BRGÖ 2013 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

THOMAS LAU, Fribourg Die Tagsatzung als Appellationsgericht

Vertreter aller dreizehn eidgenössischen Orte von Tengen-Nellenburg, habe im Jahre 1529 waren am 11. Mai 1597 der Einladung des Vor- einen Reversbrief in seinen Unterlagen gefun- ortes Zürich gefolgt und in Baden zu einer Tag- den, aus dem hervorgehe, dass sein Vorfahr satzung erschienen. Je zwei Gesandte pro Ort Eberhard von Nellenburg im Jahre 1337 dem nahmen im Sitzungssaal des Rathauses Platz. Zu Heiliggeistspital in Schaffhausen das Dorf Me- ihnen gesellten sich Vertreter von fünf zuge- rishausen verpfändet habe. Das Dokument be- wandten – also mit der Eidgenossenschaft eng weise, dass der Pfandgeber das Dorf jederzeit verbundenen – Ständen.1 Das Programm, dem gegen Zahlung von 65 Mark Silber zurückkau- man sich zu widmen hatte, war vielfältig: Spani- fen könne. Als Nellenburg von dieser Möglich- sche und burgundische Gesandte wurden emp- keit habe Gebrauch machen wollen, sei er aller- fangen, der Rechtsstatus des zugewandten Ortes dings abgewiesen und – auf seinen fortgesetzten Mühlhausen analysiert, die Frage beraten, ob Protest hin – schließlich an das Ratsgericht ver- Kaiser Rudolf II. um die Konfirmation der eid- wiesen worden. Dies habe er nicht akzeptiert, da genössischen Privilegien gebeten werden sollte. die Richter dann zugleich die Beklagten gewe- Zudem widmete man sich Antragstellern, die sen wären. Im Jahre 1531 sei er daher zunächst juristische Entscheidungen erbaten. Unter ihnen an das Hofgericht zu Rottweil und, nachdem er befand sich Hilarius von Hornstein, der als dort abgewiesen worden sei, vor das Reichs- Rentmeister des Grafen Karl II. von Hohenzol- kammergericht gezogen. Speyer habe den Zita- lern-Sigmaringen im Auftrage seines Herrn er- tionsprozess gegen Schaffhausen eröffnet und schienen war.2 die Stadt zur Zahlung der Prozesskosten vor Der Graf, Reichserbkämmerer, österreichischer dem Hofgericht verurteilt.4 Als Erbe des Nellen- Rat und Sohn eines Reichshofratspräsidenten, burgers stehe Karl II. auf dem Standpunkt, dass sehe sich, so sein Vertreter, gezwungen, an die Speyer mit der Prozesseröffnung die Echtheit Tagsatzung zu „appellieren“.3 Seine Klage be- der Urkunde bestätigt habe. Man ersuche nun- treffe den Stand Schaffhausen und sei seit 60 mehr die Tagsatzung („appelliere“), Schaffhau- Jahren vor den Reichsgerichten hängig. Der sen dazu zu verpflichten, die dort verbrieften damalige Beschwerdeführer, Graf Christoph Rechtsansprüche umzusetzen. Die Tagsatzung nahm die Klage an. Schaffhau- sen, so hieß es in einem Antwortschreiben an 1 KRÜTLI, Amtliche Sammlung 5/1, 441. 2 Vgl. Staatsarchiv Luzern, Staatliche Bestände, Akten, Akt A 1 F 1 Sch 221, Streit mit den Grafen von Zollern 4 Staatsarchiv Basel, Urkundenregesten, Städtische um Merishausen. Urkunden, im Fasz. E 28, No. 9, Kaiser Carl V. ver- 3 Darlegungen von Hilarius von Hornstein, Abge- kündet das Urteil seines Kammergerichts zwischen sandter Karls II. Graf von Hohenzollern-Sigmaringen, Graf Christoph zu Nellenburg und dem Kloster Aller über den Verlauf der Streitigkeiten um Merishausen, Heiligen und dem Spital zu Schaffhausen wegen des AH 33 No. 52. Dorfes Merishausen, 1. 4. 1538.

http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2013-1s251 252 Thomas LAU den Grafen, beharre zwar darauf, dass der Rat senschaft war – wie der Graf von Hohenzollern- die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt besit- Sigmaringen zu Recht betont hatte – gegründet ze, doch sei man bereit, in diesem Falle, um worden, um die Privilegien und Rechte ihrer weitere Kosten zu vermeiden, die Sache in Ba- Mitglieder zu schützen – vor allem vor fremden den zu verhandeln. Die Entscheidung in der (gelehrt-rechtlichen) Interpretationen dieser Pri- Hauptsache erging wenige Tage später und vilegien. Erfüllt werden konnte dieser Anspruch folgte dem Rechtsstandpunkt des eidgenössi- letztlich nur, wenn die Eidgenossen die Recht- schen Mitstandes Schaffhausen.5 Selbst wenn sprechungsbefugnis in letzter Instanz besaßen. jemals Rechte des Nellenburgers bestanden hät- Fixiert wurde dieser Anspruch 1648 im Artikel ten, so teilte man dem Kläger mit, seien diese VI des Osnabrücker Friedensvertrages. Doch verjährt. damit war es nicht getan. Tatsächlich warf die Karl II. reagierte, indem er bei der Tagsatzung Exemtion mehr Fragen auf als sie löste. Der An- eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ein- spruch auf Souveränität – den die Eidgenossen reichte. Er berief sich nunmehr auf die Erbei- aus guten Gründen erst in der zweiten Hälfte nung zwischen dem Haus Habsburg und der des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage des Eidgenossenschaft von 1511 und forderte die Exemtionsartikels vertraten – musste mit einer Einsetzung von Vermittlern.6 Zugleich wies er entsprechenden Rechtspraxis korrelieren.10 Da- auf seine Verbindungen zum kaiserlichen Hof bei war zu beachten, dass die Schweiz nunmehr hin und darauf, dass man die Position des als Völkerrechtssubjekt unter intensiver Be- Reichskammergerichts nicht hinreichend be- obachtung stand. Erfüllte sie die Erwartungen rücksichtigt habe.7 der europäischen Beobachter nicht, so drohte Der Fall, der sich bis ins Jahr 1605 hinzog8 und langfristig die Integration in einen anderen mit einer teuer erkauften Verzichtserklärung des Herrschaftsraum. Grafen endete,9 verdeutlicht die Problematik, die sich aus der zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch unklaren Rechtsposition der eidgenössi- Appellationsgerichtsbarkeit und schen Stände gegenüber den Reichsgerichten Souveränitätsdiskurs ergab. Es war die Abwehr von Appellationen, Zunächst war zu klären, was aus eidgenössi- die letztlich die Herauslösung der Eidgenossen- scher Sicht das Wesen der Souveränität war und schaft aus dem Reich erzwang. Die Eidgenos- wer ihr Inhaber. Der Schwyzer Tagsatzungs-

