1964 – Das Jahr, Mit Dem »68« Begann
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Robert Lorenz, Franz Walter (Hg.) 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen Herausgegeben von Franz Walter | Band 7 Robert Lorenz, Franz Walter (Hg.) 1964 – das Jahr, mit dem »68« begann Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCom- mercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/. Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wieder- verwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] © 2014 transcript Verlag, Bielefeld Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Katharina Rahlf, Göttingen Satz: Dr. Robert Lorenz, Göttingen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2580-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2580-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt 1964 Anfänge des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels Robert Lorenz, Franz Walter | 9 Rassist und Aktivist Der Boxchampion Cassius Clay als Teil amerikanischer Gegenkultur Lars Geiges | 33 Von Atombomben und Kommunisten Heinar Kipphardt und das Dokumentarische Theater der 1960er Jahre Felix Butzlaff | 55 Hase, Hut und Happenings Die 68er als soziale Plastik? Julia Kiegeland | 67 Pop Art in Deutschland Wegbereiterin politischer Revolution? Miriam Zimmer | 81 Mythos Minirock Eine Modeikone der 1960er Jahre zwischen Emanzipation, Jugend und Massenkonsum Jens Gmeiner | 97 Die Symbiose des Steinkäfers Rolling Stones und Beatles als Soundchronisten und Modernitätsmotoren Jöran Klatt, Katharina Rahlf | 111 „Oberkommando Warentest“ Im Dienst der Verbraucheraufklärung Stine Marg | 133 Weigerung und Eschatologie Die neue Linke entdeckte den alten Herbert Marcuse Franz Walter | 149 „Ein Preis wird vergeben, und ich lehne ihn ab.“ Jean-Paul Sartre, der Philosoph der Freiheit, nimmt sich die Freiheit, den Literaturnobelpreis abzulehnen Teresa Nentwig | 169 Nelson Mandela – im Kampf um Ideale Seine Verurteilung im Rivonia-Prozess am 12. Juni 1964 Lisa Brüßler | 187 „Let my people go!“ Martin Luther Kings Besuch in West- und Ostberlin Robert Lorenz | 199 Willy Brandt und die 1960er Jahre Sein Debüt auf der politischen Bühne Yvonne Blöcker | 219 Das Ende der Eiszeit Der Weg zum ersten Passierscheinabkommen von 1963/64 Oliver D’Antonio | 231 Katastrophe und Reform Georg Pichts bildungspolitische Interventionen Sören Messinger | 247 Die Kampagne vor dem Dogma Die Ostermärsche und das Jahr 1964 David Bebnowski | 259 Vom Herz der deutschen Industrialisierung zum Kulturartefakt Das Zechensterben im Ruhrgebiet Julia Kopp | 275 Der verschwundene Mensch Die Rationalität des Krieges und die Suspension des Ethischen am Beispiel des Krieges in Vietnam Christopher Schmitz | 287 Von der Fremdbestimmung in den reaktionären Kampf Die Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation Roland Hiemann | 307 Vor dem Kahlschlag Eine Reise durch die DDR des Jahres 1964 Michael Lühmann | 327 1968 Kulminationspunkt und politische Eruption Robert Lorenz, Franz Walter | 343 Autorinnen und Autoren | 373 1964 Anfänge des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels ROBERT LORENZ, FRANZ WALTER Inzwischen gilt 1968 in der Zeitgeschichtsforschung als eine Art Eruptionsjahr, in dem sich diverse Entwicklungen manifestierten, die bereits deutlich zuvor be- gonnen hatten – als Kulminationspunkt sozialen Wandels.1 In diesem Zeitraum der späten 1950er bis Ende der 1960er Jahre, dem Prolog des Jahres 1968, sticht allerdings 1964 als ein besonders ereignisreiches Jahr hervor, in dem sich vieles von „68“ bereits andeutete. Freilich griffe die Behauptung zu weit, 1968 sei das soziopolitische Kondensat von 1964. Trotzdem verdichteten sich 1964 soziale und politische Phänomene zu einem Konglomerat gesellschaftlicher Modernisie- rung, wie vielleicht in keinem Jahr danach. „DAS SCHWEIGEN“, NO BRA-BRAS UND DIE BEATLES – KULTURWANDEL Mit Erstaunen stellten bereits zeitgenössische Beobachter fest, dass sich in West- deutschland, getragen von den jungen Nachkriegskohorten, ein tiefgreifender Gesellschaftswandel ankündigte: „Wenn wir von Kleidung, Unterhaltung, Ver- 1 Vgl. exemplarisch Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Ge- schichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belas- tung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49; Schildt, Axel/ Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2003. 