — Herr von Geldern ist nicht Dazu gehört — dies stellt eine Maßnahme dar — das mehr da — über den Zusammenhang zwischen Tempolimit. Schadstoffausstoß und Geschwindigkeit gesagt ha- Meine Damen und Herren, die Frage der Geschwin- ben. Es schüttelt einen, wenn man weiß, daß derjenige digkeitsbegrenzung ist zwischenzeitlich — nicht nur auch noch Vorsitzender des Umweltausschusses ist! für die Bundesregierung, sondern auch für viele Nur notorische Verneiner der Realität können einen Menschen — der Prüfstein dafür geworden, ob wir es Zusammenhang zwischen dem Tempolimit und den mit unserem Reden für mehr Umweltschutz, für mehr aus dem Kraftfahrzeugverkehr herrührenden Schad- Verkehrssicherheit und für mehr Energieeinspa- stoffemissionen verneinen. Auf jedem gefahrenen Kilometer pustet ein Pkw im Durchschnitt rund rungsmaßnahmen ernst meinen. 250 Gramm Kohlendioxid in die Luft, zwischen 3 und Deshalb sage ich: Wir werden Jahr für Jahr als 4 Gramm Kohlenwasserstoffe und 3 bis 4 Gramm - entschiedene Anwälte der Umwelt, der Menschen Stickoxid. Dies sind im übrigen die Durchschnitts- und der Kinder — dies betrifft vor allem Tempo 30 — emissionen, gemittelt über alle Pkws und alle Fahrge- auftreten. schwindigkeiten: pro gefahrenen Kilometer. Dabei (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gilt: Wer schneller fährt, jagt auch mehr Gifte in die GRÜNE — Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ Luft. Dabei werden — um auf Ihre 1,4 % der Straßen CSU]: Da verlieren Sie immer mehr SPD- zu kommen, die Bundesautobahnen ausmachen, wo Wähler!) es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt — von Meine Damen und Herren, was sind die Fakten? Ich 100 gefahrenen Kilometern, die von einem Kraftfahr- stelle ganz ruhig und nüchtern fest: Wer mit dem Auto zeug zurückgelegt werden, 30 Kilometer auf Bundes- im Ausland fährt, muß langsamer fahren als bei uns. autobahnen zurückgelegt — mit steigender Ten- Alle zivilisierten Staaten der Erde haben Geschwin- denz. digkeitsbegrenzungen für den Autoverkehr; auch auf Insofern ist Ihr Hinweis, Herr Kollege Gries, die Autobahnen. Nur in der Bundesrepublik Deutschland Autobahnen ohne Tempolimit machten nur 1,4 % des wird jedes Jahr schneller gefahren. Seit 1981, Herr Straßennetzes aus, irreführend, weil annähernd ein Kollege Gries — Sie wissen das, und dem Verkehrs- Drittel aller von Kraftfahrzeugen zurückgelegten minister hat man es im Zweifel aufgeschrieben — , Kilometer auf Autobahnen zurückgelegt werden. nimmt die gefahrene Geschwindigkeit auf den Auto- Man kann nicht, Herr Kollege Gries, auf der einen bahnen von Jahr zu Jahr kontinuierlich zu. Lieber Seite für Rationalität werben und gleichzeitig die Herr Kollege Gries, wir haben heute auf freier Strecke Argumente so verfälschend darstellen. Das ist nicht — ohne Anfahrt — eine Durchschnittsgeschwindig- seriös, meine Damen und Herren. keit von 133 km/h auf Autobahnen. Im Jahre 1985 lag die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 120 km/h. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Meine Damen und Herren, das sind die Fakten. dem Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf des Abg. Ekkehard Gries [FDP]) Wie sieht denn die Wirklichkeit aus? — Auf unseren Autobahnen schießen die berühmten Edelgewächse — Ich mache mit Ihnen gern ein „ Schäfer" stündchen, mit 220 km/h oder 250 km/h an den anderen Ver- aber jetzt nicht auf dieser Ebene. kehrsteilnehmern, die mit 100 km/h, 120 km/h oder Der Verkehrsminister und der CDU-Vorsitzende 130 km/h unterwegs sind, vorbei. des Umweltausschusses wie auch Sie, Frau Kollegin (Zuruf von der SPD: Und drängeln!) Roitzsch, sollten sich endlich mit den Fakten vertraut 5982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Harald B. Schäfer (Offenburg) machen, statt sich mit Ihrem ideologischen Abwehr- Im übrigen hat sich die Einführung von Tempo 30 in

kampf gegen das Tempolimit durch Unkenntnisse Wohngebieten — nicht auf Durchgangsstraßen — der über Schadstoffe und deren Umweltauswirkungen Kommunen bewährt. Lesen Sie doch die entsprechen- lächerlich zu machen. Wer immer noch den Zusam- den Berichte des Umweltbundesamts! Die Schadstoff- menhang zwischen Waldsterben und saurem Regen emissionen sind zurückgegangen. Die Unfälle, vor auf der einen Seite und den Autoabgasen auf der allem die mit Todesfolge für Kinder, sind gottlob anderen Seite leugnet, hat sich für eine ernsthafte drastisch zurückgegangen. Insgesamt ist die Durch- Auseinandersetzung disqualifiziert. Wir werden auf schnittsgeschwindigkeit in diesen 30-km/h-Zonen um dieses dümmliche Argument, weil es kein Argument 20 km/h zurückgegangen. Das sind die Fakten. Dar- ist, nicht mehr eingehen. Das verbietet unser Intel- über sollten Sie reden und sich mit uns freuen, daß wir lekt. durch diese Maßnahme Kinderleben retten können, (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ dem Bündnis 90/GRÜNE) GRÜNE) statt die Debatte so zu führen, wie Sie sie hier Ich komme zum Klimaschutz und damit auch wie- betreiben. Das ist auch Ihrer unwürdig, meine Damen der zu Ihnen, Herr Gries. Herr Krause wird ähnlich und Herren. argumentieren, es sei denn, er übertrifft sich und bleibt sachlich. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Schä- Nur ein Zyniker kann die Energieeinsparung, die fer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

CO2 - Reduzierung, die durch ein Tempolimit erreicht werden können, als zu gering, als „Pe anuts", als Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Bitte sehr. minimal bezeichnen. Schon der sogenannte Großver- such der Bundesregierung mit Tempo 100 im Jahre 1985 hat eine CO2-Verringerung von 1,7 Millionen Renate Blank (CDU/CSU): Herr Kollege Schäfer, Tonnen im Jahr erbracht. Da sagen Sie: minimal, zu können Sie mir bitte sagen, wer die Voraussetzungen gering. Das sagen Sie alle von der Koalition. geschaffen hat, damit Tempo 30 in Wohngebieten eingeführt werden kann? (Dr. Wolf Bauer [CDU/CSU]: Aber da hatten (Bernd Reuter [SPD]: Der liebe Gott! — Hei- wir noch nicht den Kat!) terkeit bei der SPD) — Ich rede von CO2, lieber Herr Bauer. Das hat mit dem Kat doch überhaupt nichts zu tun. Mein Gott, Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Liebe Frau denken Sie doch erst nach, bevor Sie reden! Kollegin, es ist bereits heute möglich, daß die Kom- Sie haben diese Verringerung als minimal bezeich- munen die Tempo-30-Zone festlegen können. Das net. Ich sage noch einmal zu Herrn Bauer: Der geschieht heute in vielen Orten auch. Was wir bean- geregelte Dreiwegekatalysator mit Lambdasonde ist tragen, ist, daß die entsprechenden Vorschriften der kein Instrument gegen den Ausstoß von Kohlendioxid. Straßenverkehrs-Ordnung so geändert werden, daß Daher ist der Zwischenruf „Katalysator! " wirklich ein 30 km/h in den Wohngebieten die Regel werden und Knüppel, der einen selbst totschlagen kann. Deswe- nicht die Ausnahme bleiben, damit den Menschen der gen geben Sie acht, Herr Bauer. unsägliche Schilderwald erspart bleibt. Darum geht es doch, meine Damen und Herren. Ich will zurück zur Sache. Eine Reduzierung um 1,7 Millionen t jährlich sei zuwenig, sagen Sie, es sei (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ minimal. Gemessen am Gesamtumfang der CO2- GRÜNE — Zurufe von der SPD) Emissionen in Höhe von 140 Millionen t, die aus dem Ich wäre meinen Kollegen von der SPD dankbar, Verkehr kommen, ist das gering. Da stimme ich Ihnen wenn sie sich zurückhalten würden, damit ich meine zu. kostbare Zeit nicht durch Zwischenrufe dieser Art verlieren muß. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja!) Ich will jetzt etwas zu der Auffassung der Menschen Aber ich frage Sie: Mit welcher Maßnahme kann man zum Tempolimit sagen. 71 % der Bürger der Bundes- denn, ohne einen einzigen Pfennig aufwenden zu republik Deutschland — der alten und der neuen müssen, von heute auf morgen in der Bundesrepublik Länder — sind für eine Höchstgeschwindigkeit auf sowiel CO2-Emissionen einsparen, wie das gesamte El den Autobahnen. Heute hat uns eine Pressemitteilung Salvador mit 6 Millionen Menschen in einem Jahr Ihres Umweltministers, der bezeichnenderweise nicht produziert? Sie reden dauernd von der globalen da ist, erreicht: 71 % beantworten die Frage „Was Verantwortung. Wer das dann als minimal bezeich- halten Sie von einer allgemeinen Geschwindigkeits- net, der ist für mich zynisch — nicht mehr und nicht begrenzung auf Autobahnen? " positiv. Von den CDU/ weniger —, weil er egoistisch argumentiert. CSU-Wählern sind 62 % dafür. 62 % Ihrer Wähler sind für ein Tempolimit auf Autobahnen; insgesamt sind es (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und 71 %. Sie von der CDU/CSU machen in diesem Fall dem Bündnis 90/GRÜNE) eine Politik nicht nur gegen die Mehrheit der Burger, Alle möglichen Gründe sprechen für ein Tempoli- sondern auch gegen die Mehrheit Ihrer Wähler. mit: Verkehrssicherheit, Umweltpolitik, Energiepoli- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es gibt tik. schon wieder neue Umfragen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5983

Harald B. Schäfer (Offenburg) Das will für Sie, meine Damen und Herren, schon Bereits bei der ersten Beratung der Vorlage am etwas heißen. 27. September habe ich ausgeführt, daß mehr Daß sich der Bundesverkehrsminister geradezu kin- Umweltschutz, Verkehrssicherheit und Lebensquali- disch gegen alle Einsichten sperrt und sich entgegen tät durch allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzun- seiner Verantwortung als Bundesminister seinen alten gen nicht wesentlich verbessert werden können. Vorurteilen verschreibt, hängt vielleicht mit seiner (Elke Ferner [SPD]: Durch Ihre Regierung Persönlichkeitsstruktur zusammen. passiert überhaupt nichts!) (Zuruf von der CDU/CSU: Was soll denn so Die Argumente sind Ihnen bekannt; Für und Wider ein Unsinn?) sind wiederholt ausgetauscht worden. Die Autobah- nen sind — das möchte ich heute wiederholen — Beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und unsere sichersten Straßen; denn dort — da muß ich Reaktorsicherheit liegen die Dinge komplizierter. Er dem Kollegen Gries recht geben — wird ein Drittel der weiß, daß das Tempolimit der Umwelt hilft, den Verkehrsleistung mit nur einem Anteil von 7 % der Energieverbrauch und die klimaschädigenden Emis- Unfälle mit Personenschaden erbracht. sionen senkt und die Verkehrssicherheit erhöht. Was wir dem Bundesumweltminister vorwerfen, ist, daß er (Elke Ferner [SPD]: Das ist ja sehr beruhi- für diese Position dann, wenn es darauf ankommt gend!) — wie jetzt im Deutschen Bundestag —, nicht einsteht Es ist ganz wichtig, daß wir uns über diese 7 % und zudem in seinen eigenen Reihen nicht für eine unterhalten. Noch wichtiger aber ist es, daß wir uns Mehrheit in dieser Sache kämpft. Das ist der Vorwurf, über die anderen 93 % unterhalten. meine Damen und Herren. Ich möchte folgendes ausführen: Im Bundesver- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und kehrsministerium werden, entgegen Presseberichten, dem Bündnis 90/GRÜNE) keine Studien über die Auswirkung eines Tempoli- mits von 130 km/h auf das Unfallgeschehen geheim- Ich weiß, daß unser Appell an Sie, heute unserem gehalten. Antrag auf Einführung eines Tempolimits zuzustim- men, sein Ziel verfehlen wird. Ich weiß aber auch, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Was wird denn meine Damen und Herren: Wir werden es noch in geheimgehalten?) dieser Legislaturperiode erleben, daß auch in der — Sie wissen doch, daß man nichts geheimhalten Bundesrepublik Deutschland eine allgemeine Ge- kann. Das ist auch gut so. schwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen kommt. Die in diesem Zusammenhang genannten Zahlen Ihr Problem wird sein, so rechtzeitig die Kurve zu — z. B. Rückgang der Unfälle um 11 %, Rückgang der kriegen, daß wir, was die Geschwindigkeitsbegren- Zahl der Schwerverletzten und tödlich Verunglückten zung angeht, sagen können: Wenigstens in dieser um 23 % — stammen aus einer Untersuchung der Frage hat bei der CDU/CSU die Vernunft Vorfahrt. Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahre 1977. Ich bedanke mich für das Zuhören. Ich wundere mich eigentlich darüber, warum Sie Ihre Regierungsverantwortung damals nicht genutzt ha- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und ben. dem Bündnis 90/GRÜNE) (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Es ist doch nicht mein Problem, wenn Sie sich Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- wundern ! ) ten Damen und Herren, zum Schluß dieses Tagesord- Die Zahlen lagen also bereits vor, als 1978 darüber nungspunktes erteile ich dem Bundesminister für entschieden wurde, ob eine generelle Höchstge- Verkehr, unserem Kollegen Dr. Günther Krause, das schwindigkeit von 130 km/h auf den Autobahnen Wort. eingeführt werden sollte. Ich denke, Sie hatten damals die Verantwortung.

Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Damen und Herren! Wenigstens für seine Ausführun- Schäfer? gen am Schluß möchte ich dem Kollegen Schäfer ein Lob aussprechen. Wir können ihn an seinen prophe- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: tischen Weisheiten messen und könnten ihm im Laufe Aber natürlich, wir kennen ja die Diskussionen. der Legislaturperiode über seine Persönlichkeits- struktur hinsichtlich seiner prophetischen Möglich- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte. keiten ein Testat geben. Wir werden es abrechnen. Wenn Sie auch zum CDU-Wählerverhalten etwas Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Ich hatte mich sagen, müßte es für Sie eher beruhigend als aufregend schon etwas früher zu der Zwischenfrage gemeldet, sein, wenn wir bei unserer Entscheidung bleiben. Das muß deswegen auf eine Aussage von Ihnen zurück- aber nur ganz nebenbei. kommen dürfen. Ich möchte Sie fragen, worin der In den zuständigen Ausschüssen des Deutschen argumentative, besondere Reiz Ihrer Aussage liegt, Bundestages wurde der Antrag auf Einführung all- daß die Autobahnen gesicherte Straßen seien, wenn gemeiner Geschwindigkeitsbeschränkungen abge- man bedenkt, daß diese Straßen besonders breit sind, lehnt. Ich begrüße diese Entscheidung, da ich sie für daß auf diesen Straßen kein Gegenverkehr vorhanden sachgerecht und ausgewogen halte. ist, daß diese Straßen kreuzungsfrei sind. Ich möchte 5984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Harald B. Schäfer (Offenburg) Sie fragen, wo in der Tat die aufsehenerregende Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Neuigkeit dieses Arguments ist. Meinem mecklenburgischen Kollegen immer.

