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Year: 2020

Konfessionalismus und Konvivenz: Die Surbtaler Juden und ihr Umfeld vom 17. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Kantons

Bürgin, Martin

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-191344 Book Section Published Version

Originally published at: Bürgin, Martin (2020). Konfessionalismus und Konvivenz: Die Surbtaler Juden und ihr Umfeld vom 17. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Kantons Aargau. In: Picard, Jacques; Bhend, Angela. Jüdischer Kulturraum Aargau. Zürich: hier und jetzt, 159-182. Erinnerungsort: Das Surbtal als Konfessionalismus «Rütli des Schweizer Judentums» und Konvivenz. An dieser Aussage können unterschiedliche Din- Die Surbtaler Juden ge problematisiert werden. Der Kanton Aargau existiert erst ab dem Jahr 1803. Vor dieser Zeit und ihr Umfeld vom war das Gebiet, das wir heute Aargau nennen, in unterschiedliche politische Territorien unterteilt, 17. Jahrhundert die während der Zeitspanne, welche dieser Arti- kel untersucht, variierten. Ebenso variierten die bis zu den Anfängen Herrschaften, denen diese Gebiete unterstanden. des Kantons Aargau Für die dort ansässigen Juden spielte das eine wichtige Rolle, wie später aufgezeigt werden soll. Wie wir ebenfalls sehen werden, zeugen die Quel- Martin Bürgin len allerdings davon, dass Jüdinnen und Juden neben Lengnau und Endingen auch in anderen – heute aargauischen – Ortschaften wie Mellingen, In einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung Bremgarten, oder Baden lebten. Mög- im Oktober 2017 umschrieb Roy Oppenheim die lich wären auch andere Ortschaften innerhalb beiden jüdischen Siedlungen in Endingen und der Grafschaft Baden. In der Forschung wurde Lengnau metaphorisch als «Rütli des Schweizer beispielsweise über als Niederlas- Judentums».23 Es ist ein raffiniertes Bild, das einer- sungsort von Juden diskutiert, wobei die Indizien seits die Bedeutung des Surbtals für die Geschich- unterschiedliche Deutungen zulassen.25 te der Schweizer Jüdinnen und Juden betont und Mit Bestimmtheit können wir dazu keine Aus- andererseits geeignet ist, um die Schwierigkei- sage treffen – und damit kommen wir zum Problem ten zu reflektieren, die mit dem Schreiben eines der Quellenlage. Die Quellen sind für die Frühe historischen Überblicks über die Geschichte der Neuzeit verhältnismässig knapp – und sie unter- Surbtaler Juden vom 17. Jahrhundert bis zu den liegen spezifischen Perspektiven. Die Überliefe- Anfängen des Kantons Aargau verbunden sind. rung von Quellen ist, wie es Arnold Esch treffend So wie das Rütli in der nationalgeschichtlichen beschrieb, von Chancen und Zufällen geprägt.26 Erinnerungskultur als Ursprungsort der Schwei- Über die Niederlassung einzelner Personen wie zerischen Eidgenossenschaft porträtiert wird, auch über die Siedlungen mehrerer jüdischer Fa- werden die beiden Surbtaler Orte Endingen und milien geben die Archive nur fragmentarisch Aus- Lengnau als Ursprungsorte des Schweizer Juden- kunft. Dabei handelt es sich selten um Quellen tums geschildert. In vielen Darstellungen werden aus jüdischer Hand oder von lokalen Autoritäten, die beiden Dörfer als einzige Orte beschrieben, sondern in den meisten Fällen um Beschlüsse der in welchen Jüdinnen und Juden in der frühneu- Ständeregierungen oder Notizen der Eidgenössi- zeitlichen Eidgenossenschaft siedeln durften. schen Tagsatzung. Das älteste von jüdischer Seite Das gilt für Zeitungsberichte, Fernsehbeiträge, überlieferte Gemeindebuch stammt aus dem Jahr Führungen, Vorträge, vereinzelt aber auch für 1804.27 Berichte von lokalen Autoritäten, christli- wissenschaftliche Studien. In einer historischen chen Gemeinden, Vögten oder Untervögten sind, Fachpublikation wurde diese Erzählung, soweit mit wenigen Ausnahmen, nur dann überliefert, ersichtlich, zuletzt in Battenbergs – ansonsten wenn sie an die Ständeregierungen ausgehändigt grossartiger – Überblicksdarstellung «Die Juden wurden und in den entsprechenden Archiven auf- in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahr- bewahrt werden. Aufgrund der kontinuierlichen hunderts» vertreten, wo es heisst: «Von den – nicht Verschriftlichung von Ratsbeschlüssen in Form mehr zum Reich zählenden – Schweizer Kantonen von Ratsmanualen ist die Chance einer Überlie- liess nur der Aargau Juden zu, so dass sich dort seit ferung jüdischer Existenz in den Archiven der dem späten 17. Jh. in Lengnau und Endingen Ge- Obrigkeiten ungleich höher als in den Archiven meinden bildeten.»24 lokaler Institutionen. Diese Überlieferung bleibt jedoch bruchstückhaft. Jüdinnen und Juden tau- chen in den frühneuzeitlichen Quellen insbeson- dere dann auf, wenn sie in Rechtshändel verstrickt waren, wenn die Obrigkeiten ihnen gegenüber

159 Steinenstadt   Mauchen Schliengen 

Schaffhausen ž  Diessenhofen

 Mammern  Rheinau  Emmishofen Bodensee Haltingen Rhein  fi Andel ngen  Thur Klingnau  Basel Rhein Laufenburg Kefikon Allschwil ž  Rheinfelden    Endingen Schönenbuch    Lengnau  Wülflingen  Oberwil  Winterthur Sitter Witterswil  Rheineck  Birs Arlesheim  Hofstetten   Dornach  Baden Töss Thal  Metzerlen  Kyburg Thur  Aesch  St. Gallen Allaine  Blauen ž  Limmat ž  Charmoille  Zwingen  Mellingen Röschenz  Porrentruy Dietikon Reuss Rhein Erschwil  — Zürich Töss Trimbach   Winznau Aare Bremgarten 

Birs

Solothurn — Zürichsee

Aare Zuger- see

Bieler- Rhein see Luzern ž

Vierwald- stättersee —

Aare

Saane

ž Fribourg

Brienzer- see

 Ortschaften mit jüdischen Niederlassungen in der Karte gestaltet durch David Guntern und Martin Bürgin; frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, im Fürstbistum ursprünglich angefertigt für: Bürgin, Martin: Zwischen Basel und im habsburgischen Fricktal Vertreibung und Duldung. Jüdische Siedlungen und Nieder- lassungen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. In: ž Hauptorte mit jüdischen Niederlassungen Michaela Schmölz-Häberlein (Hg.): Jüdisches Leben in der Region. Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Süden — Hauptorte ohne jüdische Niederlassungen des Alten Reiches. Würzburg 2017, S. 31–75. Für diesen Artikel ergänzt um die jüdischen Niederlassungen in Rhein- felden und Laufenburg (im damals habsburgischen Fricktal). Vgl. dazu: Königs, Diemuth: Juden im Fricktal. Geschichte einer Minderheit vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Basel 2016.

Ortschaften mit jüdischen Niederlas- sungen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, im Fürstbistum Basel und im habsburgischen Fricktal. Nicht verzeichnet sind hier die Ortschaften mit jüdischen Niederlas- sungen im weiteren alemannisch- jüdischen Kulturraum, der sich von Vorarlberg über das süddeutsche Gebiet bis ins Elsass erstreckt. 160 neue Ordnungen erliessen, sie aus ihren Territori- und der Mitte des 17. Jahrhunderts festzustellen en verbannten oder proklamierten, sie aus diesen sei und dass sich diese Niederlassungen ab dem verbannen zu wollen. Berichte über konfliktfreie 17. Jahrhundert auf die beiden «Judendörfer» Beziehungen zwischen Christen und Juden in der Endingen und Lengnau in der Grafschaft Baden sozialen Lebenswelt vor Ort finden sich demge- konzentriert hätten. Eine genaue Durchsicht der genüber weniger. Daraus kann allerdings nicht ge- Quellen und der Forschungsliteratur belegt aller- schlossen werden, dass die Beziehungen zwischen dings vielmehr die Präsenz jüdischer Individuen, Juden und Christen per se konfliktbehaftet waren. Familien und Gemeinschaften in verschiedenen In historischen Darstellungen wurde hie und Städten und Territorien im 16. und 17. Jahrhun- da versucht, soziale Wirklichkeit und damit gülti- dert.29 Für Zürich kann sogar aufgezeigt werden, ge Aussagen über den frühneuzeitlichen Lebens- wie einzelne jüdische Familien – wenn auch an alltag von Jüdinnen und Juden zu rekonstruie- verschiedenen Orten – vom 15. bis zum 16. Jahr- ren, indem auf Gesetzestexte und Weisungen der hundert über mehrere Generationen wohnhaft Obrigkeit verwiesen wurde – etwa in Bezug auf waren.30 Neben Diskontinuitäten können also die sogenannten Schutz- und Schirmbriefe oder auch Kontinuitäten festgestellt werden. in Bezug auf die Protokolle der Eidgenössischen Von Endingen und Lengnau als «Rütli der Tagsatzung. Diesen Ansatz werden wir problema- Schweizer Juden» im Sinne konkreter Ursprungs- tisieren – und eine andere Lesart obrigkeitlicher orte kann demnach, mit Blick auf die Quellen, Quellen in Bezug auf jüdische Lebenswelten vor- nicht die Rede sein. Genauso wenig kann aller- schlagen. dings vom Rütli als Ursprungsort der Schweiz oder Hingegen lässt sich aus den überlieferten Quel- der Alten Eidgenossenschaft ausgegangen werden. len klar feststellen, dass jüdische Siedlungen und Die Raffinesse der Rütli-Metapher liegt vielmehr Niederlassungen in der frühneuzeitlichen Eidge- darin, dass sie auf die Bedeutung des Surbtals als nossenschaft keineswegs auf das Gebiet des Aar- schweizerischer Erinnerungsort jüdischen Le- gaus beschränkt waren. Grössere Siedlungen sind bens verweist; ihre Aussage zielt darauf ab, die etwa für Solothurn, das Rheintal, den Thurgau Juden in der Lebenswelt Schweiz als Teil eines in- und das Fürstbistum Basel-Landschaft (welches kludierenden gemeinsamen «Wir» anstelle eines formell allerdings nicht zur Eidgenossenschaft ge- exkludierenden «Anderen» verstehen zu wollen.31 hörte) bezeugt; Niederlassungen einzelner Juden Wobei die jüdischen Siedlungen in Lengnau und oder jüdischer Familien können auch für zürche- Endingen nicht bloss als Orte des sozialen Ge- rische Territorien und die Städte Luzern, Freiburg, dächtnisses von Bedeutung waren, sondern sich Schaffhausen, St. Gallen und Basel nachgewiesen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins 19. Jahr- werden.28 Zwar wird dieser Beitrag auf die jüdi- hundert tatsächlich zu den wichtigsten Orten jü- sche Geschichte des Aargaus – und spezifisch auf dischen Lebens im Gebiet der heutigen Schweiz das Surbtal – fokussieren, ein vergleichender Blick entwickelten. auf andere Regionen wird aber hilfreich sein, um die jüdischen Lebenswelten im Surbtal besser ein- ordnen zu können. Die kulturellen, wirtschaftli- Chancen und Zufälle der Überlieferung: chen, sozialen und familiären Verbindungen der Juden in Bremgarten und Mellingen Surbtaler Juden waren Teil eines Netzwerks, das sich – neben den genannten Gebieten der Alten Die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft war ein Eidgenossenschaft – über Vorarlberg, den süd- fragiles Gebilde, organisiert als föderalistischer deutschen Raum, das Elsass und den Rhein ent- Zusammenschluss von Stadtstaaten und Landor- lang bis Frankfurt (oder weiter) ausdehnte. Die ten mit unterschiedlichen politischen Organisa- Geschichte der Surbtaler Juden ist – wie die Ge- tionsformen. Hinzu kamen Zugewandte Orte und schichte der Schweizerinnen und Schweizer gene- diverse Untertanengebiete. Die einzelnen Stände rell – Teil einer überregionalen und transnationa- – und je nach Rechtsstatus auch einzelne Städte – len Geschichte. regierten innerhalb ihrer Territorien weitgehend So wie wir den räumlichen Untersuchungs- autonom. Die Untertanengebiete wurden als Ge- horizont öffnen sollten, sollten wir auch den zeit- meine Herrschaften unterschiedlicher Orte ver- lichen Rahmen der Untersuchung etwas weiter waltet, deren Zusammensetzung Änderungen stecken. In zahlreichen Überblicksdarstellungen unterworfen war. Als die Eidgenossen 1415 den wird beschrieben, dass eine Diskontinuität jüdi- Aargau eroberten, wurden die Grafschaft Baden scher Niederlassungen zwischen dem späten 15. und die Freien Ämter zu Gemeinen Herrschaften;

