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19007 Nummer 182 | Dezember 2014 4. Quartal | 46. Jahrgang

MITTEILUNGEN DER KARL-MAY-GESELLSCHAFT Inhaltsverzeichnis

Rainer Jeglin In eigener Sache 1 Martin Schulz Von Holteis „Blumenstrauß“ und Dr. 3 Reichenbachs „Universalbilderbuch“ Fundstücke zum Buch der Liebe Rudi Schweikert Die Sahara der Vereinigten Staaten 8 Karl Mays Schilderungen des Llano Estacado im Vergleich mit zeitgenössischen Berichten Wolfgang Sämmer/ »Bitte, schreiben Sie zuweilen.« 17 Volker Griese Engelbert Wittich und Karl May Wilhelm Brauneder Überinterpretationen zum ›Schatz‹? 27 Hartmut Wörner Die Bevölkerung der schönen Land- 29 schaft mit Menschen Materialien zu Karl May und Hermann Hes- se (Teil 2) Aufgelesen … 42 … aus Karl Mays Bei den Aussätzigen Albrecht Götz von Der Nachdruck von Werken englischer 44 Olenhusen und deutscher Autoren, insbesondere Karl Mays, in den USA im 19. Jahrhun- dert Jörg-M. Bönisch Die Karl-May-Stummfilme und die 53 Ustad-Film GmbH im Spiegel der Filmzeitschriften 1920/21 (Teil 11)

Unser Titelbild

Hermann Hesse (1877–1962) im Jahr 1905. Gemälde von Ernst Würtember- ger (1864–1934). Zu und Karl May vgl. auch den Aufsatz von Hartmut Wörner in diesem Heft. In eigener Sache

Weihnacht! Welch ein liebes, liebes, inhaltsrei- ches Wort !

So beginnt Karl Mays bekannte Reiseerzählung. In diesem ge- denkreichen Jahr 2014, einhun- dert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, gilt es auch, an bemerkenswerte Episoden an der Westfront zu erinnern, als die kriegerische und wohlgemute Pa- role „Weihnachten in Paris“ sich als fürchterliche Illusion erwiesen hatte. Deutsche, französische und britische Soldaten, des immer- währenden Gefechtslärms in der Weihnachtszeit müde, verbrüder- ten sich Weihnachten und Silves- ter 1914 und nahmen die christ- liche Botschaft, von der ja auch May sosehr durchdrungen war, dahingehend ernst, dass sie hier und da an der Front Feuerpau- sen vereinbarten und gemeinsam unterbanden die Heeresführun- Lieder sangen. In einem Kriegs- gen die nächsten Jahre des Men- brief heißt es beispielsweise: „Um schenschlachtens. 12 Uhr knatterten dann Salven von beiden Seiten in die Luft! Eine kleine kontrafaktische Spe- Dazu ein paar Schüsse unserer kulation nach dem Muster, „was Artillerie … die sonst so gefähr- wäre, wenn May 1914 noch lichen Leuchtkugeln prasselten erlebt hätte“ sei in diesem Ge- wie ein Feuerwerk, mit Fackeln denkjahr erlaubt. May und auch wurde geschwenkt und Hurra ge- seiner pazifistischen Gesinnungs- schrien.“ Dies schrieb ein junger freundin , die deutscher Soldat, ergri en von wenige Tage vor den Schüssen in diesen Momenten der Versöh- Sarajewo starb, blieb es erspart, nung über den Gräben, der nur den entsetzlichen Kriegstaumel zwei Wochen später ›fiel‹. Solche vom August 1914 mitzuerleben. weihnachtlichen Verbrüderungen Hätte May die Fahne seiner pa-

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 1 zifistischen Weihnachtsbotschaft ter anderem auch mit Parallelen hochgehalten oder hätte er, wie zwischen Hermann Hesse, ei- so viele andere große Literaten nem dezidierten Kriegsgegner, seiner Zeit, dem Ruf zur Ver- und May – beide ließen ja nicht teidigung der deutschen Kultur ab von ihrem Vorhaben, eine Art gegen den angeblich verderbli- Erziehungsliteratur zu schreiben. chen Materialismus der Feinde Ob aber Literatur und Menschen Deutschlands nicht widerste- veredeln kann, darauf gibt es bis hen können? Der Pazifismus der heute keine Antwort. Vorkriegszeit stand jedenfalls im Sommer 1914 vor einem Scher- Von Heiligabend bis zum Drei- benhaufen; ein letztes Mal fla- königstag liegt eine zum Nach- ckerte er in den späten Dezem- denken einladende ruhigere, eine bertagen desselben Jahres noch „stade“ Zeit, wie es im Süddeut- einmal auf. Dies mögen auf den schen heißt, vor uns, die zur neu- ersten Blick unfaire Fragen sein, erlichen, besinnlichen May-Lek- gänzlich unberechtigt scheinen türe einlädt. sie mir aber nicht, denn sie len- ken ja auf die Hilflosigkeit und Eine „stade Zeit“, frohe Weih- geringe Wirkungsmacht einer nachten und alles Gute für 2015 von Ethos und Idealismus ge- wünscht Ihnen tragenen Friedensliebe, deren Grenzen nicht nur 1914, son- Ihr Rainer Jeglin dern auch heute uns schmerzlich vor Augen geführt wird. –

Das vorliegende Mitteilungsheft, (Bild und Zitat stammen aus: das Ihnen, liebe May-Freunde, Brigitte Hamann: Der Erste Welt- wiederum viele interessante Bei- krieg. München 2004, S. 56f.) träge über May und um May herum liefert, befasst sich un-

2 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Martin Schulz Von Holteis „Blumenstrauß“ und Dr. Reichenbachs „Uni- versalbilderbuch“

Fundstücke zum Buch der Liebe

bwohl zu den Vorlagen, die hört auch ein Vierzeiler auf Seite OKarl May für die Zusam- 35 der I. Abteilung: menstellung der Münchmeyer- Auftragsarbeit Das Buch der Liebe Und wenn Ihr am Busen der Theuren verwendete, bereits viel ermittelt verblüht, worden ist,1 gibt es in der Thema- Dann ö net die Kelche, dann redet tik noch eine ganze Reihe o ener und glüht, Fragen. Unter anderem musste bei Dann flüstert ganz leise, mit liebli- mehreren eingestreuten Gedich- chem Weh’n: ten die Herkunft noch mit einem »Er liebt dich, er liebt dich und darf’s Fragezeichen versehen werden. An nicht gesteh’n!« vielen weiteren Stellen ist zumin- dest zu vermuten, dass der Text, Dabei handelt es sich um die zwei- wenn auch nicht als Zitat gekenn- te Strophe des Gedichts bzw. Lie- zeichnet, eine Übernahme aus ei- des ›An einen Blumenstraus‹ bzw. ner noch unbekannten Vorlage ist. auch ›An einen Blumenstrauss‹ des Schriftstellers, Schauspielers, Zu den eingestreuten Gedichten, Theaterregisseurs und Theater- deren Herkunft zunächst nicht leiters Karl von Holtei (24. Ja- identifiziert werden konnte, ge- nuar 1798 – 12. Februar 1880). Gesungen werden sollte das Lied 1 Zusammengefasst finden sich die Er- nach der Melodie von ›Ich suchte gebnisse dieser Quellenrecherchen die Freude bald da und bald hier‹. im Vorwort des Herausgebers in Karl May: Das Buch der Liebe. Hg. von Dieter Sudho (Karl May’s Gesam- Das Gedicht findet sich in meh- melte Werke Band 87), , reren Bänden Karl von Holteis Radebeul 2006, sowie in der von wieder, so 1834 in ›Deutsche Hans-Jürgen Düsing für die Inter- Lieder‹,2 1844 in ›Gedichte‹3 und netseiten der Karl-May-Gesellschaft 4 zusammengestellten pdf-Datei unter 1866 in ›Charpie‹. Von Holtei http://www.karl-may-gesellschaft. de/kmg/primlit/redakteur/buch_ 2 Karl von Holtei: Deutsche Lieder. der_liebe/buch_der_liebe.pdf. Eine Schleusingen 1834, S. 191. Eine Ergänzungen zu mehreren Vorlagen „Zweite vermehrte Auflage“ erschien gibt es bei Martin Schulz: Verwand- 1836. te Klänge im Buch der Liebe. Georg 3 Karl von Holtei: Gedichte. Berlin Pertz als Quelle für Karl May. In: Karl 1844, S. 232. May in Leipzig 98/September 2014. 4 Karl von Holtei: Charpie. Eine

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 3 verwendete den Text zudem in kleiner Schritt bis zum „verblü- seinem Stück ›Das Liederspiel hen“, den auch ein unaufmerk- oder der schottische Mantel‹.5 samer Setzer getan haben kann. Ebenfalls sollen die Blumen bei In der bislang ältesten aufge- May nicht mehr „duften“, son- fundenen Fassung aus dem Jahr dern „reden“. Auch für diese 1834 lautet die zweite Strophe: Version können andere Abdru- cke aufgefunden werden. Aller- „Doch wenn ihr am Busen der Theu- dings sind die zwei genannten ern erglüht, Varianten bislang nur in später als Dann ö net die Kelche, dann duftet Das Buch der Liebe erschienenen und blüht, Büchern nachweisbar.6 Da die- Dann flüstert hinauf mit bescheide- se allerdings im Gegensatz zum nem Weh’n: Münchmeyer-Werk das komplet- :|: Er liebt dich! Er liebt dich! und te Gedicht enthalten, können will’s nicht gesteh’n. :|:“ die erwähnten Abweichungen nicht für diese Drucke aus Mays Die oben aufgeführten vier Ver- Werk übernommen worden sein, ö entlichungen des Holtei-Ge- vielmehr dürfte May eine solche dichts weichen in Details vonein- Variante aus einer bislang noch ander ab. Am au älligsten sind nicht entdeckten, früher erschie- dabei zwei Änderungen in den nenen Verö entlichung als Vorla- Zeilen zwei und drei. In den bei- ge verwendet haben. den letztgenannten Fassungen wird in der letzten Zeile aus dem Für einen Abschnitt in der drit- „will’s“ ein „darf’s“, im ›Lieder- ten Abteilung können ebenfalls spiel‹ wird in der dritten Zeile aus Vorlagen bzw. mögliche Vorlagen dem „mit bescheidenem Weh’n“ ergänzt werden: Die Einleitung ein „mit lieblichem Weh’n“. des Kapitels Liebe und Glaube, vom zweiten Absatzes auf Seite Der Abdruck im Buch der Liebe III-38 an bis hin zu So entsteht unterscheidet sich in mehreren der Glaube an das Ewige, an Gott- Details von Karl von Holteis heit oder Götter, in welchem der Textfassungen; am bemerkens- Mensch seine Gesinnungen und wertesten sind dabei wohl zwei Handlungen in Ehrfurcht und Stellen: Wenn die Blumen bei Anbetung auf Gott bezieht auf Holtei „erglühen“, „verblühen“ Seite III-39, weist starke Ähn- sie bei May. Das Gedicht lässt lichkeit mit dem Anfangsteil des sich jedoch vereinzelt in Varian- Kapitels ›Religionskunde‹ aus ten aunden, bei denen die Blu- ›Neuester ORBIS PICTUS oder men „erblühen“ statt „erglühen“ die sichtbare Welt in Bildern, ein – von dort ist es nur noch ein Universalbilderbuch‹7 des Leipzi-

6 Beispielsweise in Deutsches Gärtner- Sammlung vermischter Aufsätze. Liederbuch. Berlin 1902, S. 87. Erster Band. Breslau 1866, S. 161. 7 Dr. A. B. Reichenbach: Neuester 5 Karl von Holtei: Das Liederspiel oder ORBIS PICTUS oder die sichtbare der schottische Mantel. Ein Spiel mit Welt in Bildern, ein Universalbil- Liedern in einem Act. 2. Auflage, derbuch. Erster Band: Ausführlicher Berlin 1861, S. 15 und S. 29. Text in deutscher Sprache. Neue

4 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 ger Theologen und Entomologen Dr. Anton Benedict Reichenbach (1807–1880) auf. Der Abschnitt wohlfeile Ausgabe. Leipzig 1851. dürfte mit einiger Wahrschein- Hier ist speziell die Einleitung von ›I. lichkeit eine umformulierte Fas- Religionskunde‹ auf Seite 602f. von Interesse. sung dieser Vorlage sein.

Das Buch der Liebe, Reichenbach: Orbis Pictus, S. III-38f. S. 602f. Die Ueberzeugung von Gott und einer in Gott gegründeten Weltord- nung, zu welcher auch der Mensch gehört, hat auf sein Denken und Ehe der Mensch noch zum Ge- Handeln den entschiedensten Ein- brauche seiner Vernunft gelangt, fluß. Jeder wird unwillkürlich zu was schon einen höheren Grad von dieser Ueberzeugung geführt durch Bildung voraussetzt, wird er durch das sich ihm frühzeitig aufdringen- das sich ihm frühzeitig aufdringen- de Gefühl seiner Schwäche und der de Gefühl seiner Schwäche und der Schranken, welche ihm gezogen sind. Schranken, welche seiner Natur ge- Indem er bald erfährt, wie weit ihm setzt sind, zur Religion getrieben. die Kräfte der Natur überlegen sind, Er erfährt, wie weit überlegen ihm fühlt er sich von Furcht und Angst er- die Kräfte der Natur sind, Furcht gri en. Indem er höhere Wesen ahnt und Angst entsteht ihn ihm, wenn und nach seiner unvollkommenen sie feindselig auf ihn einwirken, er Naturkenntniß annimmt, daß die ahnet höhere Wesen als er ist, wel- Kräfte der Natur durch Wesen dieser che den Kräften der Natur gebieten, Art in Bewegung gesetzt werden, geht und sein Staunen über die mannig- sein Staunen über fürchterliche Ge- faltigen Naturereignisse, als: fürch- witter, gewaltige Stürme, zerstörende terliche Gewitter, gewaltige Stürme Erderschütterungen etc. in Anbetung und Erderschütterungen, geht bald ihm unbekannter Wesen über, und die in Anbetung eines oder mehrerer aufgeregte Phantasie erkennt in jenen ihm unbekannter höherer Wesen Naturerscheinungen diese Wesen selbst über, die er wohl gar in diesen Na- oder verwechselt und vermischt beide turerscheinungen selbst zu erken- mit einander. nen wähnt und selbst mit ihnen Da das sittliche Bewußtsein in einem verwechselt. Da zu gleicher Zeit in jeden Menschen bald rege wird und jedem Menschen das sittliche Ge- er daher sein moralisches Verhalten fühl bald erwacht und er daher sein frühzeitig mit seinen Schicksalen in sittliches Verhalten frühzeitig mit Verbindung zu bringen lernt, so bil- seinen Schicksalen in Verbindung det sich die Idee nicht blos von der setzt, so bildet sich der Gedanke gar Nothwendigkeit, jene Wesen sich bald aus, sich jenes höhere Wesen durch Verehrung geneigt zu erhalten, nicht blos durch Verehrung geneigt sondern auch wegen begangener Ue- zu halten, sondern auch wegen be- bertretungen zu versöhnen. gangener Uebertretungen wieder Auch die Vernunft des gebildeten zu versöhnen. Auch die gebilde- Mannes erkennt das Wahre dieser te Menschenvernunft erkennt das Idee an, und indem sie sich zu dem Wahre dieser Idee an und indem sie Begri e eines einigen göttlichen We- sich zu dem Begri e eines einigen sens erhebt, welches sie als den höchsten göttlichen Wesens sich erhebt, das Geist betrachtet, erkennt sie in demsel- sie als den höchsten Geist betrach- ben, zugleich alle Vollkommenheiten tet, trägt sie zugleich alle geistigen

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 5 seines eigenen geistigen Wesens in Vollkommenheiten des Menschen höchstem Grade auf ihn übertragend, auf ihn über und betrachtet ihn als den höchsten Gesetzgeber und Richter den höchsten Gesetzgeber und Rich- der sittlichen Wesen an, dem dieselben ter der Menschen, dem diese Anbe- Anbetung und Ehrfurcht schuldig tung und Ehrfurcht schuldig sind. So sind. entsteht der Glaube an das Ewige, an So entsteht der Glaube an das Ewige, eine Gottheit oder an mehrere Göt- an Gottheit oder Götter, in welchem ter, so wie die Verehrung derselben, der Mensch seine Gesinnungen und und zwar nicht nur durch äußere Ce- Handlungen in Ehrfurcht und Anbe- remonien, sondern auch durch ein tung auf Gott bezieht, […] der Gottheit wohlgefälliges Leben.“

Ganz eindeutig ist dagegen eine May bricht die Übernahme des weitere Vorlage von Liebe und Artikels an der Stelle ab, an der Glaube ermittelbar: Auf Seite III- das ›Universal-Lexikon‹ auf 44 bringt May ein Zitat eines un- „L-[iebe]sfieber, L-[iebe]swahn- serer bedeutendsten Theologen, der sinn, L-[iebe]swuth“ zu sprechen bislang noch nicht identifiziert kommt. ist. Nach dieser über neun Zei- len laufenden Übernahme fügt er Dass es bislang noch nicht gelun- an, dass dieser Theologe hier den gen ist, den von May erwähnten Fehler des Philosophen begehe, Theologen zu ermitteln, könnte die Liebe überhaupt als den in auch daran liegen, dass es die- der Menschennatur tief begrün- sen überhaupt nicht gibt. Schaut deten eigenen Trieb zu definie- man sich nämlich das Zitat etwas ren. Ab dieser Stelle ist alles, was genauer an, wird man feststellen May auf den kommenden Seiten können, dass es eine frappierende bis einschließlich des ersten Ab- Ähnlichkeit zum Eintrag „Lie- satzes auf Seite III-47 anfügt, be Gottes“ im ›Pierer‹ aufweist. eine nur an vereinzelten Stellen Möglicherweise hat sich May das umformulierte Übernahme aus Zitat also selbst aus dem ›Univer- dem Eintrag „Liebe“ im ›Pierer‹.8 sal-Lexikon‹ zusammengestellt, zumal es unmittelbar vor der um- 8 H. A. Pierer (Hg.): Universal-Lexi- fangreichen Übernahme aus dem kon der Gegenwart und Vergangen- Abschnitt „Liebe“ steht. heit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe bearbeitet von mehr als 300 Gelehrten. Siebzehnter völlig umgearbeitete Auflage (Dritte Band. Kröpelin – Linnoux. Zweite, Ausgabe), Altenburg 1843, S. 422f.

Das Buch der Liebe, S. III-44 Pierer, S. 424:

Die Liebe Gottes ist die Eigenschaft Liebe Gottes (Amor Dei), die Eigen- Gottes, daß er den lebendigen Geschöp- schaft Gottes, daß er den lebenden fen soviel an leiblichen und geistigen Geschöpfen soviel an leibl. u. geisti- Gütern gewährt, als sie zu ihrem Le- gen Gütern gewährt, als sie zu ihrem ben, Endzweck und ihren Handlun- Leben, Entzweck, Handlungen brau- gen gebrauchen. Sie ist unermeßlich, chen. Sie ist unermeßlich, frei frei (von den Menschen unverdient), (von den Menschen unverdient), mit mit seiner Weisheit und Gerechtigkeit seiner Weisheit u. Gerechtig-

6 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 im Einklange. Sie zeigt sich als Gnade, keit in Einklang. Sie zeigt sich weil Gott die Menschen ohne ihr Ver- als a) Gnade, weil Gott die Men- dienst liebt, als Barmherzigkeit, sofern schen ohne ihr Verdienst liebt; b) er seine Liebe den Unglücklichen er- Barmherzigkeit, sofern er seine weiset und den Sündern vergiebt, als Liebe den Unglücklichen beweiset Geduld, sofern er den Sünder schonet, u. den Sündern vergibt; c) Geduld, als Langmuth, sofern er die Strafen sofern er der Sünder schonet; d) aufschiebt, und als Güte, insofern er Langmuth, sofern er die Strafen die Strafen, wenn sie erfolgen müssen, aufschiebt; e) Güte, sofern er die mildert. Strafen, wenn sie erfolgen müssen, mildert. Dagegen soll der Mensch Gott wieder lieben, d. h. an ihm, der uns zuerst geliebt, höchstes Wohlgefallen haben, seiner stets mit kindl. Freude gedenken u. ihm zum Wohlgefallen leben; s. Liebe etc.

O ene Fragen gibt es beim Buch Stahl[,] verlangt: »die Wissenschaft der Liebe auch bezüglich der muss zurück!«“9 Herkunft von mehreren Zitaten Mit diesen Angaben lässt sich dem bzw. von bereits aus den Vorla- Ursprung des Zitats zumindest gen übernommenen Zitaten. Ein ein Stück weit näher kommen. Beispiel dafür sei abschließend Der von Spiller Zitierte dürfte der noch angeführt, verbunden mit Rechtsphilosoph, Jurist und Po- einem ersten Hinweis, wo die litiker Friedrich Julius Stahl (16. Quelle möglicherweise zu finden Januar 1802 – 10. August 1861) ist. Im Kapitel Allgemeines auf sein, der sich für eine „Umkehr Seite III-13 findet sich ein aus der Wissenschaft“10 zum Glauben Philipp Spillers ›Gott im Lichte einsetzte. Der Ausspruch „Die der Naturwissenschaften‹ über- Wissenschaft muss zurück“, so- nommenes Zitat eines christiani- fern Spiller wirklich wörtlich zi- sirten Juden mit der Forderung tiert, könnte demnach in Stahls Die Wissenschaft muß zurück Schriften zu entdecken sein. (bzw. bei Spiller im Original „Die Wissenschaft muss zurück“). In späteren Werken wird Spiller et- 9 Philipp Spiller: Die Urkraft des Welt- was deutlicher und führt in ›Die alls nach ihrem Wesen und Wirken auf allen Naturgebieten, Berlin 1876, Urkraft des Weltalls nach ihrem S. 262 Wesen und Wirken auf allen Na- 10 Stahls Forderung wird beispielsweise turgebieten‹ aus: behandelt bei F[riedrich] H[einrich] Th[eodor] Allihn: Die Umkehr der „Mit frecher Stirn hat einmal ein Wissenschaft in Preußen. Mit beson- derer Beziehung auf Stahl, und auf staatlich hochgestellter, aber von der die Erwiderung seiner Gegner, Pro- »göttlichen Vernunft« verschont ge- fessor Branitz in Breslau und Pro- bliebener Mann, ein jüdischer Rene- fessor Erdmann in Halle. Ein Bei- gat, und getauft[,] ein gefährlicher trag zur neuesten Culturgeschichte. Jesuit ohne Ordenskleid, ein gewisser Berlin 1855.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 7 Rudi Schweikert

Die Sahara der Vereinigten Staaten Karl Mays Schilderungen des Llano Estacado im Vergleich mit zeitgenössischen Berichten

in ausgesprochener Lieb- Bolson de Mapimi, der Inbegri Elingsschauplatz Karl Mays für lebensbedrohlicher Ödnis auf seine Abenteuergeschichten, die dem amerikanischen Kontinent. im Wilden Westen Nordamerikas spielen, ist der Llano Estacado, Grundlage seiner Kenntnis vom das riesige Tafelland im Südwes- Llano Estacado waren Berichte ten der Vereinigten Staaten (in von Expeditionen, die zwischen Texas und New ), das sich dem Ende der dreißiger und den über fünf Breitengrade (31° – 35° fünfziger Jahren des 19. Jahrhun- nördliche Breite) und dreiein- derts stattfanden und die Hoch- halb Längengrade (101° – 104,5° ebene am nördlichen oder südli- westliche Länge) erstreckt. chen Rand querten beziehungs- weise wie auch immer fundierte Über einen Zeitraum von fast Aussagen über den Zustand ihres zwanzig Jahren, vom Ende der Inneren machten. Diese Berich- siebziger Jahre an bis ausgangs te wurden vielfach in Auszügen der neunziger kam May immer und unterschiedlich genau in wieder auf jenes Gebiet zu spre- deutschen Verö entlichungen chen.1 Für ihn war es, neben der wiedergegeben, in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, fach- oder 1 Einen Überblick bietet Joachim Bier- populärwissenschaftlich ausge- mann: ›Die Llano estakata‹ oder ›der richtet, in ebensolchen Büchern, Llano estacado‹? Neue Überlegungen in Lexiken und in Romanen. Die- zu einem altbekannten Thema. In: se Lage schließt fast aus, Mays je- M-KMG 159/März 2009, S. 11–15, hier S. 12f. – Zum Thema allgemein weilige Vorlage für seine Schilde- siehe Meredith McClain und Rein- rungen eindeutig oder zumindest hold Wol (Hgg.): Karl May im Lla- no Estacado. Symposium der Karl- May-Gesellchaft in Lubbock, Texas te. In: JbKMG 1994, S. 299–311, (7. bis 11. September 2000). Husum: hier S. 205–307; Eckehard Koch: Hansa 2004, für unseren hier dis- »… einer der gefährlichsten Winkel kutierten Zusammenhang bes. Dan des fernen Westens …«. Zum zeit- Flores: Der ›wirkliche‹ Llano Esta- geschichtlichen Hintergrund der cado, S. 61–71, und Don Blakeslee: ›‹-Erzählung. In: Die- Die einheimische Geographie des ter Sudho und Hartmut Vollmer Llano Estacado, S. 73–87. Außerdem: (Hgg.): Karl Mays »Old Surehand«. Meredith McClain: Karl Mays Llano Hamburg: Igel 22011 (Karl-May-Stu- estakado und die Wirklichkeit heu- dien 3), S. 57–78, hier S. 57f.