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Herr Schäfer, soll ich Ihre Frage so verstehen, daß Sie Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr demnächst einführen wollen, daß die Geisterfahrer zu Krause, wären Sie bereit, Ihre Meinung zu ändern, ihrem Recht kommen? wenn mit der seit Anfang des Jahres erfolgten Frei- (Zurufe von der SPD) gabe der Geschwindigkeit auf verschiedenen Straßen Damals war die Unfallsituation auf unseren Straßen im Osten Deutschlands die Unfallzahl ansteigt? wesentlich dramatischer als heute. Zwischenzeitlich (Ekkehard Gries [FDP]: Möchten Sie das?) sind die Fahrzeugsicherheit und die passive Sicher- heit für Fahrzeuginsassen wesentlich besser gewor- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: den. Örtliche Unfallschwerpunkte wurden mit Hilfe Ich möchte sachlich ergänzen, daß nicht, wie Sie es straßenverkehrsrechtlicher Maßnahmen, z. B. durch darstellen, auf verschiedenen Straßen die Geschwin- Überholverbote und örtliche Geschwindigkeitsbe- digkeit freigegeben worden ist, sondern daß nur in schränkungen, entschärft. einem recht geringen Abschnitt zur Zeit bundesdeut- Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Wo rt zur sches Recht gilt. An anderen Stellen sind in der Regel Unfallentwicklung. Nach den Berechnungen des Sta- auf Grund des schlechten technischen Zustands die tistischen Bundesamts geht die Zahl der Verkehrs- Geschwindigkeitsbeschränkungen von 100 oder toten in den alten Bundesländern voraussichtlich um 120 km/h bzw. — auf bestimmten Streckenabschnit- 6 % gegenüber dem Jahr 1990 zurück. Bei der Zahl der ten — von 130 km/h beibehalten worden. Verletzten ist ein Rückgang um 7,8 % zu erwarten. Ich kann Ihnen zu dieser Frage auch sagen, daß es Dies wird damit das günstigste Jahresergebnis seit nicht mehr zu den Fahrgewohnheiten beispielsweise Einführung der Statistik im Jahre 1953 sein. eines Trabifahrers gehören wird, die linke Autobahn- (Elke Ferner [SPD]: Wie sieht es in den spur zu besetzen, wenn 130 km/h zulässig sind. ostdeutschen Ländern aus?) (Lachen bei der SPD) Nun erwarte ich von Ihnen nicht, daß Sie die Politik Es wird mit Sicherheit eine Verbesserung geben. zur Sicherung der Verkehrssicherheit dem Bundes- (Dietmar Schütz [SPD]: Er wird weggefegt verkehrsminister zuschreiben. Ich denke aber, einen werden!) kleinen Teil an diesem Ergebnis hat diese Regierung, und darauf sind wir stolz. Zum zweiten Punkt: Wir haben durch die Installa- tion der Mittelleitplanken erreicht, daß es eine Zwar ist in den neuen Bundesländern die Unfallzahl wesentliche Verringerung der Begegnungsunfälle angestiegen, hinsichtlich der Zahl der Verkehrstoten gegeben hat. Das war die Hauptunfallursache auf den ist allerdings seit Mitte des letzten Jahres eine deutli- ostdeutschen Autobahnen. che Trendwende eingetreten. Sie wissen das, sagen es (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ nur nicht. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist im GRÜNE]: Wenn die Zahl steigt, werden Sie August erstmals kein Anstieg zu verzeichnen gewe- dann skeptisch?) sen; ich rede über Ostdeutschland. Im September und Oktober gab es sogar erhebliche Rückgänge, im — Ich bin sicher, daß sie nicht steigen wird. Ich hoffe, Oktober beispielsweise urn 6,9 %. Sie nehmen es zur Kenntnis und ändern Ihr Verhalten, wenn die Unfallzahlen weiter sinken. Darüber würde Wir haben ein Verkehrssicherheitsprogramm unter ich mich freuen. dem Titel „Rücksicht kommt an". Wir sind der Mei- nung, daß das Regierungsprogramm bereits wirkt und Meine Damen und Herren, das Unfallgeschehen sich die ersten erfreulichen Ergebnisse ablesen las- wird durch ganz andere Faktoren wesentlich stärker sen. beeinflußt. In erster Linie nenne ich individuelles Fehlverhalten wie nichtangepaßte Geschwindigkeit, Diese Zahlen machen insgesamt eines deutlich: Es Vorfahrtmißbrauch und Fahren unter Alkoholein- ist nicht das Fehlen eines Tempolimits auf Autobah- fluß. nen, das die Unfallentwicklung trägt. Das Verhältnis der Zahlen in den alten und den neuen Bundesländern Völlig unbefriedigend ist nach meiner Auffassung müßte sich dann anders darstellen, da bekanntlich die Sicherheit von Kindern in Pkw. Aber hier gibt es, wie ich meine, allerorts Zustimmung. 1991 in den neuen Bundesländern noch generell Tempo 100 auf den Autobahnen galt. Innerorts, wo das Unfallrisiko übrigens am größten ist — wir diskutieren eigentlich am wenigsten dar- (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) über, daß das Unfallrisiko innerorts am größten ist —, Dort wurde das versucht, was Sie permanent für werden derzeit in Pkw nur 30 % der Kinder gesichert, Deutschland insgesamt fordern. Die Ergebnisse ken- nur 26 % durch spezielle Kinderrückhaltesysteme. nen Sie. Auch auf Landstraßen ist es nicht besser. Das Verlet- zungsrisiko eines ungesicherten Kindes ist siebenmal höher als das eines gesicherten. Hier müssen und Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, werden wir ansetzen. gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Aber auch die örtlich gegebenen Verkehrsverhält- Dr. Feige? nisse wie Verkehrsdichte oder Ausbauzustand der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5985

Bundesminister Dr. Günther Krause Straße, schlechte Fahrbahndecke, fehlende Mittel- Stickoxidemissionen lediglich um 1 % sinken. Bei schutzplanken und ähnliches spielen eine entschei- Tempo 120 wären die Ergebnisse noch geringer. Auch dende Rolle. Ein generelles Tempolimit hilft hier nicht eine wesentliche Reduzierung des Kohlendioxidaus- weiter. stoßes bei Einführung eines Tempolimits ist bislang Dagegen gibt es gute Beispiele, wie durch indivi- nicht nachgewiesen worden. Anderslautende Be- duelle, situationsangepaßte Verkehrsbeeinflussung hauptungen halten einer Prüfung nicht stand. eine deutliche Senkung der Unfälle erreicht werden Ich meine, aus den genannten Gründen müssen wir kann. Zum Beispiel konnte durch die Anlage auf der uns auch darum kümmern, die Staus zu beseitigen. Ich A 4 zwischen Köln und Aachen, die im übrigen durch hoffe, daß Sie künftig der Beschleunigung nach dem das Bundesverkehrsministerium installiert und finan- novellierten Planungsrecht zustimmen werden. ziert worden ist, seit deren Inbetriebnahme 1988 eine Aus dem erwähnten Abgasgroßversuch können sofortige Absenkung der Zahl der Schwerverletzten lediglich Rückschlüsse gezogen werden. Diese Rück- um ein Drittel bewirkt werden, obwohl dort nur ein schlüsse bestätigen sich durch die durchschnittlich Jahr zuvor, also 1987, noch eine Steigerung um 50 % gefahrene Geschwindigkeit auf den Bundesautobah- um 50 %! — gegeben war. — nen, nämlich 119 km/h und nicht, wie vorhin von (Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD]) Ihnen zitiert, 134 km/h. Ich meine, damit ist nachge- — Entschuldigen Sie bitte, zu diesem Zeitpunkt hat wiesen, daß sich die Geschwindigkeit, mit der durch- die CDU in Bonn regiert, und unter Führung der CDU schnittlich gefahren wird, um 120 km/h eingependelt ist diese Anlage finanziert worden. Ich bitte Sie, Sie hat. werden doch nun nicht meinen, daß diese Anlage aus Drittens. Im Bundesrat wurde ein ähnlicher Antrag Mitteln der Kommune bezahlt worden ist. des Landes Niedersachsen, wie zu erwarten war, abgelehnt. Gleichzeitig wurde aber empfohlen, die Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Struktur einer repräsentativen Zahl von Autobahnun- gestatten Sie zu dieser Frage Herrn Kollegen Lennartz fällen zu untersuchen und dann gegebenenfalls die eine Zwischenfrage? erforderlichen Maßnahmen auf den verschiedenen verkehrssicherheitsrelevanten Gebieten zu veranlas- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: sen oder vorzuschlagen. In die Untersuchung sollen Aber natürlich, gerne. auch die Erfahrungen und die Unfallentwicklung anderer Staaten einbezogen werden, die für ihre Klaus Lennartz (SPD): Herr Minister Krause, kann Autobahnen ein Tempolimit haben. ich davon ausgehen, daß Sie die Protokolle des Lieber Herr Kollege Schäfer, ich denke, wir über- Deutschen Bundestages aus den Jahren 1985 und lassen es nicht unseren prophetischen Weissagungen, 1986, wo über diese Frage diskutiert worden ist, sondern wollen die wissenschaftlichen Untersuchun- nachgelesen haben, aus denen hervorgeht, daß insbe- gen noch weitertreiben. sondere die Kolleginnen und Kollegen von seiten der (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Es CDU heftigst gegen den Regierungspräsidenten liegen genug vor! Sie treiben es zu lange!) Dr. Franz-Josef Antwerpes polemisiert haben, der diese Maßnahme vorgeschlagen hatte? Ich meine, vor allen Dingen der Großversuch im Raum Köln hat bewiesen, daß ein situationsbezogenes Tem- polimit den entscheidenden Vorteil auf Autobahnen Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, wer bringt. bezahlt. Die Bundesregierung hat diese Maßnahme Ich hoffe, daß Sie unsere Bemühungen in Sachen bezahlt. Im übrigen wird zum 1. Februar 1992 eine Sicherung von Kindern im Pkw unterstützen wer- vollautomatische Lösung in Betrieb gehen. Ich bin den. stolz darauf, daß wir mit dieser Lösung Ergebnisse Vielen Dank. erreicht haben, die ein deutliches Absenken der Zahl der Unfalltoten und vor allen Dingen der Schwerver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) letzten gebracht hat. Eigentlich ist das ein Beleg dafür, daß Ihre Argumentation nicht ganz richtig ist. Meine sehr verehr- Von verschiedenen Seiten wird behauptet, das Vizepräsident Helmuth Becker: ten Damen und Herren, ich will am Ende der Ausspra- generelle Tempolimit sei aus Gründen des Umwelt- che zu diesem Tagesordnungspunkt noch darauf schutzes erforderlich. Herr Kollege Schäfer, ich hinweisen, daß der Bundesminister für Umwelt mit denke, Sie gestatten mir, Ihnen zu widersprechen. Die Zustimmung der Fraktionen an einem Termin teil- Fahrzeuge, die im Stau stehen, machen den größten nimmt, der unaufschiebbar war. Umweltschmutz, nicht die Fahrzeuge, die drei, fünf oder acht Stundenkilometer schneller fahren. (Zurufe von der SPD und vom Bündnis 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — GRÜNE: Er ist zum Essen eingeladen!) Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Aber — Ich sage ja, daß er einen Termin wahrnimmt, der die Geschwindigkeitsbegrenzung löst den unaufschiebbar war. Stau auf!) Wir sind nun am Ende der Aussprache und kommen Das einzige zuverlässige Material zur Frage der zur Abstimmung. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt Umweltbelastung steht nur aus einem Abgasgroßver- auf Drucksache 12/1621, den Antrag der Fraktion der such zur Verfügung. Danach ist aber erwiesen, daß SPD auf Drucksache 12/616 abzulehnen. Wir stimmen selbst bei Tempo 100 auf Autobahnen die gesamten über die Ausschußempfehlung ab. Wer stimmt für 5986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Vizepräsident Helmuth Becker diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? ihre Kollegen für die gleiche Arbeit als Mitglied der — Enthaltungen? — Der Beschlußempfehlung des Stammbelegschaft einen doppelt so hohen Lohn Ausschusses ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak- bekommen! tionen, gegen die Stimmen der SPD und der Gruppen Ich muß sagen: Wie kann ich ruhigen Auges, wenn PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE entspro- ich von Menschen gewählt bin, in einem Lande diesen chen. Menschen in die Augen schauen, wenn ich mich bei Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir der Abstimmung genau gegen die Interessen der kommen damit zum letzten Punkt der heutigen Tages- Bürgerinnen und Bürger verhalte, die mir vorher mit ordnung. einem gewissen Stimmenanteil das Vertrauen ausge- sprochen haben! Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: (Beifall bei der SPD — Rudolf Dreßler [SPD]: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Den Arbeitnehmern das sagen!) ten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Lohndumping Das beweist — da haben Sie recht —, daß die Arbeit- — Drucksache 12/1060 — nehmer in dieser Partei keine Bedeutung hatten. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Meine Damen und Herren, ich bitte daher alle Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich Mitglieder des Hohen Hauses herzlich, sich der Mühe dagegen Widerspruch? — Ich sehe, das ist nicht der zu unterziehen, dem Gesetzentwurf und seiner Fall. Dann ist das so beschlossen. Begründung die Zielsetzung zu entnehmen, der man Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem meines Erachtens nur zustimmen kann. Es geht um Minister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Her- nicht mehr und nicht weniger als um das Sozialstaats- mann Heinemann, das Wort. prinzip, um dem Grundsatz „Gleicher Lohn für glei- che Arbeit" Geltung zu verschaffen. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Na, na, keine Vorschußlorbeeren!) Der Gesetzentwurf entspricht damit der von der

