Dossier Geschichte und Erinnerung

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 2

Einleitung

Debatten wie beispielsweise um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas zeigen, wie gegenwärtig die Vergangenheit ist. Der Umgang mit der deutschen Geschichte wird auch in Zukunft Thema in Politik und Gesellschaft sein, wird Wissenschaft und Unterricht beschäftigen und auch in den Familien immer wieder diskutiert werden – denn Geschichte wird in jeder Generation neu erzählt.

Und dies geschieht zunehmend auch als Medienereignis und lockt Millionen vor die Fernseher. Aber können Dokudramen und historische Spielfilme den Geschichtsunterricht ersetzen? Wie verändern die neuen Medien unser Bild von der Vergangenheit? Und wie vermittelt man Geschichte an die kommenden Generationen und an Jugendliche z.B mit polnischen oder türkischen Wurzeln?

Das Dossier bietet einen Überblick über die Geschichte der Erinnerungskultur in beiden deutschen Staaten, blickt zurück auf vergangene Kontroversen und sucht nach Antworten, wie die Erinnerung in Zukunft aussehen könnte. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit nationale kollektive Erinnerungen von einem gemeinsamen europäischen oder transnationalen Gedächtnis abgelöst werden können.

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Inhaltsverzeichnis

1. Geschichte - Erinnerung - Politik 5

1.1 Gedächtnis-Formen 6

1.2 Politik mit Geschichte – Geschichtspolitik? 9

1.3 Geschichtsmythen und Nationenbildung 14

1.4 Mythen der Neutralität 18

1.5 Kollektives Gedächtnis 26

1.6 Institutionen und Erinnerungen 29

1.7 Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive 34

1.8 Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung 48

2. Erinnerungskultur 60

2.1 Geschichte der Erinnerungskultur in der DDR und BRD 61

2.2 Erinnerungskultur in der DDR 66

2.3 Keine gemeinsame Erinnerung 70

2.4 Regieren nach Auschwitz 78

2.5 Zur Debatte: Flucht, Vertreibung, Versöhnung 83

2.6 "Unser Papa war in Stalingrad." 86

2.7 "Onkel Hitler und Familie Speer" - die NS-Führung privat 92

2.8 Von Brussig bis Brecht 102

2.9 Kollektive Erinnerung im Wandel 106

2.10 Die Akten schließen? 122

2.11 Die DDR im vereinten Deutschland 126

3. Zukunft der Erinnerung 133

3.1 Holocaust-Erziehung 134

3.2 Holocaust-Erziehung und Zeitzeugen 138

3.3 Erinnern unter Migranten 143

3.4 Erinnerung ohne Zeugen 146

3.5 Medien und Erinnerung 151

3.6 Erinnern in Europa 157

3.7 Erinnern global 160

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3.8 Virtuelles erinnern 164

3.9 Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis 172

3.10 Zur Zukunft der Erinnerung 180

4. Linkliste Webangebote zum Thema Geschichtslernen 188

5. Redaktion 189

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Geschichte - Erinnerung - Politik

3.6.2008

Jede Generation erzählt die Vergangenheit neu. Dabei wird unser Geschichtsbild geprägt von Politik und Gesellschaft, von Wissenschaft und Medien. Aber wie entstehen unsere Geschichtsbilder und was beeinflusst unser Geschichtsbewusstsein? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Politik und Geschichte? Und welche Aufgabe hat die Geschichtswissenschaft bei der Konstruktion des Gewesenen?

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Gedächtnis-Formen

Von Aleida Assmann 26.8.2008 ist seit 1993 Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu Ihrem Forschungsgebiet gehören u.a die Themen: Deutsche Erinnerungsgeschichte nach dem 2. Weltkrieg, kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung und Gedächtnistheorie.

Unser Gedächtnis ist eine gigantische Sammlung von Daten. An manches erinnern wir uns ein Leben lang, anderes vergessen wir wieder. Woran liegt das? Wird unser Gedächtnis in Zeiten der Medienkultur schlechter? Haben wir alle ein Google-Gedächtnis?

Verkörpert oder ausgelagert

Durch die Möglichkeit, etwas aufschreiben zu können, erweitern Menschen und Kulturen die Reichweite ihres Merkvermögens. Der externe Speicher der Aufzeichnung erweitert und entlastet das Gedächtnis; damit entsteht zugleich eine wachsende Diskrepanz zwischen dem verkörperten Gedächtnis und dem extern Gespeicherten. Bibliotheken und Archive sind gigantische Datenspeicher, an die man sich anschließen und aus denen man schöpfen kann, aber sie garantieren nicht den Fortbestand lebendig verkörperten oder memorierten Wissens, dessen Umfang in einer Schriftkultur und erst recht in einer elektronischen Medienkultur immer geringer wird. Heute verlassen wir uns auf unser Google- Gedächtnis; der schnelle Zugriff auf Wissen ist uns wichtiger als der Besitz von Wissen.

Das kulturelle Gedächtnis gliedert sich in zwei Bereiche, die sich wie Vorder- und Hintergrund zueiander verhalten: ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis sammelt und bewahrt Quellen, Objekte und Daten, unabhängig davon, ob sie von der Gegenwart gebraucht werden; wir können hier noch einmal von einem passivem Gedächtnis sprechen. Das Funktionsgedächtnis ist demgegenüber ein aktives Gedächtnis; es enthält die jeweilige kleine Auswahl dessen, was eine Gesellschaft jeweils von der Vergangenheit auswählt und aus dem Bestand ihrer kulturellen Überlieferung aktualisiert.

Der Prozess der Auslagerung von Wissen in Schrift ist also keine Einbahnstraße, sondern wird durch Rückkoppelungen an Gedächtnisse und persönliche Wiederaneignungen beantwortet. Diesen verkörperten Schatz kulturellen Wissens nennen wir Bildung. Kanonisierte Klassiker werden auswendig gelernt oder sind zumindest in Zitaten präsent, Museen kanonisieren Bilder und Skulpturen in ihren Dauerausstellungen, Monumente halten die Vergangenheit physisch präsent, Jahrestage holen historische Ereignisse in regelmäßigem Turnus zurück in die Gegenwart.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 7 individuell versus kollektiv

Während niemand je angezweifelt hat, dass es ein individuelles Gedächtnis gibt, gibt es viele, die den Begriff 'kollektives Gedächtnis' für eine reine Mystifikation halten. Bereits Maurice Halbwachs, der diesen Begriff in den 1920er Jahren einführte, stieß auf Kritik und Misstrauen. Kritiker, die unter dem Begriff so etwas wie einen kollektiven Volksgeist verstanden, meldeten berechtigte Skepsis an. Die Forschungen von Halbwachs gingen jedoch in eine ganz andere Richtung. Er untersuchte Formen eines sozialen Gruppengedächtnisses, an dem jene partizipieren, die einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund haben wie eine Familie, eine Schulklasse, ein Soldatenregiment oder eine Reisegruppe.

Er hat gezeigt, dass Erinnerungen von Haus aus sozial sind und den kommunikativen und emotionalen Kitt einer Gruppe bilden. Seine radikale These war, dass Menschen überhaupt kein im strikten Sinne individuelles Gedächtnis ausbilden, sondern immer schon in Gedächtnisgemeinschaften eingeschlossen sind. Das Gedächtnis bildet sich – ähnlich wie die Sprache – in kommunikativen Prozessen aus, d. h. im Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen in Näheverhältnissen. Wer ganz allein ist, kann nach Halbwachs überhaupt kein Gedächtnis ausbilden.

Wer den Begriff 'kollektives Gedächtnis' nicht nur auf sozialen Kleingruppen in face to face Situation, sondern auch auf Großgruppen wie Ethnien, Nationen und Staaten anwendet, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass solche Einheiten kein kollektives Gedächtnis haben, sondern sich eines machen mithilfe unterschiedlicher memorialer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern, Jahrestagen und Kommemorationsriten. Mithilfe gemeinsamer Bezugspunkte in der Vergangenheit und der kulturellen Überlieferung machen sich solche Kollektive zugleich eine Wir-Identität, die nicht Sache der Herkunft und Abstammung ist, sondern der Teilhabe in Form von Lernen, Identifikation und anderen Formen praktizierter Zugehörigkeit.

Bis vor kurzem folgten die Regeln der Auswahl von Bezugspunkten der Vergangenheit dem, was Nietzsche als 'monumentalische Geschichtsschreibung' definiert hat; es ging darum, ein heroisches Selbstbild der Gruppe zu konstruieren und es mithilfe von Feindbildern mythisch zu überhöhen. Eine entscheidende Wende vollzog sich in der Vergangenheitspolitik seit den 1990er Jahren, als verschiedene Staaten damit begannen, ihre historische Schuld zu reflektieren und in Formen öffentlicher Bekenntnisse in ihr Selbstbild aufzunehmen.

Trauma

Trauma bezieht sich auf ein Erlebnis, das so schmerzhaft ist, dass sich die Pforten der Wahrnehmung vor dieser Wucht schließen. Als etwas, das im Rahmen der Identitätskonstruktion einer Person nicht erzählbar und nicht erinnerbar ist, wird es vom Bewusstsein abgespalten und eingekapselt. Was in der Kapsel oder Krypta verschlossen ist, wird nicht etwa vergessen, sondern im Abseits konserviert und macht sich nach einem gewissen zeitlichen Intervall durch eine bestimmte Symptomatik bemerkbar. Die Therapie zielt darauf, das Trauma in bewusste Erinnerung zu transformieren und mit der Identität der Person zu vermitteln. Dadurch kann es zwar nicht geheilt, aber in seiner destruktiven Kraft entschärft werden.

Das Spezifische am Trauma sind die Langzeitfolgen bei Opfern von sexuellem Missbrauch oder Folter, weshalb für solche Vergehen die Verjährungsfrist aufgehoben wurde. Beim kollektiven Geschichts- Trauma des Holocaust ist die Nachträglichkeit ebenso evident; es hat bis in die 1980er Jahre gedauert, bis die schmerzhaften und entwürdigenden Erfahrungen der Opfer erzählbar wurden und ihnen Gehör geschenkt wurde. Der Begriff des moralischen Zeugen, der den Toten unter den Opfern eine Stimme gibt, gehört in diesen Zusammenhang. Inzwischen sind neben dem Holocaust andere Genozide ins Weltbewusstsein getreten, die symbolische Anerkennung und materielle Restitution einfordern. Dazu gehört u.a. der Genozid an den Armeniern, die so genannte Middle Passage der aus Afrika deportierten Sklaven, die Ureinwohner der Vereinigten Staaten Amerikas, Kanadas und Australiens.

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Zur Nachträglichkeit historischer Traumata gehört auch, dass sie von einer Generation zur anderen gewissermaßen vererbt werden. Die Nachgeborenen, die sich mit diesen Familien-Schicksalen identifizieren, werden auf diese Weise zu Mitgliedern einer 'Leidgenossenschaft'. In diesem Zusammenhang ist es zu einem neuen geschichtspolitischen Problem gekommen: politische Gruppen stützen ihre Identität auf ein 'auserwähltes Trauma' (Vamik Volkan) und treten mit anderen in eine Opfer-Konkurrenz.

Das Gedächtnis entwickelt sich nicht in Isolation, sondern ist immer schon sozial auf andere Individuen und, auf politischer Ebene, auf andere Gruppen bezogen, wo es auf andere Gedächtnisse reagiert und Bezug nimmt. Die Nachträglichkeit der Erinnerung, die beim Trauma so auffällig ist, gilt für das Gedächtnis überhaupt. Deshalb richtet sich das, was wir erinnern, nicht nach dem, was eigentlich gewesen ist, sondern danach, wovon wir später eine Geschichte erzählen können. Was aus der Vergangenheit erinnert wird und was nicht, hängt letztlich davon ab, von wem und wozu die Geschichte gebraucht wird.

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Politik mit Geschichte – Geschichtspolitik?

Von Peter Steinbach 28.3.2008 Peter Steinbach ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim und Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in .

Die mitunter heftigen Auseinandersetzungen um Denkmäler, Museen und Gedenktage zeigen: Deutungen der Vergangenheit sind immer auch ein Politikum. Geschichtspolitik lässt sich nicht abschaffen. Aber sie lässt sich durchdringen und durchschauen.

Geschichte ist vor allem in einer pluralistischen Gesellschaft umstritten und wird nicht selten zum Politikum. Das zeigte sich in Deutschland vor allem seit Mitte der achtziger Jahre. Bis dahin waren Gedenktage häufig unspektakulär und wenig kontrovers verlaufen. Erstmals schien Ende der sechziger Jahre mit dem 50. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution ein politisches Datum bewusst gefeiert zu werden.

Das spiegelte im Jahr der Gründung der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brand und Walter Scheel einen politischen Wandel, der dann zwei Jahre später mit dem 100. Jahrestag der Reichsgründung noch einen besonderen geschichtspolitischen Akzent durch die Gründung der Erinnerungsstätte an die deutsche Freiheitsbewegung in Rastatt erhielt.

Seitdem aber diskutierten die Deutschen immer intensiver über die angemessene Form des Gedenkens: Angesichts des Kriegsendes 1975 und vor allem dann 1985, im Jahr der berühmten Weizsäcker-Rede. Inzwischen war die Auseinandersetzung um die Geschichte zu einem Politikum geworden, bei dem es äußerlich um die Reflexion von Grundlagen des Geschichtsverständnisses und Geschichtsbildes, theoretisch um Fragen politischer Identität, im Kern aber um den Kampf ging, der einer Klärung von Begriffen und damit auch von Deutungsinhalten und Vorstellungen von der Vergangenheit in der Gegenwart vorausging.

Geschichtspolitik zielte also nicht nur auf das Bild von der Vergangenheit, sondern es ging um die Macht über Köpfe, ging um die Beeinflussung von Zukunft. Aber die Politik mit Geschichte war auch mehr als ein Streit um Begriffe, die für historisch legitimierte politische, gegenwärtige Bewertungen standen. In den achtziger Jahren war Deutschland noch geteilt, und neben den aktuellen Kontroversen, die vor allem in der Bonner Bundesrepublik nur die westdeutsche Gesellschaft mit den immer wieder aufbrechenden Debatten etwa über das Jahr 1968 und dessen Folgen aufbrachen, schienen in wesentlichen Fragen, die die Zeit zwischen Kaiserreich und Kaltem Krieg betrafen, zwei deutsche Geschichtsbilder aufeinander zu prallen. Das zeigte sich vor allem in der Auseinandersetzung um Weizsäckers Rede zum 9. Mai 1945 – für die einen Ausdruck innerer Befreiung, für die anderen Beispiel einer integrativen Rede, die jedem – vom Ausgebombten über den Vertriebenen bis zum Kriegsgefangenen – lebensgeschichtliche Anknüpfungsmöglichkeiten bot. Im Zusammenhang mit dieser Debatte zeichneten sich erstmals Konturen einer heftigen Auseinandersetzung ab, die man wenig später "Historikerstreit" nannte. In dieser Kontroverse fiel dann erstmals ein neuer Begriff, der ein zukünftiges "Politikfeld" markieren sollte: "Geschichtspolitik".

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 10 Deutung der Geschichte

Gewiss gab es in der Nachkriegszeit immer Streit um die Deutung der Geschichte. In pluralistischen Gesellschaften spielt sich dieser Streit in den Medien ab, Betroffene können reagieren, kritisieren, alternative Deutungen entfalten und durchsetzen. Die Regierung fungiert im Westen als Akteur geschichtspolitischer Auseinandersetzungen. Sie kann Gedenkveranstaltungen prägen, Gedenkstätten einrichten, Museen ausstatten, durch Reden Akzente setzen. Ihre Interpretation der Vergangenheit können Regierungen aber in der Regel nicht ohne weiteres durchsetzen, denn bürgerschaftliches Engagement führt zu Initiativen, die Korrekturen der Deutungen bewirken und auf die Politiker nur reagieren können. Bürgerschaftliches Engagement zielt auf die Errichtung wichtiger Gedenkstätten, die angemessene Würdigung von Orten des Leidens und der Verfolgung, und immer wieder werden Gefängnisse, Konzentrationslager oder sogar brach liegende Gelände wie das Grundstück der ehemaligen -Zentrale in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße vor dem Vergessen bewahrt.

Bürgerschaftliches Engagement ermöglicht so vielfach Erinnerung, wie Regierungsstellen zum Handeln veranlasst werden. So ist seit den achtziger Jahren das Jüdische Museum und das Denkmal für die ermordeten Juden Europas entstanden, so wurde die Initiative zur Errichtung der Topographie des Terrors zum Erfolg. Zugleich werden Versuche, Museen mit staatsoffizieller Unterstützung zu errichten, durch gesellschaftliche Initiativen verändert und verbessert, wie das "Haus der Geschichte" und auch das "Deutsche Historische Museum" zeigen. Nach 1989 erstreckt sich das Interesse auf ähnliche Einrichtungen, die der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und der deutschen Teilung dienen. Immer kommt es zu Konflikten, aber unter dem Strich ist das Ergebnis derartiger Auseinandersetzungen ein gesellschaftlich akzeptierter politischer Kompromiss.

Erinnerungskontroversen

In diktatorischen Systemen schalten sich in der Regel die Herrscher persönlich in diesen Kampf ein und betreiben Geschichtspropaganda. Das macht die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen im geteilten Deutschland so brisant. Seit den achtziger Jahren ging es deshalb nicht mehr nur um Deutungen der Vergangenheit, sondern um die Ausgestaltung von Institutionen wie Museen, Denkmäler, Gedenkstätten oder Gedenkfeiern. Begonnen hatte der Streit um historische Deutungen im Spannungsfeld der "politischen Generationen" bereits mit der Auseinandersetzung um die Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg, der berühmten "Fischer Kontroverse" in den sechziger Jahren. Neue Aktenfunde machten in den fünfziger Jahren deutlich, dass das Kaiserreich keineswegs in den Weltkrieg "hineingeschlittert" war, sondern dass die deutsche Führung die kriegerische Auseinandersetzung 1914 gesucht hatte. Damit stellte sich das Kontinuitätsproblem: Lag der Keim für den nationalsozialistischen Griff nach der Weltherrschaft nicht in der Wilhelminischen Zeit?

Aber erst Mitte der Achtziger hatte sich die Auseinandersetzung auf einer anderen Ebene erneut und zunächst fast unbemerkt zugespitzt. Er schien zunächst vor allem die Gegensätze zwischen Achtundsechzigern und den Vorachtundsechzigern zu spiegeln. Der Streit wurde sehr schnell in den Zusammenhang der geschichtspolitischen Kontroversen gerückt, die mit dem Regierungsantritt von begonnen hatten. Dabei ging es nicht allein um die Deutung der Zeitgeschichte: im Zentrum stand das Verhältnis der Deutschen zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als ein planvoll verwirklichter und bewusst intendierter Akt.

Wohl immer versuchen politische Führungsgruppen, Identitäten durch eine sinnhafte Deutung der Vergangenheit zu schaffen. Und immer werden dann Historiker zu Mitspielern der Politik. 1988 klang diese Auseinandersetzung in einigen Buchveröffentlichungen von Historikern an, die in der Kontroverse um den Ort von Auschwitz in der deutschen Geschichte die folgerichtige Fortsetzung grundsätzlicher Auseinandersetzungen um die Erforschung und Deutung deutscher Geschichte auch in politischer Absicht sahen. Rasch bemächtigen sich Außenstehende aus politischen Gründen dieses Streits: Die Deutung der Geschichte steht unter dem Einfluss verschiedener Interessen. Auseinandersetzungen der Historiker fordern die Öffentlichkeit heraus. Deshalb knüpfte die geschichtspolitische Kontroverse an den bereits erwähnten ersten Streit deutscher

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Historiker, die Fischer-Kontroverse über die deutsche Kriegsschuld 1914, an. Es ging aber nicht allein um die Frage nach der deutschen "Kriegsschuld" im Ersten Weltkrieg, sondern um die bewertende Verortung des "Dritten Reiches". Wie tief, so fragte man, reichen dessen Wurzeln - wie viel vom Wurzelwerk des deutschen Obrigkeitsstaates beeinflusste die deutsche Demokratie nach dem Ende des NS-Staates? Auf dem Höhepunkt der so genannten Fischer-Kontroverse hat einmal ein unaufgeregter und klug distanzierter Beobachter der Wochenzeitung "Die Zeit" formuliert, der Streit zwischen den Geschichtswissenschaftlern sei stets eine wesentliche Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt innerhalb des Faches gewesen. Es war die Hoffnung, dass auch der Historikerstreit diese Wirkung entfalten könnte. Diese Hoffnung trog allerdings.

Dies gilt allerdings nur für die wissenschaftliche Kontroversen, hingegen weniger für geschichtspolitische Auswirkungen dieses "Historikerstreits", der 1986 scheinbar aus der Frage erwuchs, ob man die nationalsozialistische Diktatur mit anderen Diktaturen vergleichen könne, und eigentlich die Frage in den Mittelpunkt rückte, was letztlich und eigentlich für den Nationalsozialismus "ursächlich" sei. Die Antwort musste klar sein: Singulär für die deutsche Geschichte war der Völkermord an den europäischen Juden. Hier lag ein entscheidender Bezugspunkt für das deutsche Geschichtsbewusstsein. Niemand forderte, es solle "in Auschwitz aufgehen". Unstrittig war aber die Bedeutung dieses Tiefpunkts deutscher Vergangenheit für die Konditionierung einer historisch reflektierten politischen Nachkriegsethik. Vor allem dieser letzte Aspekt machte die Kontroverse zum Politikum. Bei dieser Auseinandersetzung ging es nämlich nicht mehr um die Absicherung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf der Grundlage neuer Quellen oder methodologischer Kritik, sondern es ging zu einem ganz wesentlichen Teil um die Akzentuierung des Stellenwerts zeithistorischer Argumente für die Politik. Es ging also um gedeutete Politik, nicht um die Rekonstruktion einer Vergangenheit, die nicht vergehen kann – schlicht: weil sie war.

Aber um die Anerkennung und das Verständnis des nicht mehr Veränderlichen geht es der Geschichtspolitik. Dies berührte vor allem die Grenzfrage. Bis in die sechziger Jahre hinein verzeichneten deutsche Atlanten die deutschen Grenzen nach dem Stand des Jahres 1937 und wiesen darauf hin, dass die deutschen Ostgebiete nur unter "polnischer Verwaltung" stünden. Irgendwie schien das Kriegsende offen, solange nicht ein förmlicher Friedensvertrag geschlossen sei. Mit der Ostdenkschrift setzte die Evangelische Kirche zwar andere Akzente, aber dies führte ebenso zu geschichtspolitischen Kontroversen wie in den siebziger Jahren die Ostverträge. Auf der anderen Seite wurde die europäische Integration geschichtspolitisch abgesichert, blickte man weit in die Geschichte zurück, um europäische Gemeinsamkeit zu betonen. Geschichte wurde nicht selten konstruiert, um sie gegenwärtigen Interessen einzupassen. Gerade das führte wieder zu politischen Kontroversen, vor allem dann, wenn es um die Erklärung des Scheitern von Demokratien ging.

Geschichtspolitische Strategen wussten: Geschichte ist immer im Kopf. Sie wollen die Filter historischer Wahrnehmung beeinflussen, denn nur dann lässt sich das Eindringen von Geschichtsbildern in die Köpfe der Menschen prägen. Geschichtspolitische Neuakzentuierungen sind deshalb nicht nur Ergebnis von Veränderungen semantischer Bedeutungen, des Kampfes um Begriffe. Sie spiegeln politische Interessen, die mit Hilfe geschichtspolitischer Beeinflussungen und Deutungen durchgesetzt werden sollen. Auch dies zeigte sich deutlich im Historikerstreit. Begriffe wie "Relativierung" oder "Revision" bedeuten wissenschaftlich etwas anderes als im allgemeinen Sprachgebrauch - deshalb sind diese Begriffe nicht nur geeignet, wissenschaftliche Präzisierungen zu erleichtern, sondern auch Missverständnisse zu produzieren. Vielleicht ist die Unschärfe des Begrifflichen sogar beabsichtigt. Denn wenn ein Historiker, der vergleichende Forschungen betreibt, den Begriff der "Relativierung" verwendet, dann deutet er auf diese Weise an, dass er ein Ereignis in eine vergleichende Beziehung zu anderen rückt; wenn jemand im alltäglichen Sprachgebrauch diesen Begriff verwendet, dann bedeutet dies, dass etwas in seiner wahren Bedeutung geschmälert werden solle.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 12 Sprache und Geschichte

Aus dem Spannungsverhältnis von Sprachebenen im Alltag und in der Wissenschaft resultiert der Streit um geschichtspolitisch aufgeladene Begriffe. Semantische Verschiebungen wissenschaftlicher Begriffe in der Alltagssprache lassen sich niemals ganz vermeiden - allerdings hat man gerade deshalb als Wissenschaftler und Pädagoge zu bedenken, wie ein wissenschaftlicher Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet wird und auch: missverstehen lässt. Die wissenschaftliche Zeitgeschichte wendet sich mit ihren Arbeitsergebnissen an die Öffentlichkeit. Sie zielt auf die Prägung des öffentlichen Bewusstseins und des politischen Selbstverständnisses.

Besonders deutlich wurde dies in den geschichtspolitischen Kontroversen, die die deutsche Öffentlichkeit nach dem Fall der Mauer beschäftigten. Manche Auseinandersetzungen zielten auf grundsätzliche Probleme, etwa auf die Frage nach den Handlungs-Spielräumen des Individuums in der Diktatur, nach der Sensibilität des Westens gegenüber Menschenrechtsverletzungen, nach dem Umgang mit denjenigen, die den SED-Staat getragen oder bekämpft hatten. Es wurde aber wiederholt deutlich, dass geschichtspolitische Kontroversen auch Machtfragen beeinflussen wollen. Immer wieder wurden Politiker angegriffen, weil sie Fehleinschätzungen erlegen waren, wurde das Leben ganzer Bevölkerungsgruppen in Frage gestellt. Höhepunkt war ein Wahlkampf, in dem das Symbol der "roten Socken" benutzt wurde und der für Solidarisierungseffekte sorgte, die nicht selten Reaktionen hervorriefen, die die Fronten weiter verhärteten. Der Zugang zu den Unterlagen der Stasi war umstritten, die Rolle einzelner Politiker wie etwa des Fraktionsvorsitzenden Gysi wurde heftig debattiert, und immer wirkte sich dieser Streit auch auf die Deutung des Alltags aus.

Unbestritten ist, dass jeder historische Streit das Bild der Vergangenheit im Bewusstsein der Öffentlichkeit verändert hat. Geschichte ist nicht mehr allein die vergangene Wirklichkeit, auch nicht mehr die Überlieferung von der Vergangenheit im Kopf - deshalb wohl ist Geschichte zum Politikum geworden, um dessen Deutung man sich streitet, weil man Veränderungen im Bewusstsein der Zeitgenossen bewirken kann. Gedeutete Geschichte beeinflusst das Bild, das der einzelne von der Gegenwart hat, prägt seine Wertvorstellungen, sein Gesellschaftsverständnis, sogar seine Zukunftsvorstellung. Aus diesem Grund war es dem Außenstehenden so schwer, den Anlass geschichtspolitisch brisanter Kontroversen zu benennen, die Auswirkungen zu erkennen und vor allem auch anzugeben, welchen Ertrag der Streit um gedeutete Geschichte gebracht hätte. Deshalb haben wir geschichtspolitische Auseinandersetzungen nicht für historische Realitätsdeutung, sondern als inszenierten Konflikt zu begreifen. Wir haben etwa in der rückblickenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht auf demoskopisch manifeste Empfindungen zu schauen, um diese aus den damaligen Stimmungen zu erklären, sondern wir haben nach der Funktion einer forcierten Virulenz dieser Stimmungslagen zu fragen:

1. Geht es um die Frage nach der Bedeutung der Vergangenheit für das politische Selbstverständnis der Deutschen?

2. Steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bolschewismus auf der einen, Nationalsozialismus auf der anderen Seite im Zentrum, oder geht es um Relativierung?

3. Geht es um die Bedeutung der nationalsozialistischen Zeit für das politische Verhalten in der Gegenwart oder um eine sterile Proklamation unterstellter Bedeutung, die nicht selten ritualisiert wird und sich mit konkreten Alltagskonflikten kaum verbinden lässt?

Diese drei zentralen Fragen spiegeln den Kern einer möglichen Auseinandersetzung mit dem vielzitierten "Zivilisationsbruch" und sind gewiss wichtig. Eines darf allerdings nicht geschehen: dass bei der Beantwortung mit dem Blick auf Gegenwartsstimmungen aus dem Blick gerät, was

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 13 nationalsozialistische Diktatur bedeutete:

• Verfolgung der Andersdenkenden

• Rassenantisemitismus

• Entrechtung von Juden und Minderheiten

• Entfesselung eines Rassen- und Weltanschauungskrieges

• 55 Millionen Tote, darunter sechs Millionen Juden, mehr als drei Millionen russische Soldaten, weit über 20 Millionen Zivilisten

Das Ende des Krieges: es befreite die Menschen von einer schrecklichen Zukunft. Europa im 20. Jahrhundert blieb eine Geschichte der Diktaturen, der Menschenrechtsverletzungen, des politischen Wahnsinns, der verantwortungslosen Vorausverfügungen. Daran ändert auch das geschichtspolitische Erinnerungsgerede nichts, das die Auseinandersetzungen um die Geschichte nicht selten auf das Niveau von Talkshows hebt, die man einmal als "Geredezeig" bezeichnet hat. Geschichtspolitisches "Geredezeig" - und so könnte man Talkshow übersetzen - zielt gerade nicht auf Erkenntnis, sondern auf politische Bewegung durch Stimmungen und Stimmungsmache.

Die zentrale Frage selbstkritischen historisch-politischen Fragens richtet sich wohl immer auf das gleiche Problem. "Wie tief", so fragte man sich immer wieder in Deutschland, "wie tief reichen die Wurzeln der nationalsozialistischen Zeit?" Und zugleich stellte man sich der Frage: "Wie viel vom Wurzelwerk des deutschen Obrigkeitsstaates beeinflusst das Wachstum der deutschen Demokratie nach dem Ende des NS-Staates?" So betrachtet, bleibt der Streit von Historikern immer auch eine politische Kontroverse. Deshalb gehört die Auseinandersetzung mit dem Streit um Geschichte in den Politikunterricht, der Geschichtspolitik als ein neues Politikfeld begreift und analysieren will, weil er den aufklärerischen Anspruch historisch-politischer Bildung ernst nimmt. Deshalb müssen sich Pädagogen, Geschichtswissenschaftler und Publizisten stückweise als Akteure aus den aktuellen Geschichtsdebatten ausklinken – denn in der Analyse von Geschichtspolitik geht es nicht um politisch gefügige Deutung der Vergangenheit, sondern um praktizierte Aufklärung in der Kritik intendierter Geschichtsdeutungen.

Es geht nicht darum, Historiker, Geschichtslehrer und Publizisten in ihrer Funktion als Akteure einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Vergangenheit durch Teilnahme an den tagespolitischen Debatten zu stärken, sondern eine Distanzierung von den Streitigkeiten zu erleichtern. In der Durchdringung von Interessen und Machtbestrebungen, die sich des historischen Arguments bedienen und Plausibilität zu suggerieren suchen, liegt ein Moment der Befreiung historisch-politischer Erkenntnis von den tagespolitischen Einflüssen – dies ist eine Voraussetzung der eigenständigen und eigengewichtigen Urteilsbildung. Geschichtspolitik lässt sich nicht abschaffen oder überwinden. Sie bestimmt die Deutung der Vergangenheit in der alltäglichen Politikdarstellung. Aber sie lässt sich durchdringen und auch durchschauen – und so in ihrer verführerischen Brisanz durch suggerierte Schlüssigkeit und politisch instrumentalisierbare Analogiebildung korrigieren. Das ist nicht wenig.

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Geschichtsmythen und Nationenbildung

Von Herfried Münkler 28.3.2008 Prof. Herfried Münkler lehrt Politische Theorie an der Humboldt-Universität in Berlin. Zu seinem Forschungsschwerpunkt gehört u. a. Ideengeschichte.

Mythen sind mehr als Erzählungen, denn sie stiften politische Bedeutung. Sie strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Mythen und Nationenbildung?

Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat die Nation als eine "imagined community" bezeichnet, eine "vorgestellte Gemeinschaft", wie die deutsche Übersetzung lautet. Damit wollte Anderson zum Ausdruck bringen, dass es sich bei der Nation nicht um eine real erfahrene Gemeinschaft handelt, wie etwa die Familie oder den Freundeskreis, sondern dass sie als Gemeinschaft nur in unserer Vorstellungswelt existiert. Aber zugleich hat er darauf Wert gelegt, dass es sich um eine Gemeinschaft und nicht um einen politisch-administrativen Großverband handelt. Mit der Nation kann man sich identifizieren, und sie verleiht dafür im Gegenzug Identität. Das ist bei allein auf Steuerung ausgerichteten Großverbänden nicht der Fall.

Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Nation ist etwas besonderes. Das hat auf dem Scheitelpunkt des Nationalbewusstseins in Europa dazu geführt, dass jede Verletzung der nationalen Grenzen als eine Verletzung des eigenen Körpers erfahren und jeder Angriff auf die nationale Ehre als Attacke gegen die persönliche Ehre wahrgenommen wurde. Auch wenn das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eher selten geworden ist: Man kann die Nation lieben. Dass man den Staat liebt, ist hingegen ungewöhnlich. Der Staat verlangt Opfer, und notfalls erzwingt er sie auch. Für die Nation dagegen werden die Opfer oft freiwillig gebracht. Dass das so war (und teilweise noch ist), hat nicht zuletzt mit den in die Idee der Nation verwobenen Mythen zu tun.

Staat und Nation sind zwei Typen politischer Ordnung, die unabhängig voneinander auftreten können, denen aber eine Tendenz zur Annäherung inhärent ist. Dann spricht man vom Nationalstaat. Dabei kann der Staat die initiierende Größe sein, ebenso aber auch die Nation. In Frankreich etwa ist der Staat, der sich als herrschaftlich-administrative, territorial klar umgrenzte Ordnung herausgebildet hatte, nachträglich nationalisiert worden; dabei kam der Revolution und den anschließenden Kriegen eine zentrale Rolle zu. In Deutschland dagegen, wo eine Fülle von Territorialstaaten entstanden war, die keinen nationalen Anspruch erheben konnten, drängte die Vorstellung der Nation darauf, dass ein an ihrer Reichweite orientierter Staat entstehen solle. Hier wartete die Nation also auf ihre "Verstaatlichung". Dementsprechend unterschiedlich sind die Staats- und Nationsbildungsprozesse in beiden Ländern verlaufen. Bis heute bilden sie die beiden Modelle bzw. Entwicklungspfade, anhand deren Natiogenesen in aller Welt beschrieben und analysiert werden.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 15 politische Mythen

In beiden Fällen freilich haben Mythen eine entscheidende Rolle gespielt, und da beide Länder nicht nur um Grenzgebiete, sondern auch um die Hegemonie in Europa stritten, entstand daraus ein System von Gegenmythen, in dem die je eigene Erzählung die andere Seite ins Unrecht setzte oder aber deren Dignität bestritt. Das begann im späten 15. Jahrhundert mit dem Streit einiger Humanisten über die Frage, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein Franzose gewesen sei. Dieser Streit ist inzwischen dadurch entschärft worden, dass Karl zum ersten Europäer ernannt und so zur gründungsmythischen Referenzgestalt des vereinigten Europa wurde. War die Debatte über Karl ein Streit unter Intellektuellen, so haben die politischen Mythen seit dem späten 18./frühen 19. Jahrhundert buchstäblich "die Massen ergriffen".

Das begann mit dem Mythos der Französischen Revolution. Für die einen markierte die Revolution in Frankreich den Weg, den auch die Deutschen beschreiten mussten; bis vor kurzem gab es zahllose Stimmen, die das Unglück der deutschen Geschichte darauf zurückführten, dass es in Deutschland keine erfolgreiche Revolution gegeben habe. Das "Schmettern des gallischen Hahns", von dem Marx spricht – eine Revolutionsmetapher –, sollte auch die Deutschen auf die Barrikaden rufen. Tatsächlich waren die Pariser Ereignisse der Jahre 1848 wie 1968 das Startsignal für europäische Vorgänge.

Die Gegenformel zu Marx´ gallischem Hahn ist Hegels "Eule der Minerva", von der er sagt, sie beginne erst in der Dämmerung ihren Flug. Für Hegel ist es das Kennzeichen der Philosophie, dass sie aufs Erkennen aus ist und darum die Ereignisse inspiziert, nachdem sie stattgefunden haben. Das "Volk der Dichter und Denker", wie man sich in Deutschland mit Blick auf die Weimarer Klassik und die idealistische Philosophie gern nannte, stellte dem Revolutionsmythos also den Kulturmythos entgegen. Das erklärt auch, weswegen die Formel von den Dichtern und Denkern keine Selbstfeier von Intellektuellen blieb, sondern zum nationalen Identitätsmerkmal wurde. In Frankreich entstand dagegen der Mythos des kritischen Intellektuellen, der die Dinge nicht im Nachhinein inspiziert, sondern politisch interveniert. Auf den von Voltaire bis Sartre reichenden französischen Intellektuellen-Mythos wiederum reagierte man in Deutschland beschämt oder zurückweisend: Die einen beklagten, dass es diesen Typus von Intellektuellen in Deutschland nicht gebe und suchten ihn selbst nachzuahmen; die anderen bezeichneten die Intellektuellen als "Mundwerksburschen" (Gehlen) und hielten ihnen vor, andere die Arbeit tun zu lassen.

Ein anderes Paar im System der Gegenmythen waren Imperialität und antiimperialer Widerstand, die zwischen Deutschland und Frankreich mehrmals hin und her wechselten. Zwar hatten deutsche Humanisten seit dem späten 15. Jahrhundert den Cheruskerfürsten Arminius/Hermann als den ersten historisch identifizierbaren Deutschen herausgestellt und auf dem Höhepunkt der Reformation hatte man Luther und Hermann im Kampf gegen die Bevormundung durch Rom miteinander verbunden – aber so lange, wie sich die Deutschen als Träger des Heiligen Römischen Reiches begriffen, dominierte der Reichsmythos und nicht die Verkörperung des antiimperialen Widerstandes.

Das änderte sich mit dem Ende des Reichs und der Kaiserkrönung Napoleons. Jetzt ließ sich der Hermannmythos politisch scharf machen, und der Kampf gegen die römischen Legionen fand im Widerstand gegen die französischen Divisionen seine Neuauflage. Außerdem konnte man so bequem die Zensur umgehen: Man sagte Rom und meinte Paris. Das änderte sich, als nach 1871 die Kaiserwürde wieder in Deutschland war: Zwar baute man jetzt das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, aber die mythische Überzeugungskraft der Antiimperialität lag nun bei den Franzosen, die den Caesar-Opponenten Vercingetorix entsprechend ausstaffierten. Asterix und Obelix wurden dessen spätere Nachfahren, wobei offen bleibt, von wem aktuell die imperiale Repression ausgeht.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 16 Funktion von Mythen

Halten wir fest: Mythen sind nicht eo ipso unwahre Berichte, wie es ein landläufiges Begriffsverständnis nahelegt, sondern Erzählungen, denen es nicht um historische Wahrheit, sondern politische Bedeutsamkeit geht. Sie stiften Bedeutung – im Raum, indem sie Ereignisse mit bestimmten Orten verbinden, und in der Zeit, indem sie Geschichten erzählen, die der Geschichte Bedeutsamkeit verleihen und sie von der Vermutung des bloß Vergangenen befreien. Politische Mythen sind Interpunktionen der Zeit, sie markieren Zäsuren und stellen Ligaturen her. Sie strukturieren Vergangenheit im Hinblick auf das für uns heute noch Bedeutsame, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Aber das tun sie nicht bloß der besseren Übersichtlichkeit zuliebe, sondern um Einfluss auf die in der Gegenwart lebenden Menschen auszuüben. Mythen verleihen Identität und stiften so Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, für das Individuum wie für sozio-politische Kollektive; aber sie nehmen diese auch in die Pflicht. Man hat sich der Heroen der Vergangenheit würdig zu erweisen.