schreiber Franz Michael Büeller stellte sich diese 5 Zum Standpunkt Schaffhausens vgl. AH 33 No. 53– 54. Zum Antrag von Hornsteins ebd. 33 No. 57. Fragen als einer der ersten. In seinem 1689 er- 6 Der Graf trat nunmehr also nicht als Kläger vor der schienenen „Tractatus von der Freyheit/ Souve- Tagsatzung auf, sondern als Vertragspartner (in Stell- ränität“ definierte er zunächst den Souveräni- vertretung Habsburgs), der ein Vergleichsverfahren tätsbegriff, und zwar als ungeteilte Ausübung suchte. Die Tagsatzung wurde so aus einem Gericht 11 zu einer Partei, AH 33 No. 56. der Regalien. In der langen Liste seiner an 7 Ebd. No. 58. Bodin anknüpfenden Aufzählung von Hoheits- 8 Ebd. 13 No. 62–64. rechten wurde auch die Möglichkeit, Appella- 9 Staatsarchiv Schaffhausen AI/0313 Verzichtserklä- tionen zu behandeln, genannt. Dass dies, wie die rung des Grafen Carl zu Hohenzollern-Sigmaringen anderen Rechte, den Eidgenossen zustand, war vom 26. 8. 1605. Im Gegenzug hatte der Rat dem Gra- fen zwei silberne, vergoldete Pokale (um mindestens 250 fl.) und 26 Saum des besten Weines abgekauft, IM 10 MAISSEN, Die Geburt der Republic 187–197. THURN, Chronik der Stadt Schaffhausen 270. 11 BÜELLER, Tractatus 6f. Die Tagsatzung als Appellationsgericht 253 für Büeller nicht erst seit dem Osnabrücker aus vollberechtigten Bürgersiedlungen und un- Frieden von 1648 unstrittig: „Es ist nit ohn/ dass terschiedlich privilegierten Untertanengebieten die Lobl. 13 Orth der Eydgnoßschafft alle Rega- zusammen. Zudem gab es eine Reihe von Kon- lia durch unverdencklich Possession und Ver- dominaten, die sog. Gemeinen Herrschaften. jährung erhalten haben.“12 Heraldische Hinwei- In jeder dieser verschiedenen territorial-juris- se auf das Reich, wie sie in der Eidgenossen- tischen Formationen fanden sich Körperschaf- schaft weiterhin zu finden waren, widersprä- ten, die ihren Gestaltungsspielraum erfolgreich chen dieser Rechtsauffassung keineswegs: „Und auszubauen verstanden. Bis zum Ende des wird der Adler theils aus einer Gewohnheit/ 17. Jahrhunderts war es durchaus offen, ob die theils aber wegen einer Zierd darob gesetzt.“13 Zahl der Kleinterritorien, die ihre Rechte aus- Es sei daher „aus deme/ und was vorher gesagt/ bauen bzw. festigen konnten, nicht weiter stei- [ist] ohnwidersprechlich wahr/ dass die Lobl. 13 gen würde.16 Gerade an der Peripherie der Kan- Orth/ und jedees derselben kein Höheren nächst tone wurde die Gemengelage von Gerichtsrech- Gott erkenne, den Gebrauch der Regalien/ und ten von Städten und Inhabern der niederen Ge- deß höchsten Gwalts habe/ und hiemit ein jedes richtsbarkeit systematisch in diesem Sinne ge- derselben ein freyer/ souverainer und indepen- nutzt. Die Herren von Combremont etwa im dierender Stand sei.“14 Grenzbezirk zwischen und Freiburg konn- Die Souveränität lag also nach Büeller bei den ten für den Flecken Combremont le Petit noch einzelnen Orten. Der Bund war lediglich dazu bis 1630 eine eigene Blutgerichtsbarkeit bean- eingerichtet worden, diese Rechte zu schützen. spruchen. Erst ein umstrittener Hexenprozess Er bot aber keinem der Beteiligten eine Handha- im Jahre 1629 ermöglichte es dem Berner Rat, be, in die Rechte des jeweils anderen einzugrei- diese Kompetenz zu konfiszieren. Die Gerichts- fen. Im Gegenteil, es sei die vornehmste Aufga- rechte von Combremont le Grand hatten Frei- be des Bundes, die Souveränität seiner Glieder burg und Bern bereits 1536 unter sich aufgeteilt. zu schützen und nicht etwa sie zu usurpieren. Die vergeblichen Versuche Freiburgs, die Inha- Das Bild des losen Bundes gleichförmiger Glie- ber dieser Herrschaft, die Familie Mestral, 1635 der war, wie Büellers defensive Argumentation zur Herausgabe von konfiszierten Gütern einer bereits nahelegte, alles andere als unumstritten. hingerichteten Person zu bewegen, zeigten in- So setzte sie die Orte als geschlossene Rechts- des, wie schwach die Position der beiden Lan- räume wie selbstverständlich voraus. Tatsäch- desherren in diesem Kondominium weiterhin lich war dieser Standpunkt äußerst kontrovers, war.17 Was in Combremont zumindest ansatz- bildeten doch die einzelnen Orte alles andere als weise gelang, scheiterte, sobald die Herrschafts- klar konturierte Entitäten. Dies zeigte bereits die strukturen komplizierter und die Möglichkeiten Tatsache, dass selbst im Herrschaftsbereich des der Untertanen grösser waren, die an der Herr- mächtigen Ortes Zürich sich die wichtigste der schaft beteiligten Stände gegeneinander auszu- Untertanenstädte, Winterthur, dem Letztent- spielen. So konnte die ehemals reichsunmittel- scheidungsanspruch des Zürcher Kleinen Rates bare Stadt Bremgarten in der Grafschaft Baden entzog, überdeutlich.15 Die eidgenössischen Orte setzten sich aus einem komplizierten Geflecht 16 Vgl. auch die umfangreichen Exemtionsprivilegien von Baden, deren Umfang zwischen den regierenden 12 Ebd. 45. Orten und dem Stadtrat beständig neu ausgehandelt 13 Ebd. 55. wurde, AH 77 No. 90. 14 Ebd. 35. 17 Staatsarchiv Bern, A V 235, Freiburgbücher C, 165– 15 LAU, Müßiggang. 247. Ebd. A V 249, Freiburgbücher R, 353–371. 254 Thomas LAU beispielsweise 1694 ihr Recht auf letztinstanz- um nur ein Beispiel zu nennen, das Konfliktver- liche Entscheidung bei Strafprozessen erfolg- halten an der Grenze zwischen dem katho- reich verteidigen.18 lischen Freiburg und dem reformierten Bern, der Teilweise mussten es kleinere Städte gar nicht Sense, verändert. Noch immer war Verständi- auf einen Konflikt ankommen lassen. Der Rat gung – etwa in Fragen der Hochwasserregulie- der Stadt Murten etwa zog Stück für Stück Ge- rung – möglich.21 Doch hatten die einzelnen richtsrechte an sich, ohne dass die beiden regie- sozialen Verbände nunmehr die Möglichkeit, renden und permanent miteinander streitenden Konflikten eine konfessionelle Komponente zu Stände Freiburg und Bern dies überhaupt wahr- geben (etwa auf dem Weg der Beleidigung der nahmen.19 katholischen Abendmahlslehre) und damit die Büellers Diktum von den souveränen 13 Orten, mögliche Teilhabe starker Bündnispartner am 22 die über einen geschlossenen Rechtsraum mit Konflikt zu signalisieren. Die Verfestigung der höchster Appellationsgerichtsbarkeit verfügten, konfessionellen Grenze stärkte damit eine Rats- war damit mehr Fiktion als Tatsache. Dass diese elite, die über die Grenze hinaus kommunizie- Fiktion im Verlaufe des 17. und vor allem des ren konnte. Lokale Ausgleichsmechanismen 23 18. Jahrhunderts allmählich an Überzeugungs- liefen demgegenüber zunehmend ins Leere. kraft gewann, dass die Zahl der Prozesse etwa Die Tatsache, dass die Ratsfamilien darüber an der Berner Appellationskammer evident hinaus auch in der Organisation von ökonomi- zunahm, hatte eine Reihe von Gründen. Einer schem Transfer, aber auch im Solddiensthandel von ihnen lag in der wachsenden Bedeutung als grenzüberschreitende Vermittler auftraten, 24 von Wissensbeständen, die von einer Elite im stärkte deren Position weiter. In den Stadtkan- Zentrum gebildet und weitergegeben wurden.

Der Umgang mit interkonfessionellen Konflik- und welchen Nutzen die eigene Seite daraus ziehen ten – etwa bei gezielten religiösen Beleidigungen kann, füllt im Falle der Stände Bern und Freiburg – gehörte dazu.20 Die Konfessionsbildung hatte, einen ganzen Band, ebd. A V 244, Freiburgbücher N. 21 Staatsarchiv Bern, A V 237, Freiburgbücher E, 43– 44. 18 AH 1 No. 65, 17 No. 219, 21 No. 47. Vgl. demgegen- 22 Und dies offenbar zunehmend auch über die Ebene über den Bescheid von 1691, ebd. 37 No. 206. von konfessionellen Konflikten hinaus, vgl. Staatsar- 19 Staatsarchiv Bern, A V 264, Austragbücher 445–457. chiv Bern, A V 239/240, Freiburgbücher G und H, 20 Problematisch wurde das Verhalten bei Feiertagen – insbes. die Debatte um infiziertes Berner Vieh, das etwa die Frage, inwieweit sich zeitweilig in einem 1650 auf Freiburger Territorium verkauft wurde, ebd. Territorium aufhaltende Personen der anderen Kon- A V 240, Freiburgbücher H, 743–744. fession sich den Feiertagsbräuchen zu beugen hatten 23 Dies zeigt sich vornehmlich in Streitigkeiten um oder welche Regeln in einer Gemeinen Herrschaft Transfers und Transfergrenzen (also Pflege, Position galten, Staatsarchiv Bern, A V 236, Freiburgbücher D, und Bedeutung von Grenzsteinen, Organisation von 631–700. Vgl. auch die Konflikte bei Eheproblemen, Viehdurchzügen u.ä.), die die Räte auf beiden Seiten wenn die Ehefrau sich mit den Kindern auf das der Grenze zunehmend beschäftigten. Nachbarterritorium flüchtete und ihre Konversion 24 Etwa im Bereich des Straßenbaus, bei dem Freiburg bekanntgab, ebd. A V 244, Freiburgbücher M, 721– ins Hintertreffen zu geraten drohte, bei der Münzre- 822. Weitere, ähnlich gelagerte Fälle (konvertierte gulierung, der Frage der Nutzung von Marchen usw., Geistliche, verweigerte christliche Bestattungen an- Staatsarchiv Bern, A V 244, Freiburgbücher K. Vor derskonfessioneller Personen im Nachbarterritorium, allem aber kam dies beim Salzhandel zum Tragen, konfessionelle Erziehung von Findelkindern in den ebd. A V 246, Freiburgbücher O. Von besonderer Gemeinen Herrschaften) im selben Band. Die zahlrei- Bedeutung war auch die Funktion der Obrigkeit bei chen Fälle von konfessionellen Beleidigungen, die der grenzüberschreitenden Strafverfolgung. Als ein Frage, wie mit ihnen umzugehen ist, welche beachtet Beispiel unter vielen sei ein Hexenprozess aus dem werden und welche nicht, wann eingeschritten wird Jahre 1649 genannt. Der Freiburger Rat sandte das