161 der Berner Aargau wurde bernisch, das Frick- Zwischen 1537 und 1590 dokumentieren die Quel- tal blieb habsburgisch. Zwischen 1523 und 1536 len also in sieben Fällen die Existenz von Juden führten mehrere Stände und Zugewandte Orte in (und einer Jüdin) in Bremgarten. Namentlich ge- ihren Territorien die Reformation ein. Das führte nannt wurden dabei David, Messly, Salman, Jacob, zu Spannungen zwischen den beiden konfessio- Böli und Sadäms. Kenntnis über diese Personen nellen Lagern und hatte Einfluss auf die «Juden- erhalten wir lediglich aus der Perspektive von politik» der Eidgenössischen Orte, die wir später Rechtsfällen – und nur in Form kurzer Kanzlei- genauer betrachten werden. Jüdische Niederlas- notizen. Über den Alltag der Juden in Bremgarten sungen existierten zunächst aber in katholischen lässt sich damit wenig rekonstruieren. Immerhin wie auch in reformierten Gebieten und – das kann festgehalten werden, dass die Quellen über dürfte kein Zufall sein – in den bikonfessionellen 53 Jahre mit einer gewissen Kontinuität von Ju- Untertanengebieten, im Rheintal, im Thurgau und den berichten, dass die Rechte der Juden von der im Aargau. Obrigkeit gewahrt wurden (zwei Mal wird zu- Innerhalb der Untertanengebiete wiederum gunsten der Juden entschieden, ein Mal setzt sich gab es einzelne Städte, die mit Sonderrechten der Rat für eine Streitschlichtung ein) und dass ausgestattet waren. So ist für Bremgarten wohl sich unter den Juden von Bremgarten wohl (min- seit 1481 das Recht verbrieft, Juden Schutz zu- destens) ein Arzt befand. Dass sich diese Hinweise zusprechen.32 Konkrete Hinweise auf Juden in im Zürcher Staatsarchiv finden, ist kein Zufall: Als Bremgarten sind allerdings spärlich. Dabei lässt die Eidgenossen Bremgarten eroberten, teilten sie sich anschaulich illustrieren, was oben mit Über- den juristischen Einflussbereich der Stadt auf. Die lieferungschancen und Überlieferungszufällen Hochgerichtsbarkeit des Kelleramts wurde Zürich angesprochen wurde. Hinweise auf Juden in zugestanden, jene des Niederamts verschmolz mit Bremgarten erhalten wir zunächst aus den Archi- der gemeinherrschaftlich verwalteten Grafschaft ven anderer Orte: 1537 soll David von Bremgarten Baden. Die Kontrolle über die Stadt unterstand bei der Tagsatzung um freies Geleit – die Erlaub- dem eidgenössischen Landvogt der Grafschaft nis, eidgenössische Gebiete zu durchqueren – ge- Baden. Die Stadt Bremgarten verbündete sich in beten haben; 1538 beantragte ein nicht namentlich der Folge mit Zürich.39 genannter Jude aus Bremgarten beim Zürcher Rat Ähnlich wie Bremgarten war Mellingen eine freies Geleit durch Zürich.33 1560 taucht erneut Stadt, die auch nach der Eroberung durch die Eid- ein David aus Bremgarten in den Quellen auf. Er genossen mit weitgehenden Rechten ausgestattet wurde von Christen des Ritualmords beschuldigt. war. Mellingen gehörte verwaltungstechnisch zu Die Anschuldigung wurde von den Behörden der gemeinherrschaftlich verwalteten Grafschaft aber, wie es scheint, zurückgewiesen.34 Vier Jah- Baden, verfügte aber über gerichtliche Autonomie re später wendet sich ein Salomon aus Bremgar- und über eine eigene Gesetzgebung, wählte seine ten zusammen mit einem Messly aus Mellingen Behörden selbstständig und hatte freies Markt- an den Zürcher Rat, damit ihnen dieser bei einer recht.40 Bis ins 17. Jahrhundert nutzte Mellingen Rechtsstreitigkeit Beistand leiste.35 Für 1578 ver- seine Stadtrechte auch, um Juden Schutz und weisen die Zürcher Akten – ohne Nennung eines Niederlassung zu gewähren. Hinweise sind in den Namens – auf einen Bremgarter Juden, der sich in Ratsprotokollen der Stadt Mellingen selbst und der Zürcher Herrschaft Grüningen als Arzt anbot. in auswärtigen Archiven überliefert. Wie im Zu- Da ihm der Zürcher Rat dazu keine Erlaubnis und sammenhang mit Salomon aus Bremgarten bereits kein Geleit erteilt hatte, wurde er mit einer Busse erwähnt, ist für 1564 ein Jude namens Messly in geahndet.36 Für 1585 wird ein Rechtsstreit zwi- Mellingen belegt.41 1638 wurde einem Juden aus schen einem Christen aus Adlikon und dem Juden Stühlingen namens Meier erlaubt, sich für ein Salman dokumentiert, wobei zu Salmans Gunsten Jahr in Mellingen niederzulassen.42 Aufgrund des entschieden wurde. Zwar erfahren wir nicht, wo- Datums kann vermutet werden, dass Meier vor rüber gestritten wurde, immerhin informiert die den Wirren des Dreissigjährigen Krieges in die Notiz darüber, dass Salman zusammen mit seinem nahe gelegene Eidgenossenschaft geflohen war. Vater Jacob und seiner Schwester Böli in Bremgar- Hinweise auf jüdische Kriegsflüchtlinge finden ten wohnte.37 Zuletzt dokumentiert das Zürcher sich zur gleichen Zeit auch an anderen Orten. Mit Ratsmanual 1590 eine Streitschlichtung zwischen Bestimmtheit lässt sich das aufgrund der überlie- zwei Christen und einem Sadäms, welchen der ferten Quellen allerdings nicht sagen. Kanzlist als den «alten Jùden zů Brëmgarten» be- In den Ratsmanualen von Zürich findet sich zeichnete.38 1641 der Eintrag, ein Jegli Schwaben, der in Mel-

162 lingen lebe («Jegli Schwaben, deß Jůden zů Mel- milie, seinem Vater sowie einigen Dienstboten lingen»), wolle den Zürcher Marstall mit guten nach Rheinfelden. Danach kam auf Initiative von und dienstlichen Pferden versorgen. Das Instruk- Schwab noch die Familie Dreifuss hinzu.»48 tionsschreiben hob die positiven Eigenschaften des Jegli Schwaben als Pferdehändler hervor, ver- wies allerdings darauf, dass der Staat Zürich 1633 Juden in der Grafschaft Baden: die Verbannung aller Juden beschlossen habe Frühe Einzelbelege – wir werden darauf zurückkommen – und eine Handelstätigkeit mit ihm deshalb nicht infrage Die Grafschaft Baden wurde von 1415 bis 1712 von komme.43 Neben Jegli Schwaben und Meier leb- den Eidgenössischen Orten Schwyz, Unterwalden, ten in Mellingen die beiden jüdischen Brüder Ma- Luzern, Zürich, Zug, Bern und Glarus (ab 1443 ram und Isaak. In den Ratsprotokollen der Stadt auch Uri) verwaltet. Die herrschenden Acht Orte Mellingen sind sie ab 1639 dokumentiert und als stellten jeweils für zwei Jahre einen Landvogt, der Geldwechsler, Tuch- und Viehhändler beschrie- die Obrigkeit in der Grafschaft Baden beziehungs- ben.44 Vermerkt sind sie in den Ratsprotokollen weise der Landvogtei Baden vertrat. Über die Ver- aufgrund mehrerer gerichtlicher Verhandlun- waltung der Gemeinen Herrschaften berieten die gen, wobei das Gericht ihnen in den meisten Fäl- Bevollmächtigten der Eidgenössischen Orte an len Recht zusprach. Bemerkenswert ist, dass die den Tagsatzungen, wo sie sich generell über ge- Kleinstadt Mellingen ihre Rechtsprechung auch meinsame Geschäfte berieten. Die an den Tagsat- gegenüber einer Intervention des Staats Zürich zungen gefassten Beschlüsse, Memoranden und durchsetzte: Als Maram 1648 durch den christli- die dazugehörigen Protokolle wurden in den soge- chen Tuchhändler Wildermet und dessen Diener nannten Eidgenössischen Abschieden gesammelt. Wälf angegriffen und – wie die Akten berichten – Sie dienten den Abgeordneten dazu, ihren Regie- beinahe zu Tode geprügelt wurde, büsste die Stadt rungen den Inhalt der Beratungen zu übermitteln. Mellingen die beiden Angreifer mit hohen Bussen. Eine eigentliche Gesetzeskraft oder Zwangsge- Darüber beklagte sich der Diener Wälf beim Zür- walt kann den Abschieden nicht zugeschrieben cher Rat und bewegte Zürich dazu, in Mellingen werden.49 Die darin enthaltenen Weisungen sind zu intervenieren. Der Stadtrat von Mellingen ant- also mit Vorsicht zu geniessen. Allerdings liefern wortete an Zürich ohne Umschweife, dass Wälf sie wichtige Anhaltspunkte über die Existenz jü- nach geltendem Stadtrecht bestraft wurde und dischen Lebens in der Eidgenossenschaft und ver- Maram unter dem Schutz der Stadt Mellingen mitteln Einblick in die obrigkeitliche Perspektive stehe.45 im Hinblick auf den Umgang mit Jüdinnen und Ebenfalls für 1648 dokumentieren die Rats- Juden. protokolle, dass die Juden Maram, Schwab und Die frühesten bekannten Schriftquellen, die Meier Mellingen verlassen hätten und nach Stüh- eine jüdische Siedlungstätigkeit in der Grafschaft lingen gezogen seien. Im Widerspruch dazu steht Baden bezeugen, datieren auf das Jahr 1612. Im ein Eintrag, der auf eine Niederlassung des Ma- ersten Fall handelte es sich um ein in den Eid- ram bis ins Jahr 1651 schliessen lässt.46 Die kur- genössischen Abschieden überliefertes Postulat zen Notizen lassen immerhin die Beobachtung an die Regierungen der fünf katholischen Orte. zu, dass der Jude Meier, der 1638 aus Stühlingen Diese wurden aufgefordert, Instruktionen nach nach Mellingen kam und damals die Erlaubnis er- Baden zu senden, damit ihre Gesandten wüssten, hielt, sich für ein Jahr niederzulassen, auch zehn wie sie in einem Geschäft, das die Vertreibung der Jahre später noch das Gastrecht der Reuss-Stadt in Klingnau ansässigen Juden behandelte, ent- genoss. scheiden sollten.50 Wieso über eine Vertreibung Innerhalb der nächsten 15 Jahre verliessen die verhandelt wurde, wer die Vertreibung forderte genannten Juden die Stadt Mellingen – und der oder wie die katholischen Orte antworteten, wis- Mellinger Rat beschloss, seine Politik der Dul- sen wir nicht. Ebenso wenig erfahren wir darüber, dung zu revidieren. So verfügten die Mellinger wie die reformierten Orte über die Angelegen- Räte 1666, dass sie keine weiteren Juden mehr in heit dachten. Wir können aber festhalten, dass in ihre Stadt aufnähmen («wyl siy dussen seigen, sol- Klingnau 1612 wohl mehrere Juden und allenfalls lent sy dussen verbliben»).47 Jegli Schwaben reiste auch Jüdinnen siedelten.51 wohl nach Rheinfelden weiter. So hielt Diemuth In demselben Jahr wurde in Graubünden ein Königs in ihrer Studie zu den Juden im Fricktal Prozess geführt gegen mehrere Juden aus Buchau fest: «Zunächst zog Jäkle Schwab mit seiner Fa- am Federsee (rund 65 km nordöstlich von Kons-