10 | ROBERT LORENZ, FRANZ WALTER haltensweise, Moral und Wünschen ausgehen, würden sich die jungen Deutschen fast überall zwischen Oslo und Rom zwanglos einfügen. […] In Deutschland ist das Leben kosmopolitischer und urbaner geworden.“2 Und nicht nur in dieser kulturellen Aufgeschlossenheit und Experimentierfreude meint man die späteren „68er“ zu erkennen: Die seinerzeit Jüngeren „versagen sich zwar einer Autorität, die sich nur formal zu begründen weiß, aber sie sehnen sich nach Menschen, die sie durch ihre Souveränität überzeugen und denen sie dann ihr ganzes Vertrauen schenken können. […] Zweifellos wählen viele den Weg der Resignation, der sie zum Rückzug in den kleinen durchschaubaren Intimbereich verführt. Daneben aber mobilisiert jene Erfahrung eine erstaunliche Hingabe an die Suche nach Er- kenntnis und Information. […] Man will nüchtern und sachlich, redlich und un- bestechlich Zusammenhänge und Hintergründe kennenlernen, denn man möchte sich auf keinen Fall mehr von fremden Autoritäten irgendeine Konzeption oder Ideologie, mit der die Welt erklärt werden soll, überstülpen lassen, sondern man will Boden unter die Füße bekommen und diesen Boden sich selbst in sachli- chem Bemühen erobern.“3 Der Eindruck, dass es sich hierbei um prophetische Worte handelt, scheint durch soziologische Befunde bestätigt zu werden: Den in der Nachkriegszeit Aufgewachsenen, die keinerlei unmittelbaren Kontakt mehr mit NS-Organisationen hatten, waren klassische Autoritäten wie Eltern, Lehrer, Vorgesetzte oder die Kirche begründungspflichtig, von ihnen ließ sich kaum Ge- horsam einfordern.4 Denn sie hatten sich durch ihre verschiedentlich geartete Mitwirkung an der nationalsozialistischen Diktatur diskreditiert; außerdem bezo- gen die jungen Bundesrepublikaner ihr Wissen in wachsendem Ausmaß aus den expandierenden Massenmedien. Die zunehmende Liberalität der westdeutschen Gesellschaft zeigte sich in den Reaktionen auf unterschiedliche Ereignisse und Entwicklungen sowie in di- versen sozialen, politischen und kulturellen Evolutionsstadien. Ein Artikel der Zeit porträtierte den Playboy anlässlich dessen zehnjährigen Jubiläums nicht et- wa als primitives Schmuddelheft, sondern als „ein leichtsinniges Wesen, das man nicht an der leicht ungenauen Elle der Tugend messen“ dürfe, das aufgrund seiner Fähigkeit, sich „über die eigene Pornographie lustig zu machen oder: den Sex zu vergaggen“, am Ende „so amüsant, so lächerlich, so spielerisch“ sei.5 2 Birnbaum, Norman: Deutschland im Jahre 15, in: Der Spiegel, 12.08.1964. 3 Stammler, Eberhard: Welt der Söhne, in: Christ und Welt, 30.10.1964. 4 Vgl. Köcher, Renate: Freiheit, Gleichheit, Autorität und Norm – ungeklärte Verhält- nisse, in: Noelle-Neumann, Elisabeth/Köcher, Renate: Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, S. 282-355, hier S. 292-300. 5 O.V.: Der Platz, wo alles klar ist, in: Die Zeit, 10.01.1964. 1964 | 11 Und obwohl Ingmar Bergmans „Das Schweigen“ zum nach herkömmlichen Mo- ralmustern inakzeptablen Skandalfilm taugte, stieß der Film nicht nur auf erbit- terte Empörung, sondern auch auf starke Sympathien. Offenbar war die sexuelle Freizügigkeit soweit fortgeschritten, dass der Film zwar polarisierte, jedoch kei- ne einhellige Ablehnung hervorrief: „Die einen halten den Film für ein großes Kunstwerk, die anderen für ein pornographisches Machwerk […]“6, die Filmbe- wertungsstelle verlieh ihm sogar das Prädikat „Besonders wertvoll“.7 Die Grenze zu dem, was als unanständig galt, verschob sich, ursprünglich laszive Kleidungs- stücke wie der Minirock normalisierten sich zum gewöhnlichen Bestandteil des alltäglichen Bekleidungssortiments.8 Auch die Provokationen des Modedesig- ners Rudi Gernreich mit dem „No-bra bra“ beziehungsweise dem „Monokini“ stießen eher auf Neugier als Ablehnung, selbst in etablierten und seriösen Zei- tungen.9 Und der exzentrische Modekosmos, in dem sich die Grenzziehung der Bekleidungsstile vollzog, war bereits damals von Designstätten geprägt, die auch heute noch existieren: Dior, Yves St. Laurent und Pierre Cardin.10 Auch im Kunstsektor respektierten die Westdeutschen unkonventionelle Werke: Die „Pop-Art“-Ikonen Roy Lichtenstein, Andy Warhol