Die Tagsatzung als Appellationsgericht 255 tonen gewannen angesichts dieser Entwicklung Der Bund garantierte nach Außen den Erhalt der vom Zentrum zur Verfügung gestellte Konflikt- Appellationsrechte. Er erleichterte die Kommu- lösungsmechanismen und Instanzen an Ge- nikation zwischen den einzelnen Ständen und wicht. In Freiburg etwa klagte der Rat Ende des damit ihre Bemühung, die Entstehung auto- 18. Jahrhunderts über eine zunehmende Fre- nomer Rechtsräume an der Peripherie zu ver- quenz von Klagen und Appellationen, die aus hindern. Er stärkte die Position der Ratseliten den Untertanengebieten an die städtischen Ge- und damit auch der Ratsgerichte, indem er richte gelangten. Diese aus Sicht des Zentrums ihnen Mechanismen des interkantonalen Kon- an sich wünschenswerte Entwicklung hatte hier fliktausgleichs eröffnete, die den Untertanen einen Umfang angenommen, der die infrastruk- nicht zur Verfügung standen. Die Bedeutung turellen Möglichkeiten der Ratsgerichte über- des eidgenössischen Bundes für den langsamen stieg. In den größeren Stadtkantonen, wie Bern, Ausbau einer zentralen Appellationsgerichts- wurden Prozesse im 18. Jahrhundert von einer barkeit in den einzelnen Orten ist damit evident. Flut von – bislang nicht untersuchten – gedruck- Doch besaß der Bund auch selbst Gerichtsrechte, ten Parteischriften begleitet. Die Rechtsprechung verfügte er – ähnlich dem Reichskammergericht der Berner Appellationskammer wurde von oder dem Reichshofrat im Alten Reich – über Anwälten, möglicherweise auch von potentiel- eigene letztinstanzlich entscheidende Gerichts- len Klägern, aufmerksam verfolgt – ein deut- höfe? licher Hinweis darauf, dass die Rechtsauffas- sung des letztinstanzlichen Gerichts innerhalb des Berner Herrschaftsraums an Relevanz ge- Die Appellation im wann. Die Stärkung der Appellationsgerichts- eidgenössischen Recht barkeit innerhalb der einzelnen Orte, deren ge- naue Entwicklung noch detaillierter Untersu- In einem internen Gutachten an den Berner Rat chungen bedarf, war, wie erwähnt, in vielfacher vom 23. April 1655 diskutierten die Autoren die Weise mit ihrer Teilhabe am Bund verknüpft. „Notwendigkeit eines neuen Bundes“ zwischen den eidgenössischen Orten. Es handle sich um

einen dringend notwendigen Schritt: „Etliche entsprechende Verhörprotokoll der Verurteilten an Bern und machte darauf aufmerksam, dass diese Ort sind nit mit einander formalich verpündet. angegeben habe, in Bern mit dem „teuflischen Werk“ Als Glarus hat keinen eigenen pundt mit Bern vertraut gemacht worden zu sein. Sie habe bei dieser […]. Die Stadt St. Gallen hat keinen punt mit Gelegenheit Bekanntschaft mit zahlreichen prominen- Basel, Schaffhausen, Appenzell, den dreyen ten Teufelsjüngern aus Zürich, Bern und Schaffhau- 25 sen gemacht. Das Schreiben signalisierte damit auf Pündten, Mühlhausen und Biel […].“ Einen einer ersten Ebene die überkonfessionelle Verantwor- Bund der 13 Orte gab es in der Tat nicht, auch tung für den Schutz der Eidgenossenschaft vor den war die Position der sog. zugewandten Orte – Einflüssen des Satans. Auf einer zweiten Ebene wur- jener Stände also, die mit einem Teil der Eidge- den diese Einflüsse der reformierten Seite zugescho- ben – Beleidigung und Kooperationsangebot waren nossen verbündet waren, wie z.B. St. Gallen – damit eng verbunden. Auf einer dritten Ebene wurde völlig ungeklärt.26 Der Exemtionsartikel im Os- den eigenen Untertanen möglicherweise (es ist un- nabrücker Friedensvertrag galt für sie, ungeach- klar, inwieweit die Angaben der Beklagten mündlich tet ihrer engen Bindung an die 13 Orte, nicht. in Umlauf gebracht wurden) verdeutlicht, dass nur die Obrigkeit in der Lage sei, die Grenze zwischen Bern und Freiburg, die hier zugleich eine spirituelle Grenze war, zu verteidigen, ebd. A V 241, Freiburg- 25 Staatsarchiv Bern, A IV 104, 25–27. bücher I, 691. 26 Dazu allgemein PEYER, Verfassungsgeschichte. 256 Thomas LAU

Es sei, so erklärten die Gutachter, daher drin- belauert, bevor sie militärisch gegen die Eidge- gend notwendig, einen gemeinsamen Bundes- nossenschaft der Bauern vorgingen.28 vertrag zu schaffen, der diesem Missstand ent- Wenngleich die Autoren des Gutachtens auf das gegenwirke. Es gelte die Grenzen der Eidgenos- deutsche und das französische Beispiel verwie- senschaft zu definieren, die einzelnen Gemein- sen und die Einrichtung eines Gerichts vor- den durch einen Bundesschwur auf den Ge- schlugen, war damit – wie der Verweis auf Gla- samtkorpus zu verpflichten und Wege zu fin- rus zeigte – keineswegs die Etablierung eines den, um dem konfessionellen Dauerkonflikt die eidgenössischen Reichskammergerichts ge- Sprengkraft zu nehmen. „Insonderheit auch meint. Welche Zielvorstellung sie stattdessen erforderet es die gemeine ruh in dem Landsfrie- verfolgten, wurde noch im Winter des Jahres den, dass in entstehenden Religions Strytigkei- 1655 im Rahmen des sog. Nikodemitenhandels ten, wenn gütliche gebürende Verglichung nit deutlich.29 Eine Gruppe von Familien war in Platz findet, man sich einer ordentlichen einst Zürich eingetroffen und hatte sich als reformier- kostbarlichen Rechtsformb mit einander verglei- te Minderheit innerhalb des Ortes Schwyz zu che, durch welche die sachen schlüssig ußge- erkennen gegeben. Sie bat den Rat der Stadt um führt, und die Interessierte berüriget werden Asyl, um Hilfe bei der Rettung der noch in können. Und wylen die Lobl. Fünff Alten Orth Schwyz verbliebenen Glaubensbrüder und um im Glarner Handel billich gefunden, dass über Unterstützung bei der Restitution ihres Eigen- Religionsspännigkeiten zerichten, und dieselben tums. Zürich versprach zu helfen, holte recht- gebürend zu entscheeiden, ein ohnparteiische lichen Rat bei anderen Ständen ein und bat Gericht geordnet werde von glych vielen Perso- schließlich den Stand Schwyz schriftlich, den nen jeder Religion, als könnte es auch in Gemei- Bitten der Flüchtlinge nachzukommen, da diese nen Herrschaften beschehen, wyl ohnwider- als freie Eidgenossen Gewissensfreiheit besäßen. sprechlich ein jeder syn Religion affectioniert, Das eidgenössische Recht ermögliche ihnen, im und es by dergleichen Richter allein nit ohnpar- Falle eines Wechsels der Konfession ihren Glau- teiisch hergehen kann, deßwegen auch in ben frei auszuüben, sofern sie in ein Territorium Tütschland, Frankreich und Niederlanden, alwo umzögen, in dem ihr Glaube legal sei. Ihr Eigen- die Religion vermischt, dergleichen ohnpartei- tum sei ihnen garantiert.30 27 isch Gericht verordnet werden.“ Schwyz reagierte auf diesen Antrag mit einer Dieser unter dem Eindruck des Schweizer Bau- deutlichen Kritik am Zürcher Vorgehen. Das ernkrieges entstandene Vorschlag, der den von den Reformierten eingeforderte Recht gelte 13 Orten durch die Stände Bern und Zürich vor- gemäß den Bestimmungen des zweiten Land- getragen wurde, stieß vor allem auf katholischer friedens ausschließlich für Bewohner der Ge- Seite auf wenig Gegenliebe. Zwar äußerten auch meinen Herrschaften, für jene Territorien also, in die Luzerner Räte Bedenken über den bestehen- denen sich katholische und reformierte Stände den Zustand, der sich als ungenügend erwiesen die Herrschaftsrechte teilten.31 Für die Bürger hatte, um den Bauernaufstand rasch niederzu- und Landleute des Standes Schwyz sei demge- schlagen. Während die Bauern sich erstaunlich zügig überkonfessionell organisierten, hatten 28 SUTER, Bauernkrieg. sich ihre Obrigkeiten über Wochen misstrauisch 29 Zum Folgenden LAU, Stiefbrüder 80–120. 30 Staatsarchiv Schwyz 441/001, Zürich an Schwyz 15./25. 9. 1655. 31 Burgerbibliothek Bern, Ms. Helv. VI 112, Schwyz an 27 Staatsarchiv Bern, A IV 104, 57–62. Zürich 27. 10. 1655. Die Tagsatzung als Appellationsgericht 257 genüber ausschließlich der Landrat von Schwyz Aufsicht der 13 Orte und unter Hinzuziehung zuständig. Weder Zürich noch der Rest der Eid- des eidgenössischen Rechtsbrauchs erfolgen. genossenschaft habe mit dieser Angelegenheit Das Treffen der eidgenössischen Stände, die etwas zu tun. Man verwahre sich gegen jeden Tagsatzung, wurde damit zur höchsten Appella- Eingriff in die Souveränität des Standes und tionsinstanz nicht nur bei Streitigkeiten zwi- verlange die Auslieferung der Straftäter, die an schen den Kantonen, sondern auch bei Konflik- der Limmat Asyl gefunden hätten. Anders als ten zwischen Kantonen und Landleuten bzw. die von Zürich eingeforderten Rechte sei diese Bürgern oder Untertanen – klagte doch Zürich Verpflichtung nämlich unbestreitbar und durch im Namen der Schwyzer Glaubensflüchtlinge.32 die eidgenössischen Bünde eindeutig festgelegt. Dabei blieben von beiden Seiten akzeptierte Zürichs Räte blieben unbeirrt. Da Schwyz sich Grundprinzipien des eidgenössischen Rechts weigere, ihren wohl begründeten Forderungen erhalten. Auch Zürich forderte weder eine Ent- nachzukommen, beantragten sie den Eintritt in scheidung auf der Grundlage des gelehrten das eidgenössische Recht – eidgenössische Rechts, noch ein Urteil durch gelehrte Richter. Mediatoren mögen auf der Grundlage der Bün- Das Ergebnis der Verhandlungen erhielt nur de und des Rechtsbrauchs den Fall entscheiden. dann Gültigkeit, wenn die Konfliktparteien ihm Schwyz wies dies erneut strikt zurück. In einem freiwillig folgten.33 solchen Fall, der nichts mit den eidgenössischen Ein Appellationsverfahren im römischrecht- Bünden zu tun habe, sei man nicht verpflichtet, lichen Sinne war dies zweifellos nicht. Da der in das eidgenössische Recht einzutreten und Konfliktaustrag jedoch stufenweise erfolgte, die werde dies auch nicht tun. Begründung des eigenen Standpunkts rechts- Der Fall, der schließlich zum Ersten Villmerger förmig zu erfolgen hatte und die Beteiligten das Krieg von 1656 führen sollte, offenbarte zwei Verfahren als Rechtsverfahren benannten, han- völlig unterschiedliche Auffassungen vom delte es sich auch nicht um einen reinen interes- Rechtssystem der Eidgenossenschaft. Die refor- sengeleiteten, politischen Konfliktaustragungs- mierte Seite forderte, dass nicht nur die eidge- mechanismus. nössischen Stände, sondern auch ihre Unterta- Die Kritik von Schwyz an diesem Verfahren nen, Bürger und Landleute Träger von einklag- entzündete sich im Übrigen nicht an dem skiz- baren Rechten sein sollten – dies war bislang zierten Ablauf selbst, sondern an der Frage, wer allenfalls für die Bewohner der Gemeinen Herr- antragsberechtigt war und ob das eidgenössi- schaften akzeptiert worden. Sie forderten zu- sche Recht subjektive Rechte für Bewohner der dem, vermeintliche Verstöße gegen diese Rechte Eidgenossenschaft beinhaltete. Da sich diese im Rahmen eines rechtsförmigen Konfliktaus- Frage auf der Tagsatzung nicht regeln ließ, trages zu verhandeln. Wie dies ihrer Vorstellung nach zu geschehen hatte, wurde im Verlaufe des Konfliktes um die Nikodemiten deutlich. Zu- 32 Zur Tagsatzung mit zahlreicher weiterer Literatur nächst bat man die anderen Eidgenossen um Rat WÜRGLER, Reden und Mehren. Die Habilitations- und wandte sich dann direkt an die gegnerische schrift Würglers (Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer reprä- Seite. Da dieser erste Versuch, den Konflikt zu sentativen Institution im europäischen Kontext 1470– lösen, nicht fruchtete, bat man um die Benen- 1789) erscheint 2013 als Bd. 19 der Frühneuzeit- nung von Ständen (sog. Sätzen), die den Streit Forschungen. vergleichen sollten. Sofern dies ebenfalls scheite- 33 Zu diesem Vorgang Staatsarchiv Zürich A 235, 1. Büeller geht demgegenüber von einem Gewaltverbot re, solle als dritter Schritt eine Mediation unter zwischen Eidgenossen aus, BÜELLER, Compendium. 258 Thomas LAU wurde sie auf dem Schlachtfeld – zugunsten der nem Konflikt mit den anderen Orten, so gebe es katholischen Seite – entschieden. für einen eidgenössischen Stand nur die Mög- Es war ein Krieg, der spezifisch eidgenössische lichkeit, in das Recht zu treten. Was aber, so Züge trug, hielten sich alle Beteiligten doch an Büeller, wenn das Urteil offensichtlich den Prin- Regeln, wie sie am Ende des Alten Zürichkrie- zipien dieses Rechts eklatant widersprach? Der ges erstmals formuliert wurden. So griffen nur Autor tat sich mit der Antwort auf diese Frage die Stände zu den Waffen, die dazu berechtigt schwer: „Und möchte, und hiemit die Partheien waren (konkret waren dies die acht Alten Orte). von der Appellation ausgeschlossen wären, so Die übrigen, laut Bundesverträgen zum „Stille- sollend selbige doch nit verhinderet weren wi- sitzen“ verpflichteten Stände vermittelten. der den Richter zu agieren wegen der ungerech- Nichteidgenossen wurden in die Auseinander- ten Sentenz.“35 In einem solchen Fall sei der setzung nicht verwickelt und als der Krieg be- ungerecht Belastete berechtigt, die übrigen Orte endet war, wurde die Unversehrtheit der Rechte um Schutz anzurufen. Das Beharren auf der des gegnerischen Standes selbstverständlich ungerechten Handlung sei dann als ein Angriff geachtet. Der Krieg wurde damit als eine letzte, zu verstehen und die übrigen Orte seien berech- strikten Regeln gehorchende Möglichkeit zur tigt, dem Bedrängten mit Waffengewalt beizu- Lösung eines rechtlichen Problems angesehen. stehen. Wenn auch etwas gewunden, lässt auch Er war im Prinzip die letzte eidgenössische Ap- Büeller damit die Möglichkeit eines legitimen pellationsinstanz. Krieges innerhalb der Eidgenossenschaft gelten, Die Eidgenossen waren damit keineswegs in sofern er unter Berücksichtigung der besonde- ihrem Verhalten untereinander uneingeschränkt ren, hier geltenden Regeln geführt wurde. souverän. Sie hatten – sofern sie nicht den Bruch Der Vorfall des Jahres 1655 wirft nicht nur ein des Bundes riskieren wollten – eine Reihe von bezeichnendes Licht auf die Besonderheiten des Regeln zu akzeptieren, einem eidgenössischen rechtsförmigen, stufenweisen Konfliktaustrages Recht zu folgen, das für Außenstehende nur in der Eidgenossenschaft, sondern verdeutlicht schwer nachzuvollziehen war.34 Auch Franz auch, wie umstritten dessen Ausgestaltung war. Michael Büeller, der katholische, die souveränen Tendierten die reformierten Stadtorte dazu, den Rechte der Orte vehement verteidigende Tag- konfessionellen Konflikt durch die Einrichtung satzungsschreiber, ließ an diesem Grundkon- von – möglicherweise permanenten – Media- sens keinen Zweifel. In seinem „Compendium“ tionsorganen zu entschärfen und dabei auch den des eidgenössischen Rechts löste er die sich dar- Landleuten und Untertanen Klagemöglichkeiten aus ergebenden Probleme, indem er auf die zu eröffnen, lehnten die katholischen Orte dies Möglichkeit eines Souveräns hinwies, Rechte zu ab. Das System barg damit Konfliktpotential. Es delegieren – in diesem Fall hätten die Orte dies war aber auch entwicklungsoffen und anpas- dauerhaft getan und insbesondere auf ihr Recht sungsfähig. zur Kriegführung verzichtet. Komme es zu ei-

34 Dazu gehörte auch, dass die Tagsatzung, sofern alle Teilnehmer zustimmten, ein unumschränktes Selbst- befassungsrecht besaß und daher 1677 entscheiden konnte, als Strafgerichtshof gegen jene vorzugehen, die sich gegen das Defensional ausgesprochen hatten, Staatsarchiv Luzern 13/4610, Protokoll des Rechts- tages in Luzern vom 22. 1. 1677. 35 BÜELLER, Compendium 95. Die Tagsatzung als Appellationsgericht 259

Das Appellationsrecht in den Waren nur zwei oder drei Kantone an der Herr- Gemeinen Herrschaften schaft beteiligt, so fanden die Syndikate ebenso wie im Falle der von zwölf Orten verwalteten Die Weiterentwicklung des eidgenössischen ennetbergischen Vogteien außerhalb der Tagsat- Rechts hin zu einem Normenkatalog, der auch zungen statt. Lediglich die Syndikate der wich- die Rechte der Landleute, Bürger und Unterta- tigen fünf Deutschen Gemeinen Vogteien wur- nen garantierte und ihnen Appellationsmög- den kurz nach der Tagsatzung abgehalten. Sie lichkeiten eröffnete, war dennoch ab 1656 de begannen nach Beendigung der gemeineid- facto blockiert. Es gab indes ein bereits erwähn- genössischen Traktanden. Die Vertreter von tes Feld der Rechtsprechung, auf dem die Eid- Basel und der zugewandten Orte reisten ab und genossen und ihr wichtigstes Gremium, die die verbliebenen Vertreter widmeten sich den Tagsatzung, als wichtige Appellationsinstanz Angelegenheiten des Landgerichts Thurgau, das auftrat, nämlich in den Gemeinen Herrschaften. neben den sieben regierenden Orten des Thur- Die Tagsatzung war ein Gesandtschaftstreffen gau auch die Stände Bern, Freiburg und Solo- mit eigenen Regeln. De jure verhandelten die thurn innehatten.38 Es folgten Appellationen aus Stände hier nur über jene Themen, die sie un- Diessenhofen und schließlich des Rheintals. mittelbar betrafen. Wurden Fragen angeschnit- Nachdem nach diesem Abschnitt Freiburg, Solo- ten, die einen Teil der Delegierten nicht interes- thurn, Schaffhausen und Appenzell den Ort der sierten, so verließen sie die Verhandlungen. Tagsatzung verlassen hatten, widmeten sich die Verbindlich waren die Beschlüsse zudem nur, verbliebenen sieben Stände den Geschäften des wenn sie von den Auftraggebern akzeptiert Thurgau, Sargans und der Freien Ämter. wurden. Da die Gesandten jedoch in der Regel Beschwerden der Orte Freiburg, Solothurn und zur Primärelite ihrer Stände zählten und gegen- Bern gegen die Verhandlung von Appellationen über ihren Miträten über einen beträchtlichen aus dem Thurgau, an denen sie als Mitinhaber Informationsvorsprung in Fragen der eidge- des Landgerichts hätten Anteil haben müssen, nössischen Entscheidungsbildungsmechanismen legen nahe, dass dieser Geschäftsgang eingehal- verfügten, war ihr Hinweis, man bedürfe weite- ten wurde, soweit es sich um Rechnungs- und rer Instruktionen, in der Regel als Versuch zu Appellationsfragen handelte.39 In anderen Berei- werten, Zeit zu gewinnen.36 Neben dem Plenum chen waren die Standesvertreter flexibler. Die gab es in Baden (bzw. ab 1713 in ) Manualia – Protokolle der Tagsatzung – doku- eine große Zahl von informellen und formellen mentieren, dass Treffen der sieben, der acht und Sondertreffen. Die wichtigsten davon waren die der zwölf regierenden Orte auch während der Syndikate. Syndikate waren Gesandtschaftstref- fen, auf denen die regierenden Orte die Abrech- 38 nung der Landvögte, die Beschwerden der Un- Die zehn Orte fungierten dabei auch als Appella- tionsinstanz für Entscheidungen des Landgerichts, tertanen37 und Appellationen annahmen. vgl. Zürcher Abschied 1500, Staatsarchiv Bern, A V 753, 1. Zur territorialen Struktur des Thurgau und seiner komplexen Gerichtslandschaft noch immer unverzichtbar: FÄSI, Genaue und vollständige Staats- 36 SCHLÄPPI, In allem Übrigen. und Erdbeschreibung 143–280. In diesem Band wird 37 Z.B. Beschwerdepunkte der Untertanen der Freien auch die Gerichtsverfassung und Appellationsord- Ämter und die entsprechenden Rechtfertigungen des nung der übrigen Gemeinen Herrschaften kurz um- darin angegriffenen Landvogts Peter Furrer und des schrieben (zu Lugano z.B. 543). Zusätzlich: FÜESSLIN, Landschreibers Beat Jakob I. Zurlauben, 30. 3. 1639, Staats- und Erdbeschreibung. AH 42 No. 64 (auch No. 65, 67). 39 Staatsarchiv Bern, A V 753, 108. 260 Thomas LAU