EG - Kommission vorgeschlagenen Dienstleistungs- Minister Hermann Heinemann (Nordrhein-Westfa- richtlinie, die ein ähnliches Instrumentarium für die len): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Tätigkeit von Arbeitnehmern aus einem Mitgliedstaat und Herren! Bei der Einbringung des Gesetzentwur- in einem anderen Mitgliedstaat vorsieht. Unser heuti- fes zur Bekämpfung von Lohndumping durch die ges Problem ist jedoch zu brennend, als daß wir auf Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Bun- eine Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie warten desrat habe ich betont, daß es nicht um eine grund- könnten. Das Gesetz wird heute gebraucht. Für mich sätzliche Diskussion des Arbeitnehmerüberlassungs- ist es schon erschreckend, welcher Zeitraum bei dieser gesetzes und um die alten Schlachten zu diesem Gesetzesvorlage aus dem Bundesrat bis heute vergan- Thema gehen soll. Wir müssen aber die Realität zur gen ist und wieviel Zeit zu Lasten der Menschen in den - Kenntnis nehmen und die erforderlichen Konsequen- fünf neuen Bundesländern verlorengegangen ist. Da zen ziehen. die Westarbeitnehmer die billige Konkurrenz aus den neuen Bundesländern fürchten, gilt es, die aufkom- Zur Realität gehört die deutsche Einigung mit ihren mende Unruhe in den Betrieben ebenso zu beseitigen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Es steht fest, daß wie die Benachteiligung der Ostarbeitnehmer. Unternehmen das Lohngefälle zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu ihren Gunsten Das Problem hat aber über die Problematik der ausnutzen. Das ist zwar eine verständliche Reaktion deutschen Einigung hinaus eine weitere Dimension. auf die tariflichen Gegebenheiten. Sie kann aber nicht Auch in den alten Bundesländern kommt es zu erheb- hingenommen werden, wenn sie dazu führt, daß die lichen Lohndifferenzen bei gleicher Tätigkeit, die Tarifautonomie in den alten Bundesländern durch den einerseits durch die Stammbelegschaft und anderer- Import von Arbeitnehmern mit Niedriglöhnen unter- seits durch Leiharbeitnehmer ausgeführt werden. Die laufen wird. Differenzen sind zwar nicht so kraß wie gegenüber (Beifall bei der SPD) Arbeitnehmern aus den neuen Bundesländern, sie erreichen aber mitunter eine beträchtliche Höhe, die Der Gesetzentwurf greift weder in die Tarifautono- sich nicht aus den Besonderheiten des Leiharbeitsver- mie ein noch benachteiligt er, wie die Bundesregie- hältnisses, das ich persönlich als moderne Form des rung in ihrer Gegenäußerung suggeriert, die Arbeit- Sklavenhandels strikt ablehne, rechtfertigen läßt. nehmer aus den alten Bundesländern. Vielmehr wer- den diese ebenso wie die Tarifautonomie durch das (Zuruf von der SPD: Schlimmes Wort!) vorgesehene Gesetz abgesichert. Die ablehnende Da es bilaterale Vereinbarungen mit osteuropäi- Stellungnahme der Bundesregierung, die der Ableh- schen Staaten gibt, bei denen die deutschen Arbeits- nung durch die CDU-geführten Länder entspricht, ämter mit den Arbeitsverwaltungen des Herkunfts- erstaunt mich insbesondere deshalb, weil auch die landes zusammenarbeiten, um die unkontrollierten CDU-geführten neuen Bundesländer die Augen vor Einreisen ausländischer Arbeitnehmer zu verhindern der Wirklichkeit verschließen. und — das betone ich — um die Beschäftigung zu (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Hört! vergleichbaren Arbeits- und Lohnbedingungen mit Hört!) den deutschen Arbeitnehmern zu gewährleisten, Wer kann denn mit Anstand zusehen, wie Arbeitneh frage ich — die Frage stelle ich ernsthaft —: Warum mer aus den neuen Bundesländern zu Niedrigstlöh darf es entsprechende Regelungen für Arbeitnehmer nen in den alten Bundesländern arbeiten, während aus den neuen Bundesländern nicht geben? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5987

Minister Hermann Heinemann (Nordrhein-Westfalen) Es geht allein darum, genau diesen Arbeitnehmern Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die ortsüblichen Löhne zu verschaffen, wenn sie in Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parla- den alten Bundesländern eingesetzt werden. Die mentarischen Staatssekretär Horst Günther. ostdeutschen Arbeitnehmer sind die Hauptbetroffe- (Zuruf von der SPD: Da sind wir sehr nen des Vorschlages dieser Regelung, aber nicht, wie gespannt!) sich aus der Stellungnahme der Bundesregierung ableiten läßt, im negativen, sondern nach unseren Vorstellungen im positiven Sinne. Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Nicht den Arbeitnehmern der ostdeutschen Be- nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! triebe drohen Nachteile, sondern Nachteile drohen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundes- den Arbeitsverleihern aus dem Westen, die eine regierung spricht sich gegen den Gesetzentwurf des Ostfiliale gründen, um wiederum im Westen tätig zu Bundesrates aus; sein und durch Billiglöhne ihren Profit weiter aufzu- blähen. (Zuruf von der SPD: Das wissen wir!) denn er ist weder zweckmäßig, noch besteht für ihn Eine Schlechterstellung ostdeutscher Betriebe ge- Bedarf, Kollege Heinemann. genüber Betrieben aus dem Ausland kann ich in keiner Weise erkennen, da auch ausländische Der Gesetzentwurf sieht insbesondere vor, daß Betriebe, soweit ein auffälliges Mißverhältnis in den Arbeitnehmer bei Arbeitnehmerüberlassung und Bedingungen des Arbeitsvertrages zu den ortsübli- bestimmten Werkverträgen nach den Bedingungen chen Bedingungen besteht, ebenfalls dieser Regelung im Entleiher- oder Einsatzbetrieb entlohnt werden unterfallen. Es soll kein Mindestlohn, wie in vielen müssen, wenn ihr Entgelt 20 % oder mehr hinter dem anderen Staaten üblich, festgelegt werden. Vielmehr Tariflohn oder der ortsüblichen Vergütung zurück- sollen die ortsüblichen Arbeitsbedingungen, die bleibt. durch die Tarifparteien ausgehandelt werden, gel- Hauptbetroffene dieser Regelung sind die ostdeut- ten. schen Arbeitnehmer und ihre Be triebe. Der Vorhalt bürokratischer Hemmnisse für die ost- (Konrad Gilges [SPD]: Ja!) deutschen Betriebe ist offensichtlich vorgeschoben. Diesen wird — oder, besser gesagt: würde — durch Die Feststellung des ortsüblichen Vergleichslohns für diesen Gesetzentwurf die Chance genommen, in der einen Arbeisverleiher ist nicht eine Frage der Büro- schwierigen Aufbauphase Arbeitsplätze zu erhalten. kratie, sondern bestenfalls diejenige eines Telefonan- Der Antrag erschwert nämlich, Auftragslücken durch rufs. Arbeitnehmerüberlassung in Westbetriebe zu über- Ein letzter Hinweis: Anlaß des Gesetzentwurfs war brücken oder im Westen als Werkvertragsunterneh- nicht zuletzt der Deutsche Bundestag selbst. Aufgefal- mer tätig zu werden. len sind krasse Fälle des Lohndumping nirgendwo (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Die sollen anders als auf der Baustelle des Bundestages in anständig bezahlen!) Bonn. Das weiß auch der Initiator des Gesetzentwurfs, das (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Land Nordrhein-Westfalen. In der Begründung des Entwurfs wird die Tätigkeit von Arbeitnehmern aus Es steht Ihnen frei, die Bedeutung des Gesetzesvor- Ostdeutschland im Westen nämlich ausdrücklich als habens zu relativieren, indem Sie den Entwurf lang- Motiv für den Gesetzentwurf genannt. fristig in den Ausschüssen beraten. Allerdings werden dadurch nur die Aspekte ausgesessen, wie es ja bisher Eines muß klargestellt sein: Soweit sich der Gesetz- schon von der Einreichung im Bundesrat bis hierher entwurf auf die Arbeitnehmerüberlassung bezieht, geschehen ist, die das Lohngefälle innerhalb der betrifft er nur Verleiher, die eine Erlaubnis der Bun- Bundesrepublik betreffen. desanstalt für Arbeit haben. Die Erlaubnis nach dem Arbeitnehmerüberlas- Das Gesetz wird aber darüber hinaus seine Bedeu- sungsgesetz benötigen auch sogenannte Mischbe- tung behalten, vermutlich sogar in verstärktem Maße, triebe, also z. B. Handwerksbetriebe, die Arbeitneh- da künftig mit Wanderungsbewegungen von Arbeit- mer gewerbsmäßig überlassen. So haben denn auch nehmern in Europa, vor allen Dingen aus Osteuropa, im vergangenen Jahr weit überwiegend solche zu rechnen sein wird. Diese Dimension des Problems Betriebe in Ostdeutschland eine Erlaubnis erhalten bitte ich bei Ihren Beratungen mit zu berücksichti- und nur wenige sogenannte reine Verleiher. gen. Leiharbeiter von illegalen Verleihern, also solchen Bedenken Sie bei Ihrer Entscheidung, ob es sich ein ohne Verleiherlaubnis, sind schon heute kraft gesetz- Sozialstaat erlauben kann, den Grundsatz „Gleicher licher Fiktion Arbeitnehmer des Entleihers und haben Lohn für gleiche Arbeit im gleichen Betrieb und am als solche Anspruch auf den Lohn nach den Verhält- gleichen Arbeitsort" für einen Teil seiner Arbeitneh- nissen im Entleiherbetrieb. mer außer Kraft zu setzen. Sie sind aufgefordert, die soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen. Insofern Der Gesetzentwurf nimmt unseres Erachtens den bitte ich Sie alle, bei der Beratung unseres Gesetzent- ordnungsgemäß handelnden legalen Verleihern und wurfs diesem Ihre Zustimmung zu geben. Werkvertragsunternehmern in Ostdeutschland einen Teil der neugewonnenen Freiheit des Dienstlei- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke stungsverkehrs über die früheren Grenzen hinweg. Liste) Die ostdeutschen Unternehmen verlieren den Wettbe- 5988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Parl. Staatssekretär Horst Günther werbsvorteil niedriger Arbeitskosten, wenn sie Werk- oder Ostbetrieb überlassen werden. Das wissen auch verträge im Westen durchführen. Sie. (Konrad Gilges [SPD]: Nein!) Einigkeit besteht darin, daß die Qualifizierung der Ostarbeitnehmer auch durch Einsatz in Westbetrie- — Doch, Herr Kollege. ben nicht behindert werden darf. Der Gesetzentwurf (Konrad Gilges [SPD]: Nein!) sieht deshalb eine Ausnahme für den Einsatz von Arbeitnehmern zur Qualifikation vor. Auch die Bun- Kurioserweise würden damit ostdeutsche Be triebe desregierung tritt dafür ein, daß nicht unter dem und Arbeitnehmer schlechtergestellt als vergleich- Deckmantel der Qualifikation tatsächlich unerlaubte bare EG-Unternehmen. Arbeitnehmerüberlassung betrieben wird. Auftre- Die ostdeutschen, vom Gesetzentwurf betroffenen tende Mißbräuche in diesem Bereich wurden und Arbeitgeber haben sich an den Westlöhnen zu orien- werden bekämpft. tieren und müssen die Arbeitsbedingungen im West- Damit die Arbeitgeber und die Dienststellen der betrieb ermitteln, auch wenn der Einsatz eines Arbeit- Bundesanstalt für Arbeit Kriterien zur Abgrenzung nehmers dort nur kurzfristig ist. Hier werden auch zwischen Überlassen zur Arbeitsleistung und Entsen- bürokratische und finanzielle Schranken aufgebaut, dung zur Qualifizierung von Arbeitnehmern erhalten, die der Ostarbeitgeber aber ernstzunehmen hat. Bei hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit am Fehlern, auch solchen, die er fahrlässig begeht, dro- 4. Juli 1991 entsprechende Weisungen erlassen, die hen ihm nach dem Gesetzentwurf hohe Bußgelder bis mit den Sozialpartnern abgestimmt sind. Danach zu 100 000 DM. besteht auch für die Ausnahmevorschrift im Gesetz- Meine Damen und Herren, noch gibt es ein Lohn- entwurf kein Bedarf. gefälle, wie Sie wissen, zwischen den alten und neuen Aus all diesen Gründen bitte ich, meine Damen und Bundesländern. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis Herren, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. — Im die Angleichung erreicht ist. Die Tarifvertragspartner übrigen, Herr Kollege Heinemann: Ob die Arbeitneh- haben bereits die Weichen hierfür gestellt. Für einige mer in der CDU-Partei keine Rolle spielen, das über- Branchen sind Stufenpläne über die vollständige lassen Sie bitte einmal der Bevölkerung. Die jeden- Anpassung der östlichen Tarifvergütungen an die falls sieht das ganz anders. westlichen bereits fest vereinbart worden. Vielen Dank. (Konrad Gilges [SPD]: Gott sei Dank!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Freie Lohnverhandlungen zwischen den Tarifpart- Ottmar Schreiner [SPD]: Die ist der gleichen nern — darauf können wir in unserer Sozialen Markt- Meinung!) wirtschaft stolz sein, und darauf werden wir auch nicht verzichten, meine Damen und Herren. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Zuruf von der SPD: Das will auch keiner!) Herren. Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Pe -tra Bläss das Wort. Im übrigen würde ein solches Gesetz auch nur eine kurze Überbrückungsfunktion in bezug auf die neuen Bundesländer haben. Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der PDS/Linke (Manfred Reimann [SPD]: Aber das wäre Liste begrüße ich den vom Bundesrat vorgelegten doch schon was!) Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Lohndumping, Jetzt sollen mit diesem Gesetzentwurf die Räder auch wenn ich der Auffassung bin, daß mit dieser plötzlich zurückgedreht werden. Der Gesetzgeber soll Initiative nur ein Ausschnitt der sich in den letzten die Lohnhöhe in bestimmten Bereichen der Wirtschaft Monaten verschärfenden Gesamtproblematik des zumindest indirekt regeln. Dies ist jedoch weder seine Ost-West-Arbeitsmarktes erfaßt ist. Aufgabe, noch entspricht dies dem Grundsatz der Mir fällt es schwer, über Lohndumping ausschließ- Tarifautonomie. Wir wollen aber an der Tarifautono- lich unter dem Stichwort „Arbeitnehmerüberlas- mie nicht rütteln, denn sie ist ein Fundament unserer sung" zu diskutieren und dabei nicht einzubeziehen, Sozialen Marktwirtschaft, und auf die Tarifvertrags- welche Aushöhlung der Tarifstruktur und welche partner ist Verlaß. Sie sind durchaus selbst in der Lage, Auswüchse des Handels mit Leiharbeiterinnen und auf offene Fragen die passenden Antworten zu fin- -arbeitern durch die enormen Einkommensunter- den. schiede in Ost und West entstehen können, ohne Bedenken Sie bitte auch, daß der Verleiher nach mitzudenken, was die inzwischen auf 600 000 Perso- dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeitgeber nen angeschwollenen Pendler- und Pendlerinnen der Leiharbeitnehmer ist. Der Lohn richtet sich daher ströme ebenso wie Übersiedlerinnen und Übersiedler nach den im Verleiherbetrieb geltenden Bedingun- sowie all jene, die im Ost-West-Verkehr auf Arbeits- gen. Durch den Gesetzentwurf wird dieser Grundsatz, suche sind, bewirken. der sich übrigens bewährt hat, verlassen und damit Der vorliegende Gesetzentwurf zielt vor allem dar- Unruhe in die Ostbetriebe getragen. So wird sich z. B. auf, einen Mißbrauch bisheriger Vorschriften im der Arbeitnehmer in einem ostdeutschen Betrieb Zusammenhang mit Leiharbeit zukünftig zumindest benachteiligt fühlen, wenn er nicht wie sein Kollege in einzugrenzen bzw. ein Umgehen gesetzlicher Rege- einem West-Berliner, sondern in einem Ost-Berliner lungen zu erschweren. Verhindern wird man weder Betrieb zum Einsatz kommt. Das Entgelt der Arbeit- den Mißbrauch noch illegale Leiharbeit überhaupt, nehmer schwankt je nach dem, ob sie einem West- auch nicht mit neuen Gesetzen; es sei denn, dieser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5989