163 tanz gelegen). Den angeklagten Juden wurde vor- mit Rechtsstreitigkeiten – Hinweise auf Juden geworfen, einem Bündner Bürger Geld zu schul- in Klingnau. Zürcher Akten belegen, dass 1620 den. Der Stand Graubünden intervenierte bei der gegen den Klingnauer Juden Tschay Klage we- Eidgenössischen Tagsatzung, um seinem Bürger gen Wuchers erhoben wurde; 1631 verweisen sie zu seinem (angeblichen) Recht zu verhelfen. Da auf einen in Klingnau wohnhaften Juden namens sich die Buchauer Juden weigerten, das geforderte Morkhel.55 Geld zu bezahlen, verlangte Graubünden, dass die In dem rund 13 Kilometer von Klingnau ent- Juden der Grafschaft Baden mit ihrem Vermögen fernten Dorf Lengnau kann 1622 erstmals ein jü- für die schwäbischen Juden Solidarhaft leisten discher Bewohner nachgewiesen werden. Es han- sollten. Dabei ging es nicht darum, dass die Juden delt sich um einen Mann namens Isaac, von dem der Grafschaft Baden in die Geschäfte der Juden wir aufgrund einer überlieferten Leibzollzahlung aus Buchau involviert gewesen wären, sondern im elsässischen Bergheim wissen.56 Auch von dem dass sie als Juden kollektiv für andere Juden be- 1633 in Zürich hingerichteten Juden namens Sa- haftet wurden. Um ihre Forderungen durchzu- muel Eiron (mehr dazu unter «Zwischen Duldung setzen, drohten die Bündner, die Juden der Graf- und Vertreibung») heisst es in den Quellen, er schaft Baden in Arrest setzen zu lassen.52 habe in Lengnau gewohnt. Die Badener Juden wiederum klagten gegen 1678 werden die Juden von Endingen erst- das Vorgehen Graubündens. In einer Interpella- mals aktenkundig, als sie sich zusammen mit den tion an die Eidgenössische Tagsatzung legten sie Lengnauer Juden beim Badener Landvogt darü- dar, dass es nicht rechtens sei, sie für die Schuld ber beschwerten, dass sie auf Geschäftsreisen in fremder Juden haftbar zu machen. Die Tagsat- Döttingen und Klingnau jeweils von christlichen zung unterstützte die Argumentation der Badener Bewohnern drangsaliert würden.57 Die Obrigkeit Juden grundsätzlich. Die Auflösung des verhäng- prüfte die Eingabe und erklärte, dass die Surbtaler ten Arrests wurde jedoch verschoben. Die Bünd- Juden unter dem Schutz des Landvogts stünden. ner sollten noch einmal die Möglichkeit haben, Sie drohten mit Strafen gegen all jene, die sich an sich vor der Tagsatzung zu erklären und auf die Ausschreitungen gegen die in der Grafschaft Ba- Interpellation der Badener Juden zu reagieren.53 den wohnhaften Juden beteiligten. Als Strafmass Es scheint, als ob die Angelegenheit auf die lange wurde ein Bussgeld in der Höhe von hundert Gul- Bank geschoben wurde. Erst etwas mehr als zwei den festgelegt, was wohl dem Mehrfachen eines Jahre später findet sich dazu eine Entscheidung Jahreslohns eines Handwerkers entsprach. der Tagsatzung. Dabei erklärten die Abgeordne- Die Herrschaft sicherte den Jüdinnen und ten der Tagsatzung, dass sie dem Begehren der Juden Schutz zu. In sogenannten Schutz- und Badener Juden entsprächen und dass eine Soli- Schirmbriefen wurde dieser Schutz rechtlich ver- darhaftung nicht zulässig sei. Von den Bündnern brieft, ausgestellt auf eine befristete Dauer und verlangten sie, den über die Badener Juden ver- gegen Zahlung einer bestimmten Summe. Ab hängten Arrest aufzuheben.54 wann die ersten Schutz- und Schirmbriefe in der Die beiden Fälle zeigen, wie schmal der Grat Grafschaft Baden erlassen wurden, kann nicht mit der obrigkeitlichen Gunst war, auf dem Jüdinnen Sicherheit gesagt werden. Johann Caspar Ulrich und Juden wanderten. 1612 wurde an der Tagsat- zitierte in seiner «Sammlung jüdischer Geschich- zung noch darüber diskutiert, ob die Juden aus ten» ein Schreiben des Landvogts Johann Peter, Klingnau vertrieben werden sollten. 1615 schütz- datiert auf den 23. Juli 1658, in welchem den Ju- ten die Eidgenössischen Orte die Badener Juden den der Grafschaft Baden Schutz und Schirm ga- in einer rechtlichen Streitfrage gegenüber einem rantiert wurde.58 Augusta Weldler-Steinberg und ihrer politischen Koalitionspartner. Florence Guggenheim-Grünberg schrieben von Ob die erwähnten «Badener Juden» mit den einem Beschluss des Syndikats (der Gesandten «Klingnauer Juden» identisch waren, lässt sich der Eidgenössischen Orte) aus dem Jahr 1657 und anhand des vorhandenen Quellenmaterials nicht einem Rezess von 1678 (einem landesrechtlichen eruieren. Ebenso wenig lässt sich erschliessen, Vergleich), in welchen bestimmt worden sei, dass wie die beiden konträren Intentionen von Vertrei- die Juden der Grafschaft Baden den Schutz der bung und Rechtsschutz im Einzelnen miteinander Obrigkeit genössen und rechtlich (nur) ihr unter- in Einklang gebracht wurden. Allerdings lässt sich worfen seien.59 darlegen, dass die Klingnauer Juden 1612 letzt- Ulrich berichtete weiter von einem Schirm- lich wohl nicht aus der Stadt vertrieben wurden. brief, der am 28. Juli 1678 ausgestellt wurde; darin So finden wir – einmal mehr im Zusammenhang sei der Beschluss, Juden innerhalb der Grafschaft

164 Baden Schutz zu gewähren, erneuert worden.60 grossen Zentren des Judentums im deutschsprachi- Anders als in anderen eidgenössischen Gebieten gen Raum. Aufgenommen wurde er von der jüdi- wurden die Schutz- und Schirmbriefe in Baden schen Gemeinde in Lengnau. Aus welchen Grün- nicht an Einzelpersonen ausgestellt, sondern im den er sich in Zürich aufhielt, erfahren wir nicht. Kollektiv und galten für alle in der Grafschaft Die Protokolle des Gerichts halten in erster Linie Baden niedergelassenen Jüdinnen und Juden. den Rechtsfall fest. Während eines Wirtshaus- Ab 1696 bis zum Ende des Ancien Régime wur- streits im Zürcher Gasthof Schwert soll Eiron ge- den Schutz- und Schirmbriefe alle 16 Jahre erlas- genüber christlichen Metzgern gesagt haben, dass sen und erneuert (mehr dazu unter «Schutz und Christus durch einen Juden «gemacht worden» sei. Schirm»). Ihr Schutzstatus blieb aber prekär; im- Die Metzger reagierten empört. Die Zürcher Ob- mer wieder wurden Stimmen laut, die eine Ver- rigkeit sah darin einen Fall von Gotteslästerung.63 treibung der Juden forderten. Eiron wurde inhaftiert und gefoltert. Sein Fall sorgte für öffentlichen Aufruhr, Theologen debattierten über die Tragweite seiner Worte. Die Zwischen Duldung und Vertreibung Zürcher Obrigkeit statuierte ein Exempel und ver- urteilte Eiron wegen Gotteslästerung zum Tode. In der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft wur- Überregional diskutiert und skandalisiert wurde de in regelmässigen Abständen über die Duldung der Fall jedoch, weil Eiron sich weigerte, seine oder Vertreibung der Juden debattiert, innerhalb Aussage zu widerrufen und sie auf dem Weg zum selbstständiger Territorien und Städte genauso Hinrichtungsplatz verschärfte. So soll er ins Pub- wie auf gesamteidgenössischer Ebene im Rahmen likum geschrien haben, dass Gott nie einen Sohn der Tagsatzung. Dabei entwickelten sich unter- gehabt habe. Das sorgte für Furore – und hatte schiedliche Tendenzen. In einigen Territorien politische Konsequenzen. wurde die Vertreibung der Juden rigoros durchge- Der Zürcher Rat, der sich als Garant des refor- setzt. In anderen wurden zwar ebenfalls Mandate mierten und einzig wahren christlichen Glaubens zur Vertreibung der Juden beschlossen; anderer- positionierte, konnte eine öffentliche Infragestel- seits finden sich beinahe ebenso häufig Quellen, lung christlicher Dogmen durch einen Juden nicht die belegen, dass den postulierten Vertreibungs- tolerieren. Um ein Zeichen zu setzen, verbannte absichten keine Taten folgten. Am Beispiel der Zürich in der Folge sämtliche Angehörige jüdi- beiden Stände Zürich und Solothurn – beide für schen Glaubens aus den Zürcher Territorien. Die die Geschichte der Juden im Aargau von Bedeu- entsprechenden Vertreibungsmandate wurden re- tung – können diese beiden Tendenzen beispiel- gelmässig wiederholt. Jüdische Niederlassungen haft festgemacht werden.61 sind bis ins 19. Jahrhundert keine mehr belegt. Bis In den Territorien des Standes Zürich sind zum Ende des Ancien Régime 1798 wurden auch niedergelassene Jüdinnen und Juden im 15. und Passierrechte nur noch in den seltensten Fällen im 16. Jahrhundert in verschiedenen Orten akten- erteilt. Wie an den Beispielen von Bremgarten kundig, etwa in Zürich, Winterthur, Wülflingen, und Mellingen aufgezeigt, intervenierte Zürich in Andelfingen, Kyburg und Kefikon.62 Spätestens Rechtsfällen nach 1633 nicht mehr zugunsten der ab 1633 verfolgte Zürich allerdings eine äusserst Juden, sondern ergriff anwaltschaftlich Partei für rigide Politik: Den Juden wurde verboten, sich jene, die mit den Juden im Konflikt standen. Da- in zürcherischen Territorien niederzulassen oder rüber hinaus forderten die Abgeordneten Zürichs diese zu durchqueren. Es galt also nicht nur – wie an der Eidgenössischen Tagsatzung, dass sich alle andernorts auch – ein Niederlassungsverbot, son- Stände einer Politik der Vertreibung anschliessen dern auch ein Durchgangsverbot, wobei im Verlauf sollten; in ihren eigenen Territorien und erst recht der Zeit gelegentlich Ausnahmen gemacht wurden. in den gemeinsam verwalteten Untertanengebie- Direkter Auslöser dafür – zumindest argumen- ten (mehr dazu unter «Symbolpolitik im Zeitalter tierte der Rat in diesem Sinne – war ein Prozess, der Konfessionalisierung»). den der Staat Zürich gegen den Juden Samuel Ei- Andere Stände, die jüdische Niederlassungen ron führte. Eiron war, so berichten die Untersu- in ihren Territorien duldeten, erliessen zwar auch chungsakten, ähnlich wie der Jude Meier aus Stüh- Vertreibungsmandate gegen niedergelassene Ju- lingen in Mellingen ein Flüchtling, der während den, setzten diese aber weniger strikt um. Inner- des Dreissigjährigen Kriegs in der nicht am Krieg halb der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft beteiligten Eidgenossenschaft Zuflucht suchte. Ei- kann Solothurn diesbezüglich als eigentlicher Ge- ron stammte ursprünglich aus Frankfurt, einem der genpol zu Zürich betrachtet werden. Die Manuale