8 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 klar zu bestimmen. Doch zumin- Die von May gewählten Verglei- dest die ›Quellenregion‹, aus der che (mit dem Ozean, mit der einzelne Formulierungen stam- Sahara) lassen sich auf einen frü- men, lässt sich hier und da näher hen Expeditionsbericht aus dem bestimmen.2 Jahr 1849 zurückführen, der die Vorstellung vom Llano Estacado, zumindest in Europa, lange Zeit entscheidend mitprägte. Zu Beginn, in der Erzählung Ein Dichter (1879), erscheint der Unter der Leitung von Captain Llano Estacado nominell noch Randolph B. Marcy (1812–1887, als Steppe (Kapitelüberschrift: In zuletzt Brigadegeneral5) machten der Todessteppe). Sie sieht freilich sich 85 Mann Anfang April 1849 wie eine endlos scheinende flache auf, um von Fort Smith aus (am Sandwüste aus: Arkansas an der Grenze zum In- dianerterritorium gelegen), die Sand, Sand, wieder Sand und nichts Strecke vermessend, nach San- als Sand ist hier zu sehen, und nur zu- ta Fé zu gelangen. Am 14. Juni weilen stößt der kühne Jäger, der sich 1849 notierte Marcy jene Sätze, in diese Oede wagt, auf eine Strecke, die als markante Kernaussagen welcher ein vorübergehender Regen zum Llano Estacado bis über den eine scharfe, stachelige Kaktusvegeta- Ausgang des 19. Jahrhunderts tion entlockt hat […]. – Weit, wie der unermeßliche, endlose Ozean, breitete vielfach – so auch bei Karl May – sich die Wüste aus […].3 wiederkehren:

“When we were upon the high table- Ein Jahr später, in Deadly dust, land [= the Llano Estacado], a view fügt May der Beschreibung des presented itself as boundless as the Llano Estacado unter anderem ocean. Not a tree, shrub, or any other folgendes Kennzeichen hinzu: object, either animate or inanimate, releaved the dreary monotony of the eine weite, furchtbare Strecke Lan- prospect; it was a vast, illimitable ex- des, welche die ›Sahara der Verei- panse of desert prairie – the dreaded nigten Staaten‹ genannt werden ›Llano Estacado‹ of New Mexico; or, könnte.4 in other words, the great Zahara of North America. It is a region almost as vast and trackless as the ocean – 2 Bei Bezeichnungen des Llano Esta- a land where no man, either savage cado, die von einer ganzen Reihe or civilized, permanently abides; it zeitgenössischer Autoren verwendet spreads forth into a treeless, deso- wurden (wie ›Sahara Nordameri- late waste of uninhabited solitude kas‹), versuche ich ihren Ursprung zu ermitteln. […]; even the savages dare not ven- 3 Karl Hohenthal [= Karl May]: Ein ture to cross it except at two or three Dichter. Eine Erzählung aus den Vereinigten Staaten. In: All-Deutsch- land!/Für alle Welt! 3. Jg. (1879), 5 Zu Marcy informiert etwas näher Nr. 32, S. 506b–507a (Reprint (ohne Llano-Estacado-Erwähnung) KMG, S. 104f.). Rolf J. G. Stadelmayer: Die Namens- 4 Karl May: Deadly dust. In: Deutscher vettern der sechs Surveyors. Nicht Hausschatz in Wort und Bild, 6. Jg. nur Sprachforscher. In: M-KMG (1879/80), Nr. 31, S. 481b (Reprint 166/Dezember 2011, S. 27–35, hier KMG 21997, S. 161). S. 30f.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 9 places, where they know water can be das Auge reicht, ohne irgend ei- found.”6 nen Baum, Strauch, oder überhaupt ohne allen Pflanzenwuchs, ‚ein wü- Der zu den bedeutendsten Geo- ster, öder, pfadloser Prairie-Ocean, in welchem sich kein lebendes Wesen graphen seiner Zeit zählende Karl dauernd aufhält.‘ Man könnte es die Andree (1808–1875) übernahm nordamerikanische Sahara nennen; da in seinen grundlegenden zwei- es ihm an Wasser fehlt, so wird es von bändigen ›Geographischen Wan- den Thieren gemieden; auch die In- derungen‹ (1859) diese Informa- dianer wagen sich nicht gern hinein, tionen von Marcy, über dessen und können sie es nicht umgehen, so mehrere Erkundungen des Llano versuchen sie die Reise nur auf zwei Estacado rasch auch bei uns be- Punkten, wo hin und wieder Wasser- richtet wurde7: tümpel liegen. Um den Weg nicht zu verfehlen, haben vormals mexikani- sche Händler denselben durch Pfähle „Jenes dürre Tafelland […] steigt bezeichnet; seitdem heißt jener Theil also beträchtlich über das umliegen- der Wüstenei die ›abgepfählte Ebe- de Land empor, ist flach und, soweit ne‹, Llano estacado.“8

6 Report of Captain R. B. Marcy. In: Reports of the Secretary of War […]. O. O., 1850 [31st Congress, 1. Ses- 8 Karl Andree: Geographische Wan- sion], S. 169–233, hier S. 185. – Der derungen. : Kuntze 1859, sich aufdrängende Vergleich des 2. Bd., S. 58. – In dem in Anm. 7 Llano Estacado mit dem Meer ist genannten Artikel heißt es entspre- zwar alt, aber die Formulierungsnä- chend: „Sie [= die Hochebene] ist he spricht bei May für eine ›Marcy- eine unwegsame wüste Ebene, wo Herkunft‹. – Francisco Vázquez de selten die Stimme eines Menschen Coronado hatte in einem Brief vom gehört wird, und wo kein lebendi- 20.10.1541 an den spanischen König ges Wesen permanent zu wohnen bereits den Eindruck von einer Lla- scheint. Weil es fast an allem trink- no-Ebene vermittelt, als befinde man baren Wasser fehlt, vermeiden alle sich auf hoher, ruhiger See (nach Thiere diese Region, und selbst die Richard Flint: Reconciling the Ca- Indianer wagen sie nur ein zwei lendars of the Coronado Expedition: Stellen zu durchreisen, wo sich ein Tiguex to the Second Barranca, April paar kleine Wasserpfützen finden. and May 1541. In: Ders. und Shirley Die Ebene ist mit der Wüste Sahara Cushing Flint (Hgg.): The Corona- zu vergleichen.“ (S. 152) – Auch im do Expedition. From the Distance of 3. Bd. (1854) der ›Zeitschrift für All- 460 Years. O. O., 2003, S. 151–163, gemeine Erdkunde‹ wird die hier zu- hier S. 158): „camine otros çinco grundeliegende Sequenz aus Marcys dias hasta llegar a Unos llanos Tan Bericht zitiert (auf Englisch) als Be- sin seña como si esto Vieramos en- leg für die Aussage, dass „die große golfados en la mar“ (ich ging weitere Wüste des sogenannten Llano Esta- fünf Tage, bis ich bei einigen Ebenen cado ganz die Natur afrikanischer ankam, die so ohne Orientierungs- Wüsten hat“: [T. E.] Gumprecht: punkte waren, dass es mir vorkam, als F. X. Aubrey’s Untersuchung des sei ich mitten auf dem Meer). Landes zwischen Californien und 7 Vgl. z. B. [T. E.] Gumprecht: Ca- dem Rio Grande del Norte, S. 191– pitain M a r c y ’s Erforschung der 213, hier S. 192f., Fußnote. – Lexi- Quellen des Red-River. In: Zeit- kalisch wurde die Marcy-Textpassage schrift für Allgemeine Erdkunde, ebenfalls festgehalten, siehe Fr. Ste- 1. Bd. (1853), S. 150–156. (S. 150– ger (Red.): Ergänzungs-Conversati- 155 Wiedergabe eines Artikels von onslexikon der neuesten Zeit auf das Theodor Olshausen in der deutschen Jahr 1855/56. Leipzig und Meißen: Auswanderungs-Zeitung, Bremen Ergänzungsblätter-Verlag o. J., S. 6 1853, Nr. 38). s. v. Neu-Mexiko.

10 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Der Llano estacado um 1900.

Auch die letzte Bemerkung lässt mit Abweichungen im Detail11 sich auf Marcy zurückführen, der mitteilte: “I was told in New haben in früherer Zeit, wie man sagt, Mexico that, many years since, die mejicanischen Händler und Jä- the Mexicans marked out a route ger, um sich nicht zu verirren und nicht vor Durst umzukommen, diese with stakes across this plain, where Straße durch die Ebene eingepfählt, they found water; and hence und daher hat sie den Namen L l a n o the name by which it is known E s t a c a d o , die eingepfählte Ebene, throughout Mexico, of ›El Llano erhalten.“ (Amerikanische Ausgabe: 9 Josiah Gregg: Commerce of the Prai- Estacado,‹ or the ›Staked Plain.‹” ries or the Journal of a Santa Fé Trad- Vor Marcy hatte jedoch bereits er […]. New York: Langley 1844.) Josiah Gregg (1806–1850) diese 11 Da Baum und Strauch auf der Hoch- Namenserklärung erwähnt10, die ebene fehlen, gab es auch Erklärun- gen der Art, die Pfähle seien zum An- binden der mitgeführten Tiere nötig 9 Randolph B. Marcy: Exploration gewesen oder als weithin sichtbares of the Red River of Louisiana in Signal für die wenigen Tümpel mit the Year 1852. Washington: Tucker trinkbarem Wasser. Vgl. z. B. Meyers 1854, S. 100 (= Report of the Sec- Konversationslexikon. Vierte Auflage retary of War. 33d Congress, 1st Ses- (1885–1892) s. v. Llano estacado: sion). „Seinen Namen verdankt es [= das 10 Vgl. Karawanenzüge durch die west- wüste Sandsteinplateau] den Stakes lichen Prairieen und Wanderungen in (Pfählen), durch welche die wenigen Nord-Mejico. Nach dem Tagebuche ›Wasserlöcher‹ auf ihm von der Ferne des Amerikaners Josias Gregg bear- kennbar gemacht wurden.“ – “Long beitet von M. B. Lindau. Dresden stretches, slightly undulating, with- und Leipzig: Arnoldische Buchhand- out land-marks, caused the Mexicans lung 21848, 2. Bd., S. 131f.: „Daher to plant stakes for the purpose of in-

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 11 die am häufigsten tradierte bis Reid (1818–1883) verö entlichte ins 20. Jahrhundert gewesen sein seine Romane, in denen der Lla- dürfte. May regte sie zur Ausfa- no Estacado eine Rolle spielt oder bulierung der Vorstellung an, erwähnt wird, zunächst ohne di- räuberische Schurken könnten die rekte Namensnennung (stattdes- Pfähle zur Fehlführung von Rei- sen ›amerikanische Sahara‹, wobei senden missbrauchen. wohl auch die Great Plains mit- gemeint waren), ab 1851 (›The Die bisher zu Recht in die Diskus- Scalp Hunters‹, deutsch: ›Die sion um die Herkunft von Mays Skalpjäger‹, 185214). Llano-Estacado-›Wissen‹ gebrach- ten Autoren Möllhausen und Eine andere Erklärung für den Mayne Reid12 liegen mit ihren Namen Llano Estacado bezie- Verö entlichungen nach Marcy: hungsweise Staked Plain bieten Balduin Möllhausen (1825–1905) englischsprachige Nachschlage- war Teilnehmer der Expedition werke wie Chamber’s Encyclope- von Amiel Weeks Whipple (1817– dia oder die Encyclopedia Ameri- 1863) zur Erkundung einer Eisen- cana15; hier zitiert nach ›Harper’s bahnroute zur Westküste (Start Encyclopedia of United States am 15.7.1853 von Fort Smith am History‹: “The name is derived Arkansas aus, Ende am 21.3.1854 from the abundant growth of the in Los Angeles)13; Thomas Mayne Yucca aloefolia, or ›Spanish dag- gers,‹ the naked stems of which, dicating the approaches to water, and growing to a height of 10 feet, thus originated the name of Llano resemble stakes.”16 Hinzuzufü- Estacado or ›Staked Plain.‹” (Andrew B. Gray: Texas Railroad. Sur- gen ist allerdings, dass laut einem vey of Route, its Costs and Probable Bericht zu Beginn der neunziger Revenue, in Connection with the Pa- Jahre des 19. Jahrhunderts die cific Railway […]. Cincinnati: Porter, Yucca-Pflanze gar nicht auf der Thrall & Chapman 1855, S. 10.) 17 12 Vgl. Andreas Graf: „Habe gedacht, Hochebene wächst. Alles Schwindel“. Balduin Möllhausen und Karl May – Beispiele literarischer estakata); S. 151, Fußnote: Namens- Adaption und Variation. In: JbKMG herleitung des Llano Estacado von 1991, S. 324–363, hier S. 340. den richtungweisenden Stangen. 13 Vgl. Amiel Weeks Whipple: Reports 14 Vgl. Capitain Mayne Reid: Die of Explorations and Surveys, to As- Skalpjäger, ein Roman aus Mexi- certain the Most Practicable and Eco- co. Grimma und Leipzig: Verlags- nomical Route for a Railroad from Comptoir 1852, 2. Theil, S. 15: the Mississippi River to the Pacific „[…] im Herzen der amerikanischen Ocean. Made under the Direction Sahara […].“ – Hinweise zu Einflüs- of the Secretary of War, in 1853–4, sen Mayne Reids auf May bei Christi- According to Acts of Congress of an Heermann: Winnetous Blutsbru- March 3, 1853, Mai 31, 1854, and der. Karl-May-Biographie. Bamberg: August 5, 1854. Volume III. Wa- Karl-May-Verlag 2002, S. 293f. shington: Nicholson 1856; Balduin 15 Nach Joseph Miller (Hg.): New Me- Möllhausen: Tagebuch einer Reise xico. A Guide to the Colorful State. vom Mississippi nach den Küsten der New York: Hastings House 1953, Südsee. Eingeführt von Alexander S. 310. von Humboldt. Leipzig: Mendels- 16 Harper’s Encyclopedia of United sohn 1858; Vergleich des Llano mit States History from 458 A. D. to dem Ozean dort auf S. 153 (ebenso 1909, 8. Bd. (1906), S. 342b. Hinweis auf Luftspiegelungen, vgl. 17 Vgl. W[illiam] F[letcher] Cummins: dazu Karl May: Der Geist der Llano Report of the Geography, Topog-

12 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Plausibler erscheinen hingegen er im Zusammenhang mit dem Herleitungen, die darauf Bezug Llano überhaupt von Hochebe- nehmen, wie das Plateau mit ne, wenn auch eingeschränkt auf seinen zahlreich vorhandenen den nördlichen Teil.20 Als Sand- Steilwänden, seinen schro en, wüste beschreibt er auch hier den bastions- und barrikadenartigen Llano – unsere Pferde wateten Rändern demjenigen vor Augen im tiefen Sande21 –, was für eine kommt, der sich auf es zu bewegt Übernahme aus einer Quellen- und dann auf ihm steht: wie mit region spricht, deren Ursprung Palisaden versehen (›Palisaded in der Mitte der 1860er Jahre Plain‹) beziehungsweise wie eine zu lokalisieren ist, die den Llano emporragende, hervorstechende bezeichnet als „Hochebene, die Ebene (Llano Destacado, später Anfangs noch mit Mesquit-Gras zu Estacado korrumpiert, ›Uplif- und Mesquit-Bäumen bewachsen ted Plain‹).18 Marcy hatte diesen ist, aber weiterhin nördlich zu ei- Eindruck beim ersten Ansichtig- ner völligen Sandwüste wird, der werden folgendermaßen notiert: s. g. Llano estacado, mit nackten Die Ränder des Llano Estacado Felszügen.“22 „present the appearance of the walls of fortification, with glacis Sonst ist der Llano bei May nur revetted with turf.“19 eben, aber nicht gegenüber seiner Umgebung erhaben – man reitet Und dies, der Höhenunterschied einfach nur in den Llano, nicht beim Betreten des Llano Estaca- auf ihn oder ihm23. Das heißt, die do, ist genau das, was May bei seinen Schilderungen in der Re- 20 Freilich ging der Weg, den wir da gel nicht vermittelt. Nur einmal, einzuschlagen hatten, über den nörd- im dritten Band von Satan und lichen Teil des Llano estacado, welcher Ischariot (1897; Die Jagd auf den dort eine saharaähnliche Hochebene bildet, sodaß wir uns auf einen schlim- Millionendieb, 1895/96) spricht men Ritt und nicht geringe Entbeh- rungen gefaßt machen mußten […]. (Karl May: Satan und Ischariot III raphy, and Geology of the Llano [GR 22], S. 70f.) Estacado or Staked Plains. In: E. T. 21 Ebd., S. 75. Dumble (Hg.): Third Annual Report 22 Adolf Mühry: Supplement zur klima- of the Geological Survey of Texas, tographischen Übersicht der Erde. 1891. Austin: Hutchings 1892, Mit einem Appendix, enthaltend Un- S. 129–200, hier S. 131, Fußnote: tersuchungen über das Wind-System, “This theory will not bear the test of und eine kartliche Darstellung des examination, for the simple reason Systems der Erd-Meteoration. Leip- that the Yucca plant with its stake- zig und Heidelberg: Winter 1865, like stems does not grow upon the S. 65. Die Beschreibung geht zurück high plateau of the Staked Plain, but auf Ad. Douai: Geographisches von is very abundant west of it.” Texas. In: Mittheilungen aus Justus 18 Vgl. z. B. John Miller Morris: El Perthes’ Geographischer Anstalt Llano Estacado. Exploration and über wichtige neue Erforschungen Imagination of the High Plains in auf dem Gesammtgebiete der Geo- Texas and New Mexico, 1536–1860. graphie von Dr. A. Petermann. Go- Austin: Texas State Historical Asso- tha: Perthes 1864, S. 121–126, hier ciation 1997, S. 162f. S. 122 (bis auf minimale Abweichun- 19 Report of Captain R. B. Marcy, gen gleichlautend). wie Anm. 6, S. 184 (Eintrag vom 23 Vgl. für die Redeweise ›auf …‹ bei- 13.6.1849). spielsweise Balduin Möllhausen:

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 13 Information, dass es sich bei ihm duzieren musste: erstens seiner um eine von seiner Umgebung Flüchtigkeit beim Erfassen von abgesetzte, ob sanft oder abrupt Zusammenhängen – haben die ansteigende Hochebene handelt, Sachmitteilungen in seinen Tex- wie eigentlich alle berichten, die ten Tiefgang, verdankt er sich die Gegend gesehen haben, und Mays genauem Abschreiben sei- wie es in der erzählenden Lite- ner Vorlagen –, zweitens seinem ratur bis in Texte für die Jugend raschen Vergessen des kopierten weiterverbreitet wurde24, war Inhalts und drittens seiner jewei- May erstaunlicherweise nicht ligen Quelle. nachhaltig präsent. So schrieb May in Deadly dust, Woran dies gelegen haben mag? nachdem er kurz zuvor in Ein An mindestens drei Dingen, die Dichter noch durchgängig die alle den Bedingungen geschul- Schreibweise die Llano estacado det waren, unter denen er pro- gebraucht hatte, konsequent die Llano Estaccado (falsch mit zwei Wanderungen durch die Prairien und -c-) nur deswegen, weil er es ge- Wüsten des westlichen Nord-Ameri- nau so in seiner maßgeblichen ka vom Mississippi nach den Küsten Quelle für diese Erzählung vor- der Südsee im Gefolge der von der gefunden hatte, nämlich W. F. A. Regierung der Vereinigten Staaten unter Lieut. Whipple ausgesandten Zimmermanns ›Californien und Expedition. Eingeführt von Alexan- das Goldfieber‹ (1863).25 Darin der von Humboldt. Leipzig: Men- wird der Llano Estacado ohne 2 delssohn 1860, S. 165: „[…] auf der Aufhebens (und ohne erzäh- Llano Estacado […]“; S. 487: „Im September 1853 war ich auf dem lend bei ihm zu verweilen) rasch Llano Estacado […].“ Vgl. weiter durchritten. Er wird als Wüste be- S. 149f.: „[…] bis zu dem Punkte, zeichnet und sein Tafelland-Cha- wo wir die Llano Estacado zu erstei- rakter nicht erwähnt, was bei May gen haben […]. […] [Die Expediti- on] zog am Rande der Llano Estaca- keinen Zweifel an der Richtigkeit do hinauf […].“ seiner Schilderung des Llano auf- Die Redeweise ›in …‹ ist belegt kommen gelassen haben dürfte. durch die ›Karawanenzüge‹ Greggs, sowohl in der Übersetzung M. B. Lindaus (siehe Anm. 10), 2. Bd., Zur Frage, ob es im Deutschen, S. 32: „[...] um uns südwärts nach da May erst den weiblichen und dem Rio Colorado oder Canadian während der neunziger Jahre an- und in das furchtbare L l a n o E s t a- schließend den männlichen Arti- c a d o zu führen, wo wir wahrschein- lich umgekommen wären“ als auch in kel benutzte, der oder die Llano der Übersetzung von Gottlob Fink: Estacado heißt26, klärt ein Blick in Wanderungen durch die Prairien zeitgenössische Verö entlichun- und das nördliche Mexiko. Von dem Amerikaner Josias Gregg. : Franckh 1847, Viertes bis sechstes 25 Vgl. dazu vom Verfasser: Deadly dust Bändchen [= 2. Bd.], S. 39: „[…] – drittes und viertes Kapitel von Karl und uns südwärts zu führen, um den May und W. F. A. Zimmermann. Der Colorado aufzusuchen, wo wir in Roman ›Californien und das Gold- den furchtbaren [ L ] l a n o E s t a k a- fieber‹ im Vergleich mit Mays Erzäh- d o gerathen und wahrscheinlich zu lung; in Vorbereitung. Grunde gegangen sein würden“. 26 Vgl. Biermann, ›Die Llano estaka- 24 Vgl. beispielsweise den in Anm. 27 ta‹ oder ›der Llano estacado‹?, wie genannten Titel. Anm. 1.