Zeit der gemeineidgenössischen Sitzungen im- gelegenheiten gehörte46 und was eine Appella- mer wieder an Morgen- oder Nachmittagsstun- tion genau umfasste (nur Verhandlung über das den eingeflochten wurden.40 Auch hier konnte Strafmaß oder auch in der Sache), war – wie es um juristische Fragen gehen. Es wurde z.B. immer neue Tagsatzungsbeschlüsse zeigen – über die Zuständigkeit eines Gerichts entschie- unklar. den, die Höhe einer Strafe angefochten41 oder es Ein weiteres Problem bestand darin, festzustel- wurden Gnadenakte beantragt.42 len, ob der Instanzenzug vor der Eingabe einer Das Appellationsrecht der einzelnen Gemeinen Appellation beim Syndikat ausgeschöpft war. Herrschaften unterschied sich erheblich und Bei zahlreichen Streitgegenständen bestand in beruhte auf vertraglichen Vereinbarungen der einzelnen Gemeinen Herrschaften eine konkur- jeweiligen regierenden Orte.43 Da das Geflecht rierende Zuständigkeit. Im Thurgau etwa hatten von Bestimmungen Widersprüche aufwies, kam die Prozessparteien bei zivilrechtlichen zweit- es über das genaue Verfahren indes immer wie- instanzlichen Appellationsverfahren die Wahl. der zu Konflikten.44 Strittig war etwa im Thur- Sie konnten sich an das Landgericht oder das gau, was appellabel war und was nicht – ob Oberamt (bestehend aus dem Landvogt, dem Malefizangelegenheiten dazu gehörten, wurde Landammann, dem Landschreiber und dem bei verschiedenen Anlässen unterschiedlich Landweibel) wenden.47 Fielen eine oder beide entschieden.45 Auch was zu diesen Malefizan- Streitparteien unter die im Thurgau weiterhin bestehenden Gerichtsrechte von St. Gallen, 40 Zum Folgenden exemplarisch: Staatsarchiv , Fischingen oder Konstanz, so bestanden darüber 2486, Manualia 1645–1649. hinaus Klagemöglichkeiten bei den Appella- 41 v r Ebd. fol. 13 –14 . tionstribunalen bzw. Hofgerichten dieser Stän- 42 Hinzu kam die Bitte um Bestätigung eines Urteils 48 der Syndikate gegenüber Dritten, AH 29 No. 114. de. Erst wenn eine dieser Instanzen entschie- Auch Vergleichsverfahren konnten auf diesem Wege einen (möglicherweise aus politischen Gründen un- erwünschten) Appellationsprozess verhindern, ebd. 55 No. 178. Über einen sog. Appellationsrecess ebd. auch Malefitz sachen von dem Landt gericht an die 99 No. 37. Zehen Orth wird gestattet.“ Ebd. A V 753, fol. 272v, 43 Zum Thurgau vgl. Staatsarchiv Bern, A V 753. vgl. ebd. A V 753, 304 sowie A V 753, 518 (zum Beisitz 44 Die regierenden Orte konnten als Herren des Ver- bei Malefizappellationen), ausführlich ebd. A V 753, fahrens in besonderen Fällen den Landvogt auch 599. übergehen, ihn als Ermittlungsbehörde nutzen und 46 Ebd. A V 753, 310; A V 753, 631; A V 757, 599. das Verfahren direkt an sich ziehen, vgl. Staatsarchiv 47 Vgl. auch Beschluss zur Kompetenzabgrenzung von Aargau, 2486, Manualia 1645–1649, fol. 238r. 1511, ebd. A V 753, 8: „Vorgemelt gemein undt frey 45 Strittig war vornehmlich die Möglichkeit der Ap- landgericht, dass der landt Richter mit Zwölff Mann pellation in Malefizsachen, die erstinstanzlich vom besitzt, hat zu richten in Ehrverletzlichen Sachen, Thurgauer Landgericht entschieden worden waren, undt zuredungen die das mallfiz belangendt auch in an die regierenden zehn Orte. So hieß es in einem appellationen die für Sye kommen“; ebd. A V 753, Tagsatzungsprotokoll von 1520: „Der Landvogt im 272. Die sinkende Bedeutung des Landgerichts schlug Thuirgöw hatt lassen anbringen wie Etlich Todschlä- sich in einer sinkenden Frequenz von Appellationen ger und ander so sich deß Malefizes halb verwürkt, an das zehnörtige Syndikat zugunsten des siebenörti- und zu Zeiten vor Landtgricht Condemniert worden, gen Syndikats nieder, ebd. A V 753, 108, vgl. auch sich dem nach understanden, für uns Eydgnoßen, als ebd. A V 753, 126; A V 753, 132. die Oberkeit zu appellieren, und Ihnen dardurch 48 PUPIKOFER, Der Kanton Thurgau 155. Zu Auseinan- gegen Ihr wider Parthey Ein Verzug und Verlen- dersetzungen um die (zweitinstanzlichen) Appella- gerung, dadurch aber dieselb widerparthey in einem tionsrechte des Bischofs von Konstanz: Staatsarchiv merklichen Kosten geführt.“ Staatsarchiv Bern, Bern, A V 761, 377–401. Zu den St. Gallischen Rechten A V 753, 22. „Die Appellation von Ehrverletzlichen in den sog. Malefizorten ebd. A V 806.

