Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2020 Konfessionalismus und Konvivenz: Die Surbtaler Juden und ihr Umfeld vom 17. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Kantons Aargau Bürgin, Martin Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-191344 Book Section Published Version Originally published at: Bürgin, Martin (2020). Konfessionalismus und Konvivenz: Die Surbtaler Juden und ihr Umfeld vom 17. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Kantons Aargau. In: Picard, Jacques; Bhend, Angela. Jüdischer Kulturraum Aargau. Zürich: hier und jetzt, 159-182. Erinnerungsort: Das Surbtal als Konfessionalismus «Rütli des Schweizer Judentums» und Konvivenz. An dieser Aussage können unterschiedliche Din- Die Surbtaler Juden ge problematisiert werden. Der Kanton Aargau existiert erst ab dem Jahr 1803. Vor dieser Zeit und ihr Umfeld vom war das Gebiet, das wir heute Aargau nennen, in unterschiedliche politische Territorien unterteilt, 17. Jahrhundert die während der Zeitspanne, welche dieser Arti- kel untersucht, variierten. Ebenso variierten die bis zu den Anfängen Herrschaften, denen diese Gebiete unterstanden. des Kantons Aargau Für die dort ansässigen Juden spielte das eine wichtige Rolle, wie später aufgezeigt werden soll. Wie wir ebenfalls sehen werden, zeugen die Quel- Martin Bürgin len allerdings davon, dass Jüdinnen und Juden neben Lengnau und Endingen auch in anderen – heute aargauischen – Ortschaften wie Mellingen, In einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung Bremgarten, Klingnau oder Baden lebten. Mög- im Oktober 2017 umschrieb Roy Oppenheim die lich wären auch andere Ortschaften innerhalb beiden jüdischen Siedlungen in Endingen und der Grafschaft Baden. In der Forschung wurde Lengnau metaphorisch als «Rütli des Schweizer beispielsweise über Ehrendingen als Niederlas- Judentums».23 Es ist ein raffiniertes Bild, das einer- sungsort von Juden diskutiert, wobei die Indizien seits die Bedeutung des Surbtals für die Geschich- unterschiedliche Deutungen zulassen.25 te der Schweizer Jüdinnen und Juden betont und Mit Bestimmtheit können wir dazu keine Aus- andererseits geeignet ist, um die Schwierigkei- sage treffen – und damit kommen wir zum Problem ten zu reflektieren, die mit dem Schreiben eines der Quellenlage. Die Quellen sind für die Frühe historischen Überblicks über die Geschichte der Neuzeit verhältnismässig knapp – und sie unter- Surbtaler Juden vom 17. Jahrhundert bis zu den liegen spezifischen Perspektiven. Die Überliefe- Anfängen des Kantons Aargau verbunden sind. rung von Quellen ist, wie es Arnold Esch treffend So wie das Rütli in der nationalgeschichtlichen beschrieb, von Chancen und Zufällen geprägt.26 Erinnerungskultur als Ursprungsort der Schwei- Über die Niederlassung einzelner Personen wie zerischen Eidgenossenschaft porträtiert wird, auch über die Siedlungen mehrerer jüdischer Fa- werden die beiden Surbtaler Orte Endingen und milien geben die Archive nur fragmentarisch Aus- Lengnau als Ursprungsorte des Schweizer Juden- kunft. Dabei handelt es sich selten um Quellen tums geschildert. In vielen Darstellungen werden aus jüdischer Hand oder von lokalen Autoritäten, die beiden Dörfer als einzige Orte beschrieben, sondern in den meisten Fällen um Beschlüsse der in welchen Jüdinnen und Juden in der frühneu- Ständeregierungen oder Notizen der Eidgenössi- zeitlichen Eidgenossenschaft siedeln durften. schen Tagsatzung. Das älteste von jüdischer Seite Das gilt für Zeitungsberichte, Fernsehbeiträge, überlieferte Gemeindebuch stammt aus dem Jahr Führungen, Vorträge, vereinzelt aber auch für 1804.27 Berichte von lokalen Autoritäten, christli- wissenschaftliche Studien. In einer historischen chen Gemeinden, Vögten oder Untervögten sind, Fachpublikation wurde diese Erzählung, soweit mit wenigen Ausnahmen, nur dann überliefert, ersichtlich, zuletzt in Battenbergs – ansonsten wenn sie an die Ständeregierungen ausgehändigt grossartiger – Überblicksdarstellung «Die Juden wurden und in den entsprechenden Archiven auf- in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahr- bewahrt werden. Aufgrund der kontinuierlichen hunderts» vertreten, wo es heisst: «Von den – nicht Verschriftlichung von Ratsbeschlüssen in Form mehr zum Reich zählenden – Schweizer Kantonen von Ratsmanualen ist die Chance einer Überlie- liess nur der Aargau Juden zu, so dass sich dort seit ferung jüdischer Existenz in den Archiven der dem späten 17. Jh. in Lengnau und Endingen Ge- Obrigkeiten ungleich höher als in den Archiven meinden bildeten.»24 lokaler Institutionen. Diese Überlieferung bleibt jedoch bruchstückhaft. Jüdinnen und Juden tau- chen in den frühneuzeitlichen Quellen insbeson- dere dann auf, wenn sie in Rechtshändel verstrickt waren, wenn die Obrigkeiten ihnen gegenüber 159 