Petra Bläss Bundestag entschließt sich zu einer radikalen Lösung, Betrieben, nur noch olympiareife Stammbelegschaf- nämlich einem Verbot der Leiharbeit — eine von den ten zu beschäftigen? Gewerkschaften seit langem nicht ohne Grund erho- Ein Gesetz, das eine hier nur in wenigen Punkten bene Forderung. Denn ein Anwachsen der Leiharbeit angerissene fatale Entwicklung für die be troffene bleibt nicht ohne Wirkung auf die Einkommens- und Beschäftigtengruppe, aber auch für den Industrie- Arbeitsverhältnisse der in Leiharbeit Arbeitenden. standort Ost eindämmen hilft, werden wir in jedem Niedrigstlöhne und das Fehlen von Schutzrechten Falle unterstützen. Daß die Bundesregierung in ihrer sind an der Tagesordnung. Aber auch die Tarifstruk- Stellungnahme ausgerechnet bei dem hier vorliegen- tur und die Beschäftigtenpolitik der Entleiherbetriebe den Gesetzentwurf vor einem Eingriff in die Tarifau- werden im Zuge anwachsender Leiharbeit negativ tonomie warnt, wirkt, meine Damen und Herren, beeinflußt. angesichts der gegenwärtigen Stellungnahmen von Deshalb unterstützen wir die Forderung der Regierungsmitgliedern zu den anstehenden Tarifaus- Gewerkschaften nach einem Verbot der Leiharbeit, einandersetzungen allerdings etwas seltsam. stimmen aber dem vorliegenden Gesetzesentwurf zu, Danke. weil damit ein Schritt in die richtige Richtung gegan- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) gen wird. Ein des Linksabweichlertums gänzlich unverdächti- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ges Presseorgan wie die Zeitschrift „Die Marktwirt- Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen schaft" wußte immerhin schon in ihrer März-Ausgabe Heinz Hübner. 1991 zu berichten, daß das Leihgeschäft blühe wie nie zuvor. Danach gab es bereits zu diesem Zeitpunkt in Ostdeutschland mehrere hundert Leiharbeitsunter- Heinz Werner Hübner (FDP): Herr Präsident! Meine nehmen. Täglich sollen fünf bis zehn Lizenzen neu sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem uns beantragt worden sein. vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Bekämp- fung von Lohndumping kann ich an dieser Stelle nur Dies ist auch der Hintergrund der Bundesratsin- massive Vorbehalte anmelden, massive Vorbehalte itiative. War die Leiharbeit schon eh und je umstritten, insofern, als es gerade mir, der ich aus Thü ringen so muß jetzt angesichts der neudimensionierten Rie- komme, um die Hauptbetroffenen einer solchen Rege- sengeschäfte, insbesondere auf Kosten der ostdeut- lung geht, um die negativ Betroffenen, nämlich die schen Beschäftigten, dieser Praxis Einhalt geboten ostdeutschen Betriebe und deren Arbeitnehmer, für werden. Denn Fakt ist: Im Zuge des Anschlufiprozes- die sich die Chance verringern würde, in der schwie- hat die Leiharbeit einen neuen Auftrieb und für ses rigen Aufbauphase der ostdeutschen Wirtschaft Unternehmer aus Ost und West lukrative Attraktivität Arbeitsplätze zu erhalten. bekommen. Die Gewinnspannen für Verleihfirmen sind sprunghaft angestiegen. Dadurch, daß nach bis- (Zuruf von der SPD: Warum denn?) heriger gesetzlicher Regelung das Lohngefälle West/ Zum anderen kann und darf es nicht die Aufgabe Ost für sie fast unbegrenzt nutzbar ist, winken ihnen des Gesetzgebers sein, die Lohnhöhe in bestimmten beim Handel mit Leiharbeiterinnen und -arbeitern Bereichen der Wirtschaft zu regeln. Auf so etwas läuft größere Gewinne als durch andere wirtschaftliche nämlich Ihr Gesetzentwurf letztendlich hinaus, der Aktivitäten. eine alte Kampagne fortsetzt, um Arbeitnehmerüber- Dabei braucht man gar nicht auf halblegale Prakti- lassungen durch mehr Bürokratie unmöglich zu ken oder sogenannte Graubereiche im Leihgeschäft machen. wie Arbeit unter dem Deckmantel von Qualifzie- Des weiteren sehen wir in diesem Entwurf — das rungsmaßnahmen oder im Gewand von Werkverträ- wurde bereits erwähnt — einen unerlaubten Eingriff gen auszuweichen. Nein, ganz regulär kann eine in die Tarifpolitik, da durch diesen Gesetzentwurf Verleihfirma nicht selten mehr als 50 % der Lohnko- bestehende Tarifvereinbarungen für Ostdeutschland sten, die der Entleihbetrieb pro Kopf und Stunde zu korrigiert werden. zahlen hat, für sich einstreichen. (Ottmar Schreiner [SPD]: Möllemann greift In der bereits zitierten Zeitschrift „Die Marktwirt- jeden Tag in die Tarifpolitik ein, jeden schaft" wird als Beispiel die Firma Intron GmbH in Tag!) Dömitz genannt. Früher wurden dort Zündkerzen für — Herr Möllemann mahnt. Er greift nicht ein, er den Trabant produziert; heute verleiht dieser Betrieb mahnt. Sie haben einen Gesetzentwurf gemacht, Herr seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Matsushita Möllemann nicht. — Es kann doch wohl nicht die in Lüneburg und kassiert dafür 14 DM des dort Absicht der SPD-Fraktion im Bundestag sein, beste- gezahlten Stundenlohns von 23 DM — ein echtes hende Tarifvereinbarungen zu unterwandern. Schnäppchen für die Intron GmbH. Die Frage ist nur: Der Gesetzentwurf, den Sie hier vertreten, Was geschieht mit diesen Geldern? Schafft Intron erschwert die Überbrückung von Auftragslücken in dafür zukunftsträchtige Arbeitsplätze in der Region den neuen Bundesländern und erschwert den Anpas- Dömitz für Fachkräfte, die sich inzwischen im Westen sungsprozeß in der ostdeutschen Indus trie, wie ich weiterqualifizieren konnten, oder aber wird über eingangs schon erwähnte. diese Form der Leiharbeit das Ausbluten ganzer ostdeutscher Regionen fortgesetzt? Und was bewirken (Manfred Reimann [SPD]: Hat die FDP noch die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter aus Dömitz nichts von Wettbewerbsverzerrung gehört?) — Ost — bei Matsushita in Lüneburg — West —, Er würde ein Ventil öffnen, Kollege Reimann, das befördern sie etwa den Trend in westdeutschen nicht nur, wie schon angedeutet, die Tarifvereinba- 5990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Heinz Werner Hübner rungen unterläuft, sondern auch noch einen Unter- Benachteiligungen betrifft, die Sie heraufbeschwö- schied zwischen Ost und Ost innerhalb des gleichen ren. Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß Betriebes hervorruft, weil sich der Arbeitnehmer, der Vertragsfreiheit besteht und der Arbeitsvertrag zwi- im Osten arbeitet, während sein Kollege im Westen schen dem Verleiher und den Leiharbeitnehmern aus dem gleichen Betrieb mehr verdient, sagt: Ich geschlossen wird. gehe auch hinüber. — Dann verschwinden wieder Es werden dem Entleiher in Ihrem Entwurf Pflichten Arbeitsplätze. auferlegt, die er bei Anwendung der notwendigen Ein weiterer Einwand muß gestattet sein, was die Gewissenhaftigkeit nicht erfüllen kann — von den Regelungen betrifft, die praktisch einen gesetzlichen Schwierigkeiten gerade in dem Zusammenhang, die Mindestlohn festlegen, was wiederum nicht dem Ihr Gesetzentwurf z. B. für die Handwerksbetriebe im Grundsatz der Tarifautonomie und der Sozialen Osten hervorrufen würde, ganz zu schweigen. Marktwirtschaft entspricht. Aber auch im Bereich der Qualifikation begegnen wir dem Entwurf mit erheblichen Bedenken; denn Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, ostdeutsche Arbeitnehmer verfügen in der Regel über gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rei- gute theoretische Kenntnisse — das müßten Sie mann? eigentlich wissen — und müssen lediglich praktische Erfahrungen mit modernen Maschinen und mit neuen Heinz Werner Hübner (FDP): Ja, bitte. Arbeitsformen sammeln. Verleiher und Werkvertragsunternehmen in Ost- Manfred Reimann (SPD): Herr Kollege Hübner, da deutschland würden durch Ihren Gesetzentwurf einen Sie als FDP-Abgeordneter so großen Wert auf liberale Teil der gerade gewonnenen Freiheit der Dienstlei- Marktwirtschaft legen, frage ich Sie: Was würden Sie stungen über diesen früheren Stacheldrahtzaun hin- denn sagen, wenn ein Unternehmer aus den neuen weg verlieren. Sie würden den Wettbewerbsvorteil Ländern auf Grund seiner niedrigeren Tarifgestaltung — ich wiederhole das, Kollege Reimann — eines ost- — ich würde jetzt einmal von Lohndumping sprechen deutschen Unternehmens einbüßen, nämlich derzeit — einen Unternehmer aus den alten Ländern, der noch niedrigere Arbeitskosten anbieten zu können, unsere Tariflöhne zahlen muß, bei einer Ausschrei- damit sie erhalten bleiben. Darum muß es uns doch bung aus dem marktwirtschaftlichen Rennen wirft gemeinsam gehen. und der daraufhin in den alten Ländern Entlassungen vornehmen muß, weil der Unternehmer in den neuen (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie sind der größte Ländern so billig arbeitet? Was würden Sie als FDP- Marktwirtschaftler aller Zeiten!) Mann dazu sagen? Unsere Betriebe in Thüringen, in Sachsen und in den anderen neuen Bundesländern wären durch Ihre Heinz Werner Hübner (FDP): Das, Kollege Reimann, Regelung faktisch am stärksten betroffen und im kann gerade nicht passieren, weil die zur Zeit einzige Grunde genommen nicht mehr konkurrenzfähig. - Möglichkeit für ostdeutsche Be triebe, sich zu halten, (Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt doch über- über den Preis gestaltet wird. Und das ist mit Leihar- haupt nicht! — Ottmar Schreiner [SPD]: Das beitern durchaus möglich. sieht sogar der Lambsdorff anders!) (Manfred Reimann [SPD]: Aber eine Wettbe Die Tatsache, daß Ihr Gesetz sofort nach Verkün- werbsverzerrung!) dung in Kraft treten soll, ist einmal im Hinblick auf — Das ist keine Wettbewerbsverzerrung, sondern das schon bestehende Vertragsbedingungen und Ge- ist eine Ausnahmesituation, von der auch Sie konkret schäftsbeziehungen nicht praktikabel. Zum anderen sprechen. soll dieser Gesetzentwurf als Gesetz nach wenigen Wir sehen hier keinen Handlungsbedarf, zumal es Jahren außer Kraft treten. Das zeigt Ihr geringes sich, wie ich sagte, um eine Ausnahmesituation, um Zutrauen zum eigenen Gesetzentwurf. ein Übergangsproblem handelt. In einem Punkt (Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist Unfug! — jedoch ist den Verfassern dieses Gesetzentwurfes Konrad Gilges [SPD]: Herr Hübner, Sie sind zuzustimmen, Herr Kollege Schreiner: Es besteht doch sonst ein vernünftiger Mensch!) Handlungsbedarf, aber nicht im Sinne des Gesetzent- wurfs, sondern in Richtung auf mehr Flexibilität und Summa summarum: Der Entwurf erscheint uns eine sachgerechte Abgrenzung zwischen Werkverträ- erstens unausgegoren und halbherzig, vor allem gen und Arbeitnehmerüberlassungen. jedoch wenig durchdacht. Er nimmt zweitens keiner- Wir müssen dem Gesetzentwurf auch entgegenhal- lei Rücksicht auf die noch bestehenden Unterschiede ten, daß er wohl auf einer Überschätzung der legalen in West- und Ostdeutschland. Drittens wird verkannt, daß es hier auch und besonders um Chancen für Leiharbeit beruht, der Mitte des Jahres 1990 nur etwa ein halbes Prozent der Beschäftigten im Westen einzelne Unternehmen und die ostdeutsche Wirt- Deutschlands nachging. § 1 Ihres Gesetzentwurfes schaft im gesamten geht. Viertens müssen gerade im z. B. sieht die Unwirksamkeit des Vertrages zwischen Hinblick darauf für wenige Jahre gewisse — unseres Verleiher und Leiharbeitnehmer bei einem auffälli- Erachtens jedoch geringfügige — Nachteile akzep- gen Mißverhältnis von 20 % vor. Hier sei Ihrer Mei- tiert werden, gerade im Interesse der Be triebe, die wir nung nach ein Eingriff in die Vertragsfreiheit notwen- erhalten wollen. dig, um Wettbewerbsverzerrungen durch unter- Im Verhältnis zu diesen geringfügigen Nachteilen, schiedliches Lohnniveau und soziale Spannungen zu insbesondere auch im Hinblick auf die Bedeutung der unterbinden. Es sind hehre Absichten, was die legalen Leiharbeit für die Gesamtwirtschaft, sind die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5991

Heinz Werner Hübner schwerwiegenden Eingriffe in bewährte Grundsätze 1989/90 mit 125 000 Arbeitnehmern zu tun haben, die der Sozialen Marktwirtschaft, etwa Tarifautonomie von Leiharbeitsfirmen vermittelt worden sind, so ist und freier Wettbewerb des Marktes, zu sehen. Über- heute festzustellen, daß über 600 000 Menschen aus vater Staat kann sich auch hier nicht so reinhängen, den neuen Ländern — mit steigender Tendenz — in wie Sie sich das vorstellen. den alten Ländern ihre Beschäftigung suchen. Da Dieser Gesetzentwurf würde für die betroffenen kann ich nur sagen: Da gibt es eine große Grauzone; es Unternehmen weniger den Aufschwung Ost als mehr ist eine weitaus höhere Zahl anzunehmen. Im übrigen den Abschwung Ost bedeuten. Diese wesentliche hat sich die Bundesregierung auch dann darum zu Erkenntnis zwingt uns, diesem Entwurf auf keinen kümmern, wenn es sich nur um 10 000 handelt, die Fall unsere Zustimmung zu geben. Es sind untaugli- ungerecht behandelt werden. Das kann m an doch che Versuche, wenn man noch bestehende Unter- nicht zur Seite schieben; das ist doch nicht in Ord- schiede künstlich beseitigen will, indem man diese nung! Unterschiede selbst forciert, vergrößert und aufbläht. (Beifall bei der SPD) Von staatlichen Eingriffen haben wir im Osten genug. Wo sie vermeidbar sind — hören Sie genau zu! —, wo Darum sage ich: Der Gesetzentwurf des Bundesra- der Staat so wenig wie möglich eingreifen muß, dort tes ist zu begrüßen. Es ist ja schlimm genug, über kann die Marktwirtschaft wirken — unter Zuhilfe- Lohndumping sprechen zu müssen. Das müssen wir nahme dieser staatlichen Eingriffe, aber nur als Hilfs- bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage, meine mittel. Diese müssen so gering wie möglich sein und Damen und Herren! einen Anstoß für eine gut funktionierende Marktwirt- schaft geben, Selbstverständlich haben wir eine Reihe von Erfah- rungen mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. (Konrad Gilges [SPD]: Lieschen Müllers Vor Wir haben es 1972 novelliert und mit Bußgeldvor- stellung von der Marktwirtschaft!) schriften verschärft. Das hat alles nicht ausgereicht, so die dann auch sozial sein kann und sozial sein wird. daß die Sozialdemokraten auf ihren Parteitagen Herr Gilges, wir werden über diese Fragen sicher- beschlossen haben: Dies kann überhaupt kein lich noch ausführlich diskutieren. Unterlassen Sie also brauchbares Instrument zur Vermittlung von Arbeit- die Fortsetzung des alten Feldzuges gegen das Arbeit- nehmern sein; wir können gut und gerne auf dieses nehmerüberlassungsgesetz! Gesetz verzichten und lehnen es im Grundsatz ab. (Konrad Gilges [SPD]: Da müssen Sie doch (Beifall bei der SPD) die Handwerksordnung ändern!) Darum bitte ich, diesen Entwurf nicht einfach pau- Fordern Sie statt dessen mit uns gemeinsam den DGB schal abzulehnen, sondern sich dem Problem tatsäch- auf, Tarifverträge zum Arbeitnehmerüberlassungsge- lich zu stellen; denn Sie müssen zwei Dinge beden- setz abzuschließen. Das wäre vielleicht eine Möglich- ken: keit, sich zu treffen. Recht vielen Dank. Die Wanderungsbewegungen aus dem südöstli-- chen und östlichen Europa werden sich, ob wir das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wollen oder nicht, massiv verstärken. Es wird findige Leute geben, die sich Unternehmer nennen — wir verurteilen ja nicht sämtliche Unternehmer, sondern Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: einschlägig findige —, die versuchen, sich über ille- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hans gale Maßnahmen dieser Arbeitnehmer zu bemächti- Eberhard Urbaniak das Wort. gen, um sie über dubiose Verträge in Beschäftigung zu bringen, und die Leute glauben, dies sei alles in Ordnung. Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Das zweite, was ab 1993 auf uns zukommt, wird der Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unter- Binnenmarkt sein. Dabei gibt es ein Leitmotiv, näm- stützt diesen Gesetzentwurf des Bundesrates lich freier Warenhandel. Davon, daß soziale Flankie- (Julius Louven [CDU/CSU]: Da sind wir aber rung, Rechte der Betriebsräte, Einflüsse der Gewerk- überrascht!) schaften und ein großer Konsens gleichwertig dane- und dankt vor allen Dingen Minister Heinemann, daß bengestellt werden, ist in der Europäischen Gemein- er ihn vorangebracht hat. schaft überhaupt nichts erkennbar; das wird doch geradezu sabotiert. Dies kann natürlich dazu führen, (Beifall bei der SPD) daß der soziale Konsens der eigentlich den Aufbau Wir haben es hier mit einem Mißstand zu tun, der unserer Demokratie herbeigeführt hat und der durch den Staat und das Parlament natürlich herausfordert. Gewerkschaften und tüchtige Arbeitnehmer und Die aufgeworfenen Punkte, die Arbeitnehmer betref- natürlich auch durch weitschauende Unternehmer fen und die Arbeitgeber über illegale Maßnahmen zustande gekommen ist, in Gefahr kommt. reicher machen, müssen aufgegriffen und die Schlupf- löcher geschlossen werden. (Julius Louven [CDU/CSU]: Und durch weit- schauende Christdemokraten! — Ottmar (Beifall bei der SPD) Schreiner [SPD] zu Abg. Julius Louven Dies ist bisher trotz aller Maßnahmen, Appelle und [CDU/CSU] gewandt: „Weitschauende Darstellungen nicht gelungen. Wenn die Bundesre- Christdemokraten" ist ein Widerspruch in gierung in ihrer Gegendarstellung feststellt, daß wir es sich!) 5992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Hans-Eberhard Urbaniak Wenn der in Gefahr gerät, dann sehe ich ganz große dem wir Politiker gerade in Tariffragen eingreifen Probleme auf uns zukommen. Dieser Frage müssen sollen. Sie sich selbstverständlich ebenfalls stellen, meine Damen und Herren; das ist gar nicht anders zu (Konrad Gilges [SPD]: Ihr haltet euch nicht machen. zurück! Ihr mischt euch doch immer in die Tarifauseinandersetzung ein!) Wir treten daher dafür ein — das ist im Gesetzent- wurf konkret vorgesehen —, daß die Mitbestim- — Diese Frage werde ich im Verlauf meiner Ausfüh- mungsrechte der Betriebsräte ausgebaut werden, um rungen gerne beantworten. sich dieses Problems tatsächlich konstruktiv anneh- men zu können. (Ottmar Schreiner [SPD]: Sagen Sie das Ihrem Freund Möllemann!) Es ist leider wohl auch notwendig, daß die Bußgeld- vorschriften stärker ausgebaut werden, weil die Leute Vielleicht geht es den Initiatoren des Gesetzent- einfach nicht davon abzubringen sind, sich auf diesem wurfes im Kern eben nicht um Tariffragen, sondern Felde illegal zu bewegen. schlicht und einfach darum, die legale Arbeitnehmer- Daher bitten wir Sie, sich bei den Ausschußberatun- überlassung ganz generell zurückzuschrauben oder gen mit der Bundesratsinitiative ernsthaft zu beschäf- möglichst ganz zu verhindern. tigen. Denn sie gründet sich auf Erfahrungen, die gerade bei Kontrollen und Nachprüfungen durch die Initiator des Gesetzentwurfs ist das SPD-regierte Gewerbeaufsicht in den Ländern gemacht worden Bundesland Nordrhein-Westfalen. Wenn man den sind. Kontrollen, die die Mißstände nach oben gespült Gesetzentwurf liest, merkt man sofort, daß der DGB haben. Wenn die Landesregierungen — und hier dabei Pate gestanden hat. Nordrhein-Westfalen an der Spitze — das dann vor- (Konrad Gilges [SPD]: Die geheime Macht! anbringen, kann man das doch wohl nur begrüßen. — Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Was Dies tun wir als Sozialdemokraten ausdrücklich; das haben Sie gegen den DGB?) will ich hier noch einmal sagen. Das Problem der Leiharbeiter wird nicht, so wie die Bundesregierung Das allein, meine lieben Kollegen, wäre als solches es sagt, gemessen an dem Bereich der Gesamtbe- jedoch noch nicht unanständig. Schlimm ist jedoch, schäftigten, eine bedeutungslose Rolle spielen; durch daß der DGB Schritte zum generellen Verbot der die Problematik der Wanderungsbewegungen und Leiharbeit einfordert der europäischen Einigung wird dies vielmehr noch eine größere Dimension annehmen. (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: DGB ist Daher ist Handlungsbedarf angesagt. Wir unterstüt- immer besser als Deutsche Bank, Herr Kol- zen hierbei den Bundesrat. Dem Handel mit Leihar- lege!) beitern neuen Auftrieb zu geben, wäre eine ganz und daß dieser Gesetzentwurf ein Schritt in diese schlechte Sache. Dies ist ein verwerflicher und sehr Richtung sein soll, obwohl das Bundesverfassungsge- unsittlicher Vorgang. richt bereits im Jahr 1967 das bis dahin bestehende Ich glaube, was die Frage des sozialen Konsenses Verbot der Arbeitnehmerüberlassung aufgehoben angeht, gibt es in diesem Hause keinen Unterschied. hat, weil es gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit Wir werden daher in den Plenar- und Ausschußbera- verstößt. tungen alle Möglichkeiten nutzen, um auf diesem Felde voranzukommen und den Entleihern, die sich Mit dem Verbot der Arbeitnehmerüberlassung für unkorrekt, ja strafrechtlich relevant verhalten, mit den Baubereich, wie es das AFG bekanntlich regelt, diesem Gesetz entscheidend entgegenzutreten. ist der DGB wohl nicht zufrieden. Statt dessen soll nun mit dieser Bundesratsinitiative die Arbeitnehmer- Ich hoffe, daß Sie uns und den Bundesrat dabei überlassung so erschwert und urpraktikabel gemacht unterstützen. Noch einmal: Schönen D ank, lieber werden, daß ein Quasi-Verbot auf dem Umweg Hermann Heinemann! erreicht wird. Statt mit Phantasie alle Möglichkeiten (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke auszuschöpfen, Arbeitsplätze und Beschäftigung zu Liste) ermöglichen, sollen sie hier mit starrer Kolonnenmen- talität unterbunden werden.

(Zustimmung bei der FDP) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als letztem Redner in dieser Bezeichnenderweise trugen die ersten Entwürfe Debatte unserem Kollegen Dr. Peter Ramsauer das von Nordrhein-Westfalen, Herr Minister Heinemann, Wort. die Bezeichnung „Gesetz zur Bekämpfung von sozial- schädlicher Arbeit". Diese verräterische und eigenar- tige Bezeichnung — ich frage mich auch, was „sozial- schädliche Arbeit" eigentlich sein soll — wurde dann Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! in die allerdings auch nicht sehr viel bessere Bezeich- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es verwun- nung „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von dert mich schon etwas, daß ausgerechnet in der Lohndumping" umgewandelt. derzeitigen tarifpolitischen Auseinandersetzung, bei der die Gewerkschaften von uns Politikern Zurückhal- Als Dumping definiert der Duden eine „Preisunter- tung fordern, ein Gesetzentwurf diskutiert wird, mit bietung auf Auslandsmärkten mit dem Ziel, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5993