165 des Solothurnischen Rats bezeugen eine jüdische Das Wechselspiel zwischen Weisungen zur Vertrei- Siedlungstätigkeit ab den 1570er-Jahren bis ins bung durch den Rat, verweigerter Handlung durch Jahr 1736. Als Gemeinden, in welchen Juden sie- die Landvögte, wiederholten Mahnungen und delten, werden Metzerlen, Hofstetten, Witterswil, Zuwiderhandlungen setzte sich bis ins 18. Jahr- Dornach, Erschwil, Trimbach und Winznau ge- hundert fort. Zuweilen wurden Vertreibungsbe- nannt.64 In regelmässigen Abständen gewährten schlüsse dabei im Kontext konfessionspolitischer die Ratsherren einzelnen Juden Niederlassungs- Überlegungen gefällt. In den 1520er-Jahren schien bewilligungen. Gleichzeitig dokumentieren die es kurzzeitig, als ob Solothurn reformiert würde. Ratsmanuale in demselben Zeitraum wiederholt Eine Mehrheit der Landgemeinden und immerhin Befehle zur Vertreibung der Juden. Alleine von ein Drittel der hauptstädtischen Bevölkerung trat 1575 bis 1597 sind 13 derartige Anordnungen an für die Reformation ein. Die Obrigkeit stellte sich die Landvögte verzeichnet. Zwischen Durchrei- dagegen. Als die katholischen Stände im Zweiten senden und Niedergelassenen wurde dabei kein Kappelerkrieg 1531 auf eidgenössischer Ebene Unterschied gemacht. den Sieg über die reformierten Stände errangen, Die Einträge in den Ratsmanualen illustrieren änderten sich die Verhältnisse auch in Solothurn deutlich, dass es zwischen dem Solothurnischen wieder. Die reformierte Predigt wurde verboten, Rat, der in der Hauptstadt tagte, und den von ihm ein Aufstand reformierter Bürger 1533 nieder- eingesetzten Vögten wiederholt zu Auseinander- geschlagen und die katholische Staatskirche mit setzungen um die Vertreibung oder Duldung der diversen Mandaten zur religiösen Praxis gestärkt. niedergelassenen Juden kam. Zwar sind Quellen, Die Kirche konnte die Einhaltung religiöser Dog- welche die Reaktionen der Vögte wiedergeben, men allerdings nur schwer einfordern, wenn An- nicht überliefert. Die Ratsmanuale dokumentie- dersgläubige im öffentlichen Raum gegen eben- ren lediglich die Perspektive des Solothurnischen diese Dogmen verstossen konnten oder auch nur Rats; sie sprechen aber eine klare Sprache: Die kolportiert wurde, dass Andersgläubige dagegen Vögte von Gösgen, Dorneck, Falkenstein, Thier- verstiessen. Entsprechend hart waren die Strafen: stein und Gilgenberg wurden von der Obrigkeit Ein nicht namentlich genannter Jude aus Metzer- mehrmals ermahnt, die Wegweisung der Juden len, von dem gesagt wurde, dass er während der durchzusetzen.65 Auch die Drohung, dass die Ju- katholischen Fastenzeit Fleisch gegessen habe, den bei Zuwiderhandlung gegen die Weisungen wurde 1633 mit hundert Pfund Strafgeld gebüsst; des Rats an Leib und Leben bestraft würden und eine Gruppe von Juden aus dem Elsass, die sich vo- die Vögte selbst mit dem Verlust der obrigkeitli- rübergehend in solothurnischen Gebieten aufhielt chen Huld zu rechnen hätten, blieb wirkungslos. und demselben Vorwurf ausgesetzt war, wurde gar Es scheint, als ob die Vögte in den eher peripheren des Landes verwiesen.69 Vogteien nach eigenem Gutdünken über Schutz Gleichzeitig wuchsen die jüdischen Siedlun- und Schirm für Jüdinnen und Juden entschieden gen stetig an. Ein Eintrag im Ratsmanual von hätten. Das mag an der geografischen Lage der 1637 beschreibt, dass sich in der Vogtei Dorneck entsprechenden Vogteien gelegen haben.66 Zudem eine grössere Zahl von Juden niedergelassen hat- konnten die solothurnischen Vögte darauf ver- te, die den Schutz der lokalen Autoritäten genoss: weisen, dass die Erlasse der Obrigkeit in sich kei- In Dornach und Dornachbrugg entwickelten sich neswegs konsistent waren. So gewährte der Rat anscheinend grössere jüdische Siedlungen, wobei in demselben Zeitraum, in welchem er von den die dortigen Juden über eine Synagoge verfügt Vögten wiederholt die Ausweisung aller Juden hätten.70 Mit dem Errichten oder dem Umbau ei- verlangte, in mindestens drei Fällen Niederlas- ner bestehenden Baute in ein religiöses Gebäude sungsrechte an einzelne Juden.67 Augenfällig zei- – über die Beschaffenheit der Synagoge erfahren gen sich die widersprüchlichen Voten zu Duldung wir aus den Quellen nichts Näheres – wird eine und Vertreibung im Jahr 1582: Unter Androhung religiöse Gemeinschaft im öffentlichen Raum von Konsequenzen wurden im Januar alle Vögte sichtbar; Sichtbarkeit wiederum kann dazu füh- dazu aufgefordert, keine Juden mehr zu dulden. ren, dass eine religiöse Gemeinschaft zum Gegen- Im Gegensatz dazu gewährte der Solothurnische stand von Debatten, Kontroversen oder Konflik- Rat dem Vogt zu Gösgen im November desselben ten wird.71 Jahrs ausdrücklich das Recht, zwei Juden in seiner Nach dem Bau der Synagoge wurde den Ju- Vogtei wohnen zu lassen, solange er das Amt des den in Solothurn vorgeworfen, öffentlich für ihre Vogtes besetze.68 Eine einheitliche Politik ist hier «Secte» zu werben, wie es im Ratsmanual wörtlich nicht zu erkennen. heisst. Entsprechend wies der Solothurner Rat den

166 Vogt der Langvogtei Dorneck an, die «Hebreer» wurde die Politik der Duldung durch die Landvög- auszuweisen.72 Der Ratsbefehl wurde durch den te beendet: 1736 wandten sich die Gemeindevor- Vogt allerdings – einmal mehr – ignoriert. steher von Dornach an den Dornecker Landvogt; Daraufhin wurde die Synagoge zum gesamt- sie klagten gegen die jüdischen Familien, anschei- eidgenössischen Politikum. An der Konferenz nend neun an der Zahl, die dort lebten.75 Die Ge- der katholischen Eidgenössischen Orte, die einer meindeoberen warfen ihnen Anleitung zum Dieb- Tagsatzung ohne Abgeordnete der reformierten stahl, Hehlerei und Wucher vor. Sie sollen sich in Stände entsprach, wurden die solothurnischen den Gemeinde- und Staatswäldern mit Brenn- Gesandten 1639 darauf hingewiesen, dass in der holz versorgt und mittellose Christen dazu an- Vogtei Dorneck eine «gotteslästerliche» Synagoge gestiftet haben, ihnen unrechtmässig Brennholz unterhalten werde und dass die Juden ihren Got- aus den Allmenden zu beschaffen. Zudem seien tesdienst dort ohne Scheu ausüben würden.73 Dem Trauben, Obst und Rüben gestohlen worden. Um sei Einhalt zu gebieten. In der Folge wiederholte den Umfang der Raubzüge zu illustrieren, schil- der Solothurner Rat seine Weisung an den Dorne- derten die Gemeindeoberen, dass man in den jü- cker Vogt mit «sonderem Ernst» und befahl, die dischen Haushaltungen zur Erntezeit mehr Obst Juden, welche im Ratsmanual nun als «Erbfeinde» und Trauben vorfinde als in den wohlhabendsten beschrieben wurden, endlich auszuweisen – und Bauernhäusern. Ein weiterer Vorwurf bezog sich ihre Besitztümer zu konfiszieren. auf Wuchergeschäfte; so wurden die Juden für die Auch diese Weisung scheint, zumindest vor- Verarmung der Landbevölkerung und Profitma- erst, keine Folgen nach sich gezogen zu haben: cherei bei Vergantungen verantwortlich gemacht. Wiederholungen des Vertreibungsbeschlusses wie Auch die Verbreitung von Viehkrankheiten wurde auch Niederlassungsbewilligungen weisen darauf auf sie zurückgeführt; ihnen wurde vorgeworfen, hin, dass in der Vogtei Dorneck bis 1736 jüdische dass sich sogenannte Viehpresten auffallend und Siedlungen existierten. Die Tatsache, dass an der vorwiegend bei Tieren zeigen würden, die durch Konferenz der katholischen Orte über die Weg- Juden verkauft worden seien. Die lokalen Pries- weisung von Juden aus dem Territorium eines ter führten an, dass die Juden den katholischen souveränen und verbündeten Standes debattiert Glauben verachteten. Die Priesterschaft monierte, wurde, ist allerdings bemerkenswert. dass die Juden während der christlichen Gottes- Im Zeitalter des Konfessionalismus achteten dienstzeiten Handel trieben. Zudem falle es den das katholische wie das reformierte Lager, in ih- Pfarrern schwer, ihr Kirchenvolk mit dem «hoch- rer jeweiligen Selbstwahrnehmung als Hüter des würdigsten Gut» in Haushaltungen zu besuchen, rechten Glaubens, darauf, die religiöse Deutungs- in welchen auch jüdische Familien wohnten. Der hoheit innerhalb ihrer Gebiete durchzusetzen Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen lässt sich und zu wahren. Anders als der Zürcher Rat war nicht prüfen. Sie entsprechen Diskursen, die sich der Solothurnische Rat, so scheint es, nicht fähig über lange Zeiträume hinweg erhalten haben und oder nicht willens, in den ländlichen Gebieten in Situationen, in welchen Juden vertrieben wer- eine religiöse und konfessionelle Uniformierung den sollten, als Anklagepunkte überregional vor- gegen den Widerstand der Landvögte durchzuset- gebracht wurden.76 zen. Der Fall Solothurns zeigt auf, dass die Praxis Sollten diese Anklagepunkte den Landvögten von Duldung und Vertreibung jüdischer Bewoh- plausibel erscheinen, mussten sie aber so formu- nerinnen und Bewohner von der Obrigkeit nicht liert sein, dass sie mit den Erfahrungen und Le- unilinear erörtert, beschlossen und durchgesetzt benswelten vor Ort in Verbindung gebracht wer- werden konnte. Fanden die in der Landschaft sie- den konnten. So machte etwa der Vorwurf, Juden delnden Jüdinnen und Juden in den Landvögten hätten Tiere mit Viehpresten gehandelt, für jene, Unterstützung, wurde ihre Duldung zum Gegen- die den lokalen Kontext kannten, nur dann Sinn, stand eines Aushandlungsprozesses zwischen zen- wenn Juden tatsächlich mit Vieh handelten. Auch traler und peripherer Autorität.74 Diese Aushand- wenn man an der Redlichkeit der Anklage Zwei- lungsprozesse waren grundsätzlich ergebnisoffen fel erheben darf, erscheint die «Einbettung» der und konnten sich je nach Kräfteverhältnis unter- einzelnen Anklagepunkte doch über eine gewisse schiedlich entwickeln; ein Umstand, der auch für Plausibilität zu verfügen. Das hiesse dann immer- die jüdischen Siedlungen in der nahen Grafschaft hin, dass wir aus der Anklageschrift der Gemein- Baden von Bedeutung war. deoberen schliessen können, dass die Juden von Erst als sich die lokalen Eliten und die Pries- Dornach mit Vieh handelten, an Vergantungen terschaft gegen die jüdischen Siedlungen wandten, teilnahmen und dass es wohl Häuser gab, die von

167 Juden und Christen – ähnlich wie im Surbtal – ge- genossenschaft wohnenden Juden aus dem Land meinsam bewohnt wurden. verwiesen werden sollten. Die entsprechende Der Landvogt unterstützte die Eingabe der Ge- Notiz weist auf Vorwürfe von Wechselgeschäften meindeoberen und der Geistlichkeit. In seinem Be- hin, wobei die Juden stereotyp als listige Blutsau- richt an den Solothurner Rat bat er die Obrigkeit, ger beschrieben wurden.79 Die Notiz lässt offen, sie möge «dieses schändliche und überlästige Volk welche Abgeordneten den Vorwurf eingebracht zu Nutzn dieser armen Gemeind […] vertilgen».77 hatten. Die Räte der herrschenden Orte sind auf Anders als in vorherigen Fällen bestand hier eine die Forderung offenbar nicht eingegangen. geeinte Front zwischen dem Solothurnischen Rat, Ab 1634 traten die Abgeordneten Zürichs da- dem Vogt, den Gemeindeoberen und der Priester- für ein, dass sämtliche Juden aus der Grafschaft schaft, die sich allesamt gegen eine weitere Dul- Baden verwiesen werden sollten. Das war eine di- dung der jüdischen Siedlungen aussprachen. rekte Folge des Tribunals gegen Samuel Eiron und Ohne Fürsprecher war das Schicksal der Jü- des damit verbundenen Aufruhrs im Jahr 1633. dinnen und Juden besiegelt; sie wurden 1736 aus Während Zürich in den Jahren zuvor – gemessen Solothurn vertrieben. Zwar wurden einzelnen Ju- an den Massstäben der Zeit – keine allzu juden- den weiterhin Durchgangsrechte oder der Besuch feindliche Politik verfolgt hatte, wurde die Ver- von Märkten gewährt; bis zum Ende des Ancien bannung der Juden, die nun als «gottloses, nicht- Régime sind allerdings keine jüdischen Niederlas- wertiges Gesind» bezeichnet wurden, zu einer sungen mehr verzeichnet. Zudem wurden in den Maxime der zürcherischen Politik.80 Die Badener folgenden Jahrzehnten regelmässig Verordnun- Juden wehrten sich dagegen und appellierten an gen erlassen, die sich spezifisch gegen jüdische den Zürcher Rat, indem sie argumentierten, der Handelsgeschäfte richteten, das Hausierwesen Rat solle sie nicht für die Taten eines «hingerich- einschränkten oder Zinsverbote aussprachen.78 teten Bösswichts» bestrafen. Zürich lehnte das Be- gehren jedoch ab.81 Ein Entschluss der Tagsatzung, der aufzeigen Symbolpolitik im Zeitalter der würde, dass die Zürcher Politik der Verbannung Konfessionalisierung von den anderen Abgeordneten gutgeheissen wur- de und in den Gemeinen Herrschaften umgesetzt Auch auf gesamteidgenössischer Ebene wurde werden sollte, ist in den Eidgenössischen Ab- rege über die Duldung jüdischer Niederlassun- schieden nicht erhalten. Im Juli 1635 intervenier- gen diskutiert, wie die Abschiede der Eidgenössi- te Zürich jedoch beim eidgenössischen Landvogt schen Tagsatzung dokumentieren. Dabei ging es mit dem Verweis auf eine an der Tagsatzung be- in erster Linie um die Frage, wie mit den Juden schlossene Vertreibung. Dabei wollte der Zürcher in den Gemeinen Herrschaften – spezifisch im Rat vom Landvogt wissen, weshalb er den Aus- Rheintal, im Thurgau und in der Grafschaft Ba- weisungsbeschluss nicht umgesetzt habe, weshalb den – umgegangen werden sollte. Auch Beschlüs- er gar zwanzig neue jüdische Haushaltungen zu- se zur Ausweisung der Juden aus der Grafschaft gelassen habe und – den Vorwurf der Korruption Baden sind mehrmals dokumentiert. Dabei ist insinuierend – weshalb er von den Juden zwölf bemerkenswert, dass diese Beschlüsse nie um- Reichstaler Schutzgeld anstelle der bisherigen gesetzt wurden: Retrospektiv kann für die Graf- sechs Reichstaler kassiert habe.82 Der eidgenös- schaft Baden eine anhaltende jüdische Siedlungs- sische Landvogt, der Luzerner Alphons Sonnen- kontinuität seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts berg, verwies in seiner Antwort auf zwei Urteile festgestellt werden. Die Frage von Duldung und im Urbar von Baden und meinte, es sei in der allei- Vertreibung wurde dabei, analog zum Beispiel nigen Kompetenz des Landvogts, den Juden in der Solothurns, zum Gegenstand von Aushandlungs- Grafschaft Baden das Geleit zu erteilen – oder zu prozessen zwischen unterschiedlichen Gremien verwehren.83 Gegen Wucher und Getreidespeku- gemacht. In Bezug auf die gemeinherrschaftlich lation habe er bereits Massnahmen ergriffen. Wei- verwalteten Gebiete betraf das die Obrigkeiten tere Schritte seien nicht nötig. Die Mehrheit der der unterschiedlichen Stände, ihre Abgeordneten herrschenden Orte folgte dieser Argumentation. an der Tagsatzung, die eidgenössischen Vögte, die Das Recht, Schutz- und Schirmbriefe zu erteilen, Untervögte, die den lokalen Eliten entstammten, blieb vorerst beim Landvogt. Eine Notiz über die und die Gemeindeoberen. Erhöhung des Schutzgeldes findet sich in den Ab- Ein erstes Mal wurde 1622 gefordert, dass die schieden nicht. Sechs Jahre später, 1641, wandten in der Grafschaft Baden und anderswo in der Eid- sich die Räte der Stadt Baden an die Tagsatzung.

168 Sie verwiesen darauf, dass die Zahl der Juden in Ende der Zurzacher Messe. Dagegen protestierte den letzten Jahren stark angewachsen sei, und ba- nun der eidgenössische Landvogt der Grafschaft ten darum, diese aus der Grafschaft zu vertreiben. Baden, der reformierte Glarner Johann Heinrich Die Mehrheit der Abgeordneten hielt allerdings Elsener. Er verwies darauf, dass er persönlich den an den Bestimmungen des Badener Urbars fest: Juden für die zwei Jahre seiner Regierung Schutz Es läge am Landvogt alleine, das Geleit «jeder- und Schirm zugesprochen habe. Er habe dieses mann und speciell den Juden auch in der Stadt «nach altem Brauch mit Brief und Siegel bestä- Baden zu geben».84 Zudem wies die Tagsatzung tigt».86 Während seiner Amtszeit sei deshalb von darauf hin, dass die Orte und Stände souverän sei- einer Vertreibung abzusehen. Die Abgeordneten en, innerhalb ihrer Territorien zu bestimmen, wie liessen sich – mit Ausnahme der Gesandten von sie gegenüber den Juden verfahren wollten. Das Zürich und Luzern – durch das Votum des Land- Ansinnen der Zürcher, die Juden aus der gesam- vogts umstimmen. Ein Jahr später, immer noch ten Eidgenossenschaft zu verbannen, wurde von während der Amtszeit Elseners, nahmen die ka- der Mehrheit der Abgeordneten also abgelehnt. tholischen Stände erneut einen Anlauf und bilde- Gleichzeitig weist der Absatz in den Abschieden ten eine gemeinsame Front gegen die jüdischen allerdings darauf hin, dass etliche Gesandte den Niederlassungen. Sie forderten erneut eine Ver- Befehl gehabt hätten, auf eine Vertreibung der treibung, die durchgeführt werden müsse, bevor Juden hinzuwirken. Es bietet sich an, diese Nach- der Stand Bern im Juni 1647 an der Reihe sei, den richt gegenüber dem Badener Rat sowohl ökono- Landvogt zu stellen. Argumentiert wurde damit, misch wie auch konfessionspolitisch motiviert dass man sich nicht darauf verlassen könne, dass zu lesen. Das Ausstellen von Schutz- und Schirm- ein Berner die Vertreibung auch wirklich durch- briefen beziehungsweise der Einzug von Schutz- führen würde.87 Das Ansuchen wurde wiederholt geldern war für die Landvögte ein lukratives Ge- vorgebracht, aber nicht umgesetzt – obwohl die schäft. Die Stände, welche die Landvögte stellten, katholischen Stände die Mehrheit an der Tagsat- wollten darauf nicht verzichten. Zürich bildete zung bildeten.88 Offenbar gewichteten sie die Zu- offensichtlich eine Ausnahme. Die Zürcher Obrig- sicherung an Landvogt Elsener, dass es während keit stellte seine Forderung, die «gottlosen» Juden seiner Amtszeit zu keiner Vertreibung komme, zu vertreiben, seit dem Prozess um Samuel Eiron höher als eine Fraktionsdisziplin innerhalb des in einen religionspolitischen und heilsgeschichtli- katholischen Lagers. Gleichzeitig liessen es sich chen Kontext – und präsentierte den Stand Zürich die katholischen Stände nicht nehmen, darauf zu als Hüter des wahren christlichen Glaubens. So pochen, dass die Juden zu vertreiben seien, so- kam es 1641 zu der bemerkenswerten Konstella- lange die Reformierten den Landvogt stellten. In tion, dass die Abgeordneten aus dem reformierten den Jahren, in welchen der Landvogt aus einem Zürich jene waren, die das Anliegen der lokalen katholischen Stand stammte, forderten die katho- Würdenträger vehement unterstützten, während lischen Delegierten hingegen nie die Ausweisung die katholischen Abgeordneten, welche in reli- der niedergelassenen Juden. Nicht zuletzt aus gionspolitischen Fragen ansonsten die Interessen ökonomischen Gründen wollte kein Landvogt der ebenfalls katholischen Badener vertraten, auf auf sein Recht verzichten, das Geleit zu erteilen. die Bestimmungen des Urbars verwiesen. Im Sinne eines symbolpolitischen Handelns in- Die Politik der Stände war indes volatil. Ein szenierten sich das reformierte Zürich und die Jahr später, 1642, stellten die Gesandten der fünf katholischen Stände aber gerne als jene katholischen Orte den Antrag, dass den Land- Partei, welche wiederholt die Ausweisung der vögten sämtlicher Vogteien der Befehl gegeben Juden forderte – gesetzt den Fall, der jeweilige werden sollte, vehementer gegen «Heiden und Landvogt gehörte nicht dem eigenen konfessio- Zigeuner» vorzugehen. Die Luzerner Gesandten nellen Lager an. In der Repräsentationslogik des beantragten, dass dieser Beschluss auf die Juden christlichen Konfessionalismus vermochten sich ausgedehnt werden sollte. Das wurde aber von die katholischen Räte gegenüber den reformier- der Mehrheit der Abgeordneten zurückgewiesen, ten Räten und umgekehrt die reformierten Räte mit der Begründung, die Landvögte hätten ih- gegenüber den katholischen Räten als jeweils nen bereits ihre Geleite erteilt.85 Drei Jahre spä- «bessere» Christen in Szene zu setzen, indem sie ter, 1645, beschloss die Tagsatzung, dass alle in eine Vertreibung der Juden forderten. Das andere den Vogteien lebenden Jüdinnen und Juden die Lager, welches darauf verzichtete, die Forderung eidgenössischen Gebiete bis im September 1646 umzusetzen, wurde, mit David Nirenberg gespro- verlassen sollten – festgelegt auf acht Tage nach chen, gewissermassen «judaisiert».89

169 Das katholische Lager sollte in Bezug auf die die Vorsteher der christlichen Gemeinde Leng- Berner Politik recht behalten: Die Abgeordneten nau im Juli 1658 an die herrschenden Acht Orte Berns votierten geschlossen dafür, dass die Juden gelangten und darum baten, dass in ihrem Dorf nicht unter einem Berner Landvogt ausgewiesen keine weiteren Juden mehr zugelassen würden, würden. Sie erinnerten an die Diskussion aus dem erklärten die Abgesandten, dass den Juden das Jahr 1641 und beantragten, dass mit einer Auswei- Niederlassungsrecht in der gesamten Grafschaft sung zugewartet werden solle, bis Zürich wieder Baden gewährt worden sei. Zudem machten die den Landvogt stelle. Immerhin seien es die Zür- Abgeordneten der Tagsatzung deutlich, dass die cher gewesen, die eine Vertreibung gefordert hät- Gemeinden in dieser Angelegenheit über keine ten – und weiterhin versicherten, diese unter der Mitspracherechte verfügten: «Wenn ein Judt in Verwaltung eines zürcherischen Landvogts auch einem Dorff oder flecken Herberg finden möge, umzusetzen. Allerdings forderten die Zürcher von die Inwohner nit sollen verhindern moe gen.»94 den anderen Eidgenossen eine Absicherung, in Über eine generelle Vertreibung der Juden aus welcher «die übrigen regierenden Orte schriftlich der Eidgenossenschaft wurde 1658 zwar durchaus reversieren, dass es dann dabei verbleiben und die diskutiert, sogar explizit mit Verweis auf den fünf Juden nicht gleich nachher von den Landvögten Jahre zuvor gefällten Beschluss in der Reform von anderer Orten angenommen werden».90 1653; eine Mehrheit der Delegierten votierte je- Ein Regest vom 10. Juni 1647 zeigt auf, wie doch dafür, vorerst auf eine Vertreibung der Juden die Zürcher Gesandten durch den Zürcher Rat ins- zu verzichten und erneut abzuwarten, bis Zürich truiert wurden und welche Überlegungen diesen wieder den Landvogt stellte.95 Als dies sieben Jahre Instruktionen zugrunde lagen. Darin wurde expli- später der Fall war, verzichtete allerdings auch die- zit der Verdacht geäussert, die katholischen Orte ser darauf, eine Vertreibung umzusetzen. Das Mus- würden eine Vertreibung der Juden unter einem ter des vorherigen Umgangs wiederholte sich also. reformierten Landvogt fordern, um zu verhindern, Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde noch dass dieser von den finanziellen Abgaben der so- einmal ein Anlauf unternommen, die Vertreibung genannten Schutzjuden profitieren könnte.91 der Juden durchzusetzen. In den Abschieden ist Die Forderung der Zürcher zeigt, dass die Zür- eine Sequenz aus den gesonderten Verhandlun- cher in Bezug auf die jüdischen Niederlassungen gen der katholischen Orte aus dem Jahr 1695 in der Grafschaft Baden 1647 nicht mehr auf eine überliefert, in welcher Kritik an der Verwaltung Politik der radikalen Vertreibung setzten, sondern, der Gemeinen Herrschaften geübt wurde. Dabei wie die anderen Stände auch, mit Kosten und Nut- wurde von den Obrigkeiten gefordert, dass sie sich zen rechneten, sobald sie den Landvogt stellten. vehementer für die Interessen ihrer Untertanen Da sich kein Stand zu einer schriftlichen Erklä- einzusetzen hätten. Zum Wohl der christlichen rung bereit erklärte, verzichteten die Zürcher in Untertanen müssten die Juden aus den Gemei- den Jahren 1648 und 1649, in welchen sie den nen Herrschaften vertrieben werden. Anders als Landvogt der Grafschaft Baden stellten, ebenfalls in anderen Fällen ist die Sequenz in eine umfang- darauf, die Juden zu vertreiben.92 reichere Erörterung eingebettet, welche die anti- Das Prozedere von geforderter Vertreibung, jüdischen Diskurse der Zeit in harschen Worten Aufschub und Nichteintreten wiederholte sich; widerspiegelt.96 Wie bereits in vergangenen Um- wobei sich die jeweiligen Konstellationen durch- gängen wurde auch in diesem Votum beantragt, aus unterschieden. Hervorzuheben ist die so- mit einer Vertreibung der Jüdinnen und Juden zu genannte Reform von 1653 – die «durchgehende warten, bis der Landvogt wieder von Zürich ge- Reformation über die gemeynen teutschen Vog- stellt werde. teyen». In ihr wurde beschlossen, dass in den Gemeinen Herrschaften künftig keine jüdischen Niederlassungen und Siedlungen mehr geduldet Schutz und Schirm werden sollten. Einerseits wurde ein Aufnahme- stopp verhängt, andererseits wurde darauf ge- Einmal mehr stand die symbolpolitische Rede an drängt, jene Juden, die in den Vogteien wohnten, der Tagsatzung im Widerspruch zur realpoliti- dazu anzuhalten, die eidgenössischen Territorien schen Handlung vor Ort: Anstelle einer Vertrei- zu verlassen.93 Diese Bestimmung wurde offenbar bung wurde im folgenden Jahr erstmalig und mit nicht umgesetzt. Im Gegenteil, fünf Jahre später nachhaltiger Wirkung eine umfassendere Form wurden die Rechte der jüdischen Bevölkerung in der Duldung eingeführt. Am 1. Juli 1696 gewähr- der Grafschaft Baden ausdrücklich geschützt. Als ten die Obrigkeiten den Badener Juden einen für

170 16 Jahre geltenden Schirmbrief mit umfangrei- chen Rechten. Diese Zusicherung erfolgte, wie in den Eidgenössischen Abschieden hervorgehoben wurde, weil keine Klagen gegen die Juden vor- gebracht worden seien.97 Die antijüdische Pole- mik, die ein Jahr zuvor an den Verhandlungen der katholischen Orte geführt worden war, fand an- scheinend keinen Widerhall mehr. Mit dem Ausstellen des Schutz- und Schirm- briefs von 1696 wurden zwei Neuerungen ein- geführt: Die Vertreter der herrschenden Orte beschnitten die Befugnis der Landvögte, Schutz- und Schirmbriefe eigenhändig auszustellen, und nahmen diese für sich selbst in Anspruch. Gleich- zeitig genossen die Jüdinnen und Juden einen längerfristig zugesicherten Schutzstatus. Zwar waren sie der Willkür der Obrigkeit nach wie vor ausgesetzt und lebten weiterhin in einem Zustand der Unsicherheit hinsichtlich der Verlängerung – und der tatsächlichen Einhaltung – ihres Schutz- status. Immerhin versprach die Zusicherung einer Duldung von 16 Jahren planerisch eine gewisse, wenn gleich beschränkte Perspektive. Der Zyklus von 16 Jahren leitet sich aus der Verwaltungspraxis der Gemeinen Herrschaft ab: Die herrschenden Acht Orte stellten jeweils für zwei Jahre einen Landvogt. 16 Jahre entsprachen dem sogenannten Umgang, in welchem jeder Ort einmal den Landvogt stellte. Die Schutz- und Schirmbriefe sind durch Einträge in den Eidge- nössischen Abschieden dokumentiert und im Fall des Schutz- und Schirmbriefs von 1776 auch als Original erhalten.98 Diese Briefe defi nierten Recht und Pfl ichten der jüdischen Bevölkerung. Sie ga- ben vor, dass die jüdische Bevölkerung nicht mehr weiterwachsen solle, und legten eine Höchstzahl an jüdischen Haushaltungen fest. Sie gewährten freien Handel in den Vogteien Baden und Freiamt. Vertreter der Juden in Baden. Stich Sie untersagten den Besitz von Land und Immo- von Johann Rudolf Holzhalb aus bilien – und schrieben vor, wie mit baufälligen Johann Caspar Ulrichs «Sammlung Häusern, Scheunen und Ställen, die im Falle einer jüdischer Geschichten» von 1768. Vergantung von Juden erworben wurden, um- Die allegorische Frauenfi gur soll die zugehen sei. Gleichzeitig mahnten sie die christ- Grafschaft Baden versinnbildlichen, lichen Gemeindebehörden, dass sie kein Recht die zu diesem Zeitpunkt als Un ter- hätten zu verhindern, wenn Christen ihre Woh- tanengebiet von Bern, Zürich und nungen an Juden vermieten wollten. Wobei Juden Glarus verwaltet wurde – wie die und Christen nach den Bestimmungen der Schutz- Wappen oberhalb des Throns anzei- briefe nicht unter einem Dach wohnen sollten. gen. Thron, Zepter und Fascis (Beil Diese Bestimmungen wurden verschiedent- mit Rutenbündel) sind als Insignien lich als Quelle herbeigezogen, um den sozialen der Herrschaft zu lesen. Hinter den Alltag im Surbtal zu rekonstruieren.99 So wurde jüdischen Bittstellern befi ndet sich die Regel, dass Juden und Christen nicht unter eine Tora-Rolle, die mit Meil (Tora- einem gemeinsamen Dach wohnen durften, zum Mantel) und Rimonim (Tora-Krön- Anlass genommen, das architektonische Phäno- chen) geschmückt ist. Das Gebäude im Hintergrund soll die alte Syn agoge von Lengnau darstellen. 171 men der Doppeltüren in Lengnau und Endingen das Wachstum der jüdischen Siedlungen in der zu erklären: Selbst wenn Juden und Christen un- Grafschaft Baden und spezifisch in den beiden ter einem Dach wohnten, hätten zwei Eingänge Dörfern Lengnau und Endingen die folgende Ent- in unterschiedliche Wohnungen doch eine Tren- wicklung: 1634 wurden für die gesamte Grafschaft nung verdeutlicht. In dieser Lesart liessen sich die Baden 20 jüdische Haushalte angegeben. 1702 Doppeltüren als Zeichen der Segregation inter- zählten Endingen und Lengnau alleine 35 jüdi- pretieren. Alexandra Binnenkade hinterfragte in- sche Haushalte. 1761 lebten in den beiden Dörfern des diese Deutung und interpretierte die Doppel- 94 jüdische Familien mit insgesamt 365 Personen. türen vielmehr als Symbole des Kontakts und die 1774 waren es 108 Familien mit 553 Personen. geteilten Häuser als eigentliche Kontaktzonen des 1809 ergab eine Zählung insgesamt 240 Haushal- jüdisch-christlichen Zusammenlebens.100 Aller- tungen mit 1034 Personen, davon 129 Haushalte dings zeigte sie aufgrund ökonomischer Erhebun- mit 583 Personen in Endingen und 111 Haushalte gen aus dem Jahr 1779 auf, dass Juden und Chris- mit 451 Personen in Lengnau. ten in Lengnau im 18. Jahrhundert wohl nicht in Die aufgeführten Beispiele zum Zusammenle- gemeinsamen Häusern lebten; empirische Hin- ben unter gemeinsamem Dach, zum Häuserbesitz weise für eine Kohabitation fand sie erst in einer durch Juden und zum Bevölkerungswachstum Volkszählungsliste aus dem Jahr 1850.101 Gross- zeigen deutlich, dass sich die Bestimmungen der mehrheitlich seien Häuser mit Doppeltüren von Schutz- und Schirmbriefe kaum für die Rekons- mehreren christlichen oder mehreren jüdischen truktion sozialer Wirklichkeit eignen. Die Ob- Parteien bewohnt worden, nicht aber gleichzeitig rigkeiten liessen zu, dass die darin enthaltenen von jüdischen und christlichen Bewohnern. Nur Bestimmungen umgangen wurden; dennoch wie- in sieben von insgesamt 184 Häusern in Lengnau derholten sie diese in den weiteren Schutzbriefen. wohnten 1850 Juden und Christen tatsächlich in Es bietet sich daher an, die Schutz- und Schirm- einem Haus zusammen. Somit, meinte Binnen- briefe – analog zur symbolpolitischen Interpreta- kade, liessen sich die Häuser mit den Doppelein- tion der Diskurse um Duldung und Vertreibung gängen nicht als Spezifikum jüdisch-christlicher – als Form eines symbolischen Rechts zu lesen. In Nachbarschaft interpretieren. Hausteilungen sei- einer solchen Lesart stünden die Briefe nicht für en ein in den Kantonen Aargau und Zürich weit- soziale Realität, sondern für Verhandlungen von verbreitetes Phänomen bäuerlicher Wohnweise informellen Gewohnheiten wie formalen Normen gewesen – und verwiesen in erster Linie auf pre- im Umgang mit Juden innerhalb der Obrigkeiten käre wirtschaftliche Verhältnisse.102 Anders sei die und gegenüber den nichtjüdischen Untertanen. Situation in Endingen gewesen: Hier verwies die Dennoch gilt festzuhalten: Die Juden ver- Erhebung von 1779 darauf, dass in einem Viertel fügten über keine Gewissheit darüber, ob die aller Häuser sowohl jüdische als auch christliche Schutz- und Schirmbriefe, die ihnen gewährt Hausbewohnerinnen und Hausbewohner lebten. wurden, nach 16 Jahren verlängert würden. Zu- Während die Erklärung der Existenz von dem mussten sie – unabhängig von dem zugesi- Doppeltüren als einer Umgehung der schutzbrief- cherten Schutz – stets mit einer Vertreibung rech- lichen Bestimmungen hinterfragt werden kann, nen, sollten die herrschenden Orte ihre Politik der weist die Erhebung von 1779 allerdings darauf Duldung generell revidieren. Das Gewähren von hin, dass das Verbot eines Zusammenlebens unter Schutz und Schirm war innerhalb der herrschen- gemeinsamem Dach – zumindest im Fall von En- den Orte – wie wir gesehen haben – nicht unum- dingen – wohl tatsächlich umgangen wurde. Auch stritten. Auch wenn im Nachhinein von einer län- das Verbot des Besitzes eigener Häuser scheint gerfristigen Heimat der Jüdinnen und Juden im nicht rigoros durchgesetzt worden zu sein. Weld- Surbtal gesprochen werden kann, boten ihnen die ler-Steinberg und Guggenheim-Grünberg ver- Eidgenössischen Orte keinen sicheren Planungs- weisen auf Quellen, die dokumentieren, dass die horizont. Das Damoklesschwert der Ausweisung Herrschaft zu unterschiedlichen Zeitpunkten den schwebte beständig über ihnen.104 Besitz oder gar den Bau eigener Häuser explizit zuliess.103 Definitiv nicht eingehalten wurden die Bestimmungen zur Zuwanderungsbegrenzung. Reformierte Herrschaft, katholische Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache. Untertanen und Schutzjuden Die jüdischen Gemeinden des Surbtals wuch- sen kontinuierlich. Weldler-Steinberg und Gug- Im Jahr 1712, als der Schutz- und Schirmbrief von genheim-Grünberg dokumentierten in Bezug auf 1696 auslief, rüsteten sich das reformierte und das