Steinenstadt Mauchen Schliengen Schaffhausen Diessenhofen Mammern Rheinau Emmishofen Bodensee Haltingen Rhein fi Andel ngen Thur Klingnau Basel Rhein Laufenburg Kefikon Allschwil Rheinfelden Endingen Schönenbuch Aare Lengnau Wülflingen Oberwil Winterthur Sitter Witterswil Rheineck Birs Arlesheim Hofstetten Dornach Baden Töss Thal Metzerlen Kyburg Thur Aesch St. Gallen Allaine Blauen Limmat Charmoille Zwingen Mellingen Röschenz Porrentruy Dietikon Reuss Rhein Erschwil Zürich Töss Trimbach Winznau Aare Bremgarten Birs Solothurn Zürichsee Aare Zuger- see Bieler- Rhein see Luzern Vierwald- stättersee Bern Aare Saane Fribourg Brienzer- see Ortschaften mit jüdischen Niederlassungen in der Karte gestaltet durch David Guntern und Martin Bürgin; frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, im Fürstbistum ursprünglich angefertigt für: Bürgin, Martin: Zwischen Basel und im habsburgischen Fricktal Vertreibung und Duldung. Jüdische Siedlungen und Nieder- lassungen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. In: Hauptorte mit jüdischen Niederlassungen Michaela Schmölz- Häberlein (Hg.): Jüdisches Leben in der Region. Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Süden Hauptorte ohne jüdische Niederlassungen des Alten Reiches. Würzburg 2017, S. 31–75. Für diesen Artikel ergänzt um die jüdischen Niederlassungen in Rhein- felden und Laufenburg (im damals habsburgischen Fricktal). Vgl. dazu: Königs, Diemuth: Juden im Fricktal. Geschichte einer Minderheit vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Basel 2016. Ortschaften mit jüdischen Niederlas- sungen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, im Fürstbistum Basel und im habsburgischen Fricktal. Nicht verzeichnet sind hier die Ortschaften mit jüdischen Niederlas- sungen im weiteren alemannisch- jüdischen Kulturraum, der sich von Vorarlberg über das süddeutsche Gebiet bis ins Elsass erstreckt. 160 neue Ordnungen erliessen, sie aus ihren Territori- und der Mitte des 17. Jahrhunderts festzustellen en verbannten oder proklamierten, sie aus diesen sei und dass sich diese Niederlassungen ab dem verbannen zu wollen. Berichte über konfliktfreie 17. Jahrhundert auf die beiden «Judendörfer» Beziehungen zwischen Christen und Juden in der Endingen und Lengnau in der Grafschaft Baden sozialen Lebenswelt vor Ort finden sich demge- konzentriert hätten. Eine genaue Durchsicht der genüber weniger. Daraus kann allerdings nicht ge- Quellen und der Forschungsliteratur belegt aller- schlossen werden, dass die Beziehungen zwischen dings vielmehr die Präsenz jüdischer Individuen, Juden und Christen per se konfliktbehaftet waren. Familien und Gemeinschaften in verschiedenen In historischen Darstellungen wurde hie und Städten und Territorien im 16. und 17. Jahrhun- da versucht, soziale Wirklichkeit und damit gülti- dert.29 Für Zürich kann sogar aufgezeigt werden, ge Aussagen über den frühneuzeitlichen Lebens- wie einzelne jüdische Familien – wenn auch an alltag von Jüdinnen und Juden zu rekonstruie- verschiedenen Orten – vom 15. bis zum 16. Jahr- ren, indem auf Gesetzestexte und Weisungen der hundert über mehrere Generationen wohnhaft Obrigkeit verwiesen wurde – etwa in Bezug auf waren.30 Neben Diskontinuitäten können also die sogenannten Schutz- und Schirmbriefe oder auch Kontinuitäten festgestellt werden. in Bezug auf die Protokolle der Eidgenössischen Von Endingen und Lengnau als «Rütli der Tagsatzung. Diesen Ansatz werden wir problema- Schweizer Juden» im Sinne konkreter Ursprungs- tisieren – und eine andere Lesart obrigkeitlicher orte kann demnach, mit Blick auf die Quellen, Quellen in Bezug auf jüdische Lebenswelten vor- nicht die Rede sein. Genauso wenig kann aller- schlagen. dings vom Rütli als Ursprungsort der Schweiz oder Hingegen lässt sich aus den überlieferten Quel- der Alten Eidgenossenschaft ausgegangen werden. len klar feststellen, dass jüdische Siedlungen und Die Raffinesse der Rütli-Metapher liegt vielmehr Niederlassungen in der frühneuzeitlichen Eidge- darin, dass sie auf die Bedeutung des Surbtals als nossenschaft keineswegs auf das Gebiet des Aar- schweizerischer Erinnerungsort jüdischen Le- gaus beschränkt waren. Grössere Siedlungen sind bens verweist; ihre Aussage zielt darauf ab, die etwa für Solothurn, das Rheintal, den Thurgau Juden in der Lebenswelt Schweiz als Teil eines in- und das Fürstbistum Basel-Landschaft (welches kludierenden gemeinsamen «Wir» anstelle eines formell allerdings nicht zur Eidgenossenschaft ge- exkludierenden «Anderen» verstehen zu wollen.31 hörte) bezeugt; Niederlassungen einzelner Juden Wobei die jüdischen Siedlungen in Lengnau und oder jüdischer Familien können auch für zürche- Endingen nicht bloss als Orte des sozialen Ge- rische Territorien und die Städte
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