14 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 gen zwischen 1845 und 1900 Referenzwerken vertreten wie darüber auf, dass der spanische von Klödens ›Handbuch der Ausdruck mit allen drei Genera Erdkunde‹, Heinzelmanns gebraucht wurde: ›Weltkunde‹, 7. Bd. (1851) oder dem ›Staats-Lexikon‹ von − ›der Llano Estacado‹ nach dem Rotteck und Welcker, 3. Aufla- Spanischen (el llano) männ- ge, 14. Bd. (1866), S. 380 s. v. lich; z. B. „der Llano Estaca- Vereinigte Staaten von Ameri- do im Nordwesten von Texas, ka; ›das Llano‹ ist spätestens ab der sich ungefähr tausend Fuß 1800 nachweisbar. über das umgebende Gelände erhebt“27; Die Form ›estacada‹ in Verbin- dung mit Llano, bei May estaccata − ›die Llano Estacado‹, weil (Auf der See gefangen, 1878/79), Llano mit ›Ebene‹ übersetzt estacada (Deutsche Herzen, deut- und, danach sich richtend, da- sche Helden, 1885–87) und esta- her weiblich: z. B. „die Llano kata (Der Geist der Llano estaka- Estacado, oder die ›Gepfählte ta, 1888), ist nicht als falsch ge- Ebene‹“ (Heinrich Berghaus: setztes Partizip Perfekt (korrekt: Allgemeiner geologischer At- Llano estacado) zu verstehen, las. Eine Sammlung von funf- sondern als Substantiv mit der zehn Karten […]. Gotha: Bedeutung Barrikade, Pfahlwerk, Perthes 1850, S. 21a); so auch Palisade, Stakete. Es ist vermut- im Brockhaus, 11. Auflage, lich die ältere Benennung.29 15. Bd. (1868), S. 611; ver- breitet auch in erzählenden Die Schreibweise ›estakado‹, von Werken wie Mayne Reids ›Wei- May zu Beginn von Old Sure- ßem Häuptling‹ (übersetzt von hand I gebraucht30, verwendete W. E. Drugulin), Möllhau- beispielsweise Gottlob Fink in sens ›Wanderungen‹ oder Jo- seiner Übersetzung von Greggs siah Greggs ›Commerce of the Reisebericht.31 Prairies‹ (1844) in der Über- setzung von Gottlob Fink28; Die Charakterisierung des Llano

− ›das Llano Estacado‹, so in 29 Vgl. Cummins, Report, wie Anm. 17, Martin B. Lindaus Überset- S. 131, Fußnote: “It is suggested zung und Bearbeitung von Jo- that the word from which our Staked Plains is derived is not the one that siah Greggs eben erwähntem was originally used. That instead of Werk; sowohl in populär- als Llano Estacado it ought to be Llano auch fachwissenschaftlichen Estacada. […] It is supposed that the two words became confounded and changed at some later period […].” – 27 Karl Müller: Charakterbilder aus der Die Schreibweise ›Llano Estacada‹ ist Länder- und Völkerkunde. Kultur- auch heute noch gebräuchlich, wie und sittengeschichtliche Skizzen zu aus vielen neueren englischsprachi- Lust und Lehre für die reifere Jugend gen Publikationen hervorgeht. gebildeter Stände. Breslau: Trewendt 30 Vgl. Karl May: Old Surehand I 1865, S. 111. (GR 14), S. 3: Bloody-Fox hauste auf 28 Gregg: Wanderungen durch die Prai- einer, ja wohl der einzigen Oase des rien und das nördliche Mexiko, wie öden Llano estakado […]. Anm. 23, 2. Bd., S. 111 u. ö. 31 Siehe Anm. 23.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 15 Estacado als furchtbar (dreaded; ebenso bis ausgangs der 1880er May: furchtbare Strecke Landes) Jahre vertreten wie Definitionen, war bei der skizzierten Berichts- die ähnliche Vorstellungen nahe- lage selbstverständlich verbrei- legten („Tafelland mit sandiger tet. Nicht nur Marcy bezeichne- Oberfläche“38). Und dies, obwohl te ihn so, auch Gregg32 und, auf wenige Jahre nach den Expeditio- nachschreibender deutscher Sei- nen etwa von Marcy di erenzier- te, neben Nachschlagewerken33 tere Mitteilungen aufgrund zu- Gumprecht34 oder Hesse-War- nehmender Llano-Durchquerun- tegg35 und verschiedene andere. gen und -Erkundungen publiziert wurden. Dass es sich um eine Die Vorherrschaft des Sandes, die Wüste handle, stellte sich spätes- Mays verschiedene Llano-Aben- tens bis Ende der fünfziger Jahre teuer prägt, konnte er aus einer als Irrtum heraus.39 Ausgenom- Vielzahl von Informationsquellen men davon war ein breiter Sand- ableiten, wie das eine oder andere rücken40, der beispielsweise von bis hierher zitierte Referenzwerk Mayne Reid in ›The White Chief‹ angedeutet hat36. In Konversa- (1855; ›Der weiße Häuptling‹41) tionslexika, die May häufig zur und anderen Romanen erwähnt Orientierung dienten, war die wurde, in denen der Llano Esta- generelle Kennzeichnung des cado eine Rolle spielt. Llano Estacado als Sandwüste37

32 Siehe Karawanenzüge, wie Anm. 10, 2. Bd., S. 32: „das furchtbare Llano (1905), S. 637a s. v. Llano estacado Estacado“. bezeichnet. 33 Siehe Steger (Red.), Ergänzungs- 38 Brockhaus, 11. Auflage, 9. Bd. Conversationslexikon, wie Anm. 8, (1866), S. 516 s. v. Llanos. So auch S. 6: „Der Mangel an solchen Bergen in der von May benutzten 13. Aufla- scheint es auch zu sein, der den Lla- ge, 11. Bd. (1885), S. 132b s. v. Lla- no Estacado zur furchtbaren Wüste nos. macht.“ 39 Vgl. beispielsweise H. Wickeland: 34 Siehe Gumprecht, F. X. Aubrey’s Notizen über Texas. III. In: Allgemei- Untersuchung, wie Anm. 7, S. 192, ne Auswanderungszeitung, 13. Jg. Fußnote: „so scheinen doch die (1859), Nr. 48 vom 3.12.1859, Hochflächen im Westen des Rio S. 192b–193b, hier S. 193a: „[...] Grande nirgends so fürchterlich, als möchte ich hier zugleich bemerken, die im Osten dieses Flusses bis zur daß das nordwestliche Texas, so weit Grenze von Arkansas zu sein, wo die es bisher unbekannt war, vielfach große Wüste des sogenannten Llano als unfruchtbar und die Hochebene Estacado ganz die Natur afrikani- als eine Wüste dargestellt ist, wo es scher Wüsten hat.“ höchstens im Winter regnet. Dieß 35 Siehe Ernst von Hesse-Wartegg: Mis- ist ein Irrthum. […] Es fällt auf der sissippi-Fahrten. Reisebilder aus dem Llano mehr oder weniger genügen- amerikanischen Süden (1879–1880). der Regen […]. So fiel im Sommer Leipzig: Reissner 1881, S. 173: „Von 1857, wo überall große Trockenheit der furchtbaren Einöde des nörd- herrschte, […] auf der Llano Estaca- lichen Texas, dem Llano estacado, do, monatelang übermäßiger kommend“. Regen.“ 36 Siehe oben S. mit Anm. 22. 40 Vgl. ebd., S. 193a. 37 Vgl. Meyer, 4. Auflage, wie Anm. 11, 41 Vgl. [Thomas] Mayne Reid: Der 12. Bd. (1888), S. 114a s. v. New weiße Häuptling. Eine Sage aus Neu- Mexico („Sandwüste“). – Als „wü- Mexico. Leipzig: Kollmann 1856, stenhaft“ wird der Llano Estaca- 1. Bd., S. 96: „[…] Gürtel von Sand- do noch in der 6. Auflage, 12. Bd. hügeln […].“

16 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Wolfgang Sämmer / Volker Griese »Bitte, schreiben Sie zuweilen.«

Engelbert Wittich und Karl May

Zum Gedenken an Hansotto Hatzig

[…] Gitano, Zingaritto oder Zigeuner, mir Alles gleich. Du bist ein braver Junge, und da frage ich nicht, ob dei- ne Mutter eine Gräfin oder […] eine Zigeunerin war.1 (Karl May)

arl1 Mays Fantasiewelten ent- diesem damals geheimnisumwit- Kführen den damaligen Leser terten und verachteten Volk mag an bisher nicht bekannte Orte, durchaus mit der eigenen Kind- bevölkert mit exotisch erschei- heit zusammenhängen. Als eine nenden Menschen, bringen au- Schaustellertruppe mit dem in ßergewöhnliche Kulturen und Anlehnung an Cervantes ›La Gi- Lebensumstände in die noch tanilla‹ verfassten Stück ›Preziosa‹ recht abgeschottete heimische in seinem Heimatort gastiert, darf Welt. Weniger eine ferne Welt, er in einem kurzen Auftritt selbst als vielmehr eine außergewöhn- auf die Bühne: liche, geheimnisvolle Kultur ist es, die ihn in den frühen Jahren Es versteht sich ganz von selbst, dass immer wieder einmal inspirieren ich in Wonne schwamm. Zigeuner- soll, die Welt der Zigeuner, oder tambour! Eine Grafenstochter! Blanke nach heutiger, papierener politi- Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die cal correctness, die Welt der Sinti ganze Bühne herum! […] Ich schlief in der folgenden Nacht sehr wenig […]3 und Roma. Ob in der Erzählung Der Gitano oder in dem Roman Scepter und Hammer, wie auch in Jahrzehnte später kommt Karl stark abgeschwächter Form noch May wieder mit einem ›Fahren- im Waldröschen, immer wieder den‹, einem Schausteller in Kon- lässt Karl May Zigeuner als Han- takt, der selbst kein Zigeuner ist, delnde auftreten, mal positiv, mal sich aber als ein solcher fühlt und ambivalent-realistisch. Eckehard intime Einblicke in diese, der da- Koch hat das verdienstvoll recher- maligen Zeit noch verborgene chiert.2 Die frühe Hinneigung zu Welt besitzt.

1 Karl May: Scepter und Hammer (HKA II.I). Nördlingen 1987, S.89. 2 Eckehard Koch: »Der Gitano ist ein gehetzter Hund«. Karl May und die Zigeuner. In: JbKMG 1989, S.178– 229. 3 LuS-HKA, S. 59.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 17 Fahrendes Volk vor den Toren Die Lebensgeschichte Engelbert zenhardt, bei Freudenstadt im eines Ortes Wittichs begann am 18. April Schwarzwald, als Sohn von Karl (unbeschriftete 4 Zeichnung En- 1878. Da erblickte er in Lüt- und Katharina, einem Bürsten- gelbert Wittichs; binderehepaar, das Licht der Welt. Abbildung in: En- 4 Die biographischen Daten wurden, Der Vater gehörte zu den Jeni- gelbert Wittich: soweit nicht gesondert kenntlich ge- schen, den Fahrenden, die Mutter Blicke in das Le- macht, folgenden Werken entnom- ben der Zigeuner. men: selbst entstammte dem Volk der Neue, gründlich Dr. Alexander Wesle: Engelbert Wit- Sinti. Er blieb der einzige Nach- durchgearbeitete tich – ein fast vergessener Schrift- komme. Über die Kindheit ist nur und bedeutend steller und Erhalter der jenischen wenig bekannt. Klar ist nur, dass erweiterte Auf- Sprache. (›Freudenstädter Heimat- lage. Hamburg, blätter‹. Heimatgeschichtliche Bei- er mit seinen Eltern herumzog, Basel u. a. 1927) lage zum ›Schwarzwälder Bote‹ Bd. um über das Hausieren ihre im XXVII, Nr. 2/Februar 1996). Winter hergestellten Waren zum Joachim S. Hohmann (Hg.): brawo Kauf anzubieten. Wittichs Schul- sinto! Lebensspuren deutscher Zi- geuner. Frankfurt a. M. 1984. – Das besuch erfolgte sporadisch nur Buch wurde kurz nach Erscheinen in der Herbst- und Winterzeit. aufgrund eines Einspruchs des Zen- Nach eigenen Angaben sollen tralrats der Sinti und Roma eingezo- dabei insgesamt nicht einmal vier gen und die gesamte Auflage vernich- tet. Man war nicht einverstanden, Jahre zusammengekommen sein. dass Hohmann Wittichs Geschichten über das Leben und die Kultur der Zigeuner neu auflegte. Seine Einbli- Wittich schließlich als Nazi-Kollabo- cke in eine vergangene Zeit passten rateur di amiert. Damit erübrigt sich nicht zu dem Bild, das der oziellen in Deutschland jegliche Diskussion. Version einiger Mitglieder des Zen- Auch der Fischer-Verlag überprüfte tralrates entsprechen sollte. In einer diese absurden Behauptungen nicht großangelegten Kampagne wurde weiter und fügte sich dem Druck.

18 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Die Tage oder Wochen, die er einmal in der Schule verbringen durfte, gehörten zu den schöns- ten Augenblicken seines Lebens. Ein Bekannter bescheinigte ihm später einen regelrechten „Bil- dungstrieb“.

Noch bevor die Schulzeit begann, entdeckte er seine Liebe zum Kunsthandwerk.

„Ich z. B. konnte, ehe ich 6 Jahre alt war und eine Schule von innen auch nur gesehen hatte – wie ich ja über- haupt kaum 3½ Jahre eine Schule besuchte – schon gut lesen und sch- reiben, eben durch meine Freude am Zeichnen. Ich zeichnete die gedruck- ten Buchstaben meines Namens, schnitzte sie auch in Holz und lernte sie so kennen.“5 darauf warteten weiterzuziehen, Engelbert Wittich, Selbstporträt vor wünschte sich der Knabe den 1911 (Verö ent- Tag, an dem die Schulpflicht en- licht in: Engelbert Talent alleine, das zeigt der Fall dete, „noch weit, weit hinaus. Wittich: Blicke Wittich aber auch, reicht zum Vergebens – nur zu schnell war in das Leben der 8 Zigeuner. Von Erfolg nicht aus. Das Talent will er da!“ Zusammen mit seinen einem Zigeuner. gehegt und gepflegt werden. Klassenkameraden wurde er an- Striegau o. D. Davon nun konnte bei Wittich lässlich dieses Ereignisses „zu ei- [1911]) überhaupt nicht die Rede sein. nem gemeinschaftlichen Mahl in Die Eltern waren „zu arm“ und das Pfarrhaus eingeladen“. Alle konnten „ihm nichts mitgeben“6. Kameraden schwärmen von den Umso dankbarer erinnert sich Berufen, die sie nun erlernen Wittich daher jener, die ihn in würden. seinem harten Leben unterstütz- ten. In einer Rückschau auf seine „Da war der fahrende Knabe ganz Kindheit etwa fällt ihm „der ka- still! Hier konnte er nicht mitreden. tholische Pfarrer aus dem nahen Was er wohl würde? Niemand dachte Oberamtsstädtchen“ ein, der daran, ihn auch einen Beruf wählen, „ihm die Fahrkarte […] bezahl- ihn etwas lernen zu lassen! Hätte sich doch hier der Engel gefunden, den te, damit er dort die katholische jeder Mensch haben muß, um etwas 7 Schule besuchen konnte“. Wäh- zu werden, etwas zu erreichen! Hät- rend seine Eltern ungeduldig te sich hier eine helfende Hand ge- boten, so wäre aus dem Knaben von 5 Engelbert Wittich: Blicke in das Le- damals etwas ganz anderes geworden, ben der Zigeuner. Neue, gründlich als er jetzt ist!“9 durchgearbeitete und bedeutend erweiterte Auflage. Advent-Verlag, Hamburg 1927, S. 23. 6 Ebd., S. 69. 8 Ebd.. 7 Ebd., S. 68. 9 Ebd., S. 69.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 19 Gerne wäre er Maler und Kunst- gen und zogen mit ihrem Schau- handwerker geworden. Bestär- stellergeschäft vor die Tore Pforz- kung in diesem Wunsch fand heims. Nach und nach wurde alles Wittich durch eine Bekannt- verkauft, zuerst die Schausteller- schaft, die er auf einer der Hau- utensilien, um die Arzt- und Apo- sierfahrten machte. Der Maler thekerrechnungen bezahlen zu Paul Kämmerer, angetan von können, dann folgten die Pferde. dem zeichnerischen Talent, er- Übrig blieb ihnen nur noch der klärte sich bereit, Wittich zu sich Wagen, in dem sie fortan hausten. zu nehmen und ihn zu fördern. Als dann auch noch die Frau im Doch schon bald riefen die El- Winter 1908/09 stürzte und wo- tern ihren Sohn wieder zu sich. chenlang nicht das Bett verlassen Sie brauchten jede Hand bei ih- konnte, wurden die Verhältnisse rem Gewerbe. So blieb es dabei: immer elender und die Wohn- „Der Reichtum an Enttäuschun- verhältnisse dienten nicht gerade gen und Prüfungen sollte sozusa- dazu, den Gesundheitszustand gen das verzinslichste Kapital des seiner Frau zu verbessern: Mannes bleiben“.10 „[…] es war entsetzlich zu sehen, wie Mit 24 Jahren schließlich heira- es auf das Bett, worin mein krankes tete er 1902 die 17 Jahre ältere Weib lag, hineinschneite und regnete, Witwe Friederike Denner, die so daß wir Schirme über Bett und im fünf Kinder in die Ehe mitbrach- Wagen aufspannen mußten, bei der grimmigen Kälte. Wie oft war mir der te und ein Schaugeschäft. Sie war Bart, morgens beim Erwachen, an die eine echte Roma und wie die Bettdecke hingefroren, und hingen Wittichs stammte auch sie aus an Kopf und Bettende Eiszapfen!“11 Lützenhardt. Und wie schon bei- der Eltern und deren Vorfahren, so befanden sich auch Engelbert Der schiere Mangel war für die Wittich und seine Frau und zu- nächste Zeit der Begleiter. Er mindest eine Stieftochter immer wandte sich an den örtlichen auf Reisen, immer unterwegs, Frauenverein, an die Heilsarmee, um mit ihrem Puppenspiel auf doch alle seine Hilfeersuchen den Kirmessen und Jahrmärkten wurden abgelehnt. Immerhin ihren Lebensunterhalt zu verdie- hatte die Frau Pastorin ein Einse- nen. Doch das Ende nahte schon hen, ließ ihm zehn Mark zukom- allzu bald. War die Frau schon men und der Dekan legte noch länger leidend, so verschlech- terte sich der Zustand. 1907 er- 11 Brief Engelbert Wittichs an Klara krankte sie an einem chronischen Zetkin vom 11.7.1909. Zitiert nach: Atemwegsinfekt. Beide hielten Engelbert Wittich: Beiträge zur Zi- geunerkunde. Bearbeitet, eingeleitet sich im badischen Kreis Karlsru- und herausgegeben von Joachim S. he, in Ispringen auf und planten Hohmann. Mit einem Beitrag von zunächst in der nächstgelegenen Theo Gantner, Direktor des schwei- Stadt eine längere Pause einzule- zerischen Museums für Volkskunde, Basel. (Studien zur Tsiganologie und Folkloristik, hg. v. Joachim S. Hoh- 10 Heinrich Schä -Zerweck: Engelbert mann. 2). Peter-Lang-Verlag, Frank- Wittich. In: Stuttgarter Neues Tage- furt a. M., Bern, New York, Paris blatt, 26.4.1928. 1990, S. 43.

20 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 einmal sechs Mark dazu. Die seinen Forschungen half. Ferner Tochter ging hausieren, obwohl beherrschte sie die Sprache Ro- darauf Strafe stand. manes vollkommen. Auch ihre Verwandten, die Wittich als einen Ein Leben auf der Straße und der Ihren ansahen, förderten ihn die Fortführung der Schaustel- in manchen Dingen. lerei gehörten somit endgültig der Vergangenheit an. Engelbert Und die Zeit war günstig. Ein- Wittich stand ohne Arbeit da und blicke hinter die Kulissen einer die Frau war schwerkrank. Wit- als abgeschlossen geltenden Welt tich versuchte jetzt, auf andere der sogenannten ›Zigeuner‹, ei- Art und Weise für den Lebensun- ner Welt der Orakel, Wahrsagerei, terhalt zu sorgen. Hatte er schon speziellen Sagen, Lyrik und eines zuvor angefangen zu schriftstel- eigenen Dialektes machte neu- lern, so stürzte er sich fortan mit gierig. Artikel über Folklorismus, seinem ganzen Elan auf die ihm Naturkunde, Sprachwissenschaft einzig als Einnahmequelle schei- sogar kleinere belletristische Ar- nende geistige Arbeit. Zunächst beiten über und aus dem Leben veräußerte er eine Arbeit, an der der Zigeuner erschienen schließ- er seit über einem Jahrzehnt ge- lich auch außerhalb der deutschen forscht hatte, einer Grammatik Grenze, so u. a., unter Vermitt- der Zigeunersprache. Zwar gab es lung seines frühen Bekannten und für das Manuskript nur 40 Mark, Ausbilders im Künstlerischen, doch sie kamen zur rechten Zeit. Paul Kämmerer, im ›Schweizeri- Anfang August 1909 erging vom schen Archiv für Volkskunde‹ und Bezirksamt die ultimative Au or- im ›Journal of the Gypsy Lore derung an die Wittichs, unter An- Society‹.12 Den letzteren Kon- drohung von Strafe bzw. zwangs- takt hatte der bekannte Wiener weisen Einschreitens der Staats- Folklorist, Ethnologe und Sexu- macht, den Wagen zu räumen. So alforscher Prof. Dr. Friedrich S. wird erst einmal eine Wohnung in Krauss vermittelt. Und Wittich Pforzheim bezogen. leistete Großes auf dem Gebiet der Folkloristik. Wenige Jahre Durch die Sprachforschungen später rühmte R. A. Scott Macfie, wurde immerhin das Tor auf- Gründer der ›Gypsy Lore Socie- gestoßen, Folkloristen wurden ty‹, Wittich „habe in hohem Gra- aufmerksam. Schon bald gingen de die genaue Kenntnis der Ge- Au orderungen an Engelbert bräuche der Zigeuner gefördert Wittich, gegen entsprechendes und zum philologischen Studium Honorar weitere Arbeiten zu der alten indischen Sprache, wel- diesem Themenkreis zu Papier che sie sprechen, hervorragend zu bringen. Fortan kreisten seine beigetragen.“13 Themen immer um die Welt der Jenischen, der Sinti und Roma. 12 Journal of the Gypsy Lore Society. Unterstützung fand er hierbei Liverpool July 1907–1913, Volume I–VI. durch seine Frau, die ihm als 13 Friedrich S. Krauß: Geleitwort. In: Roma aus erster Hand Einblicke Engelbert Wittich: Blicke in das Le- gewährte und ihrem Mann bei ben der Zigeuner. Hamburg, Basel, Wien [u. a.] 1927, S. 12.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 21 Ein Höhepunkt bildet zweifels- handel, Schnitzereien, Schirm- frei das Buch ›Blicke in das Le- und Kesselflicken. „Selbst als ben der Zigeuner‹14 Gewidmet Schausteller, Schauspieler, Zir- ist es keinem geringeren als Prof. kusbesitzer, Schildersänger, Tier- Dr. Friedrich S. Krauss, „meinem dresseure usw. suchen sie ihr Freunde in Wien“. Und eben die- Fortkommen.“19 So auch der Zi- ser verfasste das Geleitwort für geuner H.; er „war Akrobat, Mes- die zweite Auflage, in dem er auf serschlucker, Schlangenmensch die inzwischen eingetretene Be- und Zauberkünstler. Unter ande- deutung Wittichs verwies: rem gab er vor, ›kugelsicher‹ zu sein.“20 „Wittich jedoch übertri t mich als ein wahrer Kenner der Sprache und Die weiteren Lebensstationen des Volkstums weitaus. Er ist […] ein Wittichs waren , Pforz- hochbegabter Beobachter, literarisch heim, Dürrwang b. Mühlacker, ein Selbstmann, der von Kindheit an Stuttgart-Gablenberg, Stuttgart- den Hauptteil seines Lebens in engs- Cannstatt. Trotz der zahlreich ter Fühlung mit deutschen Zigeu- nern verblieb.“15 erscheinenden Artikel blieben die Lebensumstände aber äußerst ärmlich. Während des Krieges, „Ich schreibe“, so betont Wittich den er verwundet und mit Aus- denn auch in dem Bändchen, zeichnung versehen überstand, „aus eigener Anschauung, nicht ruhte das Schriftstellern. Immer vom Hörensagen, und werde die wieder wurde bei den Stadtver- Zigeuner weder schwärzer noch waltungen um Unterstützung weißer malen, als sie sind. Ich be- nachgesucht. Schließlich starb richte nur eigene Erlebnisse und Wittichs Frau 1918. Beobachtungen und bin daher genötigt, manches Märchen, das über die Zigeuner umläuft, zu zerstören.“16 So räumt er etwa auf 19 Ebd., S. 25. mit dem Vorurteil, der Zigeuner 20 Ebd. – Zum Stichwort ›Schausteller‹ lebe in den Tag hinein, indem vgl. den Brief Hansotto Hatzigs an Wolfgang Sämmer vom 22.2.1996: er schreibt: „Immerhin sind die „Es ist wohl kein Zufall, daß mir im deutschen Zigeuner keineswegs Heft 1 der ›Autographica‹ die Kar- ein so müßiges, faules Volk, wie te an den Schausteller Wittich ganz gewöhnlich kurzerhand ange- besonders aufgefallen ist; denn das 17 ist nicht Mays einzige Verbindung nommen wird“. Wie nun schlägt zu Landfahrern und Zirkusleuten. sich der Zigeuner durchs Leben? Zur Zeit entsteht auch eine zusam- Als „geborener Musiker“18, so menfassende Darstellung (ho e ich!) Wittich, verdiene er etwa durch über den Hohenstein-Ernstthaler Schriftsteller und Zirkusmann Her- seine Musik ein schönes Stück mann Waldemar Otto, mit dem May Geld, aber auch durch Geigen- in seinen letzten Lebensjahren in Düsseldorf zusammengetro en ist. Ottos sehr viel älterer Bruder war 14 Vgl. Anm. 5. einmal Mays Klassenkamerad gewe- 15 Wie Anm.7, S. 11. sen.“ – Daß jemand kugelsicher sei, 16 Ebd., S. 14. mit diesem Motiv spielt May aus- 17 Ebd., S. 16. giebig in seinem Roman Durch das 18 Ebd., S. 21. Land der Skipetaren.

22 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 In den zwanziger bis Anfang der wandte. Wittich war noch mit dreißiger Jahre publizierte En- seiner Frau als Schausteller un- gelbert Wittich rege. Er knüpfte terwegs. Beide befanden sich auch Kontakte zu der Organi- in Ispringen bei Pforzheim. sation der Vagabunden und de- Immerhin muss das Schreiben ren Gründer und Leiter Gregor Wittichs in Radebeul Interesse Gog21. Auch ihnen, die wie die geweckt haben; Karl May jeden- Zigeuner mit Argwohn betrach- falls, so ist überliefert, „soll auf tet, gar angefeindet wurden, galt ihn aufmerksam geworden sein seine verständnisvolle Aufmerk- und ihm geraten haben, sich samkeit. Gehörten Sie doch im mehr dem schriftstellerischen weitesten Sinne auch zu dem Beruf zuzuwenden.“22 Wenn das ›Fahrenden Volk‹. Als der erste richtig ist, dann beweist es, dass Kongress der ›Bruderschaft der Karl May ein feines Gespür für Vagabunden‹ 1929 in Stuttgart das Kreative und Schöpferische abgehalten wurde, gehörte En- im Menschen hatte. Denn in En- gelbert Wittich selbstverständlich gelbert Wittich steckte tatsäch- zu den Teilnehmern. Doch dann lich das Talent zum Schreiben; waren einerseits die Themen auf- nicht nur das zum Schreiben, gebraucht, auch ging eine neue sondern wie dargelegt auch das Zeit anders mit dem Thema Zi- zum Malen und Zeichnen. Viel- geuner um. leicht ließen die Briefe Wittichs Karl May aber auch deshalb auf- Nach Jahren des Hinkümmerns horchen, weil er aus ihnen einen gelang es Bekannten schließ- Schicksalsgenossen erkannte, lich, Wittich eine kleine Stelle jemanden, dem es ähnlich wie als Hilfsarbeiter zu bescha en. ihm, dem Lieblingskind der Not, So fand er sich im Herbst 1937 der Sorge, des Kummers 23 ergan- als Hilfsaufseher im Landesge- gen war und dem es schwer ge- werbemuseum wieder. Doch macht wurde, die gesellschaftli- Körper und Geist waren schon che Leiter empor zu steigen. zerbrochen. Anfang 1938 fessel- te ihn ein Schlaganfall ans Bett. Einer undatierten Karte jeden- Am 4. März 1938 starb Engel- falls ist zu entnehmen, dass er den bert Wittich an den Folgen eines Werdegang Wittichs weiter ver- Darmverschlusses. folgen wollte:

Wann der Kontakt Engelbert Wittichs mit Karl May zustan- de kam, liegt im Dunkeln. Ein Schr eiben ist nicht erhalten. Es muss wohl um 1907 gewesen sein, als er sich nach Radebeul 22 Joachim S. Hohmann: brawo sinto! Auf den Spuren eines geächteten 21 Gregor Gog, *7.11.1891 Schwerin, Buches. Eine Dokumentation. Fern- †7.10.1945 Taschkent; Gründer der wald 1986, S. 10. Bruderschaft der Vagabunden 1927. 23 Wie Anm. 3, S. 19.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 23 Herzlichen Gruß und Dank! Bitte, schreiben Sie zuweilen. Ich möchte gern immer wissen, wo Sie sind. Ihr alter, treuer Karl May. Fotokarte. Bildseite: Aufnahme Klara Mays mit Klaras handschriftlichem Zusatz: „Karl May in sei- ner Wohnung in Jericho“. – Adresse: Herrn Engelbert Wittich Schausteller | z. Z. Ispringen | B. A. Pforzheim. Baden (Original Schiller Nationalmuseum Marbach)

24 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Nur wenig später geriet das ge- In dieser Zeit, wandte sich Wit- wohnte Leben allerdings durch tich an alle Menschen, die er die Erkrankung der Ehefrau kannte, selbst, wenn es nur dem aus dem Lot. Der Zustand ver- Namen nach war. Doch über- schlechterte sich zunehmend. all wurde er „mit leeren Phrasen Vor den Toren Pforzheims stell- oder noch Schlimmerem“ ab- ten sie zunächst ihren Wagen ab. gespeist. In seiner Verzweiflung Mit dem Verunglücken der Frau ging auch wieder ein Schreiben begann dann der endgültige Ab- nach Radebeul. Doch der Brief schied von der Schaustellerei. Der wurde diesmal nicht von Karl schiere Mangel war für die nächs- May beantwortet, sondern von te Zeit der Begleiter. Er zwang seiner Frau Klara. Die, mit einem Wittich wohl auch zu Taten, die großen Teil der Korrespondenz mit dem Gesetz nicht ganz in ihres Mannes vertraut, wusste nur Einklang standen. So heißt es in zu gut von Bettelbriefen25, die einem Brief Reinhold Urbans May erreichten und die von ihr an Professor Ernst Kuhn vom erledigt wurden. Handelt es sich 22. Februar 1911: um relativ entfernt Bekannte, so ist man gegenüber deren Sorgen „Ich bedaure, dass Wittich in so un- und Nöten oft unempfindlich. angenehme Sachen verwickelt ist. Eine entsprechende Reaktion er- Grade als ich zu ihm kam, hatte er folgte auch aus Radebeul: ebenfalls eine Verhandlung, da er wegen Betruges angeklagt war. Er Wittich brauchte dringend Hilfe. hatte (wie er mir sagte) sich ›gratis‹ Doch Klara Mays Antwort fiel annoncierte Weinproben für seine kranke Frau kommen lassen, ohne sie hart aus. Wie hart, darüber be- nachher zu bezahlen. Ähnlich wird es schwerte sich Wittich in einem mit seinem Handel gehen. Er hatte Brief an Clara Zetkin vom 11. Juli eine Sendung Spitzen, wollte sie, da 1909: er nicht zahlen kann, zurückschicken, hatte aber doch schon etwas davon „So schrieb mir z. B. die Gattin des verkauft; so wird das vielleicht wie- bekannten Schriftstellers Karl May: der mit einem Konflikt enden. […] »Es hieße Eulen nach Athen tragen«, Ich will nicht behaupten, dass ich Wittich kennen gelernt hätte, ob- wohl ich von Mittwoch bis Sonntag 25 Wie solch ein Bettelbrief aussehen täglich mehrere Stunden bei ihm war. konnte, das veranschaulicht der von Victor Ziel an Klara May vom 31. Au- Er ist ein hübscher Mann von gutem gust 1910: „Ich habe mich zwar wie- Benehmen und ordentlich gekleidet. der aufgerichtet, habe schon wieder Er erscheint harmlos wie ein Kind, einiges Einkommen, aber die Miete und doch ist es ersichtlich, dass er habe ich wieder nicht, ich schwöre es nicht alles sagen mag und darf was Ihnen beim Haupte meiner geliebten er weiß. Am letzten Tage erfuhr ich, Mutter, ich habe sie nicht erübrigen dass Karl May unsern Wittich kennt. können! Sie boten mir vor einem In welchem Zusammenhang, das sag- Monat Ihre Hilfe an, wenn ich mich noch in Not befinden sollte. Seien Sie te er nicht, hat er ja schließlich nicht bitte nicht böse, wenn ich Sie darauf- 24 nötig!“ hin anflehe, mir noch dieses letzte Mal zu helfen.“ Zit. nach Dieter Sud- 24 Journal of the Gypsy Lore Society. ho /Hans-Dieter Steinmetz: Karl- New series. Volume III (July 1909 – May-Chronik. Bd. 5: 1910–1912. April 1910). Bamberg, Radebeul 2006, S. 293.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 25 wollte man in meiner Lage eingreifen. Weitere Karten aus Radebeul zei- Kommentar überflüssig! Es würde gen allerdings, das der Kontakt nur die rohe und zynische Antwort Wittichs zur Villa ›Shatterhand‹ dieser edlen und »teutschen« Frau trotz der demütigenden Erfah- abschwächen“.26 rung nicht abbrach, auch nach dem Tod Karl Mays. 26 Wie Anm. 11.

26 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Klara May an Engelbert Wittich

Besten Dank und Gruß K. May.

Fotokarte. Bildseite: Aufnahme Klara Mays mit Klaras handschriftlichem Zusatz: „Karl May und Frau auf der Heimreise von Amerika auf der »Kronprinzessin Cecilie«“. – Adresse: Familie E. Wit- tig | Pforzheim. Baden. | postlagernd – Poststempel: Radebeul-Oberlössnitz ??? (Original Schiller Nationalmuseum Marbach gedruckte Danksagung

Besten Dank und Gruß! Karl May.

Fotokarte. Bildseite: Aufnahme Klara Mays mit gedrucktem Titel: „Karl May am Den Rock, dem Nuggetberg der Indianer (Amerika)“. — ohne Adresse u. Datum (Original Schiller Nationalmu- seum Marbach) gedruckte Postkarte

Fotokarte. Bildseite: Chief White Horse Eagle vor einer Ausstellungsvitrine. Rückseitige gedruckte Beschriftung „Jahrhunderte schauen sich an. Big Chief White Horse Eagle, der 107 Jahre alte Indianerfürst besuchte am 13. Juni 1929 das Karl-May-Museum in Radebeul.“ — ohne Adresse u. Datum (Original Schiller Nationalmuseum Marbach)

Wilhelm Brauneder Überinterpretationen zum ›Schatz‹?

tolpersteine auf dem Weg denfalls unabdingbar. Liegen aber „Szum Silbersee“ beschrieb solche tatsächlich in jener Dichte Peter Essenwein1. Es kommt auf besagtem Weg wie Essenwein wohl auch darauf an, wie man sie wahrzunehmen glaubt? Hier geht, um zu stolpern, bzw. wie ein paar Beispiele. man vorgeht, um zu interpretie- ren. Um beim Bild der Stolper- Es habe nach Essenwein2 im steine zu bleiben: Ein Stein ist je- Zuge der Bahnszenen „die Lok

1 M-KMG 178/2013 und 179/2014. 2 M-KMG 179, S. 51.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 27 einmal fast blitzartig beschleu- entschuldigt sich bei ihm – wir nigt“. Das aber ist keineswegs haben Dich nicht beleidigen wol- ein Zitat und daher kein Stol- len, und ich ho e, daß Du mir perstein. Wir lesen von der An- meine Worte nicht übel nimmst weisung an den Maschinisten, er – was Tante Droll akzeptiert und solle abfahren, und zwar nicht meint: Zornig bin ich gar nicht, langsam, sondern schnell, weiters denn ich weiß, daß das Wort wirk- von einer Schnelligkeit, die es un- lich pamplig klingt. Wohl keine möglich mache, abzuspringen, Rede davon, „das Vertrauensver- und schließlich davon, es war der hältnis ist von da an empfindlich Zug weitergerast.3 Keine Rede gestört“! von einem ›Blitzstart‹ nach Es- senwein: Einfach schnell fährt der Hilton und Knox7 gehören zwar Zug an und gewinnt natürlich zur Schar des Cornel, doch hat- an Schnelligkeit. Schnell ist hier te er sie erst während des Rittes ausdrücklich der Gegensatz zu durch Colorado, wie auch ande- langsam, von einer exorbitanten re, an sich gezogen. Sie leiten jene Schnelligkeit ist keine Rede. Kein zweite Abteilung, die getrennt Stolperstein, sondern ein flacher von der Hälfte unter dem Cornel, Trittstein bestenfalls. die Rocky Mountains übersteigen soll. So ist es durchaus kein „ge- Mit Aufdecken des Namens Pam- wisser Mangel an Logik“8, wenn pel habe Firehand Tante Droll Hilton (nicht Knox!) von diesem „unnötigerweise zum Gespött roten Cornel und seinen Tramps der anderen Kampfgefährten“ spricht, da sie dieser Kerntruppe gemacht, dies sei eine „seelische nicht angehörten und nun nicht Grausamkeit“ und das gegensei- mit jenen reiten. tige „Vertrauensverhältnis ist von da an empfindlich gestört“4. Tat- Der „Stolpersteine“ sind also sächlich löst der Name mehrfach gar nicht so viele und zu einem schallendes Gelächter aus,5 auch solchen wird ein Stein nur dann, als sich Tante Droll zu ihm be- wenn man ihn nicht sorgfältig kennt.6 Als er aber meint Jetzt ist umreitet – weil er eben nicht zum der Spaß zu Ende, trat eine tiefe Stolpern hingelegt wurde, son- Stille ein, und zwar sofort. Man dern, um den Weg durch Details plastisch, interessant, spannend 3 Karl May: Der Schatz im Silbersee. In: etc. zu machen. Der Gute Kamerad 1890/91, S. 381. 4 Essenwein, wie Anm. 2, 50. 5 May, wie Anm. 3, S. 354. 7 Ebd., S. 421. 6 Ebd., S. 366. 8 Essenwein, wie Anm. 2, S. 51.

28 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Hartmut Wörner

Die Bevölkerung der schönen Landschaft mit Menschen

Materialien zu Karl May und Hermann Hesse (Teil 2)

III.2 Identität und Autono- Verzweiflung über den inneren mie des Menschen Widerstreit zwischen Geist und Natur im Menschen völlig verlo- ren gegangen. Haller hat sich auf- chon 1978 hat Stolte festge- grund seines Lebensüberdrusses Sstellt, dass die „Suche nach völlig von der bürgerlichen Ge- der verlorenen Identität“ ein sellschaft abgeschlossen. Er sieht „Generalthema“ des May’schen den „Kontrast“, in dem „mein 103 Werkes ist. Rollenspiele prägen Leben, mein […] durch und Mays Leben und Werk. Mays Rei- durch unordentliches Leben, zu seerzählung Satan und Ischariot diesem Familien- und Bürgermi- beispielsweise kann auch als dif- lieu steht.“106 ferenzierte Auseinandersetzung mit der Identitätsproblematik in einem „Spiel um richtige und In der Figur Hallers setzt sich falsche Identitäten“ interpretiert Hesse auch mit der Frage aus- werden.104 einander, ob es eine eindeutige Identität angesichts der polari- Zur Identität gehört nach Stol- schen Spaltung des Menschlichen te „das […] Einverstandensein überhaupt gibt. Seine Darstellung mit dem, was man als Glied der dieser Thematik im ›Steppenwolf‹ Gesellschaft in Staat, Beruf und und Mays sorgfältig stilisierte Be- Familie nun einmal i s t .“105 Die- schreibung seiner, sich in einer in- se Identität ist dem Protagoni- neren Spaltung manifestierenden, sten von Hesses ›Steppenwolf‹, zentralen Identitätskrise in seiner dem Schriftsteller und Gelehrten Periode als Straftäter in Mein Le- Harry Haller, aufgrund seiner ben und Streben, weisen, wie mit der nachstehenden tabellarischen Gegenüberstellung belegt wird, 103 Heinz Stolte: Mein Name sei Wa- denbach. Zum Identitätsproblem bei deutliche Parallelen auf. Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37– 59 (55). 104 Helmut Schmiedt: Identitätsproble- me. Was ›Satan und Ischariot‹ im In- nersten zusammenhält. In: JbKMG 1996, 247–265 (253). 105 Stolte, wie Anm. 103. Hervorhe- 106 Hesse, Steppenwolf, wie Anm. 82, bung im Original. S. 210.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 29 Hermann Hesse: Karl May: ›Der Steppenwolf‹107 Mein Leben und Streben108 Bewusstsein der Haller im ›Magischen Theater‹: Es bildete sich bei mir das Bewusstsein Spaltung, Zerplitte- Ich sah, einen winzigen Moment heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, rung der Identität lang, den mir bekannten Harry sondern eine gespaltene Persönlich- einer Person […]. Aber kaum, daß ich ihn er- keit, […]. (S. 101) kannt hatte, fiel er auseinander, lös- te sich eine zweite Figur von ihm Die Spaltung dort gri weiter um ab, eine dritte, eine zehnte, eine sich. Jede Empfindung, jedes Gefühl zwanzigste, und ganze Riesenspie- schien Form annehmen zu wollen. Es gel war voll von lauter Harrys oder wimmelte von Gestalten in mir, die Harry-Stücken [...].“ (S. 372f.) mitsorgen, mitarbeiten, mitscha en, mitdichten und mitkomponieren ›Tractat vom Steppenwolf‹: wollten. (S. 102) „In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Ein- heit, sondern eine höchst vielfältige Welt […], ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.“ (S. 244) Spaltung als Aus- Dualismus von Geist und Natur: Dualismus von Gut und Böse: druck der dualen ›Tractat vom Steppenwolf‹: Es kämpften da zwei einander feind- Pole des Menschen „Der Mensch ist […] nichts andres liche Heerlager gegen einander: als die schmale, gefährliche Brücke Großmutters helle, lichte Bibel- und zwischen Natur und Geist. Nach Märchengestalten gegen die schmut- dem Geiste hin, zu Gott hin treibt zigen Dämone jener unglückseligen ihn die innerste Bestimmung – nach Hohensteiner Leihbibliothek. Ardi- der Natur […] zieht ihn die innerste stan gegen Dschinnistan. Die über- Sehnsucht: zwischen beiden Mäch- erbten Gedanken des Sumpfes, in ten schwankt angstvoll bebend sein dem ich geboren wurde, gegen die Leben.“ (S. 247) beglückenden Ideen des Hochlandes, nach dem ich strebte. (S. 103) Ablehnung der Ein- ›Tractat vom Steppenwolf‹: Ich war seelenkrank, aber nicht geis- ordnung als Geis- „Und wenn in besonders begabten teskrank. (S. 100) teskrankheit und zart organisierten Menschen die Ahnung ihrer Vielspältigkeit aufdämmert, wenn sie […] den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehr- teilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden, so brauchen sie das nur zu äußern, und alsbald sperrt die Majorität sie ein […], konstatiert Schizophrenie […].“ (S. 243f)

107

108

107 Seitenangaben in der Tabelle: Hesse, 108 Seitenangaben in der Tabelle: LuS- Steppenwolf, wie Anm. 82. HKA.

30 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Vergleich des Pablo zu Haller im ›Magischen Bewusstsein der Persönlichkeits- menschlichen In- Theater‹: spaltung ganz dem neuen Lehrsatze nenlebens mit ei- „Wie der Dichter aus einer Hand- entsprechend, nicht Einzelwesen, son- nem Drama voll Figuren ein Drama scha t, so dern Drama ist der Mensch. In die- bauen wir aus den Figuren unse- sem Drama gab es verschiedene, han- res zerlegten Ichs immerzu neue delnde Persönlichkeiten, die sich bald Gruppen, mit neuen Spielen und nicht, bald aber auch sehr genau von Spannungen, mit ewig neuen Si- einander unterschieden. (S. 101) tuationen.“ (S. 388) Literarische Dar- ›Tractat vom Steppenwolf‹: Indem mein , das stellung „Und in unsrer modernen Welt ›Ich‹, die Menschheitsfrage, in die gibt es Dichtungen, in denen hin- Wüste tritt […], ist das Erste, was ter dem Schleier des Personen- und sich sehen lässt, ein sonderbarer klei- Charakterspiels, dem Autor wohl ner Kerl […]. Dieser Hadschi, der kaum ganz bewußt, eine Seelenviel- sich Hadschi Halef Omar nennt falt darzustellen versucht wird. Wer […], bedeutet die menschliche Ani- dies erkennen will, der muß sich ma, die sich für die Seele oder gar für entschließen, einmal die Figuren den Geist ausgibt, ohne selbst zu wis- einer solchen Dichtung nicht als sen, was man unter Seele oder Geist Einzelwesen anzusehen, sondern zu verstehen hat. […] Ich schicke da- als Teile, als Seiten, als verschiede- rum diesen Halef gleich in den ersten ne Aspekte einer höheren Einheit Kapiteln nach Mekka […] und lasse (meinetwegen der Dichterseele).“ ihn sofort seine ›Seele‹ kennen lernen (S. 245) – – – Hanneh, sein Weib. (S. 177)

Die Identität des Menschen steht durch seine Angstfreiheit gegen- in engem Zusammenhang mit über anderen Menschen aus. Die seiner Autonomie. Ein Mensch, Souveränität der May’schen Hel- der nicht autonom agiert, son- den kann auch als Reaktion auf dern fremdgesteuert ist, defi- gesellschaftliche Verhältnisse ver- niert seine Identität nicht selbst, standen werden, als „Reflex auf sondern bekommt sie von ›Au- den ohnmächtigen, letztlich wir- ßen‹ zugeschrieben. Schmiedt kungslos agierenden Einzelnen hat gezeigt, dass sich Karl May im späten 19. Jahrhundert.“111 in Satan und Ischariot mit dem Der autonome Held wirkt frei „Gesichtspunkt der partiellen von der Manipulation durch an- Fremdsteuerung von Identität“ dere Menschen. Er ist ausschließ- auseinandersetzt.109 Die Freiheit, lich Gott und der von ihm gesteu- die Mays Helden in seiner fiktiven erten Vorsehung unterworfen, Abenteuerwelt genießen, ist eine der ihn „als Vertreter göttlichen „Verherrlichung“ der Autonomie Weltregiments zur Durchset- des Menschen.110 Dabei zeichnet zung des Guten und Rechten“112 sich der autonome Mensch, der insbesondere in den Superhel- 111 Helmuth Mojem: Karl May: Satan den von Karl Sternau über Old und Ischariot. Über die Besonder- Shatterhand/Kara Ben Nemsi bis heit eines Abenteuerromans mit reli- giösen Motiven. In: Dieter Sudho / zu gezeichnet wird, Hartmut Vollmer (Hg.): Karl Mays „Satan und Ischariot“. Oldenburg 109 Schmiedt, wie Anm. 104, S. 256. 1999, S. 23–40 (28). 110 Ebd. 112 Hans-Rüdiger Schwab: Karl Mays

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 31 einsetzt. Der Autonomiegedan- Emil Sinclair, ein ke prägt auch das Spätwerk. Im auf, dessen Autonomie mit Mays ›Silberlöwen IV‹ bezeichnet Kara Helden vergleichbar ist. Schlüs- Ben Nemsi gegenüber dem Ustad sel zur Freiheit ist auch nach De- die Gestaltung zum selbständigen, mian die Furchtlosigkeit gegen- sich frei bewegenden Einzelwesen über anderen Menschen: „Nein, als zentrales Entwicklungsziel.113 vor Menschen sollte man niemals Noch in Winnetou IV ist es ein Furcht haben.“117 „Wenn man zentrales Anliegen des alten Old jemand fürchtet, dann kommt Shatterhand, ein freier Mann zu es daher, daß man diesem Je- sein, kommen und gehen zu dür- mand Macht über sich einge- fen, ohne gehindert zu werden.114 räumt hat.“118 ›Demian‹ stellt als Entwicklungsroman am Beispiel Auch Hesses Werk ist – beein- Emil Sinclairs die Möglichkeit flusst durch seinen persönlichen der radikalen Selbstbefreiung des Freiheitsdrang, der ihn immer Individuums durch die Erkennt- wieder aus Verpflichtungen und nis des göttlichen Ich dar.119 Wie Bindungen ausbrechen ließ – bei May geht es nicht um absolu- sehr stark geprägt durch das te ›gottgleiche‹ Autonomie, son- Motiv der menschlichen Auto- dern um einen „Individualismus nomie, eines individuellen, von […] in einem religiösen, sehr persönlicher Würde geprägten christlichen Sinne“120. Allerdings Menschentums. In einem Brief glaubte Hesse wohl nicht an von 1951 schreibt er, dass „das eine Vorsehung im Sinne eines erste und brennendste meiner direkten Eingreifens Gottes in Probleme nie der Staat, die Ge- das irdische Geschehen, sondern sellschaft oder die Kirche [war], neigte eher der mystischen Vor- sondern der einzelne Mensch, stellung der göttlichen Präsenz die Persönlichkeit, das einmalige, in allem Seienden zu. nicht normierte Individuum.“115 Wie May wandte er sich gegen Auch für Hesse blieb die Auto- einen gesellschaftlichen Trend nomie zeitlebens ein wichtiger zum Kollektivismus, der seine Aspekt seines Menschenbilds. Epoche prägte.116 Der Vagabund Eine zentrale Aussage von ›Sidd- Knulp, Titelheld des gleichna- hartha‹ ist, dass der Mensch den migen Erzählungsbandes von Weg zur Erleuchtung allein und 1915, steht exemplarisch für den auf seine ganz individuelle Weise Wunsch nach Ungebundenheit gehen muss. und Autonomie. In ›Demian‹ tritt mit Max Demian, dem Spi- „Welcher Vater, welcher Lehrer hat ritus Rector des Ich-Erzählers ihn [Siddhartha] davor schützen kön- nen, selbst das Leben zu leben, […] selbst den bitteren Trank zu trinken, Atheisten. In: JbKMG 2005, S. 105– 164 (125). selber seinen Weg zu finden? Glaubst 113 May, Im Reiche des silbernen Lö- du vielleicht, Lieber, dieser Weg wen IV, wie Anm. 94, S. 36. 114 Karl May: Winnetou IV (GR XXXIII), 117 Hesse, Demian, wie Anm. 70, S. 133. S. 413. 118 Ebd., S. 134. 115 Zeller, wie Anm. 9, S. 57. 119 Stolte, Hesse, wie Anm. 21, S. 108 . 116 Ebd., S. 92. 120 Ebd., S. 113.

32 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 bleibe irgend jemandem vielleicht III.3 Erziehung und Ent- 121 erspart?“ wicklungsweg des Menschen

Im späten ›Glasperlenspiel‹ be- Eng verknüpft mit dem Postu- weist der Protagonist Josef Knecht lat der individuellen Freiheit des höchste Autonomie, indem er ge- Menschen ist auch Mays und gen alle Widerstände sein hohes Hesses Haltung zur Erziehung Amt aufgibt und die ›Gelehrten- junger Menschen. Mays Erzie- republik‹ Kastalien verlässt, um hungsideal setzt nicht auf äuße- Hauslehrer zu werden. ren Zwang, sondern die Entfal- tung der persönlichen Begabung Angesichts dieser Anität er- des jungen Menschen. In Mein scheint auch das Interesse bei- Leben und Streben wird die geist- der Autoren an der Philosophie lose Zwangspädagogik in den von Friedrich Nietzsches nicht ver- ihm besuchten Lehrerseminaren wunderlich. Hesse, der sich in- Waldenburg und nega- tensiv mit Nietzsche befasste und tiv bewertet. May berichtet vom interessanterweise den ›Über- Gegensatz zwischen meiner außer- menschen‹ Nietzsches auch als ordentlich fruchtbaren Phantasie ›Edelmenschen‹ bezeichnete122, und der Trockenheit und absoluten fand in ihm, wie sich z. B. in seiner Poesielosigkeit des hiesigen Unter- Schrift ›Zarathustras Wiederkehr‹ richts.126 Die Lehrer […] waren (1919) ausdrückt, ein Vorbild in alle so erhaben, so kalt und unnah- seinem Bekenntnis zur „Souve- bar, und vor allen Dingen […] sie ränität der freien Persönlichkeit“, waren keine Psychologen.127 Der die den „Lockungen der Kollek- Lehrer soll nach Mays Gedicht für tivismen entgegensetzt“ wird.123 Walter Weber vom 20.4.1902 ein Auch May faszinierte an Nietz- Freund seiner Schüler sein.128 sches Lehre zweifellos das darin enthaltene Bekenntnis zur Au- In Satan und Ischariot betätigt tonomie, zur Selbstbestimmung sich als ›Er- des Einzelmenschen.124 Diametral zieher‹ der beiden Söhne des entgegensetzt zu den Menschen- Mimbrenjo-Häuptlings Starker bildern von May und Hesse ist Bü el. Beide erringen im Laufe aber Nietzsches Atheismus und der Handlung mit seiner Un- seine elitäre Abgrenzung von den terstützung ihre Kriegsnamen ›Normalmenschen‹, wenngleich (Yuma-Töter und Yuma-Skalp) zumindest Karl May keineswegs und vollziehen so den zentra- frei von Anwandlungen des Elita- len Entwicklungsschritt von der rismus war.125 Unmündigkeit der Jugend zum Status des erwachsenen Krie- 121 Hesse, Siddhartha, wie Anm. 77, gers. Exemplarisch für den ›Er- S. 709. 122 Hans-Rüdiger Schwab: Der Sieg über 126 LuS-HKA, S. 89. den Panther. Karl Mays Auseinander- 127 Ebd., S. 90. setzung mit Friedrich Nietzsche. In: 128 Erste vollständige Verö entlichung JbKMG 2002, 235–274 (246). des Gedichts bei Hartmut Wörner: 123 Zeller, wie Anm. 9, S. 91. Eine lyrische Postkarte von Karl May. 124 Schwab, wie Anm. 122, S. 250. In: M-KMG 176/2013, S. 13–19 125 Ebd., S. 248. (13f.).

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 33 ziehungsstil‹ Old Shatterhands, Beim anschließenden abenteuer- mit dem Mays Kredo literarisch lichen Spähgang schenkt er dem umgesetzt wird, ist sein Verhal- Jüngling Vertrauen. Er lässt ihn ten gegenüber dem jüngeren allein die Ausschaltung eines geg- der Brüder, dem späteren Yuma- nerischen Wachtpostens überneh- Skalp bei einem gemeinsamen men und begnügt sich mit einer gefährlichen Erkundungsgang.129 passiven Rolle im Hintergrund.134 Der von seinem ›Schüler‹ in je- May zeigt hier exemplarisch, wie der Hinsicht als überlegene, ein junger Mensch durch die ver- geistig gereifte Persönlichkeit trauensvolle Unterstützung des anerkannte ›Lehrer‹ Old Shat- Erziehers auf seinem Entwick- terhand überbrückt zu Beginn lungsweg zum ›vollwertigen‹ Er- des gemeinsamen Vorhabens die wachsenen vorangebracht wird. zwischen dem erwachsenen Krie- Dies funktioniert nicht durch ger […] und dem unbekannten Zwang, sondern durch die Förde- Knaben130 bestehende Distanz. rung der bereits angelegten Bega- Er redet den jungen Mann als bungen. meinen roten Bruder 131 an und führt mit ihm ›auf Augenhöhe‹ Auch Hesse vertritt ein Erzie- ein reflexives Gespräch über eine hungsideal, das auf freie Entfal- vorangegangene Auseinanderset- tung des persönlichen, natürlichen zung zwischen Old Shatterhand Potenzials des jungen Menschen und dem Starken Bü el.132 Old ausgerichtet ist. Sein berühmter, Shatterhand entwickelt gegen- früher Roman ›Unterm Rad‹, in über dem an der Schwelle zum dem Hesse seine Erfahrungen im Erwachsenwerden stehenden Ju- Evangelischen Seminar von Maul- gendlichen ein ethisch geprägtes bronn literarisch verarbeitete, ist Entwicklungsideal und definiert eine „Bloßstellung des unpersön- Grenzen der Rolle des ›Erziehers‹ lichen, die Kinder überrollenden gegenüber dem sich autonom ›Rades‹ des etablierten Schul- und entwickelnden jungen Menschen: Erziehungssystems“135. Zu ›Nar- ziss und Goldmund‹ stellt Stolte Ich wünsche […], […] daß du lebst, fest: um nicht nur ein tapferer Krieger, sondern auch ein guter Mensch zu wer- „Die Natur der jungen Menschen den. Zu einem guten Menschen kann zu unterdrücken, zu zähmen, ihren ich dich nicht machen; du mußt dich Willen zu brechen, das hatte er einst selbst bestreben gut zu sein und nie ein mit Bitterkeit als den o enbar staat- Unrecht zu begehen; aber ein tapferer lich verordneten Zweck der Schule Krieger zu werden, dazu kann ich dir und aller Lehrer bezeichnet. Jetzt, behilflich sein.133 134 Ebd. S. 350 . 135 Freedman, wie Anm. 33, S. 17. Hes- se ordnet sich mit ›Unterm Rad‹ in eine kurz nach der Jahrhundertwen- 129 May, Satan und Ischariot I, wie de sich entwickelnde „Welle ähnli- Anm. 39, S. 345 . cher, in Deutschland sehr beliebter 130 Ebd., S. 345. Romane und Erzählungen“ ein, „in 131 Ebd. deren Mittelpunkt der sensible, von 132 Ebd. S. 346f. der Erziehungstyrannei erdrückte 133 Ebd., S. 347. Schüler stand“, vgl. ebd., S. 171.

34 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 in der Gestalt des Narziß, sehen wir Old Shatterhand in Satan und Is- – fast programmatisch – das genaue chariot wirkt er auf seinen Schü- Gegenteil dargestellt. Seine pädago- ler nicht durch äußere Vorgaben gische Leitidee ist, mit einem Worte, und Maßregeln, sondern durch den jungen Menschen das werden zu seinen „Adel, seine Vornehmheit, lassen, ihn zu dem zu fördern, was 140 die Natur, was sein Charakter, was die sein Herrentum“. Knecht ist für 141 Grundrichtung seines Willens […] in Tito „Erzieher und Freund“. ihm knospenhaft angelegt hat.“136 Der Auftrag der Erziehung ist es somit bei May und Hesse, im jun- Der Lehrer und Mentor Narziss gen Menschen das in ihm vorhan- bemängelt an seinem Schüler dene Potenzial für seine indivi- Goldmund: „Du glaubst, du seist duelle Entwicklung zu entfalten. mir zu wenig gelehrt, zu wenig Dieser persönliche Entwicklungs- Logiker, oder zu wenig fromm. weg des Einzelmenschen ist d a s O nein, aber du bist mir zu wenig zentrale Thema Hesses seit seiner du selbst.“137 ersten großen Erzählung ›Peter Camenzind‹ und Mays in seiner Im ›Glasperlenspiel‹ wird der frü- Spätphase. here Glasperlenspielmeister Josef Knecht am Ende seines Lebens Bei Hesse ist, wie bereits gezeigt als Hauslehrer und Erzieher des wurde, die Entwicklung des Men- halbwüchsigen Sohnes Tito sei- schen auf die volle Entfaltung sei- nes alten Freundes Plinio De- nes göttlichen Selbst ausgerichtet, signori tätig. Dabei ist Knechts in der in der Einheitserfahrung Erziehungsmethode nicht auf sogar die polare Spaltung geistig mechanisches Lernen ausgerich- überwunden werden kann. Diese tet, sondern auf die Entfaltung Vollendung erreicht Hesses Prot- der Anlagen und Begabungen so- agonist Siddhartha nach einem wie die Entwicklung des Charak- langen Reifungsprozess: ters seines Schülers: „Der Schüler wunderte sich ein wenig darüber, „Und alles zusammen, alle Stimmen, daß der Magister kein Wort von alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, Schulbeginn, Stundenplan, letz- alle Lust, alles Gute und Böse, alles ten Zeugnissen und dergleichen zusammen war die Welt. Alles zusam- Dingen sagte […].“138 Der Leh- men war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens. […] Und rer Knecht wird zum Partner und wenn Siddharta […] seine Seele nicht Freund des Schülers Tito: „Es ist an irgendeine Stimme band und mit ja unter andrem der Zweck unsres seinem Ich in sie einging, sondern Zusammenseins, daß wir unsere alle hörte, das Ganze, die Einheit Kenntnisse austauschen und an- vernahm, dann bestand das große einander angleichen […].“139 Wie Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung. […] Seine Wunde blüh- 136 Stolte, Hesse, wie Anm. 21, S. 211. te, sein Leid strahlte, sein Ich war in 137 Hesse, Narziss und Goldmund, wie die Einheit geflossen. […] In dieser Anm. 28, S. 50. 138 Hesse, Glasperlenspiel, wie Anm. 89, S. 534. 140 Ebd., S. 535. 139 Ebd. 141 Ebd. S. 540.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 35 Stunde hörte Siddhartha auf, mit sei- In Hesses berühmtem Gedicht nem Schicksal zu kämpfen, hörte auf ›Stufen‹, das im ›Glasperlenspiel‹ 142 zu leiden.“ Knecht zugeschrieben wird, heißt es: Mays Entwicklungsmodell stellt die leidvolle Reifung vom Ge- „Wir sollen heiter Raum um Raum walt- zum Edelmenschen durch durchschreiten, die Überwindung des Bösen im An keinem wie an einer Heimat hän- Sinne der Nächstenliebe in das gen, Zentrum. Das Entwicklungsziel Der Weltgeist will nicht fesseln uns wird von May und Hesse ähnlich und engen, definiert. Beide sehen „den Men- Er will uns Stuf’ um Stufe heben, schen als ein vom Schöpfer her weiten.“146 auf Erlösung, auf das Seelenheil angelegtes Wesen“143 an. Den dar- In dem 1919 verö entlichten auf hinzuführenden Reifungspro- Märchen ›Der schwere Weg‹ zess des Individuums sehen beide stellt Hesse den Weg des sinnsu- Autoren als Stufenweg. In Bezug chenden Menschen May-an als auf May habe ich das an anderer entbehrungsreichen Aufstieg ins Stelle ausführlicher beschrieben Gebirge dar. Die abschließende und auf die Verwandtschaft die- Vollendung in der Ewigkeit wird ser Entwicklungsvorstellung mit als Sprung vom Gipfel „durchs den mittelalterlich-mystischen Unendliche hinabwärts an die ›Stufenwegen zu Gott‹ hinge- Brust der Mutter“147 dargestellt. wiesen.144 Auch Hesse stellt die Entwicklung des Menschen in Weitere Anitäten zwischen bei- ›Siddhartha‹ als ein schrittweises den Autoren ergibt in diesem Voranschreiten von Station zu Kontext eine vergleichende Ana- Station dar, das nach ›oben‹, zur lyse von Motiven aus Hesses spä- Vollendung‘ führt. Im ›Glasper- ter, allegorischer Erzählung ›Die lenspiel‹ spricht der Protagonist Morgenlandfahrt‹ (1932) und Josef Knecht für Hesse, wenn er Mays Ardistan und Dschinnistan. sagt: „Mein Leben […] sollte ein Der Bund des Morgenlandfahrer Transzendieren sein, ein Fort- bei Hesse steht für die „geistige schreiten von Stufe zu Stufe, es Gemeinschaft derjenigen Men- sollte ein Raum um den andern schen, die sich ihre Ziele nicht durchschritten und zurückgelas- im Materiellen stecken, sondern sen werden […].“145 Dabei ist das nach geistigen Zielen unterwegs Voranschreiten, der Neubeginn sind, auf jenem Weg nach Innen und der Bruch mit dem Gewohn- also, der in den innersten Kern ten, für Hesse ein zentrales Cha- der eigenen Seele, die Zuflucht rakteristikum der Entwicklung. im eigenen Ich und damit in die metaphysische Berührung mit 142 Hesse, Siddhartha, wie Anm. 77, S. 720f. 143 Stolte, Hesse, wie Anm. 21, S. 120, 146 Ebd., S. 556. in Bezug auf Hesse. 147 Hermann Hesse: Der schwere Weg. 144 Wörner, wie Anm. 72, S. 18f. In: Gesammelte Dichtungen Dritter 145 Hesse, Glasperlenspiel, wie Anm. 89, Band. 1952 (Suhrkamp), S. 321 . S. 511. (327).

36 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 dem Göttlichen führen soll.“148 Gewaltmenschentum zum Edel- Der Entwicklungsweg zur Ver- menschentum. Dabei hebt Kara geistigung wird symbolisiert Ben Nemsi zu Beginn des Ro- durch eine vom Bund initiierte mans die geistig-spirituelle Be- Reise der Mitglieder nach dem deutung des Morgenlands her- Morgenland. Dabei geht es nicht vor: Fast Alles, was das Abendland um eine reale Reise, sondern um besitzt, hat es vom Morgenlande. eine Entwicklung im „Innen- Seine Religion, seine Kunst, seine raum seelischen Erlebens“149. Wissenschaft, seine ganze Bildung Es handelt sich um ein „Gleich- und Gesittung […].156 An anderer nis des eigenen Lebens- Stelle hat May das so ›vergeistig- wegs“, um die „Stufen eigener te‹ Morgenland als Ziel einer Pil- Menschwerdung“.150 Angestrebt gerreise gesehen.157 werden auf der „Ebene […] [der] seelische[n] Erlebnisschicht“151 Wie Hesse anhand des Ich-Erzäh- „hohe Ziele“152. Die hohe ethisch- lers der ›Morgenlandfahrt‹ stellt geistige Ambition wird symboli- May in Ardistan und Dschinni- siert durch das Morgenland. Der stan anhand der Figur des Mir „Osten“, der „Morgen“ steht für von Ardistan den entbehrungs- die „Heimat des Lichts“153. Die und prüfungsreichen Reifungs- Reisenden werden als „Pilger“154 prozess des Einzelmenschen bezeichnet. Hier „steht der Osten exemplarisch dar. Die zentrale […] für eine vollkommen andere ›Reifeprüfung‹ ihrer Protagoni- Welt, die geographisch nicht faß- sten wird von beiden Autoren in bar ist, ein jenseitig geheimnisvol- Form einer Gerichtsverhandlung les Reich, in dem man die Lösun- dargestellt. Hesses ›Held‹ muss gen und Antworten auf die ›irdi- sich einem Gericht des Bundes schen‹ Konflikte finden kann.“155 der Morgenlandfahrer stellen, weil er den Kontakt zum Bund May behandelt in Ardistan und völlig verloren hat, d. h. seine Dschinnistan in Form einer – von innere Reise zur ethischen Rei- irdischer Geographie abgelösten fe zunächst gescheitert ist. Der – Reise den geistigen Entwick- Mir von Ardistan wird gerichtet lungsweg vom sinnlich-dumpfen von der Dschemma der Lebenden aufgrund der Schuld, die er und 148 Stolte, Hesse, wie Anm. 21, S. 228. seine Vorfahren als kriegerische 149 Zeller, wie Anm. 9, S. 143. Gewaltherrscher, d. h. durch Ver- 150 Ebd., S. 144. 151 Hermann Hesse: Die Morgenland- weigerung der Entwicklung zum fahrt. In: Gesammelte Dichtungen Edelmenschen, auf sich geladen Sechster Band. 1952 (Suhrkamp), haben. Auch an dieser Stelle kön- S. 11. nen die Ähnlichkeiten bei der li- 152 Ebd., S. 12. 153 Ebd., S. 15. In Hesses Weltbild, das hier auch durch sein familiäres Um- 156 Karl May: Ardistan und Dschinni- feld geprägt war (Großvater und stan I (GR XXXI), S. 19f. Eltern waren zeitweise Missionare 157 May begann auf der Orientreise in Indien), spielte der eine 1899 eine Gedichtsammlung mit zentrale Rolle, vgl. Freedman, wie dem Titel Eine Pilgerreise in das Mor- Anm. 33, S. 245f. genland. Erstverö entlichung in: Jb- 154 Ebd. KMG 2009, S. 109–130 (mit Kom- 155 Freedman, wie Anm. 33, S. 431. mentierung von Hartmut Vollmer).

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 37 terarischen Darstellung158 einer tabellarischen Gegenüberstellung zentralen Entwicklungsstation verdeutlicht werden: 159 bei May und Hesse anhand einer

Hermann Hesse: Karl May: ›Die Morgenlandfahrt‹158 Ardistan und Dschinnistan159 Zusammenset- Richter ist der „Oberste“ des Bundes Dem Gericht sitzt ein lebender To- zung des Ge- der Morgenlandfahrer (S. 63). Die- ter vor: der einstige Maha Lama Abu richts ser präsentiert sich in einem „feierli- Schalem (Vater des Friedens). Dieser chen und prachtvollen Ornat wie der war ein hoher Religionsführer, ist Papst“ (S. 64), ist aber im alltäglichen aber gekleidet in ein sehr bescheide- Leben ein einfacher Mann, der Gele- nes, ungebleichtes Hanfgewebe, hatte genheitsarbeiter (S. 42) und „einstige Strohsandalen an den Füßen und trug Gepäckträger und Diener“ (S. 64) auf dem Kopfe […] ein ebenso einfa- Leo. ches, weißes Tuch […]. (S. 401) Hier erfolgt die Kombination von Einfach- heit und Hoheit in umgekehrter Wei- se wie bei Hesse. Die lebenden Gerichtsbeisitzer sind der Dschirbani, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Prinz Sadik der Tscho- ban, die beiden Prinzen der Ussul, der Scheik der Tschoban, der Schech el Beled von El Hadd. (S. 413) Verteidiger sind Abd el Fadl und Merhameh von Halihm (S. 468), die Güte und Barmherzigkeit personifi- zieren. Die Anklage Die Anklage lautet auf Untreue ge- Der Mir von Ardistan wird auf- genüber dem Bund, die sich konkret grund seiner und der Sünden sei- manifestiert in der Missachtung der ner Vorfahren vor Gericht gestellt, „grundlegenden Forderungen und die im große[n] Schuldbuch (S. 466) Sitten des Bundes […]. Sie haben verzeichnet sind. Exemplarisch an- die Religion mißachtet, haben einen gesprochen werden die Kriege, das Bundesbruder verachtet, haben der Blutvergießen, der ununterbrochene Gelegenheit und Au orderung zu Menschenmord! (S. 471) Andacht und Versenkung sich unwil- lig entzogen.“ (S. 66) Der Ankläger Der Ich-Erzähler tritt als „Selbstan- Der Mir klagt sich selbst an. Abu kläger“ (S. 65) auf. Schalem: Die Selbstanklage ist Mensch- heitsideal. (S. 469)

159 Seitenangaben in der Tabelle: Karl 158 Seitenangaben in der Tabelle: Hesse, May: Ardistan und Dschinnistan II Morgenlandfahrt, wie Anm. 151. (GR XXXII).

38 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Das Urteil Der Angeklagte wird „freigespro- Der Angeklagte wird aufgrund sei- chen“ (S. 69) und in den Kreis der ner Bereitschaft, die Verantwortung Oberen des Bundes aufgenommen. für seine und seiner Vorfahren Sün- In einer weiteren Entwicklungsstufe den auf sich zu nehmen und sei- der „Erprobung [seines] Glaubens“ ner Reue (S. 471) freigesprochen (S. 70) ist er bereit, „den Bescheid (S. 472). Er erhält von Abu Schalem unsres Archives über dich selbst zu das Schuldbuch für sich und die Sei- erfragen“ (S. 70), d. h. zu umfassen- nen, damit ein Jeder von ihnen wisse, der, ungeschminkter Selbsterkennt- welch eine ungeheure Last er auf sich nis. nimmt, sobald er gegen dich und dein Er „besteht […] die Selbstschau, die Versprechen und also gegen Gott und ihm als Probe auferlegt wird, und er- seine Menschheit handelt! (S. 472) reicht eine neue Stufe des Mensch- Die Gerichtsszene ist die zentrale seins.“160 Probe des Mir auf seinem Weg zu Edelmenschen.

III.4 Der vollendete weitere tabellarische Gegenüber- Mensch160 stellung. Im ›Glasperlenspiel‹ be- schreibt Hesse die „›Verklärung‹ Wie bereits dargestellt, hielten des Alt-Musikmeisters“161. Der May und Hesse die Vollendung Glasperlenspielmeister Knecht des Menschen in einer ›Vergei- erlebt den uralten Musikmeister, stigung‹ bereits ›auf Erden‹ für einst Mitglied der Ordenslei- möglich. Angesichts der Macht tung von Kastalien und Mentor der Pole des Sinnlich/Natürli- Knechts, bei einem Besuch als chen (Hesse) bzw. des Bösen/ „Heilige[n]“162, der das „höch- Sumpfes/Ardistan (May) errei- ste Ziel des Menschen, […] in- chen im Werk beider Autoren nere Freiheit, […] Reinheit, […] jedoch nur wenige Ausnahme- Vollkommenheit“163 erreicht hat. gestalten das hohe Ziel. Ein Un- Auch Knecht selbst gelangt im terschied dürfte sein, dass May Laufe seines Entwicklungsweges – zumindest theoretisch – davon zur geistigen Vollendung und ausging, dass die Menschheit ins- erfüllt den Anspruch des ›Edel- gesamt das Ziel der Edelmensch- menschen‹. May stellt z. B. in lichkeit, das Paradies der Näch- Winnetou IV einen vollendeten stenliebe (Dschinnistan) bereits Menschen in Gestalt Tatellah- im Diesseits erreichen kann, wäh- Satahs, des Bewahrers der großen rend Hesse das sinnlich beeinflus- Medizin, dar. ste ›Normalmenschentum‹ für ei- nen konstitutiven Bestandteil des Menschlichen/der Menschheit hielt.

Ähnlichkeiten bei der Darstellung vollendeter Menschen zeigt eine 161 Hesse, Glasperlenspiel, wie Anm. 89, S. 356f. 162 Ebd., S. 352. 160 Zeller, wie Anm. 9, S. 145. 163 Ebd. S. 356.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 39 Hermann Hesse: Karl May: Musikmeister und Josef Knecht aus Tatellah-Satah aus Winnetou IV165 ›Das Glasperlenspiel‹164 Geistige Qualität Knecht gehört dem „geistigen, dem Er ist der größte und berühmteste erzogenen Adel“ (S. 535) an. Forscher und Gelehrte (S. 405), der Hüter der geistigen Schätze der In- dianer. Verehrung als Der sehr alte Musikmeister ist ein Er hat ein ungewöhnliches, ja au- Heiliger „Heiliger und Vollendeter“ (S. 352). ßerordentliches Alter erreicht (S. 17) und wird verehrt wie ein König oder ein Heiliger (S. 405). Er ist ein von allen Stämmen hoch verehrter Höchstgestiegener (S. 17). Ausstrahlung Musikmeister: In seinen großen, weit o enen, un- „Strahlen und Lächeln“ (S. 351), erforschlichen, selbst aber alles erfor- „Blicke […] voll von Wohlwollen schenden Augen liegt der Ausdruck und Herzlichkeit“ (S. 350), „Ge- einer unerbittlichen Strenge und doch duld und Ruhe“ (S. 351), „Frieden auch wieder einer heiligen Güte […], und Helligkeit“ (S. 355). die alles verstehen und alles verzeihen konnte. (S. 402f) „Zustand von Gnade, Vollendung, Sein Denken und Fühlen war abso- Altersweisheit, Seligkeit“ (S. 355). lut gerecht und absolut human, sein Handeln ebenso. (S. 21) „[…] dieser Mann hat in seinen letz- Tatellah-Satah wird nicht durch sei- ten Lebensjahren die Tugend der ne Heiterkeit charakterisiert, löst Heiterkeit in solchem Maße beses- diese aber zumindest in seiner un- sen, daß sie von ihm ausstrahlte, wie mittelbaren Umgebung aus. Die Be- das Licht von einer Sonne, daß sie als wohner seines Felsenschlosses zeich- Wohlwollen, als Lebenslust, als gute nen sich aus durch intelligente Züge, Laune, als Vertrauen und Zuversicht nur heitere Mienen. (S. 418). auf alle überging in allen weiter- strahlte […].“ (S. 418)

Kennzeichnend164 für Hesses ver- Alters eine aktive, zentrale Rolle klärten Musikmeister165 ist des- bei der Durchsetzung des ›Win- sen „Zurückgezogenheit und netou-Mythos‹ und wirkt dabei Schweigsamkeit“166, sein Verzicht auch durch die Macht des Wortes. auf verbale Kommunikation. Er Im Gegensatz zum Alt-Musikmei- steht am Ende seines Lebens und ster lebt Mays vollendeter Mensch ist äußerlich inaktiv. Dies unter- somit noch ein ›vita activa‹. Die scheidet ihn von Tatellah-Satah. Verpflichtung des vollendeten, Dieser spielt trotz seines hohen geistigen, weisen Menschen, „der […] die Befangenheit des Zeitli- chen und Persönlichen abgestreift 164 Seitenangaben in der Tabelle: Hesse, hat“167 zu aktivem Handeln sah Glasperlenspiel, wie Anm. 89. 165 Seitenangaben in der Tabelle: Karl May: Winnetou IV (GR XXXIII). 167 Hermann Hesse: Dank an Goethe. 166 Hesse, Glasperlenspiel, wie Anm. 89, Aufsatz von 1932. Zit. nach: Freed- S. 353. man, wie Anm. 33, S. 437.

40 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Hesse durchaus und gestaltete sie göttliche Lenkung in das irdi- im Schicksal Josef Knechts aus. sche Geschehen eingreift. Zen- Der Glasperlenspielmeister hat in trales Kennzeichen des Menschli- der ›Gelehrtenrepublik‹ Kastalien chen und Quelle des Leidens des alles erreicht und verlässt den gei- Menschen ist für May wie Hesse stigen Elfenbeinturm, um in der dessen innere Spaltung in zwei Alltagswelt sein Wissen als Leh- Pole. Beide Autoren machen die- rer an die Jugend weiterzugeben. se Bipolarität zu einem, in immer Dies stellt Hesse als folgerichtige neuen Variationen literarisch be- Entwicklung, als ethische Ver- arbeiteten Dreh- und Angelpunkt pflichtung dar: „Derselbe strenge, ihrer Werke. Ungeachtet der un- klare, eindeutige, gradlinige Pfad, terschiedlichen Interpretation der der ihn […] in den Orden, in das menschlichen Dualität sehen May Magisteramt geführt hatte, der wie Hesse die (mögliche) Vollen- führte ihn nun wieder hinaus.“168 dung des Menschen auf Erden in einer Vergeistigung, die das Gött- liche im Menschen freilegt. IV. Erste Bilanz und Aus- blick May wie Hesse sind somit Ver- fechter ethisch-spiritueller Hu- bwohl May und Hesse auf manität und stellen das mensch- Oden ersten Blick literarisch liche ›Innere‹ in das Zentrum nicht verwandt sind, weisen ihres Interesses. Diese These soll Kunstbegri und literarisches in einer zweiten Studie, die sich Programm der beiden Autoren in Vorbereitung befindet, durch Anitäten auf. Beide hatten den die Darstellung weiterer Aspekte Anspruch, ausgehend von ihrer vertieft und ergänzt werden. Dort eigenen Lebenserfahrung und soll unter anderem aufgezeigt ihrer spirituellen Grundhaltung, werden, wie bei beiden Schrift- als ethisch-moralische ›Mentoren‹ stellern persönliche psychische ihrer Leser zu wirken. Deformationen zur Triebfeder ih- res Scha ens wurden. Zusätzliche Ein zentrales Thema der Werke Erkenntnisse wird eine vertiefte Mays wie Hesses ist die auf ein Befassung mit ihrem Verständnis spirituell definiertes Lebensziel zentraler ethisch-spiritueller Ka- ausgerichtete ethische Entwick- tegorien, der Religion und des lung des Einzelmenschen. Dabei (realen und geistigen) ist ein sinnvolles Leben letztlich bringen. Ergänzend zu Roxins nur in der Ausrichtung auf das eingangs zitierter Untersuchung ›Ewige‹, das ›Göttliche‹ denkbar. von 1970 soll auch nochmals der Vollendung kann nur in einem Bedeutung des Pazifismus von autonomen Entwicklungsprozess May und Hesse nachgegangen erreicht werden, wobei bei May werden. Schließlich wird die zen- trale Rolle von Musik und Natur im Werk beider Autoren Gegen- 168 Hesse, Glasperlenspiel, wie Anm. 89, stand vergleichender Analyse sein. S. 489.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 41 Aufgelesen …

… aus Karl Mays Bei den Aussätzigen

s war in Damaskus. Am Weih- Nun fügte es sich, daß mein Halef, E nachtsheiligenabend. Ein gutes der innerliche Christ und äußerliche Stück hinter dem Vorort es-Salehije. Mohammedaner, auf den Gedanken Auf dem Wege, den man damals den gekommen war, am heutigen heili- »Weg der Aussätzigen« nannte, weil gen Weihnachtsabende bei den Aus- er an der Stätte vorüberführte, wel- sätzigen eine Christbescherung zu che diesen Unglücklichen damals zum veranstalten. […] Er dirigierte das Aufenthalt im Freien angewiesen war. ganze Werk, von den Kutschern und […] Sie hatten unter sich einen An- Kameltreibern unterstützt. Die Bäu- führer gewählt, dem sie unbedingt ge- me wurden in die Erde befestigt und horchten. Man nannte ihn den »Scheik die Geschenke vor ihnen ausgebreitet. der Aussätzigen«. Er war ein langer, Hierauf gruppierten sich die Aus- starker Mann mit sehr entstelltem Ge- sätzigen im Halbkreise, die Augen sicht und nur einer Hand; die andere nach den Bäumen gerichtet. Zwanzig hatte ihm der Aussatz weggefressen. Schritte hinter ihnen die bescherenden […] Männer und Frauen. Ich hielt mich

Kolja Schä- fer: Bei den Aussätzigen (Bildvorlage: Jürgen Seul)

42 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 abseits, um nicht gestört zu werden. »Dürfen wir singen zu dieser Stunde […] der Menschenfreundlichkeit?« Hilflos, flehend, wie nach Schutz und »Ja. Ich bitte darum!« Rettung suchend, flackerte das irdi- »Und darf ich euch und den Gefähr- sche, vergängliche Licht zu dem ewigen ten meines Unglücks sagen, was mir Lichte des Firmamentes empor, und Allah jetzt auf meine Zunge legt?« ein langer, tiefer, hörbarer Atemzug entrang sich den Herzen all der Un- »Du darfst – – du sollst – – ja, du mußt glückseligen, die hier im Staube lagen! es sogar tun!« Einige begannen zu weinen, erst leise, »Ich danke dir! Ich habe dich verstan- dann laut und lauter. Das war die den und du auch mich!« […] einfache, die unmittelbare Wirkung der strahlenden Bäume, das ganze Ge- Er begann. Es war eines jener Lieder heimnis der natürlichen Weihnachts- des arabischen Dichters Kadar, deren qual und Weihnachtsfreude! Klang die Tränen zwingt aus der tief- sten Tiefe in die Augen emporzustei- »Maschallah! Weihnachtsbescherung, gen. Als es zu Ende war, weinten die wirklich Weihnachtsbescherung!« hörte Aussätzigen alle, nur ihr Scheik nicht. ich einen jener Männer sagen, die ich Er, der Moslem, begann seine Weih- nicht kannte. nachtsrede. Er sprach von der Qual des Da sah ich die hohe Gestalt des »Scheiks Menschenlebens im allgemeinen und der Aussätzigen«, der zu den Bäumen von der Qual der Aussätzigen und trat. Er war natürlich der erste, dem Ausgesetzten im besondern, die beide Halef gesagt hatte, daß heute Weih- kein Ende nehmen. Er sprach von der nacht sei. Er kannte von Jerusalem aus Grausamkeit der menschlichen Geset- die Bedeutung dieses Wortes und wußte ze und von der Erbarmungslosigkeit wohl auch, in welcher Weise der Christ derer, die Liebe geben sollen und doch dieses Geburtstagsfest seines Erlösers zu keine haben. Er sprach in so überzeu- feiern pflegt. Er sah mich nicht und er- gender und so hinreißender Weise, daß hob seine Stimme zu der Frage: es alle Anwesenden ergri und selbst auch mich erschütterte und durch- »Wo ist der deutsche E endi? Er sage schauerte. es!« (Grazer Volksblatt. Weihnachtsbeila- »Hier bin ich!« antwortete ich ebenso ge 1907, S. 9f.) laut.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 43 Albrecht Götz von Olenhusen

Der Nachdruck von Werken englischer und deutscher Autoren, insbesondere Karl Mays, in den USA im 19. Jahrhundert

I. Der Kampf um ein inter- Ein weiteres Beispiel bildeten die nationales Urheberrecht sehr erfolgreichen Romane von Charles Dickens. Ihr Nachdruck ie Rechtsentwicklung im in- in den USA, wo sie ebenfalls Best- Dternationalen Urheberrecht sellerstatus gewannen, wurde ein ist durch eine Vielzahl hinder- glänzendes Geschäft. Zuweilen licher Momente geprägt. In der wurden an ihn ohne vertragliche Tat bedurfte es einer komplizier- oder gesetzliche Grundlage auch ten, jahrzehntelangen Entwick- minimale Honorare bezahlt. Bila- lung in nationaler und internati- terale Abkommen Englands etwa onaler Hinsicht. Für europäische mit Preußen (1844), mit Frank- Autoren, namentlich die eng- reich, Spanien oder Belgien in den lischsprachigen, war die Rechtsla- fünfziger Jahren des 19. Jahrhun- ge in den USA besonders unbe- derts machten auf die USA keinen friedigend. Ausländische Urheber Eindruck. Als Dickens die USA waren dort ganz und gar ohne 1842 bereiste, führten seine enga- Schutz. Der Nachdruck fremder gierten Plädoyers in ö entlichen Werke ausländischer Urheber war Vorträgen für einen internationa- im US-Kongress, in der Bran- len Schutz zu heftigen Gegenre- che und der Ö entlichkeit ganz aktionen. Auch die prominente überwiegend durchaus gewollt.1 Unterstützung von anderen bri- Alle Petitionen vor allem engli- tischen Autoren wie Tennyson scher Autoren wie Scott, Byron und Bulwer oder New Yorker oder Thackeray für ein bilaterales Schriftstellern, an ihrer Spitze Abkommen zwischen England Washington Irving, half nichts. und den USA blieben beim Kon- Dickens gab schließlich entnervt gress über Jahrzehnte hinweg er- den Kampf auf und ging selbst folglos. bei seiner weiteren erfolgreichen Lesereise von 1867 wohlweislich nicht mehr auf das Thema ein.

1 Meredith L. McGill: American Lite- rature and the Culture of Reprinting Erst ab 1892 wurden Werke deut- 1834–1853, 2003, hat diese Ent- scher Staatsangehöriger zumin- wicklung aus historischer und kultur- dest dann, wenn sie zum ersten geschichtlicher Sicht dargestellt.

44 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Mal in den USA publiziert wor- darauf stolz zu sein, dass man ein den waren, dort auch geschützt. Deutscher ist.2 Und erst 1976 hat man in den USA diese Regelung im Copy- Die erstaunlich große Zahl von right Act beseitigt, die US-Auto- Publikationen Karl Mays in den ren in europäischen Ländern mit USA in deutscher Sprache, eng- ihren längeren Schutzfristen oh- lischer Übersetzung sowie ande- nehin begünstigte. ren Sprachen ist bibliographisch inzwischen weitgehend ermittelt worden.3 Es versteht sich, dass II. Karl Mays Klage über der Autor May sowie die Mehr- die US-amerikanischen zahl anderer Autoren in den USA Nachdrucker in aller Regel keine Urheberrech- te und Tantiemen geltend ma- chen konnten. Die Feststellungen Die bekannte Klage des Au- Mays vor der Jahrhundertwende tors May über nicht autorisierte galten praktisch für alle deut- deutschsprachige Ausgaben eini- schen, aber im Grunde auch für ger Werke in den USA findet sich alle anderen englischen bzw. kon- in dem Roman Weihnacht!: tinentalen Werke und Schriftstel- ler. Geht man davon aus, dass, […] in rein litterarischer und ge- wie Steinmetz ermittelt hat, Mays schäftlicher Beziehung sind die Werke Werke bis 1912 schon in 17 Spra- deutscher Dichter und Schriftsteller chen übersetzt worden waren, hier in den Vereinigten Staaten leider dann konnte er doch nur in den vogelfrei, und der Amerikaner macht wenigsten Fällen einen internati- davon den ausgiebigsten Gebrauch. Es onalen Urheberschutz erfolgreich werden hier deutsche Werke massen- haft nachgedruckt, und die hiesigen geltend machen. Herausgeber – fast hätte ich gesagt Diebe – werden dabei reiche Leute, ohne den Verfassern, welche drüben am Hungertuch nagen, einen Cent 2 Karl May: Weihnacht! (GR XXIV), zu bezahlen. Der sonst ›sehr morali- S. 157f. sche‹ Amerikaner will Geld machen; 3 Siehe dazu Hans-Dieter Steinmetz: ob er dabei einen armen Schriftsteller Zeitgenössische Karl-May-Überset- zungen. Eine Darstellung im Über- seines sauer verdienten Arbeitsloh- blick. I, II. In: M-KMG 77/1988, nes beraubt, das ist ihm vollständig S. 15–21, und 78/1988, S. 10–18; gleichgültig, wenn ihm diese meiner Hans-Dieter Steinmetz: »Es wer- Ansicht nach freilich sehr unmorali- den hier deutsche Werke massen- sche Money-mäkerei nur gelingt. Mir haft nachgedruckt«. Zeitgenössische hat zum Beispiel die sehr löbliche ›San finnische, tschechische und slowe- Franzisko Abendpost‹ meine Werke nische Karl-May-Übersetzungen in nachgedruckt, ohne es nur der Mühe Einwanderer-Verlagen der USA. In: JbKMG 1994, S. 312–337; Hainer wert zu halten, mich wenigstens da- Plaul: Illustrierte Karl-May-Biblio- von zu benachrichtigen oder mich graphie. Unter Mitwirkung von Ger- dann auf meine wiederholten Anfra- hard Klußmeier. Leipzig 1988, Nrn. gen auch nur einer einzigen Antwort 87, 130, 596–598; Ulrich von Thü- zu würdigen. Und das ist eine Zei- na: Übersetzungen. In: Gert Ueding tung in deutscher Sprache! Es scheint (Hg.): Karl-May-Handbuch. 2. erw. da, man hat gar keine Veranlassung, u. bearb. Aufl. Würzburg 2001. S. 519–822.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 45 III. Die internationale 15.1.1892 dieses zweiseitige Ab- Rechtsentwicklung – kommen über den gegenseitigen Der bilaterale Vertrag USA- Schutz der Urheberrechte abge- Deutschland 1892 schlossen worden war. Es trat am 6.5.1892 in Kraft. Karl Mays Bib- liothek verzeichnet nach dem von Der Berner Übereinkunft von ihm handschriftlich aufgestellten 1886 (RBÜ) traten die USA erst Katalog auch unter der Abteilung mit Wirkung vom 1.3.1989 bei. Juristik mehrere urheber- und Zuvor waren sie freilich Mit- verlagsrechtliche Werke.5 Ihm glied des Welturheberrechtsab- werden auch die internationale kommens (WUA) vom 6.9.1952 Rechtslage und dieses Abkom- geworden. Ab 1989 hatte aller- men sehr gegenwärtig gewesen dings die RBÜ Vorrang im Ver- sein. hältnis der beiden internationa- len Abkommen. Das WUA galt Dieses Abkommen ist sogar heute zwischen Deutschland und den noch wichtig. Historisch gesehen USA in der Genfer Fassung vom war der zweiseitige Staatsvertrag 16.9.1955.4 Der bilaterale Ver- mit urheberrechtlichen Regeln trag von 1892 galt jedoch weiter. immerhin ein erster Schritt. Denn Auf die Beziehungen der interna- die USA konnten sich ja lange tionalen Vereinbarungen und den Zeit nicht entschließen, der RBÜ Schutzfristenvergleich gehe ich beizutreten. Heute gelten im hier nicht weiter ein. Verhältnis Deutschland und den USA in erster Linie das TRIPS- Von Interesse für die Karl May Übereinkommen und die RBÜ. betre ende Konstellation im Mit dem Beitritt der USA zur Jahre 1907 ist jedoch auch, dass RBÜ war die Vorrangstellung des zwischen dem Deutschen Reich Welturheberrechts-Abkommens und den USA immerhin am (WUA) vorbei. Das weiterhin geltende und zum Teil besseren 4 Christian Czychowski/Rolf Danck- Schutz als die internationalen Ver- werts: Der urheberrechtliche Schutz träge bietende relevante deutsch- von Werken deutscher Staatsange- höriger in den USA im Hinblick auf amerikanische Abkommen von die formalen Erfordernisse und die 1892 geht von der Gleichstellung Schutzfristen des US-amerikanischen der jeweiligen Staatsangehörigen Rechts. In: GRUR Int. [Gewerb- aus. Man nennt das die sog. Inlän- licher Rechtsschutz und Urheber- 6 recht. Internationaler Teil] 1998, derbehandlung. Amerikanische S. 870; Eugen Ulmer: Der Vergleich Werke genossen und genießen der Schutzfristen in seiner Bedeu- tung für den Urheber-Rechtsschutz amerikanischer Werke in der Bun- 5 Karl May: Katalog der Bibliothek. desrepublik Deutschland. In: GRUR Verzeichnis. Faksimile der Hand- Int. 1979, S. 39; Thomas Dreier/ schrift. Bargfeld 1995 (HKA Sup- Gernot Schulze: Urheberrechtsge- plemente 2), S. 53f. Dazu auch das setz. Kommentar. 3. Aufl. 2008, Nachwort von Hans Wollschläger, § 121 Rz. 7 .; Haimo Schack: Ur- ebd., S. 125–135. heber- und Urheber-Vertragsrecht. 6 Abdruck des Abkommens vom 4. Aufl. 2007, Rz. 820, 871; Haimo 15.01.1892 (RGBl, 1892, S. 473) Schack: Zeitschrift für Urheber- und bei Hans-Peter Hillig (Hg.): Urhe- Medienrecht. München 1986, S. 71. ber- und Verlagsrecht. 2002, S. 443.

46 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Karl May: Katalog der Bibliothek. Ver- zeichnis. Faksimile der Handschrift. Bargfeld 1995 (HKA Supple- mente 2): S. 53 mit der Auflistung einer Reihe von Titeln, die sich mit dem Urhe- berrecht beschäftigen. nach dem Abkommen von 1892 USA bestand, hatte sich am fakti- in Deutschland die vollständige schen Rechtszustand lange nicht Inländerbehandlung. Dies sollte viel geändert. Denn wichtige – praktisch jedoch eingeschränkt Vor aussetzung war, dass das be- – auch für die deutschen Urheber tre ende Werk erstmals in den in den USA gelten. USA verö entlicht wurde. Es wäre außerdem für deutsche Ur- heber nicht einfach gewesen, in IV. ›Entwicklungsland‹ USA dieser Zeit das deutsche Urhe- berrecht in Nordamerika e ektiv Obwohl also zum Zeitpunkt der oder gerichtlich durchzusetzen. bewegenden Klage Karl Mays in Auch waren ja Mays Werke da- »Weihnacht!« im Jahre 1897, als mals in aller Regel nicht erst- er längst Bestseller und wohl- mals in den USA erschienen. Der habend war, schon eine neue Vertrag von 1892 bot ihm also Rechtslage im Verhältnis zu den wie auch allen anderen betrof-

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 47 fenen Autoren Europas keinerlei dem Reichsgesetz von 1871 das Rechtsschutz. Privilegienwesen aufgeben und die noch weitgehend existieren- Noch immer war die allgemeine de Nachdruckfreiheit beseitigen Bewusstseinslage in den USA so, musste.7 Die einzelnen Staaten wie in den Jahrzehnten zuvor: hatten im 18. und 19. Jahrhun- Man sah sich als armes, vom Joch dert noch lange den Nachdruck Englands als ehedem koloniales als Ausdruck und Mittel ih- Entwicklungsland befreit und rer einzelstaatlichen Gewerbe-, fühlte sich moralisch und juris- Wirtschafts- und Abgabenpoli- tisch berechtigt, von den kultu- tik zugunsten ihrer Drucker und rellen Produkten Europas kosten- Verleger und als Mittel der Bil- freien Gebrauch zu machen. Es dungspolitik eingesetzt. So stand existiert insoweit seit langem eine die Sache auch lange in der Habs- den US-Diskurs aus kulturwissen- burger Monarchie. Außerdem schaftlicher, rechts- und urheber- wurde das landesherrliche Privi- rechtsgeschichtlicher Perspektive legienwesen mit seinem territorial behandelnde Literatur. Wie alle begrenzten Nachdruckschutz bis anderen ausländischen Autoren zum Erlass von deutschen Urhe- war man auch in Deutschland in berrechtsgesetzen noch in engem der Beziehung zu US-amerikani- Zusammenhang mit der obrig- schen Verlagen im 19. Jahrhun- keitlichen Zensur praktiziert. dert auf good will angewiesen. Wie andere Autoren konnte May Wie amerikanische Verleger, so sich seit Beginn seiner Laufbahn machten freilich auch Deutsche, nur schwer gegen in- oder auslän- die im 19. Jahrhundert z. B. in dische Nachdrucke wappnen oder den USA Niederlassungen grün- wehren. Der US-Markt spielte für deten, von den Privilegien und ihn im Grunde auch keine Rolle. den urheberrechtsfreien Räu- Die Bemühungen, sich mit an- men gerne Gebrauch – in ähnli- deren ausländischen Verlegern cher Weise oder ebenso, wie im entweder zu verständigen oder 19. Jahrhundert im deutschspra- sie rechtlich zu belangen, sind chigen Raum wegen der unter- bereits untersucht worden. Die schiedlichen Rechtslagen in den Geschichte der allmählichen Ent- zahlreichen deutschen Einzelstaa- wicklung des relativ einheitlichen ten das Nachdruckwesen blühte. nationalen Schutzes in Deutsch- Man kann auch sagen: Ungeach- land, der Entwicklung des in- tet der urheberrechtlichen Ent- ternationalen Schutzes zunächst wicklung seit dem 18. und seit über bilaterale Abkommen in Eu- Beginn der Gesetzgebung ge- ropa und dann ab 1886 zunächst gen Nachdruck und zum Schut- durch die RBÜ war sehr mühsam ze der Urheber und Verleger im und fragmentarisch.8 Auch man- 19. Jahrhundert zählten die nicht autorisierten Nachdrucke weiter 7 Thomas Gergen: Die Nachdruck- vielfach zum üblichen Geschäft. privilegienpraxis Württembergs im Allen voran oder besser hinterher 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung ging Württemberg, das erst mit für das Urheberrecht. Berlin 2007. 8 Isabella Löhr: Die Globalisierung

48 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 che deutschen Verlage, die später einen großen Namen sich scha en sollten, machten sich im 19. Jahr- hundert den Umstand zunutze, dass etwa die nordischen Länder zunächst nicht den internationa- len Abkommen von 1886 ange- hörten, so dass in Deutschland nicht autorisierte Übersetzungen von bekannten nordischen Auto- ren wie Ibsen oder Strindberg pu- bliziert wurden, z. B. vom Verlag S. Fischer.

V. Ein Beispiel: ›Die Goliaths‹ und ›Die Rose von Kahira‹

In Bezug auf einige Werke Mays haben Wolfgang Hermesmeier und Stefan Schmatz jüngst an einigen Beispielen die Sach- und Rechtslage in punkto USA pla- stisch aufgezeigt:

Mit dem Reprint ›Karl May: Die Goliaths. Die Rose von Kahira‹9 wird in verdienstlicher und auf- Titelseite des schlussreicher Weise die Frage verzeichnet in den USA erschie- 5. Jahrgangs der May-Texte in den USA im nene Nachdrucke von Werken 1880 der Zeit- 19. Jahrhundert exemplarisch Mays aus den Jahren seit 1879. schrift ›Deutsch- 10 Amerikanischer dargestellt. Die dort z. T. neu Mit Recht weisen die Autoren Familien-Schatz‹, ermittelte Bibliografie (S. 9f.) aber in der Einleitung darauf in dem zwei Er- hin, dass bis heute die Publika- zählungen Karl Mays nachge- geistiger Eigentumsrechte: neue tionen der Auswanderer-Verlage druckt wurden. Strukturen internationaler Zusam- noch nicht systematisch durch- menarbeit 1886–1952. Göttingen forstet worden sind. Man wird 2010; Albrecht Götz von Olenhu- sen: »Ewiges geistiges Eigentum« annehmen können, dass es in und »Sozialbindung« des Urheber- den deutschsprachigen Unter- rechts in der Rechtsentwicklung haltungsblättern noch weitere und Diskussion im 19. Jahrhundert Nachdrucke von Mays Werken in Frankreich und Deutschland. In: Festschrift für Georg Roeber. Frei- gegeben hat. Welche Nachdruck- burg 1982, S. 88–108. praxis etwa beim ›Deutsch-Ame- 9 Reprint der Karl-May-Gesellschaft. rikanischen Familien-Schatz‹ Radebeul 2012. 80 S. üblich war, wird an weiteren her- 10 Einführung, ebd., S. 5–11; Dazu auch: Irah Donner: The Copyright ausragenden Exempeln deutlich Clause of the US Constitution. In: (Hector Malot, Friedrich Ger- American Journal Of Legal History. stäcker). 36/1992, S. 361–378.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 49 Insofern ist die Publikation des Künsten Befristungen für Auto- Reprints und sind die Ausführun- ren und Erfinder einzuführen in gen von Hermesmeier/Schmatz Bezug auf deren exklusives Recht im Kontext dieser Edition von an ihren Werken und Entdeckun- Interesse, und diese Ausgabe gen. Noch im Jahre 1834 stellte liefert wiederum prägnante Bei- der Supreme Court in den USA spiele für die zahllosen Lücken fest, es existiere kein für alle Bun- des internationalen Schutzes im desstaaten der USA einheitliches 19. Jahrhundert. Ihre Arbeit ist Autorenrecht. Wie in den euro- daherd ebenso wie ihre Publikation päischen Rechtsordnungen waren zu den US-Ausgaben Mays11 von auch in den USA im 19. Jahrhun- besonderem Wert. Wir dürfen dert nur amerikanische Staatsbür- dabei nur nicht annehmen, dass ger berechtigt, Urheberrechte zu May ein besonders geschädigtes erwerben. Für ausländische Auto- Opfer des internationalen Nach- ren galt dies nicht. Mit Großbri- oder Raubdruckes gewesen sei. tannien wurde über einen bilate- Wie alle europäischen Schriftstel- ralen Vertrag über Autorenrechte ler trafen auch ihn die Lücken des verhandelt. Rund 40 Jahre lang erst allmählich beginnenden Ur- dauerten die Verhandlungen. Der heberschutzes, zumal die Über- US-Senat lehnte jedoch die Rati- setzungsfreiheit sogar noch wei- fizierung eines völkerrechtlichen ter ging und sich ein internationa- Vertrages ab, der Autoren und ler Schutz gegen Übersetzungen Verlegern aus anderen Staaten die erst später entwickelte. gleichen Rechte einräumen sollte wie den amerikanischen Autoren. Nach dem amerikanischen Sezes- VI. Urheberrechte als Ob- sionskrieg wurden entsprechende jekte der Politik Vorstöße erneuert, blieben aber gleichwohl erfolglos.13 Man muss zum Verständnis der Situation in den Vereinigten Staa- Die amerikanische Schutzzoll-Po- ten berücksichtigen, dass diese litik kam hinzu: Denn der „Nach- als ehemalige Kolonie Englands druck ausländischer Schriften das englische Recht übernah- war nicht nur erlaubt, sondern men. Wie in England galt dort wurde ergänzend durch hohe zunächst eine Schutzfrist von Schutzzölle auf importierte Bü- 14 Jahren. Diese Frist verlänger- cher befördert.“14 Das inländische te sich um 14 Jahre, insgesamt Buchhandels- und Verlagswesen also auf 28 Jahre, wenn der Ur- wurde staatlich protegiert und heber die erste Frist von 14 Jah- subventioniert. Es kam hinzu, ren überlebte.12 Auch die Ver- dass auch in Irland englische Bü- fassung der Vereinigten Staaten cher nachgedruckt wurden. Von legte fest, dass es zur Befugnis des Kongresses gehöre, zur Ver- 13 John Feather: Publishing, Piracy besserung des Fortschritts in den and Politics. A Historical Study of Copyright in Britain. London 1994, Wissenschaften und nützlichen S. 166 . 14 Eckhard Hö ner: Geschichte und 11 In Karl May & Co 2002. Wesen des Urheberrechts. Bd. 1. 12 Siehe den Copyright-Act von 1790. 2. Aufl. München 2011, S. 218.

50 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 dort wurden diese Nachdrucke reiche verlegerische Erfahrungen. zunächst nach Großbritannien Sein Verlagshaus galt zwischen geschmuggelt und von dort legal 1821 und 1835 als das größte in die Vereinigten Staaten impor- in den USA. Er wurde dann zu tiert. Im Grunde spielte sich, wie einem politischen Schriftsteller schon in den Jahrhunderten zu- und Vorkämpfer einer politischen vor, ein auch mit rechtlichen Mit- Ökonomie und der Prinzipien teln ausgetragener permanenter von ›Social Science‹. In seinen Handelskrieg ab.15 ›Letters on International Copy- right‹ (1853) bekämpfte er den Die industrielle Revolution brach- zwischen England und den USA te es mit sich, dass sich auch in in Rede stehenden Copyright- den USA ein Buchhandels- und Vertrag. In einer weiteren Publi- Verlagswesen rasant entwickelte. kation im Jahre 1872 wandte er Das über den Atlantik reichen- sich erneut gegen einen interna- de Nachdruck-Geschäft knüpf- tionalen Schutz des literarischen te vor allem an Bestseller an, die Eigentums und wünschte oben- sich bereits in England am Markt drein dessen strenge inländische bewährt hatten. Das Ziel war es, Begrenzung. Careys Werke wur- möglichst jedes neue und vielver- den übrigens auch in Deutschland sprechende englische Buch in die rezipiert. Seine Ideologie lief im Hand zu bekommen und in den Grunde auf nationalen Protektio- USA nachzudrucken. Agenten in nismus hinaus. Für ihn ging es um London waren darauf aus, sich einen epochalen Kampf zwischen möglichst interessante Voraus- Zentralisation und Zivilisation. exemplare zu bescha en. Diese Der britische Buchhandel und das wurden dann so schnell wie mög- englische Verlagswesen konzen- lich per Schi in die USA trans- trierten sich für ihn in London. In portiert. Auf diese Weise wurden den Vereinigten Staaten galt für etwa die Werke von Charles Di- ihn ein ganz anderes Modell, wo- ckens wie die ›Pickwick-Papers‹ nach jeder Bürger durch Dezen- und viele andere seiner erfolgrei- tralisation zu einem Leser werden chen Romane nachgedruckt.16 sollte. Für ihn galt die Unabhän- gigkeit von einem Urheberrecht Das amerikanische System erfuhr als Basis einer zivilisatorischen nicht nur in Europa, sondern auch Entwicklung. Carey ist ein beson- innerhalb der USA grundsätzliche ders gutes Beispiel für eine durch Kritik. Zu den bedeutendsten national-ökonomische Interessen- Protagonisten der ›Anti-Copy- politik geprägte Ideologie. right-Bewegung‹ zählte Henry C. Carey (1793–1879). Als Sohn des Die amerikanischen Verleger, vor Verlegers Matthew Carey hatte er allem in Philadelphia und New York, konkurrierten untereinan- 15 Siehe dazu i. E.: Adrian Johns: The der, wenn es um attraktive euro- Intellectual Property Wars from päische, vor allem englische Werke Gutenberg to Gates. Chicago, Lon- don 2009. (Auch zum Folgenden.) ging. Gleichermaßen wurden aber 16 Thomas Hoeren: Charles Dickens auch deutsche oder andere euro- und das internationale Urheberrecht. päische Autoren für den speziellen GRUR 1993. S. 195–199 m. w. N.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 51 Markt der deutschsprachigen oder land dauerte der Schutz seit 1842 anderssprachigen Immigranten während der Lebenszeit und für nachgedruckt. Dies galt nicht nur 7 Jahre nach dem Tode. Erst für Romane, Memoiren, Reisebe- 1911 wurde diese Frist von 7 auf schreibungen, sondern ebenso für 50 Jahre verlängert. In den USA wissenschaftliche oder auch juri- wurde die Schutzfrist von 1831 stische Werke. Die internationale auf 28 Jahre ab Verö entlichung Reprint-Debatte und -Praxis folg- eingeführt, mit der Verlänge- te im Verhältnis der USA zu Eng- rungsmöglichkeit. In Frankreich land und Europa einem Muster, gab es nach kürzerer Frist erst wie es im 19. Jahrhundert schon ab 1854 eine Schutzfrist von 30 angesichts des fehlenden oder Jahren. In Deutschland ging man begrenzten Nachdruckschutzes im Allgemeinen von 30 Jahren in der Beziehung der deutschen nach dem Tode aus. Diese Frist Länder untereinander bekannt wurde erst 1934 auf 50 Jahre war. Dabei spielte sogar, wie das p. m. a. verlängert – Anpassung Beispiel des mysteriösen Autors an die internationale Rechtsent- Charles Sealsfield zeigt, eine Rol- wicklung, vor allem auch aus De- le, dass nicht immer klar war, ob visengründen, um ausländische überhaupt ein Copyright existier- Lizenzgebühren zu bekommen, te und wem es zustand. Seine jedoch mit einer ideologischen Werke wurden auch in den USA NS-Begründung, bei der auch Opfer von Druckpiraten. Der der Urheberschutz von Richard Autor wurde mal als britischer, Wagner und Friedrich Nietzsche mal als europäischer Schriftsteller am Rande eine Rolle spielte. angesehen. Für andere war zwei- felhaft, ob er überhaupt existier- Seit 1897 hat sich auch die Urhe- te und nicht eine Erfindung sei. berrechtlage gewandelt, aber der Tatsächlich gab es Sealsfield. Seine Schneckengang der internationa- abenteuerliche Biographie ist be- len Entwicklung hat seine ökono- kannt. Das Beispiel zeigt jedoch, mischen, rechtlichen, politischen dass auch ein Schriftsteller, der und rechtspolitischen Gründe. in den USA seine Werke erstmals Die Klage Karl Mays von 1897 publizierte, sich nicht sicher sein würde heute vermutlich eben- konnte, dass er im Inland rechtli- so vernehmlich wie auf sehr viel chen Schutz genoss.17 breiterer Basis und mit noch viel mehr Resonanz notwendig sein, Die Dauer des Urheberrechts um angesichts der globalen Be- war ein im 19. Jahrhundert heiß einträchtigungen immateriellen diskutiertes Problem.18 In Eng- Eigentums und den Forderungen nach auskömmlicher Teilhabe an 17 Siehe dazu: Nanette M. Ashby: Char- kulturellen Schätzen und Errun- les Sealsfield. The greatest American genschaften Gehör zu finden. author. A study of literary piracy and promotion in the 19th century. Stutt- gart 1980. Study Days 2010. Wien 2012, 18 Siehe Michel M. Walter in: ALAI S. 13–26.

52 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Jörg-M. Bönisch Die Karl-May-Stummfilme und die Ustad-Film GmbH im Spiegel der Filmzeit- schriften 1920/21 (Teil 11)

o entlich wirklich Karl wundervollen Landschaften, sowie „HMay“1 wünschten sich die einwandfreie Regie Josef Steins. die Kritiker der Filmpresse und si- Der Gesamteindruck wurde leider beeinträchtigt dadurch, daß der Film cherlich auch viele aus der großen hier von einem technisch nicht vor- Leserschar Karl Mays vom zwei- gebildeten Vorführer gezeigt wurde. ten Karl-May-Film der Ustad, Um die Darstellung bemühten sich nachdem der erste eine doch der wirksam hervortretende Carl de überwiegend negative Resonanz Vogt, Gustav Kirchberg und Klä- gehabt hatte. ry Lotto. Aus der Zahl der übrigen möchte ich besonders Arthur Kraus- Dieser zweite Karl-May-Film wur- neck und Karl Huszar erwähnen. Ein de am 16. November 1920 der Extra-Lob gebührt Meinhart Maur als Hadschi Halef Omar alias Saduk. Presse in Hamburg vorgestellt. Er führte diese Doppelrolle prächtig Die Au ührung fand im Filmthe- durch. Vorzüglich waren seine ver- ater ›Schauburg‹ statt. Nach Re- schiedenen Masken. novierung hatte das Kino erst seit Keiler.“2 dem 11.11.1920 wieder geö net. Und auch diese Pressevorführung In der gleichen Ausgabe der verlief nicht ohne Pannen. ›Lichtbild-Bühne‹ erschien auch eine ganzseitige Anzeige des Film- Zwei Zeitungen berichteten: hauses Bruckmann zum zweiten May-Film3 (s. folgende Seite). „Die Todeskarawane. Nach dem gleichnamigen Romanka- Verwendet wurde für diese An- pitel aus Karl May’s Reiseerzählung nonce noch einmal eine der ‚Von Bagdad nach Stambul‘ hat Er- Zeichnungen aus dem Werbeheft win Báron bei der Ustad ein sechs- der Ustad. Eine Signatur ist auch aktiges Filmdrama ‚Die Todeskara- hier nicht zu erkennen. In einem wane‘ bearbeitet, dessen Presse- und Interessentenvorführung kürzlich langen und freundlichen Telefon- in der neuerö neten ‚Schauburg‘, gespräch haben Professor Schmatz Hamburg, stattfand. Für gewisse und ich alle Argumente für oder Breiten des Films entschädigen voll- gegen Lindeberg bzw. Lüdke aus- auf die naturgetreuen Bauten und 2 Lichtbild-Bühne, Nr. 47 vom 20.11. 1 Dresdner Neueste Nachrichten vom 1920, S. 30. 10.10.1920. 3 Ebd., S. 55.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 53 getauscht. Wer die Zeichnungen (Von unserem Hamburger Korres- gescha en hat, muss vorerst wei- pondenten.) ter o en bleiben. Diese Anzeige Hamburg 16. Nov. verö entlichte die ›Lichtbild-Büh- Ich habe weder den ersten Teil (‚Auf ne‹ als einzige Zeitschrift. den Trümmern des Paradieses‘) gese- hen noch das Buch Karl Mays ‚Von Von der Pressevorführung berich- Bagdad nach Stambul‘, das die- tete auch der ›Film-Kurier‹: sem zweiten Teil in freier Bearbei- tung zugrunde liegt, gelesen. Viel- leicht erklärt sich daraus der Eindruck „Film–Kritik anstrengender Unverständlichkeit, ‚Die Todeskarawane‘ den ich zunächst von dem Filmwerk (Pressevorführung in der ‚Schau- hatte. Dazu kam eine anfänglich sehr burg‘, Hamburg.) schlechte Vorführung, die ein reines

54 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Versenken ins Inhaltliche bedeutend Von diesem Moment zur rachgierigen erschwerte. Bestie ist ein Übergang, an dem vie- Der Film hat Stimmungen von zarter, le gescheitert wären. Maur formt ihn ergreifender Schönheit und Augen- mit starker Ursprünglichkeit. Er spielt blicke köstlicher, gedankentragender auch den Hadschi Alef [sic!] Omar. Bildstärke, aber die Stimmungen ver- Wenn es nicht im Programm stände, weben sich nicht zur einen, allumfas- käme man nicht darauf. So saft- und senden, und die Augenblicke bauen krafterfüllt sind beide Gestalten. Carl keine Zusammenhänge für ein gro- de Vogt als Kara ben Nemsi gibt be- ßes, ganzes Erlebnis. Minuten eines sonders im Schluß den Beweis seiner jähen, nicht zu begründenden, nur starken künstlerischen Persönlichkeit zu fühlenden Verständnisses wechseln und wird dabei eins mit der Idee mit Zeiträumen hilflosen, grübeln- und der köstlichen Landschaft des den Schauens. Die fremden Namen, Films. Der Omram Erwin Bárons die fremdgekleideten Gestalten, die ist menschlich, daher fesselnd: ganz fremden Gebräuche wirbeln durch- besonders gut auch das in der Wüste einander, und wundervoll bleibt stets sterbende Weib. Kläry Lotto wirkt nur das im Gedächtnis haftende Wort als Benda reizend, aber wenig orien- der ‚Seele der Menschheit‘: ‚Du wirst talisch. Als Marah Durimeh war von den Weg des Todes wandern und der schöner Eindringlichkeit Anna von Leiden, und deinem Herzen wird der Palen. Ferner sei noch des urdrollig Menschheit Seele sich entkleiden.‘ wirkenden Karl Huszar gedacht; die Der Film ist durchzogen von An- übrigen Darsteller waren in kleine- deutungen einer schönen, poetischen ren Rollen gut. Architektonisch leis- Idee, aber sie bleibt uns nur Ahnung tete Gustav Knauer viel Anerken- und der großen Masse vielleicht ganz nenswertes. Die Photographie Otto verborgen. Man hat vom Film mehr Steins litt derartig unter der Vor- gewollt, als er als Film zu geben ver- führung, daß ein Urteil nicht mög- mag. Dies Wollen adelt alle, die an lich war. Von guter Wirkung war ein dem Werke mitgearbeitet haben, aber plötzliches Aufklingen eines Parsifal- es beschränkt den Kreis der Zuschau- motives, als die Golgathareminiszenz er meiner Ansicht nach um ein Be- in ein Bild hineinleuchtete. deutendes. Der Film fand Applaus. Manuskript (Erwin Báron) und Re- Margot Meyer.“ 4 gie (Josef Stein) sind getragen von diesem Wollen. Ihre Erfolge liegen in Der im Artikel erwähnte Karl den Momenten, die der Landschaft Huszár wurde am 3.11.1884 in und Darstellung Spielraum geben. Budapest geboren und wirkte in Der Schluß des Films ist durch die über 50 Filmen mit. 1933 kehrte Regie zum Ausklang geworden und er nach Ungarn zurück und kam zwingt alle Gedanken in seinen Bann. 1939 in die Sowjetunion. Dort Mir war er mit das Stärkste des gan- zen Werkes. wurde er 1941 verhaftet und starb im Juni 1943 in einem Lager. Verständnis gibt vorwiegend die Dar- stellung, und zwar knüpft in unver- gleichlicher Weise den ersten Faden Im November 1920 verbreiteten Meinhart Maur als Saduk, indem die Zeitschriften noch die folgen- er im Mienenspiel das Fürchterliche de Meldung: ausdrückt, das ihm angetan wurde. Er hat da eine Bewegung, die die eines „‚Die Todeskarawane‘ aus Karl Mays Kindes ist, die den ganzen Jammer Roman ‚Von Bagdad nach Stambul‘ des Sklaventums enthält, die erschüt- tert wie ein wehes Weinen ohne Töne. 4 Film-Kurier, Nr. 258 vom 22.11. 1920, S. 2.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 55 (Ustad Film) wurde für Jugendliche haus Bruckmann in zwei ganzsei- genehmigt. Diese Entscheidung wird tigen Anzeigen, die allerdings nur von der großen Karl May-Leserge- in der ›Lichtbild-Bühne‹ abge- meinde mit Enthusiasmus begrüßt druckt wurden.7 (s. u.) werden.“5 Nachträglich wurde auch der ers- Die Zensur der ›Todeskarawane‹ te Karl-May-Film für Jugendliche erfolgte am 13.11.1920. Vor der zugelassen. Der ›Film-Kurier‹ be- Zensur hatte der Film eine Länge richtete: von 2012 m und nach der Abnah- me 1994,75 m, 6 Akte, Jugend- „Die Karl May-Filme und die Ju- frei.8 Die nachträgliche Zensur des gendlichen. Bei einer nachträg- ersten Karl-May-Films fand am lichen Zensur wurde auch der 29.11.1920 statt. Länge 1968 m, erste Karl May-Film ‚Auf den nach Abnahme 1952,5 m, 6 Akte, Trümmern des Paradieses‘ für 9 Jugendliche genehmigt.“6 Jugendfrei.

Über diese Entscheidungen der Eine Frage können die Filmzeit- Zensur informierte auch das Film- schriften allerdings nicht klären: Wann und wo fand die ozielle Urau ührung, wenn es sie gab, 5 Der Film, Nr. 47 vom 20.11.1920, S. 40; gekürzt auch in Lichtbild- Bühne, Nr. 47 vom 20.11.1920, 7 Lichtbild-Bühne, Nr. 50 vom 11.12. S. 28; Film-Kurier, Nr. 255 vom 1920, S. 50f. 18.11.1920, S. 3. 8 Gerhard Lamprecht: Deutsche 6 Film-Kurier, Nr. 270 vom 6.12. Stummfilme 1920. Deutsche Kine- 1920, S. 3; Der Film, Nr. 50 vom mathek Berlin, 1968, S. 302. 11.12.1920, S. 35. 9 Ebd., S. 14.

56 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 der ›Todeskarawane‹ statt? Dazu führungsrecht aller Karl-May-Fil- lässt sich in den Zeitschriften nicht me für Breslau angekündigt.11 der geringste Hinweis finden. Die Urau ührung der ›Todes- Im Internet und in der Literatur karawane‹ erfolgte also nicht in gibt es dazu allerdings verschie- Breslau. Sie wäre entsprechend dene Angaben, die sich aber alle angekündigt worden. Ein Erfolg wiederlegen lassen: war der Film in Breslau nicht. • Michael Petzel: 17.11.1920 in Statt Montag wurde der Film Breslau (Karl-May-Filmbuch, bereits am Sonntag vorzeitig aus Bamberg 1999, S. 492) dem Programm genommen.12 • Karl-May-Wiki: 18.11.1920 in Breslau Auch in Dresden kann die Urauf- führung nicht stattgefunden ha- • karl-may-filme.de: 18.11.1920 ben. In den von mir durchgese- ohne Ortsangabe henen Dresdner Zeitungen findet • Wikipedia 18.11.1920 in Dres- sich kein Hinweis dazu. den • R. Weber / A. Rennschmid: In Dresden kam der Film am 18.11.1920 ohne Ortsangabe 6.1.1921 in die Kammer-Licht- 13 (Die Karl-May-Filme, 1990, spiele. Hätte es vorher eine Ur- S. 12) au ührung in Dresden gegeben, so wären sicher Klara May, Dr. • Michael Chatain: 18.11.1920 ohne Ortsangabe (Das große E. A. Schmid und Sascha Schnei- Karl May Filmbuch, 2012, S. 14) der, mit dessen Namen für den Film geworben wurde, Besucher • Jürgen Seul: 18.11.1920 ver- der Urau ührung gewesen. Klara mutlich Dresden (100 Jah- May sah den Film am 6.1.1921, re Karl-May-Verlag, Bamberg 14 2013, S. 34) wie sie in ihr Tagebuch notierte, und schrieb am • Rudolf W. Kipp: 21.10.1920 10.1.1921 an Klara May, dass er ohne Ortsangabe (M-KMG 38/ den Film noch sehen müsse.15 1978, S. 6) Auch Dr. Schmid hatte die ›To- Schauen wir zuerst nach Bres- deskarawane‹ am 22.12.1920 lau. Dazu habe ich die ›Breslauer noch nicht gesehen.16 Neuesten Nachrichten‹ von 1920 (33. Jg.) und 1921 (34. Jg.) 11 Ebd., Nr. 295 vom 31.10.1920, S. 8. durchgesehen. In den Breslauer 12 Ebd., Nr. 315 vom 21.11.1920, Kinos fand der Programmwechsel S. 15. dienstags statt, und so kam ›Die 13 Dresdner Nachrichten, Nr. 9 vom Todeskarawane‹ bereits Dienstag 6.1.1921, S. 8. 14 Zit. in Karl May: Briefwechsel mit Sa- den 16.11.1920 in den Tivoli- scha Schneider. Mit Briefen Schneiders 10 Lichtspielen zur Au ührung. an Klara May u. a. Hg. von Hartmut Bereits in einer Anzeige vom Vollmer und Hans-Dieter Steinmetz 31.10.1920 hatten die Tivoli- (GW 93). Bamberg 2009, S. 409. 15 Zit. ebd. Lichtspiele das alleinige Erstauf- 16 Zit. in Bernhard Schmid/Jürgen Seul (Hg.): 100 Jahre Verlagsarbeit 10 Breslauer Neueste Nachrichten, Nr. für Karl May und sein Werk 1913– 311 vom 16.11.1920, S. 8. 2013. Bamberg 2013, S. 35.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 57 In Leipzig, wo damals viele Ur- au ührungen erfolgten, gelangte der Film sogar erst am 14.1.1921 ins Kino. Und in Hamburg gab es nach der Pressevorführung kei- ne weiteren Au ührungen dieses Films im Jahr 1920.

Die wichtigste Stadt für Film- premieren im damaligen Deut- schen Reich war wohl Berlin. Hier kam ›Die Todeskarawane‹ am 25.12.1920 in gleich drei Kinos zur Au ührung. Der Film wurde, anders als in der Anzei- ge erwähnt, erst ab dem 25.12. gezeigt. Am 24.12.1920 durften die Kinos in Berlin nicht ö nen.17

Datum und Ort der oziellen Urau ührung der „Todeska- rawane“ sind also noch immer ungeklärt. Die bisher frühesten bekannten Au ührungen fanden am 16. 11. 1920 in Breslau und Hamburg statt.

Nach dem der Film in Berlin ge- zeigt worden war, erschienen wei- tere Besprechungen. Positiv sah der Kritiker der Zeitschrift ›Der Film‹ die ›Todeskarawane‹. Er schrieb u. a.:

„Erwin Báron hat das Manuskript in nur sehr loser Anlehnung an die Karl Maysche Erzählung geschrie- ben. Ich kann das aber nicht einmal als Fehler bezeichnen, denn er hat ein von Filmwirksamkeiten reiches Ma- nuskript zustande gebracht, in dem die handelnden Personen Karl Mays ebenfalls die Hauptrollen innehaben; also ist somit auch Karl May Genüge geschehen.“18

17 Film-Kurier, Nr. 286 vom 24.12. 1920, S. 3f. 18 Der Film, Nr. 2 vom 8.1.1921, S. 34.

58 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Eine Meinung, über die man nur Im November 1920 dürfte den den Kopf schütteln kann. Verantwortlichen der Ustad klar geworden sein, dass die ersten Vernichtend war die Kritik, die in beiden Karl-May-Filme ein Miss- der Zeitschrift mit dem bezeich- erfolg geworden waren. Und es nenden Titel ›Film-Hölle‹, ge- wurde eine Programmänderung schrieben vermutlich von Egon angekündigt. Die ›Lichtbild-Büh- Jacobsohn, erschienen war. Ein ne‹ gab eine Zeitschrift für das Text, den man zweimal lesen soll- Ausland unter dem Titel ›Film- te. Express‹ heraus. Eine Ausgabe dieser Zeitung vom November „Ich warne Neugierige! 1920 konnte ich aufspüren und 20 Films, die man meiden soll. fand eine erstaunliche Anzeige: ‚Die Todeskara- wane.‘ Nach dem Roman vom seli- gen Karl May. Es ist dankenswert, daß er schon tot ist. Hätte der gutmütige Mann dieser Vera- (Setzer: nicht ‚u‘!) -nstaltung beigewohnt, er hätte daraufhin den Geist aufgeben müssen. Jugend, gebt nicht zu, daß man Eure heiligen Dichter so beleidigt!! Verlangt Einziehung und Vernichtung dieses Werkes, nachdem den Kinobesitzern, die es vorzuführen wagen, 5 Jahre lang von ¾ 6 Uhr früh bis kurz vor Beginn der Abendvorstel- lung nichts weiter als diese Todeskara- wane gezeigt wird!!! Der Filmteufel.“ 19

Nur gut, dass den Kinobesitzern diese Strafe er- spart blieb.

19 Film-Hölle. Verlag Film-Hölle, Ber- 20 Film-Express, Nr. 2 von November lin, 2. Jg., Nr. 1 von Januar 1921. 1920, S. 61.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 59 Als vierter Karl-May-Film wird In Österreich wurde diese An- nun ›Das Vermächtnis des Inka‹ zeige nicht gedruckt, obwohl die und als sechster ›Winnetou‹ ange- Wiener Lichtbilderei sehr intensiv kündigt. Der geplante Film ›Vom für die Karl-May-Filme warb. 21 Stamme der Verfluchten‹ wird nicht mehr erwähnt. Diese Anzei- Auf ›Das Vermächtnis des Inka‹ ge erschien nur im ›Film-Express‹. gehen die deutschen Zeitschriften nicht ein. Zwei melden aber die Auch in Österreich wurde im No- Pläne für den Winnetou-Film.22 vember 1920 der ›Inka‹ für März 1921 angekündigt:21 „Die Ustad-Film beginnt, sobald die in Arbeit befindlichen Manuskripte fer- tiggestellt sind, mit den Aufnahmen des Winnetou-Indianer- Films. – Hinterher soll der bekannte ‚Old Shatterhand‘ Im Februar 1921 kündigte die gekurbelt werden.“23 Wiener Lichtbilderei ›Das Ver- mächtnis des Inkas‹ in einer Anzei- ge in der Tschechoslowakei an:22 Kommen wir zurück zur ›To- deskarawane‹. In Wien sollte die Interessenten-Vorführung am 23.1.1921 durchgeführt wer- den, wurde aber auf Grund eines Streiks auf den 30.1.1921 ver- schoben.

Die Wiener Lichtbilderei setz- te auch nach der Interessenten- Vorführung ihre Werbung für die ›Todeskarawane‹, anders als das Filmhaus Bruckmann in Deutsch- land, fort.

Am 5.4.1921 kam der Film schließlich in die Wiener Kinos. Und pünktlich zum Start des Films verö entlichte ›Die Kino- woche‹ eine ausführliche Inhalts- angabe der ›Todeskarawane‹.

21 Der Filmbote, Wien, Nr. 47 vom 20.11.1920, S. 52. 22 Internationale Filmschau, Prag, 2. Jg. 1921, Nr. 3 vom 1.2.1921. 23 Film-Kurier, Nr. 279 vom 16.12. 1920, S. 3; Deutsche Lichtspiel-Zei- tung, Nr. 52 vom 25.12.1920, S. 12.

60 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Neue Kino-Rundschau Neue Kino-Rundschau Nr. 202 vom 15.1.1921, S. 18 Nr. 203 vom 22.1.1921, S. 16 In veränderter Aufmachung erschienen diese Annoncen auch in ›Der Filmbote‹, Nr. 3 vom 15.1., S. 50, und Nr. 4 vom 22.1.1921, S. 50.

Anzeige aus ›Neue Kino-Rundschau‹, Nr. 205 vom 5.2.1921, S. 19–20. In abgeänderter Fassung auch in ›Der Filmbote‹, Nr. 6 vom 5.2.1921, S. 44–45.

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 61 „Vom 5. April an wird in den Kinos ne den wirklichen Hergang von des endlich der Karl-May-Film ‚Die To- Alten Tod erzählt. Omram berichtet deskarawane‘ zu sehen sein. Der In- zynisch seinen Freunden, daß man im halt dieses sechsaktigen Großfilms, Hause Hassans der irrigen Meinung der von Artur Krausnek und Erwin ist, ein Unglück sei dem Alten zuge- Baron wie von den Damen Klary stoßen, in Wirklichkeit hätten Saduk Lotto und Erna Felsnek glänzend ge- und er den Alten in eine Hütte ge- spielt wird, fesselt durch hochinteres- lockt, wo der Bär den alten Farman, sante Sujetseigentümlichkeiten. der wa enlos in die Höhle hineinge- stoßen wurde, zerrissen habe. Ami- Kara ben Nemsi und Hadschi Halef na, die Tochter des Schloßpförtners, Omar sind Gäste des reichen persi- liebt Omram und wird die unfreiwil- schen Edelmannes Hassan Ardschir- lige Zuhörerin seines Geständnisses. Mirza. Marah Durimeh, die Mensch- Auch Kara ben Nemsi erfährt, daß heitsseele, zeigt dem Nemsi den Weg, sein Verdacht, Omram treibe ein den seine nächste Zukunft wandeln Doppelspiel, begründet und Omram wird. In der Bibliothek findet Kara nur scheinbar ein treuer Diener sei- ben Nemsi einen alten Folianten, der nes Herrn ist. Die Blutrache Saduks ihn mit der Geschichte des Kalifen und Omrams fordert neue Opfer. Es Hussein, der, durch Jesid I. besiegt, ist beschlossene Sache, Hassan zu mit all seinen Getreuen den Tod töten und sich seiner und der Güter fand, bekannt macht. Seit Husseins Farmans zu bemächtigen. Unerbitt- Tod wandern all die Gläubigen, wenn lich werden Pläne geschmiedet und sie sich dem Tode nahe fühlen, nach der Verschwörung einige Beduinen Kerbela, der Grabstätte Husseins, angeschlossen, die sie durchführen um ihre sterblichen Überreste in der sollen. Omram, der Hassans Schwes- Nähe des Unvergessenen bestattet zu ter Benda liebt, will sie allein von der wissen. ‚Die Todeskarawane‘ heißt Blutrache ausschließen und für sich der Zug, der alljährlich nach Kerbela gewinnen. Als eines Tages der polni- pilgert. Mit leidenschaftlichem Fana- sche Gelehrte Tschaschefsky, der seit tismus drängt sich jede Seele nach der Jahrzehnten im Orient archäologi- Grabstätte, die ihr die ewige Ruhe in sche Studien betreibt, von dem Tode des Kalifen Nähe sichert. Körperliche Farmans Kenntnis erhält, bringt er und seelische Kranke schließen sich das Testament, das der Alte bei ihm an und erho en Heilung durch den niedergelegt hat, in das Haus Has- großen Erlöser, den Tod. san Ardschir-Mirzas. Der letzte Wille Dem Hause Hassan Ardschir-Mirzas gebietet dem Sohn, die sterblichen haftet ein Fluch an. Der alte Mir- Überreste in Kerbela zu bestatten za, Farman, Hassans Vater, hat dem und aus dem Erlös seiner Besitztümer Hause den Fluch aufgeladen, indem ein Haus Muhammeds zu erbauen. er seinen Diener Saduk wegen einer Selim Agha, der Verwalter der Güter Verfehlung grausam die Zunge aus- Hassans, der Verlobte Bendas, erhält schneiden ließ. Saduk hat Blutrache den Auftrag, Farmans Besitz zu ver- geschworen und sich mit Omram, kaufen. Omram erfährt von dem In- seinem Halbbruder und Reisebe- halt des Testaments und beschließt, gleiter Hassans, verbunden, um das mit seinen Helfershelfern Selim zu ganze Geschlecht der Farmans für die überfallen und ihm den Ertrag ab- Tat des Alten büßen zu lassen. Das zunehmen. Kara ben Nemsi, der erste Opfer der Blutrache ist bereits Omrams Ränke mit gespannter Auf- gefallen. Bei einer Bärenjagd soll der merksamkeit beobachtet hat, veran- alte Farman durch einen Bären zer- laßt Hassan Ardschir-Mirza, Bagdad rissen worden sein. Seine Leiche wird heimlich zu verlassen, um der Blutra- gerade nach Bagdad in den Konak che zu entgehen. eingebracht, als Omram in Weinlau-

62 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Es ist die Zeit des Todeszuges nach Die Blutrache ist vollzogen. Die bei- Kerbela. Hadschi Halef sucht den den Kinder Farman Mirzas sind tot, weinliebenden Omram durch einen aber auch die Täter selbst. Saduk wird Rausch von der Flucht Hassans abzu- von Selim, der unversehrt den Erlös lenken, und es gelingt. Der Todeszug von Farmans Gütern zu Tschaschefs- mit des alten Farmans Leiche verläßt ky gebracht hat, nach der Ermor- den Konak, doch beobachtet Saduk, dung Hassans ringend vom Balkon der sich im Hause Hassans verborgen des Hauses hinabgestoßen. Kara ben hält, den Abzug und verrät Omram Nemsi war es nicht vergönnt, Benda das Reiseziel. lebend zurück-zubringen. Selbst von der Pest befallen, bringt er die tote Am nächsten Morgen hat die Todes- Benda in das Haus des Polen und fin- karawane im Hause Tschaschefsky det seinen Freund Hassan Ardschir- Rast gemacht, und bald erscheinen Mirza getötet. Omram und Saduk in der Nähe. Un- erbittlich verfolgen die beiden ihre Der Weg des Todes, den die Mensch- Vernichtungsabsicht. Während der heitsseele ihm gewiesen hat, ist been- Zug der Kranken und Siechen an dem det. Es strömen von allen Seiten die Hause Tschaschefskys vorbeizieht, Todeskarawanen nach Kerbela und um nach Kerbela zu wandern, dringt man sieht an der Spitze den Tod, der Omram in der Nacht in das Schlaf- seine Opfer führt. Hassan Ardschir- gemach Bendas ein und entführt sie Mirza und Benda werden mit Far- über den Balkon, während Saduk es mans Leiche nach Kerbela gebracht versteht, bis zu Hassan zu gelangen und ein gewaltiger Akkord des To- und ihm hinterrücks den Dolch in des, dumpf und schwer hallt um die den Leib zu stoßen. Sterbend fühlt Stätte, wo Hussein der Große seinen Hassan die Sühne für seines Vaters Tod fand. Schuld. Die Entführung Bendas wird Kara ben Nemsi, durch Marah Duri- entdeckt und nach verschiedenen meh, die Menschheitsseele, gestärkt, Richtungen eilt man, um Benda zu besiegt seine gewaltige Macht. Die suchen. Kara ben Nemsi folgt dem aufgehende Sonne bringt ihm die Zuge nach Kerbela. Auf dem Weg Gesundheit wieder. Der Todeszug dorthin gebietet ihm die Christen- ist schon in weiter Ferne, als er mit pflicht, einer von der Pest befallenen Lebensfreude und Wissensdrang die Frau zu Hilfe zu kommen. Er bringt ihm Marah Durimeh gibt, der Zu- Trost in der letzten Stunde und es kunft entgegensteuert.“24 ereilt ihn selber die Pest. Krank und gebrochen sucht er Benda weiter und Eins verdeutlicht diese Inhaltsan- nach langen Irrfahrten findet er sie gabe der ›Kinowoche‹ wohl: ein als Leiche in einer sandigen Höhle Karl-May-Film war ›Die Todeska- wieder. Omram wollte sie seiner Lei- rawane‹ nicht. denschaft gewinnen und um sich zu befreien, gab sie sich selbst den Tod. (wird fortgesetzt) Vor Bendas Leiche fühlt Omram das schwere Unrecht, das er durch seinen Rachedurst verursacht. Zum ersten- mal fühlt er den Schmerz: Benda, die er geliebt, ist tot. Er stößt den Dolch sich in seine Brust. 24 Die Kinowoche, Nr. 10 vom 1.4. 1921, S. 10 .

Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 63 Berichtigung zu Nr. 181/September 2014

Im Beitrag von Jürgen Seul ›Als Karl May an Kronprinz Wilhelm schrieb‹ wurde leider eine Anmerkung unvollständig abgedruckt und eine weitere fehlte. Sie seien hier nachgetragen:

Anmerkung 5 (S. 3) gibt biographische Informationen zu Hans Prinz zu Hohenlohe-Öhringen:

„Hans Prinz zu Hohenlohe-Öhringen (1858–1945) besuchte die Ritterakademie in Liegnitz; 30.9.1876 Abitur; 1876 bis 1880 absol- vierte er ein Jura-Studium in Berlin, Bonn und Göttingen mit Re- ferendarexamen am 2.10.1880. Seit 16.11.1880 war er im Militär- dienst bis zum Ausscheiden am 29.6.1886. Ab 5.7.1886 folgte die Tätigkeit im diplomatischen Dienst, zunächst als Legationssekretär, ab 28.5.1894 als Legationsrat, 20.9.1897 Generalkonsul in Buda- pest, 30.11.1899 preußischer Gesandter in Darmstadt, 20.2.1906 preußischer Gesandter in Dresden, zugleich für Anhalt, Sachsen-Al- tenburg, Reuß ä. u. j. L., ab 14.2.1910 Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Exzellenz. Am 6.9.1911 folgte die Versetzung in den Ruhestand.“

Zum ›Beschluß des Ministeriums des Innern‹ vom 19.9.1906 (S. 7) ist im Text eine Anmerkung 14 angegeben, die die Abkürzung „u. V. d. R.“ erläutern soll, die jedoch versehentlich entfallen ist. Sie lautet:

„u. V. d. R. = urschriftlich Verlangen der Rückgabe.“ (jb)

Einen „ausgesprochenen Lieblingsschauplatz Karl Mays“ nennt Rudi Schwei- kert in seinem Aufsatz in diesem Heft den Llano estacado. Auch die Leser Karl Mays hat diese texanische Landschaft immer interessiert, und im Llano selbst fragte man sich, woher dieses Interesse rühre. Das alles bildete den Hin- tergrund für das Karl-May-Symposium, das im Jahr 2000 in Lubbock, Texas stattfand. Der Band mit den Vorträgen dieses Symposiums stellt auch den Llano estacado selbst ausführlich vor: Meredith McClain/Reinhold Wol (Hg.): Karl May im Llano Estacado. 339 S., 13,-- € Zu beziehen über die Zentrale Bestelladresse der KMG (s. rechts).

64 Mitteilungen der KMG Nr. 182/Dezember 2014 Siglenverzeichnis

GR XXI Karl May’s gesammelte Reiseromane [ab Bd. XVIII: Reise- erzählungen]. Freiburg 1892. (Reprint, hg. von Roland Schmid. Bamberg 1982–1984) (hier: Band XXI) GW 35 Karl May’s Gesammelte Werke (bis 1945: Radebeul; ab 1950: Bamberg) (hier: Band 35) HKA III.1 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger, ab 1999 von Hermann Wiedenroth, ab 2008 von der Karl-May-Gesell- schaft. Nördlingen 1987., Zürich 1990., Bargfeld 1994., Bamberg/Radebeul 2008. (hier: Abteilung III, Band 1) JbKMG Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1970., Hu- sum 1982. KMG-N KMG-Nachrichten KMJb Karl-May-Jahrbuch. Breslau 1918, Radebeul 1919–1933, Bamberg 1978–1979 LuS Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910 (Reprint, hg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 1975; 31997) LuS-HKA Karl May: Mein Leben und Streben. In: ders.: Mein Leben und Streben und andere Selbstdarstellungen (HKA VI.1, 2013) M-KMG Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft SoKMG Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft

Original-Zitate und -Titel von Karl May sind stets durch Schrägschrift gekenn- zeichnet.

Unsere aktuellen Publikationen

Sonderhefte Nr. 150 René Grießbach: Eugène Sues Roman ›Die Ge- 5,00 € heimnisse von Paris‹ und seine Wirkung auf das schriftstellerische Werk Karl Mays. 113 S. Nr. 151 Christopher Schulze: Karl Mays -Bild. Er- 5,00 € zählerische Gestaltung und Funktion der Frem- de. 71 S. Juristische Schriftenreihe Bd. 1 Jürgen Seul: Das Strafverfahren Karl May versus 8,50 € Emil Horn. Karl Mays Prozess gegen den ›Ho- henstein-Ernstthaler Anzeiger‹. 2., überarb. Auf- lage. 115 S. Materialien zum Werk Karl Mays Bd. 5 Hans-Joachim Jürgens: Ästhetische Bildung, lite- 11,50 € rarisches Schreiben und Neue Medien. Zum di- daktischen Potential von Karl Mays Erzählungen für die Jugend. 391 S. Zentrale Bestelladresse: Ulrike Müller-Haarmann • Gothastr. 40 • 52125 Bonn Fax: 032222/487474 • [email protected] Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Impressum

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