172 katholische Lager zum Krieg. Im Zweiten Vill- Baden katholisch. Mehrheitlich waren jene Orte, mergerkrieg, dem letzten der frühneuzeitlichen die sich in den 1520er-Jahren zur Reformation Konfessionskriege, besiegten die Truppen der re- bekannten, im Verlauf des 16. und des 17. Jahr- formierten Stände das Heer des katholischen La- hunderts, unter der Vorherrschaft der katholi- gers. Die Reformierten sicherten sich ihre Macht, schen Orte, wieder zu katholischen Gemeinden zerstörten die Festung Stein auf dem Badener geworden. Unter reformierter Herrschaft wurden Schlossberg und schlossen die katholischen Orte jüdische Niederlassungen in der Grafschaft Baden, von der Verwaltung der Gemeinen Herrschaft aus. zumindest quantitativ, zunehmend freigiebiger Nach dem Krieg regierten die siegreichen drei re- zugelassen. So sind die jüdischen Gemeinden in formierten Orte Zürich, Bern und Basel die Graf- Endingen und Lengnau von 35 Haushalten im Jahr schaft Baden zu dritt. 1702 auf 94 jüdische Familien im Jahr 1761 und 180 Auf die Duldung der Jüdinnen und Juden hat- Familien im Jahr 1774 merklich angewachsen.106 In te dieser Regimewechsel keinen Einfluss. Die drei ihren eigenen Territorien tolerierten Bern, Zürich herrschenden Orte stellten den Juden der Graf- und Glarus allerdings keine jüdischen Nieder- schaft Baden am 5. September 1712 einen Schutz- lassungen. In Zürich wurde den Juden, mit weni- und Schirmbrief aus, der wiederum für die Dauer gen Ausnahmen, selbst das Geleit – die Erlaubnis, von 16 Jahren galt. Zwar halten die Akten fest, durch Zürcher Territorien zu reisen – verwehrt. dass dabei zum wiederholten Mal die Hoffnung Das stand in einem krassen Gegensatz zu den Ver- geäussert wurde, dass die Juden von sich aus die hältnissen in den Untertanengebieten – und sorgte eidgenössischen Territorien verlassen würden; an für Konfliktpotenzial mit den lokalen Eliten. der Politik der Duldung änderte diese Formulie- In den Jahren 1756, 1770 und 1776 wandten rung allerdings nichts. Unter der Herrschaft der sich die Untervögte der Grafschaft Baden wieder- drei reformierten Orte wurden keine grundsätz- holt an die Obrigkeiten mit der Bitte, sie möchten lichen Debatten über eine Vertreibung der Jüdin- die Juden nun endlich vertreiben. Demgegenüber nen und Juden aus der Grafschaft Baden mehr nahmen die regierenden Orte die Juden in Schutz geführt. Selbst Zürich verzichtete in der Folge und verwiesen darauf, dass die Juden für die wirt- auf entsprechende Eingaben. Die im Schutzbrief schaftliche Prosperität der Region von hohem enthaltene Bestimmung, dass sich kein «frömbder Nutzen seien. Insbesondere die verarmten und Jude» in der Grafschaft niederlassen dürfe, könn- verschuldeten Bauern, denen ausser den jüdischen te man gar dahingehend lesen, dass die Juden der Geldleihern niemand mehr Kapital zur Verfügung Grafschaft Baden von den herrschenden Orten stellte, würden von der Existenz der jüdischen – zumindest in der semantischen Abgrenzung zu Siedlungen profitieren.107 den fremden Juden – allmählich als eigene Juden Die Debatten zwischen den regierenden Or- erachtet wurden.105 ten verliefen nach 1712, ähnlich wie zuvor die An der Dauer eines Umgangs und entspre- Aus einandersetzungen innerhalb der konfessio- chend an der Gültigkeitsdauer der Schutz- und nell gespaltenen Herrschaft der alten Acht Orte, Schirmbriefe von 16 Jahren wurde festgehalten, entlang konfessioneller Bruchlinien. Der Wider- auch wenn der Umgang nach 1712 nur noch von stand der katholischen Untertanen und der loka- drei Landvögten aus Zürich, Bern und der refor- len Eliten gegen die reformierte Herrschaft richte- mierten Fraktion von Glarus bestritten wurde. te sich in dieser Konstellation mitunter gegen die Während die Schutzbriefe von 1712, 1728, 1744 Schutzjuden, die als Protegierte der reformierten und 1760 dieselben Bestimmungen wiedergaben, Herrschaft symbolisch für ebendiese Herrschaft wurde mit demjenigen von 1776 ein Siedlungs- herhalten mussten. rayon eingeführt. Hierbei wurde die Siedlungs- erlaubnis für Jüdinnen und Juden nun auf die beiden Ortschaften Lengnau und Endingen ein- Attraktivität der jüdischen Gemeinden geschränkt. von Lengnau und Endingen Die veränderten Herrschaftsverhältnisse und der Ausschluss der Katholiken von der Verwaltung Das starke Wachstum der beiden jüdischen Ge- der Grafschaft Baden führten zu einer bemerkens- meinden im Surbtal mag unterschiedliche Gründe werten religions- und konfessionspolitischen Kon- haben. Augusta Weldler-Steinberg und Florence stellation mit Schutzjuden, katholischen Unter- Guggenheim-Grünberg, die beiden pionierhaf- tanen und reformierter Herrschaft. Mit wenigen ten Historikerinnen zur jüdischen Geschichte Ausnahmen waren die Untertanen der Grafschaft der Schweiz, führten es unter anderem auf die zu-

173 Die Synagoge von Lengnau. Stich von fi ktiven Standort inszeniert. Die Bild- Johann Rudolf Holzhalb aus Johann legende erklärt, dass die Synagoge Caspar Ulrichs «Sammlung jüdischer über zwei getrennte Eingänge für Geschichten» von 1768. Die Darstel- Frauen («Weiber») und Männer lung steht in der Tradition der verfügte. Im Vordergrund ist die Surb Landschaftsveduten. Die Synagoge – zu sehen (hier wohl irrtümlicher- oder das, was Holzhalb als Synagoge weise als «Surg» beschrieben). bezeichnete – wird von einem

vor besprochene Reform von 1653 zurück. Dabei selben auch nicht gestattet werden, sich nieder- schrieben sie, dass die «durchgehende Reforma- zulassen; wo schon Juden sind, sollen doch keine tion über die gemeynen teutschen Vogteyen» ein neuen Juden aufgenommen werden, vielmehr «Verbot jüdischer Niederlassung für alle Vogteien soll drauf gesehen werden, dass die vorhandenen […] mit Ausnahme der Grafschaft Baden» ausge- nach Deutschland zurükkehren.»110 Der Beschluss sprochen hätte.108 Daran anschliessend erklärten handelte also nicht davon, dass die Obrigkeiten sie, dass die Duldung der jüdischen Gemeinden versuchten, die jüdischen Siedlungen innerhalb im Thurgau und im Rheintal in der zweiten Hälf- der Eidgenossenschaft auf die Grafschaft Baden te des 17. Jahrhunderts zu einem Ende gekommen zu beschränken und damit einen Siedlungsrayon sei – während die jüdischen Gemeinden in der für Jüdinnen und Juden zu bilden, sondern davon, Grafschaft Baden ab diesem Zeitpunkt erst fl o- in den Untertanengebieten generell keine Juden rierten.109 Die Zitierung ist allerdings ungenau. mehr aufzunehmen und jene Juden, die sich noch Die Textstelle in den Eidgenössischen Abschie- in den Untertanengebieten befanden, dazu zu ver- den, auf welche sie verweisen, lautet: «Wo in den anlassen, die Eidgenossenschaft zu verlassen. Von Vogteien noch keine Juden sind, soll künff tig den- einer Ausnahmeregelung, welche für die Graf-

174 schaft Baden gelten sollte, ist an der zitierten Stel- des ältesten Protokollbuchs, das von jüdischer le keine Rede. Seite überliefert ist, beginnen allerdings erst im Die Beobachtung, dass es bis zum Ende des Jahr 1804. Dabei handelt es sich um ein Pinkas 17. Jahrhunderts keine jüdischen Siedlungen im der jüdischen Gemeinde von Endingen.115 Neben Rheintal und im Thurgau mehr gegeben habe, der Protokollierung laufender Geschäfte vermit- scheint aber durchaus zuzutreffen.111 Auch hat telt es einen Eindruck über die Organisations- eine Konzentration der jüdischen Siedlungen im struktur der Gemeinde und seiner Institutionen. Gebiet der Grafschaft Baden empirisch offen- Die beiden Gemeinden wurden durch eine sichtlich stattgefunden. Ob diese Konzentration Gemeindeversammlung organisiert, an welcher aus eigenem Antrieb erfolgte oder ob sie die Fol- jeweils die Gemeindevorsteher, die Parnassim, ge einer von den Obrigkeiten gelenkten Politik deren Beisitzer, die Towim, und der weitere Ge- der Umsiedlung war, ist aufgrund der Quellen meindevorstand gewählt wurden. Einer der To- indes schwierig zu beurteilen. Ein eigentlicher wim wurde zudem zum Kassier der Gemeinde, Siedlungsrayon wurde erst mit dem Schutzbrief dem Kozin, ernannt. Da die jüdischen Gemein- von 1776 definiert. Das Leben im Surbtal hatte den von der christlichen Armenfürsorge ausge- für Jüdinnen und Juden durchaus Vorzüge. Öko- schlossen waren, bildeten sie eigene Solidarge- nomisch attraktiv war die Nähe zu Zurzach mit meinschaften und Formen der Wohltätigkeit aus. seinen Messen und dem Rhein. Der Flecken Zur- Für Arme und Kranke unterhielten die jüdischen zach lag zu den jüdischen Häusern in Endingen Gemeinden eine eigene Fürsorgeeinrichtung, den in einer Distanz von sieben Kilometern, zu denen Hekdesch. Die Unterbringung und Versorgung in Lengnau zehn Kilometer entfernt.112 An den auswertiger Jüdinnen und Juden, die armenge- Rhein, eine der Hauptverkehrsachsen des früh- nössig waren, wurde durch die Vergabe von Plet- neuzeitlichen Handels, gelangten die jüdischen ten an die Gemeindemitglieder organisiert. Händler ebenfalls in Zurzach oder in Rekin- Das System der Pletten entsprach – wie auch gen, das in rund sieben Kilometern Entfernung die Einteilung der Ämter – weitgehend den Ver- über einen Hügelzug erreichbar war. Kulturelle, hältnissen der aschkenasischen Gemeinden im wirtschaftliche, soziale und verwandtschaftli- Alten Reich. Pletten – eine Art Billett oder Berech- che Verbindungen vom Vorarlberg über den süd- tigungsschein – wurden durch den Gemeinde- deutschen Raum und das Elsass den Rhein hinab vorstand ausgegeben. Sie enthielten in der Regel zeugen von der überregionalen Vernetzung der den Namen eines Gemeindemitglieds, das für die Surbtaler Jüdinnen und Juden. Attraktiv waren Unterbringung und Verpflegung der durchreisen- die beiden Surbtaler Dörfer zudem aufgrund der den Glaubensgenossen aufkommen musste. Die religiösen Infrastruktur und der Organisations- Armenfürsorge wurde dadurch solidarisch auf die struktur der beiden Gemeinden. Gemeindemitglieder übertragen, wobei detaillier- Bereits im 17. Jahrhundert verpachtete die te Bestimmungen regelten, wer wie viele Pletten Stadt Waldshut den Jüdinnen und Juden der zu übernehmen hatte.116 Auch jüdische Reisende, Grafschaft Baden eine im Rhein gelegene Insel, die nicht armengenössig waren, logierten wenn die sogenannte Judenäule, als Begräbnisplatz. immer möglich in jüdischen Haushalten; dort Ein Pachtvertrag aus dem Jahr 1689, den Mah- konnten sie davon ausgehen, dass die Speisegeset- ram Guggenheim aus Lengnau und Simon Moos ze eingehalten wurden. aus Klingnau stellvertretend für die jüdischen In Fragen des Ehe- und Erbrechts, aber auch Familien in der Grafschaft Baden unterzeich- in vermögensrechtlichen Konflikten verfügten neten, dokumentiert das Arrangement.113 1750 die jüdischen Gemeinden in der Grafschaft Ba- erhielten die jüdischen Gemeinden von der Eid- den über eine autonome Gerichtsbarkeit. Richter genössischen Tagsatzung die Erlaubnis, zwischen waren die Rabbiner.117 Wurde deren Richtspruch Endingen und Lengnau einen neuen Friedhof an- nicht akzeptiert, konnten die Parteien an das zulegen, der bis heute genutzt wird. 1750 wurde Landvogteigericht appellieren. Für Konfliktfälle in Lengnau eine Synagoge errichtet, 1764 eine in zwischen Juden und Christen war ausschliess- Endingen.114 lich das Landvogteigericht zuständig. Die letzte Anders als für die anderen jüdischen Sied- Rechtsgewalt über die in der Grafschaft Baden lungen und Niederlassungen ist die Quellenlage niedergelassenen Juden lag beim Landvogt. An- in Bezug auf Endingen und Lengnau verhältnis- ders als die christlichen Untertanen unterstanden mässig dicht – und die jüdischen Gemeinden ver- die Juden in Fragen der niederen Gerichtsbarkeit fügen über eigene Archive. Die Aufzeichnungen nicht dem Richtspruch der lokalen Untervögte.