Politische Mythen sind also keineswegs erbauliche Erzählungen, die wir zum Gegenstand historisch- philosophischer Studien machen können, wie das bei den Mythen der Antike der Fall ist. Solch wissenschaftliche Distanzwahrung ist nur bei bereits erkalteten Mythen möglich; "heiße" Mythen dagegen haben eine direkte Appellstruktur, sie sprechen uns an und nehmen uns in Anspruch. Wir haben Mühe, uns ihnen zu entziehen, zumal dann, wenn sie tief in unsere politische Wahrnehmung eingesickert sind, so dass sie Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte (Koselleck) beherrschen. Man kann "heiße" Mythen also auch daran identifizieren, dass sie die Grammatik der politischen Weltwahrnehmung strukturieren. Wir haben dies vor kurzem an den jugoslawischen Zerfallskriegen beobachten können.

Aber Mythos ist nicht gleich Mythos, auch und gerade nicht mit Blick auf den Prozess der Nationenbildung. Man kann zwischen Gründungs- und Opfermythen unterscheiden, wobei sich die beiden nicht prinzipiell ausschließen, aber unterschiedliche Funktionen haben. Opfermythen können durchaus zu Gründungsmythen werden, aber dann verlieren sie ihre appellative Dimension, fordern nicht mehr neue Opfer, sondern berichten von denen der Vergangenheit, denen wir so viel verdanken. Die Erzählung vom antifaschistischen Widerstand als Gründungsmythos der DDR ist dafür ein Beispiel; sie stand für politische Parteinahme und Identität und markierte eine Trennlinie zur Vergangenheit wie zur Bundesrepublik als einem nach wie vor faschismusanfälligen Staat, gegen den man sich durch den "Antifaschistischen Schutzwall" sichern musste. Der antifaschistische Gründungsmythos verlangte keine neuen Opfer, aber "politische Wachsamkeit" und hochgerüstete Abwehrbereitschaft. Man gedachte der Opfer, damit man keine neuen Opfer bringen musste. Dagegen ist der Nibelungenmythos, gleichgültig, ob er vom Helden Siegfried oder vom Todesritt der Nibelungen zu Etzels Burg handelt, eine Erzählung, die auf neue Opfer und neuen Kampf vorbereiten soll. Hier hat der Mythos eine sakrifizielle Dimension, und dementsprechend ist er auch eingesetzt worden.

Deutsche Gründungsmythen

Ein gänzlich opferfreier Gründungsmythos ist dagegen die Erzählung von Währungsreform und Wirtschaftswunder in der alten Bundesrepublik, die der Legitimation einer bestimmten Wirtschaftsordnung und der Abgrenzung gegen die DDR diente. Auch antifaschistischer Widerstand und Wirtschaftswunder bildeten eine gegenmythische Struktur, in der sich beide Seiten wechselseitig jene Legitimation bestritten, die sie sich selbst attestierten: Die DDR, indem sie die Bundesrepublik in die Kontinuität des Faschismus stellte, die Bundesrepublik, indem sie der DDR ihre Versorgungsdefizite und ihre wirtschaftlichen Mängel vorhielt. Beide Mythen sollten zunächst nicht zur Natiogenese dienen, sondern vielmehr konkurrierende Ansprüche auf den zu richtigen Weg zur deutschen Einheit markieren. Aber mit Vertiefung der Teilung wurden sie doch zu Elementen eigener Nationenbildung, gezielt im Osten, wider Willen im Westen. Erst der Zusammenbruch der DDR hat dem ein Ende gesetzt.

Die Wirkung von Geschichtsmythen entfaltet sich nicht bloß über Erzählungen, sondern dazu dienen auch Bilder und Feste. Zur narrativen Extension kommen ikonische Verdichtungen und rituelle

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Inszenierungen hinzu: Nur wenn alle drei Dimensionen zusammenwirken, können Geschichtsmythen ihre ganze Kraft entfalten. Die Denkmalsgründer haben das immer schon gewusst und versucht, den Mythen eine Gestalt zu verleihen. Der Mythos sollte sich nicht im Ungefähren verlieren, sondern brauchte einen Ort, an dem er in rhythmischer Wiederholung in Szene gesetzt werden konnte. So gewann er Präsenz in Raum und Zeit. An solchen denkmalbewehrten Orten lässt sich auch das Schicksal der Mythen beobachten – etwa dann, wenn nur noch Touristen zum Picknick kommen. Dann hat sich der Schauder des Sakralen verloren der "heißen" Mythen eigen ist. Hier kann man sich aufhalten, ohne in die Pflicht genommen zu werden.

Literatur

Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hgg.): Mythen in der Geschichte, Freiburg/Br. 2004.

Yves Bizeul (Hg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Po-len, Berlin 2000.

Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998.

Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2008 (i.E.).

Rudolf Speth: Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000.

Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991.

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Mythen der Neutralität Wie der Holocaust in Schweden und der Schweiz ausgeblendet wurde

Von Arne Ruth 12.8.2010 ist 1943 in Polen geboren. Nach seinen Studien der Politikwissenschaft an der Gothenburg Universität und des Journalismus an der University of South Florida in den USA, arbeitete er als Journalist für schwedische Rundfunk- und Fernsehsender. Als Autor und Essayist schreibt er seit Jahren zum Thema europäische Kultur und Politik.

In Schweden und der Schweiz wurde die Komplizenschaft mit dem Holocaust lange Zeit ignoriert. Internationalen Medien ist es zu verdanken, dass nationale Mythen der Neutralität hinterfragt und (Mit-)Verantwortung eingestanden wurde, schreibt Arne Ruth.

Erst in den Achtzigerjahren wurde die Erfahrung des Holocaust als universelles Thema in die verschiedenen nationalen Projekte integriert, aus denen sich Europa zusammensetzt. Schweden und die Schweiz, die beide während des Krieges neutral waren, sind zwei hervorragende Beispiele dafür, wie lange Zeit Fragen der Mitschuld und Kollaboration vermieden wurden. Erst die Nazigold- Kontroverse in den späten Neunzigerjahren erschütterte die etablierten nationalen Perspektiven in beiden Ländern. Aber auch in einem größeren Zusammenhang war diese Kontroverse ausgesprochen aufschlussreich: Denn für die Integration echter Universalität in das europäische Projekt ist grenzüberschreitende Provokation ein zentrales Element.

Nach Kriegsende wurden Schweden und die Schweiz beschuldigt, ihre Neutralität zur Selbstbereicherung genutzt zu haben, und nicht, wie die beiden Länder es selbst darstellten, als Beitrag zum epochalen Kampf um die Zukunft der Menschheit. Die Schweiz sah sich insbesondere dem Vorwurf ausgesetzt, unbeschränkt deutsches Raubgold in ihren Banken gelagert zu haben.

Beide Länder reagierten nach dem Krieg damit, ihre nationalen Projekte als einzigartiges Bemühen darzustellen, universelle Werte zu verwirklichen. Die weitgehende Isolation von Europa war aus ihrer Perspektive ein Mittel, um das nationale Gemeinwohl zu erhalten. Während sich beide im nationalen Kontext vordergründig zu liberaler Universalität bekannten, so gingen sie doch sehr unterschiedliche Wege. Die Schweiz, nach wie vor das weltweite Finanztransaktionszentrum, präsentierte sich als Gralshüter des freien Weltmarkts - was sie aus ihrer Sicht allen Widrigkeiten zum Trotz auch während des Krieges gewesen war. Als einen weiteren universellen Wert beanspruchte sie ihre nationale Souveränität und weigerte sich, neu entstehenden transnationalen Strukturen wie den Vereinten Nationen beizutreten. Ihre Isolation, so schien es, wies der Schweiz auch die besondere Rolle als zentrale Bühne internationaler Verhandlungen zu. Schweden wählte die umgekehrte Richtung zur Universalität und kanalisierte seine außenpolitischen Ziele symbolhaft durch die UN und andere neue internationale Organisationen.

Die Nachkriegsverhandlungen zwischen den Alliierten und der Schweizer Regierung über den Umgang mit deutschem Besitz und Raubgold stellten Schweizer Politiker intern als einen Kampf von David gegen Goliath dar. In der öffentlichen Meinung wurde dieser Kampf mehrheitlich als der aussichtslose Versuch betrachtet, die Unantastbarkeit des Privateigentums vor den Übergriffen der Großmächte zu schützen. Im November 1946 beschuldigte der Schweizer Chefverhandler Walter Stucki die Alliierten, ihre eigenen, in der Atlantik-Charta niedergelegten Prinzipien zu missachten. Die Tatsache, dass die Schweiz sich im März 1945 dem amerikanischen Druck gebeugt und zugestimmt hatte, allen deutschen

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Besitz einzufrieren, Fremdwährungshandel zu verbieten und den Kauf von Gold aus Deutschland einzuschränken, war, wie er sagte, das Ergebnis von politischem Druck, der schlimmer war als alles, was Göring jemals versucht hatte - ein Bruch aller Prinzipien in einer Welt "bar aller materiellen und moralischen Grundlagen" [1], in der sich die Schweiz in einer gefährlichen politischen Isolation wiederfand.

Die Ironie dieser einzigartig bornierten Definition von nationalem Schweizer Interesse wurde für die Welt erst fünf Jahrzehnte später offensichtlich, als der World Jewish Congress und der Eizenstat- Report die Schweizer Behörden mit der Frage jüdischen Eigentums während des Krieges konfrontierte.

In Schweden war es nach dem Krieg wesentlich einfacher, offizielle Repräsentaten dazu zu bewegen, eine Mitschuld durch Handel mit dem Dritten Reich einzugestehen. Dean Acheson reflektiert diese Frage in seinen Memoiren: "Wenn die Schweden starrköpfig waren, dann waren die Schweizer der Gipfel der Starrköpfigkeit." [2] Der Raubgold-Frage versuchten schwedische Vertreter in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch auszuweichen. Erst als auch Schweden in den Strudel des Eizenstat-Reports hineingezogen wurde, drang die Schuldfrage endlich in die schwedische Öffentlichkeit durch. Als Premier Göran Persson Ende der Neunzigerjahre ein umfangreiches, international angelegtes Holocaust-Bildungsprojekt zu Geschichte und Problemen der Gegenwart initiierte, wurde das von der Weltöffentlichkeit als offene und gewissenhafte Auseinandersetzung der Schweden mit diesen ethischen Fragen wahrgenommen.

Um zu verstehen, dass diese Haltung einen radikalen Bruch mit der herrschenden Tradition des Verschweigens und Vernachlässigens bedeutete, muss man sich mit den Besonderheiten der schwedischen Nachkriegsgeschichte auseinandersetzen: Nach dem Krieg wählte Schweden das Mitgefühl als seine charakteristische nationale Qualität, aufbauend auf einer kurz zuvor erfolgten Neudefinition des nationalen Projekts. Eine bereits in den Dreißigerjahren eingeführte spezifische Form des sozialen Wandels konnte jetzt zur Verkörperung von Modernität ausgerufen werden.

Die moralische Grundlage dafür war durch den Sieg der Alliierten über den Faschismus noch unterstrichen worden. Als Sozialdemokraten wie Bruno Kreisky und Willy Brandt nach dem Krieg aus dem schwedischen Exil zurückkehrten, brachten sie das Modell für die europäische Gesellschaft der Zukunft in ihre Heimatländer mit: den Wohlfahrtsstaat, die all-inclusive-Definition von Staatsbürgerschaft. Das Prinzip der partizipatorischen Demokratie als der wahren Legitimation des modernen Nationalstaats wurde in der Folge in den meisten westeuropäischen Staaten nachhaltig verankert. Schweden sollte den Weg aus einer bedrückenden historischen Tradition weisen.

Gegenüber den Plänen einer europäischen Integration, die nach dem Krieg auftauchten, verhielten sich die schwedischen Eliten aber reserviert. Dieses Desinteresse basierte auf scheinbar ethischen Überlegungen: Das schwedische Mitgefühl war vor allem auf Dritte-Welt-Staaten gerichtet. In den frühen 60er Jahren wurde die Anteilnahme am antikolonialen Kampf von einem jungen Intellektuellen und Schriftsteller, Lars Gustafsson, vor allem als die Überwindung des Nationalismus definiert: "Dieses Erwachen eines internationalen Bewusstseins ist ein Weg aus dem, und ein immerwährender Trost für das, was wir so lange als Isolation erlebt haben. Wenn es heute einen schwedischen Patriotismus gibt, dann beruht er auf unserer Sehnsucht, uns im Zusammenhang mit dieser neuen Solidarität Gehör zu verschaffen." [3]

Die Vorstellung, das emanzipierteste Land der Welt zu sein, war konstitutiv für das "schwedische Modell". Tatsächlich handelte es sich um traditionellen Nationalismus mit umgekehrten Vorzeichen. Die psychologische Wirkung war derjenigen der herkömmlichen Form allerdings sehr ähnlich: Die schwedischen Eliten konnten ausgesprochen stolz auf ihre Vorrangstellung als Anti-Nationalisten sein. Sie gewöhnten sich an ihre moralische Überlegenheit, die sie daraus bezogen nicht mehr an Traditionen gefesselt zu sein. Ihr größtes Verdienst war es, den Nationalismus überwunden zu haben.

Politiker und Diplomaten waren davon überzeugt, privilegierten Einblick in die Zukunft der Menschheit

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 20 zu haben. Auf die Weltbühne übertrugen sie die schwedische Haltung als eine spezielle Form des Idealismus. In manchen Fällen, etwa durch die Unterstützung des Anti-Apartheid-Kampfes in Südafrika (inklusive materieller Unterstützung des ANC, als er zur kommunistischen Speerspitze stigmatisiert wurde) oder durch die entschiedene moralische Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg, brachte dieses Selbstbewusstsein lohnenswerte Ergebnisse. In anderen Bereichen wiederum kippte das schwedische Modell in Arroganz und Nachlässigkeit. Ein typisches Beispiel dafür ist die offizielle Haltung gegenüber den baltischen Staaten, die als nicht existent eingestuft wurden (Schweden anerkannte als erstes westliches Land die sowjetische Annexion des Baltikums 1940); ein anderes die mangelnde Bereitschaft, die Sowjetunion dazu zu zwingen, die Verhaftung Raoul Wallenbergs zuzugeben. Im Großen und Ganzen tendierte der schwedische Idealismus dazu, sich in Realpolitik zu verwandeln, je näher Probleme an Schweden herankamen.

Der Historiker Friedrich Meinecke interpretierte die deutsche Geschichte als den Sieg des Nationalstaats über das Weltbürgertum. Der Anspruch Schwedens und der Schweiz nach dem Krieg, die Ideale des Universalismus zu verkörpern, könnte als das genaue Gegenteil der deutschen Tradition des Historismus gesehen werden. Dennoch basierte die national definierte Ideologie des Progressivismus auf der Annahme von Einzigartigkeit. Historiker in beiden Ländern, die vorgaben, Vorgänge zu entmystifizieren, konnten auf ein bewährtes Konzept nationaler Identität als Folie für die Auswahl und Interpretation von Tatsachen zurückgreifen; sie konnten offensichtlich progressive Elemente betonen, und alles andere ausklammern.

Allerdings gibt es einige interessante Unterschiede in der Art und Weise, wie diese verdeckten Elemente in den beiden Ländern öffentlich verhandelt wurden.

Die beiden bekanntesten Schweizer Nachkriegsdramatiker, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, nutzten ihre Werke beständig dazu, eine Gegenwelt zu beschreiben, eine Alternative zur herrschenden Heuchelei, die sich als Objektivität ausgab. Frischs Komödie Biografie (1967) ist eine Satire auf das Konzept von Geschichte als Projekt: Einem Mann wird die Möglichkeit gegeben, an entscheidende Momente seines Lebens zurückzukehren und die Entscheidungen, die er getroffen hatte, zu verändern. Die ständigen Korrekturen, die oberflächlich wie Resultate offensichtlich rationaler Entscheidungen aussehen, stellen sich als Absurditäten heraus, bis er schließlich begreift, dass, welchen vorausgeplanten Weg auch immer er wählt, es immer der falsche sein wird.

Frischs Stück Biedermann und die Brandstifter (1958) ist die Tragikomödie eines Pakts mit dem Teufel. Ein Mann lässt drei Brandstifter in sein Haus; er nimmt sie als Mitbewohner auf, inklusive Benzinkanistern, Zündschnur usw. Als sie ihn um Streichhölzer fragen, erfüllt er ihre Bitte pflichtschuldigst. Frischs berühmtestes Stück, Andorra (1961), basiert auf einer Idee, die bereits in seinem Werk Tagebuch mit Marion (1947) aufgetaucht war, das ihm zum Durchbruch verholfen hatte. Es ist die erschreckende und tragische Darstellung der Mechanismen sozialer Inklusion und Exklusion, wobei das Ritual des Ausschlusses einer Person eine Intensivierung der Verbindung der Zurückgebliebenen bedingt: Ein Mann gibt seinen Stiefsohn als Juden aus; der Junge akzeptiert angesichts der ihm entgegengebrachten Vorurteile die ihm zugeschriebene Identität als unveränderliche Tatsache. Als das Land von einem rassistischen Nachbarstaat überfallen wird, ist sein Schicksal besiegelt.

Einen Sturm der Entrüstung verursachte Frisch mit einem "Unbewältigte schweizerische Vergangenheit" betitelten Artikel, der im März 1966 in der Wochenzeitung Weltwoche veröffentlicht wurde. Frisch beschuldigte darin die jüngere Autorengeneration, sich nicht angemessen mit den zwölf Jahren der Hitler-Herrschaft auseinanderzusetzen, und machte den aktuellen Umgang mit Flüchtlingen zum Thema. Damit traf er einen nationalen Nerv. Wenig später erschien mit Alice Meyers Anpassung oder Widerstand. Die Schweiz zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus eine gründliche Analyse dieses moralischen Dilemmas.

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Ein Jahr später wurde ein gut dokumentiertes Pamphlet veröffentlicht, das rasch den Status eines Klassikers erlangte: Alfred A. Häslers Das Boot is voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-45. In Walter Wolfs Faschismus in der Schweiz (1969) wurde die Schweizer Kollaboration sorgfältig untersucht. Und zwischen 1965 und 1970 erschien die groß angelegte, vierbändige Geschichte der schweizerischen Neutralität von Edgar Bonjour.

Die Einführung des "J" in die Pässe deutscher Juden wurde in der Schweiz unmittelbar nach Kriegsende zum Thema und tauchte Mitte der 1950er Jahre als Zeitungspolemik wieder auf, die den Schweizer Bundesrat zu einer offiziellen Untersuchung zwang, deren Ergebnisse 1957 veröffentlicht wurden. Der Bericht lässt keine Zweifel daran, dass Schweizer Politiker und Beamte mitverantwortlich dafür waren, dass die Deutschen das "J" einführten. Sieben Jahrzehnte später ist die Rolle der schwedischen Regierung in diesem Prozess nach wie vor ungeklärt. Das Thema tauchte in den 1990er Jahren kurz in der schwedischen Diskussion auf und verschwand wieder. Obwohl unklar ist, wieweit Schweden in die Angelegenheit involviert war, gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Einführung des "J" in Stockholm aktiv unterstützt wurde.

In den letzten Jahrzehnten wurde ein halbes Dutzend Bücher veröffentlicht, die sich mit dem jüdischen Anteil der Schweizer Geschichte beschäftigen und Antisemitismus und Flüchtlingspolitik sehr direkt ansprechen. In Schweden wurde bis in die späten 1980er Jahre nichts Vergleichbares veröffentlicht.

Die kritischen Positionen von Autoren und Journalisten in der Schweiz haben das politische Klima des Landes wesentlich beeinflusst. Die Rehabilitation von Paul Grüninger ist ein Beispiel dafür: Der Polizeichef der Grenzgebiete mit Österreich und Deutschland war 1940 aus dem Dienst entlassen worden, weil er gefälschte Angaben dazu genutzt hatte, jüdische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Gerüchteweise hatte er sich an diesen Handlungen bereichert; er starb weitgehend verarmt Ende der 1960er Jahre. Ein Schweizer Journalist, Stefan Keller, zwang mit einer akribischen Studie des Geschehens die Behörden dazu, die Prozessprotokolle und Geheimdienstberichte zu veröffentlichen: Nach vorsichtigen Schätzungen rettete Grüninger 3000 Juden vor dem Holocaust. Es gibt keine Beweise für persönliche Bereicherung. Die Verletzung der Dienstvorschriften bestand vor allem darin, ein Datum in die Pässe der Flüchtlinge zu stempeln, das vor dem Datum lag, an dem die Schweiz ihre Grenzen vollständig geschlossen hatte.

Die öffentliche Meinung zwang eine widerwillige Schweizer Regierung dazu, den Fall wieder aufzurollen; und das Gericht verwies in seinem Urteilsspruch auf eine alte Schweizer Praxis: das Recht auf Selbstverteidigung. Grüninger wurde posthum vollständig rehabilitiert. Jahre nach seinem Tod wurde er zu einem Schweizer Helden. Gleichzeitig brachte die Dokumentation von Grüningers Schicksal den Mief der Realpolitik dieser Zeit an die Oberfläche: Machtspiele, garniert mit Anpassung und dezentem Antisemitismus.

Es scheint, als habe gerade die arrogante Haltung, die das Schweizer politische und Finanz- Establishment einnahm, polarisiert und eine kontinuierliche Auseinandersetzung initiiert. In den späten 1960er Jahren setzte ein Strom unabhängiger Untersuchungen ein, der sich in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zu einer Flut auswuchs. Diese spätere Welle brachte bedeutende historische Untersuchungen hervor, wie etwa Pierre Th. Braunschweigs Geheimer Draht nach Berlin (1989). So gut wie alles, was den Rausch um die Goldtransaktionen anfachte, beschrieb der Journalist Werner Rings in seinem Buch Raubgold aus Deutschland (1985). Rings veröffentlichte außerdem eine populäre Geschichte der Kriegszeit, die sich explizit mit den kontroversen Fragen um Flüchtlingspolitik, Antisemitismus und Kollaboration befasste. Sowohl Rings als auch der Journalist Guido Trepp in seinem Buch Bankgeschäfte mit dem Feind beschäftigen sich mit der Rolle Schwedens; beide stimmen im Wesentlichen überein, worum es im Grund ging: um unsichtbare, multinationale Netzwerke einflussreicher Personen, für die das Geschäftemachen mit dem Dritten Reich, zumindest eine Zeit lang, Business as usual war.

In Schweden herrschte von ein, zwei Jahre nach Kriegsende bis in die späten 1980er Jahre ein

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 22 stillschweigender Konsens, der die Auseinandersetzung über Kriegsfragen nachhaltig hemmte. Anders als in der Schweiz gibt es nur wenige wichtige literarische Werke, die sich mit ethischen Fragen im Schweden der Kriegszeit auseinander setzen. Fiktionale Literatur, die sich mit der Holocaust-Erfahrung beschäftigt, wurde fast ausschließlich von Schweden mit jüdischem Hintergrund geschrieben - Peter Weiss ist das herausragendste Beispiel dafür. Dasselbe allgemeine Schweigen gilt für historische Untersuchungen.

Das erste Buch, das sich mit Schweden in Zusammenhang mit dem Holocaust befasst, stammt von einem amerikanischen Historiker, Steven Koblik, und erschien 1987. [4] Erst eine Streitschrift der Journalistin Maria-Pia Boëthius, Heder och samvete (Ehre und Gewissen), die kürzlich wiederveröffentlicht wurde, löste 1991 einen Prozess der Überprüfung etablierter Positionen aus. [5] Boëthius griff die vorherrschende Darstellung schwedischer Historiker scharf an und wurde postwendend als übereifrig diffamiert. Allmählich begann sich aber in den 1990ern unter Historikern eine Interpretation der schwedischen Neutralität durchzusetzen, die sich Boëthius' Position annäherte.

Ein wesentliches Symbol für diesen Wandel ist, dass der emiritierte Professor Stig Ekman, der in den 1970er Jahren ein umfassendes Forschungsprojekt zur schwedischen Kriegsgeschichte leitete, in den 1990er Jahren das Fehlen einer ethischen Perspektive in der Definition des Gegenstands öffentlich bedauerte. Die aktuelle Entrüstung über Schwedens Anbiederung an Deutschland müsse seiner Meinung nach vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass Schweden mit dem Regime kollaborierte, das für den Holocaust verantwortlich war. Es sei jetzt an der Zeit, diese Beziehung genau zu untersuchen.

1996 stellte Paul Levine, ein Student des amerikanischen Pioniers Steven Koblik, seine Dissertation in Schweden fertig. [6] Mit der Darstellung der ethischen Haltung einiger Außenamtsbeamter gegenüber Juden ergänzte er die Bewertung der schwedischen Flüchtlingspolitik um wichtige Erkenntnisse, und rückte mit dem Hinweis auf eine "Mentalität der Neutralität" die Eigentümlichkeiten schwedischer historischer Forschung ins rechte Licht. Seiner Ansicht nach liegt dem lange Zeit fehlenden Interesse schwedischer Historiker am Holocaust die Dominanz dieser Haltung zugrunde: Nach gängiger Einschätzung war jedes Zugeständnis, das Schweden während des Krieges machte, moralisch vertretbar, weil es dem Land den Frieden sicherte. Dagegen weist Levine auf eine Tatsache hin, die erst durch die Raubgold-Kontroverse offensichtlich wurde: dass der schwedische Handel mit Deutschland, zumindest ab 1943, zur Verlängerung des Krieges beitrug. Aus dieser Perspektive kann der schwedischen Koalitionsregierung während des Krieges vorgeworfen werden, die Auswirkungen des Holocaust indirekt verschärft zu haben.

Mehr als 50 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges fingen schwedische Historiker endlich damit an, sich mit diesem Teil der schwedischen Geschichte zu beschäftigen. Ein Sonderforschungsprojekt zum schwedischen Verhältnis zu Nationalsozialismus, Drittem Reich und Holocaust wurde vom schwedischen Wissenschaftsrat aufwendig finanziert und im Jahre 2006 abgeschlossen. Schon 2003 war die Holocaustforschung in Schweden so reichhaltig, dass Stig Ekman in Zusammenarbeit mit einem Kollegen, Klas Åmark, eine Übersicht über die Forschungslage veröffentlichte. [7] Heute ist die Tatsache, dass schwedische Historiker es jahrzehntelang vollständig unterlassen haben, den Holocaust zu erforschen, selbst Forschungsgegenstand: als ein außergewöhnlicher Fall von Borniertheit zu einer Zeit, in der der Holocaust international für zumindest drei Jahrzehnte das zentrale Feld zeitgenössischer Geschichtswissenschaft war.

Dieses hartnäckige Vermeiden ethischer Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Krieg veranschaulicht einen spezifischen Aspekt schwedischer politischer Kultur während der Wohlfahrtsperiode: Konsens als wichtigste Zielsetzung der politischen Klasse, unabhängig von Parteizugehörigkeit. Dieses Konsensprinzip war unmittelbar an die Ideologie von Schwedens einzigartigem Universalismus gebunden.

Die Psychologie der Distanz ist auch ein bedeutendes Element der schwedischen Haltung gegenüber

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 23 der Europäischen Union. Formal ist Schweden Mitgliedsstaat; aber die Tatsache, dass die Union als Friedensprojekt initiiert wurde, und ihre außergewöhnlichen Erfolge bei der Verhinderung militärischer Konflikte zwischen großen europäischen Staaten, wird in Schweden kaum wahrgenommen. Das Fehlen einer tiefgreifenden Diskussion der Kriegserfahrung als eines grundlegenden Elements des europäischen Projekts - einschließlich der Tatsache, dass seine rassistische Dimension den zweiten Weltkrieg deutlich von früheren Konflikten in Europa unterscheidet - zeigt auch, wie die Besonderheiten nationaler Geschichtsschreibungen, solange sie nicht mit alternativen Interpretationen konfrontiert werden, politische Haltungen noch lange nach den historischen Ereignissen prägen. Grundhaltungen, die sich aufgrund der schwedischen und Schweizer Neutralität während des Krieges herausbildeten, sind nach wie vor Teil des kollektiven Unterbewusstseins.

Die Raubgold-Frage wirbelte in beiden Ländern Staub auf und entwickelte sich zu einer weltweiten Medienkontroverse. Wirkungsvoll war sie, weil die Konfrontation von außen kam: Politiker in Schweden und der Schweiz waren dazu gezwungen, sich ihr zu stellen.

Es gibt in Skandinavien zwei weitere Beispiele, bei denen grenzüberschreitende Wechselwirkungen um ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit universellen Bürgerrechten eine Rolle spielten. Beiden Fällen liegt ein strukturell begründetes, kollektives Schweigen zugrunde.

1997 recherchierte die Zeitung Dagens Nyheter, deren Chefredakteur ich damals war, eine Angelegenheit, die bis dahin sehr wenig öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte: die Zwangssterilisation von mehr als 60 000 Schweden - meist von Armut betroffene Frauen - von den 1930er bis in die 1970er Jahre. Eine zu dem Thema existierende Dissertation war bequemerweise unbeachtet geblieben.

Nachdem wir die Geschichte - recherchiert und geschrieben von dem in Polen geborenen Journalisten Maciej Zaremba - erstmals gedruckt hatten, dauerte es eine Woche, bis sie in Schweden wahrgenommen wurde; alle anderen nationalen Medien verhielten sich während der ersten Tage still. In der Zwischenzeit wurde Schweden von Journalisten aus der ganzen Welt heimgesucht, einschließlich einiger prominenter amerikanischer Fernsehmoderatoren. Ein späterer Bericht des schwedischen Außenministeriums stellte fest, dass die internationale Berichterstattung über diese Geschichte zwei Drittel der Berichte über Schweden in diesem Jahr ausmachte. Die massive Wucht dieser grenzüberschreitenden Berichterstattung brach schließlich auch das kollektive Schweigen im Land.

In einer CNN-Nachrichtensendung wurde der verantwortliche schwedische Minister mit der Frage nach Kompensationen für die Opfer konfrontiert. Die schwedischen Medien, einschließlich meiner Zeitung, hatten bis dahin diese Frage nicht gestellt; nun musste sich der Minister angesichts eines internationalen Publikums offiziell entschuldigen.

Ein weiterer aufschlussreicher Fall nationaler medialer Blindheit im Zusammenhang mit zeitgenössischer Geschichte ereignete sich in Norwegen Mitte der 1990er Jahre. Neben all ihren anderen Dimensionen bestand die Vernichtung der Juden auch aus Raub in einem bis dahin nie dagewesenen Ausmaß, mit einem Netzwerk von Hehlern und Profiteuren, das sich über den gesamten Kontinent erstreckte. Die moralischen Dilemmata, die sich durch das Vernichtungsprojekt ergaben, betrafen auch die besetzten Länder. Immobilien, Geschäfte und Wertgegenstände aus jüdischem Besitz wechselten während des Kriegs die Besitzer. Eine Reihe von Regierungen versuchte nach dem Krieg, Überlebende daran zu hindern, die neuen Besitzer damit zu konfrontieren. In Osteuropa gab der Kommunismus den staatlichen Behörden die Möglichkeit, die Nazi-Enteignung von jüdischem Besitz als integralen Bestandteil der Abschaffung des Privatbesitzes zu behandeln.

Der norwegische Fall zeigt, dass Schuld nicht einfach in Kategorien wie Gehorsam, Neutralität und Widerstand eingepasst werden kann. Etwas über ein Drittel der 2100 norwegischen Juden wurde 1942 innerhalb von drei Monaten nach der Beschlagnahme ihres Besitzes getötet. Dank der sehr langen,

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 24 durch weitgehend unbewohntes Gebiet führenden Grenze mit Schweden, konnte der Großteil der übrigen Juden fliehen.

Diejenigen, die den Holocaust überlebten, fanden bei ihrer Rückkehr Fremde vor, die in ihren Wohnungen und Häusern lebten. Ihre Bankkonten waren leergeräumt, ihre Lebensversicherungen gekündigt und ihre persönliche Habe in alle Winde zerstreut. Die Behörde, die von den Norwegern 1942 eingerichtet worden war, um den Besitz der norwegischen Juden zu bearbeiten, die "Liquidationsbehörde für beschlagnahmtes jüdisches Eigentum", hörte nach der Befreiung nicht auf zu existieren. Stattdessen wurde sie in "Entschädigungsbehörde" umbenannt, und einige ihrer vormaligen Mitarbeiter wurden als Experten für die Ausarbeitung der Entschädigungsbedingungen eingesetzt. Die einzigen Beamten, die wegen Hochverrats verurteilt wurden, waren diejenigen, die Mitglieder der Quisling Partei gewesen waren. So begegneten Juden, die versuchten ihren Besitz zurückzufordern, mitunter denselben Beamten, die drei Jahre zuvor den autorisierten Diebstahl ihres Eigentums überwacht hatten.

Mitte der 1990er Jahre stellten der junge Historiker Bjarte Bruland und der Journalist Björn Westlie die seit Kriegsende verdrängte Frage: Wer war in die Abwicklung des Eigentums involviert, das das Quisling Regime von norwegischen Juden konfisziert hatte? Wie sich herausstellte waren diese Besitztümer sehr begehrt und wurden auf Auktionen und speziellen Märkten verkauft; die Kunden waren ganz normale Norweger, die in vollem Wissen über die Herkunft der Gegenstände handelten. Wer gute Kontakte zu der Behörde hatte, die das Gut verwaltete, konnte spezielle Deals herausschlagen.

Die penibel geführten Listen des gestohlenen jüdischen Eigentums, gewissenhaft registriert und eingeordnet, waren im Nationalarchiv in Oslo leicht zugänglich. Aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, sich mit ihnen auseinander zu setzen, bis Westlie sie fand. Als Westlies Enthüllungen zum 50. Jubiläum der Befreiung veröffentlicht wurden, war die nationale Reaktion praktisch Null. Allerdings weckten sie das Interesse des World Jewish Congress in New York, der um einen englischsprachigen Bericht bat. Internationale Nachrichtenagenturen nahmen die Geschichte auf, sobald Westlies Bericht in New York erschien. Und plötzlich wurde die Affaire auch in Norwegen zur Schlagzeile. Es brauchte acht Monate und grenzüberschreitende Aufmerksamkeit, bis die Sache ein nationaler Skandal wurde; dann blieb sie für mehrere Monate das dominierende politische Thema. Die Regierung sah sich gezwungen, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die in eine Allparteienvereinbarung mündete, die norwegische jüdische Gemeinde ökonomisch zu entschädigen.

Die norwegische Kontroverse veranschaulicht ein umfassenderes Problem: In der Nachkriegszeit basierte die nationale Identität in den meisten besetzten Ländern auf dem Mythos eines allgemeinen Widerstands. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wurde Norwegen dazu gezwungen, sich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass seine Definition von Widerstand während des Krieges die Juden weitgehend ausschloss, und dass dieser Ausschluss auf subtile Weise auch nach dem Krieg fortwirkte. In Frankreich, wo die Komplizität der Vichy-Regierung wesentlich weitgehendere Konsequenzen hatte, ist die Diskrepanz zwischen heroischer Mythologie und den realen Fakten noch deutlicher. Dort brauchte es den Einsatz eines Amerikaners, Robert Paxton, um die französischen Historiker dazu zu zwingen, sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen.

Ich denke, dass eine europäische Bürgerschaft, die tatsächlich bedeutungsvoll sein soll, das Recht und die Pflicht jedes einzelnen einschließen muss - unabhängig von Nationalität und Herkunft - Menschenrechtsfragen auf transnationaler Ebene zu verhandeln. Grenzüberschreitende Provokationen sind notwendig, um ein Moment wahrhafter Universalität in das europäische Projekt zu integrieren. Lord Acton versuchte einst, in diesem Zusammenhang eine spezifische Geisteshaltung zu definieren: "Unser Waterloo muss so beschaffen sein, dass es Franzosen und Engländer, Deutsche und Niederländer gleichermaßen zufrieden stellt." Ein Kommentar des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg zur Raubgold-Kontroverse trifft das Zentrum der Auseinandersetzung: "Das ist lange her: Heute zahlen wir für die schlaflosen Nächte, die wir wegen Auschwitz nie hatten, jetzt holen uns alle Sorgen ein, die wir uns um den Aufbau Europas nicht gemacht haben, im Schlaf der Selbstgerechten,

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 25 in dem uns auch die Tränen ausgingen." [8]

[1] US Department of State, US and Allied Efforts to Recover and Restore Gold and Other Assets Stolen or Hidden by during World War II (Washington, DC.: US Department of State, 1997), S. 28.

[2] Ebenda, S. 83.

[3] Lars Gustafsson, Predominant Topics of Modern Swedish Debate (Stockholm: Swedish Institute Pamphlet, 1961, S. 4.

[4] Steven Koblik, "Om vi teg, skulle stenarna ropa" : Sverige och judeproblemet 1933-1945. Stockholm: Norstedts förlag,1987. (Steven Koblik, The stones cry out : Sweden's response to the persecution of Jews 1933-1945. New York : Holocaust Library, 1988).

[5] Maria-Pia Boëthius, Heder och samvete: Sverige och andra världskriget. Stockholm: Ordfront förlag 1991.

[6] Paul A. Levine, From Indifference to Activism; Swedish Diplomacy and the Holocaust, 1938- 1944, Uppsala: Uppsala University 1996 (reprinted in second edition, 1998).

[7] Stig Ekman & Klas Åmark, (eds) Sweden's Relations with Nazism, Nazi Germany and the Holocaust. A Survey of Research. Stockholm: Stockholm Studies in History nr 66, Almqvist & Wicksell International, 2003.

[8] Adolf Muschg, Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 18.

Original in Englisch. Übersetzung von Veronika Leiner. Zuerst veröffentlicht auf Eurozine (http://www. eurozine.com/) © Arne Ruth © Eurozine

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Kollektives Gedächtnis

Von Aleida Assmann 26.8.2008 ist seit 1993 Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu Ihrem Forschungsgebiet gehören u.a die Themen: Deutsche Erinnerungsgeschichte nach dem 2. Weltkrieg, kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung und Gedächtnistheorie.

Nationen haben kein Gedächtnis. Dennoch erinnern Namen von Metrostationen und öffentlichen Plätzen an Triumphe und Niederlagen vergangener Tage. Gibt es ein gemeinsames Erinnern? Was unterscheidet das individuelle vom kollektiven Gedächtnis? Aleida Assmann gewährt Einblicke in die Gedächtnisforschung.

Der Weg vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis ist nicht der eines einfachen Analogieschlusses. Institutionen und Körperschaften verfügen nicht über ein Gedächtnis nach Art des individuellen Gedächtnisses, denn es gibt dort nichts, was der biologischen Grundlage, der anthropologischen Disposition und den naturwüchsigen Mechanismen des Erinnerns entspricht. Deshalb wurden immer wieder Stimmen laut, die vor dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses als einer reinen Mystifikation warnten. Solche Skepsis sollte jedoch nicht dazu führen, den Begriff gänzlich fallen zu lassen. Denn er zielt auf Phänomene, die durchaus empirisch fassbar sind, und die sich deutlich von den Bedingungen des individuellen Erinnerns abheben.

Gedächtniskonstruktionen

Institutionen und Körperschaften wie Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma 'haben' kein Gedächtnis, sie 'machen' sich eines und bedienen sich dafür memorialer Zeichen und Symbole, Texte, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Monumente. Mit diesem Gedächtnis 'machen' sich Institutionen und Körperschaften zugleich eine Identität. Dieses Gedächtnis hat keine unwillkürlichen Momente mehr, weil es intentional und symbolisch konstruiert ist. Es ist ein Gedächtnis des Willens und der kalkulierten Auswahl. In drei der genannten Merkmale unterscheidet sich die kulturelle Gedächtnis-Konstruktion signifikant vom individuellen Gedächtnis. Es ist nicht vernetzt und auf Anschlussfähigkeit angelegt, sondern tendiert im Gegenteil dazu, sich von anderen Gedächtniskonstruktionen abzuschließen.

Das Gedächtnis einer Nation nimmt keine Notiz davon, dass jenseits der Grenze andere historische Bezugspunkte gewählt und dieselben historischen Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen. Es ist auch nicht bruchstückhaft fragmentiert, sondern stützt sich auf Erzählungen, die wie Mythen und Legenden eine narrative Struktur und klare Aussage haben. Schließlich existiert es nicht als ein labiles und flüchtiges Gebilde, sondern beruht auf symbolischen Zeichen, die die einzelne Erinnerungen auswählen, fixieren, verallgemeinern und über die Grenzen der Generationen hinweg tradierbar machen. Auf die unterschiedlichen Formen der Speicherung, solche der Wiederholung und solche der materialen Dauer, werden wir noch im einzelnen zurückkommen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 27 Erinnern und Vergessen

Neben diesen deutlichen Unterschieden besteht aber auch eine Gemeinsamkeit. Für das individuelle wie das kollektive Gedächtnis gilt, dass sie perspektivisch organisiert sind. Beide sind nicht auf größtmögliche Vollständigkeit eingestellt, beruhen auf einer strikten Auswahl. Vergessen ist ein konstitutiver Teil des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses. Nietzsche hat diesen grundsätzlich perspektivischen Charakter des Gedächtnisses mit einem Begriff aus der Optik beschrieben. Er sprach von 'Horizont' und meinte damit eine standpunktgebundene Eingrenzung des Sichtfeldes. Unter der 'plastischen Kraft' des Gedächtnisses verstand Nietzsche weiterhin die Fähigkeit, eine möglichst klare Grenze zwischen Erinnern und Vergessen aufzubauen, die das Wichtige vom Unwichtigen, oder, genauer: das Lebensdienliche vom nicht Lebensdienlichen scheidet. Ohne diese Filter, so meinte Nietzsche, könne es keine Identitätsbildung (er sprach von 'Charakter') und keine klare Handlungorientierung geben. Allzu vollgestopfte Wissensspeicher führten seiner Meinung nach zu einer Aufweichung des Gedächtnisses und damit zu einem Verlust an Identität.

Das nationale Gedächtnis

Es ist nicht schwer, die Selektionskriterien zu bestimmen, die in für die Anlage eines kollektiven Gedächtnisses bestimmend gewesen sind. Besonders charakteristisch sind in dieser Hinsicht die Konstruktionen eines nationalen Gedächtnisses. Hier geht es regelmäßig um solche Bezugspunkte in der Geschichte, die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehen. Was nicht in dieses heroische Bild passt, wird dem Vergessen anheimgegeben. Siege lassen sich leichter erinnern als Niederlagen. Die Metrostationen in Paris kommemorieren die Siege Napoleons, aber keine seiner Niederlagen. In London dagegen, im Lande Wellingtons, gibt es eine Metro-Station mit Namen Waterloo, was ein deutlicher Beleg für den perspektivischen Charakter des kollektiven Gedächtnisses ist. Aber nicht nur ruhmreiche Siege, auch tragische Niederlagen werden im nationalen Gedächtnis kommemoriert, wo eine Nation ihre Identität auf ein Opfer-Bewusstsein gründet, das wachgehalten werden muss, um Widerstand zu legitimieren und heroische Gegenwehr zu mobilisieren.

Ein Beispiel dafür sind die Serben, die die Niederlage im Kosovo im Jahre 1389 in ihren nationalen Heiligenkalender eingeschrieben haben oder die Israelis, die die unter den Römern gefallene Festung Massada zu einem politischen Erinnerungsort gemacht haben. Dieser Erinnerung schwächt nicht, sondern stählt. Deshalb steht das kollektive nationale Gedächtnis unter emotionalem Druck und ist ebenso empfangsbereit für historische Momente der Erhöhung wie der Erniedrigung, vorausgesetzt, dass sie in der Semantik eines heroischen Geschichtsbildes verarbeitet werden können. Auch die Opferrolle ist erstrebenswert, weil sie vom Pathos unschuldigen Leidens verklärt ist. Was dagegen schwer Einlass ins nationale Gedächtnis findet, sind Momente der Schuld und Scham, weil diese nicht in ein positives kollektives Selbstbild integriert werden können. Bis vor kurzem waren traumatische Erfahrungen der Geschichte kaum ansprechbar, weil es dafür keine kulturellen Verarbeitungsmuster gab. Das gilt für die verfolgten und ausgerotteten Ureinwohner verschiedener Kontinente, die verschleppten afrikanischen Sklaven, die Opfer eines Genozids im Schatten des ersten und zweiten Weltkriegs wie die Armenier und die Juden.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 28 Formen einer kollektiven Erinnerung

Erst allmählich bilden sich neue Formen einer kollektiven Erinnerung, die nicht mehr in die Muster einer nachträglichen Heroisierung und Sinnstiftung fallen, sondern auf universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind. Damit verbunden kommt es auch zu einer neuen Bearbeitung der Schuld der Täter in der Erinnerung der Nachkommen, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen können, sondern sie im kollektiven Gedächtnis stabilisieren und ins nationale Selbstbild integrieren.

Das bedeutet, dass sich in den letzten Jahrzehnten grundlegende Regeln in der Grammatik des kollektiven Gedächtnisses verändert haben. Das fundamentalste Gesetz des Gedächtnisses, das Prinzip der Auswahl und Horizontbildung, gilt weiterhin, doch ist die Scheidelinie, die das Lebensdienliche vom nicht Lebensdienlichen sonderte, als alleinig herrschendes Auswahlkriterium problematisch geworden. Ehre, triumphierende oder gekränkte, die über Jahrhunderte die Kodes des nationalen Gedächtnisses bestimmt hatte und ihm die Grundstruktur der Auswahl des Erinnerungswürdigen vorgegeben hatte, wird in Zukunft nicht mehr der alleinige Maßstab der Bewertung von Erinnerungen sein. Das hängt mit einem neuen Bewusstsein für die Langzeitfolgen traumatischer Geschichtserfahrungen zusammen, die für die Opfer wie die Täter neue Voraussetzungen für die Organisation des nationalen Gedächtnisses geschaffen haben.

Zu den wichtigsten Neuerungen gehört, dass nunmehr Vergeben und Vergessen ebenso entkoppelt sind wie Erinnern und Rächen. Vielmehr gilt, dass zwischen Tätern und Opfer heute gemeinsames Erinnern als eine wesentlich bessere Grundlage für eine friedliche und kommunikative Zukunft bildet als gemeinsames Vergessen. Die heilende Kraft des Vergessen - "perpetua oblivio et amnesia" lautete noch die Formel im Westfälischen Friedensvertrag - ist der ethischen Forderung der gemeinsamen Erinnerung gewichen.

Das 21. Jahrhundert - transnationale Epoche

Wir leben in einer Epoche, in der die Maßstäbe des Erinnerns und Vergessens einer grundsätzlichen Revision unterworfen werden. All dies wird durch den Umstand weiter gestützt, dass wir mit Übergang ins 21. Jahrhundert in eine transnationale Epoche eingetreten sind. Im Zeitalter der Nationen wurden in Europa die nationalen Gedächtnisse ohne Rücksicht auf die Nachbarstaaten konstruiert. Im einen Lande wurde gefeiert, was man im anderen zu vergessen suchte, im einen wurde gerühmt, was im anderen geschmäht wurde.

Die perspektivischen Konstruktionen des nationalen Gedächtnisses stießen hart aufeinander und bildeten einen problematischen Zündstoff, der nur durch gegenseitige Nichtbeachtung neutralisiert werden konnte. In der Weltgesellschaft sind die Nationen enger aufeinander gerückt, was auch Folgen hat für den Solipsismus ihrer Gedächtniskonstruktionen. Nicht nur sind die Nationen durch technologische Globalisierung enger vernetzt, sie sind auch enger miteinander verbunden durch eine an Größe und Bedeutung wachsende Gruppe nicht unmittelbar beteiligter Beobachter, die über die neuen Kommunikationskanäle universalistische Normen und interkulturelle Standards zu verbreiten suchen.

Diese neue transkulturelle Beobachterperspektive der nicht unmittelbar Beteiligten Dritten löst die spezifischen Horizonte kollektiver Gedächtnisse und kultureller Formationen keineswegs auf, sie hat sie nur im Auge und befragt sie kritisch auf die schädlichen Folgen für wechselseitige nationale und interkulturelle Beziehungen. Gegenwärtig entstehen zum Beispiel in Europa neue Frontlinien entlang solcher Nationen, die sich den Standards einer ethischen Globalisierung unterwerfen und solchen, die dieses nicht tun und auf dem alten Prinzip einer erinnerungspolitischen Selbstbestimmung beharren.

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Institutionen und Erinnerungen

Von Kai Ambos 26.8.2008 Prof. Dr. jur. Kai Ambos - Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht an der Georg August Universität in Göttingen. Er ist Leiter der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht.

Ein Staat muss sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und Unrecht aufarbeiten. Nur so können Täter und Opfer zusammenleben. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um Gerechtigkeit zu schaffen? Wie hat sich die Strafverfolgung durch internationale Strafgerichte in den letzten Jahren verändert?

Die Aufarbeitung der Unrechtsvergangenheit eines Staates ist Voraussetzung für die Etablierung einer neuen Rechts- und Gesellschaftsordnung und für die Entwicklung von Frieden und Aussöhnung. Im Rahmen dieses Prozesses werden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um begangenes Unrecht aufzudecken, Gerechtigkeit zu schaffen und ein Zusammenleben der (ehemaligen) Konfliktparteien zu ermöglichen. Insbesondere die Strafverfolgung durch internationale oder gemischte Strafgerichte und die Schaffung von Wahrheitskomissionen haben in den letzten 15 Jahren an Bedeutung gewonnen.

I. Warum erinnern?

Die Auseinandersetzung eines Staates mit seiner Vergangenheit, die Erinnerung und Aufarbeitung schweren Unrechts, wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, ist essentiell für das zukünftige Zusammenleben von Tätern und Opfern. Vergebung und Versöhnung kann nur in einem Klima entstehen, in dem die Opfer ihr Recht auf Wahrheit und juristisch-politische Aufarbeitung der Unrechtstaten, zumindest durch öffentliche Konfrontation mit den Tätern, durchsetzen können. Dabei ist die Aufdeckung des Geschehenen nicht nur ein privates Recht der Opfer und deren Angehöriger, sondern auch ein kollektives Recht, dass der Gesellschaft den Zugang zu Informationen sichert, die zur identitätsstiftenden Grundlage des neu zusammenwachsenden Staates werden. Ohne eine solche individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung des Konflikts ist ein Rückfall in alte Gewaltstrukturen kaum zu verhindern. So gesehen bedeutet Erinnerung also auch Konfliktprävention.

II. Institutionen und Erinnerung

Um den Opfern der genannten internationalen Kernverbrechen (wenigstens) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen (mindestens) die Hauptverantwortlichen der Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.Die strafrechtliche Verfolgung der Führungstäter ist als ein zentraler Mechanismus der Vergangenheitsbewältigung in Prozessen des Übergangs von einer Diktatur zur Demokratie, vom Krieg (bewaffneten Konflikt) zum Frieden (kurz: Transitionsprozessen) anzusehen. Die 1990er Jahre waren geprägt von den, vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten, Ad-hoc Straftribunalen für Jugoslawien und Ruanda. Als Folge der zunehmenden Internationalisierung der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen sind zudem inzwischen in zahlreichen Staaten so genannte gemischte oder hybride Tribunale entstanden.

Diese Tribunale werden als "gemischt" bezeichnet, weil sie eine gemischt national-internationale Rechtsgrundlage haben und aus nationalen und internationalen (ausländischen) Staatsanwälten und Richtern bestehen. Sie wurden entweder als Teil einer UN-Übergangsverwaltung (Kosovo, Ost Timor), auf Grund bilateraler Abkommen mit der UNO (Sierra Leone, Kambodscha, Libanon) oder auf Grund

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Besatzungsrechts (Irak) geschaffen. Im Jahr 2002 hat zudem der durch völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seine Arbeit in Den Haag aufgenommen. Er ist für die genannten Kernverbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) und –vorbehaltlich einer späteren Definition– das Verbrechen des Angriffskriegs zuständig. Der Gerichtshof hat automatisch Gerichtsbarkeit, wenn der Tatort- oder der Täterstaat Vertragspartei seines Statuts ist . Er wird aufgrund eines Verweises eines Vertragsstaats, des UN-Sicherheitsrats oder von Amts wegen tätig . Für die aktuell 108 Vertragsstaaten des IStGH besteht jedenfalls eine Pflicht zur Strafverfolgung der Kernverbrechen .

Die nationale und/oder internationale Strafverfolgung wird vielfach durch die Einsetzung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ergänzt. Diese Kommissionen werden in der Regel von der Regierung für einen befristeten Zeitraum zur Ermittlung und Untersuchung der Tatsachen eingesetzt. Sie können deshalb auch als interdisziplinäre Tatsachenfindungsinstanzen bezeichnet werden. Die Strukturen dieser Kommissionen, ihre Kompetenzen und Befugnisse, sind so unterschiedlich wie die Situationen der Staaten, in denen sie eingesetzt werden . Ihr Hauptzweck ist es, den Opfern und ihren Angehörigen die Möglichkeit zu geben, über die an ihnen begangenen Verbrechen zu berichten, Wiedergutmachung einzufordern, die Verbrechen offen zu legen und die Täter öffentlich zur Verantwortung zu ziehen . Ausgehend von Einzelschicksalen werden bei den Ermittlungen auch der Zusammenhang, in dem die Taten begangen wurden, und die kollektiven Erfahrungen berücksichtigt. So dienen die Kommissionen als Katalysator, um eine öffentliche Debatte über die Vergangenheitsbewältigung anzustoßen und zu fördern.

Wahrheits- und Versöhnungskommissionen versuchen die Vergangenheit aufzuarbeiten, indem sie eine Wahrheit herausarbeiten, die weit über die rein juristische, fallbezogene und prozessual begrenzte Wahrheit des Gerichtssaals hinausgeht . Obwohl auch dieser Ansatz einer "allumfassenden" oder "historischen" Wahrheitsfindung angesichts des Ausmaßes und der Dimension der Verbrechen immer unzureichend bleibt, so sind solche Kommissionen doch der Ausdruck eines ganzheitlichen Ansatzes, der zur Bewältigung der vielschichtigen Probleme in Transitionsgesellschaften notwendig ist.

III. Interessenkonflikte und Abwägungsprozesse

In Transitionsprozessen stehen sich grundsätzlich unterschiedliche Interessen gegenüber: Die Opfer des zu verarbeitenden Konflikts verlangen nach Gerechtigkeit und wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sehen . Diese aber nehmen, häufig von der Macht ihrer Gewehre unterstützt, an Friedensverhandlungen teil und legen dabei mit der Forderung nach Straffreiheit ihr persönliches Schicksal in die Waagschale. Einerseits können die Täter in vielen Fällen nicht von den Verhandlungen ausgeschlossen werden, ohne den gesamten Friedensprozess selbst zu gefährden, andererseits verleiht man ihnen mit ihrer Rolle in den Verhandlungen und mit weitgehenden Konzessionen eine unverdiente Legitimation. Das Dilemma ist selten für alle Beteiligten zufriedenstellend zu lösen, immerhin können aus inzwischen vielen Erfahrungen einige Lehren gezogen werden.

Ein Tausch von Straffreiheit gegen Frieden mit dem damit einhergehenden Verlust der Gerechtigkeit kann keinen positiven Frieden und damit keinen stabilen Staat hervorbringen. Der Umgang mit den Verbrechen der Täter, die nun vielleicht Verhandlungspartner sind, darf nicht einseitig zugunsten dieser und zu Lasten der Opfer ausfallen. Die Zulässigkeit eines Verzichts auf Strafverfolgung setzt eine differenzierte Abwägung der entgegenstehenden Interessen – Frieden auf der einen und Gerechtigkeit auf der anderen Seite – voraus.

Wer in diesem Zusammenhang für eine Amnestie plädiert, muss beweisen, dass diese für einen friedlichen Übergang, an dessen Ende ein demokratischer Rechtsstaat stehen soll, geeignet und erforderlich ist. Die Belohnung bestimmter Tätergruppen für ihre frühere Unterstützung durch Strafverzicht, kann nicht die Grundlage für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben von Tätern und Opfern sein. Auch ist zu fragen, ob es nicht Maßnahmen gibt, die das Gerechtigkeitsinteresse weniger stark als eine Amnestie einschränken, aber ebenso wirkungsvoll im Hinblick auf das Erreichen eines

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 31 stabilen Frieden sind. Zu denken ist insoweit etwa an Strafmilderungen oder besondere Formen der Strafvollstreckung. Wenn diese Maßnahmen gleich wirksam sind, muss ihnen der Vorzug gegeben werden. Aber selbst dann, wenn eine Amnestie zur Schaffung des Friedens unentbehrlich erscheint, müssen doch bestimmte abwägungsfeste Prinzipien beachtet werden:

• Die völkerrechtlichen Verfolgungs- und Bestrafungspflichten bezüglich internationaler Kernverbrechen verbieten es grundsätzlich, eine Amnestie für diese Verbrechen zu gewähren.

• Während eine Straffreistellung für die sog. – auf der unteren oder mittleren Befehlsebene angesiedelten – Ausführungs- und Organisationstäter unter Umständen zulässig sein kann, ist sie es für die Führungstäter nicht, insbesondere dann nicht, wenn diese die strafbefreienden Maßnahmen selbst beschlossen haben.

• Es muss irgendeine Form der Zurechnung bzw. Zuschreibung von Verantwortlichkeit (accountability) geben. Sei es, dass die Täter im Rahmen einer Wahrheitskommission mit ihren Taten und den Opfern konfrontiert werden, oder sei es im Rahmen anderer Verfahren. In jedem Fall sollte die potentielle Straffreiheit oder jegliche sonstige Vergünstigung an die Kooperationswilligkeit der Täter geknüpft werden.

• Schließlich müssen die übergreifenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Effekte einer – wie auch immer gearteten – Vergünstigung bewertet werden. Insbesondere ist zu fragen, ob völlige oder teilweise Straffreiheit zu einem dauerhaften, stabilen Frieden, wahrer Versöhnung und einer Konsolidierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beitragen kann.

IV. Umfassende vs. bedingte Amnestie

Aus den genannten Gründen verbietet sich eine umfassende und bedingungslose Amnestie für die Kernverbrechen der Führungstäter . Durch eine solche Amnestie werden in der Regel jegliche Ermittlungen ausgeschlossen und damit die Interessen der Opfer vollkommen missachtet. Die Verarbeitung ihres Leids wird ihnen unmöglich gemacht, ihr Anspruch auf Gerechtigkeit und Wahrheit wird zur bloßen Fiktion. Aufarbeitung und Versöhnung können so nicht stattfinden. Ein trauriges Beispiel einer solch weitreichenden Amnestie ist das Lomé Friedensabkommen zwischen der Regierung von Sierra Leone und der Rebellengruppe Revolutionary United Front (RUF) aus dem Jahre 1999. Danach sollte die Regierung einen "absoluten und bedingungslosen Straferlass gewähren und alle Kombattanten und Kollaborateure im Hinblick auf jede Tat, die sie im Streben nach ihren Zielen begangen haben, begnadigen (...) . Zu Recht hat die Berufungskammer des UN-Sondertribunals für Sierra Leone diese Amnestie 1994 für völkerrechtlich unwirksam erklärt .

Eine bedingte Amnestie knüpft hingegen die Gewährung von Straflosigkeit an bestimmte Bedingungen. Als Mindestbedingung müssen die Kampfhandlungen sofort eingestellt werden. Zudem müssen die ehemaligen Täter über ihre Verbrechen aufklären und sie öffentlich bereuen. Dies trägt nicht nur zur Versöhnung mit den Opfern bei, sondern auch zur Rehabilitation und Reintegration der Täter in die neue Gesellschaft. Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel einer solchen bedingten Amnestie ist aus Südafrika bekannt. Dort wurde eine Amnestie nur auf Antrag von einem Unterausschuss der Wahrheits- und Versöhnungskommission im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens gewährt. Die Antragsteller wurden einer Prüfung unterzogen und mussten alle begangenen Verbrechen öffentlich gestehen. Insgesamt wurden in diesem Verfahren 7116 Amnestieanträge gestellt, von denen 1167 vollkommen und 145 zumindest teilweise stattgegeben wurden .

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V. Fazit

Transitionsprozesse verlaufen höchst unterschiedlich. Das beginnt schon damit, dass der friedliche Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie, wie im Fall der Staaten des ehemaligen Ostblocks, nicht mit Postkonfliktsituation wie in Schwarzafrika vergleichbar ist. Deshalb gibt es auch keine Patentlösung für die Bewältigung von Transitionsprozessen. In jeder Situation bedarf es einer konkreten Abwägung der unterschiedlichen Interessen von Opfern und Tätern, von Gerechtigkeit und Frieden. Sicher ist aber, dass die völlige Missachtung von Gerechtigkeitserwägungen auf lange Sicht kein stabiles Fundament für eine entstehende, rechtsstaatliche Demokratie bilden kann.

Links

International Criminal Court www.icc-cpi.int (http://www.icc-cpi.int)

International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia www.un.org (http://www.un.org/icty/)

International Criminal Tribunal for Rwanda http://69.94.11.53/ (http://69.94.11.53/)

Special Court for Sierra Leone www.sc-sl.org (http://www.sc-sl.org/index.html)

Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia www.eccc.gov.kh (http://www.eccc.gov.kh/english/)

Special Tribunal for Lebanon www.un.org (http://www.un.org/apps/news/infocus/lebanon/tribunal/index.shtml)

Coalition for the International Criminal Court www.iccnow.org (http://www.iccnow.org)

Abteilung ausländisches und internationals Strafrecht, Institut für Kriminalwissenschaften, Georg- August-Universität Göttingen http://lehrstuhl.jura.uni-goettingen.de (http://lehrstuhl.jura.uni-goettingen.de/kambos/Links.html)

Literatur

Ambos, Kai, Internationales Strafrecht, München: C.H.Beck, 2. Auflage 2008.

Ambos, Kai, The legal framework of Transitional Justice, in Ambos/Large/Wierda (eds.), Building a Future on Peace and Justice. Studies on Transitional Justice, Peace and Development, Berlin: Springer 2009 (im Erscheinen).

Ambos, Kai, Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs, Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2006, S. 10-17.

Hayner, Priscilla B., 'Truth commissions: a schematic overview' (2006) 88 International Committee of the Red Cross International Review, S. 295-310.

Sarkin, Jeremy, 'The Amnesty Hearings in South Africa Revisited' in Werle, (Hrsg.), Justice in Transition – Prosecution and Amnesty in Germany and South Africa, Berlin: BWV 2006, S. 43-53.

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Ssenyonjo, Manisuli, 'The International Criminal Court and the Lord´s Resistance Army Leaders: Prosecution or Amnesty ?' (2007) 7 International Criminal Law Review, S. 361-389.

Vinck, Patrick; Pham, Phuong; Baldo, Suliman; Shigekane, Rachel, 'Living with fear. A population- based survey on attitudes about peace, justice, and social reconstruction', August 2008 www.ictj.org (http://www.ictj.org/en/news/pubs/index.html)

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Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive

Von Karl-Ernst Jeismann 3.6.2008 Dr. phil., geb. 1925; Professor (em.) für neuere und neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Münster.

Anschrift:Institut für Didaktik der Geschichte, Pferdegasse 1, 48143 Münster.Veröffentlichungen u.a.:Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung, Paderborn 2000.

"Geschichtsbilder" verknüpfen die Deutung der vergangenen mit den Forderungen an die kommende Geschichte. Sie geben Orientierung in der Gegenwart und die Gewissheit einer Identität, die generationsübergreifend ist.

I. Geschichtsbilder: Begriff und Bedeutung

Der Sondergesandte der USA auf dem Balkan, Richard Holbroke, schrieb, dass nach der Lektüre einer Untersuchung über die Geschichtsvorstellung der Balkanvölker viele Politiker in den USA den Versuch zur Beilegung des Konflikts als aussichtslos betrachteten. [1] Das offizielle Geschichtsdogma einer Einheit der "Süd-Slawen", das nach dem Zweiten Weltkrieg die Herrschaft der Kommunistischen Partei und zugleich die staatliche Einheit zu sichern hatte, war trotz massiver "Vergangenheitspolitik" zerbrochen. Hinter der machtgestützten Geschichtsdoktrin des 20. Jahrhunderts wurden tiefer in die Vergangenheit zurückreichende Geschichtsbilder und damit alte ethnische, kulturelle und religiöse Gegensätze wieder virulent. [2] Den Streit um die Deutung der Geschichte finden wir immer dort, wo Divergenzen im Selbstverständnis einer Gesellschaft aufbrechen. [3] An die Kontroversen um die Hessischen Rahmenrichtlinien brauche ich hier nur zu erinnern, ebenso an den Historikerstreit in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren über das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Der Streit um die Rolle der DDR und ihrer führenden Partei hält an. [4] Solche Kontroversen lassen generell nach Art und Bedeutung von "Geschichtsbildern" fragen.

Der Begriff "Geschichtsbilder" ist eine Metapher für gefestigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont, denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt. [5] Politische und kulturelle Gemeinschaften können sich offenbar nur selbst verstehen, ihre Handlungen abwägen und Optionen für die Zukunft begründen, wenn sie in der "Zeit", d.h. zwischen vergangener und kommender Geschichte, zwischen Erfahrung und Erwartung, ihren Ort bestimmen. Solche selbstbezogenen Deutungen stiften im Chaos der unendlichen Vorgänge der Vergangenheit Sinn, bieten Orientierungshilfe und Handlungssicherheit. So werden Gefühl und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, wird kollektive Identität beglaubigt, der Daseinssinn einer Gemeinschaft gestiftet. Als gedeutete Vergangenheit beeinflussen sie Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung. Sie sind Elemente der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" [6]

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. Geschichtsbilder sind nicht Abbildungen des Vergangenen, sondern Ein-Bildungen der Vorstellungs- und Urteilskraft. Im Horizont der Weltgeschichte insgesamt sind diese "Bilder", die Stämme, Völker, Nationen oder auch Religions- und Kulturgemeinschaften sich selbst zuschreiben, nur partikularer Natur. [7] Ihren Anhängern aber erscheinen sie als geschichtliche Wahrheit schlechthin. Widersprechende Bilder anderer Gruppen sind für sie falsch oder bösartig und bestenfalls kurios. Solche Geschichtsbilder sind faktenarm, hochselektiv, aber urteilsfreudig und gefühlsstark. Daher ist die Geschichtsforschung mit ihrem kritischen Instrumentarium ein Feind der Geschichtsbilder - mögen Historiker ihrem Bann auch nicht selten erliegen.

Offenbar werden Geschichtsbilder nicht durch argumentativen Diskurs, sondern nur durch den Gang der Geschichte bestätigt oder widerlegt. Zur Bestätigung reichen kleine Siege, zur Widerlegung sind tief greifende Katastrophen notwendig. Geschichtsbilder können zur politischen Agitation benutzt werden, sind aber mehr als die bald verbrauchten historischen Argumentationen, Zwecklegenden, Propagandawaffen - von Fälschungen und Lügen ganz zu schweigen. In archaischen Gesellschaften sind auch die Geschichtsbilder als mentale Selbstverständlichkeiten in Geist und Gefühl eingelagert - einer Wagenburg vergleichbar. In modernen, komplexen Gesellschaften ist es anders: Die Unterschiedlichkeit der Gruppen, Klassen, Parteien, Religionen, Regionen und Generationen, die Vielzahl verschiedener Erfahrungen und die Differenz der Erwartungen bringt verschieden akzentuierte, konkurrierende Geschichtsbilder hervor - eine Begleiterscheinung pluralistischer Verhältnisse. Unsere Geschichtsbilder streiten nicht nur gegen fremde, sondern auch untereinander.

Das betrifft vor allem die sensible Zone des Übergangs selbst erlebter Vergangenheit in überlieferte Geschichte - also in der Regel ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse. Entsteht hier ein Dissens zwischen der Erinnerung der noch Lebenden und dem Urteil der Nachgeborenen, wird der Streit um Geschichtsbilder besonders heftig. Als Beispiel dafür kann die sog. Wehrmachtsausstellung dienen.

Im Folgenden geht es aber um die tiefer liegenden, Selbstverständnis und Zusammengehörigkeit durch Jahrhunderte stiftenden Geschichtsbilder, die - mit den Begriffen Jan Assmanns - jenseits der " kollektiven Erinnerung" im "kulturellen Gedächtnis" eingelagert sind. [8] Sie sind gestiftet und tradiert, wirksam oft über Jahrhunderte. Sie heften sich an Gründungsgeschichten, können bis ins Mythische übergreifen. [9] Am nachhaltigsten wirken die "Geschichtsbilder" der Religionen: Das Kirchenjahr ist das stärkste Beispiel für ein Geschichtsbild in Aktion, das durch Wiederholung von Wort, Lied, Liturgie und symbolischer Handlung in der Gegenwart durch Erinnerung "allem Volke" - der Menschheit - eine Zukunft verheißt.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 36 II. Universale und partikulare Geschichtsbilder

Damit sind wir bei Geschichtsbildern jenseits einzelner Gemeinschaften, die den Verlauf und den Sinn, den Ursprung und das Ziel der Geschichte der gesamten Menschheit mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit deuten. Das nationale Geschichtsbild weitet sich zum Weltbild, und umgekehrt wirken solche Weltbilder auf nationale Geschichtsbilder zurück. [10] Hier gewinnen Geschichtsbilder eine ontologische Qualität. Sie verankern sich in der Religion oder der Philosophie und führen damit auch zu Ausschließlichkeit und Selbstgerechtigkeit. Für den Umgang mit Geschichtsbildern und für das Verständnis ihrer Konstruktion und Rezeption ist dieser Zusammenhang zwischen den partikularen und den universalen Vorstellungen von zentraler Bedeutung. Er stiftet die Legitimation partikularer und die Konkretion universaler Geschichtsbilder. Beide beziehen ihre Kraft aus der Glaubwürdigkeit dieses Zusammenhanges; sie werden geschwächt oder obsolet, wenn Widersprüche zwischen partikularen und universalen Geschichtsbildern zu Symptomen politischer Turbulenzen in Zeiten verunsicherter Vergangenheitsdeutung und verstörter Zukunftserwartung werden. Genau dies ist unser Fall an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert.

Immer wieder haben Künstler in solchen Zeiten Vorstellungen und Deutungen von Geschichte in Bildern verdichtet. Sie können, wie Leitfossilien, Wegweiser für die Funktion von "Geschichtsbildern" im metaphorischen Sinne sein. Wir erinnern an ein bekanntes Beispiel: Altdorfers Bild "Die Alexanderschlacht" (1529) ist kein Abbild der Schlacht bei Issos 333 v. Chr., sondern ihre weltgeschichtliche Deutung. [11] Die in den Kostümen des 16. Jahrhunderts kämpfenden Heerscharen versinnbildlichen einen im universalen Geschichtsbild der späten Antike und des Mittelalters zentralen "Drehpunkt" - den Übergang vom zweiten zum dritten Weltzeitalter: Nach der assyrischen und persischen folgt nun die griechische und damit die abendländische Weltmonarchie. Diese Schlacht zwischen zwei Kulturen wird durch eine gewaltige Bewegung des gesamten Kosmos: Sonne und Mond, Erde und Meer, Licht und Finsternis begleitet. Irdisches und kosmisches Geschehen korrespondieren miteinander, als das dritte Weltzeitalter gewaltsam heraufgeführt wird. Dieser griechischen Weltmonarchie wird als vierte und letzte die römische folgen. Wenn einst das Römische Reich zerfällt, wird das Jüngste Gericht die Geschichte der Menschheit beenden.

Im Jahre 1529 stehen die Türken vor Wien. Altdorfers Bild beschwört angesichts der Türkengefahr den Sieg des Abendlandes über das Morgenland. Der auf den Perserkönig zustürmende Alexander trägt die Züge Maximilians I. Das Bild ist ein Appell an Kaiser und Fürsten, das Römische Reich, die letzte Weltmonarchie, die nun die Deutschen tragen, zu retten. Die Erhaltung des Reiches ist die Voraussetzung für das Fortdauern der Geschichte, für das Noch-Fernesein des Jüngsten Gerichts, das man im Volk bereits kommen sah. [12]

Altdorfer hat in seinem Bild eine durch Jahrhunderte überlieferte Deutung des Geschichtsverlaufs den Bedrohungen der Gegenwart als Hoffnung entgegengehalten. Es ist wahrhaft universal: Alles menschliche Dasein eine Bühne, auf der sich die Geschichte der Menschheit, gegliedert in vier Akte zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht, abspielt. Auf diesem theatrum mundi erscheint die Geschichte der Völker und Herrscher als universales Arsenal der Vorbilder rechten Lebens (und der Gegenbilder), als "magistra vitae", als die sie schon Cicero gepriesen hatte.

Die Universalität dieses Geschichtsbildes bot nicht nur Raum, sondern erforderte geradezu die Ausfüllung durch engere, auf bestimmte Völker oder Herrscher bezogene Geschichtsbilder. Die Sachsen leiteten ihre Herkunft und Macht von den Assyrern, die Franken von den Trojanern legitimierend ab. Die klassische Konkretion ist die Deutung des göttlichen Auftrages an die Römer in Vergils Aeneis. Vergangenheit enthält die Zukunft als Aufgabe: "Du bist ein Römer, dies sei Dein Beruf, die Welt regiere, denn Du bist ihr Herr ..." Die deutschen Könige übernahmen als Kaiser des Römischen Reiches Deutung und Anspruch dieses universalen Bildes der Geschichte, das ihnen die Priorität unter

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 37 den Fürsten der Christenheit verlieh.

Wie verblassen Geschichtsbilder, wie wurden sie relativiert? Im gleichen Jahr, als Altdorfer sein Bild vollendete, wurde Jean Bodin geboren, dessen politische Theorie am Ende des 16. Jahrhunderts am schärfsten die universale Weltreichlehre als Herrschaftsideologie der deutschen Könige und Kaiser verwarf, deren Suprematie bestritt und an ihrer Stelle die Souveränität der Monarchien Europas begründete - ein neuer Deutungsversuch der politischen Ordnung als polyzentrischer Mächtekonstellation. [13] Das Zeitalter der Entdeckungen, die Religionskriege mit der Spaltung der abendländischen Christenheit sowie die Ausbildung des Systems absolutistischer Königsmacht waren die realhistorischen Voraussetzungen, die das alte, universale Geschichtsbild obsolet und zur künftigen Orientierung untauglich machten. Es sank ab zum Element antiquarischer Bildung oder ins Dekor wie andere antike Motive. An seine Stelle traten die partikularen Geschichtsbilder nationaler Monarchien mit ihren je besonderen Legitimationen - ein Mit- und vor allem ein Gegeneinander der "Großen Mächte". [14]

Auch diese parzellierten Geschichtsbilder waren hungrig nach - wenigstens rhetorischer - universaler Beglaubigung. Zunächst bezogen sie diese noch aus dem religiösen Weltbild: Die spanischen Monarchen nannten sich "die Katholischen", der französische König der "allerchristlichste", Cromwells Ironsides fühlten sich alttestamentlich legitimiert, und noch die "Heilige Allianz" bettete ihr Programm der Ordnung Europas in ein religiös-christliches Weltbild ein. Aber dieser Universalitäts-Bezug war ohne realhistorische Entsprechung und Kraft, war - modern gesprochen - Ideologie. Es folgte der Kampf der Monarchien untereinander. Im prekären Konzept von Gleichgewicht oder Hegemonie, im ius publicum Europaeum, entstand ein Bild Europas als eines Bezirks politischer Ordnung mit gleichartigen Formen und Konventionen, der sich vom Rest der Welt deutlich absetzte.

III. Das Konzept der "Moderne" - Geschichte als Fortschritt

Keineswegs das einzige, wohl aber das dominante Geschichtsbild - das Grundmuster, zu dem sich fortan partikulare Geschichtsbilder ins Verhältnis setzen mussten - ist die Vorstellung der Geschichte als eines immanenten Fortschritts zum Besseren: ein Geschichtsbild europäischer Herkunft, das universelle Geltung beansprucht. Es bestimmt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Vergangenheitsdeutung und Zukunftserwartung.

An seinem Beginn stand die Erfahrung der Perfektibilität menschlicher Erkenntnisse und Verhältnisse. Der Aufstieg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, ihre Lösung von den antiken Dogmen, aber auch die Verbesserung der Umstände des Lebens und schließlich die Rationalisierung von Verwaltung und Recht, von Finanz- und Kriegswesen führten zu der Vermutung oder Gewissheit, dass Geschichte nicht immergleiche Wiederholung von Aufstieg und Fall von Herrschaft sei, sondern dass ihr eine in die Zukunft weisende eigene Energie zur Verbesserung aller menschlichen Verhältnisse innewohne. Geschichte war nicht mehr nur Bühne, sondern Bewegung in der Zeit, deren Ziel Verbesserung der menschlichen Gesellschaft und Entwicklung der menschlichen Natur zu der ihr innewohnenden Vernunft und Humanität sein müsste. [15]

Damit weitete sich das universale Geschichtsbild zum Weltbild. Durch die Geschichte beantwortet sich die zentrale Sinnfrage: Was ist der Mensch? Darauf gibt sie als Prozess der Verwirklichung der Vernunft die Antwort. Kant hat als Erster den Entwurf einer "Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht " aufgestellt, Schiller sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Menschheit schon fast am Ziel der " Universalgeschichte". [16] Und wiederum Kant glaubte die Zeit reif, mit seinem Traktat "Zum ewigen Frieden" das Programm eines Völkerbundes "republikanischer" Staaten nicht mehr als bloße Utopie entwerfen zu können.

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[17] Dieses universale Bild vom Lauf der Geschichte trug eine ambivalente Spannung in sich und fand von Beginn an Widerspruch und Konkurrenz in anderen Konstruktionen des Weltlaufs. Dennoch blieb dieses "Projekt der Moderne" das am weitesten verbreitete universale Geschichtsbild bis in unsere Tage. [18]

IV. Nationale Geschichtsbilder als Konkretion der Universalgeschichte

Neben und mit diesem "Projekt" formten sich länger angelegte, aber seit den napoleonischen Kriegen virulent werdende nationale Geschichtsbilder. Sie verstanden sich als die Konkretisierungen des universalen Fortschrittspostulats; denn "Menschheit" ist ein Abstraktum, existiert real nur in den zahlreichen Sprach- und Geschichtsgemeinschaften, die sich als Nationen zu konstituieren anschickten. So wurden die National-Geschichten - nicht mehr die der Herrscher - als der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft und der Lehre begriffen, [19] entstanden partikulare Geschichtsbilder mit universalem Anspruch. Diese Geschichtsbilder schufen eine nationale Vergangenheit gemäß der neuen Zukunftserwartung von universalem Zuschnitt.

Die großen Nationen - angesichts der industriellen, politischen, demographischen und wissenschaftlichen "Revolutionen" - nahmen für sich in Anspruch, an der Spitze der Bewegung der Geschichte zu marschieren: Frankreich, in Verklärung der Ideen der Revolution, expandierte politisch und militärisch mit der Legitimation, Freiheit und Gleichheit unter den Nachbarn, schließlich auch in den Kolonien zu befördern. Wegen seines egalitären, menschheitlichen Zivilisationsauftrages reklamierte die "Grande Nation" ein Recht, als Zentrum der Freiheits- und Gleichheitsideen zu gelten mit den daraus folgenden Ansprüchen auf Einfluss und politische oder kulturelle Hegemonie. Widerstand dagegen erschien als Reaktion oder als Barbarei.

England - der Feind der revolutionären Republik, der politischen Ideen von 1789 und des französischen Empire - identifizierte seine Nationalgeschichte gleichfalls mit dem Fortschritt der Freiheit in der Welt. John Robert Seeley zeichnete die Entstehung und Ausbreitung des britischen Empire als einen vorherbestimmten teleologischen Prozess, in dem der Sinn der englischen Geschichte als Weltmission der Freiheit und des Fortschritts in einem föderalen Weltreich sich entfalte. [20] Die Welt zu zivilisieren, materiell zu entwickeln, die Freiheit des englischen Rechtssystems und Aufklärung durch Unterricht zu bringen, das erforderte formelle und informelle Herrschaft, brachte eine Schlüsselrolle in der Weltwirtschaft, galt zugleich als Dienst an der Menschheit, als "the white man's burden".

Solchen herrschaftsgestützten Zivilisationsansprüchen selbst ernannter Träger des Fortschritts stand - abgesehen von allen konkreten Verhältnissen - ein Element der universalgeschichtlichen Doktrin selbst im Wege: das der Freiheit und Individualität, der Besonderheit und des politischen wie kulturellen Selbstbestimmungsrechtes jedes Volkes. So ist zu verstehen, dass in der Folge Geschichtsbilder entstanden, die angesichts der Übermacht der Fremden das Recht auf Autonomie der eigenen Nation proklamierten. Nationalgeschichtsbilder des 19. Jahrhunderts bildeten sich hier über den Willen zum Widerstand gegen fremde, universale Ansprüche und damit alsbald über den Katalysator von Feindbildern: Vorstellungen vom Feind, der die eigene Art und Unabhängigkeit unterdrückt, wurden zur schwarzen Folie des Selbstbildes. Das führte zur Entstehung von Geschichtsbildern der "kleinen Nationen" in Europa. Auch das herrschende Geschichtsbild des kleindeutschen Nationalstaats erhielt seine Impulse aus solchem Widerstand. [21]

Die Vorstellung vom universalen Fortschritt der Geschichte hielt das deutsche Geschichtsverständnis gleichwohl fest, freilich mit einem anderen Modell als dem französischen der "Gleichheit" oder dem

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 39 angelsächsischen der "Mission": dass nicht ein generelles Muster, sondern die Entwicklung vielfältiger " Individualitäten" die Triebkraft des Fortschritts auf "Sonderwegen" sei. [22] Kein einstimmiger Chor, sondern ein Konzert verschiedener Stimmen sei die Weltgeschichte, und jede müsse rein ausgebildet werden, damit das Ganze vollendet klinge. So habe jedes Volk das Recht, gemäß seiner Eigenart und seiner besonderen Situation seine inneren Verhältnisse so zu entwickeln, dass es mit der Ausbildung seiner "Individualität" seinen besonderen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit leiste. [23]

Auf dem Höhepunkt nationaler Geschichtsbilder - die immer stärker wurden, je weniger die Realpolitik sich an die Zielsetzungen des universalen "Projekts der Moderne" hielt - findet sich eine Botschaft in einem Bild, das in die Zukunft blickt und zugleich die Vergangenheit beschwört: "Völker, Europas, wahrt Eure heiligsten Güter!" Auf hohem Fels stehen gerüstete, edle Frauengestalten - Allegorien der großen europäischen Nationen - und schauen hinab in eine weite Ebene, die von unendlichen Scharen heranstürmender, mongolenähnlicher Feinde bedeckt ist. Dieses Bild, von Wilhelm II. in Auftrag gegeben, thematisiert die zunächst in den USA beschworene Zukunftsangst vor der "Gelben Gefahr " als Bedrohung einer europäischen Kulturgemeinschaft. [24]

Diese Vision der kommenden Geschichte zeigt, wie weit Geschichtsbilder von der Wirklichkeit entfernt sein können. Nicht die Chinesen bestürmten um die Jahrhundertwende die Festung Europa, sondern die Europäer erweiterten ihre Weltherrschaft mit der Gewalt der Technik, des Geldes und der Waffen, und die europäischen Staaten waren weit davon entfernt, sich als Verteidigungsgemeinschaft " heiligster Güter" zu fühlen; sie standen vielmehr kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dem europäischen Bürgerkrieg, der auch ein Krieg der nationalen Geschichtsbilder war. Und dennoch deutet dieses Bild eine zukunftsträchtige Wendung an: eine neue Epoche, in der die Nationen sich als europäische Kulturgemeinschaft gegen eine vermeintliche Bedrohung zusammenfinden, in Verteidigung des einst universalgeschichtlichen Programms, das hier zum europäischen erklärt wird.

V. Das "Zerbrechen der Zeit": Das Schwinden der nationalen Geschichtsbilder und der Gewissheit des Fortschritts

Wir erleben seit einiger Zeit die Umbildung des Primats einst sakrosankter nationaler Geschichtsbilder als sinnstiftender Orientierungen. Das gilt nicht nur für eine hybride Deutung der deutschen Nationalgeschichte, die im sog. "Dritten Reich" real und mental zerbrochen ist; es gilt - weniger dramatisch - auch für die anderen großen europäischen Nationen, deren Selbstverständnis immer weniger auf sich selbst zentriert ist, vielmehr in ein supranationales Geflecht integriert wird. Der ausschließlich nationale Selbstbezug trifft kaum noch unsere Daseinserfahrung und Zukunftserwartung. Die Walhalla, so der die Zeittendenzen vorausnehmende Künstler, wird in einem Bild Anselm Kiefers zur leeren Scheune. Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, 1875 im Beisein des Kaisers mit dem Choral "Ein' feste Burg ist unser Gott" eingeweiht, wird zum Gegenstand eines " Events", wenn der Cherusker im Trikot von "Arminia Bielefeld" für die Sponsorfirma "Herforder Pils " wirbt und uns das keineswegs empört, sondern eher belustigt. Die Frage ist, wie wir uns im Angesicht der Vergangenheit als Nation begreifen sollen.

Aber nicht nur die nationalen Geschichtsbilder, auch die Gewissheit vom Fortschritt der Menschheit als Sinn und Ziel der Nationalgeschichten ist ins Wanken geraten. Den demokratisch-liberalen Ordnungsvorstellungen vom nationalen Rechtsstaat traten nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe autoritärer, faschistischer oder kommunistischer Gesellschaftskonzepte entgegen. Von den Denkweisen und Verfahren europäischer Kolonialherrschaft gingen illiberale Rückwirkungen auf die Mutterländer aus, [25] welche die Glaubwürdigkeit des universalen Geschichtsbildes in nationaler Konkretion infrage stellten

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- am radikalsten in Ideologie und Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus, mit sozialdarwinistischen und biologischen Letztbegründungen bis zum Genozid. Dass sich zudem das Projekt der Geschichte als Selbstvollendung der Menschheit in sich spaltete und dem Glauben an individuelle und soziale Perfektibilität das Dogma vom Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats als dem eigentlichen Inhalt und Ziel der Geschichte feindlich gegenübertrat, war die fundamentale Herausforderung des " Projekts der Moderne", die aus seinen inneren Widersprüchen selbst entstand.

Können wir nach dem politischen Untergang der faschistisch-rassistischen Ideologie und der Marginalisierung der politischen Bedeutung des "Histomat" dem westlich-liberalen Deutungsmuster der Geschichte noch Realität zusprechen: die Verbindung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts mit der Erweiterung der Emanzipation, die Realisierung der Menschenrechte überall, gerechte Verteilung der Ressourcen des Globus, Freiheit des Individuums und Autonomie gewachsener Kulturen? Hat das "Konzept der Moderne" noch Glaubwürdigkeit und Kraft angesichts der Widersprüche und Ungewissheiten der selbst produzierten Komplexität und Antinomien der Evolution? Wird es Fortschritt und Freiheit glaubwürdig vorantreiben, sodass die wiederbelebten ethnischen und nationalen Selbstdeutungen der Völker des ehemaligen Sowjetimperiums oder der Kolonialreiche sich in diesem weltgeschichtlichen Programm wiederfinden können? Oder könnte auch das "westliche" universale Geschichtsbild mit dem Postulat menschheitlichen Fortschritts zu Freiheit und Wohlstand zerbrechen, wie es dem marxistisch-kommunistischen Konzept kurz vor dem Ende des Sowjetsystems geschah?

Wieder kann ein Auftragsbild diese Frage an die kommende Geschichte symbolisch vermitteln. Werner Tübkes Panoramabild in Frankenhausen sollte den Beginn der letzten Periode des Klassenkampfes und in der Niederlage der Bauern den künftigen Sieg des Proletariats beschwören. [26] Das Panorama zeigt jedoch eher das Zerbrechen des universalen Geschichtsbildes von der Selbsterlösung des Menschen als dessen kommende Verwirklichung. Mitten im Gemetzel der Schlacht, in einem gegliederten Rund von Menschheitssituationen voller Mord, Laster und Bosheiten, durchwebt von dunklen Symbolen des "apokalyptichen Jahrhunderts", steht Thomas Müntzer. Ratlos und suchend, nicht in trotziger Gewissheit künftigen Sieges, blickt er über das trostlose Weltbild mit seiner Heillosigkeit und Rätselhaftigkeit der Geschichte, deren Herr der Mensch nicht ist. Man hat dieses Panorama als künstlerisch verschlüsselte Vorwegnahme des Scheiterns des sozialistischen Geschichtsbildes gedeutet. Aber betrifft es uns nicht in gleicher Weise? Welches Bild der kommenden Geschichte können wir uns machen?

VI. Perspektiven der "kommenden Geschichte"

Drei universale Perspektiven kommender Geschichte bietet die Diskussion der letzten Jahrzehnte an:

1. "Das Ende der Geschichte": Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg brachten eine Zukunftswissenschaft hervor, die einen optimistischen Blick in die Zukunft warf und angesichts der vielen wissenschaftlich-technischen Fortschritte und der zunehmenden internationalen Vereinbarungen und Gremien das Ziel des Fortschritts nahe sah. Wenn auch im Einzelnen skeptisch aufgenommen, traf sie doch im Ganzen eine Grundstimmung. Gegen Ende des Jahrhunderts gewann dann die These vom "Ende der Geschichte" erhöhte Aufmerksamkeit. Nach der Auflösung des Sowjetimperiums schien die Verwirklichung von Frieden greifbar nahe, Wohlfahrt und Menschenrecht überall zu gewährleisten. Damit war das Ziel der Geschichte erreicht, jedenfalls im Prinzip; vorhandene Defizite galten als bald überwindbar. Die vernunftgemäß eingerichtete Gesellschaft der "posthistoire " bedarf wohl der ständigen Regulierung der verschiedenen Subsysteme: der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kultur, aber nicht mehr solcher "Bilder", welche die Zukunftserwartung auf die Deutung der Vergangenheit stützen. Geschichte wird ein Magazin von Szenen der Menschenwelt, von Zuständen und Ereignissen, die man anschaut, erstaunt oder erschreckt wahrnimmt - dies aber letztlich unverbindlich und beliebig. Mit der Homogenisierung aller Informations-, Wissens- und Verteilungswege, mit der Möglichkeit globaler Behebung von Not tut sich eine Kluft zur Vergangenheit

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 41 auf - sie ist für die Orientierung in der Gegenwart nicht mehr tauglich. Das Alte ist nicht mehr das Wahre, Innovation gilt mehr als Erfahrung; die Biotechnik, nicht mehr die Pädagogik begründet die Hoffnung auf den Fortschritt, den der Mensch an sich selbst vollzieht.

Zwar widerspricht die Realität diesem Bild. Aber: Breite Schichten der Bevölkerung in der "Ersten Welt " verhielten sich so, als ob ein solcher Zustand eingetreten sei, als ob wir nicht kommende Geschichte, sondern "vollendete Gegenwart" vor uns hätten - d.h. keine "Zukunft", die etwas anderes und Besseres ist als die Gegenwart. Das "Vergehen der Zukunft" [27] in Vorstellung und Lebensweise eines "Menschenparks" (Sloterdijk) ist abzulesen an jenem Umgang mit Geschichte, mit Überlieferung und Tradition, der ins Unverbindlich-Luxuriös-Kuriose gerät, was Sinngebung und Daseinsdeutung von Gemeinschaften betrifft. In dieser Lage gerät und verkommt zum Stillstand, was das Lebensgesetz demokratischer Verhältnisse ist: die Bewegung hin auf eine bessere, menschlichere Zukunft. In gleichem Maße - als Kehrseite dieses Bildes - schwindet die Überzeugung, es herrsche Rationalität in der geschichtlichen Welt, wird die Kontingenz, die enigmatische Struktur der Geschichte als ihr Wesen wahrgenommen. Damit ist der "Fortschritt" nicht nur stillgestellt, weil er sein Ziel erreicht hat; er kann überhaupt als Irrtum der Geschichtsphilosophie entlarvt werden. [28] Auf verhüllte Weise entspricht die Rede vom "Ende der Geschichte" im dialektischen Umschlag weniger der Wertung gelungener Vollendung als vielmehr des Endes der Vorstellung ihres einsichtigen Vernunftantriebes.

2. Die Geltung des Projekts der "Moderne" als Vision einer besseren Welt: Entschieden widersprechen die Verfechter und Erben des Aufklärungs- und Fortschrittskonzepts dieser Position. Weder habe die Geschichte ihr immanentes Ziel erreicht, noch sei die Deutung ihrer "kinetischen Energie" als Vordringen der Vernunft widerlegt. Die ökonomische und technische Globalisierung kann als ein mit Gefahren verbundener Schritt, aber doch als ein Fortschritt und ein Versprechen erscheinen, das auf die Humanisierung der sozialen Verhältnisse und die politische Emanzipation auf dem Erdball weist. Hier ist das meiste noch zu tun, und das universale Geschichtsbild einer freien, zivilen Gesellschaft sowie der weltweiten institutionellen Sicherung von Frieden und Recht gilt als Zukunftsauftrag und braucht noch Kraft, um überkommene Traditionalismen der Norm allgemeiner Vernunft zu unterwerfen. Weder ist dieser Prozess am Ende, noch ist er als Wille und Vorstellung unserem Handeln entzogen. "Geschichte als Selbstgestaltung und Selbstauslegung der Menschen " entziehe sich nicht "wirklich ihrer Aufklärung ... Blockiert ist nur ... die entschiedene Umsetzung dieses Wissens für das Selbstverständnis des Menschen" [29] . Die Richtung der Geschichte bleibt die auf Perfektibilität gegründete Zielvorstellung, ihr Antrieb der fortdauernde vernünftige Dialog.

3. Der "Kampf der Kulturen": Einer empirisch ansetzenden Deutung des an Konflikten überreichen Zustandes unserer Welt erscheint dieses Konzept eines allgemeinen Fortschritts als Ideologie der " westlichen" Zivilisation, die als universal gültig ausgegeben wird, um globale Dominanz zu legitimieren, tatsächlich aber ein partikulares Geschichtsbild einer Kultur ist. Im Kampf gegen die technisch, militärisch und wissenschaftlich überlegene, nach Sitte, Moral und Recht jedoch als fremd oder verderbt empfundene Zivilisation formieren sich unter Aneignung der wertneutralen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten des Westens die außereuropäischen Kulturen, suchen und finden in Rückbesinnung auf ihre eigene Geschichte ihre Identität in Abgrenzung vom "Westen". Die kommende Geschichte wird, statt die "eine Welt" zu bringen, die Scheidung der Menschheit in Kulturkreise verschärfen; sie sind zwar vielfältig vernetzt durch alles, was technischer und wissenschaftlicher Fortschritt und ökonomischer Austausch hervorbringen mag, aber deutlich getrennt durch die Werteskala, nach der sich Individuum und Gemeinschaft bilden. Alte Geschichtsbilder werden aktualisiert, sie weisen auf die Unterschiede zwischen den Kulturen hin, auf die früheren Kämpfe und vergangene Überlegenheiten. Ob es schließlich zum "Clash of Civilizations"

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[30] kommt oder ob sich ein friedlicher Ausgleich ihrer verschiedenen Daseinsweisen und Interessen herstellt, bleibt ungewiss.

Die fanatischen Potenziale in diesem Streit der Kulturen und deren technische Möglichkeiten sind so beschaffen, suchen so neue und gefährliche Wege, dass man die Prävention nicht vernachlässigen darf. Diese Zukunftserwartung drängt auf Stärkung des Zusammenhalts im eigenen Kulturkreis, seiner in der Geschichte gewachsenen Wertvorstellungen und Selbstbehauptungskraft im geistigen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich. Der westlich-europäische Kulturkreis ist uns näher als die Welt. Seine Geschichte und seine Zukunft sind unser Teil - daraus folgt die Anerkennung der Besonderheit anderer Kulturen, nicht aber die Vermischung oder gar ihre Einebnung und Integration in das europäische Konzept der Moderne.

Das ist eine Repartikularisierung des universalen Geschichtsbildes vom Fortschritt der Menschheit. Kann es zur besseren Regelung der Konflikte beitragen, wenn die sozialen, politischen und kulturellen Eigenarten der Kulturen nicht einem Leitmodell folgen müssen? Die Normen der Friedenswahrung, des Völkerrechts und der Menschenrechte - bereits in globalen Resolutionen und Institutionen bekräftigt - wären dann als der europäisch-westliche Beitrag zu einer Universalgeschichte zu verstehen, die im Übrigen der Eigenart jeder Kultur ihren Raum lässt. Dieses Konzept erlaubt einerseits, am Bild einer " Universalgeschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht" festzuhalten, und andererseits, kulturelle Differenz zu achten. Vielfalt der Kulturen ist anzustreben, die durch wenige, zentrale Universalismen ihr Miteinander regeln. So wird "angstfreies Andersseindürfen für alle ermöglicht ... Universalisierung ist nur als Pluralisierungsermöglichung gerechtfertigt, nur als Buntheitsförderung." [31]

Diese drei Positionen werden jede für sich oder in wechselnden Kombinationen die im Hintergrund der öffentlichen Vermittlung von Geschichte stehenden "Geschichtsbilder" dominieren und verorten lassen. Im Hintergrund der viel berufenen "Geschichtskultur" wartet die Aufgabe theoretischer Klärung, normativer Auseinandersetzung und pragmatischer Umsetzung der Ziele und Verfahrensweisen bei der Präsentation von Geschichte im Hinblick auf die künftige "Zeitperspektive", die wir der Vergangenheitsdeutung geben. [32] Das Ziel methodisch angelegter Bildung des "Geschichtsbewusstseins" wird sich nur bei Reflexion über den Zusammenhang von partikularem und universalem Geschichtsbild verfolgen lassen. [33]

VII. Das Geschichtsbild "Europa" und die deutsche Nationalgeschichte

In Europa ist das "Projekt der Moderne" entstanden. Können wir es nur durch Repartikularisierung für den westlichen Kulturkreis bewahren, und müssen wir damit seinen universalen Anspruch zurücknehmen? [34] Genau betrachtet geht es nicht um seine Repartikularisierung, sondern um eine Reduzierung des Anspruchs auf Gleichförmigkeit des historischen Prozesses und auf den Mustercharakter des westlichen Weges in die Moderne. Dieser Anspruch ist schon ein Widerspruch in der Idee: Denn nicht durch Zwang oder Mission, sondern kraft eigener Anstrengung und auf der Grundlage eigener kultureller Prägungen kann der geschichtliche Prozess einer Selbstverwirklichung der in der Natur angelegten Gaben und Aufgaben des Menschen stattfinden. Pluralisierung heißt anzuerkennen, dass es kulturelle Eigenwege der Völker und Kulturen in diesem Prozess geben muss, wenn er nicht denaturiert werden soll, wie es im Zeitalter des Imperialismus geschah. [35]

Im Durchgang durch die Epoche der Aufklärung, der Zeit der Entstehung oder Vorbereitung des modernen Nationalstaates, entstand das bei allen Differenzen die Nationen Europas verbindende

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Geschichtsbild - die Nationalgeschichten sind als Elemente des europäischen Geschichtsbildes nicht wegzudenken und auch nicht auf das "weltbürgerliche" Prinzip der Republik zu reduzieren. Das universal gedachte, europäisch realisierte Konzept braucht die Vielfalt wie die Gemeinsamkeit des Partikularen - als abstrakt-unitarische "Staatsnation" wird sich Europa nur in den Vorstellungen politischer Systematiker realisieren. [36] Diese doppelte Offenheit zu den partikular-nationalen und den universalen Geschichtsbildern enthält die Chance der Akzeptanz in einem so differenzierten Geschichtsraum wie Europa.

Die politische Teilung Deutschlands spaltete auch die deutschen Geschichtsbilder: Die machtgeschützte Doktrin des "Histomat" einerseits, die prononcierte "Westorientierung" im Wertungshorizont geschichtlicher Vorgänge andererseits blockierten - ungeachtet eines intensiven und vielfältigen Forschungsbetriebs - zunehmend eine breitere öffentliche Diskussion um eine Deutung oder gar Wertung der deutschen Geschichte. Die zweite Blockade war Folge des unerhörten Traditionsbruchs der NS-Zeit - in Ost und West unterschiedlich auf die Gegenwart bezogen, aber überall als Verdunkelung oder Abriss der historischen Kontinuität unserer Geschichte wahrgenommen. Das Bild der deutschen Geschichte war zerbrochen: Sie wurde entweder marginalisiert - bis hin zum Zweifel an der Existenz ihres Zusammenhangs - oder stigmatisiert als bloße Vorgeschichte der Barberei des Hitler-Regimes.

Die Entstehung eines Geschichtsbildes mit europäischem Horizont hinter bzw. in der Nationalgeschichte löst diese Blockaden. Der Zusammenhang deutscher Geschichte - sieht man ihre Verflechtung in gesamteuropäische Zustände und Bewegungen - wird wieder formulierbar und macht die deutschen Eigenheiten als Varianten und Beiträge zur europäischen Gemeinsamkeit in Kultur und Wissenschaft, Recht, Politik, Technik und Wirtschaft im vergangenen Jahrtausend sichtbar. Die Geschichtswissenschaft hat in heftigen, die Öffentlichkeit bewegenden Kontroversen - wie im " Historikerstreit" der achtziger Jahre - sowie in einer Anzahl breit angelegter Synthesen der deutschen Geschichte die Komplexität ihres Zusammenhangs dargestellt; und die Lehrbücher für den Unterricht, angestoßen durch diese Entwicklung und durch transnationale Diskussionen, folgen - nicht nur in Deutschland - dieser Tendenz zu einem die jeweilige Nationalgeschichte integrierenden europäischen Geschichtsbild.

So gewinnt das Bild der deutschen Geschichte Substanz im Rahmen europäischer Geschichtsdeutung mit ihren universalen Postulaten. Das könnte den verlorenen Zusammenhang zwischen partikularem und universalem Geschichtsbild wiederherstellen und eine Zeitperspektive vermitteln, die das Verständnis der Möglichkeiten und Forderungen der kommenden Geschichte fördert. In dieser Perspektive ist die Variation der Sprechchöre während der "friedlichen Revolution" im November 1989 von dem Demokratie einfordernden Ruf "Wir sind das Volk" zu dem die Einheit der Nation einfordernden Satz "Wir sind ein Volk!" nicht zu diskreditieren als Rückfall in ein nationalistisches Geschichtsbild und als Widerspruch zum "Konzept der Moderne". Sie ist vielmehr als Bekenntnis zu einer Verantwortungsgemeinschaft zu werten, der es aufgegeben ist, sich gemeinsam der Schuld zu stellen, die sie geerbt hat und gemeinsam die Bestände der Geschichte zu prüfen, die diesem Volk einen Platz in einem europäischen Geschichtsbild geben. [37]

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 44 VIII. Der Geist der Zeit, die Wahrheit und die Muse der Geschichte - mehr als eine Allegorie

Geschichtsbilder lassen sich nicht verordnen, aber die professionelle Geschichtsvermittlung in der Öffentlichkeit wie in der Schule bleibt blind, wenn sie sich nicht Rechenschaft ablegt über die Perspektiven der kommenden Geschichte, die sie anbieten. Sie muss sich im Spektrum der skizzierten Optionen orientieren, will sie nicht in die "Geschichtsfalle" laufen, Funde aus dem Labyrinth der Vergangenheit in nicht befragter Anordnung vorzeigen oder als Traumtänzer imaginärer Projekte auftreten. Es liegt ein hoher, aber notwendiger Anspruch in dem Appell an die Vermittler historischer Kenntnis und Bildung, an der Auseinandersetzung um die Zeitdeutung und Zukunftsperspektive teilzuhaben, um auf die Frage nach dem Ziel der Lehre von der Geschichte zwar keine einfachen, aber doch begründbare Antworten zu finden.

Goya hat vor zweihundert Jahren das alte Motto von der Geschichte als "lux veritatis" auf eine neue, uns sehr betreffende Weise dargestellt: [38] Der Genius der Zeit zieht, fast stürzend, die zögernde Gestalt der Wahrheit aus der Vergangenheit ins Licht. Vor beiden sitzt Klio, die Muse der Geschichte, klein wie ein Kind. Sie wendet den Blick aus dem Bild heraus auf den Betrachter, als wolle sie ihn fragen: Was soll ich berichten? Welche Vergangenheit braucht deine Zukunft? Klio drängt uns kein Geschichtsbild auf; sie verlangt aber ein Bewusstsein, das Geschichtsbilder zu erkennen und ihre Bedeutung zu verstehen vermag, ohne ihnen zu verfallen.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52, 2002) (http://www.bpb.de/publikationen/YAPXH4,0, Geschichtsbilder%3A_Zeitdeutung_und_Zukunftsperspektive.html)

Fußnoten

1. Erweiterter Text eines Vortrags auf dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig am 9. Oktober 2001; für die Hilfe bei der Literatur- und Bildrecherche danke ich Frau Annegret Ritter. 1 Vgl. Richard Holbroke, Meine Mission vom Krieg zum Frieden, München 1998, zitiert bei Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit, Göttingen 1999, S. 40. 2. Vgl. Wolfgang Höpken, Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat, Jugoslawien 1944-1991, in: ebd., S. 210-246. 3. Vgl. dazu den Sektionsbericht des 43. Deutschen Historikertages, Aachen 2000, in: Eine Welt - konkurrierende Nationalgeschichten. Kulturgeschichte Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, S. 316-321; zum Aufleben älterer nationaler Geschichtsdeutungen nach dem Zerfall des Sowjetimperiums vgl. Heiner Timmermann (Hrsg.), Nationalismus in Europa nach 1945, Berlin 2001 (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 96). 4. Vgl. Rainer Eckert/Bernd Faulenbach (Hrsg.), Halbherziger Revisionismus: Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München-Landsberg am Lech 1996. 5. Also nicht Bilder von konkreten historischen Ereignissen, die ihre eigene Symbolkraft haben; vgl. Francis Haskell, Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995. Bisweilen werden sie als "Mythen" bezeichnet - so von Yves Bizeul (Hrsg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin 2000. 6. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980. 7. Ich verweise hier auf einen wenig beachteten Sektor: auf die Geschichtsbilder, die sich Naturwissenschaftler von ihrer Disziplin machen - fern des breiten öffentlichen Interesses, aber von großer Bedeutung für die Orientierung und Entwicklung der Wissenschaften mit ihren gesellschaftlichen Folgen; vgl. Helga Nowotny, Der Paradigmenwechsel des Fortschritts. Zur Dynamik der Wissenschaftsentwicklung heute, in: Evelyn Schulze/Wolfgang Sonne (Hrsg.), Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich 1999.

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8. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 48 ff. 9. Eine Anthologie solcher vielfältiger Geschichtsbilder und ihrer Interpretation liegt jetzt unter der Metapher "Deutsche Erinnerungsorte" mit einer ausführlichen Einleitung vor, die den forschungsspezifischen Hintergrund der Entdeckung der "Geschichtsbilder - Geschichtsorte" im europäischen Kontext skizziert: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I-III, München 2001 f. Sie wurde angeregt durch das französische Werk von Pierre Nora, Les lieux de memoire, Paris 1992 ff.; vgl. auch das Jahrbuch 2001 der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik, das sich den "Mythen" der Geschichte widmet, darin vor allem Karl Filser, "Wenn die Vergangenheit sich nicht fügt ..." Nationale Mythen im Geschichtsunterricht, S. 23-45. 10. Vgl. Günter Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt/ M. 1982, Kap. II. 11. Zu diesem Bild existiert eine breite Literatur; vgl. Barbara Eschenburg, Altdorfers " Alexanderschlacht". Ihr Verhältnis zum Historienzyklus Wilhelms IV., in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunst und Wissenschaft, XXXIII (1970), S. 16-67; Cord Meckseper, Zur Ikonographie von Altdorfers Alexanderschlacht, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, XXII (1961), S. 179-185; Jacqueline Guillaud (Hrsg.), Altdorfer und der fantastische Realismus in der deutschen Kunst, Stuttgart 1985. Zum Bild als Zeugnis einer statischen vormodernen Geschichtssicht vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M, 20004. Leider sind hier Reproduktionen der Bilder, auf die ich verweise, nicht möglich - aber sie sind so bekannt, dass dieser Mangel in Kauf genommen werden kann, zumal es nicht um eine kunsthistorische Betrachtung, sondern nur um die inhaltliche Aussage geht. 12. Vgl. dazu Will-Erich Peuckert, Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. Geistesgeschichte und Volkskunde, Hamburg 1948. 13. Die Begründung der inneren Souveränität und der äußeren Unabhängigkeit der Monarchien sind bei Bodin zwei Seiten des gleichen Politikverständnisses. Jean Bodin, Les six livres de la République (1576) - dt.: Sechs Bücher über den Staat, eingel. und hrsg. von Peter C. Meyer- Tasch, München 1981, Buch I, Kap. 9 "Über die Souveränität", S. 249 ff., S. 255, s. auch die Einleitung S. 43 ff. 14. So ist von der Endzeitbefürchtung der Vier-Reiche-Lehre bei der zweiten Belagerung Wiens 1683 und der türkischen Niederlage keine Rede mehr - wohl aber wirkt die Deutung dieses Ereignisses als Stärkung absoluter Herrschaftsformen und der zentralen Stellung der Höfe; vgl. Matthieu Lepetit, Die Türken vor Wien, in: E. François/H. Schulze (Anm. 9), Bd. I, S. 401 f. 15. Vgl. R. Koselleck(Anm. 11), S. 17 ff.; ferner ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, ebd., S. 38-66; zum Hintergrund vgl. den Artikel "Geschichte", in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-717; Reinhard Wittram, Die Zukunft in den Fragestellungen der Wissenschaft, in: ders., Zukunft in der Geschichte, Göttingen 1966, S. 5-29. 16. Vgl. Odo Marquardt, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Aufsätze, Frankfurt/M. 1973, zu Schillers Antrittsvorlesungen in Jena vom Mai 1789. 17. Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1796), Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1968. 18. Vgl. Rudolf Vierhaus, Fortschrittsidee, Fortschrittsskepsis, Fortschrittskritik. Das Erbe der Aufklärung, in: Martin Kintzinger (Hrsg.), Das Andere wahrnehmen. Beiträge zu einer europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, Köln - Weimar - Wien 1991, S. 535-545; m. E. am umfassendsten zur Problematik des Bildes vom "Fortschritt" als Deutung der Geschichte: Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 19882; in der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaften: Rudolf W. Meyer, Das Problem des Fortschritts - heute, Darmstadt 1969. 19. Der erste umfassende Lehrplan für den Geschichtsunterricht an Gymnasien als eigenständiges Fach versuchte noch eine große Synthese: In der Unterstufe lernte man die individuellen Biografien

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großer Männer kennen, in der Mittelstufe die Biografien der bedeutendsten Nationen und in der Oberstufe die Universalgeschichte, d. h. die religiösen und kulturellen Schöpfungen der Menschheit. Hier war in der persönlichen, der kollektiven, der universalen Mitte zusammengefügt, was man als "Bildung" des Menschengeschlechts verstand. Vgl. Karl-Ernst Jeismann, Friedrich Kohlrausch (1780-1867), in: Siegfried Quandt (Hrsg.), Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Wege, Konzeptionen, Wirkungen, Paderborn u. a. 1978. 20. Vgl. John Robert Seeley, The Expansion of England (1883) - dt. Ausgabe "Die Ausbreitung Englands", bis zur Gegenwart fortgeführt von Michael Freund, Berlin - Frankfurt/M. 1954. Gegen die Gefühlsmächtigkeit dieses Geschichtsbildes konnten kritische Stimmen im eigenen Land nichts ausrichten, z. B. J. A. Hobson, Imperialism. A Study, London 1902. Imperialismus sei, so der letzte Satz dieser dicht mit ökonomischen Daten belegten Studie, "the besetting sin of an successful state, and its penalty is unalterable in the order of nature" - ein um 1900 nicht zugekräftiges, abseitiges Geschichtsbild. 21. Vgl. zum deutsch-französischen Fall Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. 22. Vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges: die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. 23. Die Kontroverse um den "deutschen Sonderweg" - der Ausdruck ist zum politischen Schlagwort verkommen - hat hervorgehoben, dass die Realgeschichte keine vorbildliche Norm, sondern nur " Sonderwege" der westlichen Nationen kennt. Die Metapher gehört, zunächst positiv besetzt, in ein professorales deutsches Geschichtsbild, das nach 1918 zugleich eine Verengung und eine pejorative Konnotation im Hinblick auf die Verfassung und den Entwurf alter Eliten im Kaiserreich erhielt. Erst als das universalistische "Projekt der Moderne" unter der NS-Herrschaft gekündigt und ein biologisch-rassistisches Konzept der Weltgeschichte verkündet (und praktiziert) wurde, gewann die Metapher den Sinn eines "Irrweges". Auf die Besonderheiten der Auseinandersetzung der slawischen Welt und den Anspruch des Westens, Modell des Fortschritts zu sein, kann ich hier nicht eingehen. 24. Vgl. Helmut Gollwitzer, Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagwortes. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962. 25. Vgl. Hannah Arendt, Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft, Frankfurt/M. 1955. 26. Vgl. Günter Meißner, Das theatrum mundi einer Utopie. Frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Dresden 1989, S. 153; Karl Max Kober (Hrsg.), Reformation - Revolution. Panorama Frankenhausen. Monumentalbild von Werner Tübke, Dresden 1988 (Einleitungstext); Brigitte Tübke-Schellenberger/Martin Mosebach (Hrsg.), Werner Tübke - das malerische Werk. Verzeichnis der Gemälde 1976 bis 1999, Dresden 1999. 27. Vgl. Pierre-André, L effacement de l avenir, Paris 2000; ferner das Fragenspektrum in: Martin Seel (Hrsg.), Zukunft denken. Nach den Utopien, Stuttgart 2001 (= Sonderheft Merkur 629/630), 55 (2001) 9/10. 28. Zur Komplexität dieser These vgl. O. Marquardt (Anm.'16). 29. G. Dux (Anm. 10), S. 25. 30. Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Welt im 21. Jahrhundert, Berlin 1998 (Originaltitel: The Clash of Civilizations, New York 1996). 31. O. Marquardt (Anm. 16), S. 14. 32. Erich Kosthorst hat das Thema schon 1975 dargestellt (Zeitgeschichte und Zeitperspektive. Mit einer Einleitung hrsg. von Karl-Ernst Jeismann, Paderborn 1976, S. 11-21). Es wurde aber trotz der Herausforderung, die durch die "emanzipatorische Didaktik" gegeben war, nicht grundsätzlich aufgegriffen. 33. Nähere Überlegungen zu dieser hier nur genannten Thematik bei Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts, in: ders., Geschichte und Bildung, hrsg. von Wolfgang Jacobmeyer/Bernd Schönemann, Paderborn u. a. 2000, S. 46-72. 34. Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage vgl. Joana Breidenbach/Ina Zukrigl, Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München 1998, mit weiterführender Literatur.

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35. Vgl. die skeptische Beurteilung der zivilisatorischen Expansion der westlichen Kultur bei S. P. Huntington (Anm. 30), S. 291 ff.; ferner das Sonderheft zu Huntingtons Thesen: Konvergenz oder Konfrontation? Transformationen kultureller Identität in den Rechtssystemen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Rechtstheorie, 29 (1998) 3/4. 36. Vgl. den Beitrag von Dieter Oberndörfer, Deutschland ein Mythos? Von der nationalen zur postnationalen Republik, in: Y. Bizeul (Anm. 5). Dagegen Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin, Berlin 1998. 37. Welcher Anspruch damit verbunden und welche geschichtswissenschaftliche Anstrengung verlangt ist, wenn ein solches Geschichtsbild in Öffentlichkeit und Schule vertreten oder gebildet werden soll, dazu Jörn Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln - Weimar - Wien 2001. 38. Vgl. Alfonso E. Pérez SÄnchez, Goya and the spirit of enlightenment, Boston u. a. 1989.

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Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung

Von Christoph Kleßmann 3.6.2008 Dr. phil., geb. 1938; seit 1996 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam.

Anschrift:Zentrum für Zeithistorische Forschung, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam.Veröffentlichungen u.a.:Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945 bis 1955, 19915; Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955 bis 1970, Bonn 1997³.

Die öffentliche Resonanz wissenschaftlicher Forschung ist stark von Konjunkturen der gesellschaftlichen und politischen Großwetterlage abhängig. Das heißt auch: Zeithistoriker werden als Wissenschaftler und Zeitzeugen – die sie ja auch noch oft selbst sind – in der Auswahl ihrer Themen von solchen Konjunkturen mitbestimmt.

I. Schwierigkeiten der Aufklärung

Die berühmteste Definition der europäischen Aufklärung hat 1784 Kant formuliert: Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" [1] Dass Geschichtswissenschaft generell, aber insbesondere auch die Disziplin Zeitgeschichte und die politische Bildung, eine wichtige aufklärerische Funktion haben, scheint unstrittig und schon so selbstverständlich, dass sie kaum noch thematisiert wird. Konjunktur haben andere und systematisch erst in den letzten Jahre erschlossene Felder, die zwar keineswegs immer so ganz neu sind, wie sie daherkommen, aber aus der Postmoderne starke Anstöße erhalten haben: Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Erinnerung und Gedächtnis. Der naiv erscheinende Glaube des Historismus, herauszufinden, "wie es eigentlich gewesen" (Ranke), ist uns nicht erst angesichts postmoderner Höhenflüge in die neue Innerlichkeit abhanden gekommen. Hier wird jedoch bisweilen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Im Extremfall reduzieren einige Adepten des "linguistic turn" die Geschichte auf Texte, auf sprachliche Formen ihrer Überlieferung und Darstellung; die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen zerfließen. [2]

In der moderaten Variante hat die Postmoderne ohne Frage auch der Zeitgeschichte wichtige neue Impulse geliefert. Der Erwartung wissenschaftlicher Objektivierbarkeit wird hier bewusst die Vielfalt divergierender Geschichten und Erfahrungen gegenübergestellt. Damit werden neue Dimensionen in die Forschung einbezogen, die früher kaum ins Blickfeld kamen. Das jetzt auch in Deutschland eindrucksvoll dokumentierte Konzept der "Erinnerungsorte" - der Formen diffuser, aber wirksamer kollektiver Erinnerungen an Personen, Sachen und schlagwortartig kondensierte Zusammenhänge - ist ein Beispiel für die Ergiebigkeit neuer Fragestellungen, die freilich weit über die Zeitgeschichte hinausgreifen. [3] Geschichtsbewusstsein ist und bleibt ein wichtiges Feld der historischen Forschung, in der klassisch gewordenen Formulierung von Karl-Ernst Jeismann verstanden als "Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive" [4]

Auch wer große Vorbehalte gegen manche überspannten postmodernen Zugänge zu historischen

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Themen hat, wird vor allem eine wichtige Errungenschaft nicht leugnen: die prinzipielle Skepsis gegen universale Theorien und ihre umfassenden Erklärungs- und Deutungsansprüche. Der Glaube an die Brüchigkeit der Moderne und des Fortschritts ist nicht mehr nur Teil konservativer Kulturkritik, sondern auch konstitutiv für die Postmoderne. Andererseits erschweren solche berechtigten Zweifel aber die auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinende Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Darauf zielt vermutlich der hintersinnige und von der Kommunismuserfahrung eines ungarischen Autors geprägte erste Satz aus dem hochgelobten Roman von Peter Esterhazy "Harmonia Caelestis": "Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt." [5]

Postmoderne Skepsis erschütterte lange vor dem Epochenbruch von 1989/90 den Glauben an die Möglichkeit der Objektivität der historischen Wissenschaften. Die Forderung nach Objektivität und Aufklärung, die wissenschaftlichen Regularien folgt, ist damit jedoch keineswegs obsolet geworden. Im Gegenteil: Die dramatische Aktualität einer scheinbar einfachen Maximen verpflichteten Aufklärung wird nicht zuletzt beim Blick auf die Geschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts sichtbar. Der friedlich und in unspektakulärer Hartnäckigkeit verfolgte Kampfruf der osteuropäischen Dissidenten vom "Leben in Wahrheit" ist dafür ebenso ein eindrucksvolles Beispiel wie das verzweifelte und vergebliche Bemühen von Widerstandsgruppen im "Dritten Reich", den Goebbels'schen Lügengespinsten wahre Informationen entgegenzusetzen und so das verblendete Volk von seinem Führer zu trennen oder zumindest der Welt zu signalisieren, dass es noch ein "anderes Deutschland " gab. Eine deutsch-polnische Ausstellung in Kreisau, heute Krzyzowa, trug daher nicht zufällig den Titel "In der Wahrheit leben" und wollte damit den Bogen von einer Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944 - dem "Kreisauer Kreis" - zu den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen schlagen.

In einem essayistischen Rückblick auf Brüche und Zäsuren in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert hat Wolfgang Eichwede die Bürgerrechtler als "Kinder der Aufklärung" charakterisiert, die Europas Freiheitsgeschichte fortgesetzt haben und die Verwirklichung der Zivilgesellschaft, die ihnen vorenthalten wurde, auf ihre Fahnen schrieben. Dies ist in der Tat eines der faszinierendsten Kapitel der von Gewalt und Brutalität in nie gekanntem Ausmaß geprägten Geschichte des 20. Jahrhunderts. " Wenn irgendwo in dem geteilten Europa Keimformen der ,civil society' existiert haben," so Eichwede, " dann waren es die diskutierenden Dissidentenzirkel in Prag oder Leningrad, in Krakau oder Budapest. In ihrem Vertrauen auf die Öffentlichkeit und die Kraft des Beispiels, der Einsicht und des Arguments waren sie ganz und gar Kinder der europäischen Aufklärung. Interessenanalysen und Machtkalküle waren nicht ihre Sache."[6]

Aber auch westliche Demokratien, die sich dem Ideal der Zivilgesellschaft und der ständigen Einmischung in öffentliche Belange verpflichtet fühlen, sind in keiner Weise gegen die Manipulation der Regierenden und die suggestive Verführung selektiver, politisch passfähig gemachter Erinnerungen gefeit. Die erdrückende Konkurrenz einer auf Spektakuläres oder leicht Verdauliches ausgerichteten Informationsstrategie vieler Massenmedien macht daher zeithistorische Aufklärung zu einem mühsamen Unternehmen. Nicht mehr die Freiheit der Information ist das Problem, sondern Gehör für diese in der Öffentlichkeit zu finden, sobald es nicht mehr nur um punktuelle Neuigkeiten oder sensationelle Enthüllungen geht, sondern um komplexere Zusammenhänge und differenzierte Urteile. Wer die emotionalen Stellungnahmen zur Eröffnung des Speziallagermuseums in Sachsenhausen verfolgt hat [7] oder sich die Geschichte der Pfingsttreffen der Sudetendeutschen vor Augen hält, die fast seit Jahrzehnten nach ähnlichem Muster ablaufen und Versuche einer historisch-kritischen Differenzierung mit ablehnender Kritik begleiten, [8] weiß, wie schwer es die historische Vernunft gegenüber emotionsgeladenen Zeitzeugen und ihren Nachkommen hat. Man wird unter solchen Auspizien sehr bescheiden, was die Möglichkeiten einer kritischen Fachwissenschaft und der Verbreitung ihrer Erkenntnisse anbelangt.

Auch in der Geschichte der Zunft selber gibt es noch mancherlei Minenfelder. Die auf dem Historikertag in Frankfurt 1998 vehement geführte Debatte um "Ostforscher" und braune Ursprünge westdeutscher Sozialhistoriker, die jahrzehntelang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden, ist ein Beispiel

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 50 für fatale Formen der prinzipiell unvermeidlichen und auch wünschenswerten Nähe von historischer Wissenschaft und Politik sowie für die enormen Schwierigkeiten ihrer nachträglichen Aufarbeitung in politischen Konstellationen, die für eine solche Aufarbeitung wenig geeignet sind. [9] Dass in diesem Fall die Suche nach unbequemen Wahrheiten zusätzlich durch die Konfrontation zweier Geschichtswissenschaften in Deutschland blockiert wurde, machte die Sache noch komplizierter. Auf die "versäumten Fragen" der Bundesrepublik gab die DDR lautstarke und bereits im Vorfeld feststehende Antworten. [10] Die massiven Proteste gegen die sog. Wehrmachtsausstellung haben auf andere Weise dokumentiert, welche Hürden längst bekannte Forschungsergebnisse bei der Umsetzung für eine breite Öffentlichkeit nehmen müssen, wenn sie gegen lieb gewordene Mythen verstoßen. Das gilt trotz inakzeptabler Schlampereien bei der Bildeinordnung in der ersten Fassung der Ausstellung. [11] Wie dreist Beteiligte an der öffentlichen Rechtfertigung bzw. Bagatellisierung ihrer kriminellen Rolle gegen alle breit dokumentierte wissenschaftliche Einsicht arbeiten, mag schließlich das umfängliche Pamphlet von 20 hochrangigen Stasi-Offizieren belegen, das vor einigen Monaten erschienen ist. Es hat zwar vernichtende Presserezensionen erhalten, wird aber vermutlich auch erhebliche " klammheimliche Freude" beim Heer der Ehemaligen ausgelöst haben. [12]

Diese beliebig zu vermehrenden Beispiele zeigen, wie stark die öffentliche Resonanz wissenschaftlicher Forschung von Konjunkturen der gesellschaftlichen und politischen Großwetterlage abhängig ist, wie sehr Zeithistoriker als Wissenschaftler und Zeitzeugen - die sie ja auch noch oft selbst sind - in der Auswahl ihrer Themen von solchen Konjunkturen mitbestimmt werden und in welchem Ausmaß Publikationen interessengeleitet sein können. Alle Beispiele unterstreichen aber gerade deswegen auch, wie notwendig die scheinbar so selbstverständliche Aufklärung durch professionelle Forschung ist und bleibt. Sie ist auch für andere Epochen bedeutsam, aber doch ungleich mehr für die Zeitgeschichte, die nach der Formulierung von Barbara Tuchman "noch qualmt", sodass die klare Sicht häufig verstellt wird, Folgen und Wirkungen nur mühsam erkennbar werden, weil die Beobachter noch zu nahe an den Ereignissen sind.

II. Zeitgeschichte als Wissenschaftsdisziplin

Als in den frühen fünfziger Jahren die Zeitgeschichte in Deutschland als historische Teildisziplin begründet wurde, war diese persönliche und zugleich politische Konstellation prinzipiell nicht anders. Gegen unverblümte Rechtfertigungsprodukte ehemaliger NS-Funktionäre und hoher Militärs, gegen eine dominante Erinnerung, welche die Deutschen eher zu Opfern denn zu Tätern stilisierte oder alle Verantwortung auf eine kleine Verbrecherclique schob, sowie gegen eine als dramatisch wahrgenommene bolschewistische Bedrohung aus dem Osten mussten elementare historische Einsichten über den Nationalsozialismus, seine Ursprünge, seine gigantischen Verbrechen sowie über Zusammenhänge von Ursachen und Folgen durchgesetzt werden. Das ist - verfolgt man exemplarisch die Geschichte des Instituts für Zeitgeschichte und seiner Zeitschrift - in beachtlichem Ausmaß versucht worden, aber erst mit erheblicher zeitlicher Verspätung gelungen. Dass der Antisemitismus-Streit vor der letzten Bundestagswahl in Formen verlaufen ist, die im Hinblick auf ihre schwache Resonanz in der Weimarer Republik kaum denkbar gewesen wären, die plumpen Versuche politischer Instrumentalisierung spontanen und massiven Widerspruch ausgelöst haben, belegt die tief greifende Veränderung unserer heutigen politischen Kultur.

Das Problem der fehlenden Distanz hat die Zeitgeschichte seit ihren Anfängen begleitet. Hans Rothfels definierte sie in seinem programmatischen Aufsatz von 1953 in einer doppelten Dimension als Zeitphase und spezifischen Inhalt: als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung sowie als "ein Zeitalter krisenhafter Erschütterung und einer eben darin sehr wesentlich begründeten universalen Konstellation". Gerade angesichts der emotionsgeladenen Nähe und Betroffenheit forderte

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 51 er nachdrücklich "größtmögliche Objektivität im Erfassen der Tatsachen . . ., aber keineswegs Neutralität gegenüber Traditionen und Prinzipien europäischer Gesittung" [13].

Die spezifische Zeitgebundenheit dieser Definition ist uns seit langem bewusst, und sie erscheint heute insbesondere hinsichtlich der Eingrenzung auf den Zeitraum nur bis 1945 unhaltbar. Zeitgeschichte als "historia sui temporis" muss per definitionem gleitende zeitliche Zäsuren haben. Das umschließt zwar mehrere Generationen, erlaubt aber nicht dauerhaft einen inhaltlich begründeten Fixpunkt - wie etwa den von 1917 - festzulegen. Eberhard Jäckel, Reinhard Koselleck, Anselm Doering-Manteuffel, Hans Günter Hockerts und viele andere haben diese Feststellung in ihre Überlegungen einbezogen.[14]

Inhaltlich war und blieb deutsche Zeitgeschichte trotz der seit 1990 überschäumenden Konjunktur der DDR-Forschung schwerpunktmäßig und in den großen Kontroversen auf den Nationalsozialismus ausgerichtet. Das hat gute Gründe, denn die zwölf Jahre des "Tausendjährigen Reiches" waren weit mehr als nur deutsche Geschichte, sie waren auch eine der wichtigsten und schlimmsten Phasen der europäischen, ja der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In dieser Relation erscheint die DDR tatsächlich nur als eine Fußnote, wie Stefan Heym nach der "Wende" ironisch fragend angemerkt hat.

Die unübersehbare Fixierung auf die deutsche Geschichte hat nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aber auch zu berechtigten Einwänden geführt, ob dadurch nicht ganz andere und möglicherweise wichtigere Themen wie die Entkolonialisierung, das Wiederaufleben alter Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts oder die Geschichte der westeuropäischen Integration notorisch vernachlässigt worden seien - so Hans Peter Schwarz in seinen "Fragen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts" [15] . Diese Warnung ist berechtigt. Dennoch besitzt die Perspektivengebundenheit von Zeithistorikern auch ihre politisch-geographische Legitimation. Zudem bleiben Nationalsozialismus und Stalinismus mit den Leichenbergen, die sie in Europa verursacht haben, besondere Herausforderungen an die Erklärungskraft von Zeitgeschichte.

Die starke Konzentration auf deutsche Geschichte hat noch einen anderen, auch politisch bedeutsamen Aspekt. Für die Erforschung der DDR-Geschichte lag anfangs die vorrangige Beschäftigung mit Tätern und Opfern der Diktatur nahe. Darüber hinaus aber steht heute die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte zur Debatte. Ihr westdeutscher Teil gehört dazu. Wir wissen jetzt deutlicher als früher, wie eng beide Teile trotz staatlicher Trennung verflochten waren. Der wechselseitige Bezug war zu allen Zeiten asymmetrisch. Sowohl für die Machtelite wie für die Bevölkerung der DDR bildete die Bundesrepublik stets die Referenzgesellschaft, mit der man sich aggressiv auseinander setzte oder an der man sich insgeheim in seinen materiellen und politischen Wünschen zumindest partiell orientierte. Umgekehrt galt das in dieser Form nie. Trotz evidenter Asymmetrie sind aber auch bestimmte Prägungen der inneren Entwicklung und der politischen Kultur der "alten" Bundesrepublik ohne die Nachbarschaft der kommunistischen Diktatur jenseits der Grenze nicht zu verstehen. [16] Die spezifischen Formen und Blockaden der kritischen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen NS-Vergangenheit gehören zu den signifikantesten Beispielen. Zahllose andere ließen sich nennen und bedürfen vielfach noch intensiverer Studien. Was hier für das geteilte Deutschland erkennbar ist, scheint mir für Europas "vergessene Hälfte", nämlich die ostmitteleuropäischen Länder, noch nicht einmal in Ansätzen erforscht zu sein.

Schon einige wenige Überlegungen dieser Art verweisen auf die Notwendigkeit der Selbstreflexion von Zeitgeschichte. Dieses Bedürfnis bildete den Ausgangspunkt für ein Forschungsprojekt und eine Konferenz zum Thema "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, die beide auf die Meta-Ebene zeithistorischer Forschung, insbesondere auf das Verhältnis von Öffentlichkeit, politischer Kultur und Fachwissenschaft, zielen. Streit gab und gibt es auch in anderen historischen Teildisziplinen. So lagen sich 1964 die Reformations-Forscher darüber

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 52 in den Haaren, ob - zugespitzt - Luther seine Thesen nicht an der Schlosskirche angeschlagen, sondern mit der Post verschickt habe. Dahinter standen allerdings grundsätzliche Fragen des überkommenen Lutherbildes, die durchaus das nationale Selbstverständnis berührten. [17] Der Antisemitismus-Streit zwischen Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen 1879 oder die kaum öffentlich in Frage gestellte Ablehnung der sog. "Kriegsschuldlüge" in der Weimarer Republik waren dagegen zeithistorische Kontroversen, die viel über die politische Kultur der Zeit aussagen. Der anhaltende "Kampf um Troja" zwischen den Althistorikern Kolb und Korffmann dürfte dagegen, auch wenn er heftig tobt, kaum existentielle Erschütterungen provozieren wie noch die "Fischer-Kontroverse " von 1961. Ist also Zeitgeschichte besonders prädestiniert für wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Streit?

Dies sicherlich, wenn man nicht in erster Linie die oft erbitterten Fachdebatten im engeren Sinne, sondern diejenigen betrachtet, die in der Öffentlichkeit eine besondere Resonanz fanden und daher Aufschlüsse geben über Geschichtsbewusstsein und politische Kultur. Ferner: Deutet die Zunahme zeitgeschichtlicher Debatten seit den sechziger Jahren auf ein wachsendes Gewicht der Fachdisziplin hin, oder hat diese umgekehrt in den letzten Jahren eher an Bedeutung eingebüßt? Wie viel aufklärerische Wirkung haben Kontroversen? In welchem Ausmaß bestimmen die "Historiker- Journalisten" (Hockerts), also die Profis in den Medien, die öffentliche Arena des Streits und drängen die akademische Zeitgeschichte in den Elfenbeinturm von Quellenfetischismus und Fußnotenseligkeit?

Die Diskussion um die DDR-Geschichtswissenschaft, der politische und historiographische Stellenwert der Chiffre "1968", aber auch die jüngste Kritik an den "versäumten Fragen" der etablierten Sozialhistoriker in der "alten" Bundesrepublik haben die Frage nach den Maßstäben der Fachwissenschaft neu gestellt und bislang keineswegs befriedigend beantwortet. Der Pulverdampf im Streit, wer DDR-Geschichte schreiben darf und soll, hat sich mittlerweile verzogen. Zeitgeschichte hat aber nach 1990 auch in anderen europäischen Ländern neue Aktualität erhalten. Der heftige Streit in Polen um Jedwabne und das polnisch-jüdische Verhältnis, die französischen Debatten um Vichy und den Algerienkrieg sowie schließlich diejenigen um "Gedächtnis, Geld und Gesetz in der Politik mit der Vergangenheit" in der Schweiz sind drei signifikante Beispiele. [18] Auch wenn damit die Frage nach der Möglichkeit einer europäischen Zeitgeschichte nicht explizit aufgeworfen wird, hat der kritische Umgang mit der Vergangenheit überall zunehmend an Gewicht und politischer Brisanz gewonnen. Die Intensität der deutschen Debatten scheint keineswegs mehr singulär.

III. Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung

Lassen wir die Streitgeschichte hinter uns: Was kann und soll zeithistorische Forschung als wissenschaftliche Aufklärung heute bedeuten, welche Schwierigkeiten tun sich auf, und wie kann zeitgeschichtliche Wissenschaft ihnen begegnen, ohne sich in der Konkurrenz mit den Massenmedien zu überheben? Drei thesenartige Überlegungen dazu:

1. Objektivität als intersubjektive Überprüfbarkeit und regulative Idee empirischer Forschung und historiographischer Darstellung ist unverzichtbar, auch wenn der Glaube an die Möglichkeit ihrer Realisierung nachhaltig erschüttert ist.

2. Kritische Historisierung bleibt eine ebenso notwendige wie schwierige Aufgabe, insbesondere bei der Beschäftigung mit Diktaturgeschichte, wobei jede Generation neue Fragen stellt.

3. Individuelle und kollektive Erinnerung sollten, so diffus sie in der Regel sind, nicht bloßes Gegenstück zur sog. "objektiven" Geschichte bleiben, sondern sie müssen integraler Bestandteil fachwissenschaftlicher Analyse sein, weil nur so Aufklärung sich ihrem selbstgesetzten Ziel wenigstens annähern kann.

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1. Der britische Sozialhistoriker Richard Evans hat in seinem Buch "Fakten und Fiktionen" eingehend die Grundlagen historischer Erkenntnis erörtert, die produktiven Herausforderungen postmoderner Autoren für die Geschichtswissenschaft konzediert und dennoch ein energisches Plädoyer für historische Wahrheit als regulative Idee und den Versuch angemessener Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit formuliert. [19] Evans war im Jahr 2000 Gutachter in dem Aufsehen erregenden Prozess gegen den Holocaust- Relativierer David Irving in London. Das Urteil gegen Irving fand in der britischen Presse ein enormes Echo und wurde als Sieg der historischen Wissenschaft über die Gemeinde der europäischen Rechtspopulisten mit revisionistischen Geschichtsbildern gefeiert. [20] Ähnlich hat Ernst Hanisch zwar die weiterführenden Anstöße postmoderner Autoren betont, ihren radikalen Vertretern aber nachdrücklich die Leviten gelesen, weil es dort eine Hierarchie des Relevanten und weniger Relevanten nicht mehr geben, weil jede Deutung ihr Recht haben und keine privilegiert sein soll. [21] Auch Georg G. Iggers hat im Streit mit Hayden White, einem der profilierten Vertreter der Postmoderne in der Historiographie, an einige Maximen erinnert, die nicht zur Disposition stehen können. Historische Forschung hat demnach "trotz aller ideologischen Variationen eine Übereinkunft getroffen über bestimmte Standards der Behandlung von Quellen und der Form der Auseinandersetzung. Ungeachtet der Bedeutung der Vorstellungskraft bei der Konstruktion wissenschaftlicher Darstellungen sind solche Darstellungen nicht vollständig oder vorrangig ausgedacht, sondern verlangen eine intensive Forschung, deren Methoden und Schlussfolgerungen innerhalb einer Gemeinschaft von Forschern der Gegenstand einer genauen Prüfung sind" [22] . Dies ist Teil eines rationalen Diskurses von - im Sinne Kants - mündigen Individuen. Gäbe es nicht abstruse Verirrungen, so müsste an derlei Selbstverständlichkeiten nicht erinnert werden.

In der Zeitgeschichte wird für jedermann besonders unmittelbar erfahrbar, wie die Gegenwart die Geschichte immer wieder einholt und konditioniert. So haben die Revolution von 1989 und das Ende des Kommunismus in Europa die Determinanten unserer Interpretationen und historischen Urteile gravierend verschoben, alte Themen obsolet gemacht und neue in den Vordergrund gerückt. Lexikalische Großunternehmen wie das seit 1966 erschienene mehrbändige "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft", das sich in Lehre und Forschung immer gut als Diskussionseinstieg eignete, sind über Nacht entwertet worden und nur noch von historiographiegeschichtlichem Interesse. Die zeitgebundenen und nicht nur interessegeleiteten Grenzen historischer Erkenntnis und sozialwissenschaftlicher Prognosefähigkeit sind uns 1989 auf drastische Weise vor Augen geführt worden. Das kann zu heilsamer Bescheidenheit mahnen, führt aber nicht die Suche nach Wahrheit als regulativer Maxime ad absurdum. Diese hat zudem methodische Konsequenzen. Denn ohne diese Maxime würden z.B. alle Bemühungen der Gedenkstätten um Dokumentation originaler Ausstellungsstücke statt Inszenierung imaginierter Vergangenheit belanglos. [23]

Aber auch eine andere, in meinen Augen besonders wichtige und unverzichtbare Funktion wissenschaftlicher Zeitgeschichte ginge verloren - nämlich die, auf der Sperrigkeit ihres Gegenstandes zu insistieren, Sand im Getriebe zu sein und statt flinker Formeln und spektakulärer Etikettierungen auf der mühsam zu erschließenden Komplexität vergangener Wirklichkeit zu beharren. Der Zweifel gehört zu den Tugenden der Aufklärung. Dieses Beharren auf Komplexität bedeutet auch eine Portion Skepsis gegenüber der immer wieder und keineswegs zu Unrecht erhobenen Forderung nach sprachlicher Gefälligkeit, plastischer Beschreibung und biographischer Konkretion statt "Präparieren von Strukturen" [24] . Solche Alternativen zu konstruieren führt in die Irre. Übergreifende Determinanten und Strukturen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 54 einerseits und individuelle menschliche Handlungsweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen andererseits miteinander zu "verrechnen" ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft. Das bleibt eine der schwierigsten Operationen in der Rekonstruktion von Vergangenheit. Der oft zitierte Satz aus Marx' "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" hat von seiner Gültigkeit wenig verloren: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." [25] Dass das zeitweilig fast vergessene Genre der Biographie gegenüber puren Strukturanalysen große Vorzüge bietet und zur Erklärung komplexer, schwer verstehbarer Zusammenhänge beitragen kann, hat Ulrich Herberts Best-Biographie als ein markantes Beispiel aus der jüngsten Zeitgeschichte gezeigt. [26]

Gerade angesichts solcher Komplexität ist jedes "Lernen aus der Vergangenheit" schwierig und in einem naiven Sinne ohnehin unmöglich. Wer jemals einen Schulbuchtext verfasst oder am Drehbuch für einen Film beratend mitgearbeitet hat, weiß, wie verzweiflungsvoll der Zwang zur Komplexitätsreduktion oder die Abhängigkeit vom filmischen Material alle hoch gespannten Ambitionen zunichte machen. Dennoch sollten hier keine falschen Gegensätze konstruiert werden. Audiovisuelle Medien sind nicht nur unverzichtbare zeitgeschichtliche Quellen, deren Erschließung und Methodenreflexion allmählich auch die Zunft erreicht hat, [27] sie sind auch - richtig platziert - hervorragende Instrumente historisch-politischer Aufklärung, weil sie einen breiten Rezipientenkreis erreichen können und andere Wirkungsmöglichkeiten besitzen. Filmische Bildsequenzen haben eine eigene Dynamik, die auch der Wissenschaft enorme Chancen bietet. In ihren unterschiedlichen Zugangsweisen und Präsentationsformen können sie ohne falsche Pädagogisierung zumindest dazu beitragen, elementare Einsichten gegen quer liegende eigene Erfahrungen zu fördern und die politische Kultur zu verändern.

2. "Historisierung" als methodisches und interpretatorisches Problem ist, wenn ich es richtig sehe, erstmals 1983 von Martin Broszat in seinem Aufsatz über die "Spannung zwischen Bewerten und Verstehen der Hitler-Zeit" in die Debatte eingeführt worden [28] , obwohl dahinter eine viel ältere Grundsatzfrage steht. Historisierung meinte für Broszat vor allem, den zwölf Jahren der NS-Zeit nicht länger eine falsche negative Zentralisierung in der gesamten deutschen Geschichte einzuräumen, von der aus sich die vorangegangenen und nachfolgenden Phasen primär als vor- und nachfaschistisch darstellen. Statt dessen sollte die Geschichte der politischen Diktatur in einen größeren zeitlichen Kontext eingeordnet werden, um damit auch Kontinuitäten und Brüche besser sichtbar zu machen. Das bedeutete zugleich, von der lange Zeit vorherrschenden Pädagogisierung der NS-Zeit unter dem Aspekt politischen Lernens Abschied zu nehmen. "Die lautstarke Distanzierung, die so lange erfolgte und noch geschieht, muss verträglich gemacht werden mit einer recht verstandenen historischen Aneignung dieser Zeit, die kritisches und verstehendes Vermögen verbindet." [29] Ziel war die historische Befreiung mancher ereignis- und personengeschichtlicher Perspektiven aus dem Zwangskorsett der Vorstellung einer alles erfassenden Gewaltherrschaft. Analytische Kritik an langfristigen Fehlentwicklungen und ambivalenten Entwicklungspotenzialen wird im Postulat der Historisierung verbunden mit elementarem Bemühen um Verstehen zutiefst widersprüchlicher Konstellationen, d.h. der Gleichzeitigkeit von Verbrechensdimensionen ungeheuren Ausmaßes und trivialer Normalität des Lebens in der Diktatur. Broszats Verstehens-Begriff beruhte auf einer kritischen, aufklärerischen Position und hob sich damit deutlich ab von dem des Historismus. Es ging ihm darum, " die scharfe Spannung zwischen den beiden Elementen des ,Einsehens', dem Verstehen-Wollen und der kritischen Distanzierung" auszuhalten und weder in eine Pauschal-Distanzierung noch in ein relativierendes, amoralisches Nur-Verstehen zu flüchten. [30]

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In anderer Weise ist das seinerzeit vielen Missverständnissen ausgesetzte Konzept einer kritischen Historisierung auch zu einem zentralen Element der seit 1990 intensivierten Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen geworden. Ihre lange Dauer und die inneren Wandlungsprozesse haben es sicherlich erschwert, sie analog zu den nur zwölf Jahren Nationalsozialismus als quasi überhistorisch aus der Geschichte der Staaten und Gesellschaften auszuklammern und zu stigmatisieren. Die Grenzen des Diktaturvergleichs sind insbesondere im Hinblick auf die DDR deutlich geworden. Eine Historisierung ist hier bereits viel früher als für den Nationalsozialismus gefordert und praktiziert worden. Eine moralische Relativierung des Diktaturcharakters mag angesichts der nicht wirklich vergleichbaren Verbrechensdimensionen zwar nahe liegen, und Beispiele dafür gibt es genügend. Die eigentliche methodische Herausforderung für die historische Forschung liegt jedoch in der Aufgabe, die DDR - und für andere Länder gilt das ebenso - nicht nur von ihrem Ende und auch nicht von ihren vermeintlich guten Anfängen einer in der Tradition der europäischen Aufklärung stehenden sozialistischen Alternative zu interpretieren, sondern sie gewissermaßen aus der Mitte heraus mit einem für die Zeitgenossen noch scheinbar offenen Entwicklungspotenzial zu rekonstruieren und zu verstehen. [31] Strukturanalyse und Erfahrungsgeschichte erweisen sich hier als zwei notwendige und komplementäre Seiten einer Medaille, um zu verstehen, wie es eigentlich gewesen sein könnte, aber auch, um eine solche komplexere Einsicht zu vermitteln. Andernfalls bleibt es bei der Dichotomie plakativer genereller Anklage oder nostalgischer, selektiver Erinnerung und einem Geschichtsbild, das Zeitgenossen kaum wirksam zu vermitteln ist, da es zentralen eigenen Erfahrungen widerspricht.

3. Mein drittes Feld "Erinnerung und Zeitgeschichte" ist sicher das komplizierteste und gegenwärtig meist diskutierte. Es ist ein Kernproblem, mit dem sich Zeithistoriker sehr viel intensiver als die Fachleute für andere Epochen auseinander zu setzen haben. Denn sie sind permanent mit der Deutungskonkurrenz zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung konfrontiert. Gerade weil das neue Interesse an Gedächtnis, Erinnerung und Memorialisierung bei bestimmten zeithistorischen Themen schon nahezu inflationäre Züge angenommen hat, sollte eine systematische Problematisierung stattfinden. Es geht um den Konflikt zwischen dem oft stark emotional bzw. moralisch - anklagend oder rechtfertigend - geprägten Duktus der persönlichen Erinnerung und dem rationalen Anspruch der Forschung auf Erklärung. Zeitgeschichte begreift sich hier als Antipode zur unreflektierten Erinnerung. Sie hat die Aufgabe der rationalen Kontrolle der Erinnerung und der Disziplinierung des Gedächtnisses. [32] Die Spannung zwischen den objektivierenden Methoden sowie dem Verstehens- und Aufklärungsimpuls der Fachwissenschaft und dem Wunsch nach klarem Verdammungsurteil auf Seiten der Opfer ist letztlich nicht aufhebbar. Sie ist ein Spezifikum der Zeitgeschichte.

Ein besonderes Element kommt hinzu: Zeithistoriker sind auch Zeitgenossen mit eigenen Erfahrungen, die sich nicht einfach eliminieren lassen. Gerade das macht sie als professionelle Fachleute im Vergleich zu Historikern anderer Epochen viel angreifbarer. Der Umgang mit dem im akademischen Milieu emotional stark aufgeladenen Datum "1968" ließe sich hier als markantes Beispiel anführen. [33]

Dieses generelle Problem der Spannung zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichte nur als Alternative zu verstehen führt jedoch, wie Konrad Jarausch betont hat, in eine Sackgasse, gerade wenn es der Wissenschaft um Aufklärung geht. Denn "eine die lebendige Erinnerung ignorierende Geschichtswissenschaft läuft Gefahr, der Öffentlichkeit durch die Autorität der Wissenschaft ihre Sprachregelung aufzuzwingen, ohne die Bevölkerung wirklich überzeugen zu können", solange das zähe Weiterleben von unreflektierten Erinnerungsbeständen nicht aufzubrechen ist. [34] Wie aber lässt sich dieses Dilemma lösen? Zumindest sind selbst diffuse Erinnerungen von der Forschung ernster zu nehmen und selber zu thematisieren. Die Durchsetzung eines kritischen

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Geschichtsverständnisses in der Gesellschaft kann nur durch eine Hinterfragung populärer Erinnerungen gelingen. Dazu gehört etwa auch Martin Walsers "Geschichtsgefühl" [35] . Trotz aller Defizite hat Deutschland hier im Hinblick auf das "Dritte Reich" einige Erfolge zu verbuchen. Für die DDR scheint mir der Befund noch keineswegs klar.

Hans Günter Hockerts hat für diesen Zusammenhang die begriffliche Trias "Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft" als typologisierenden Zugang zur Zeitgeschichte vorgeschlagen. [36] Dabei meint Primärerfahrung die selbst erlebte Vergangenheit, Erinnerungskultur die Gesamtheit eines nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs von Geschichte in der Öffentlichkeit mit unterschiedlichsten Mitteln und zu verschiedenen Zwecken. Dass "Geschichte als Waffe" [37] eingesetzt wird, ist zwar kein Spezifikum von Zeitgeschichte, aber doch ein besonders häufiges und für die politische Kultur aller Länder interessantes Phänomen. Fachwissenschaftliche Interventionen stoßen hier schnell an Grenzen. Konstitutiv für die Wissenschaft ist, dass sie Standards eines " systematischen, regelhaften und nachprüfbaren Wissenserwerbs" entwickelt hat. Sie ist sich auch der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis bewusst und legt Prämissen mehr oder minder explizit offen. Zumindest sollte sie das tun. Strittig werden und bleiben dagegen Verknüpfungen, Einordnungen, Gewichtungen - und sie lassen sich selten nur mit fachwissenschaftlichen Kriterien entscheiden. Hier hat nicht nur die Multiperspektivität ihren legitimen Platz. Hier kann es auch nicht die immer wieder erwartete "Objektivität" geben, weil kein Fixpunkt außerhalb der Zeit existiert. Wohl aber muss intersubjektive Überprüfbarkeit im wissenschaftlichen Diskurs als Kontrolle und Korrektur dienen. " Erinnerungsvielfalt heißt nicht, alles für erlaubt zu erklären. Die Fachkompetenz kann dazu beitragen, dass Pluralität nicht zur Beliebigkeit verkommt" und Legenden entschieden entgegen getreten wird. [38]

Gegen die mittlerweile inflationär gewordene Redeweise vom "kollektiven Gedächtnis" oder "kollektiver Erinnerung" hat Reinhard Koselleck bedenkenswerte Skepsis angemeldet. Denn wer kollektive Erinnerung sucht, setzt ein kollektives Handlungssubjekt voraus, das sich auch kollektiv erinnern kann. Damit tauchen jene hypostasierten Handlungsträger auf (Klasse, Volk, Nation, Partei, Verband usf.), welche "die Vielfalt persönlicher Erinnerungen verschlucken und als kollektive Einheit wieder von sich geben". Er plädiert für das "Vetorecht der je persönlichen Erfahrung, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperrt. Und es gehört zur oft beschworenen und ebenso oft vergeblich beschworenen Würde des Menschen, dass er einen Anspruch auf seine eigene Erinnerung hat" [39] . Sekundäre Erinnerungen reichen demgegenüber weiter zurück, sind nicht mehr unmittelbar erfahrungsgesättigt und in besonderem Maße für Deutungen und Nachbesserungen offen. Kosellecks " Vorschlag zur Behutsamkeit" lautet: "Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen. So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen - nationale natürlich - möglicher Erinnerungen. Sie wirken dann als Schleusen, durch die hindurch die persönlichen Erfahrungen gefiltert werden, sodass sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen. Die politischen, sozialen, konfessionellen oder sonstigen Voraussetzungen begrenzen also die Erinnerungen und geben sie zugleich frei." [40]

Vielleicht ist dies ein Ansatz, um dem strukturellen Dilemma zwar nicht zu entkommen, aber angemessen mit ihm umzugehen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 57 IV. Europäische Zeitgeschichte als Problem

Eine methodisch und inhaltlich verzweifelt schwierige Herausforderung bleibt eine europäische Erweiterung von Zeitgeschichte, die nicht nur ein Etikettenschwindel ist. Mit dem Ende des sowjetkommunistischen Systems in Europa 1989/91 hat sich ein gravierender, wenn auch in seinen Konsequenzen noch kaum voll überschaubarer Wandel vollzogen. Der Ost-West-Konflikt als globale Systemkonfrontation, die zentrale Determinante der äußeren und inneren Entwicklungen in Europa, ist trotz immer noch erheblicher Nachwirkungen beendet. Seine historisch-politische Prägekraft wird aber erst aus der Rückschau in ihrer Reichweite voll erkennbar.

Was seinerzeit in der plakativen Gegenüberstellung von "Abendland und Bolschewismus" oder aus östlicher Sicht von "Imperialismus und Friedenslager" eine hochgradig ideologisierte politische Dichotomie kennzeichnete, wird heute in seinen Konsequenzen als historisches Problem in ganz anderer Weise wieder aktuell. Denn die von den ostmitteleuropäischen Staaten als Ziel formulierte " Rückkehr nach Europa" knüpft dort an, wo das Unheil begann: 1939 und 1945. Die sukzessive Auflockerung der sowjetischen Herrschaft durch die Entspannungspolitik, durch Glasnost und Perestroika sowie schließlich durch die revolutionäre Selbstbefreiung 1989 hat dem Ruf "Rückkehr nach Europa" jenseits ideologischer Wunschvorstellungen erst eine konkrete Basis verliehen. Dabei geht es primär um handfeste politische und ökonomische Ziele wie die Vorbereitung des Beitritts zur EU. Die vor allem von Politologen. Soziologen und Ökonomen betriebene Transformationsforschung geht den strukturellen Faktoren nach, die den Übergang in eine neue Periode ermöglichen sollen oder ihm auch im Wege stehen. Nur am Rande tauchen dabei die vielfältigen historischen Bedingungen und Ausgangskonstellationen auf, ohne deren genaue Kenntnis der unterschiedliche Verlauf und die nationalen Besonderheiten des Transformationsprozesses - und damit auch der künftigen Chancen und Probleme der Integration - unverständlich bleiben müssen.

Im weiteren Sinne gehört dazu die Rückbesinnung auf lange Zeit mehr oder minder unterdrückte nationale Traditionen. Diese Rückbesinnung präsentiert sich gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen und ebenso in produktiven wie in fatalen Formen. Die krisenhaften ökonomischen und sozialen Begleiterscheinungen der Transformation verleihen nationalistischen Strömungen im Zeitalter der Globalisierung eine gefährliche Resonanz und Bindekraft als Integrationsideologie. Auf der anderen Seite gibt es überall einen unübersehbaren Prozess der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, ihren "weißen Flecken" und verordneten Interpretationen, mit der vergessenen oder oft geschönten Beziehungsgeschichte zu Nachbarn oder Minderheiten im eigenen Lande. Der Name Jedwabne ist hier symptomatisch. Die beginnende Aufarbeitung des traumatisch belasteten Themas Flucht und Vertreibung in Polen, aber auch der Folgen der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa in allen Facetten sind eindrucksvolle Beispiele. Dass die im Kalten Krieg mit formaljuristischen Argumenten zu den Akten gelegte Entschädigung der Zwangsarbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft nun endlich - wie unbefriedigend auch immer - gelöst ist, ist ebenfalls ein europäisches Thema aus der Nach-Geschichte des NS-Systems.

Eine von engen ideologischen Vorgaben und unreflektierten Prägungen befreite Diskussion zeitgeschichtlicher Themen offenbart die Variationsbreite nationaler Periodisierungen und Zäsurbil- dungen. Sie entsprechen den jeweiligen Erfahrungsgeschichten, müssen aber in der zeithistorischen Reflexion mit generellen, übergeordneten europäischen Determinanten in Beziehung gesetzt werden. Abgesehen von den Problemen einer begrifflichen Bestimmung erweist sich der Periodisierungsrahmen von Zeitgeschichte fast überall extrem unterschiedlich. Die Opfererfahrungen im Zweiten Weltkrieg und die Erinnerung an den Widerstand, also die Formen nachdrücklicher Betroffenheit, sind dagegen am ehesten gemeinsame Bezugspunkte einer europäischen Zeitgeschichte, [41] die auch erklären können, warum die Kritik an Kollaboration und Beteiligung an der Judendeportation sich erst mit großer zeitlicher Verspätung und öffentlicher Resonanz zu Wort melden konnte.

Eine "Rückkehr nach Europa" gibt es in anderer Weise auch für Westdeutschland und Westeuropa.

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Dabei wird nicht zuletzt eine tief greifende Revision eines Europa-Begriffs nötig sein, der unter dem dominierenden Einfluss des Kalten Krieges und der "Rheinischen Republik" Europa an der Oder, wenn nicht gar an der Elbe enden ließ. Die Bereitschaft, die prekären wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Rückkehr nach Europa zu akzeptieren - auch wenn sie zunächst unbequem sind -, ist bisher nicht sehr ausgeprägt. Die weitgehend abgerissenen historischen Verbindungen lassen sich nicht schnell wiederherstellen, zumal eine offenkundige Renationalisierung dem längst etablierten Trend zum Transnationalen zuwiderläuft. Zeithistoriker sollten hier mit Nachdruck an die eingangs genannten unspektakulären Verdienste der Dissidenten erinnern. Transnationale, vergleichende oder beziehungsgeschichtliche Forschungsprojekte werden oft gefordert. Dieses Postulat einzulösen bleibt ein weites, aber lohnendes Feld.

Fußnoten

1. Gekürzte Fassung eines Vortrags auf der Konferenz des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF): "Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Historische Kontroversen und politische Kultur nach 1945", Potsdam, 20. Juni 2002. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, S. 516. 2. Vgl. Georg G. Iggers, Zur "linguistischen Wende" im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 557-570; Peter Schöttler, Wer hat Angst vor dem "linguistic turn"?, in: ebd., 23 (1997), S. 134-151. Eine differenzierte Kritik bei Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M. 1998. 3. Vgl. Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 2 Bde., München 2001. 4. Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Klaus Bergmann u. a., Düsseldorf 1985, S. 40. 5. Peter Esterhazy, Harmonia Caelestis, Berlin 2001. 6. Wolfgang Eichwede, Kinder der Aufklärung, in: Kafka. Zeitschrift für Ostmitteleuropa, (2001) 3, S. 8 - 13; ders., Archipel Samizdat, in: Forschungsstelle Osteuropa (Hrsg.), Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000, S. 15. 7. Vgl. Opferverbände kritisieren Ausstellung. Presseerklärung der UOKG (Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft). Opfer des SED-Regimes warnen vor Geschichtsfälschung! Zur Eröffnung des Museums für das ehemalige "Speziallager 07" Sachsenhausen am 9. Dezember 2001, in: Oranienburger Generalanzeiger vom 6. 12. 2001. 8. Z. T. reagiert man hier auch auf Provokationen der tschechischen Seite; vgl. Prag: Vertreibung eine gute Sache, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. 5. 2002 9. Vgl. Windfried Schulze/Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999. 10. Vgl. Christoph Klessmann, DDR-Historiker und "imperialistische Ostforschung", in: Deutschland Archiv, 35 (2002), S. 13-31. 11. Vgl. Bogdan Musial, Kritische Anmerkungen zur Wehrmachtsausstellung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 47 (1999), S. 563 - 591. 12. Vgl. Reinhard Grimmer u. a. (Hrsg.), Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, 2 Bde., Berlin 2002; vgl. die kritische Rezension von Karl Wilhelm Fricke in: Deutschland Archiv, 35 (2002), S. 856 ff. 13. Hans Rothfels, Die Aufgaben der Zeitgeschichte, in: VfZG, 1 (1953), S. 1-13. 14. Vgl. die Nachweise bei Christoph Klessmann, Zeitgeschichte in Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Essen 1998, S. 53, Anm. 15. Hans-Peter Schwarz, Fragen an das 20. Jahrhundert, in: VfZG, 48 (2000), S. 1-36. 16. Vgl. Christoph Klessmann, Verflechtung und Abgrenzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, S. 30-41. 17. Vgl. Hartmut Lehmann (Hrsg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000, S. 11 f.

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18. Die Beispiele wurden auf der Konferenz des ZZF in Potsdam "Zeitgeschichte als Streitgeschichte " im Sommer 2002 behandelt. Die Veröffentlichung der Beiträge ist in Vorbereitung. Anmerkung der Redaktion: Vgl. auch den Beitrag von Michael Gehler in diesem Heft. 19. Vgl. R. J. Evans (Anm. 2). 20. Vgl. ders., Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt/M. 2001. 21. Vgl. Ernst Hanisch, Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Wolfgang Hartwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 212-230. 22. Georg G. Iggers, Historiographie zwischen Forschung und Dichtung, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 327-340, hier S. 340. 23. Ein makabres Beispiel war die Ausstellung im Jüdischen Museum "Mirroring Evil" mit Computermontagen und einem Lego-KZ in New York. Vgl. Hallo Jerusalem, ich entschuldige mich, in: Tagesspiegel vom 17. 3. 2002, S. 25. 24. Joachim Fest, Literatur ohne Heilsplan. Über den Umgang mit der Geschichte, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. 2. 2000 (Beilage). 25. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, S. 115. 26. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996. 27. Vgl. Jürgen Wilke (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999. 28. Vgl. Martin Broszat, Eine Insel der Geschichte? Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit, in: ders., Nach Hitler, München 1988, S. 208-215. 29. Ebd., S. 215. In seinem einiges Aufsehen erregenden Plädoyer für die Historisierung im "Merkur " 1985 hat Broszat seine Überlegungen weiter ausgeführt und an thematischen Beispielen entwickelt. 30. Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, Um die "Historisierung des Nationalsozialismus". Ein Briefwechsel, in: VfZG, 36 (1988), S. 339-372, hier S. 341. 31. Vgl. Konrad Jarausch, Nachdenken über die DDR, in: Berliner Debatte INITIAL, (1995) 4 - 5, S. 9 - 15, hier S. 11. Anmerkung der Redaktion: vgl. auch den Beitrag von Peter Steinbach in diesem Heft. 32. Vgl. Konrad Jarausch, Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 21. 33. Vgl. etwa Hermann Lübbes Polemik gegen die "Achtundsechziger": Der Mythos der "kritischen Generation. Ein Rückblick" in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/88, S. 17-25; oder Klaus Hildebrands Darstellung und Wertung in seinem Band der Geschichte der Bundesrepublik: Von Erhard zur Großen Koalition 1963 - 1969, Stuttgart 1984. 34. K. Jarausch (Anm. 32), S. 32. 35. Vgl. Martin Walser, Über ein Geschichtsgefühl. Vom 8. Mai 1945 zum 9. November 1989. Die Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa, in: Der Tagespiegel vom 10. 5. 2002. 36. Vgl. Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: K. Jarausch/M. Sabrow (Anm. 32), S. 41. 37. Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe, Göttingen 2001. 38. H. G. Hockerts (Anm. 36), S. 30. 39. Reinhard Koselleck, Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2000, S. 19 - 32, hier S. 21. 40. Ebd., S. 20. 41. Vgl. Wolfgang Schieder, Gibt es eine europäische Zeitgeschichte? Vortrag im ZZF am 6. 6. 2002. Dazu erscheint im Sommer 2003 ein von W. Schieder herausgegebenes Sonderheft von " Geschichte und Gesellschaft" mit dem Titel: "Zeitgeschichte im europäischen Vergleich".

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Erinnerungskultur

3.6.2008

Verdrängen, vergessen, verschweigen – die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat selbst eine Geschichte. Eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung setzte erst zögerlich ein, das Thema wurde zunächst weitgehend totgeschwiegen in der Bundesrepublik, während die DDR als "per se antifaschistischer Staat" jede Verantwortung für die NS-Verbrechen ablehnte. In den vergangenen Jahrzehnten wandelte sich die Erinnerungskultur, die Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ableitet, ist mittlerweile Teil der deutschen "Staatsräson". Mit dem Untergang des SED-Regimes rückten auch neue Themen in den Fokus, beeinflusst durch die Rolle der Massenmedien. Wie steht es um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und welche Rolle spielt die Vergangenheit in der Gegenwart?

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Geschichte der Erinnerungskultur in der DDR und BRD

Von Edgar Wolfrum 26.8.2008 ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Zwischen 1991-1994 war er Referatsleiter für Geschichte bei der Volkswagen Stiftung in Hannover. Er ist Autor u.a der Bücher: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung.

Während in der Bundesrepublik die "Vergangenheitsbewältigung" ein ständiger Prozess war, erklärte die SED diese mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" für beendet. Wie unterschied sich die Erinnerung in Ost und West und wo stehen wir heute? Edgar Wolfrum mit einem Überblick.

Auferstanden aus Ruinen – Traditionssuche in West und Ost

War die deutsche Geschichte nach der nationalsozialistischen Katastrophe 1945 an ihren Endpunkt gelangt? Welche historischen Haltepunkte ließen sich noch greifen, als Deutschland und Europa in Trümmern lagen? Die im Alltagschaos steckenden gewöhnlichen Deutschen interessierte dies wenig, die Intellektuellen allerdings umso mehr. Beschwörung der guten deutschen Traditionen vor Hitler, keine "Selbstverdunkelung" der deutschen Geschichte – so lautete das Rezept westdeutscher Historiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Osten triumphierte die These vom "Irrweg einer Nation" – mit der Pointe, dass nun, in der entstehenden DDR, dieser Irrweg endgültig verlassen worden sei: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt".

Später, seit dem Ende der 1960er Jahre, sollten West-Historiker für die Bundesrepublik ebenfalls beanspruchen, dass diese den verhängnisvollen deutschen Sonderweg hinter sich gelassen habe und "Bonn" glücklicherweise nicht "Weimar" wurde. Bis zum Mauerbau 1961 konkurrierten die Deutungseliten beider deutschen Staaten erinnerungskulturell um das Verhältnis von Nation und Revolution – Kern war stets die Revolution von 1848/49. Im Osten sah man deren verpflichtendes Erbe in einer endlich zu schaffenden "einigen deutschen sozialen Republik" – im Westen hieß die Lehre "Einheit und Freiheit".

Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde in der Bundesrepublik zum "Nationalfeiertag " erklärt, zum "Tag der deutschen Einheit". An ihn knüpften sich im Zeitverlauf unterschiedliche nationale Geschichtsbilder. Zuerst wurde er als Arbeiter-, dann als Volksaufstand interpretiert. Anfangs sahen die meisten in ihm eine Erhebung für die Wiedervereinigung, dann, seit den 1960er Jahren, nur noch eine Freiheitsbewegung oder eine gescheiterte Revolution wie 1918/19 oder nur mehr einen sozialen Protest. Oftmals gab es einen Vergleich mit dem 20. Juli 1944 als einen Versuch, die totalitäre Diktatur zu stürzen.

In der DDR wiederum kam es zum Versuch, einen sozialistischen Patriotismus zu generieren. Nach der nationalen Trennung bedeutete der Mauerbau die – wie es schien: endgültige – Teilung Deutschlands. Während die SED in den 1970er Jahren die "deutsche Nation" in der DDR-Verfassung eliminierte – was die meisten Ostdeutschen ablehnten –, beanspruchte die Bundesregierung mit der Neuen Ostpolitik die Einheit der Nation zu wahren. Erinnerungskulturell fanden die beiden deutschen Gesellschaften Anfang der 1980er Jahre wieder zusammen. Zahlreiche Gedenkanlässe öffneten Schleusen der Erinnerung. Im Westen brach ein regelrechter Geschichtsboom aus, "von unten

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" befördert durch unzählige Geschichtswerkstätten. Und im Osten erwies sich das "Erbe und Tradition "-Programm der SED, das eine gefühlsmäßige Bindung an die "Nation DDR" bewirken sollte, als Bumerang: Die Vergangenheit – sei es Luther, Friedrich der Große oder gar Bismarck – stimulierte bei den Menschen gesamtdeutsche Gefühle und Solidarität und zwar nicht als vergangene Geschichtsnation, sondern in der Gegenwart. Das Erbe des Nationalsozialismus Moral und Pragmatismus – Angesichts des Kalten Krieges trat die Moral hinter dem Pragmatismus zurück. Was bedeutet dies? In der Bundesrepublik lautete 1949 die Frage: Demokratisierung und gesellschaftliche Integration der NS-Funktionseliten, also der mittleren Garnitur, oder vorbehaltlose Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen. In einer Art großen Koalition entschied man sich für den ersten Weg – ein allgemeiner Rechtfertigungsdrang und ein gemeinschaftlicher Wille, sich von Schuld und Verantwortung frei zu sprechen verband die meisten Deutschen miteinander. Vom Holocaust war bis zum Ende der 1950er Jahre kaum die Rede.

In der Öffentlichkeit wurde das "Dritte Reich" weitgehend totgeschwiegen. Nur Minderheiten, meist Opfergruppen, wagten die Schuld verdrängende Verharmlosung, die Vergangenheitsabwehr und die Schuldabwälzung zu stören. Im populären Geschichtsbild der Zeit erschien der Nationalsozialismus als unerklärlicher Einbruch, als Heimsuchung, ja Verhängnis und Hitler als Dämon. Außerdem wurden die NS-Diktatur und die SED-Diktatur über denselben Kamm geschoren und nach dem Mauerbau 1961 erschien die DDR nicht wenigen als ein KZ. Halbheiten bestimmten die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Israel erhielt zwar Entschädigungszahlungen, doch in der Wiedergutmachung steckte zu viel Kalkül und Außenpolitik, als dass sie moralisch voll überzeugte: Gezahlt wurde dort, wo es die internationale – und das bedeutete damals: westliche – Reputation der Bundesrepublik gebot, im Westen. Osteuropäische Opfer gingen leer aus.

Das Klima und mit ihm die Erinnerung wandelte sich seit etwa 1958, als antisemitische Skandale die Republik erschütterten. Weit reichende Folgen ergaben sich aus den Reaktionen: Die Kultusminister verabschiedeten neue Richtlinien für den Geschichtsunterricht, der Gesetzgeber schuf den Straftatbestand der "Volksverhetzung" und auf Betreiben von Opfergruppen wurden endlich Gedenkstätten gebaut. Ferner richteten die Landesjustizminister die "Zentrale Stelle zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen" ein, womit sie die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern vorantrieben. Intellektuelle wie Rolf Hochhuth kritisierten den Umgang mir der NS-Vergangenheit offen und ein Generationenkonflikt radikalisierte den Umgang mit der Vergangenheit. Die Verjährungsdebatten im Deutschen seit 1965 – Mord verjährte nach 20 Jahren, durfte NS- Völkermord verjähren? – verzeichneten eine ebenso breite öffentliche Resonanz wie der Eichmann- Prozess in Jerusalem oder der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main.

Seit dem Machtwechsel von 1969 politisierte und polarisierte sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Willy Brandt (SPD), ehemals Widerstandskämpfer, verstand sich als "Kanzler eines befreiten Deutschland". Doch die CDU/CSU-Opposition klagte: Die Kapitulation von 1945 könne man nicht feiern. Viele Konservative lehnten die "linksliberale " Vergangenheitsbewältigung ab – eine solche "Dauerbüßeraufgabe" würde das deutsche Selbstwertgefühl auf ewig traumatisieren.

1979 dann – ein Medienereignis. Die amerikanische TV-Serie "Holocaust" verzeichnete in der Bundesrepublik eine sensationelle Sehbeteiligung. Sieben Jahre später wurde im "Historikerstreit" um die Identität der Bundesrepublik gestritten – und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung fiel deutlich aus: Konstitutiv für den bundesdeutschen Rechtsstaat und seine geistige Westbindung blieb der Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 63 Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR

Während in der Bundesrepublik die Vergangenheits- bewältigung ein ständiger und zwischen zahlreichen Gruppen umstrittener Prozess war, erklärte die SED, dass mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" 1945-1949 der Nationalsozialismus mit Stumpf und Stil "ausgerottet" worden sei. Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte jegliche Haftungspflichten für die Vergangenheit ab. Hitler, so konnte man meinen, sei ein Westdeutscher gewesen.

Im Gründungsmythos der DDR hatten deutsche Antifaschisten an der Seite der Sowjetunion die Hitler- Diktatur besiegt und dann das neue Deutschland geschaffen. Die großen Nazis wurden abgeurteilt, die mittleren und kleineren "domestizierte" die SED in der eigens dafür geschaffenen national- demokratischen Blockpartei. Der Antifaschismus war Staatsdoktrin und außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung der DDR – quasi ihr Alleinvertretungsanspruch.

Da jedoch die allerwenigsten DDR-Bürger Widerstandskämpfer gewesen waren, musste über Rituale, Denkmäler, Schule und Künste dieser Antifaschismus in das kollektive Gedächtnis eingepflanzt werden. Daraus erklärt sich, dass die DDR flächendeckend mit Denkmälern und Erinnerungstafeln übersät war. Und das ehemalige KZ Buchenwald machte die SED mit enormem Aufwand zum Gedächtnisort des heroischen kommunistischen Widerstands gegen das "Dritte Reich". Sie erkor es zum "roten Olymp".

Es wäre freilich zu kurz gegriffen, den DDR-Antifaschismus nur als von oben "verordnet" zu bezeichnen. Bei vielen DDR-Bürgern bildeten sich antifaschistische Einstellungen aus und hielten sich bis zum Untergang des zweiten deutschen Staates, teils darüber hinaus. Allerdings wurde der Nationalsozialismus über die Kategorie "Faschismus" gleichsam universalisiert – mit fatalen Folgen.

Der Nationalsozialismus unterschied sich bekanntlich von allen anderen faschistischen Bewegungen dadurch, dass er den überall vorhandenen Antisemitismus mit der Konsequenz der absoluten Vernichtung betrieben hatte. Doch genau diesen Wesenskern verschwieg die ostdeutsche Erinnerung, da der Holocaust nicht in das Klassenschema passte. In der Auflösungsphase der DDR kam plötzlich ein pragmatischer Zug in die Erinnerung an den Nationalsozialismus.

Erich Honecker strebte danach, die internationale Anerkennung der DDR mit einem Besuch in Washington zu krönen und war – dies verlangten die USA dafür – 1988 bereit, jüdische Opfer zu entschädigen. Die DDR stieg somit am Vorabend ihres Untergangs vom hohen Ross des "Siegers der Geschichte" herab und wurde, was die Bundesrepublik immer war: ein Nachfolgestaat des "Dritten Reiches".

Gesamtdeutsche und europäische Erinnerungskultur – Wo stehen wir heute?

Die wichtigsten neuen Konstellationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lassen sich in zehn Punkten skizzieren:

1. Alle Vergangenheitsdebatten werden mittlerweile von Normierungen begleitet. Dies gilt für die nationale Ebene – hier sichtbar im jüngst verabschiedeten bundesdeutschen Gedenkstättenkonzept. Es trifft jedoch auch für die europäische Ebene zu, was die Stockholmer Holocaust- Konferenz im Jahr 2000 verdeutlichte, die als Geburtsstunde eines offiziellen europäischen Gedächtnisses gilt und den Beginn transnationaler Kooperation im Bereich der Holocaust- Erinnerung markiert.

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2. Als eine Folge der doppelten Vergangenheitsbewältigung, also des Umgangs mit der braunen wie mit der roten Diktatur, gelangt die Totalitarismustheorie zu neuen Ehren und zwar in Deutschland wie in ganz Europa, wobei ein Gefälle sichtbar wird: Während im Westen des Kontinents der Nationalsozialismus wie bisher als größte Katastrophe betrachtet wird, erscheint dieser im Osten gegenüber dem Kommunismus als die (zum Teil) weitaus kleinere.

3. Welche Themen auf die erinnerungspolitische Agenda gelangen, hängt stark mit den Massenmedien zusammen. Man kann formulieren: Erinnert wird, was massenmedial präsentabel ist.

4. Die NS-Vergangenheit bleibt in Deutschland als negatives Bezugsereignis der Dreh- und Angelpunkt (siehe das Holocaust-Mahnmal in Berlin). Sie gerät indessen unter dem Druck der erinnerungspolitischen Globalisierung zu einem politischen Argument für Menschenrechtspolitik. Die Chiffre "Auschwitz" wird zu einem Passepartout für militärische Interventionen – man sah dies im Jugoslawienkrieg. Da es in den Kriegen auf dem Balkan offenbar um die Verhinderung eines Völkermordes bzw. eines "zweiten Auschwitz" ging, konnte Außenminister Joschka Fischer selbst seine pazifistische grüne Partei mehrheitlich dazu bringen, deutschen Militäreinsätzen zuzustimmen.

5. War die deutsche Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte in Zeiten des Ost-West-Konflikts eine "halbierte" Politik, weil sie den Osten ausklammerte, so wurde infolge der Epochenwende diese halbierte Vergangenheitspolitik mit der Zwangsarbeiterentschädigung 2000 endlich bereinigt.

6. Zum Teil dramatisch verschoben hat sich die Debatte um die Opfer: Dass Deutsche auch Opfer des von ihnen selbst entfesselten Zweiten Weltkriegs waren, wird heute nicht mehr bestritten. Deutsches Schuldbewusstsein behindert nicht mehr die Vergegenwärtigung eigener traumatischer Erfahrung von Flucht und Vertreibung oder Bombenkrieg. Wichtiger aber noch scheint, dass die Opfer des Kommunismus die hegemoniale Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sprengen und auch auf den Feldern von Wiedergutmachung und Entschädigung in Konkurrenz zu diesen stehen.

7. Das vereinigte Deutschland stieg spätestens im Jahr 2005 zu einer Art retrospektiven Siegermacht des Zweiten Weltkrieges auf. Bei den Feiern anlässlich des 60. Jahrestages des "D-Days" und damit des Sieges über Hitlers "Drittes Reich" mussten sich der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und seine Delegation nicht mehr verstecken. Die geglückte deutsche Demokratie wurde durch die Regierungspräsenz im Kreis der ehemaligen Alliierten geadelt.

8. In Deutschland selbst ist – nicht zuletzt als Folge des Generationenwechsels – der vormals bezweifelte Patriotismus oder gar der "negative Patriotismus" überwunden, stattdessen macht sich Identitätssicherheit und ein "fröhlicher Patriotismus" der Deutschen breit, der andere Vater- und Mutterländer einschließt. Insofern war das "Sommermärchen" der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 kein Strohfeuer, sondern ein Symptom des Wandels.

9. Auch auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung, ihren Formen, Inhalten und Erfordernissen ist Deutschland zu einem Exportweltmeister geworden. An dieser "DIN-Norm" reiben sich jedoch einige Länder, die eigene Wege gehen möchten und nicht einsehen wollen, warum die Deutschen immer die "Besten" sein müssen: Erst verüben sie die größten Verbrechen – was mit Blick auf den Holocaust und den NS-Vernichtungskrieg zutrifft; dann verarbeiten sie diese mit der besten Vergangenheitsbewältigung, - was man im Rückblick von 60 Jahren trotz Rückschlägen und Skandalen durchaus behaupten kann.

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10. Anders als die NS-Herrschaft hat die SED-Herrschaft in der politischen Kultur des gegenwärtigen Deutschland noch keinen festen historischen Ort, keine klare gesamtgesellschaftliche Aneignung gefunden, sondern bleibt umkämpft und erfahrungsgeschichtlich gespalten. Der Untergang der DDR hat nicht dieselbe konstitutive Bedeutung wie die Befreiung vom Nationalsozialismus – aber die Rückwirkungen des Kollaps´ des Kommunismus auf die politische Kultur Europas und Deutschlands könnten sich in längerer Perspektive als wirkungsmächtiger erweisen, als wir dies heute glauben. Mit Blick auf Nationalsozialismus und Kommunismus bestehen Ungleichgewichte und Spaltungen zwischen West- und Ostdeutschland – somit kann man von einer geteilten deutschen Geschichtskultur sprechen. Diese Spaltungen sind ihrerseits wiederum der gesamteuropäischen Erinnerungslandschaft geschuldet, auf die sie verweisen.

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Erinnerungskultur in der DDR

Von Birgit Müller 26.8.2008 studierte Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Öffentliches Recht in Bonn, Kopenhagen und Potsdam. Seit 2005 ist sie Archivarin und Doktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Verharmlost, verklärt, vergessen? Die DDR verstand sich als das "neue bessere Deutschland " und lehnte eine Auseinandersetzung um die Schuldfrage ab. Aber wie erinnerte die DDR an den Nationalsozialismus?

Die Erinnerungskultur in der DDR war hauptsächlich gekennzeichnet durch den Antifaschismus, der als Staatsdoktrin galt und den Staat politisch legitimierten sollte. Ausgehend von der Faschismusthese nach Georgi Dimitroff, nach der der "Faschismus die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals sei"[1] verstand sich die DDR als Nachfolgerin des antifaschistischen Widerstandskampfes der KPD, als neues besseres Deutschland und als Gegenentwurf zur Bundesrepublik, welche nach Auffassung der DDR direkt an das Dritte Reich anknüpfte und dem Selbstverständnis nach als Gegenpol anzusehen war. Diese Herangehensweise ermöglichte es auf der Suche nach Selbstlegitimation, sich nicht mit der Rolle der nationalsozialistischen Ideologie und der Schuldfrage auseinandersetzen zu müssen.

Im Zuge der Entnazifizierung in den ersten Nachkriegsjahren in der sowjetischen Besatzungszone wurden tausende Richter, Lehrer, Verwaltungsangestellte und Verantwortungsträger entlassen und " Nazis und Kriegsverbrecher [...] enteignet."[2] Aber auch die Bodenreform und die Kollektivierung der Wirtschaft, die nicht nur ehemalige Nationalsozialisten betrafen, sollten zum Aufbau des neuen sozialistischen Staates beitragen. In den verschiedenen politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wurden zunächst die Fragen nach einer Mitschuld, nach Wiedergutmachungsansprüchen und nach der Aufarbeitung der Vergangenheit diskutiert. Doch durch die Manifestierung des Antifaschismus und einem Austausch der politischen Elite schien es möglich, einerseits einen Schlussstrich zu ziehen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich einer intensiven Aufarbeitung zu entziehen. Andererseits bot sich die Chance, den politisch-moralischen Anspruch des "besseren Deutschlands" auch propagandistisch umzusetzen.

Erinnerung an die NS-Opfer

Unmittelbar nach Beendigung des Krieges galt die Erinnerung in der sowjetischen Besatzungszone allen Opfergruppen. Es war unerheblich, ob es sich um Widerstandskämpfer kommunistischer, bürgerlicher oder christlicher Couleur handelte oder ob die Verfolgung aus rassistischen Gründen erfolgte. Kurz nach Kriegsende 1945 wurden als "Opfer des Faschismus" diejenigen bezeichnet, die " 'unter der Hitlerdiktatur heldenmütig für die Freiheit des deutschen Volkes' gekämpft hatten, sowie die 'Hinterbliebenen der von den Faschisten ermordeten Helden des deutschen Freiheitskampfes'".[3] Die Weiterführung des Zitats verdeutlicht jedoch, dass eine Hierarchisierung der Opfergruppen im Interesse der kommunistischen Erinnerungskultur und des Geschichtsbewusstseins vorgenommen wurde. Denn es heißt weiter: "'Opfer des Faschismus' sind die Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und Arbeitsvertragssünder. Aber so weit können wir den Begriff 'Opfer des Faschismus' nicht ziehen. Sie haben alles geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft."[4]

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Vor allem die Spitze der SED sah in den kommunistischen Widerstandskämpfern die bedeutendste Gruppe, die stets hervorgehoben wurde. So wurde zwischen "Opfern des Faschismus" und den " Kämpfern gegen den Faschismus" unterschieden. Die Erinnerung an die anderen Opfer wurde somit sekundär und verschwand größtenteils aus dem öffentlichen Gedächtnis.[5] Jürgen Danyel weist darauf hin, dass "in der DDR [...] die Euthanasie-Opfer, die Sinti und Roma, die 'Asozialen', die Homosexuellen und andere Minderheiten zu den lange vergessenen Opfergruppen"[6] gehörten.

Damit verbunden war auch die Frage nach individueller Entschädigung, Rückerstattung und Wiedergutmachung. Die DDR lehnte diese Forderungen bis in die 70er Jahre hinein ab, da sie sich nicht als Rechtsnachfolger des "Dritten Reiches" verstand. Allerdings musste sie Reparationsleistungen an die Sowjetunion abführen, die nicht nur aus der Demontage von Fabriken und finanziellen Abgaben bestanden, sondern auch der laufenden Produktion entnommen wurden. Als ausreichend für die "Opfer des Faschismus" wurden Fürsorgemaßnahmen angesehen, die nach bestimmten Kriterien wie Inhaftierung, Berufsverbot oder aktiver kommunistischer Widerstandskampf abgestuft waren.

Entnazifizierung und die NS-Opfer

1952 wurde schließlich - auch auf Drängen der Sowjetischen Militäradministration - die Entnazifizierung beendet. Die Gesetze von 1949 und 1952 über den "Erlass von Sühnemaßnahmen und Gewährung staatsbürgerlicher Rechte" für ehemalige Mitglieder der Wehrmacht und der NSDAP sollten die Integration in die sozialistische Gesellschaft ermöglichen, wenn diese bereit waren, sich aktiv am Aufbau des sozialistischen Staates zu beteiligen. Auf Widerspruch und Entsetzen stieß dieses Vorgehen bei den Opfern des Naziregimes und deren Angehörigen.

Sie engagierten sich ab Februar 1947 in der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) und bildeten bis zu ihrer Auflösung im Februar 1953 ein bedeutendes Forum für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Sie waren nicht gewillt mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Auf Beschluss des Politbüros der SED wurde der VVN jedoch aufgelöst und vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandkämpfer abgelöst, welches hauptsächlich aus Parteimitgliedern bestand.

"Antifaschistischer Kampf" wurde das Stichwort für das kollektive Geschichtsbewusstsein und als ununterbrochene Tradition des kommunistischen Widerstandes dargestellt. Insbesondere das Verhältnis zu den jüdischen Opfern war stets gespannt. Vor dem Hintergrund des Slansky-Prozesses gegen vermeintlich "zionistische Spione" 1952 in der Tschechoslowakei und des starken Antisemitismus in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern erstarkte auch in der DDR ein antisemitisches Klima. Insbesondere der Prozess gegen Paul Merker, der sich für die Entschädigung von jüdischen Opfern einsetzte und als "Agent und Förderer des Zionismus"[7] verurteilt wurde sowie die ablehnende politische Haltung gegenüber Israel verdeutlichen diese Entwicklung.

Im Januar 1953 schloss auch die VVN mehrere jüdische Mitglieder wegen vermeintlicher "zionistischer Agententätigkeit aus", einige führende Mitglieder waren aus Angst vor Verfolgung aus der DDR geflohen und das ZK der SED kündigte die Überprüfung ehemaliger Emigranten auf zionistische Agententätigkeit an. Der kommunistischen Zensur folgend wurde der jüdische Widerstand weitestgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt.

Der verordnete Antifaschismus etablierte sich in den 1950er und 1960er Jahren im Geschichtsbild der DDR und wurde auch zur Begründung der nationalen Identität herangezogen. Die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gingen immer stärker einher mit einer politischen Inszenierung, Instrumentalisierung und Ritualisierung.

[1] Dimitroff, Georgi: Ausgewählte Schriften, Band 2, Berlin 1958, S. 525.

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[2] Leo, Annette: Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR in: Geeinte Nation – Geteilte Geschichte. Die deutsche Gesellschaft nach der Wiedervereinigung hrsg. von Wolfgang Benz und Jörg Leuschner, Salzgitter 1993, S 46. [3] Zit. nach: Nieden, Susanne zur: "L. ist ein vollkommen asoziales Element...". Säuberungen in den Reihen der "Opfer des Faschismus" in Berlin in: Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR- Antifaschismus hrsg. Von Annette Leo und Peter Reif-Spirek, Berlin 2001, S. 88. [4] Zit. nach: Ebenda, S. 88. [5] Die Erinnerung an die Angehörigen des 20. Julis 1944 und an den christlichen Widerstand wurde erst in den 80er Jahren wieder aufgenommen. [6] Danyel, Jürgen: Der vergangenheitspolitische Diskurs in der SBZ/DDR 1945-1989. In: Krieg – Diktatur - Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945 hrsg. von Christoph Cornelißen, Essen 2005, S. 191. [7] Staritz, Dietrich: Judenverfolgung und Antisemitismus in der Wahrnehmung der KPD in: Schwieriges Erbe. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland hrsg. von Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau, Frankfurt am Main / New York 1995, S. 224.

Gedenkstätten in der DDR

Die Politisierung der Erinnerungskultur wird auch in der Denkmalarchitektur deutlich, die vordergründig der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstandskampf gewidmet ist und die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nachordnete. Bereits in den 1950er Jahren gab es Initiativen zur Errichtung von Gedenkstätten. Zunächst pflegten Angehörige der Opfer und Überlebende der Konzentrationslager die authentischen Orte und errichteten provisorische Gedenkstätten.

Im Juni 1951 erging der Beschluss der Regierung zur Einrichtung einer Gedenkstätte auf dem Ettersberg bei Weimar. Vier Jahre später wurde ein Kuratorium unter Vorsitz von Otto Grotewohl zur Errichtung nationaler Gedenkstätten in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen gegründet.[8] 1958 wurde zunächst die Gedenkstätte Buchenwald, 1959 Ravensbrück und 1961 Sachsenhausen eröffnet. Die doppelte Vergangenheit als Konzentrationslager und sowjetische Speziallager blieb unbeachtet.

Die Ziele der Schaffung der Gedenkstätten wurden in einer Broschüre zum 20-jährigen Bestehen der Gedenkstätte Buchenwald wie folgt formuliert: "Der Aufbau der Mahn- und Gedenkstätte war Ausdruck der wachsenden politischen Reife der Bevölkerung, des Prozesses der demokratischen und antifaschistischen Bewusstseinsbildung und der Bereitschaft der Bevölkerung die Politik der Regierung aktiv zu unterstützen."[9] Hier wird deutlich, dass es primär nicht um die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ging, sondern um eine politische Instrumentalisierung.

Der Historiker Olaf Groehler resümiert: "Höchst zielstrebig wurde in den zu Nationalen Gedenk- und Mahnstätten erklärten Objekten die Absicht verfolgt, sie von Orten des Leidens und der Verfolgung zu Gedenkstätten der antifaschistischen Kämpfer und Helden umzufunktionieren, letztere damit letztlich auch zu Siegern der Geschichte zu verklären, wobei die wirklichen Toten vergessen wurden."[10] Die Hierarchisierung der Opfergruppen wurde auch in der Denkmalsarchitektur deutlich, so war das Symbol des "Roten Winkel" für die politischen Häftlinge überall präsent. Zudem erinnerten zahlreiche Gedenktafeln, Straßenschilder und Mahnmale vornehmlich an kommunistische Widerstandskämpfer oder generalisierend an die "Opfer des Faschismus".

Ritualisierte kollektive Gedenktage und –veranstaltungen wurden vor allem am 8. Mai (Tag der Befreiung), dem 1. September (Weltfriedenstag), aber auch zur Erinnerung an den Novemberpogrom durchgeführt. Im Vordergrund stand jedoch nicht die Erinnerung, sondern die politische Botschaft, die Aufforderung, sich aktiv am Antifaschismus und am Aufbau des "besseren Deutschlands" zu beteiligen. Ein besonderer Schwerpunkt lag im Bereich der Bildung. Die antifaschistische Erziehung war in den

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Lehrplänen aller Schulformen als Bildungsziel fest verankert. Auch fanden Aufnahmen von Schülern zu Thälmannpionieren und Vereidigungen von Rekruten z.B. in den Gedenkstätten oder am sowjetischen Ehrenmal in Treptow statt; zudem wurden dorthin Jugendweihefahrten unternommen.

Eine wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung bildeten außerdem Kunst, Film und Literatur. Bekannt sind die Werke von Anna Seghers "Das siebte Kreuz", Bruno Apitz "Nackt unter Wölfen", Dieter Noll "Die Abenteuer des Werner Holt", die Filme "Jakob der Lügner", "Die Mörder sind unter uns" oder "Professor Mamlock". Nicht alle Schriftsteller und Autoren folgten der am Antifaschismus ausgerichteten Erinnerungskultur. Kunst und Literatur waren ein Forum, um sich kritisch mit der Vergangenheitsbewältigung und auch mit der eigenen Position im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.

Das Streben der DDR nach internationaler Anerkennung sowie ökonomische Zwänge bewirkten in den 1980er Jahren eine Änderung der Außenpolitik, die auch eine Verbesserung des Verhältnisses zu den USA und zu Israel beinhaltete. Damit einher ging auch eine Veränderung der Erinnerungskultur hin zu einer Wiedereinbeziehung der anderen Opfergruppen, die Bereitschaft Entschädigungen zu zahlen und erste Versuche einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Erinnerungspolitik. Grundsätzlich blieb die Vergangenheitsbewältigung in der DDR jedoch bis zuletzt gekennzeichnet von einer Politisierung und Ritualisierung der Erinnerung.

Der staatlich verordnete Antifaschismus spielte eine wichtige Rolle im Selbstverständnis der DDR als das "bessere Deutschland", war identitätsstiftendes Moment und diente so auch der Abgrenzung zum " Klassenfeind" und zur Bundesrepublik Deutschland. Christa Wolf resümierte in einem Interview in der Zeitung "Wochenpost" vom 27. Oktober 1989: "Eine kleine Gruppe von Antifaschisten, die das Land regierte, hat ihr Siegesbewusstsein zu irgendeinem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt aus pragmatischen Gründen auf die ganze Bevölkerung übertragen."[11]

[8] Vgl. 20 Jahre Mahnmal Buchenwald. Eine Dokumentation hrsg. von der Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, Erfurt 1978, S. 12. [9] Ebenda, S. 17. [10] Groehler, Olaf: Umgang mit der "Reichskristallnacht" in der SBZ und DDR in: Schwieriges Erbe. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland hrsg. von Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau, Frankfurt am Main / New York 1995, S. 289. [11] Zit. nach: Mertens, Lothar: Die SED und die NS-Vergangenheit in: Ebenda, S. 195.

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Keine gemeinsame Erinnerung Geschichtsbewusstsein in Ost und West

Von Leo, Annette 7.10.2008

Über die Geschichte der DDR herrscht kein kollektives Selbstverständnis in der neuen Bundesrepublik. Aber auch der Nationalsozialismus wird in Ost und West unterschiedlich erinnert. Gibt es noch eine Mauer in den Köpfen?

Einleitung

Über die fortbestehende "Mauer in den Köpfen" wird periodisch immer wieder öffentlich geklagt. Während der zahlreichen Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 gerieten die unterschiedlichen Erfahrungen und auch der sehr unterschiedliche Umgang mit diesem Ereignis in Ost und West so deutlich wie selten in den Blick. Eine intensive Beschäftigung mit den Erinnerungsmustern der ehemaligen DDR-Bürger und der Alt-Bundesbürger würde einen Schlüssel für viele gegenwärtige Verständigungsprobleme liefern.

Vor allem an der Beurteilung und Deutung der DDR-Geschichte entzünden sich immer wieder Kontroversen. Im Sommer war das anlässlich der Präsentation einer DDR-Kunstschau in der Neuen Nationalgalerie in Berlin aufs Neue zu erleben. Aber auch die Zeit des Nationalsozialismus, die schließlich ein zentrales Stück gemeinsamer deutscher Vergangenheit darstellt, wird durchaus nicht gemeinsam erinnert. Dieser Text fußt auf Ergebnissen verschiedener Recherchen und Interviewprojekte.[1] An zwei von ihnen war die Autorin beteiligt. Eine Schnittstelle dieser Studien bilden die Erfahrungen der Befragten in der DDR und ihre Erfahrungen mit den Erinnerungen an die DDR nach der historischen Zäsur von 1990. Welche Spuren finden sich im heutigen Bewusstsein? Eine weitere Schnittstelle ist der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der sich vor allem in den neuen Ländern verändert hat, seitdem es die DDR und ihre prägende Geschichtspolitik nicht mehr gibt.

Geschichtsbewusstsein wird hier verstanden als Gesamtheit der Formen und Inhalte des Denkens, mit denen sich eine Gruppe von Menschen in die Zeit einordnet, mit der Vergangenheit in Beziehung setzt und sich in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft orientiert. Der Historiker Jörn Rüsen hat Geschichtsbewusstsein als "Inbegriff der mentalen Operationen" definiert, "mit denen Menschen ihre Erfahrungen vom zeitlichen Wandel in ihrer Welt und ihrer selbst so deuten, dass sie ihre Lebenspraxis in der Zeit absichtsvoll orientieren können"[2]. Ein so verstandenes Geschichtsbewusstsein ist also weit mehr als Wissen von der Geschichte, mehr auch als die Summe individueller, vergangener Erfahrungen. Der Bezugspunkt, von dem aus Geschichte betrachtet und das eigene Selbstverständnis definiert wird, ist stets die Gegenwart. Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein nehmen ebenso die individuellen Erfahrungen wie das sich wandelnde kollektive Selbstverständnis einer Gruppe, Nation oder Generation.

Der ostdeutsche Staat entwickelte ein propagandistisch und ideologisch stark aufgeblähtes, offizielles Selbstverständnis, mit dem sich möglichst alle Bürger identifizieren sollten. Seit 1990 hat sich die Sicht auf die DDR-Vergangenheit sehr gewandelt. Einerseits verfügt die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt über sehr viel mehr präzises Wissen über Machtstrukturen und -mechanismen, über Repression und Überwachung, andererseits gibt es im Osten Tendenzen von Nostalgie, partieller

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Verklärung und natürlich von Verteidigung des eigenen gelebten Lebens. Das ist alles historisch noch sehr nah und sehr fragmentiert.

Über die Geschichte der DDR existiert kein kollektives Selbstverständnis in der neuen Bundesrepublik. Es gibt keinen Konsens über ihre Beurteilung, über ihre Einordnung in den deutschen und europäischen Kontext. Das macht auch die Schwierigkeit von Erinnerungsarbeit aus. Der Dissens über zentrale Fragen - etwa, ob die DDR von Anfang an und in jeder Phase ein von außen aufgezwungenes, zum Scheitern verurteiltes System war; ob sie vor allem von ihrer diktatorischen Seite definiert werden kann; welche Rolle dabei die Alltagserfahrungen der Individuen spielen, die in ihrer Mehrheit weder Täter noch Opfer von Repression waren; ob die Zweistaatlichkeit nur eine Episode in der Geschichte war oder ein wichtiger Zeitabschnitt - teilt keineswegs nur die Ost- und Westdeutschen, sondern verläuft, je nach politischer Verortung und Vorerfahrungen, quer durch diese Gruppen. Aber am deutlichsten spaltet er die Gesellschaft in ehemalige Ost- und Westdeutsche, weil es um unterschiedliche Lebenserfahrungen geht: um die Auf- oder Abwertung gelebten Lebens.

Das Erlebnis eines Bruchs

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Befragungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Ost und West ist deshalb beinahe eine Binsenweisheit: Der deutlichste Unterschied zeigt sich nicht bei den Erfahrungen in den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Ost und West, etwa hinsichtlich sozialistischer oder demokratischer Erziehung, unterschiedlicher Erfahrungen im Berufsleben, Qualifizierungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, Emanzipation der Frau. Er liegt im Erlebnis eines tiefen Bruches auf der ostdeutschen Seite, der das ganze bisherige Leben infrage stellt, und das Erlebnis einer zumindest scheinbar ungebrochenen Kontinuität auf der westdeutschen Seite.

Daraus resultiert unter anderem eine unterschiedliche Erzählfreude. Bei unseren ostdeutschen Gesprächspartner/innen trafen wir auf ein viel größeres Darstellungs- und Rechtfertigungsbedürfnis als bei ihren westdeutschen KollegInnen. Auch der Wunsch, sich beim Erzählen der eigenen Biografie, in der so vieles nun infrage gestellt ist, zu vergewissern, ist bei ihnen viel ausgeprägter. Bei den westdeutschen Gesprächspartner/innen war die Bereitschaft geringer, sich einem solchen Gespräch zu stellen. Die Betreffenden haben keinen so offensichtlichen Bruch erlebt, der das eigene Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Sie betrachten ihr Leben als Ergebnis vorwiegend individueller Erfahrungen. Gruppenerfahrungen oder gar politische Rahmenbedingungen, die das Geschehen beeinflusst haben könnten, werden seltener thematisiert, sodass es ihnen letztlich auch weniger " erzählenswert" erscheint. Außer den älteren Befragten, die den Krieg erlebt haben, hat offenbar niemand das Gefühl, über so etwas wie "Schicksal" zu verfügen. Die Ostdeutschen dagegen haben durch den biografischen Bruch eigentlich alle ein "Schicksal" erhalten, das sie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte antreibt, aber auch zur Abwehr gegenüber beunruhigenden Erinnerungen und zur Neukonstruktion einer kohärenten biografischen Erzählung.

Die Äußerungen von West- und Ostdeutschen über die DDR unterscheiden sich durch ihre grundlegend verschiedenen Erfahrungs- und Bewertungsebenen. Während die einen die DDR vorwiegend von außen sehen - die Innensicht stammt meist nur von gelegentlichen Besuchen -, bedeutet sie für die anderen den größten Teil ihres bisherigen Lebens. Westdeutsche meinen, wenn sie über die DDR sprechen, vorwiegend das sozialistische System mit seinem Machtapparat, während die Ostdeutschen meist ihre Lebenswelt in den Vordergrund stellen. In beiden Gruppen gibt es jeweils ein Spektrum verschiedener Auffassungen, wobei die wenigen kritisch bis oppositionell eingestellten ostdeutschen Gesprächspartner/innen der westdeutschen Sicht am nächsten kommen, während die wenigen linkssozialistisch gestimmten Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik in mancher Hinsicht Affinitäten zur Ostsicht erkennen lassen.

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Einen der gravierendsten Unterschiede in der Bewertung konnten wir im Hinblick auf Demokratie und Freiheit konstatieren. Die befragten Ostdeutschen ignorieren dieses Thema überwiegend. Beispiele von Repression und Überwachung werden nur von den wenigen GesprächspartnerInnen erinnert, die dem System kritisch oder zumindest distanziert gegenübergestanden haben. Bei der Beschreibung des eigenen Lebens in der DDR werden solche Aspekte fast ausschließlich in der Verteidigung gegen eine als fremd empfundene Sicht im Rahmen des gegenwärtigen Diskurses erwähnt: "Die Mauer war zwar schmerzlich, aber sie hat unsere heile Welt geschützt"; "wir hatten zwar die Stasi, aber konnten uns abends auf die Straße trauen."

Für die Interviewpartner/innen aus dem Westen dagegen stehen Demokratie und Freiheit bzw. deren Mangel in der DDR im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung. Alle anderen Beobachtungen werden diesem Gesichtspunkt untergeordnet. Es verwundert deshalb nicht, dass bei Gesprächspartner/innen aus der alten Bundesrepublik die Bereitschaft zu beobachten ist, die Verhältnisse in der DDR mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen und bisweilen sogar gleichzusetzen, während die Befragten aus der DDR, zumindest die Nachkriegsgenerationen, schon den Vergleich generell als unzulässig ablehnen.

Im Vordergrund der Äußerungen aus dem Osten stehen soziale Sicherheit und Fürsorge, in erster Linie die Sicherheit der Arbeitsplätze. Das gipfelt häufig in dem Bild von einer solidarischen Gemeinschaft im Betrieb und im Wohngebiet, wo die Leute füreinander da waren, da sie gleiche Interessen hatten und unter etwa gleichen sozialen Bedingungen lebten. Angesichts des zunehmenden Zerfalls dieser Gemeinschaft in Individuen mit unterschiedlichen Interessen wurde dieses Bild in den Gesprächen häufig beschworen. Natürlich muss man sich die Frage stellen, ob das tatsächlich immer so erlebt wurde, oder ob es sich hier nicht eher um ein "nachträgliches Bewusstsein" handelt, um ein rückprojiziertes Gegenbild zur Gegenwart.

Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, mehr noch die Kinderbetreuung spielen auch im DDR-Bild unserer westdeutschen Interviewpartner und -partnerinnen eine Rolle. Sie werden überwiegend positiv bewertet. Solche sozialen Bedingungen wünschen sich viele in ihrem eigenen Lebensbereich. Allerdings werden auch die Schattenseiten gesehen: wirtschaftliche Ineffizienz, staatlich reglementierte Kindererziehung, überhaupt das staatlich reglementierte Leben.

Eine historische Entwicklung der DDR mit unterschiedlichen Phasen sehen die Befragten aus den alten Bundesländern überwiegend nicht. Für sie blieb die DDR von ihrem Beginn bis zum Ende im Wesentlichen unverändert. Das zeugt natürlich vor allem von zu geringen Geschichtskenntnissen, um zeitliche Differenzierungen vorzunehmen. Dagegen unterscheiden die Interviewpartner/innen aus dem Osten Phasen der DDR-Geschichte, deren Einteilung und Bewertung vor allem von der Generationszugehörigkeit und den individuellen Lebenserfahrungen bestimmt wird. So kam es vor, dass etwa die fünfziger Jahre, ebenso wie die achtziger Jahre kurz vor der "Wende", sowohl als " schlimmste Zeit" angesehen werden als auch als jeweils "schönste Zeit", weil man noch Ideale hatte oder weil sich Zwänge zu lockern begannen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 73 Die Ursachen des Scheiterns

Unterschiedliche Antworten gibt es auf die Fragen, ob die DDR ein sozialistischer Staat gewesen ist und woran sie letztlich scheiterte. Hier allerdings verläuft die Trennungslinie der Bewertungen nicht durchgängig zwischen Ost und West. Vor allem diejenigen Gesprächspartner/innen, die an ihrer Vision von einer gerechteren Gesellschaft festhalten wollen, so verschwommen sie auch sein mag, haben ein großes Bedürfnis, einen Unterschied zwischen dem DDR-System und dem eigenen sozialistischen Ideal zu behaupten. Sie sind der Meinung, dass die Grundidee von einer Funktionärsbürokratie verfälscht worden sei. Allerdings sind zum Beispiel die sozialdemokratischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik überwiegend davon überzeugt, dass letztlich Sozialismus und Diktatur nicht miteinander vereinbar seien, während die Interviewpartner/innen aus dem Osten eher von Fehlern und Entgleisungen der Politiker sprechen. Für eine Minderheit von Befragten, vor allem aus der alten Bundesrepublik, sind Diktatur und Zwang dagegen dem sozialistischen System immanent, das Scheitern der DDR war deshalb folgerichtig und von Anfang an vorbestimmt.

Diejenigen Interviewpartner/innen, welche die DDR als Gesellschaft ansehen, in der eine ursprünglich akzeptable Idee verfälscht worden bzw. entgleist ist, machen - je nach persönlicher Erfahrung und politischem Standort - durchaus unterschiedliche Ursachen für den Zusammenbruch 1989 verantwortlich. Die Skala reicht von der Starrheit der überalterten Funktionäre bis zur allgemeinen Unzulänglichkeit des Menschen, der für ein solches Modell eben zu egoistisch sei. Die meistgenannten Ursachen sind jedoch wirtschaftliche Ineffizienz (Ost-Befragte) und fehlende Freiheiten (Befragte aus dem Westen). Es gibt aber auch Gesprächspartnerinnen und -partner aus der Nachkriegsgeneration Ost, die ratlos vor dieser Frage standen. Damit quäle sie sich seit 1990, bekennt etwa eine Mutter von fünf Kindern und Meisterin im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, Jahrgang 1942, SED-Mitglied. Für sie bedeutete das Ende der DDR gleichzeitig das Ende ihrer Berufstätigkeit. Sie grüble darüber nach, was schief gelaufen sei, aber sie komme zu keinem Ergebnis.

Geteilte Erinnerung an den Nationalsozialismus

Über die Geschichte von SBZ und DDR gibt es keinen Konsens der Erinnerung - nicht zwischen Ost und West, auch nicht in jedem Fall unter den Ostdeutschen, nicht einmal unter ehemaligen Bürgerrechtlern, wie die Kontroversen der vergangenen Jahre zeigen. Wie verhält es sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus? Hier ist eine Spaltung des Bewusstseins zu registrieren, die aus der Zeit der Teilung, des Kalten Krieges, der Blockauseinandersetzung stammt, als sich jede Seite des Geschichtsbildes und der Abgrenzungsargumente bediente, die der Bestätigung des eigenen Systems dienten. Das gegenseitige Aufeinanderbezogensein hörte aber spätestens in den achtziger Jahren auf. In der alten Bundesrepublik entfaltete sich, begleitet von vielen öffentlichen Debatten und einer Geschichtsbewegung von unten, ein differenziertes Bewusstsein von der NS-Vergangenheit, das die Projektionen des Kalten Krieges hinter sich ließ und alle Teile des Widerstandes und die meisten Verfolgtengruppen nach und nach einbezog. In der DDR war die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit und das Gedenken an die ermordeten Widerstandskämpfer ein wichtiger Bezugspunkt gesellschaftlichen Erinnerns. Das auf Legitimation des eigenen Systems ausgerichtete, sehr einseitige Vergangenheitsbild blieb jedoch mit geringen Modifikationen bis 1989 erhalten, ebenso wie die Fixierung auf das Gegenmodell Bundesrepublik.

Der Historiker Jürgen Kocka spricht davon, dass die NS-Diktatur für die Ostdeutschen "anscheinend eine weniger zentrale, weniger prägende Rolle" spiele als für die Westdeutschen, die darin ein negatives Bezugssystem sehen, "an dem sie die eigene Gesellschaft messen und beurteilen"[3]. Dieser Unterschied in der Gewichtung hat zweifellos mit einem Umstand zu tun, auf den Kocka ebenfalls hinweist: Aufgrund des Antifaschismus-Konzeptes der DDR, das den Faschismus vor allem als extremste Form des Kapitalismus deutete, sahen sich die DDR-Bürger nicht in der Nachfolge des " Dritten Reiches". Sie verstanden das belastende NS-Erbe nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte, sondern als etwas weit Entferntes, das mit ihnen nicht viel zu tun hatte.

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Zu ähnlichen Befunden kam auch unsere Studie über das Geschichtsbewusstsein, wobei man nach Generationen differenzieren muss. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Gespräche mit ehemaligen DDR-Bürgern. Ein solches "Losgelöstsein" von der belastenden Vergangenheit ließ sich am deutlichsten in Interviews mit den Vertretern der ersten Nachkriegsgeneration feststellen. Die älteren Gesprächspartner der Kriegsgeneration und die jüngeren der zweiten Nachkriegsgeneration hatten die "antifaschistische" Erziehung keineswegs uneingeschränkt verinnerlicht. Die Älteren beriefen sich vielmehr auf ihre eigenen, widersprüchlichen Erinnerungen an diese Zeit, die sich nicht völlig umdeuten ließen. Bei den Jüngeren hatte die Bindekraft der offiziellen Ideologie weitgehend nachgelassen, und das Identifikationsangebot des Antifaschismus zeigte weniger Wirkung. Die Aussagen der Vertreter der zweiten Nachkriegsgeneration ähnelten übrigens denen ihrer Altersgenossen aus der alten Bundesrepublik. Bei ihnen stellten wir fast gleichermaßen die Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Schuldvorwürfen fest, denen sie sich als Deutsche ausgesetzt sahen. Sie sprachen ebenso den Wunsch aus, dass endlich Schluss sein müsse mit der Erinnerung an die Vergangenheit.

Solche Worte waren von den Vertretern der ersten DDR-Nachkriegsgeneration nicht zu hören. Die Befragten dieser Altersgruppe bezeichneten allgemein die Erinnerung an den Nationalsozialismus als wichtige Aufgabe für die Gesellschaft. Sie wünschten sich, dass von dieser Erinnerung eine dauerhafte Mahnung für die Gegenwart ausgehe. Zweifellos hatten sie das formelhafte "Nie wieder" verinnerlicht. Eine Identifikation mit dem untergegangenen sozialistischen Staat leiteten die Betreffenden aber nicht unbedingt aus dieser Haltung ab. Doch sie hatten, solange die DDR noch existierte, offenbar das beruhigende Gefühl, auf der "richtigen Seite" zu leben, in einem System, das eine Wiederkehr des Faschismus in jedem Fall verhindern würde.

Verkoppelung der Vergangenheiten

Seit 1990 geschieht in der öffentlichen Debatte häufig eine Verkoppelung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Diskussion um die DDR-Geschichte. Das ist nicht verwunderlich. Nach der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern nicht nur einen radikalen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Bewertung des Sozialismus in der DDR. Auch das starre, hermetische Bild von der NS-Vergangenheit, wie es bis dahin in KZ-Gedenkstätten, Museen, Schulbüchern und Publikationen gezeichnet worden war, stand nun zur Disposition. Schließlich war dieses Vergangenheitsbild, dessen Botschaft im Sozialismus mündete, ganz wesentlich vom Legitimationsinteresse der SED-Führung geprägt worden.

Die gleichzeitige und doppelte Revision hat zweifellos mit dazu geführt, dass sich heute beide Erinnerungsschichten berühren, überlagern, vermischen, sogar in Konkurrenz miteinander treten, zumal, wenn es um Orte geht, an denen nicht nur zur NS-Zeit Menschen inhaftiert und gequält wurden, sondern die nach 1945 in der SBZ oder später in der DDR ebenfalls zu diesem Zweck genutzt wurden. Dort muss eine erstarrte, eingeengte Erinnerung neu befragt und ein bisher tabuisierter Teil der Vergangenheit in die Geschichtsarbeit einbezogen werden. Hier wäre nicht nur an die bekannten Kontroversen um die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen zu denken, die später als sowjetische Speziallager dienten. Ich denke auch an Haftorte wie das Zuchthaus Brandenburg, das Zuchthaus Bautzen, die Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden. Überall dort sind heute Gedenkstättenmitarbeiter wie Besucher mit der zweifachen Vergangenheit dieser Orte konfrontiert und stehen vor der Aufgabe, angemessen damit umzugehen. Es geht immer wieder um die gleichen Fragen: Sollen beide Vergangenheiten in der Darstellung völlig voneinander getrennt werden? Oder können sie in Zusammenhang gebracht oder gar miteinander verglichen werden?

Zu Beginn der neunziger Jahre habe ich als Mitglied der Expertenkommission für die Neuorientierung der Brandenburgischen Gedenkstätten diesen Konflikt ganz nah miterlebt. Es gab damals heftige Kontroversen zwischen den Opferverbänden. Das Internationale Auschwitzkomitee veröffentlichte eine große Anzeige in der "Zeit", in der die Bemühungen, in den KZ-Gedenkstätten auch an die sowjetischen Speziallager zu erinnern, als Vorbereitung "eines neuen Auschwitz" verdammt wurden. Mit derart

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 75 schweren Vorwürfen wollte man in letzter Minute eine Entscheidung blockieren.

Inzwischen hat sich die Situation verändert. Zwischen den Opferverbänden, die beide Vergangenheiten repräsentieren, existiert ein zerbrechlicher Konsens. Aber direkt und indirekt geht es in den Debatten immer wieder und weiterhin um eine "Konkurrenz der Opfer". Die überlebenden Häftlinge der Nachkriegszeit fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, als Opfer zweiter Klasse behandelt. Häufig beklagen sie, dass ihre Leidensorte nicht angemessen bezeichnet und beachtet werden. Das Gedenken an nationalsozialistische Verfolgung und Holocaust, wie es sich in 40 Jahren in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik etabliert hat, ist für sie der Maßstab, an dem sie den Umgang mit ihrer Leidensgeschichte messen. Die Opfer des Stalinismus, wie sie sich selbst in ihrem Dachverband nennen, beklagen, dass das Bild der SBZ/DDR, wie es in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, viel zu freundlich und harmlos erscheine und ihre Verfolgungsgeschichte häufig ausgespart bleibe. Auf der anderen Seite äußern ehemalige DDR-Bürger, wie schon erwähnt, dass das öffentliche Bild der DDR nur noch aus Repression und Terror bestehe. Ihr normales Alltagsleben komme darin nicht vor.

Eine Verkoppelung der Debatten um DDR und Nationalsozialismus finden wir zum Beispiel in der Kontroverse um die Ehrenbürgerwürde für den Kinderarzt Jussuf Ibrahim, die in den vergangenen Jahren in Jena geführt wurde. Als der Publizist Ernst Klee aus Frankfurt/Main Fakten über die Beteiligung des in Jena hoch verehrten Mediziners am nationalsozialistischen Mord an behinderten Kindern enthüllte und die Aberkennung von dessen Ehrenbürgerwürde forderte, wiesen Bürgerinnen und Bürger - auch Abgeordnete des Jenaer Stadtparlaments und Mitglieder von Ärztevereinigungen der Region - das als Versuch der Delegitimierung der Leistungen der DDR-Medizin vehement zurück.

Wer sich mit der DDR-Karriere von Ibrahim und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigt, stößt wiederum zwangsläufig auf die Aktivitäten der Staatssicherheit, die seinerzeit viele Informationen über die NS-Belastung der betreffenden Personen zusammentrug, gleichzeitig aber dafür sorgte, dass die Dokumente unter Verschluss blieben, um das Ansehen der DDR-Medizin in der Öffentlichkeit nicht zu beschädigen. Viele Jahrzehnte lang hatte sich das Schweigen der Obrigkeit mit der Verleugnung der Bürger/innen verbunden. Als nach "Wende" und Vereinigung dieses Schweigen endlich aufbrach, meinten die Angegriffenen, es gehe vor allem um ihre Identität und ihre Lebensleistung, die es zu verteidigen galt.

Ähnlich und doch anders mag es den Fürstenberger Bürgerinnen und Bürgern während des so genannten Supermarktskandals gegangen sein. Sie waren 1991 unvermittelt als "hässliche Deutsche " in die Schlagzeilen geraten, weil sie mit einer spontanen Demonstration den umstrittenen Bau eines Supermarkts nicht weit vom Eingang des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück hatten unterstützen wollen. Auch die Fürstenberger Bevölkerung hatte sich, ähnlich wie die Jenaer, im pauschalen Antifaschismus der DDR-Zeit eingerichtet. Einmal im Jahr waren sie pflichtgemäß zur Gedenkveranstaltung hinunter an den Schwedtsee gegangen. Es war bequem, dass die Verbindung zwischen Stadt und Lager weitgehend tabuisiert war und die Erinnerung an das KZ auf ein kleines Areal zwischen Lagermauer und See begrenzt blieb.

Als nach 1990 eine neue Geschichtskonzeption nach der tatsächlichen Ausdehnung des Frauenkonzentrationslagers fragte und die bis dahin allseits gebilligte Grenze zwischen historisch belastetem und alltäglich nutzbarem Raum in der Stadt zu verschieben oder sogar ganz aufzuheben drohte, wurden in diesem Konflikt auch tiefere Erinnerungsschichten aufgewirbelt. Alte Rechtfertigungsmuster und die bisher öffentlich nicht thematisierten eigenen Leiden und die erlebte Willkür am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit verbanden sich in dieser Situation zu einem widersprüchlichen und explosiven Gemisch.

Auf welche Weise vor allem im familiären Dialog in den ostdeutschen Bundesländern die Vertreter/ innen der Großelterngeneration nach so vielen Jahren des Schweigens ihre Leidens- und Verfolgungserfahrungen in der Nachkriegszeit gegen die Geschichte des Nationalsozialismus setzen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 76 oder sogar dagegen aufrechnen möchten, ist in einer Publikation nachzulesen, die unter dem Titel " Opa war kein Nazi" Befragungsergebnisse von Vertretern dreier Generationen vorstellt. In der Studie von Harald Welzer und seinen Mitarbeiter/innen wurden Angehörige dreier Generationen über die Erinnerungen an die NS-Vergangenheit und die Weitergabe von Erfahrungen an Kinder und Enkel befragt.[4] Die Autorin Sabine Moller, die vor allem Familien in den ostdeutschen Bundesländern befragte, machte dabei die Entdeckung, dass die Großelterngeneration, die den Nationalsozialismus noch erlebt hat, nach dem Ende der DDR moralisch an Boden gewonnen habe und entsprechenden Einfluss auf die Enkelgeneration ausübe. Die VertreterInnen der Kriegsgeneration bräuchten heute nur auf die "Stasi" verweisen, um kritische Fragen ihrer Töchter und Söhne nach ihrem damaligen Verhalten abzuwehren.

So versuchte beispielsweise Frau Haase, eine der Befragten, im Gespräch mit ihrer Tochter und ihrem Enkel die NS-Zeit als heile Welt darzustellen, die erst mit dem Krieg zerbrochen sei. Die Tochter gab zu verstehen, dass sie anderer Auffassung sei, worauf die Mutter erwiderte: "Was du in der DDR gelernt hast, das ist doch heute nicht mehr aktuell."[5] Die Tochter von Frau Haase konnte - anders als ihre Altersgenossinnen aus dem Westen - so schnell in die Defensive gedrängt werden, weil sie ja inzwischen weiß, dass sie selbst aus einer Diktatur kommt. Sie hat das DDR-System mitgetragen oder sich zumindest darin arrangiert.

Wie weiter?

Die Geschichte der SBZ/DDR ist ein schwieriges Feld für die Erinnerungsarbeit. Es ist eine Geschichte, die historisch noch frisch ist, die sehr fragmentiert erinnert und sehr kontrovers diskutiert wird. Für die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger steht im Rückblick vor allem der eigene Alltag im Vordergrund. Der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit wird aber bestimmt vom Thema Machtstrukturen, Repression und Verfolgung. Von diesem Thema handeln die bisher eingeweihten Gedenkstätten, die aufgestellten Gedenktafeln und Denkmäler: das ehemalige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen, das Internierungslager und Zuchthaus Bautzen, das Mauermuseum oder das Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953. Es gibt in der vereinigten Bundesrepublik nur ein Museum der Alltagskultur der DDR und eigentlich keines, das sich allein mit der Geschichte der DDR beschäftigt (sieht man einmal vom Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig ab, bei dem die Opposition in der DDR im Mittelpunkt steht).

Die Erinnerungsarbeit ist auch deshalb heikel, da es aufgrund eines doppelten Paradigmenwechsels in der Praxis häufig eine enge Verkoppelung der Erinnerung an die NS-Vergangenheit und an die frühe Nachkriegzeit gibt. Auf diese Weise verbinden sich gegenwärtig die Revision der antifaschistischen Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte auf der Ebene der Familienerzählung wie in der öffentlichen Erinnerungsarbeit zu einem widersprüchlichen Komplex, der unbedingt ernst genommen werden muss.

Fußnoten

1. Es handelt sich um ein Projekt des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung Recklinghausen, in dessen Verlauf Mitte der neunziger Jahre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ost und West zu ihrem Geschichtsbewusstsein befragt wurden, sowie um Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenberg Ende der neunziger Jahre über ihre Erinnerungen an das nahe gelegene Konzentrationslager Ravensbrück. Einbezogen wurde auch eine Untersuchung der Universität Hannover über die generationelle Übermittlung von Geschichte in Ost und West. Vgl. Bernd Faulenbach/Annette Leo/Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in Ost- und Westdeutschland, Essen 2000; Annette Leo, "Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ (...)". Das

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Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in der lokalen Erinnerung, in: Dachauer Hefte, Nr. 17 (2001), S. 3ff; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall (Hrsg.), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, München 2002. 2. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1984, S. 48ff. 3. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22.1. 1998. 4. Vgl. H. Welzer u.a. (Anm. 1). 5. Sabine Moller, "Du und Dein DDR-Geschichtsbild!". Der neue Blick auf die Familiengeschichte im Nationalsozialismus nach dem Ende der DDR, in: Horch und Guck, Nr. 40 (2002) 4, S. 26.

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Regieren nach Auschwitz

Von Gunter Hofmann 22.4.2008

Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, leitet das Berliner Büro der "ZEIT".

Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel: Jeder Kanzler musste sich dem deutschen Verbrechen stellen. Am 18. März 2008 sprach die Bundeskanzlerin vor der Knesset. Dort hob sie hervor, dass für sie als deutsche Kanzlerin Israels Sicherheit "niemals verhandelbar" sei.

Vielleicht geht es gar nicht anders, vielleicht muss jeder deutsche Kanzler, auch jeder Präsident sich das Verhältnis zu Israel, zu Auschwitz und der Vergangenheit neu erobern. Bei dem Gedanken jedenfalls ertappte man sich, als Angela Merkel am 18. März 2008 vor dem israelischen Parlament, der Knesset, sprach. Als Ouvertüre war es gedacht, ganz ausdrücklich, dass die Deutschen noch vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer "immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte" ablegen. Beispiellos nannte sie den Zivilisationsbruch durch die Shoah. Mehr noch: Israels Sicherheit sei für sie als deutsche Kanzlerin "niemals verhandelbar", und wenn das so sei, "dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben", die Deutschen garantierten also das Existenzrecht. In Israel schließlich wiederholte sie auch ihr Wort, die Verantwortung, die sich aus der unhintergehbaren Vergangenheit ableite, gehöre zur deutschen " Staatsraison".

Zuvor, auch daran muss man erinnern, hatten Teile des israelischen und deutschen Kabinetts gemeinsam getagt. Das sollte auf einer gewissen Ebene "Normalität" signalisieren. Häufig war daraufhin von einem "Neuanfang" die Rede, beide Länder blickten nun gemeinsam in die Zukunft, wenn auch auf der Basis ihrer "einzigartigen" Beziehungen. Das alles soll hier auch gar nicht in Frage gestellt werden. Aber selbst hocherfreute israelische Kommentatoren erinnerten ausdrücklich daran, dass die deutsche Regierungschefin sich allein schon auf Grund ihrer Biographie das Verhältnis zu Israel noch einmal ganz grundsätzlich erschließe. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens, so hatte sie tatsächlich in der Knesset selbst formuliert, habe sie in einem Teil Deutschlands – der DDR – verbracht, die den Nationalsozialismus als westdeutsches Problem betrachtete. Und das mag denn auch eines der Motive gewesen sein, die sie bewegten, mit einem Besuch in dem Kibbbuz Sde Boker mit dem Grab David Ben Gurions ausdrücklich zurückzukehren zu den Anfängen dieser Beziehungen. Denn tatsächlich haben der erste Premierminister Israels und der erste deutsche Kanzler 'Konrad Adenauer', " mit Vorsicht und Weitsicht" den Grundstein für die Beziehungen beider Staaten gelegt.

Die Kabinettssitzung also, tatsächlich ein "Wunder" angesichts der Vergangenheit und keineswegs normal, das Wort von der "Staatsraison", die Rede vor dem Parlament in deutscher Sprache – vieles war tatsächlich neu. Aber neu erfunden werden damit die Beziehungen zu Israel nun nicht. Und - natürlich haben seit Adenauers und Ben Gurions Zeiten auch andere Kanzler und Präsidenten in die Zukunft geblickt. Viele, Richard von Weizsäcker, Johannes Rau seien nur stellvertretend genannt, genossen sowohl wegen ihres selbstkritischen Verhältnisses zur Vergangenheit als auch wegen des zukunftsoffenen Blickes enormen Respekt in Israel. Projekte, Wirtschaftsbeziehungen, Wissenschaftlerprogramme, Kulturaustausch, alles das ist beständig intensiviert und verbessert worden, kein Verantwortlicher in Bonn und später in Berlin wollte sich nachsagen lassen, etwas versäumt zu haben. Und jeder, soviel kann man sagen, bemühte sich um den richtigen Ton.

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Angela Merkel entzieht das Verhältnis sozusagen jeder Normalitäts-Versuchung, und auf dieser Ebene des Außerordentlichen möchte sie dann die praktische Politik ansiedeln. Vermutlich gehört zu dem " Einzigartigen", von dem sie sprach, also gerade, dass jeder, der in der Bundesrepublik Verantwortung trägt, seine Definition des Verhältnisses, seine Sicht auf das Geschehene, seine Schlussfolgerungen für morgen selbst definieren muss. Zu groß war die Dimension des "Zivilisationsbruchs", um einfach business as usual zu machen, nichts wird normal. Jeder laboriert daran herum. Ob Deutschland die Garantieerklärung für Israels Sicherheit, die Angela Merkel abgab, einlösen könnte "in der Stunde der Bewährung", mit welchen Mitteln, ob das alles freie Hand für die Politiker in Tel Aviv bedeutet gegenüber Teheran oder der Hamas, und ob sie hinter verschlossenen Türen anders spricht als öffentlich – das alles ist eine Sache für sich. Dass sie aber mit dem Wort von der "Staatsraison" jedoch nach innen eine Verpflichtung formulierte, auch in künftigen Generationen das Bewusstsein für die Vergangenheit wachzuhalten – dazu gibt es in jedem Fall allen Grund. Das ist das neue große Problem, neben den für Israel schlicht existenziellen Dauerproblemen, das in ihre Amtszeit fällt.

Herumlaboriert an der Frage, wie er sich – und damit die Bundesrepublik – positionieren könne in diesem einzigartigen Komplex namens "Israel/Deutschland", hat auch Präsident Horst Köhler. Am 27. Januar 2005, zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hätte er nur zu gern das Wort ergriffen beim gemeinsamen Erinnern an der Gedenkstätte. Wie die Präsidenten Israels, Polens und Russlands auch. Auch das drückte einen heimlichen Normalitätswunsch aus, unbewusst vielleicht gar. Es kam nicht dazu, es konnte nicht dazu kommen. Die Begründung hat letztlich Angela Merkel in ihrer Knesset- Rede geliefert, mit der sie – in der Tradition der Rede von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 – auf der Unvergänglichkeit der Vergangenheit, auf der Nicht-Normalität des Verhältnisses insistierte, trotz der gemeinsamen Kabinettssitzung, wie sie auch Deutsche und Franzosen gern pflegen.

Nein, es gibt Unterschiede, die sich nicht verwischen lassen. Auschwitz, Oswiecim nahe Krakau, ist der Ort des "Einmaligen", und er ist zugleich die Chiffre geworden, die in der Erinnerung vieles umschließt: den Zivilisationsbruch, das Menschheitsverbrechen an Europas Juden, das von Deutschland ausging, das große Sterben in Europa. Wie nichts anderes steht "Auschwitz" auch für die Deutschen als Täter und damit quer zu einem Zeitgeist, in dem sie als Opfer aufscheinen, bei der Flucht wie in den Brandnächten. Weshalb aber wurde diese Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 ein solcher Eckpfeiler für das Selbstverständnis der Republik? Sie kreiste, weit grundsätzlicher als die vorsichtige, tastende, politische und sehr geradlinige Rede der Kanzlerin im März 2008 um das lange gemiedene Thema "Auschwitz". In der Luft lag damals ein Hauch von Geschichts-Revisionismus, und der Wunsch mancher Historiker, aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Was Weizsäckers Worte so bemerkenswert machte, war nicht nur seine Einsicht in die Einmaligkeit, "beispiellos in der Geschichte", was er sozusagen stellvertretend für uns alle verbindlich machte. Erstmals hob ein Präsident hervor, diese Erbschaft sei unvergänglich und als Erinnerung in der deutschen Demokratie verankert. Das wählte er als Ausdruck der "Staatsraison". Damals wurde Auschwitz konstitutiv für das Selbstverständnis: Erinnern, hieß es lange, mache schuldbeladen, jetzt hieß es, es mache frei.

Die Unwahrhaftigkeit des DDR-Antifaschismus ist eine Sache, den Staat Israel habe die DDR bis kurz vor ihrem Ende nicht einmal anerkannt, rief Angela Merkel in Tel Aviv in Erinnerung, aber um "Wahrheit " ging es auch dem Patriarchen Adenauer nicht, als dessen "Erbe" die Kanzlerin wiederum mit dem Kibbuz-Besuch hatte anknüpfen wollen. Man erinnere sich: Schon 1955 drängte Adenauer auf " Normalisierung", was quer stand zur "Einmaligkeit". Normalität hieß: Souveränität und Freiheit und Ende der Besatzung! Gerhard Schröder, Vorgänger Merkels und siebter Kanzler bis zum Herbst 2005, benutzte das Wort seltener als der Alte, aber ja, irgendwie praktizierte er diese "Normalisierung". Das " Wir sind wieder wer!" der frühen fünfziger Jahre kehrte während seiner Amtszeit in anderer Variante wieder: Schröder sprach davon, "deutsche Interessen" wahrzunehmen wie andere auch. Aber das Lamento Ludwig Erhards, der Adenauer als Kanzler nachgefolgt war, die Deutschen dürften nicht ewig mit der "Erbsünde" leben, das hörte man von ihm nicht.

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Fehlerfrei wandelte auch Schröder keineswegs über dieses verminte Feld. Der "deutsche Weg"! Was mag ihn geritten haben, als er auf die Idee kam, mit Martin Walser am 8. Mai 2002 zu disputieren? Das lud zu Missverständissen förmlich ein, als definiere er "Normalität" wie dieser - als obsessiven Traum einer geschichtsträchtigen, schicksalhaften Nation, die nur zu sich kommt, wenn ihre Schuld endlich getilgt wird. Man beschönigt nichts, wenn man sagt: Schröder war kein Geschichtslehrer. Wohl aber stand er im Schatten des Weizsäcker-Konsenses. Er wollte mit Walser reden, so wie er auch das Schloss in Berlin wieder aufbauen wollte. Aber er ließ eben auch das Holocaust-Mahnmal im Herzen realisieren. Dieser andere Schröder kam erleichtert um Mitternacht am 1. August 2004 in sein Warschauer Hotel. Einen langen Jahrestag der Erinnerung an den Aufstand vor 60 Jahren gegen die deutschen Besatzer hatte er hinter sich. Blass war er, abgekämpft und unendlich froh, "nichts Falsches gesagt" zu haben. Die Leute auf der Straße - freundlich. "Es hätte ja auch ganz anders kommen können, und ich hätte es auch verstanden." Und dann hat ihm auch noch einer der greisen Veteranen des Aufstands seine Ehrenmedaille geschenkt! Weshalb die Vergangenheit nicht vergeht, was einzigartig an den Beziehungen, was einmalig an dem Zivilisationsbruch ist, das hat auch er in erst im Amt mit dem verborgenen Normalitätswunsch verknüpfen müssen.

Ähnlich galt das für seinen grünen "Vize". Aus "Auschwitz" hatte Schröders Außenminister Joschka Fischer lange abgeleitet, nie wieder dürften hierzulande Massenvernichtungswaffen stationiert werden und nie wieder dürfe "Krieg von deutschem Boden" ausgehen. Fast könnte man das den deutschen Nachkriegskonsens nennen. Als Minister, der die Intervention im Kosovo mitverantwortete, deutete Fischer den historischen Auftrag vollmundig um: Auschwitz heiße, nie wieder dürften wir Deutsche stumm zusehen!

Das Kosovo war nicht Auschwitz, Fischer hat die Analogie in seinem Erinnerungs-Buch längst kassiert. Aber richtig bleibt gleichwohl, dass sich keine bequeme Handlungsanleitung mehr aus der Vergangenheit ableiten lässt. Verpflichtet die "Verantwortung" für die Vergangenheit, die Haltung der israelischen Regierung zum Iran bedingungslos zu übernehmen? Das wird auch Angela Merkel kaum so sagen wollen. Fischer seinerzeit suchte weiter, was das praktisch bedeutet, die Verantwortung für die Vergangenheit nahm er ja nicht weniger ernst. So war es zu dem kleinen falschen Zungenschlag, der Auschwitz-Analogie, überhaupt erst gekommen. Wir Deutsche, zumal die Linke, predigte er, müssten begreifen, um was wir uns mit dem Mord an den Juden selbst gebracht hätten. Wenn das verstanden sei, könne es einen unverdächtigen "Patriotismus" geben.

Kam die Sehnsucht nach Normalität damals von links? Gerade seine Generation hatte sich lange gerühmt, die Jahrzehnte des "kommunikativen Beschweigens" beendet zu haben. Was unterschied Fischers Befund von dem des ersten Protests, 1968, mit dem die junge Generation seinerzeit bei den Eltern Auskunft über ihren Anteil am Geschehenen einforderte? Vielleicht nichts, aber die Welt spiegelte den Deutschen, gerade auch ihrem Außenminister, gerade zu Zeiten der rot/grünen Koalition zurück: In vielerlei Hinsicht seid ihr eine Republik "wie jede andere" auch. Normal! Mit eurer Politik der Zurückhaltung, nie wieder!, könnt ihr euch nicht daran vorbeimogeln, dass ihr praktisch Verantwortung übernehmen müsst! Ja, im Zweifel auch mit deutschen Soldaten, die nicht mehr nur defensiv eingesetzt werden, sondern sich auch "out of area", außerhalb jeder Nato-Zone, einmischen, wenn es geboten erscheint! Suchte Fischer nun deshalb nach der "Nation"? Predigte er der "Linken" deshalb, wie sie " Patriotismus" erlernen und "normal" werden könne? Gab es ein Verhältnis zur Vergangenheit, das eint, ohne einzulullen?

Die Kriege am Balkan, das Morden in Srebrenica, dann der 11. September in New York, die Intervention in Afghanistan und im Irak – in dieser neuen Welt musste die Generation sich bewegen, die geglaubt hatte, ihr waches Verhältnis zur Vergangenheit Ende der 60er Jahre könne ihr vielleicht erlauben, ein bisschen entspannter damit umzugehen. Ein schlechtes Gewissen wegen zu viel Verdrängung musste man ja nicht haben, im Gegenteil. Auch Fischer jedenfalls musste seinerzeit seine Definition dafür finden, was sich ableite aus der Vergangenheit, was sich gebiete und was sich verbiete. Schwierig genug – denn eine Militärintervention am Kosovo war nicht gleichzusetzen mit neuem deutschem Militarismus, und das deutsche "Nein" zum Irak-Krieg war nicht ein Ausdruck von "Pazifismus". Viel

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 81 schwieriger war es geworden als in den Jahren der Übersichtlichkeit bis 1989, die Vergangenheit als Maßstab zur Orientierung und Handlungsanleitung heranzuholen.

Lange genug zeigten sich in der Bundesrepublik die politischen Eliten unsicher, oft auch unanständig in Sachen Vergangenheit. Nicht nur Franz Josef Strauß (CSU) predigte, wir sollten unser Haupt nicht dauernd mit Asche bestreuen. Zum Glück löste das viel produktiven Widerspruch aus. Die Republik wurde konfliktträchtiger, aufgeweckter auch wegen der Vergangenheit. Konrad Adenauer, der "Vater " der deutsch-israelischen Wiederanknüpfung nach der Geburt des israelischen Staates, war gezwungen, Farbe zu bekennen, er musste fragen, wie "Wiedergutmachung" zumal gegenüber Israel überhaupt möglich sei. Zugleich aber sicherte er sich Mehrheiten: Schlussstrich, aber sofort! Daran hat Angela Merkel verständlicherweise nicht erinnert. Dass der Patriarch gegen Hitler stand, machte ihn unbefangener. So wurden die Volksgenossen umgewidmet in Bürger. Schon in seiner zweiten Antrittsrede, 1953, gab es keine "Ermordeten" mehr. Vom "gesunden nationalen Selbstbewusstsein " schwärmte bereits der Nachfolger Ludwig Erhard, 1963, die Zigarre qualmte, und die Auschwitz- Prozesse in Frankfurt begannen. Der Kanzler vernebelte, die Richter leisteten den größten Beitrag zur Aufklärung überhaupt. Zweifel an der "Einmaligkeit" konnte es fortan nicht mehr geben.

Es kam zur Kanzlerschaft Kiesingers (1966) und dann Brandts (1969), die auf ihre Weise herausragen: Negativ die eine, positiv die andere. Mit Kiesinger kehrten die Deutschen zu einem Normalisierungsverständnis zurück, als hätte es Auschwitz nie gegeben. Als Beamter im Auswärtigen Amt hatte er Berichte über massenhafte Judenmorde "Gräuelpropaganda" genannt. Unfassbar. Kein Wort der Scham fiel. Ihn traf die Ohrfeige Beate Klarsfelds, der Deutschen aus Paris, der Vater ihres Mannes ermordet in Auschwitz.

Brandt verkörperte die andere Unmöglichkeit. Sollten die Deutschen ihren Normalitätsbegriff so weit revidiert haben, dass ein Exilant, Soldat gegen Hitler, Kanzler werden konnte? Aus israelischer Warte blieben bis zu Angela Merkel wohl alle Kanzler, auch Brandt, ambivalente Figuren, gemessen am " Lackmustest", dem Verhältnis zu Israel in kritischen Lagen. Aus deutscher Sicht freilich erschien Brandt als der Antinazi par excellence! Still hatte er sich über die Deutschen gewundert, die nach dem Krieg wortlos in die Gräber blickten, für die sie verantwortlich waren. Den "überlebenden deutschen Demokraten" fehlte die Kraft zum Neuanfang, das war ihm klar. Er wollte nicht bitter darüber werden, war es auch nicht - nur oft melancholisch. Er schuf Fakten. "Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an", kommentierte er den Warschauer Vertrag. Wortlos kniete er vor dem Ghetto- Mahnmal in Warschau.

Brandts Freunde, voran Günter Grass, hielten auch nach 1989 daran fest: "Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus." Die Teilung als Normalität, als Strafe für Auschwitz! Noch so große Schuld einer Nation könne nicht "durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden", erwiderte Brandt. Die Teilung wegen Auschwitz für " Normalität" zu halten galt ihm nicht als Sünde, so wenig wie ihm Pazifismus ehrenrührig erschien. Er aber blieb bei seinem "nationalen" Lebenstraum, der ihn gegen Hitler aufgebracht hatte. Für sich hatte Brandt einen unschuldigen, "linken Patriotismus" gefunden, den Joschka Fischer gerade sucht.

Brandt wollte nicht anklagen. Helmut Schmidt, Leutnant im Krieg, taugte nicht zum Ankläger. Konsequent hat er beteuert, von dem Ausmaß der Verbrechen nichts gewusst zu haben. Dennoch: Geschichtsvergessen war dieser Kanzler gewiss nicht. Auschwitz ist für ihn unvergänglich. Das werde noch in zweitausend Jahren so sein, pflegt er zu sagen. Und das ist keine Floskel, nicht bei ihm. Wie man in der Biografie Hartmut Soells lernen kann, ist eine Wunde aus dieser Erfahrung des großen Falschen in seinem Leben geblieben. Rigoros zog er politische Konsequenzen und fand seine Maßstäbe. Es bleibt aber ein unaufgelöster Rest, scheinbar eine Randfrage, die nichts von Schmidts Autorität nimmt: Die Sache mit dem jüdischen Großvater. Erst 1984 machte er das bekannt, damals war er nicht mehr Kanzler.

Sein Biograf begründet das lange Schweigen einfühlsam damit, Schmidt, mit dem Jüdischen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 82 unvertraut, sei diese Herkunft 1933 offenbart worden, also zu einer Zeit, "in der das Judesein zum Inbegriff des Negativen geworden war." Hartmut Soell fragt: "Musste er es nicht schon vor der Soldatenzeit überspielen, in die Tiefen seiner Psyche abdrängen?" Zweifel allerdings meldet der Autor an, wenn Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen (1992) schreibt, seit dem Gespräch mit seiner Mutter über den jüdischen Großvater "war für mich entschieden, dass ich innerlich kein Nazi mehr werden konnte". "Äußerlich begeisterter Hitler-Junge, innerlich im Abseits?", fragt Soell. Schmidts ausdrücklicher Verzicht auf Geschichtspolitik, sein Vorbehalt gegenüber allem Utopischen - vermutlich ist das auch eine Antwort auf Idiosynkrasien in dem sehr deutschen Lebenslauf, der mindestens an einer Stelle nicht typisch war.

Schlichte Vergangenheitspolitik hingegen blieb dem Kanzler der Ungenauigkeit, Helmut Kohl (1982), vorbehalten. Die Debatte über das deutsche Selbstverständnis beherrschte die Köpfe in den achtziger Jahren, als wäre da vor der Einheit, die keiner vorausahnte, noch rasch etwas zu klären gewesen. Kohl ließ kaum einen Fehler aus. Ohne den Pazifismus hätte es Auschwitz nicht gegeben, funkte Heiner Geißler 1983 dazwischen. Kohl winkte das durch, wichtiger war ihm: Die Deutschen sollten bestätigt bekommen, dass sie gelernt hatten. François Mitterrand durfte es in Verdun, Ronald Reagan musste es per Handschlag über den SS-Gräbern in Bitburg attestieren. Kohl ließ den ratlosen Reagan um keinen Preis aus der Pflicht. Die zwölf Hitler-Jahre relativierten sich im diffusen Vaterlandsleuchten wie von allein. Wieder eine neue Unbefangenheit, "Wir sind wieder wer" à la Kohl. Mit keinem Wort nahm Kohl Stellung zum ideenpolitischen Skandal, den Ernst Nolte ausgelöst hatte mit seinem Versuch, die Deutschen von der Wahrheit Auschwitz zu befreien. Auch Weizsäckers Rede begriff er nicht als Chance – und als Rettung vor den Missverständnissen, denen er sich selber ausgesetzt hatte. Erst als ihm "die Geschichte" 1989 die Definitionsarbeit abnahm, gab Kohl Ruhe. Das Ende der Nachkriegszeit, das Adenauer als Ausweis der Normalisierung beschwor, nun war es da. Der Sinnstifter nahm den Hut, der Kanzler blieb und musste amerikanische Kommentatoren lesen, die "Auschwitz im Wüstensand!" schrieben, als eine deutsche Giftgasfabrik in Libyen entdeckt wurde. Die Paulskirche applaudierte Walser, Bubis nicht. Deutschland war respektiert, nichts war im Zweifel vergangen.

Könnte es sein, dass die Ära des "Beschweigens" wie auch die des "Sinnstiftens" zu Ende ist? Gelernt hat die Republik in 60 Jahren, dass Auschwitz konstitutiv bleibt, aber auf andere Weise: weil die Republik im Streit um den Zivilisationsbruch ihre eigene Geschichte gewann. Zu vermelden ist also, ohne Beschönigung, durchaus ein Erfolg. Auschwitz wird zwar "objektiv" historisiert, allein schon der Zeitläufte wegen. Im "kulturellen Gedächtnis" jedoch bleibt es gespeichert. Dafür steht nun Eisenmans Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Der Grundgedanke ist auch hier: Erinnern macht frei. " Historisieren" wird auch das Feld mit den Stelen, was nicht zwangsläufig relativieren heißt. Verknüpft mit dem "Ort der Erinnerung", wird Erinnern konkret. Für alle, die es wollen. Auch ein Grundmuster als Beleg könnte bleiben: Das Postnationale, weil es ein Zurück in die purgierte, vom Vergangenheitsballast befreite Nation nicht gibt.

Bleiben damit die eigenen Kinder ewig schuldbeladen im Schatten? Immer schon war diese Metapher falsch, sie wird noch falscher. Auschwitz rückt zeitlich weg, aber die Jungen können es auch näher an sich herankommen lassen, weil sie unbefangener sind. Sie können hören und lesen: Amos Oz beispielsweise, der in seinen Lebenserinnerungen schreibt, die Juden seien einmal das Herz Europas gewesen. Als "Europäer" verstanden zuallererst sie sich. Sie waren es auch. Das ist vergangen und bleibt.

Irgendwann vielleicht kann auch einmal ein deutscher Präsident zu einem Erinnerungstag x reden, wenn er unbedingt will und das für "Normalisierung" hält; und wenn die "Stunde der Bewährung", von der Angela Merkel sprach, Israel und seinen Freunden erspart bleibt. Bloß, was könnten verantwortliche Repräsentanten aus Berlin jemals anderes sagen an diesem deutschen Tatort in Polen, außer, dass Auschwitz einfach da ist. Geschehen. Einmalig, letztlich unverstehbar.

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Zur Debatte: Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Von Wolfgang Benz 12.11.2008 Wolfgang Benz ist Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und gehört zu den renommierstesten Historikern in Deutschland. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Standardwerke über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Benz hat sich bereits 1985 mit den Dimensionen und Ursachen der Vertreibung in seinem Buch "Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten" beschäftigt. 2006 erschien sein Buch mit dem Titel "Ausgrenzung, Vertreibung, Vökermord. Genozid im 20. Jahrhundert".

Im März 2008 beschloss die Bundesregierung, unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums eine unselbstständige Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" zu errichten. Wolfgang Benz verfolgt die Pläne für das Zentrum für Vertreibungen bereits seit mehreren Jahren. In diesem Artikel zeichnet er die Debatte nach.

Im März 2008 beschloss die Bundesregierung, unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums eine unselbständige Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" zu errichten. Vorangegangen war der jahrelange Streit um ein Projekt "Zentrum gegen Vertreibungen", für das die CDU-Politikerin Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, die Werbetrommel gerührt hatte. Ihr Projekt, das gleichzeitig als Gedenkstätte zur Erinnerung an das Leid der deutschen Heimatvertriebenen, als Dokumentationsstelle, als Denkmal, Museum, zentraler Veranstaltungsort fungieren sollte, bot viele Angriffsflächen. Die Idee des "Vertreibungszentrums", in den 1990er Jahren ganz offensichtlich als erinnerungspolitischer Reflex auf die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" propagiert, spaltete die Öffentlichkeit.

Das Projekt trübte auch die politischen Beziehungen zu den Nachbarn, weil es mindestens in Polen und Tschechien irritierte, weil die Initiatoren darauf beharrten, dass es in Berlin und nirgendwo anders seinen Sitz haben sollte. Der Versuch, im Gegenzug eine Erinnerungs- und Dokumentationsstätte in internationaler Trägerschaft im europäischen Geist etwa in Breslau/Wroclaw oder in Görlitz/Zgorzelec, vielleicht auch in Prag, jedenfalls nicht in Berlin zu etablieren, wurde zwar prominent unterstützt, war aber nicht erfolgreich. Polen und die tschechische Republik übten sich, ob der schrillen Begleitmusik des Bund der Vertriebenen-Projekts misstrauisch geworden, in Zurückhaltung.

Nationaler Anspruch und Interessen der Trägerschaft

Ungewöhnlich war auch die Diskrepanz zwischen dem nationalen Anspruch des Zentrums gegen Vertreibungen und seiner Trägerschaft, nämlich einer Stiftung des Vertriebenenverbandes. Problematisch war schließlich die politische Argumentation, die Emotionen stimulierte, aber intellektuellen – d.h. wissenschaftlichen und formalen – Ansprüchen nicht genügte. Denn Anlass und Ursache der Vertreibung waren so wenig thematisiert wie die Integrationsleistungen der beiden Nachkriegsstaaten BRD und DDR, stattdessen arbeitete man mit Schuldzuweisungen, suchte Analogien zu Völkermorden des 20. Jahrhunderts und gründete Forderungen auf die Behauptung, das Leid der zwölf Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren, sei bislang zu wenig gewürdigt, ja sogar tabuisiert worden.

Seine inhaltlichen Positionen hatte der Bund der Vertriebenen in einer Ausstellung "Erzwungene Wege " im Sommer 2006 dargelegt. Trotz des Bemühens um eine differenziertere Sicht, als sie in den ursprünglich ganz auf Emotionen zielenden und den "Vertreiberstaaten" Polen und Tschechoslowakei die Schuld zumessenden Konzepten erkennbar war, blieb die politische Absicht unübersehbar. Dies

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 84 umso mehr, als zu gleicher Zeit, in der die Ausstellung des Vertriebenenbunds im Kronprinzenpalais in Berlin gezeigt wurde, in unmittelbarer Nachbarschaft im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung zum gleichen Thema zu sehen war, die vom Bonner "Haus der Geschichte" (Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) erarbeitet worden war. Diese, als ausgewogen und umfassend gerühmte Darstellung deutscher Geschichte, soll die Grundlage der Präsentation im künftigen Dokumentations-Zentrum der Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" am Anhalter Bahnhof bilden.

Politische Debatten um das Zentrum

Die Auseinandersetzungen wurden rasch zum Parteienstreit. Die SPD distanzierte sich überwiegend von dem Projekt. Die CDU nahm dagegen die Forderung des Vertriebenenverbands nach einem Erinnerungs- und Dokumentationszentrum in ihr Programm zur Bundestagswahl 2005 auf und musste dann in der Großen Koalition mit der SPD einen Kompromiss finden, der im Frühjahr 2008 erzielt wurde: Ein "sichtbares Zeichen" soll errichtet werden, die inhaltliche Gestaltung und die Deutungshoheit sollen aber nicht der Interessengruppe BdV überlassen, vielmehr in gesamtgesellschaftlichem Konsens wahrgenommen und verantwortet werden.

Dem Gesetzentwurf des Kulturstaatsministers waren diplomatische Anstrengungen vorausgegangen, mit denen Misstrauen und Verstimmung in Prag und Warschau gedämpft wurden, die sich nach den unsensiblen Kampagnen zur Durchsetzung des Projekts "Zentrum gegen Vertreibungen" in hohem Maße ausgebreitet hatten. Insbesondere in Polen hatte die Propaganda, mit der die Pläne des BdV forciert wurde, Ängste ausgelöst und Ressentiments belebt, die auf offizieller politischer Ebene von der Kaczynski-Regierung ebenso wie von polnischen Medien in oft beleidigender Diktion offensiv vorgetragen wurden.

In einer Rede am "Tag der Heimat" am 6. September 2008 machte Erika Steinbach deutlich, dass sie die Aufgaben des vom Bund der Vertriebenen getragenen "Zentrums gegen Vertreibungen" durch die Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" aber nicht für erledigt hält. Sie kündigte als neue Aktivität ihres Zentrums eine Ausstellung an, die 2009 in der Vertretung Bayerns in Berlin gezeigt werden soll; sie wird die Kultur- und Siedlungsgeschichte der Deutschen außerhalb des Deutschen Reiches zum Thema haben.

Bei gleicher Gelegenheit propagierte die Präsidentin vom Bund der Vertriebenen auch ein Geschichtsbild, in dem die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als genozidale Intention erscheint. Die Heimatvertriebenen als Opfer eines Völkermords (d. h. systematisch geplanter und ins Werk gesetzter Vernichtung) würde sie – unter Widerspruch sachverständiger Historiker allerdings – an die Seite der Überlebenden des Holocaust rücken. Ein solches politisches Kalkül vermuten nicht nur nationalkonservative polnische Medien. Das Geschichtsverständnis, das zugrunde liegt, ist ein weiteres gutes Argument für die neue Institution unter Verantwortung des zentralen deutschen Geschichtsmuseums, also in öffentlicher und professioneller Trägerschaft, geleitet vom Streben nach Aufklärung und fundamentiert durch historische Forschung.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 85 Das künftige "sichtbare Zeichen"

Das "sichtbare Zeichen" der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" wird in zwei Stockwerken des Deutschlandhauses in Berlin nahe dem Anhalter Bahnhof (und nicht weit vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas) errichtet. Es wird noch einige Zeit dauern, bis der Umbau (29 Millionen EURO sind veranschlagt) vollzogen ist. Streit könnte es davor um die Besetzung der Gremien geben. Dem Stiftungsrat werden Vertreter der Bundesregierung, des Bundestags und gesellschaftlicher Gruppen angehören, drei Sitze sind für den Bund der Vertriebenen vorgesehen. Wenn dessen Präsidentin ihrem Selbstbewusstsein den Vorrang vor der gebotenen diplomatischen Zurückhaltung gibt, wird sich wieder Kritik erheben. Wladyslaw Bartoszewski, polnischer Historiker, Freund der Deutschen und von Amts wegen als Staatssekretär beim Premierminister in Warschau für Fragen der deutsch-polnischen Nachbarschaft zuständig, äußerte die Befürchtung, dass Frau Steinbach in einem Gremium der neuen Stiftung die alten polnischen Ängste vor deutschem Revisionismus und die daraus resultierenden Ressentiments in Polen abermals entfachen würde. Damit wäre der Stiftungszweck " Versöhnung" in Frage gestellt und die Absicht, die Ausstellung und Dokumentationsstätte als "Ort des Dialogs" zu installieren, gefährdet.

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"Unser Papa war in Stalingrad." Wie die Deutschen sich an das "Dritte Reich" und den Krieg erinnern

Von Harald Welzer 26.8.2008 ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören: Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, Tradierungsforschung, Psychologische Holocaust- und Gewaltforschung.

Viele Menschen glauben, dass eigene Familienangehörige keine Nazionalsozialisten gewesen sein können. Wie wird der Nationalsozialismus in den Familien erinnert?

Elli Schwaiger: Unser Papa war ja in Stalingrad.

Waltraud Wallner: Ja. Dem Hans sein Vater.

Elli Schwaiger: Dem Hans sein Papa auch?

Waltraud Wallner: Jaja. Unser Vater war nicht in Stalingrad.

Elli Schwaiger: Dein Vater war in Stalingrad.

Hans Höfer: Meiner war in Stalingrad.

Waltraud Wallner: In Stalingrad.

Elli Schwaiger: Ich dachte, meiner war in Stalingrad.

Waltraud Wallner: Deiner war in Berlin, wie der Krieg ausgebrochen ist.

Elli Schwaiger: Ach so. Siehst Du, so kann man sich täuschen.

Diese Gesprächspassage ist ein Auszug aus einem Familiengespräch, das im Rahmen einer Mehrgenerationen-studie zur "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" in deutschen Familien stattgefunden hat.[1] So absurd sich dieser Dialog anhört, so typisch ist er für das Familiengedächtnis: nicht nur, dass die Familienmitglieder oft eigene Versionen aus den eher nebulösen Geschichten und episodischen Fragmenten aus der Familienvergangenheit komponieren, die dann ihrerseits den Ausgangspunkt für jahre- und jahrzehntelange Weitererzählungen bilden - auch der Umstand, dass man eigentlich nichts Genaues über die historischen Funktionen und Rollen der Großeltern weiß, stört die Kinder und Enkel in der Regel nicht bei der Verfertigung ihrer jeweils eigenen Lesarten der Vergangenheit.

Im Gegenteil: oft sind es gerade die widersprüchlichen, lückenhaften und überhaupt nebulösen Erzählungen, die es den Zuhörern erlauben, sich die Geschichten zu eigen zu machen, indem sie sie mit eigenen Vorstellungen und Geschichten auffüllen und illustrieren - mit dem, was sie aus dem Unterricht und aus Geschichtsfeatures im Fernsehen wissen, was sie in Filmen gesehen und in Romanen oder Comics gelesen haben. Die Weitergabe der Vergangenheit im Gespräch ist - im

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Unterschied zum Lernen von Geschichte im Schulunterricht - ein emotionaler Vorgang, der viel mit Empathie, Mitleiden und dem Aneignen von Familiengeschichte zu tun hat. Geschichten aus der NS- Vergangenheit werden nicht in fixierter Form von einer Generation an die nächste weitergegeben, sondern im intergenerationellen Gespräch gemeinsam verfertigt, weshalb vor allem an die Geschichten angeknüpft wird, die offen, emotional und situativ fesselnd sind. Solche Erzählungen ermöglichen eine aktive Aneignung des Berichteten - kurz gesagt: Geschichten werden tradiert, wenn sie von fremden zu eigenen geworden sind.

Familiengedächtnis

Wenn in Familien über den Krieg gesprochen wird, bekommt dieser ein anderes Gesicht als etwa im Geschichtsunterricht oder in den Medien. Wenn eines der Familienmitglieder als Soldat im Krieg gewesen ist oder die alliierte Bombardierung miterlebt hat, wird er dies nicht als abstraktes historisches Ereignis kommunizieren, sondern als persönliches Erleiden, das geeignet ist, den Zusammenhang des Familiengedächtnisses zu stiften und zu stabilisieren. Darüber hinaus sind Erzählungen vom Krieg in besonderer Weise dazu angetan, positive Bilder vom Handeln des Großvaters oder der Großmutter in schwerer Zeit zu zeichnen und diese Personen als Opfer auftreten zu lassen. Elemente solcher Opferschaftsdiskurse sind in den Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vielfältig präsent, und sie hinterlassen, wie die folgenden Beispiele zeigen, deutliche Spuren auch in den Einzelinterviews mit den Kindern und Enkel:

Paula Trapp (Jg. 1980): "Ja, das einzigste, was ich weiß, das ist halt, dass er, als er gefangengenommen wurde, diesen Weg nach Moskau machen mußte. Und dass er halt morgens, also, die haben halt auf freiem Feld übernachtet und jeden Morgen sind halt immer weniger aufgestanden."

Erich Grubitsch (Jg. 1962): "Sie (die Großmutter) hat da erzählt, was sie im ersten, zweiten, dritten Lehrjahr verdient hat, fast nichts. Also fast für'n Hungerlohn ist sie da also, hat sie sich da ernährt. Sie hatte zwei Brüder, die im Krieg beide gefallen sind, und ihre Eltern waren auch nicht so glücklich miteinander – nee, das war Opa. Ist ja auch wurscht."

Sylvia Hoffmann (Jg. 1972): "Vielleicht sollte die Diskussion eher so dahin gehen, ja, wirklich auseinanderzudröseln, mit welchen Repressionsmitteln da vorgegangen wurde, mit welchen wie halt die Angst da erzeugt wurde."

Diese Beispiele sind Resultate der Tradierung von Opferkonstruktionen: In der Vorstellung der Kinder und Enkel erscheinen die Eltern und Großeltern im Zusammenhang der nationalsozialistischen Zeit in erster Linie als Leidende - der sozialen Umstände, der Kriegsgefangenschaft, der Besatzung, des Militärdienstes, der allgegenwärtigen Überwachung.

Reaktionen auf die Kriegserzählungen

In den 182 Interviews und Familiengesprächen finden sich insgesamt 1130 Opfergeschichten; sie bilden nahezu 50 % aller erzählten Geschichten. Aber natürlich finden sich auch, wenn auch in geringerem Ausmaß, Abenteuer- und Heldengeschichten im Material, die durchaus geeignet sind, bei den jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern Faszination und gelegentlich auch etwas wie Neid darüber zu erwecken, dass man selbst nicht in so aufregenden Zeiten aufgewachsen ist.

Faszination können Kriegserzählungen dann entfalten, die nicht direkt mit Kampf- und Gewalthandlungen zu tun haben, sondern sich um Technik drehen oder von der touristischen Seite des Krieges bzw. vom schönen Leben der Besatzer handeln. Alle Episoden, die vom Krieg als Reise und komfortable Fremdheitserfahrung erzählen, lassen den Kontext des Eroberungskrieges außen vor. Die Zeitzeugen und ihre Kinder und Enkel amüsieren sich dann gemeinsam über die spaßigen Geschichten, die im Kontext des Vernichtungskrieges im Osten dann - zum Teil durch dieselben

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Erzähler - durch Geschichten von Gewalt, Sterben und Tod abgelöst werden. In den Gesprächen werden höchst selten Fragen danach aufgeworfen, warum die Erzähler sich mit ihren Einheiten an den entsprechenden Orten befunden haben, was ihre Aufgaben waren oder warum sie etwa, wie in mehreren Fällen geschildert, Zeuge von Erschießungen oder des Verhaltens von Lagerinsassen werden konnten (vgl. Welzer 2001b).

In unserer Stichprobe findet sich nur ein einziger Fall, in dem über einen ernsthaften Familienkonflikt im Zusammenhang von Kriegserzählungen berichtet wird - allerdings geht es hier um eine Person, die nicht zur Herkunftsfamilie des Erzählers gehört und die auch im Familiengespräch nicht anwesend ist. Es geht dabei um den Onkel eines Erzählers aus der Kindergeneration, der berichtet habe:

"was sie alles gemacht haben. Wie sie auf Russland zugegangen sind und wie sie die armen Leute da erschossen haben so am Boden. [...] Und dann hab' ich mich den ganzen Abend so geärgert, ich war noch ganz jung, ich schätze, so 15 rum. Sag' ich: 'Ist Dir denn überhaupt nie mal in den Kopf gekommen, dass das auch Familienväter sind, die Kinder zuhause haben, die Du da umgelegt hast? "

Die Rolle der Interviewer

Die Geschichten hingegen, die von den anwesenden Familienmitgliedern vom Krieg erzählt werden, führen im Rahmen unserer Interviews und Familiengespräche nie zu Konflikten und auch nur höchst selten zu kritischen Nachfragen. Die Vermutung, dass dies der Anwesenheit fremder Interviewerinnen oder Interviewer geschuldet ist, ist zwar naheliegend, trifft aber nicht den Kern der Sache, wenn man berücksichtigt, dass es oft gerade auch die Interviewer sind, die sich an der Verfertigung "guter Geschichten" beteiligen - durch ihre Fragestellungen, durch unterstützende Kommentare und Nachfragen oder durch atemloses Zuhören. Offensichtlich sind aber schon die situativen Rahmenbedingungen - dass man es hier mit Menschen zu tun hat, die sich freundlicherweise für ein Gespräch zur Verfügung stellen, die Kaffee und Kuchen servieren, die Interessantes zu erzählen haben usw. - geeignet, Loyalitätsbeziehungen zu etablieren, die zur Folge haben, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer viel eher der präsentierten Erzählgestalt und der immanenten Logik der Geschichten folgen, als dass sie Fragen stellen würden, die auf ihr Geschichtswissen zurückgreifen.

Ganz im Gegenteil: das, was die Zuhörer, und zwar sowohl die jüngeren Familienmitglieder wie die Interviewerinnen und Interviewer, über die Geschichte wissen, scheint in der unmittelbaren Gesprächssituation oft vollständig vergessen. Diese situative Überzeugungskraft des unmittelbaren Gesprächs geht übrigens so weit, dass auch kontraevidente Geschichten, also solche, die ihre eigene Widerlegung gleich miterzählen, in Interviews und Familiengesprächen keineswegs zu Irritationen führen. Dazu zwei Beispiele:

Otto Rust (Jg. 1924) erzählt, dass er von Konzentrationslagern erst nach 1945 gehört habe ("Kann ich ehrlich sagen, ich hab' da nie was gewusst davon"), um unmittelbar anschließend das folgende mitzuteilen:

"Das erste Mal hab' ich's gesehen in Peenemünde, wo die Raketenversuchsanstalt war. Da war ein Lager, da stand auch noch drüber: 'Arbeit macht frei', ne. Und da kamen die jeden Morgen raus zum arbeiten... Wenn ich das nicht selbst gesehen hätte, würde ich es nicht' sagen. Aber es ist so gewesen."

Beinahe noch verblüffender ist die Geschichte, die Doris Daum (Jg. 1934) erzählt:

"Naja, und den einen Tag, da wollten die Russen, die kamen ja einfach rein und haben die Frauen vergewaltigt. Und da hatten wir grad so viel Kinder zum Spielen gehabt, da ist er abgehauen. Die haben ja kein Pardon genommen, ob da Kinder drum rum waren, die haben die Frauen genommen und... Da isser abgedampft, weil soviel Kinder da waren."

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Es wäre völlig verfehlt, zu glauben, einem selbst würden solche kontraevidenten Geschichten weder in der Rolle des Zuhörers noch in der des Erzählers jemals durchgehen: es ist die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengesprächs selbst, die logische Widersprüche und sogar hanebüchenen Unsinn wie selbstverständlich plausibel erscheinen lässt. Diese wahrheitsverbürgende Kraft des unmittelbaren Zeugnisses geht, wie man an den Reaktionen der Interviewerinnen und Interviewer sehen kann, auch über den Rahmen von Familiengesprächen hinaus. Sobald ein Zeitzeuge von seinen Erlebnissen berichtet, scheint er mit einem Authentizitätsvorteil ausgestattet zu sein, die diejenigen, die so etwas nicht erlebt haben, tendenziell in ein defensives und affirmatives Mitdenken und Mitfühlen zwingt, das kritische Nachfragen oft als unpassend erscheinen lässt.

[1]Das Projekt wurde von der Volkswagenstiftung gefördert. Die Ergebnisse sind 2002 publiziert worden in Welzer, Harald, Moller, Sabine & Tschuggnall, Karoline: "Opa war kein Nazi." Nationalsozialismus und Holocaust im Deutschen Familiengedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 2002. Sämtliche Namen sind pseudonymisiert.

Familiengeschichten und Geschichtswissen

Die Wahrheitskriterien für Familiengeschichten sind andere als in der Wissenschaft oder vor Gericht - hier geht es um Übereinstimmung in den Gefühlen und Bewertungen, die Geschichten hervorrufen, nicht darum, ob sie historischer Überprüfung standhalten würden. Deshalb sind sie weniger an Plausibilität, Logik und Vollständigkeit orientiert, als an Spannung, Emotionalität und Plastizität. Daraus beziehen sie auch ihre situative Überzeugungskraft, und es sind eben oftmals gerade die unplausiblen, ganz und gar widersprüchlichen, aber emotional bedeutsamen Geschichten, die Wirksamkeit im Sinne von Tradierung entfalten: weil sich jeder der Zuhörer den Reim auf sie machen kann, der für ihn am besten sicherstellt, es hier mit einer sinnhaften Darstellung der Vergangenheit zu tun zu haben. Und die Kriterien für diese Sinnhaftigkeit sind, zumal für die Familienmitglieder selbst, daran orientiert, dass eine "gute Geschichte" dabei herauskommt.

Deshalb werden in Familien ganz andere Geschichten und Versionen über die Vergangenheit des " Dritten Reiches" erzählt als im Geschichtsunterricht. Es ist dann die Aufgabe der jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörer, also der Enkel- und Urenkelgeneration der Zeitzeugen, die kleinen persönlichen Geschichten mit der großen Schreckensgeschichte der nationalsozialistischen Vergangenheit in Einklang zu bringen. Das stellt eine schwierige Aufgabe dar, die sich nur lösen lässt, wenn man den eigenen Opas und Omas in diesem historischen Universum des Schreckens die Rolle derjenigen zuweist, die auch unter schwierigen Umständen die Fahne der Menschlichkeit hochgehalten, Verfolgten geholfen und Zivilcourage gezeigt haben. Deshalb fand sich bei zwei Dritteln der von uns befragten Familien ein ausgeprägte Tendenz bei den Angehörigen der jüngeren Generationen, über ihre Angehörigen gute Geschichten aus böser Zeit zu erzählen: Geschichten über das Dagegensein, das Mundaufmachen, Geschichten aber auch über alltägliches Heldentum, das bis zum Erschießen sadistischer Offiziere und Verstecken jüdischer Häftlinge reicht.

Ist das schon bemerkenswert genug, erschien uns noch interessanter, dass derlei gute Geschichten gar nicht aus den Erzählungen der Zeitzeugen selbst kamen, sondern eine eigenständige Leistung der Enkel (und z.T. schon der Kinder) darstellten, die die gehörten Geschichten in Richtung ihrer eigenen Sinnbedürfnisse umkonstruierten.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 90 Erinnern in der zweiten und dritten Generation

Welche Schlüsse lassen sich aus dieser deutlichen Tendenz im intergenerationellen Weitergabeprozess ziehen? Zunächst der, dass eine Aufklärung, die ein umfassendes Geschichtswissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus etabliert, paradoxerweise das Bedürfnis hervorruft, die eigenen Angehörigen von diesem Wissen auszunehmen. Das ist allerdings nicht nur negativ zu bewerten, denn immerhin lässt sich ja aus den umgedichteten Geschichten von Heldentum, Widerstand und Zivilcourage der Großeltern die vielleicht praktisch wirksame Alltagstheorie ableiten, dass individueller Widerstand auch in totalitären Zusammenhängen möglich und sinnvoll ist, dass es also auf die Verantwortung des Einzelnen ankommt.

Insofern mögen die Geschichten von den widerständigen Großeltern und Urgroßeltern unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt ein Beispiel dafür geben, sich selbst couragiert zu verhalten, wenn nahe Menschen bedroht oder verfolgt werden. Daneben ist deutlich, dass die Enkelinnen und Enkel mehrheitlich das Leitbild anti-nationalsozialistisch eingestellter Personen favorisieren - lediglich vier der von uns befragten 44 Enkelinnen und Enkel lassen Bewunderung und deutliche Affirmation den " Nazis" gegenüber erkennen.

Um die Verallgemeinerbarkeit unserer Befunde sicherstellen zu können, haben wir nach Abschluss unserer Interviewstudie eine Repräsentativbefragung in Auftrag gegeben, die im Juni 2002 vom Bielefelder emnid-Institut durchgeführt wurde. Hier konnte geprüft werden, wie die Befragten die Rolle, die Einstellung und das Verhalten ihrer eigenen Angehörigen im "Dritten Reich" sehen. Wir haben einerseits danach gefragt, wie die Eltern oder Großeltern nach Auffassung der Befragten dem Nationalsozialismus gegenüber eingestellt waren. Zum anderen wurde nach einzelnen Einstellungs- und Handlungsmustern der Angehörigen gefragt - mmer aus Sicht der Befragten natürlich.

Die Ergebnisse waren noch frappierender als in der Interviewstudie: Etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung ist der Auffassung, ihre Angehörigen hätten dem Nationalsozialismus negativ oder sogar sehr negativ gegenübergestanden; ganze 4% glauben, ihre Haltung sei "eher positiv " gewesen, und nur 2% denken, ihre Angehörigen hätten eine "sehr positive" Haltung gehabt. Bei Befragten mit Abitur bzw. Hochschulabschluss fallen diese Werte noch deutlicher aus - hier schreiben 56% ihren Angehörigen negative Einstellungen dem Nationalsozialismus gegenüber zu.

Eine andere Frage richtete sich auf Einstellungen, Erlebnisse und Handlungen der Eltern bzw. Großeltern, die den Befragten aus Gesprächen in der Familie bekannt sind. Hierzu meinen lediglich 3% der Befragten, ihre Angehörigen seien "antijüdisch gewesen", und nur 1% hält es für möglich, dass diese "an Verbrechen direkt beteiligt gewesen" seien. 26% der Befragten sind der Überzeugung, ihre Angehörigen hätten "Verfolgten geholfen" und 35% hätten "nach Möglichkeit nirgendwo mitgemacht ". Demgegenüber glauben 65% der Befragten, dass ihre Eltern bzw. Großeltern "viel im Krieg erlitten hätten", und 63% geben an, ihre Angehörigen hätten im "Dritten Reich" "Gemeinschaft erlebt".

Auch diese Ergebnisse fallen zum Teil noch deutlicher aus, wenn die Befragten über Abitur bzw. Hochschulabschluss verfügen: von diesen Personen sind sogar 30% der Meinung, dass ihre Angehörigen "Verfolgten geholfen" haben, und 71% sind der Überzeugung, die Eltern und Großeltern hätten "im Krieg viel erlitten".

Diese Ergebnisse der Repräsentativbefragung werfen ein klares Licht darauf, dass in der Gesamtbevölkerung weit überwiegend die Auffassung vorherrscht, dass eigene Familienangehörige keine Nazis waren; Antisemiten und Tatbeteiligte scheinen in deutschen Familien praktisch inexistent gewesen zu sein. Der Umstand, dass einige der unterstellten Erlebnisse, Handlungen und Einstellungen mit einem hohen Bildungsniveau korrelieren, unterstreicht den Befund unserer qualitativen Studien, dass die Aufklärung über die NS-Verbrechen und den Holocaust den paradoxen Effekt mit sich bringt, dass man dazu neigt, die eigenen Eltern und Großeltern zu Regimegegnern, Helfern und alltäglichen oder sogar expliziten Widerständlern zu machen.

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Das Ergebnis , dass zwei Drittel aller repräsentativ Befragten das Leid der eigenen Angehörigen im Krieg betonen, belegt den Befund, dass in der Bundesrepublik die offizielle Gedenkkultur und das private Erinnern extrem unterschiedlich ausfallen. Wer auch immer schuld am Holocaust war, wer auch immer die Verbrechen im Vernichtungskrieg, im Zwangsarbeitssystem und in den Lagern begangen hat - eines scheint für fast alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger klar: Mein Opa war kein Nazi!

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"Onkel Hitler und Familie Speer" - die NS-Führung privat

Von Peter Reichel 25.10.2005 Dr. phil., geb. 1942; Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg, Institut für Politische Wissenschaft, Allende-Platz 1, 20146 Hamburg.

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Neuere Filme über den Nationalsozialismus zeigen die NS-Führung verstärkt als Privatpersonen und verkürzen den historischen Hintergrund zu Gunsten einer oberflächlichen Unterhaltung.

Adolf Hitler und Eva Braun auf dem Berghof (Obersalzberg). Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Bundesarchiv, B 145 Bild- F051673-0059 / CC-BY-SA)

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 93 Einleitung

Die jüngste Medienwelle, die uns einmal mehr mit Texten und Bildern zum Nationalsozialismus überschwemmt hat, ist vorüber. Es war nicht die erste, und es wird nicht die letzte gewesen sein. Unsere Geschichtskultur ist zeitgemäß stark visuell geprägt; die Bilder vom "Dritten Reich" spielen darin eine herausragende Rolle. In seinen fotografischen und filmischen Selbstdarstellungen ist es bis heute präsent. Dafür haben dessen Verschönerungsvirtuosen gesorgt, von Heinrich Hoffmann bis Leni Riefenstahl. Auch die zweite Geschichte des Nationalsozialismus ist vor allem eine der Bilder. Die großen filmdokumentarischen Arbeiten von Alain Resnais bis Claude Lanzmann sind aus ihr ebenso wenig wegzudenken wie die fiktionalen Filmerzählungen mit ihren populären Filmhelden, vom Teufelsgeneral bis zum Judenretter.

Die trivial-unterhaltsame Aufbereitung dieses Katastrophenstoffes wird weiterhin ein Massenpublikum in die Kinos locken. Vor allem dann, wenn Filme hoffnungsvolle Botschaften enthalten, wie in Schindlers Liste, Holocaust, oder Das Leben ist schön. Solange Publikum und Filmproduzenten ein Interesse daran haben, werden neben den trostspendenden Regimegegnern, heißen sie nun Claus Graf Stauffenberg, Sophie Scholl oder Johann Georg Elser, auch die Staatsverbrecher und die zwielichtigen Figuren über die Leinwand laufen. Der filmisch verwertbare Vorrat an biografischer und autobiografischer Literatur ist beachtlich.

Die Produzenten haben dieses Reservoir seit der frühen Nachkriegszeit zu nutzen verstanden. Für welche aktuellen politischen Ereignisse sie auch immer Vergangenheitsbilder anboten, sie mussten für die Gegenwart anschlussfähig sein.[1] Einige Beispiele: Das anfangs, zumal unter ehemaligen Wehrmachtssoldaten, hoch umstrittene Attentat vom 20. Juli 1944 wurde erst unter dem Eindruck des Ost-Berliner Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, also in antitotalitärer Sicht, bild- und erinnerungswürdig. Zwei Jahre danach kamen gleich zwei Verfilmungen des Stauffenberg-Stoffes in die Kinos: Falk Harnacks Der 20. Juli und Es geschah am 20. Juli von Georg Wilhelm Pabst.

Auch der ebenfalls nicht unumstrittene Aufbau einer "neuen Wehrmacht", wie man die Bundeswehr zunächst nannte, wurde publikumswirksam filmisch begleitet. Zahlreiche idealisierende Kriegsfilme haben den Mythos von der "sauberen Wehrmacht" bebildert und popularisiert. Man denke nur an den von Paul May verfilmten, dreiteiligen Kriegs- und Wehrmachtsroman 08/15 von Hans Hellmut Kirst - oder an die zahlreichen Stalingrad-Streifen.

Die Täter - menschlich gesehen

Die filmische Hochkonjunktur, die wir zuletzt erlebt haben, markiert auch einen inhaltlichen Wendepunkt. Das Private der prominenten Personen wird wichtiger als der historisch-politische Zusammenhang, in dem sie agierten.[2] Nicht mehr die verbrauchte negative Pädagogik der Außenansicht des Terrors "schockt", sondern der Terror der Bunker-Intimität. Big Brother lässt grüßen.

Sechzig Jahre, nachdem sich Adolf Hitler im Führerbunker der Reichskanzlei das Leben genommen hat, scheint er so lebendig und uns so nah wie nie. Das verdanken wir insbesondere dem von Bernd Eichinger produzierten Spielfilm Der Untergang und Heinrich Breloers Doku-Drama Speer und Er. Die Filme sehen, so wird uns gesagt, Hitler mit anderen Augen als bisher. Aber was heißt das? Mit welchen sie ihn nicht sehen, ist leichter auszumachen. Letzte Abbildungsverbote sind gefallen. Auf die distanzschaffende moralisierende Inszenierung der Filmbilder wird verzichtet. In seiner Zeit war Hitler ein lebender Mythos, nach seinem Tode wurde er zum übergeschichtlichen Dämon stilisiert. