Die Tagsatzung Als Appellationsgericht

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Die Tagsatzung Als Appellationsgericht BRGÖ 2013 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs THOMAS LAU, Fribourg Die Tagsatzung als Appellationsgericht Vertreter aller dreizehn eidgenössischen Orte von Tengen-Nellenburg, habe im Jahre 1529 waren am 11. Mai 1597 der Einladung des Vor- einen Reversbrief in seinen Unterlagen gefun- ortes Zürich gefolgt und in Baden zu einer Tag- den, aus dem hervorgehe, dass sein Vorfahr satzung erschienen. Je zwei Gesandte pro Ort Eberhard von Nellenburg im Jahre 1337 dem nahmen im Sitzungssaal des Rathauses Platz. Zu Heiliggeistspital in Schaffhausen das Dorf Me- ihnen gesellten sich Vertreter von fünf zuge- rishausen verpfändet habe. Das Dokument be- wandten – also mit der Eidgenossenschaft eng weise, dass der Pfandgeber das Dorf jederzeit verbundenen – Ständen.1 Das Programm, dem gegen Zahlung von 65 Mark Silber zurückkau- man sich zu widmen hatte, war vielfältig: Spani- fen könne. Als Nellenburg von dieser Möglich- sche und burgundische Gesandte wurden emp- keit habe Gebrauch machen wollen, sei er aller- fangen, der Rechtsstatus des zugewandten Ortes dings abgewiesen und – auf seinen fortgesetzten Mühlhausen analysiert, die Frage beraten, ob Protest hin – schließlich an das Ratsgericht ver- Kaiser Rudolf II. um die Konfirmation der eid- wiesen worden. Dies habe er nicht akzeptiert, da genössischen Privilegien gebeten werden sollte. die Richter dann zugleich die Beklagten gewe- Zudem widmete man sich Antragstellern, die sen wären. Im Jahre 1531 sei er daher zunächst juristische Entscheidungen erbaten. Unter ihnen an das Hofgericht zu Rottweil und, nachdem er befand sich Hilarius von Hornstein, der als dort abgewiesen worden sei, vor das Reichs- Rentmeister des Grafen Karl II. von Hohenzol- kammergericht gezogen. Speyer habe den Zita- lern-Sigmaringen im Auftrage seines Herrn er- tionsprozess gegen Schaffhausen eröffnet und schienen war.2 die Stadt zur Zahlung der Prozesskosten vor Der Graf, Reichserbkämmerer, österreichischer dem Hofgericht verurteilt.4 Als Erbe des Nellen- Rat und Sohn eines Reichshofratspräsidenten, burgers stehe Karl II. auf dem Standpunkt, dass sehe sich, so sein Vertreter, gezwungen, an die Speyer mit der Prozesseröffnung die Echtheit Tagsatzung zu „appellieren“.3 Seine Klage be- der Urkunde bestätigt habe. Man ersuche nun- treffe den Stand Schaffhausen und sei seit 60 mehr die Tagsatzung („appelliere“), Schaffhau- Jahren vor den Reichsgerichten hängig. Der sen dazu zu verpflichten, die dort verbrieften damalige Beschwerdeführer, Graf Christoph Rechtsansprüche umzusetzen. Die Tagsatzung nahm die Klage an. Schaffhau- sen, so hieß es in einem Antwortschreiben an 1 KRÜTLI, Amtliche Sammlung 5/1, 441. 2 Vgl. Staatsarchiv Luzern, Staatliche Bestände, Akten, Akt A 1 F 1 Sch 221, Streit mit den Grafen von Zollern 4 Staatsarchiv Basel, Urkundenregesten, Städtische um Merishausen. Urkunden, im Fasz. E 28, No. 9, Kaiser Carl V. ver- 3 Darlegungen von Hilarius von Hornstein, Abge- kündet das Urteil seines Kammergerichts zwischen sandter Karls II. Graf von Hohenzollern-Sigmaringen, Graf Christoph zu Nellenburg und dem Kloster Aller über den Verlauf der Streitigkeiten um Merishausen, Heiligen und dem Spital zu Schaffhausen wegen des AH 33 No. 52. Dorfes Merishausen, 1. 4. 1538. http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2013-1s251 252 Thomas LAU den Grafen, beharre zwar darauf, dass der Rat senschaft war – wie der Graf von Hohenzollern- die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt besit- Sigmaringen zu Recht betont hatte – gegründet ze, doch sei man bereit, in diesem Falle, um worden, um die Privilegien und Rechte ihrer weitere Kosten zu vermeiden, die Sache in Ba- Mitglieder zu schützen – vor allem vor fremden den zu verhandeln. Die Entscheidung in der (gelehrt-rechtlichen) Interpretationen dieser Pri- Hauptsache erging wenige Tage später und vilegien. Erfüllt werden konnte dieser Anspruch folgte dem Rechtsstandpunkt des eidgenössi- letztlich nur, wenn die Eidgenossen die Recht- schen Mitstandes Schaffhausen.5 Selbst wenn sprechungsbefugnis in letzter Instanz besaßen. jemals Rechte des Nellenburgers bestanden hät- Fixiert wurde dieser Anspruch 1648 im Artikel ten, so teilte man dem Kläger mit, seien diese VI des Osnabrücker Friedensvertrages. Doch verjährt. damit war es nicht getan. Tatsächlich warf die Karl II. reagierte, indem er bei der Tagsatzung Exemtion mehr Fragen auf als sie löste. Der An- eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ein- spruch auf Souveränität – den die Eidgenossen reichte. Er berief sich nunmehr auf die Erbei- aus guten Gründen erst in der zweiten Hälfte nung zwischen dem Haus Habsburg und der des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage des Eidgenossenschaft von 1511 und forderte die Exemtionsartikels vertraten – musste mit einer Einsetzung von Vermittlern.6 Zugleich wies er entsprechenden Rechtspraxis korrelieren.10 Da- auf seine Verbindungen zum kaiserlichen Hof bei war zu beachten, dass die Schweiz nunmehr hin und darauf, dass man die Position des als Völkerrechtssubjekt unter intensiver Be- Reichskammergerichts nicht hinreichend be- obachtung stand. Erfüllte sie die Erwartungen rücksichtigt habe.7 der europäischen Beobachter nicht, so drohte Der Fall, der sich bis ins Jahr 1605 hinzog8 und langfristig die Integration in einen anderen mit einer teuer erkauften Verzichtserklärung des Herrschaftsraum. Grafen endete,9 verdeutlicht die Problematik, die sich aus der zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch unklaren Rechtsposition der eidgenössi- Appellationsgerichtsbarkeit und schen Stände gegenüber den Reichsgerichten Souveränitätsdiskurs ergab. Es war die Abwehr von Appellationen, Zunächst war zu klären, was aus eidgenössi- die letztlich die Herauslösung der Eidgenossen- scher Sicht das Wesen der Souveränität war und schaft aus dem Reich erzwang. Die Eidgenos- wer ihr Inhaber. Der Schwyzer Tagsatzungs- schreiber Franz Michael Büeller stellte sich diese 5 Zum Standpunkt Schaffhausens vgl. AH 33 No. 53– 54. Zum Antrag von Hornsteins ebd. 33 No. 57. Fragen als einer der ersten. In seinem 1689 er- 6 Der Graf trat nunmehr also nicht als Kläger vor der schienenen „Tractatus von der Freyheit/ Souve- Tagsatzung auf, sondern als Vertragspartner (in Stell- ränität“ definierte er zunächst den Souveräni- vertretung Habsburgs), der ein Vergleichsverfahren tätsbegriff, und zwar als ungeteilte Ausübung suchte. Die Tagsatzung wurde so aus einem Gericht 11 zu einer Partei, AH 33 No. 56. der Regalien. In der langen Liste seiner an 7 Ebd. No. 58. Bodin anknüpfenden Aufzählung von Hoheits- 8 Ebd. 13 No. 62–64. rechten wurde auch die Möglichkeit, Appella- 9 Staatsarchiv Schaffhausen AI/0313 Verzichtserklä- tionen zu behandeln, genannt. Dass dies, wie die rung des Grafen Carl zu Hohenzollern-Sigmaringen anderen Rechte, den Eidgenossen zustand, war vom 26. 8. 1605. Im Gegenzug hatte der Rat dem Gra- fen zwei silberne, vergoldete Pokale (um mindestens 250 fl.) und 26 Saum des besten Weines abgekauft, IM 10 MAISSEN, Die Geburt der Republic 187–197. THURN, Chronik der Stadt Schaffhausen 270. 11 BÜELLER, Tractatus 6f. Die Tagsatzung als Appellationsgericht 253 für Büeller nicht erst seit dem Osnabrücker aus vollberechtigten Bürgersiedlungen und un- Frieden von 1648 unstrittig: „Es ist nit ohn/ dass terschiedlich privilegierten Untertanengebieten die Lobl. 13 Orth der Eydgnoßschafft alle Rega- zusammen. Zudem gab es eine Reihe von Kon- lia durch unverdencklich Possession und Ver- dominaten, die sog. Gemeinen Herrschaften. jährung erhalten haben.“12 Heraldische Hinwei- In jeder dieser verschiedenen territorial-juris- se auf das Reich, wie sie in der Eidgenossen- tischen Formationen fanden sich Körperschaf- schaft weiterhin zu finden waren, widersprä- ten, die ihren Gestaltungsspielraum erfolgreich chen dieser Rechtsauffassung keineswegs: „Und auszubauen verstanden. Bis zum Ende des wird der Adler theils aus einer Gewohnheit/ 17. Jahrhunderts war es durchaus offen, ob die theils aber wegen einer Zierd darob gesetzt.“13 Zahl der Kleinterritorien, die ihre Rechte aus- Es sei daher „aus deme/ und was vorher gesagt/ bauen bzw. festigen konnten, nicht weiter stei- [ist] ohnwidersprechlich wahr/ dass die Lobl. 13 gen würde.16 Gerade an der Peripherie der Kan- Orth/ und jedees derselben kein Höheren nächst tone wurde die Gemengelage von Gerichtsrech- Gott erkenne, den Gebrauch der Regalien/ und ten von Städten und Inhabern der niederen Ge- deß höchsten Gwalts habe/ und hiemit ein jedes richtsbarkeit systematisch in diesem Sinne ge- derselben ein freyer/ souverainer und indepen- nutzt. Die Herren von Combremont etwa im dierender Stand sei.“14 Grenzbezirk zwischen Bern und Freiburg konn- Die Souveränität lag also nach Büeller bei den ten für den Flecken Combremont le Petit noch einzelnen Orten. Der Bund war lediglich dazu bis 1630 eine eigene Blutgerichtsbarkeit bean- eingerichtet worden, diese Rechte zu schützen. spruchen. Erst ein umstrittener Hexenprozess Er bot aber keinem der Beteiligten eine Handha- im Jahre 1629 ermöglichte es dem Berner Rat, be, in die Rechte des jeweils anderen einzugrei- diese Kompetenz zu konfiszieren. Die Gerichts- fen. Im Gegenteil, es sei die vornehmste Aufga- rechte von Combremont le Grand hatten Frei- be des Bundes, die Souveränität seiner Glieder burg und Bern bereits 1536 unter sich aufgeteilt. zu schützen und nicht etwa sie zu usurpieren. Die vergeblichen Versuche Freiburgs, die Inha- Das Bild des losen Bundes gleichförmiger Glie- ber dieser Herrschaft, die Familie Mestral, 1635 der war, wie Büellers defensive Argumentation zur Herausgabe von konfiszierten Gütern einer bereits nahelegte, alles andere als unumstritten.
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