175 Friedhof der Juden zwischen Leng- Legende beschreibt, dass der Friedhof nau und Endingen. Stich von Johann über zwei Eingänge verfügt, wobei Rudolf Holzhalb aus Johann Caspar diese jeweils auf der Seite von Leng- Ulrichs «Sammlung jüdischer Ge- nau oder Endingen in die Friedhofs- schichten» von 1768. Hinter dem mauer eingelassen sind. Zudem genretypischen Staff agebaum zeigt verweist die Legende auf eine räum- die Darstellung aus erhöhter Perspek- liche Trennung von Gräbern für tive den jüdischen Friedhof als Männer, Frauen, Kinder und Frauen, ummauerten Bezirk, auf welchem die im Wochenbett gestorben sind. eine Beerdigung abgehalten wird. Die

Jüdische Händler und christliche Bauern eingefl ochten. Auf 43 Seiten berichtet er über die beiden jüdischen Gemeinden in Endingen und Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfasste der Lengnau und schildert allgemeine ökonomische, Zürcher Pfarrer Hans Rudolf Maurer unter dem soziale und politische Beobachtungen zu den Titel «Kleine Reisen im Schweizerland. Beytrae - schweizerischen Juden und zur Geschichte der ge zur Topographie und Geschichte desselben» Juden in der Schweiz.118 Der Text ist hinsichtlich einen Bericht über eine Reise, die ihn von Zürich der Intention des Autors äusserst ambivalent zu über Baden nach Schinznach und durch das Surb- lesen und voll von antijüdischen Stereotypen. tal zurück nach Zürich führte. Maurer war ein Gleichzeitig können anhand dieses Dokuments Anhänger der Aufk lärung. Schinznach, das Ziel Aussagen über die Wahrnehmung der Juden und seiner Reise, war der Ort, wo sich gegen Ende die Exotisierung ihrer Lebenswelt getroff en des 18. Jahrhunderts die fortschrittliche Partei, werden. die sogenannten Patrioten, versammelten. In Maurer konstruierte ein dialektisches Verhält- seinem Reisebericht sind an diversen Stellen Ge- nis zwischen jüdischen und christlichen Bewoh- spräche über politische und sozialreformerische nern des Surbtals. Ihre Charaktere schilderte er Fragen und Exkurse zu Historie und Geografi e – wohl als Anhänger von Johann Caspar Lavaters

176 Physiognomik –, indem er ihr Äusseres beschrieb: aus seinem Text Differenzierungsmechanismen Das Auftreten, den Körperbau und die Gesichts- ableiten, insbesondere dort, wo er scheinbar ohne züge der Juden zeichnete er als fein, schlau und Wertung die Gestalt der beiden Dörfer beschrieb. betriebsam, jene der christlichen Bauern als ehr- Maurer schrieb etwa davon, dass sich die Häuser lich, simpel und schwerfällig.119 Wobei ihm diese der Juden durch eine blaue Bemalung des Holz- Beschreibung wohl dazu diente, sein Narrativ der werks erkennen liessen. Während die christli- Juden als «Wucherer und Schacherer» sowie der chen Häuser zumindest teilweise als Bauernhöfe Bauern als «arme Opfer der jüdischen Hausierer, mit Stallungen, Heustock, Feldern und Gärten in Makler und Viehhändler» zu untermauern. Gene- Erscheinung traten, seien die jüdischen Häuser rell wird die Lebensweise der christlichen Bauern lediglich mit kleinen Gemüsegärten ausgestattet im Text kontrastiert mit jener der Juden als Hau- gewesen – «der einzige Anteil an der weiten Erde, sierer, Viehhändler und Makler. Wobei bei Maurer welcher der jüdischen Kolonie vergönnt war», Lebensweise und charakterliche Züge miteinander wie Maurer meinte. Auf die Sichtbarkeit von reli- verbunden waren: Als Händler und Makler muss- giöser Identität im öffentlichen Raum verwiesen ten die Juden «hinterhältig und verschlagen» sein. zudem die Synagogen in den beiden Dörfern, der Das Dasein als Bauer und die Arbeit an der eigenen israelitische Friedhof, die Laubhütten, welche zu Scholle wiederum entsprachen seinem Ideal einer Sukkot errichtet wurden – zu welchen Christen «aufrichtigen und ehrlichen Lebensführung». Be- den Juden das Laubwerk lieferten, wie Maurer eindruckt zeigte sich Maurer jedoch von dem Er- hervorhob.127 In einigen jüdischen Haushalten ziehungswesen und der Gelehrsamkeit der Juden, seien christliche Mägde und Dienstboten ange- die er in Gesprächen mit dem Rabbiner, den Schul- stellt gewesen.128 meistern und ihren Schülern erlebt habe.120 So Über Häuser, die von Christen und Juden schilderte er begeistert die Fertigkeit der kleinen gemeinsam bewohnt waren, berichtete Maurer Knaben, Hebräisch zu schreiben und zu lesen.121 nicht; die symbolhaft aufgeladenen Doppeltüren Generell lieferte Maurer Aussagen zur Sprach- scheinen kein literarischer Topos des 18. Jahr- fertigkeit der Surbtaler Juden, die untereinander hunderts gewesen zu sein – oder sie passten nicht jiddisch und im Verkehr mit Christen den lokalen zu Maurers Narrativ. Christliche Gegenstücke Dialekt sprachen, wobei er wohl Mühe hatte, das der Repräsentation religiöser Identität im öf- Jiddische zu verstehen.122 Gemäss Maurer wurden fentlichen Raum bildeten hingegen die Kirche in nicht nur die jüdischen Knaben, sondern auch die Lengnau (in Endingen fehlte ein christliches Ge- Mädchen darin geschult, zu lesen; wobei die jüdi- betshaus), die christlichen Friedhöfe, der Klang schen Frauen Ausgaben der Heiligen Schrift ge- der Kirchenglocken, Wallfahrten und Prozessio- lesen hätten, die zwar in hebräischer Schrift, aber nen.129 Arbeitsalltag und Zeitstrukturen waren in deutscher Sprache gedruckt waren.123 bei den christlichen Bauern primär durch die Maurer war Anhänger der Idee, die Juden des Landwirtschaft geprägt, bei den jüdischen Vieh- Surbtals zu Bauern zu transformieren.124 Pate für händlern und Hausierern durch Märkte und Fern- dieses Vorhaben standen wohl Hans Caspar Hir- wanderungen. zels 1761 veröffentlichte Schrift «Die Wirthschaft Anders als bei Maurer beschrieben, war das eines philosophischen Bauers» und ein 1774 zu- Verhältnis der Juden und ihrer Dorfgenossen handen der Zürcher Regierung verfasstes Gut- wohl nicht – oder zumindest nicht ausschliesslich achten, das die Empfehlung aussprach, die Juden – durch «bittren Haß»130 geprägt. Es entspricht der mit dem Recht auf Landbesitz auszustatten und Natur der Aktenüberlieferung, dass wir in Bezug als gleichberechtigte Bauern oder Handwerker im auf die Frühe Neuzeit in erster Linie Kenntnis Surbtal wirtschaften und leben zu lassen.125 Von über konfliktbehaftete Begegnungen zwischen einer ökonomischen Reform versprach sich Mau- Juden und Christen haben, wohingegen friedfer- rer einen charakterlichen Wandel der Surbtaler tige Beziehungen im Alltag kaum Niederschlag Juden; er wollte sie von ihrer «verderblichen Mae - in der Aktenbildung fanden. Auch wenn sich jü- cklerey», wie er schrieb, wegführen.126 Gleichzei- dische und christliche Lebenswelten in religiöser tig sollten sich die Bauern (christliche und künf- und sozioökonomischer Hinsicht voneinander tige jüdische) wohl – wie von Hirzel idealisiert unterschieden, lebten sie in der Grafschaft Baden dargestellt – einem aufklärerischen Bildungsideal doch seit dem 16. Jahrhundert in unmittelbarer hingeben. Nachbarschaft. Dieses Zusammenleben war ge- Maurers Beschreibungen folgen also einem prägt von Begegnungen im öffentlichen Raum, auf normativen Programm. Gleichwohl lassen sich dem Dorfplatz, in Wirtshäusern und auf Märkten.

177 Sie handelten miteinander und arbeiteten fürein- Paradoxerweise wurden sie dadurch rechtlich ander.131 Auch wenn wir Nachricht haben von of- schlechter gestellt als französische Juden, die in fener Feindschaft und verdecktem Antijudaismus, der Schweiz als niedergelassene Bürger der Fran- so ist – über die Jahrhunderte der Nachbarschaft zösischen Republik auch in der Helvetischen Re- – doch von Konvivenz, von freundschaftlichem publik im Vollgenuss der bürgerlichen Freiheit Verkehr oder zumindest von einem pragmatischen leben durften.133 Umgang im Alltag auszugehen. Die Zeit der Helvetik war eine Zeit rasanter Umbrüche und intensiver Gewalterfahrung. Fran- zösische, österreichische und russische Truppen- Zwetschgenkrieg und Übergang zum verbände kämpften in den Territorien der Hel- 19. Jahrhundert vetischen Republik, drangsalierten die lokale Bevölkerung und requirierten logistische Güter.134 Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts fand auch die Die alten Eliten – aber auch Teile der ehemaligen Alte Eidgenossenschaft ihr Ende. Am 12. April Untertanen – lehnten die Helvetische Republik ab. 1798 wurde in die «eine und unteilbare Hel- Im September 1802 lancierten die Gegner der Re- vetische Republik» proklamiert. Dabei handelte publik einen flächendeckenden Aufstand – den so- es sich um ein Staatsmodell, das sich am Vorbild genannten Stecklikrieg – und stürzten die Regie- der Französischen Republik orientierte – und mit rung für eine kurze Zeit. Im direkten Anschluss französischer Waffenhilfe konstituiert wurde. an den Stecklikrieg kam es am 21. September 1802 Der Übergang vom Ancien Régime zur Helvetik zu antijüdischen Ausschreitungen in den beiden war mit einschneidenden Veränderungen ideeller Gemeinden Lengnau und Endingen. Dabei ver- und politischer Art verbunden. Die föderal or- sammelten sich rund 800 Bewohnerinnen und ganisierten Stände, die sich auf die religiös-poli- Bewohner aus den umliegenden Tälern, um die Ju- tische Vorstellung eines Gottesgnadentums be- den zu attackieren und ihre Besitztümer zu plün- riefen, wurden durch die revolutionäre Ordnung dern. Bei dem Übergriff handelte es sich nicht um einer zentralstaatlich organisierten Demokratie einen spontanen Akt der Gewalt, sondern um eine abgelöst. Die herrschaftlich verwalteten Unterta- konzertierte Aktion, an welcher sich Bauern, ehe- nengebiete, wie etwa die Grafschaft Baden, wur- malige Söldner und Patriziersöhne beteiligten, be- den zu gleichberechtigten, demokratisch konsti- waffnet mit Säbeln, Gewehren und Heugabeln. In tuierten Kantonen umgewandelt. Leibeigenschaft, den zeitgenössischen Quellen werden diese Aus- persönliche Feudallasten, Folter und Leibesstra- schreitungen mehrheitlich als «Zwetschgenkrieg» fen wurden abgeschafft. Die Ideenwelt der Auf- oder «Bändelkrieg» bezeichnet.135 klärung und das Konzept der religiösen Toleranz Die eigentümliche Begriffsbildung wird von fassten Fuss.132 den Historikerinnen und Historikern unter- Mit dem Ende des Ancien Régime wurden schiedlich begründet. «Zwetschgenkrieg» wird als auch die Sonderabgaben der Juden aufgehoben. Verweis auf die Reife der Früchte am Tag der Aus- Sie mussten keine Schutz- und Schirmbriefe mehr schreitung oder auf die angeblich in den jüdischen erwerben, mussten nicht mehr um Geleit bitten, Gärten übel zugerichteten Zwetschgenbäume in- sondern konnten frei reisen und hatten keine terpretiert. «Bändelkrieg» wird als Hinweis auf die Leibzölle mehr zu entrichten. Heftig debattiert während der Ausschreitungen gestohlenen Stoff- wurde im Rat der Helvetischen Republik jedoch bänder – ein Gut, mit dem jüdische Hausierer im über die rechtliche Gleichstellung der Juden. Als 18. Jahrhundert tatsächlich handelten – gelesen.136 Vorbild diente wiederum Frankreich, das den Zudem wurde argumentiert, dass die Bezeichnung französischen Juden am 27. September 1791 die «Bändelkrieg» wohl eher einem Missverständnis volle Gleichberechtigung verliehen hatte. Das hel- folgte und er ursprünglich wohl eher «Büntel- vetische Parlament lehnte das Ansinnen jedoch ab. krieg» genannt wurde, darauf verweisend, dass Die Gegner der Gleichberechtigung bezeichneten die Plünderer mit Bündeln voll Beute abzogen. die Juden als Fremde; sie seien nicht bloss Ange- Problematisch sind alle drei Begriffe, können sie hörige einer anderen Religion, sondern auch eines doch als heroisierende, romantisierende oder ver- anderen Volkes. Entsprechend seien sie nicht be- niedlichende Verklärung der Ausschreitungen ge- rechtigt, den Bürgereid auf die Helvetische Repu- lesen werden; andererseits bietet es sich – bei aller blik abzulegen. Die Schweizer Juden – auch sol- Distanzierung von einer normativen Deutung – an, che, deren Familien seit Generationen im Surbtal die in der Literatur etablierte Verwendung des Be- lebten – wurden un