Dr. Peter Ramsauer Machtstellung der ausländischen Konkurrenz zu bre- eingeführt. Vom 1. Januar 1996 an werden es wieder chen". drei Monate sein. Die Begrenzung der Einsatzdauer beim Entleiher verhindert also, daß Dauerarbeits- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Gucken Sie plätze mit Leiharbeitnehmern besetzt werden. mal in den Brockhaus! Da müssen Sie mehr lesen!) Im übrigen wird auch der Umfang der legalen Übertragen auf das vorliegende Problem muß ich klar Leiharbeit offensichtlich weit überschätzt. Nur ganze feststellen, daß von Preisunterbietungen für den Pro- 0,55 % aller sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- duktionsfaktor Arbeit mit dem Ziel, die Machtstellung gungsverhältnisse sind solche von Leiharbeitneh- anderer Anbieter von Arbeitskraft, also anderer mern. Arbeitnehmer, zu brechen, überhaupt nicht die Rede Der Gesetzentwurf begründet den mit ihm verbun- sein kann. Allenfalls sieht der DGB selbst sein Macht- denen gestaltenden Eingriff in die Vertragsfreiheit monopol in manchen Bereichen gefährdet, und in die Tarifautonomie damit, daß einer Benach- ( [SPD]: Eine richtig antige teiligung der Arbeitnehmer, die zufällig an einem Ort werkschaftliche Rede!) leben, an dem wesentlich schlechtere Wirtschaftsbe- dingungen als am Einsatzort herrschen, vorgebeugt was aber für sich genommen kein entscheidungsrele- werden muß. vanter Faktor für arbeitsmarktpolitische und arbeits- marktrechtliche Fragen sein kann. Ansonsten - so die Begründung des Gesetzent wurfs — „entstehen Arbeitnehmer unterschiedlicher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Klassen". Ganz abgesehen davon, daß damit wieder der FDP) einmal von abgedroschenem, altem, untauglichem Angesicht dieses Machtmonopols hat Helmut Vokabular marxistischen Klassendenkens Gebrauch Schelsky einem bekannten Aufsatz einmal die gemacht wird, berechtigte Frage als Überschrift gegeben: „Wer schützt die Arbeiter vor den Funktionären?" (Ottmar Schreiner [SPD]: Wie lange gibt es in Bayern den DGB?) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Ist das zum das sich bekanntlich als Irrtum und zu Lasten jedes Lachen? Sind auch die Be triebsräte Funktio wirklich arbeitenden Menschen herausgestellt hat, näre?) wären demnach fast alle Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern Arbeitnehmer zweiter Klasse, denn Quelle ist der „Rheinische Merkur — Christ und Welt" die Tarifvereinbarungen sehen nun einmal im allge- vom September 1982. meinen vor, daß ein Lohngleichstand im Verhältnis (Abg. Hans-Eberhard Urbaniak [SPD] mel 1 : 1 etwa erst im Jahr 1994 erreicht werden wird. det sich zu einer Zwischenfrage) (Ottmar Schreiner [SPD]: Es klappert die — Um Ihre Frage gleich vorweg zu beantworten: Ich Mühle am rauschenden Bach!) - lasse Ihre Zwischenfrage nicht zu, denn erstens würde das die Debatte nur verlängern Solange dies jedoch nicht der Fall ist, werden die Ostlöhne mehr oder weniger hinter den Westlöhnen (Julius Louven [CDU/CSU]: So ist es!) herhinken. und zweitens haben sich, wie Sie sehen, schon die ersten Kollegen aus dem Plenum verabschiedet. (Ottmar Schreiner [SPD]: Es klappert die Mühle immer noch!) (Heiterkeit — Manfred Richter [Bremerha ven] [FDP]: Das ist wohl der Euphemismus Diese tüchtigen Arbeitnehmer, die heute und in den des Jahrhunderts!) kommenden Jahren am Aufblühen der neuen Bun- desländer entschiedenen Anteil haben werden, aus Bitte verzichten Sie deshalb auf die Zwischenfrage. diesem Grunde als Arbeitnehmer zweiter Klasse zu Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nun ist bezeichnen, ist eine Diskriminierung, die ich entschie- aber in der Tat nicht zu verkennen, daß eine Arbeit- den zurückweise. nehmerüberlassung, bei der der Leiharbeitnehmer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein Arbeitnehmer des Verleihers ist und deshalb von diesem auch den Lohn bezieht, die Gefahr in sich Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann wohl kein birgt, daß Tarifverträge umgangen werden. Zweifel daran bestehen, daß eine moderne arbeits- (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie predigen den teilige Volkswirtschaft Arbeitnehmerüberlassung letzten Beter aus der Kirche, mein lieber braucht, um vorübergehenden Arbeitskräfteausfall Mann!) und teilweisen Expertenmangel schnell ausgleichen zu können. Deshalb sieht das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aber auch vor, daß die Einsatzzeit ein und desselben Auf der anderen Seite können Arbeitsplätze bei Leiharbeitnehmers bei ein und demselben Entleiher vorübergehendem Beschäftigungsmangel aber auch sechs Monate nicht überschreiten darf. erhalten bleiben, wenn die Arbeitnehmer als Leihar- beitnehmer eingesetzt werden können. Deshalb (Ottmar Schreiner [SPD]: Da sollte man nicht weise ich es auch zurück, wenn legale Arbeitnehmer- wählerisch sein!) überlassung als „sozialschädliche Arbeit" bezeichnet Diese Sechs-Monats-Frist wurde durch die beiden und versucht wird, sie mit dem vorliegenden Gesetz- Beschäftigungsförderungsgesetze von 1985 und 1990 entwurf unpraktikabel zu machen. Die Gesetzesinitia- 5994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Dr. Peter Ramsauer tive kann deshalb gut und gern als trojanisches Pferd Die schlichte politische Vernunft spricht aber auch bezeichnet werden, gegen diesen Gesetzentwurf. SPD-Altbundeskanzler forderte bei dem renommierten Ber- (Julius Louven [CDU/CSU]: Richtig!) gedorfer Gesprächskreis vor wenigen Tagen sogar da unter einem raffinierten Deckmantel ein massiver Null-Runden bei den Tarifverhandlungen im Rahmen Angriff auf die Arbeitnehmerüberlassung im speziel- seines Modells einer konzertierten solidarischen len und auf die Tarifautonomie im allgemeinen Aktion, damit die wirtschaftliche Aufholjagd des gestartet wird. Ostens gelinge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn m an (Ottmar Schreiner [SPD]: Er hat noch einiges Verständnis für die Ansicht der DGB aufbringen kann, anderes gesagt!) daß das, was hier unbeholfen als Lohndumping Auch diesem Vorschlag von Helmut Schmidt steht die bezeichnet wird, verhindert werden sollte, ist es doch Absicht dieses Gesetzentwurfs völlig entgegen. unverständlich, daß vom DGB bisher noch nicht ver- sucht worden ist, dieses Problem selbst anzugehen. Es Das Kieler Institut für Weltwirtschaft mahnt mit der wäre beispielsweise Sache der Tarifparteien, selber Überschrift: „Lohnzurückhaltung schafft Arbeits- zu überlegen, ob nicht bei einer Arbeitnehmerüber- plätze" . Der Gesetzentwurf wäre genau das Gegenteil lassung der entleihende Arbeitgeber Zuschläge an einer solchen Zurückhaltungsstrategie. Er würde sich den entliehenen Arbeitnehmer zahlen soll, wenn die vielmehr in die blinden Versuche einreihen, bei den Tarife im Entleiherbetrieb sonst unterschritten wür- Arbeitskosten unter allen Umständen hinaufzuren- den. nen, koste es, was es wolle. Dieselben Leute, die heute dieses blinde Hinaufschrauben fordern, stimmen mor- Auch könnten Be triebsräte, die nach dem Arbeit- gen das laute Klagelied an, wenn es bei der Zunahme nehmerüberlassungsgesetz vor dem Tätigwerden der Beschäftigung in den neuen Bundesländern und eines Leiharbeitnehmers vom Entleiher beteiligt wer- in der Bundesrepublik insgesamt nicht so vorwärts den müssen, dafür sorgen, daß der entleihende geht, wie sie zu fordern vorgeben. Betrieb einen finanziellen Ausgleich an den Leihar- beitnehmer gewährt, wenn dies gerechtfertigt ist. Nüchtern weisen die Wissenschaftler des Kieler Instituts darauf hin, daß in den Jahren von 1988 bis (Ottmar Schreiner [SPD]: Wir wollen jetzt 1990 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze nur dadurch Feierabend machen!) geschaffen werden konnten, weil der Nominallohnan- stieg um durchschnittlich 3 Prozentpunkte hinter dem Deshalb meine ich, daß schon mit ein bißchen Tarif- Zuwachs des Volkseinkommens zurückgeblieben phantasie bei den Gewerkschaften und den Arbeit- ist. nehmervertretungen der vorliegende Gesetzentwurf gänzlich überflüssig wäre — ein Gesetzentwurf, der Der Gesetzentwurf würde genau das Gegenteil zudem für die deutsche Wirtschaft unpraktikabel ist dieses Rezepts bewirken. Wirklich soziale Politik, und den Arbeitnehmern selbst schadet. meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich eben nicht darin, daß die Arbeitskosten in Kolonnen- (Ottmar Schreiner [SPD]: Jetzt reicht's! mentalität nach oben nivelliert und arbeitswillige Schluß!) Menschen dadurch künstlich vom Arbeitsmarkt aus- geschlossen werden, sondern darin, daß diese Men- Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß das schen mit Vernunft und Augenmaß im Arbeitsmarkt Lohngefälle von West- nach Ostdeutschland ein allge- eingebunden werden. meines Problem ist (Beifall bei der FDP) (Ottmar Schreiner [SPD]: Ihre Rede ist ein besonderes Problem!) Es geht auch nicht an, daß wir auf der einen Seite mit Phantasie und arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und die Tätigkeit von Arbeitnehmern aus Ostdeutsch- wie AB-Maßnahmen, Fortbildung, Umschulung und land im Westen auch ausdrücklich ein Motiv für den Vorruhestand versuchen, die arbeitsmarktliche und Gesetzentwurf bildet. Die Bundesregierung hat des- soziale Lage in den neuen Bundesländern im Griff zu halb mit ihrer Feststellung recht, daß mit dem Gesetz- halten und damit die größte Herausforderung in entwurf Arbeitnehmern aus den neuen Bundeslän- unserem Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu dern eine Chance genommen wird, in der schwierigen meistern, jedoch auf der anderen Seite diese Bemü- Aufbauphase eine Arbeit zu bekommen. hungen mit einem solchen Gesetzentwurf torpedie- ren. (Beifall des Abg. Julius Louven [CDU/ CSU]) (Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist der lebende Beweis: Dummheit ist grenzenlos! — Zuruf Die Presse der letzten Tage strotzt von Bekenntnis- von der FDP: Hart an der Grenze!) sen von Politikern jeder Couleur, alles zu tun, um den arbeitsmarktlichen Aufschwung im Osten zu schaf- In der Tat mag es Fälle geben, in denen östliche fen. So fordert beispielsweise Ihre Kollegin, Frau Leiharbeitnehmer in westlichen Betrieben de facto zu Matthäus-Maier, bei Bundeskanzler Kohl eine kon- etwas niedrigeren Löhnen tätig sind, als dies Bran- zertierte Aktion ein. Denn, so die Kollegin Matthäus- chen- oder ortsüblich ist. Als wesentlich ist dabei aber Maier in einem Inte rview der Münchner „Abendzei- festzuhalten, daß dieser sonst möglicherweise im tung", die „schlichte politische Vernunft" verlange, Osten arbeitslose Arbeitnehmer dennoch einen alle Beteiligten an einen Tisch zu holen. Arbeitsplatz hat, weil hier der ansonsten völlig starre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5995

Dr. Peter Ramsauer Arbeitsmarkt etwas gelockert ist und an Funktionsfä- Schein abgeschlossen werden, verschleiert werden higkeit hinzugewonnen hat. soll. Das wäre aber auch bei einem Verbot der Arbeitnehmerüberlassung der Fa ll. Daran könnte Ein Problem liegt darin, daß bislang die Rechte auch der Gesetzentwurf nichts ändern. eines einzelnen Arbeitslosen auf Vereinbarung von Arbeitsbedingungen, die seinen Wünschen entspre- Ich möchte festhalten, daß der Titel und die angeb- chen und ihm auch einen Arbeitsplatz sichern wür- liche Intention des Gesetzentwurfs vorgeschoben den, den kollektiven Interessen in jedem Fall unter- sind, um das eigentliche Fernziel einer restlosen geordnet werden. Beseitigung der Arbeitnehmerüberlassung auf die- sem Umweg anzugehen. Weder den von Arbeitslosig- (Ottmar Schreiner [SPD]: Was wollen Sie uns keit betroffenen Menschen noch unserer dynami- eigentlich sagen?) schen Wirtschaft wäre damit gedient. Gerade in der schwierigen Phase des Aufbaus in den neuen Bundes- Eine derartige kollektive Zwangsregelung enthält ländern und des wirtschaftlichen und sozialen Zusam- auch der vorliegende Gesetzentwurf. menwachsens

Im Mittelpunkt unseres politischen Interesses, liebe (Julius Louven [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Kolleginnen und Kollegen, dürfen jedoch in der wäre ein solches Gesetz mehr Hindernis als Hilfe. augenblicklichen Lage weniger dera rtige nivellie- rende Kollektivregelungen als Selbstzweck stehen. (Zuruf von der FDP: So ist das!) Mittelpunkt unserer Bemühungen muß vielmehr der Bei allem Verständnis für die Belange der Leih- Arbeitssuchende sein, dem eine faire Beschäftigungs- arbeitnehmer, die eines besonderen Schutzes bedür- chance gegeben werden muß. fen, werden die weiteren Erörterungen zeigen, daß mit diesem Gesetzentwurf der falsche Weg beschrit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten wird. der FDP) Für die Fraktion der CDU/CSU lehne ich deshalb Dem Individualrecht auf Sicherung von Erwerbs- diesen Gesetzentwurf ab. Wir stimmen jedoch einer chancen steht dieser Gesetzentwurf diametral entge- Überweisung an die Ausschüsse zu. gen. Die Initiatoren des Gesetzentwurfs müssen sich (Ottmar Schreiner [SPD]: Sehr freundlich! — deshalb den Vorwurf gefallen lassen, daß sie mit Rudolf Bindig [SPD]: Ein verblüffendes ihrem Vorstoß Arbeitssuchende in den neuen Bundes- Ergebnis!) ländern eher ausbooten als einbinden und ihre hehren Worte von der Solidarität bei der Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands nichts als bloße Sonntagsreden sind. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Eine Klarstellung ist erforderlich: Der Gesetzent- ten Damen und Herren, wir sind am Schluß der wurf behandelt die legale und nicht die illegale Aussprache. Arbeitnehmerüberlassung. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- entwurfs auf der Drucksache 12/1060 an die in der (Ottmar Schreiner [SPD]: Darf der immer Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- noch reden?) gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung Eine ill egale Arbeitnehmerüberlassung wäre eine so beschlossen. solche ohne die Verleiherlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit. Gegen diese illegale Arbeitnehmerüber- Meine Damen und Herren, wir sind damit am lassung schreitet die Bundesanstalt für Arbeit ohnehin Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe ein, und zwar auch, soweit es sich um einen Verleih die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages aus den neuen Bundesländern in die alten Bundeslän- auf morgen, Freitag, den 17. Januar 1992, 9 Uhr. der handelt. ein. Die Sitzung ist geschlossen. Es trifft zu, daß in manchen Fällen i llegale Arbeit- nehmerüberlassung durch Werkverträge, die nur zum (Schluß der Sitzung: 20.46 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5997*

Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Abgeordnete(r) entschuldigt bis Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Thiele, Carl-Ludwig FDP 16. 01. 92 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Dr. Vogel, Hans-Jochen SPD 16. 01. 92 einschließlich Voigt (Frankfurt), SPD 16. 01. 92 Bohl, Friedrich CDU/CSU 16. 01. 91 Karsten D. Braband, Jutta PDS/LL 16. 01. 92 Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 16. 01. 92 Brähmig, Klaus CDU/CSU 16. 01. 92 Vosen, Josef SPD 16. 01. 92 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 16. 01. 92 Weis (Stendal), Reinhard SPD 16. 01. 92 Büchler (Hof), Hans SPD 16. 01. 92 ' Weiß (Berlin), Konrad BÜNDNIS 16. 01. 92 Doppmeier, Hube rt CDU/CSU 16. 01. 92 90/GRÜNE Eich, Ludwig SPD 16. 01. 92 Wollenberger, Vera BÜNDNIS 16. 01. 92 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 16. 01. 92 * 90/GRÜNE Friedhoff, Paul FDP 16. 01. 92 Zurheide, Burkhard FDP 16. 01. 92

Gallus, Georg FDP 16. 01. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Gattermann, Hans H. FDP 16. 01. 92 lung des Europarates Dr. Glotz, Peter SPD 16. 01. 92 Grünbeck, Josef FDP 16. 01. 92 Günther (Plauen), FDP 16. 01. 92 Anlage 2 Joachim Antwort Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 16. 01. 92 Haack (Extertal), SPD 16. 01. 92 der Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger auf die Karl-Hermann Fragen des Abgeordneten Hans-Günther Toete- Haschke CDU/CSU 16.01.92 meyer (SPD) (Drucksache 12/1912 Fragen 39 und (Großhennersdorf), 40): Gottfried Ist die Bundesregierung darüber informiert, daß die Arbeit der Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 16. 01. 92 Beratungsstelle für private Träger in der Entwicklungszusam- menarbeit, der einzigen Beratungsstelle, welche Nichtregie- Henn, Bernd fraktionslos 16. 01. 92 rungsorganisationen bei der Beantragung von Mitteln beim Hintze, Peter CDU/CSU 16. 01. 92 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit bera- Dr. Hoffacker, Paul tend zur Seite steht, durch das Ausscheiden des ehemaligen CDU/CSU 16. 01. 92 Leiters sowie eines weiteren Mitarbeiters gefährdet ist, und sind Iwersen, Gabriele SPD 16. 01. 92 ihr die Gründe für diesen plötzlichen Personalnotstand Jaunich, Horst SPD 16. 01. 92 bekannt? Dr. Kappes, CDU/CSU 16. 01. 92 Wie stellt sich die Bundesregierung die weitere Arbeit dieser Franz-Hermann bis zum heutigen Tag sehr erfolgreich wirkenden Stelle vor, und Kastner, Susanne SPD 16. 01. 92 welche konkreten Maßnahmen gedenkt sie hinsichtlich der weiteren Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisatio- Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 16. 01. 92 nen zu unternehmen? Kraus, Rudolf CDU/CSU 16. 01. 92 Kubicki, Wolfgang FDP 16. 01. 92 Zu Frage 39: Lamers, Karl CDU/CSU 16. 01. 92 Die Pilotphase der Beratungsstelle für p rivate Trä- Lamp, Helmut Johannes CDU/CSU 16. 01. 92 ger ist zum 31. Dezember 1991 ausgelaufen. Zum Lummer, Heinrich CDU/CSU 16. 01. 92 * gleichen Zeitpunkt endete das Zeit-Arbeitsverhältnis Meinl, Rudolf Horst CDU/CSU 16. 01. 92 des hierfür beurlaubten Beamten. Eine Verlängerung Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 16. 01. 92 der Beurlaubung war aus dienstrechtlichen Gründen Dorothea und personalpolitischen Zwängen nicht möglich, Dr. Müller, Günther CDU/CSU 16. 01. 92* zumal im BMZ z. Zt. mehrere Sachbearbeiterstellen Müller (Pleisweiler), SPD 16. 01. 92 nicht besetzt sind. Der bisherige stellvertretende Lei- Albrecht ter hat ein Angebot über eine Verlängerung seines ebenfalls bis zum 31. Dezember 1991 bef risteten Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 16. 01. 92 Arbeitsvertrages nicht angenommen. Nitsch, Johannes CDU/CSU 16. 01. 92 Die Bundesregierung sieht die Arbeit der Bera- Dr. Probst, Albe rt CDU/CSU 16. 01. 92 * tungsstelle trotz der gegenwärtigen Personalsituation Rawe, Wilhelm CDU/CSU 16. 01. 92 für nicht gefährdet an. Sie geht davon aus, daß in Rempe, Walter SPD 16. 01. 92 nächster Zeit ein Ersatz gefunden wird. Zuständig für Dr. Scheer, Hermann SPD 16. 01. 92 * die Neueinstellung ist der Deutsche Paritätische Schily, Otto SPD 16. 01. 92 Wohlfahrtsverband als Träger der Beratungsstelle. Schmidt (Dresden), Arno FDP 16. 01. 92 Seiler-Albring, Ursula FDP 16. 01. 92 Zu Frage 40: Dr. Semper, Sigrid FDP 16. 01. 92 Die Bundesregierung beabsichtigt aufgrund der Dr. Stavenhagen, Lutz G. CDU/CSU 16. 01. 92 positiven Erfahrungen mit der Beratungsstelle in der 5998* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Pilotphase, die Beratungsstelle weiterzuführen, und Zu Frage 43: zu diesem Zweck eine Vereinbarung mit dem Träger, Ich habe Ihre erste Frage bereits in dem Sinne dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, verneint, daß der Bundesregierung keine entspre- abzuschließen. chenden Erkenntnisse vorliegen. Selbst wenn die Da der Bundesrechnungshof in seinen an den Deut- Meldung zutreffen sollte, könnte nur der Rechtsnach- schen Bundestag gerichteten Bemerkungen zur Haus- folger über solche Guthaben verfügen, nicht aber die halts- und Wirtschaftsführung 1991 empfohlen hat, Bundesregierung. Für die Beschlagnahme von die Beratungsstelle nach der Pilotphase aufzulösen, KPdSU-Guthaben bei deutschen Banken würde die soll die angestrebte Verlängerung der Beratungsstelle Bundesregierung eine rechtliche Grundlage benöti- auf 1 Jahr bis zum 31. Dezember 1992 bef ristet wer- gen, deren Vorliegen im Einzelfall jeweils geprüft den, um der Beschlußfassung des Rechnungsprü- werden müßte. fungsausschusses nicht vorzugreifen.