Die Tagsatzung als Appellationsgericht 261 den hatte, bestand für die Streitparteien die Dies galt insbesondere für Urteile,55 die Privile- Möglichkeit, sich an das Syndikat zu wenden.49 gien und Freiheiten einzelner Orte und Stände Die Appellanten hatten sich zunächst beim Vor- betrafen, wie etwa Appellationen, die aus der ort Zürich anzumelden und bei dem Stand, der Gemeinde Rheinau an die acht regierenden Orte den regierenden Landvogt während des hängi- des Thurgau gelangten.56 In den betreffenden gen Prozesses gestellt hatte, einen Appellations- Fällen, so etwa bei einer Klage von Franz Anton brief einzureichen.50 Die Appellation musste von Waldkirch gegen den Prälaten von Rheinau, innerhalb von elf Tagen angezeigt werden, der beharrte das Gericht des Klosters auf seinem Streitwert musste 50 fl. überschreiten.51 Das Ver- Privileg der letztinstanzlichen Gerichtsbarkeit.57 fahren hatte suspensive Wirkung.52 Die Zahl der Die Gemeinde verwies demgegenüber auf eige- Fürsprecher, die die Parteien vertraten, wurde ne Privilegien sowie auf die Gerichtsrechte der auf zwei beschränkt. Thurgauer Landvogtei. Appellationsverfahren Versuche in den 80er Jahren des 18. Jahrhun- aus Rheinau waren damit zugleich Verhandlun- derts, die Versendung von Prozessakten und gen, in denen über den Rechtsstatus der Ge- insbesondere Voten durch den Landvogt einzu- meinde gegenüber dem Kloster verhandelt 58 fordern, zeigen, dass dieses Verfahren keines- wurde. Sie wurden von beiden Seiten durch 59 wegs geläufig war. Der Landvogt war jedoch Drohungen, Bestechungsgelder und Publika- zumeist bei den Syndikatssitzungen anwesend. tionen begleitet. Neben juristischen Argumenten Im 18. Jahrhundert begannen die Prozesspartei- hatten die Mitglieder des Syndikats damit auch en zudem (ähnlich wie bei Appellationsprozes- Fragen der politischen Opportunität bei ihren sen auf Standesebene), ihre Anträge bereits im Entscheidungen zu berücksichtigen. Vorfeld der Entscheidung als Gutachten in Urteile kamen nach dem Umfrageprinzip zu- Druck zu geben.53 Die Richter hatten also die stande, wobei der Provisionalort das Verfahren über den Kreis der Prozessbeteiligten hinausge- leitete und zugleich stimmberechtigt war. Sie hende Außenwirkung ihrer Entscheidungen wurden in der Kanzlei der jeweils betroffenen zunehmend in ihr Kalkül miteinzubeziehen.54 Landschaft ausgefertigt.60 Da die Standesvertreter im Syndikat ohne In- 49 Vgl. AH 52 No. 19. struktionen Recht sprachen, hatten die Parteien 50 Ebd. 1 No. 86. Staatsarchiv Thurgau, 0020, I/21, die Möglichkeit, nach dem Syndikatsurteil di- Appellationsbrief für Anna Scherrer, 12. 5. 1732. Zu rekt an die Stände zu appellieren.61 Dies kam, Gebühren, die bei Einreichung eines Appellations- briefes im Thurgau berechnet werden durften: FECH- TER, Amtliche Sammlung 7/2, 639. 55 Beispiel für ein Urteil: AH 86 No. 127. 51 Ein Überblick über die Appellationsvoraussetzun- 56 Dazu Staatsarchiv Thurgau, 0434, Nr. 2113. gen findet sich auch in Allgemeine Encyklopädie 29– 57 FECHTER, Amtliche Sammlung 7/1, 770. 36. Die Höhe des Streitwertes unterschied sich von 58 AREGGER, Städtchen. Territorium zu Territorium: AH 57 No. 14. 59 Zu Bestechungsvorwürfen im vorliegenden Fall vgl. 52 Ebd. 11 No. 14; 70 No. 10. ebd. 201–208, im Allgemeinen FECHTER, Amtliche 53 Umfangreich war vor allem die Publikationstätig- Sammlung 7/1, 787. keit in Bern. Als Beispiel sei verwiesen auf den Be- 60 Zum Appellationsverfahren in der Grafschaft Thur- stand Staatsarchiv Bern, B IX 822. gau HASENFRATZ, Die Landgrafschaft Thurgau 2–99. 54 Deduction, sowohl über das von dem hochwürdi- 61 Verhandlungen auf der Tagsatzung von 1693 zei- gen Gotts-Haus Rheinau, bey dem Hochlöblichen gen, dass Prozessparteien durchaus den Versuch Syndicat zu Frauenfeld Ao 1746 eingereichten Memo- unternahmen, diesen Instanzenzug zu durchbrechen. rial, Als auch über die bey der erhaltenen Appellation Untertanen aus Lugano hatten sich offenbar direkt – in IV. Theil dargegen verfassten gründlichen Beweiß. unter Umgehung des Syndikats – an einzelne Orte Der Stadt und Burgerschaft daselbst, o.O. 1746. gewandt, AH 11 No. 13, 17. 262 Thomas LAU wie in den Zuger Instruktionen der Tagsat- Wenngleich ab Mitte des 17. Jahrhunderts die zungsgesandten beklagt wurde, vor allem im Zahl der Räte mit juristischer Vorbildung (kaum 18. Jahrhundert häufig vor. Zum Teil würden aber Ausbildung) zunahm, bleibt zunächst zwei- Verfahren von Anfang an so geführt, dass sie am felhaft, ob dergleichen Verfahren den Anforde- Ende von den Ständen direkt entschieden wer- rungen eines transparenten, nachvollziehbaren, den mussten. rechtsförmigen Verfahrens entsprachen oder ob Am Beginn dieses letzten möglichen Verfah- die Ausgleichsmechanismen, die hier zum Tra- rensschrittes musste ein weiterer Appellations- gen kamen, eher als „social engineering“ anzuse- brief gelöst werden. Den Provisionalständen hen waren.65 In der Tat war die Bedeutung Zürich und Luzern war eine ausführliche Be- klientelärer Netzwerke für ein erfolgreiches gründung vorzulegen. Nach bisherigem Kennt- Verfahren unbestreitbar. Wer genügend Geld nisstand beschränkte sich das Verfahren, das einsetzte,66 eine Appellation politisch langfristig nun eingeleitet wurde, auf die Prüfung grober vorbereitete und über gute Verbindungen ver- Rechtsmängel und Verfahrensfehler der Vor- fügte, konnte sich der Unterstützung seiner Pat- instanz.62 Als Beispiel sei eine Appellation von rone sicher sein und bei Konflikten gegen starke Giovanni Battista Carnevali vom 20. Februar Gegner mit einem Erfolg rechnen. Bevor der Abt 1669 genannt, der vorbrachte, wegen der Belei- des Stiftes Kreuzlingen, Georg Fichtel, 1711 ein digung seiner Schwiegermutter vom Syndikat Urteil des Landgerichts im Tägermoosischen nicht nur zu hoch, sondern auch noch zweifach Jurisdiktionsstreit mit dem Bistum Konstanz gestraft worden zu sein.63 anfocht, fragte er seinen „Patron“, den Zuger Die Orte, die von den Parteien nach dem Prinzip Ammann Beat Jakob Zurlauben, um Rat. Zur- der offenen schriftlichen Umfrage um ein Orts- lauben, davon konnte Fichtel ausgehen, würde votum gebeten werden mussten,64 konnten ein dafür sorgen, dass Kreuzlingen bei einem Streit solches Urteil mit einer Stimmenmehrheit revi- mit dem Bistum Konstanz nicht ins Hintertref- 67 dieren. Bei Stimmengleichheit galt die Entschei- fen geriet. dung der Vorinstanz. Damit lief der Entschei- dungsbildungsprozess prinzipiell genauso wie beim Syndikat ab, mit dem Unterschied, dass 65 Die Möglichkeit, externe Gutachter in die Rechts- einzelne Voten durch Körperschaften und nicht findung einzubinden, wie dies die Reichsstädte taten, die Urteile Juristenfakultäten bzw. Schöffenstühlen durch Delegierte abgegeben wurden, und sie zur Prüfung übergaben, wurde in der Eidgenossen- darüber hinaus nicht gemeinsam tagten. schaft offenbar nicht genutzt. 66 Johann Sieber, Pfleger des Stiftes St. Johann in Kon- 62 Vgl. AH 38 No. 176/179, 177. Vgl. allerdings ebd. 42 stanz, bezifferte die Gesamtkosten seines Rechtsstrei- No. 3. Der Bischof von Konstanz berichtet allerdings tes mit dem Seckelmeister Hans Heinrich Waser 1697 in einem Schreiben vom 17. 7. 1709 an die acht Alten auf eine Summe von 338 fl. 39 x. und 2 d. Davon ent- Orte, dass in einem Prozess zwischen ihm (als Ge- fielen auf Gerichtskosten und Spesen für den Landge- richtsherrn zu Bischofszell) und dem Kollegiatstift richtsprozess 67 fl. 27 x. Die badischen Appellations- Bischofszell sein Widerpart in zwei Instanzen unter- kosten wurden auf 237 fl. 30 x. 2 d. beziffert, der Rest legen sei und nun eine Revision auf der Tagsatzung entfiel auf Taxationskosten, AH 30 No. 182. Vgl. auch suche, ebd. 54 No. 88. die auf Antrag der Untertanen überarbeitete Taxord- 63 Ortsstimme von Luzern für den Fiskal von Lugano, nung der Freien Ämter, ebd. 44 No. 115. Giovanni Battista Carnevali, AH 76 No. 31. 67 AH 1 No. 119. Vgl. auch die systematische Netz- 64 Ein weiteres Beispiel für ein Ortsvotum: Ortsstim- werkarbeit von Karl Weissenbach im Vorfeld seiner me von Uri bezüglich des Streits zwischen Heinrich Appellation an die regierenden Stände der Grafschaft Ludwig Zurlauben, Landschreiber der Freien Ämter, Baden, ebd. 12 No. 54–56, sowie das Appellationsvor- und Johann Krämer, 31. 8. 1669, AH 90 No. 92. haben des Abtes von St. Gallen im Jahre 1641, ebd. 16

Die Tagsatzung als Appellationsgericht 263

Vor allem bei Verfahren, bei denen die Parteien meinen Orten zeigte damit durchaus, dass die unterschiedlichen Konfessionen angehörten, eidgenössischen Stände in der Lage waren, Kon- waren die Risiken eines Systems des wechselsei- flikte – auch solche, die konfessionelle Angele- tigen Interessenausgleichs der klientelären Sys- genheiten betrafen – rechtsförmig zu lösen. Die teme erheblich. Sein Erfolg hing davon ab, dass Entscheidungswege, die sie dabei entwickelten, beide Seiten das Spiel der rechtzeitigen deeska- waren auf die korporative Grundstruktur des lierenden Geste beherrschten und eine Eskala- Corpus Helveticum ausgerichtet und spiegelten tion unter allen Umständen vermeiden woll- die wachsende Bedeutung schriftlicher Kom- ten.68 munikation für den Interessenausgleich und Auf der anderen Seite hatten die Syndikate und Meinungsaustausch zwischen den Ständen wi- die Stände, die sie repräsentierten, sich zuneh- der. Sie waren entwicklungsfähig und flexibel. mend dem Urteil einer kritischen juristischen Damit stellt sich die Frage, warum die Vorschlä- Teilöffentlichkeit zu stellen – Entscheidungen ge der reformierten Orte zur Ausweitung dieser und Parteischriften wurden gedruckt.69 Auch in Mechanismen 1655 ins Leere liefen und warum der Eidgenossenschaft wuchs damit der Druck sie 1712 nach einem militärischen Sieg Berns auf die Richter, ihre Entscheidungen gegenüber und Zürichs nur in Teilen erneut zur Debatte Dritten nachvollziehbar und prognostizierbar zu gestellt wurden? machen. Das Beispiel der gemeinsam ausge- übten Appellationsgerichtsbarkeit in den Ge- Entscheidungsfindung unter No. 33. Vgl. auch den sog. Episserhandel, ebd. 27 No. 156; 130 No. 82. den Bedingungen des 68 Wiederholt wurden Pläne vorgestellt, die eine kon- Konfessionskonfliktes fessionelle Entflechtung der Gemeinen Herrschaften vorsahen, um die Konsequenzen einer Fehlsteuerung Die Antwort auf diese Fragen lag in der erfolg- dieses Systems zu begrenzen, vgl. AH 17 No. 71, 72. reichen Entwicklung alternativer, nicht juris- Dass das Gesamtsystem funktionierte, hatte auch mit tischer Formen des Konfliktaustrages. Wie diese der Einbindung der Ambassadoren in das Geschehen der Tagsatzung zu tun. Die Gefahr der Destabilisie- funktionierten und warum sie der Einrichtung rung von außen wurde gebannt, indem man Außen- von Rechtsprechungsorganen vorgezogen wur- akteure in der Eidgenossenschaft zuließ, die hier den, zeigt ein Blick auf das wohl wichtigste Kon- einen größeren Einfluss entfalten konnten als in je- fliktfeld der Alten Eidgenossenschaft – der Streit dem anderen staatlichen Gebilde Europas, vgl. WIND- der Konfessionen.70 LER, Ohne Geld keine Schweizer. 69 Dass im Zuge dessen die Rechtsliteratur des Reiches Die Wurzel der Probleme lag in den Ergebnissen als Argumentationshilfe intensiv genutzt wurde, zeigt der militärischen Auseinandersetzungen des die Berner Schrift „Rechtlicher Gegenbericht so Na- frühen 16. Jahrhunderts. Hatten die regierenden mens Meiner Gnädigen Herren und Obern der Stadt Bern ausgestellt wird, und dienen soll zur Antwort Orte den einzelnen Gemeinden im ersten Kapp- auf den schriftlichen Bericht des Woledlen Herrn ler Landfrieden von 1529 noch die Möglichkeit Gabriel Friedrich Frisching als von Ihr Gnaden mit zugestanden, selbständig über ihre konfessionel- der niedern Gerichtsbarkeit belehnten Herrschafts- le Zugehörigkeit zu entscheiden, so wurde diese Herrn zu Wyl, wie zugleich Recurrent über Mrghrn. der Räthen Erkanntnuß vom 28. Merz 1767 wegen Wahlfreiheit nun mit dem zweiten Landfrieden streitiger Competenz in Bestrafung der sobenamset beendet. Durch ihn wurde der Wechsel einer gering diebischen Griffen die einerseits zu den civili- Gemeinde zum reformierten Glauben de facto schen Freflen wollen gezogen, anderseits aber den malefizischen Verbrechen beygelegt werden“, Staats- archiv Bern, B IX 830, L 1 1769. 70 HACKE, Koexistenz und Differenz. 264 Thomas LAU unterbunden, eine Rekatholisierung hingegen hen war – auf der Tagsatzung vermieden.72 Sie erleichtert. Bikonfessionelle Strukturen waren waren tabuisiert. Bei Konfessionskonflikten (wie nunmehr in vielen Orten der Gemeinen Herr- etwa im erwähnten Fall der Schwyzer Flüchtlin- schaften der Normalfall. Ähnlich wie an konfes- ge von 1655) war dies aufgrund des Druckes der sionellen Nahtstellen – etwa an der Sense – war Gemeinden nur sehr eingeschränkt möglich. auch das konfessionelle Zusammenleben in den Kommunikationsstörungen wurden offenbar Gemeinen Herrschaften durch das Kräftemessen und konnten unter Umständen virulent werden. von sozialen Gemeinschaften geprägt, die durch Um dies zu verhindern, blieb den Ständen nur Konfessionskonflikte ihre Protektoren in lokale die Möglichkeit, auf dem eigenen Standpunkt Streitigkeiten integrierten. Mögliche Anlässe zu beharren, einmal geschaffene Fakten jedoch waren rasch gefunden – Veränderungen des zu akzeptieren. Im Gegenzuge wurde von der Kirchenraums, Psalmengesang oder Prozessio- Gegenseite erwartet, dass sie einen Ausgleich nen.71 Die Standesvertreter auf der Tagsatzung schuf, der das eigene Prestige auch gegenüber brachten Prozesse über diese Gegenstände in den Klienten in den Gemeinen Herrschaften eine schwierige Lage. Auf der einen Seite galt es, wahrte.73 die eigenen Klienten in den strategisch unge- Als Beispiel sei der Wigoltinger Handel des mein wichtigen Gemeinen Herrschaften zu stär- Jahres 1664 genannt. Bewohner des Dorfes Wi- ken – man musste den Gemeinden demonstrie- goltingen hatten eine Anzahl provokant auf- ren, dass man ihren Rechtsstandpunkt mit Ve- tretender katholischer Rekruten erschlagen – hemenz (und am besten erfolgreich) vertrat. Auf wohl in der Annahme, dass sie die Vorhut eines der anderen Seite brachten konfessionelle Kon- spanischen Heeres bildeten.74 Ein vom Landvogt flikte die Eidgenossenschaft regelmäßig an den einberufenes Gericht musste aufgrund massiver Rand militärischer Konflikte. Üblicherweise Proteste protestantischer Untertanen und rasch wurden Themen, über die keine Einigkeit zu hinzueilender Zürcher Bauern aufgelöst werden. erzielen war – etwa über die Frage, was eid- Dasselbe galt für das Syndikat, das wenig später genössisches Recht genau war, ob die Eidgenos- zusammentreten sollte. Selbst mäßigende Auf- senschaft als Republik zu bezeichnen war oder rufe des Kantons Zürich, der sich ausdrücklich was unter einem Eidgenossen genau zu verste- für die Beklagten einsetzte, halfen nicht. Die katholischen Orte, die nun bereits mit Kriegsrüs- tungen begannen, gingen nunmehr in das eid-

genössische Recht – die drei Orte Bern, Solo- 71 So das „Streit Geschäfft zwüschen Lobl. Standt Züirch und den Fünff Alten Catholischen Ohrten, aus thurn und Freiburg wurden zu Vermittlern er- Anlaß Petert Cappelers von Frauenfeld, der zur Ca- nannt. Es war vor allem der Druck Berns, der tholischen Religion übergetretten, Die Frau aber bey schließlich Zürich zum Einlenken brachte. Die der Evangelischen verblieben, deßnahen dann wegen vermeintlichen Haupttäter von Wigoltingen den Mittlen auch streitt entstanden, da löbl. Standt Züirch es, als eine Ehesach, die Catholischen Ohrt wurden durch ein Gericht der regierenden Orte aber es als Civil zu seyn vermmeinet, so dass obig unter Mitwirkung der Vermittler zum Tode gemelt Lobl. Ohrt dahero, und auch wegen Entfüh- rung des Cappelers Kinderen, sehr gegen einander entrüstet viele Conferenzen deshalben von den übri- 72 Dazu ausführlich LAU, Stiefbrüder 65–79. gen Ohrten welche sich zu interponieren, und den 73 Vgl. Kesselring Handel, Staatsarchiv Bern, A V 771. Frieden zu machen notwendig funden haben, gehal- Uttwiler Handel, ebd. A V 754. Konflikt um den Got- ten worden. Endtlich auch durch deren Mediation der tesdienst in Neukirchen, ebd. A V 765. Bischoffzelli- Streitt beseitiget worden ist“, Staatsarchiv Bern, sche Kirchenstreitigkeiten 1726–1728, ebd. A V 767. A V 772. 74 KRAPF, Der Wigoldinger Handel. Die Tagsatzung als Appellationsgericht 265 verurteilt, die meisten Beklagten belegte man Seit Beginn des 18. Jahrhunderts begann die jedoch lediglich mit einer Geldstrafe. Zürichs Kombination aus Konfliktvermeidung und Kon- Bauern blieben völlig unbehelligt und der Stand fliktbegrenzung an Stabilität zu gewinnen, da selbst erhielt eine Ehrenerklärung. Es war eine sie, zumindest in Zürich und Bern, in die Hand durchaus typische Form der Konfliktbeilegung. von Experten gelegt wurde. Die „Landsfried- Beide Seiten verharrten auf ihren Positionen. Die lichen Kommissionen“ berieten den Rat den eine wertete den Vorfall als Aufruhr und die Umgang mit konfessionellen Konflikten betref- andere billigte den Tätern mildernde Umstände fend und luden mögliche Friedensstörer vor. zu, weil diese das berechtigte Gefühl gehabt Die Aufgabe dieser Kommissionen lag damit hätten, in ihrer Religionsfreiheit bedroht zu vor allem in der Konfliktprävention, aber auch werden. Hinter dem Streit von Wigoltingen darin, im Falle eines Konfliktes rasch Aus- verbargen sich damit durchaus diametral unter- gleichsmöglichkeiten zu finden und die Konflik- schiedliche Rechtsauffassungen auch über die te zu begrenzen. Mit dem vierten Landfrieden Rechte und Pflichten von Untertanen. Sie wur- von 1713 wurde die Tätigkeit dieser Gremien den im Rahmen des Vermittlungsverfahrens systematisch vor allem auf die Gemeinen Herr- jedoch ausgeklammert. Stattdessen zeigten sich schaften ausgeweitet.77 In einem Geflecht unab- die Mediatoren bemüht, die Reputation beider hängiger Stände, die ohne stehende Armee aus- Seiten wieder herzustellen. Der Austausch nicht zukommen hatten und das durch einen hohen vergleichbarer Rechtsstandpunkte diente also Autonomiegrad der einzelnen Gemeinden ge- nicht der Überzeugung des jeweils anderen, kennzeichnet war, war ein solcher Mechanismus sondern der Festigung eigener klientelärer Ban- überaus attraktiv. Er ließ die Ratseliten als „In- de, die durch den Widerstand des jeweils ande- formationsbroker“ in den Vordergrund treten, ren nur noch gestärkt wurden.75 Die Kunst der die Konflikte vermieden, verglichen und wenn Eliten bestand darin, den Rechtsstreit zu be- nötig auch auf dem Rechtsweg beilegten. Das grenzen, das Potential des Misstrauens und des eidgenössische Recht rundete ebenso wie die Nichtverstehens nicht offenbar werden zu lassen Appellationsgerichtsbarkeit in den Gemeinen und stattdessen einen Interessenausgleich zu Herrschaften das Repertoire an Einfluss- und schaffen, der signalisierte, dass beide Seiten den Gestaltungsmöglichkeiten dieser Ratselite ab. Status Quo akzeptierten.76 Es galt, kunstvoll Agieren konnte in diesem komplizierten System aneinander vorbei zu reden, sich verstehend des Ausgleichs und der ritualisierten Konfronta- nicht zu verstehen. tion nur jemand, der die hier herrschenden, für einen Außenstehenden kaum nachvollziehbaren Regeln beherrschte. Versuche hier einzugreifen, 75 Geradezu exemplarisch dafür war ein Vorgang aus wie sie von Wien im ersten Jahrzehnt des dem Jahre 1660, als der Freiburger Ratsherr Johann 18. Jahrhunderts im Rahmen des Toggenburger Anton Reynold den Berner Rat mit den Worten, er sei Handels unternommen wurden, waren zum schlimmer als die Türken, provozierte, die Kommu- nikationssituation bei einem informellen Treffen je- Scheitern verurteilt. Rasch musste Wien sich doch so gestaltete, dass die Berner auf eine Reaktion angesichts der unübersichtlichen Konfliktlage verzichten konnten und (aufgrund der engen Vernet- zurückziehen, um nicht selbst Teil der Ausei- zung Reynolds mit Frankreich) auch verzichten muss- nandersetzungen zu werden. Diese Unüber- ten. Dieser Vorgang, der durch das Schweigen Berns zum Ereignis wurde, bedeutete für Reynolds Position innerhalb des Rates eine deutliche Aufwertung, vgl. 77 Staatsarchiv Bern, B I 25 und B I 26 (Manuale der Staatsarchiv Bern, A V 245, Freiburgbücher N, 279ff. Landsfriedlichen Kommission 1764–1797). Staatsar- 76 Vgl. dazu ebd. A V 247, Freiburgbücher P. chiv Zürich, Eidgenössisches, Landfrieden, 1722–1728. 266 Thomas LAU sichtlichkeit, gepaart mit einem sich immer wei- u.ä. und ähnliches ter ausdifferenzierenden System der Konflikt- Siehe auch das allgemeine Abkürzungsverzeichnis: http://www.rechtsgeschichte.at/files/abk.pdf vermeidung, war damit zur Sicherstellung der eidgenössischen Souveränität weit mehr geeig- net als die Ausbildung von Gerichten nach dem Vorbild des Alten Reiches. Literatur: So blieb es bei einer höchst erfolgreichen Dreitei- Acta Helvetica, 186 Bde., Aargauer Kantonsbiblio- lung im eidgenössischen Appellationsrecht. Auf thek, Zurlaubiana. Erschließung und Edition: [https://www.ag.ch/de/bks/kultur/archiv_ kantonaler Ebene wurde ein Instanzenzug ge- bibliothek/kantonsbibliothek/sammlungen/ schaffen, der den Ansprüchen an einen souve- zurlauben/zurlauben.jsp] (abgerufen am: 18. 10. ränen Stand genüge tat und den Einfluss der 2012). Ratseliten in den einzelnen Ständen sukzessive Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Section 2 Teil 7 steigerte. Auf interkantonaler Ebene blieb das (Leipzig 1830). eidgenössische Recht als letzte Möglichkeit der Stephan AREGGER, Städtchen, Kloster und Eidgenos- Rechtsfindung im Vergleichsverfahren erhalten. sen. Das Leben in Rheinau unter dem Krummstab, Auf der Ebene der Gemeinen Herrschaften ent- in: Zürcher Taschenbuch 2007, 175–207. wickelten die jeweils regierenden Orte ein Sys- Franz Michael BÜELLER, Compendium oder Kurtzer tem der Appellation, das den Anforderungen Begriff des gemein-Eidtgnöschen Rechtens oder Juris Publici Helvetici. Darinnen insonderheit ge- der politischen Opportunität ebenso gerecht handelt wirdt, waß das Gmein Eydtgnößische wurde wie jenen der rechtlichen Transparenz. Recht seye und woraus selbiges vernemblich Be- Während im Alten Reich eine Stabilisierung stehe: von der Souerainitet der Orthen: von den durch eine Ausdifferenzierung zwischen politi- Universal Gesetzen: von dem Recht zue Kriechen: Waß dem Eydtgn. Rechten underworfen: von dem schen und juristischen Eliten zu beobachten war, Commercio undt feylen Kauff: von dem Recht der wurden die Unabhängigkeit und die Stabilität Göhlen: von der Religion: von dem Recht zue der Alten Eidgenossenschaft durch eine zuneh- Müntzen: vom den Eydtgn. Pünttnussen: von den mende Akkumulation von Wissensbeständen unbeschriebenen Rechten und von den Tagsat- zungen, Manuskript StB-Z T Msc 366. und Kompetenzen innerhalb einer überaus viel- DERS., Tractatus Von Der Freyheit/ Souverainitet Und seitigen und vielgesichtigen Ratselite gewähr- Independenz der Loblichen Dreyzehen Orthen leistet. Der Eydgnoßschaft (Baden 1689). Johann Conrad FÄSI, Genaue und vollständige Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenoßschaft, derselben gemeinen Herrschaften Korrespondenz: und zugewandten Orten, Bd. 3 (Zürich 1766). Tit. Prof. Dr. Thomas Lau Daniel Albert FECHTER (Hg.), Amtliche Sammlung der Université de Fribourg Älteren Eidgenössischen Abschiede, Bd. 7 Abt. 1 Historische Wissenschaften, Geschichte der Neuzeit und 2 (Basel 1860–1867). Avenue de l’Europe 20, 1700 Fribourg, Schweiz Johann Conrad FÜESSLIN, Staats- und Erdbeschrei- [email protected] bung der schweizerischen Eidgenoßschaft, Teil 4 (Schaffhausen 1772). Daniela HACKE, Koexistenz und Differenz. Konfes- sion, Kommunikation und Konflikt in der Alten Abkürzungen: Eidgenossenschaft (1531–1712) (unveröff. Ha- bil.schr., Univ. Zürich, eingereicht 31. 8. 2011). AH Acta Helvetica Helene HASENFRATZ, Die Landgrafschaft Thurgau vor d. Pfennig der Revolution von 1798 (Frauenfeld 1908). 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Zusammenfassung

Die Entscheidung von Appellationen – wie die Regelung von Konflikten überhaupt – folgte im kom- plexen System der Eidgenossenschaft eigenen Spielregeln. Auf kantonaler Ebene bildeten sich zuneh- mend Instanzenzüge hin zu innerkantonalen Appellationsgerichten heraus, die den Souveränitäts- ansprüchen der Kantone Genüge taten. In den sog. Gemeinen Herrschaften übernahm dagegen das wich- tigste eidgenössische Gremium, die Tagsatzung, bzw. übernahmen die sog. Syndikate, Sondertreffen von Gesandten, die Funktion einer höchsten Appellationsinstanz. Große Bedeutung bei dieser Form des Kon- fliktaustrages kam einerseits klientelären Netzwerken zu, andererseits hatten sich die Syndikate und die von ihnen repräsentierten Stände auch einer juristischen Teilöffentlichkeit zu stellen, da Parteischriften und Entscheidungen zunehmend im Druck erschienen. Für interkantonale Konflikte blieben für Außen- stehende kaum nachvollziehbare Konfliktvermeidungs-, Konfliktbegrenzungs- und Vermittlungsmecha- nismen erhalten, die zur Sicherung der Stabilität der Eidgenossenschaft als eines Geflechts unabhängiger Stände von erheblicher Attraktivität und Wirksamkeit waren.

Summary

The Swiss Confederation – a system of considerable complexity – developed its own mechanisms for dealing with appeals as well as with conflicts in . Within the cantons, a hierarchy of instances including appellate courts was established, which helped substantiate the cantons’ claims to sovereignty. In the so called “Gemeine Herrschaf- ten”, however, the “Tagsatzung”, i.e. the most important body of the confederation, worked as an appellate court, together with the “Syndikate”, i.e. special meetings of envoys. Appellate proceedings at these levels involved a good deal of social networking. On the other hand, the “Syndicate” and those they represented faced the expectations of a public learned or at least interested in the law. This was due to the fact that more and more petitions and decisions 268 Thomas LAU were published in print. As to quarrels between cantons, strategies of avoiding or limiting conflicts as well as of mediation remained important – strategies hardly comprehensible to outsiders, but of considerable attraction and effect in the process of maintaining the stability of the Swiss Confederation as a tangle of independent Estates.