Anlage 5 Antwort Anlage 3 des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Antwort Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Druck- der Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger auf die sache 12/1912 Frage 44): Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, daß das derzeitige angolanische Regierungsregime mit der Verlei- (CDU/CSU) (Drucksache 12/1912 Frage 41): hung der angolanischen Staatsbürgerschaft an ausländische Wann beabsichtigt die Bundesregierung, die Entwicklungs- Staatsbürger, die sich „während des Krieges um den angolani- hilfezusammenarbeit mit Kroatien aufzunehmen, und wo schen Staat verdient gemacht hätten", erreichen möchte, daß die gedenkt die Bundesregierung dabei Schwerpunkte zu setzen? für September 1992 geplanten Wahlen in Angola zu Gunsten der kommunistischen Herrschaftsclique beeinflußt werden?

Jugoslawien erhielt wegen seines relativ hohen Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse Pro-Kopf-Einkommens mit Ausnahme des Rückkeh- darüber vor, daß die angolanische Regierung durch rerprogramms für jugoslawische Gastarbeiter seit die großzügige Verleihung der angolanischen Staats- 1974 keine Zusagen mehr im Rahmen der Finanziel- angehörigkeit den Ausgang der für September 1992 len und Technischen Zusammenarbeit. Da Kroatien geplanten Wahlen beeinflussen will. Auch den übri- nach Slowenien die reichste Republik des ehemaligen gen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft liegen entspre- Jugoslawiens ist, sind die Voraussetzungen für Ent- chende Erkenntnisse nicht vor. wicklungshilfe somit grundsätzlich nicht gegeben. Die Beseitigung von Kriegsschäden ist nicht der Ob in Einzelfällen die angolanische Staatsangehö- Entwicklungshilfe zuzuordnen. rigkeit an Ausländer verliehen wurde, die auf Seiten der Regierung in den Bürgerkrieg verwickelt waren, Vorgesehen sind jedoch einzelne Maßnahmen im kann die Bundesregierung nicht beurteilen. Rahmen der Hilfe für Mittel- und Osteuropa vor allem im Ausbildungsbereich, sobald nach Beendigung des Bürgerkriegs geeignete Einsatzmöglichkeiten beste- Anlage 6 hen. Dann könnte auch das wegen der kriegerischen Ereignisse ausgesetzte Reintegrationsprogramm wie- Antwort derbelebt werden und in Kroatien zur Anwendung des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des kommen, sofern sich geeignete Rückkehrer finden. Abgeordneten Günter Verheugen (SPD) (Drucksache 12/1912 Fragen 49 und 50): Aus welchen Gründen ist der deutsch-tschechoslowakische Vertrag noch nicht unterzeichnet worden? Anlage 4 Wann gedenkt die Bundesregierung den Vertrag zu unter- zeichnen? Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Der Bundeskanzler hat in seiner Pressekonferenz Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) am 10. Januar 1992 darauf hingewiesen, daß die (Drucksache 12/1912 Fragen 42 und 43): Verträge mit der CSFR und mit Ungarn schon zeitlich in einem gewissen Zusammenhang behandelt werden Treffen Pressemeldungen der Dresdner „Morgenpost am Sonntag" zu, daß die verbotene kommunistische Partei der sollten. Wegen ihrer politischen Bedeutung möchte Sowjetunion über Vertrauensleute ein Milliarden-Vermögen in der Bundeskanzler die Verträge selbst unterzeichnen. den Westen verschoben haben soll? Wie der Bundeskanzler in der Pressekonferenz ange- Falls ja, über welche Möglichkeiten verfügt die Bundesregie- kündigt hat, wird die Unterzeichnung beider Verträge rung, im Rahmen der finanziellen und materiellen Hilfeleistun- in absehbarer Zeit erfolgen. gen für die Sowjetunion diese Guthaben auf westlichen Banken gegebenenfalls zu beschlagnahmen und für die Hilfsleistungen nutzbar zu machen? Anlage 7 Zu Frage 42: Antwort Die Bundesregierung kann die von Ihnen erwähnte des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage Meldung aus eigenen Erkenntnissen derzeit jeden- des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) falls nicht bestätigen. (Drucksache 12/1912 Frage 51): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 5999*

Wie viele Vertriebenenausweise wurden nach dem 2. Welt- Anlage 9 krieg ausgestellt, und inwieweit sind die Heimatvertriebenen, unter Einschluß nach dem Krieg geborener Nachkommen, Antwort statistisch erfaßt? des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Fragen des Abgeordneten Ernst Kastning (SPD) Bis zum 31. Dezember 1990 wurden 9 238 263 Ver- (Drucksache 12/1912 Fragen 54 und 55): triebenenausweise für 11 836 903 Vertriebene ausge- stellt. Davon waren 11 430 596 Heimatvertriebene im Welches sind die Gründe dafür, daß nach den Lohnsteuer Richtlinien für Dienstreisen mit dem p rivaten Kraftfahrzeug Sinne des § 2 des Bundesvertriebenengesetzes. Die zusätzlich zu dem Kilometersatz von 0,52 DM bei Mitnahme Kinder unter 16 Jahren, die in den Ausweis eines weiterer Personen 0,03 DM Mitnahmeentschädigung pro Per- Elternteils eingetragen wurden, sind darin enthal- son/Kilometer berücksichtigt werden? ten. Müßten die Gründe für die Berücksichtigung einer Mitnah- meentschädigung von 0,03 DM pro Person/Kilometer bei Die aus den Vertreibungsgebieten stammenden Dienstreisen mit dem privaten Kraftfahrzeug nicht gleicherma- Personen und ihre Kinder in der Bundesrepublik ßen für die Mitnahme von Werkzeugen und Mate rial ab einem Deutschland wurden zuletzt bei der Volkszählung am zu bestimmenden Gewicht gelten und eine entsprechende 27. Mai 1970 mit 11 193 000 Personen ermittelt. Diese Ergänzung der Lohnsteuer-Richtlinie erfolgen? Zahl deckt sich jedoch nicht völlig mit dem Vertriebe- nenbegriff des Bundesvertriebenengesetzes. Die Zahl Zu Frage 54: der Vertriebenen in den neuen Ländern ist statistisch nicht erfaßt. Die Gewährung einer Mitnahmeentschädigung ist 1984 aus § 6 Abs. 3 Bundesreisekostengesetz in die Lohnsteuer-Richtlinien übernommen worden. Durch sie werden die durch die Mitnahme entstehenden Mehraufwendungen, z. B. für erhöhten Betriebsstoff- verbrauch, abgegolten. Anlage 8 Antwort Zu Frage 55: des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra- Eine dem § 6 Abs. 3 Bundesreisekostengesetz ent- gen des Abgeordneten Dr. Jürgen Schmude (SPD) sprechende Regelung gibt es für die Mitnahme von (Drucksache 12/1912 Fragen 52 und 53): Werkzeug und Mate rial im Bundesreisekostengesetz Was war der Bundesregierung in der Vergangenheit über nicht. Nach einer Verwaltungsanweisung zum Bun- Versuche oder Praktiken der DDR bekannt, Bürger der DDR mit desreisekostengesetz ist jedoch vorgesehen, für z. B. besonders hohen Strafen zu belegen, um daraus beim anschlie- ßenden Freikauf durch die Bundesregierung Vorteile ziehen zu Akten und Arbeitsmaterial eine Entschädigung von können? 0,03 DM je Kilometer zu zahlen, wenn die beförderten Wie hat sich die Bundesregierung in der Vergangenheit davor Gegenstände das Gewicht von 50 Kilogramm über- bewahrt , beim Freikauf politischer Gefangener von der DDR steigen. - dadurch übervorteilt zu werden, daß diese Gefangenen vor allem zur Erzielung höherer Erlöse beim Freikauf zu hohen Eine steuerliche Regelung wurde bisher weder von Strafen verurteilt worden waren? der Arbeitgeberseite noch von der Arbeitnehmerseite gefordert oder vorgeschlagen, so daß bisher kein Zu Fragen 52 und 53: Handlungsbedarf bestand. Versuche oder Praktiken der ehemaligen DDR, ihre aus politischen Gründen inhaftierten Bürger mit besonders hohen Strafen zu belegen, um daraus beim anschließenden Freikauf durch die Bundesregierung Anlage 10 Vorteile ziehen zu können, waren der Bundesregie- rung nicht bekannt. Antwort Bei den von der Bundesregierung zu erbringenden des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Leistungen spielte es auch keine Rolle, ob ein politi- Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) scher Häftling zu einem oder zu fünfzehn Jahren (Drucksache 12/1912 Frage 56): Freiheitsentzug verurteilt worden war. Unterschiedli- Wie ist der Stand der deutsch-tschechoslowakischen Gesprä- che Leistungen gab es in den letzten Jahren nicht. Im che über die Entschärfung der Situation an den Grenzübergän- übrigen ist das durchschnittliche Strafmaß kontinuier- gen entlang der bayerisch-tschechoslowakischen Grenze, und lich gesunken, und zwar von 3 Jahren im Jahre 1975 bis wann ist mit konkreten Verabredungen und Entscheidungen auf 1 Jahr und.6 Monate im Jahre 1989. zu rechnen? Nicht die besonders hoch Bestraften haben der DDR wirtschaftliche Vorteile gebracht, sondern die große Am 29./30. Oktober 1991 hat eine Arbeitsgruppe Zahl von Häftlingen. Die Bundesregierung hat nichts von deutschen und tschechoslowakischen Zollex- unversucht gelassen, diese hohe Zahl zu reduzieren, perten in Budweis beschlossen, die folgenden Sofort- und sie sah sich verpflichtet, in jedem Einzelfall zu maßnahmen zur Verbesserung der Situation an helfen. Bei ihren Verhandlungen war der Verhand- der deutsch/tschechoslowakischen Grenze umzu- lungspartner auf Seiten der früheren DDR, Rechtsan- setzen: walt Wolfgang Vogel, der Bundesregierung stets ein Die tschechoslowakische Zollverwaltung stellt in verläßlicher und korrekter Partner. Grenznähe zu den großen Grenzübergängen Lkw- 6000' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Auffangparkplätze zur Verfügung, auf denen mit Anlage 12 Beteiligung der deutschen Zollverwaltung eine Vor- Antwort sortierung in sogenannten Normalverkehr und Schnellverkehr vorgenommen wird. Der Schnellver- des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die kehr wird bevorzugt zu den Zollanlagen geführt und Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) dort rund um die Uhr auf besonderen Spuren abgefer- (Drucksache 12/1912 Frage 58): tigt. Die übrigen Lkw werden zur Zollabfertigung Sieht sich die Bundesregierung in der Lage, sich kurzfristig abgerufen. vermittelnd in den Streit zwischen der Wintershall Erdgas AG (WIEH) und der Verbundnetz Gas AG, Böhlitz-Ehrenberg (VNG) Diese Maßnahmen haben schon erkennbar zur einzuschalten, um sicherzustellen, daß auch nach dem 1. Januar Entspannung der schwierigen Situation geführt. Die 1992 die reibungslose Erdgasbelieferung von zahlreichen Wi rt tschechoslowakische Zollverwaltung konnte bisher -schaftsbetrieben und Privathaushalten in den neuen Ländern nicht die erforderlichen Lkw-Auffangparkplätze zur gewährleistet ist? Verfügung stellen. Die Vorsortierungen müssen des- Das Wintershall Erdgas Handelshaus und die Ver- halb noch auf den Zufahrtsstraßen oder innerhalb der bundnetz Gas AG haben auf der Basis eines Vermitt- tschechoslowakischen Zollanlagen vorgenommen lungsvorschlages des Bundeskartellamtes einen Weg werden. Viele Importeure und Spediteure lassen ver- gefunden, der eine Unterbrechung der russischen mehrt Lkw im Schnellverfahren abfertigen. Eine wei- Erdgaslieferungen vermeidet. Sie haben damit dem tere starke Entspannung der Lage wird eintreten, Appell des Bundesministers für Wirtschaft in der wenn die Lkw-Auffangparkplätze auf tschechoslowa- Energiedebatte des Deutschen Bundestages am kischer Seite im Laufe des 1. Halbjahres 1992 in 12. Dezember 1991 Rechnung getragen, daß die Ver- Betrieb genommen werden. sorgungssicherheit in den neuen Bundesländern nicht Daneben wird eine besonders nachhaltige Entla- gefährdet und der Streit über Lieferbedingungen und stung eintreten, wenn im Zuge der Verlagerung von Preise nicht auf dem Rücken der Verbraucher ausge- Transporten auf die Schiene zwischen Deutschland tragen werden darf. Damit ist aller Voraussicht nach und der CSFR der Versuch unternommen wird, den die Versorgung der neuen Bundesländer mit Erdgas kombinierten Verkehr in der wi rtschaftlichsten Form für diesen Winter gesichert. Es bleibt weiterhin Auf- abzuwickeln. gabe der beiden Unternehmen, eine langfristige, den Wettbewerbsbedingungen entsprechende Lösung für Preise und Lieferbedingungen zu finden.

Anlage 11 Antwort Anlage 13 des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Antwort (SPD) Frage des Abgeordneten Robert Antretter des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die (Drucksache 12/1912 Frage 57): Fragen des Abgeordneten Wieland Sorge (SPD) Ist die Bundesregierung bereit, den Städten, die von den (Drucksache 12/1912 Fragen 59 und 60): Liegenschaften der Verbündeten Grundstücke übernehmen, auch bei vorhandenen Wohnungen, die an die Städte verkauft Wie viele Ingenieure haben sich seit der Wende in den neuen werden, einen entsprechenden Abschlag aus dem Verkehrswert Bundesländern als Beratende Ingenieure und/oder über eine von 50 % einzuräumen? eigene Betriebsgründung selbständig gemacht, und kann die Bundesregierung der Vermutung zustimmen, daß Ingenieure in den neuen Bundesländern infolge fehlender Handwerksmeister Das von der Bundesregierung mit der verbilligten überwiegend bei der Privatisierung und Gründung kleiner und mittelständischer Betriebe wirksam werden? Veräußerung bundeseigener Grundstücke zur Förde- rung des Wohnungsbaus angestrebte Ziel ist die Wann wird die Bundesregierung die vom Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen W. Möllemann, in seiner Rede auf dem Schaffung neuer Wohnungen. Die Veräußerung von Bundeskongreß der Freien Berufe am 20. Juni 1991 zugesagte Grundstücken mit vorhandenen Wohnungen gehört Fortsetzung des Hospitationsförderungsprogramms für Angehö- grundsätzlich nicht dazu. Dies geht aus der eindeuti- rige der Freien Berufe aus den neuen Bundesländern bei gen Formulierung des Haushaltsvermerkes bei Kapi- Freiberuflern aus den alten Bundesländern für die Beratenden Ingenieure und die selbständigen Vermessungsingenieure tat- tel 08 07 hervor. sächlich fortführen? Werden allerdings durch Aus- oder Umbau eines bestehenden Gebäudes oder vorhandener Wohnun- Zu Frage 59: gen, die für Wohnzwecke nicht mehr geeignet sind, unter wesentlichem Bauaufwand praktisch neue In Ermangelung einer amtlichen Statistik für den Wohnungen geschaffen, die den heutigen Wohnge- Ingenieurbereich wurden die Ingenieurverbände um wohnheiten angepaßt sind, dann können auch diese Zahlenmaterial hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen in Grundstücke in die Verbilligung mit einbezogen wer- den neuen Bundesländern gebeten. Diese Anfrage den, falls die übrigen im Haushaltsvermerk gef order- hat ergeben, daß es ca. 600 Ingenieurbüros gibt, die ten Verbilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Inso- Mitglied des Verbands Beratender Ingenieure sind. fern steht ein Aus- oder Umbau vorhandenen Wohn- Annähernd 100 Consultingfirmen sind derzeit in den raums einem Neubau gleich. Dies entspricht der neuen Ländern tätig, die aus den Projektierungsabtei- Regelung des § 17 II, WoBauG. lungen ehemaliger Kombinate hervorgegangen sind Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992 6001*

(Angabe des Verbands unabhängig beratender Inge- effektiver und umweltschonender Verfahren und nieurfirmen), ferner lt. Ingenieurverband Wasser- und Technologien rechtzeitig zur Verfügung stehen. Abfallwirtschaft ca. 100 Wasseringenieurbüros; der Bund der öffentlich bestellten Vermessungsinge- Es ist gegenwärtig nicht bekannt, wieviel Inge- nieure berichtet von rd. 250 Vermessungsingenieur- nieure insgesamt in der Industrieforschung der neuen büros in den neuen Ländern. Mithin kann z. Z. insge- Bundesländer tätig sind, da es hierüber keine aktuelle samt unter Berücksichtigung nichtorganisierter Inge- statistische Erhebung gibt. nieure, von ca. 2 000 Büros beratender Ingenieure und Im Jahre 1991 wurden durch Fördermaßnahmen der Vermessungsingenieure sowie unabhängig beraten- Bundesregierung die Forschungs- und Entwicklungs- den Ingenieurfirmen ausgegangen werden. aktivitäten von ca. 5 000 Ingenieuren in der Industrie- Es trifft zu, daß sich zahlreiche Ingenieure eine forschung unterstützt. Existenz als kleiner und mittlerer Unternehmer Im Bereich der neuen Bundesländer haben sich ca. geschaffen haben, darunter in Handwerksbetrieben. 1 500 beratende Ingenieure aus den unterschiedlich- Auch insoweit fehlt es allerdings an einer Statistik. Die sten Bereichen der Wirtschaft angesiedelt. Zulässigkeit folgt aus einer Rechtsverordnung der Bundesregierung, die auf § 7 Abs. 2 i. V. mit § 46 2. Eine leistungsfähige marktorientierte Industrie- Abs. 3 Satz 3 der Handwerksordnung beruht. Anfra- forschung ist notwendig, um die Innovations- und gen der Außenstelle Berlin des Bundesministers für Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den neuen Wirtschaft bei vier Handwerkskammern haben erge- Bundesländern nachhaltig zu stärken. ben, daß etwa 5 % der Kammermitglieder Ingenieure Gegenwärtig steht die Industrieforschung in den sind. Dies ist eine Folge der Umstrukturierung in den neuen Bundesländern jedoch vor großen Problemen. neuen Ländern, da vor der Wende auch in Fachschu- Untersuchungen deuten darauf hin, daß auch weiter- len viele Ingenieure ausgebildet wurden; auf einen hin ein Abbau von Forschungs- und Entwicklungspo- Mangel an Handwerksmeistern kann diese Existenz- tential in der Wirtschaft erfolgen wird, weil viele gründung nicht zurückgeführt werden. Unternehmen keine positive Entwicklung zu ver- zeichnen haben und somit nicht in die Zukunft inve- Zu Frage 60: stieren. Bundesminister Möllemann hat die Zusage, in einer Die Bundesregierung leistet daher mit zahlreichen, weiteren Runde das Hospitieren von Angehörigen speziellen Fördermaßnahmen einen Beitrag zur Stüt- Freier Berufe in den neuen Ländern bei Freiberuflern zung dieser Forschungskapazitäten in einer Über- im Westen zu fördern, an ein positives Ergebnis eines gangszeit und fördert die Aufholanstrengungen, mit Erfahrungsberichts geknüpft; er hat dabei auf den denen das technologische Niveau der westeuropäi- adminstrativen Aufwand für alle Beteiligten bei dieser schen Industrieländer in den Unternehmen der neuen Art der Beratungsförderung, die neben den weitaus Bundesländer erreicht werden soll. Einen Schwer- größeren Förderungen der Einzelberatung und Infor- punkt bilden dabei die Finanzierung von Forschungs- mations- und Schulungsveranstaltungen steht, hinge- projekten, die Förderung von FuE-Personal in den wiesen. Die Erfahrungen mit der als Pilotprojekt Unternehmen, die Anregung von Forschungskoope- gedachten Runde der Hospitationsförderung vom rationen zwischen Unternehmen und Forschungsein- Herbst 1990 bis Spätsommer 1991, an der sich Ärzte, richtungen aus den alten und den neuen Ländern, die Zahnärzte, Architekten und Anwälte beteiligt hatten, Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung, werden derzeit anhand einer ausführlichen Aufzeich- die Erleichterung von technologieorientierten Unter- nung innerhalb der Bundesregierung bewe rtet. nehmensgründungen, die Unterstützung von Techno- Es ist damit zu rechnen, daß die Auswertung der logie- und Gründerzentren, die Förderung des Wis- Erfahrungen etwa Ende Februar 1992 abgeschlossen sens- und Technologietransfers u. a. m. sein wird. Erst dann kann über die Fortsetzung der Besonders wichtige Aufgaben sind die Umstruktu- Förderung mit einem 2. Förderabschnitt im Jahr 1992 rierung und Reintegration der Potentiale der Indu- entschieden werden. strieforschung, die sich entweder noch in Unterneh- men befinden oder in rechtlich selbständigen soge- nannten Forschungs-GmbH's aus den Kombinaten ausgegliedert worden sind. Hierfür hat die Bundesre- Anlage 14 gierung neben den oben genannten Maßnahmen Sondermittel in Höhe von 250 Millionen DM für die Antwort Jahre 1991 und 1992 bereitgestellt. des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Trotz dieser umfangreichen, z. T. zeitlich befriste- Frage des Abgeordneten Dr. Gerhard Päselt (CDU/ ten Fördermaßnahmen ist sich die Bundesregierung CSU) (Drucksache 12/1912 Frage 61): bewußt, daß mittel- und langfristig eine marktorien- Wie steht es um den Platz der Ingenieure in der Industriefor- tierte Industrieforschung in den neuen Bundesländern schung in den neuen Bundesländern, und wie sieht die Bundes- nur durch die Wirtschaft selbst aufgebaut und erhalten regierung die Zukunft der Industrieforschung überhaupt? werden kann, da nur in den Unternehmen die Kennt- nisse und Markterfahrungen vorhanden sind, um die 1. Die Ingenieure tragen mit ihren Forschungs- und notwendigen Schwerpunkte zu setzen. Von entschei- Entwicklungsarbeiten entscheidend mit dazu bei, daß dender Bedeutung ist dabei auch ein noch stärkeres neue Ergebnisse und Ideen für die Produktion wett- Engagement der Unternehmen aus den alten Bundes- bewerbsfähiger Erzeugnisse sowie die Anwendung ländern. 6002* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Januar 1992

Anlage 15 zunehmende Einfuhrerleichterungen vorgesehen. Da die Einfuhren jedoch von einem relativ niedrigen Antwort Niveau ausgehen, werden sie voraussichtlich nicht zu unzumutbaren Belastungen des heimischen Marktes ch Riedl auf die Fra- des Parl. Staatssekretärs Dr. E ri führen. gen des Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) (Drucksache 12/1912 Fragen 62 und 63):

Wie hoch wird der Bedarf an Baumaterial im Jahre 1992 sein Anlage 16 und wann wird sich die Deutsche Bauindustrie in der Lage befinden, den Bedarf, insbesondere in den neuen Bundeslän- Antwort dern reibungslos zu decken, nachdem die dortige Baustoff industrie wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf den Groß- des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die plattenbau derzeit nicht in der Lage ist, die Nachfrage zu Fragen des Abgeordneten Rolf Schwanitz (SPD) befriedigen? (Drucksache 12/1912 Fragen 64 und 65): Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, übergangsweise Wer trägt nach Auffassung der Bundesregierung die Kosten verstärkt qualitativ hochwertige Dachziegel und Mauersteine für die Räumung von Grundstücken und Gebäuden, welche in aus der CSFR einzuführen, um so einerseits den deutschen Erfüllung der Entschließung des Deutschen Bundestages zum Bedarf zu decken und andererseits der CSFR auch dringend ,,Wismut-Gesetz" (Drucksache 12/1370) von der Wismut-AG benötigte Devisen zu sichern, und ist sie der Meinung, daß im unentgeltlich an Kommunen zurückübertragen werden? Sinne einer ausgeglichenen, bilateralen Handelsbilanz ein der- In welchem Umfang und auf welchem Wege werden bei der artiger Warenaustausch mit der CSFR wi rtschaftlich sinnvoller wäre, als den deutschen Agrarmarkt weiter zu überfüllen? Bestimmung der Betriebsnotwendigkeit von Grundstücken und Gebäuden, welche in Erfüllung der Entschließung des Deut- schen Bundestages zum „Wismut-Gesetz" (Drucksache 12/1370) einer Beurteilung unterliegen, die Beteiligten außer- Zu Frage 62: halb der Wismut AG, insbesondere die betroffenen Kommunen, bei der Entscheidungsfindung durch das Bundesministerium für Der Bedarf an Baumaterial ist baukonjunkturab- Wirtschaft einbezogen? hängig. Aufgrund der bisherigen Nachfrage erwartet die Baustoffindustrie im laufenden Jahr für die alten Zu Frage 64: Bundesländer einen Produktionsanstieg von bis zu 2%. Der Bundesregierung sind keine Grundstücke der Wismut GmbH i. A. bekannt, die nach der zitierten Wegen der noch immer unzureichenden Datenbasis Entschließung des Deutschen Bundestages zurück- läßt sich zwar für die neuen Bundesländer eine übertragen werden sollen, bei denen Räumarbeiten quantifizierte Prognose mit hohem Genauigkeitsgrad und damit ensprechende Kosten anfallen würden. Die heute nicht geben. Der Bundesverband Steine und Bundestagsentschließung zielte in erster Linie auf Erden geht jedoch davon aus, daß die Baustoffindu- Flächen, die zwar der Wismut zum 30. Juni 1990 strie in den neuen Bundesländern 1992 erheblich sachlich zugeordnet waren, jedoch nie vom Unterneh- stärker wachsen wird, als in den alten. Er führt das auf men genutzt wurden; dementsprechend gehört zu den- das Investitionsverhalten der Steine- und Erden Voraussetzungen einer unentgeltlichen Rückübertra- Industrie aus den alten Bundesländern in den neuen gung, daß das Grundstück weder für die Wismut Bundesländern zurück: Die im Beitrittsgebiet bereits Sanierungsgesellschaft noch für die sich neu struktu- eingeleiteten beziehungsweise geplanten Investitio- rierenden ehemaligen Wismut-Zulieferbetriebe be- nen beziffert der Verband mit mindestens 4,5 Milliar- triebsnotwendig ist. Die Frage eines Kostenträgers den DM. Dieser Industriezweig gehört damit zu den stellt sich daher nicht. bedeutendsten Investoren in den neuen Ländern. Unter diesen Umständen darf man erwarten, daß Zu Frage 65: bestehende Lieferengpässe zügig abgebaut werden können. Das gilt insbesondere auch für hochwertige Der Antrag auf Rückübertragung eines Grundstük- Bauprodukte wie beispielsweise Dachziegel. kes entsprechend der Entschließung des Bundestages zum Wismut-Gesetz wird in aller Regel von den betroffenen Kommunen ausgehen. Die Kommune Zu Frage 63: wird dabei u. a. auch als eine der notwendigen Vor- aussetzungen darlegen, daß das betreffende Grund- Aufgrund der EG-Assoziierungsabkommen mit stück weder für die Wismut-Sanierungsgesellschaft Polen, der CSFR und Ungarn gibt es bei Baustoffen noch für die sich neu strukturierenden ehemaligen keinerlei Handelsbeschränkungen. Die deutsche Wismut-Zulieferbetriebe betriebsnotwendig ist. Die Bauindustrie kann daher uneingeschränkt Baumate- Kommune ist deshalb bereits durch ihren Antrag in die rialien aus diesen Ländern beziehen. Tatsächlich sind Beurteilung auch der Betriebsnotwendigkeit einbezo- zum Beispiel die Zementeinfuhren aus der CSFR und gen. Polen schon deutlich gestiegen. Auch unabhängig davon wird sich die Bundesregie- Für den Agrarbereich sind zwar in den Asso- rung um einvernehmliche Lösungen unter Beteili- ziierungsabkommen innerhalb der nächsten 5 Jahre gung der betroffenen Kommunen bemühen.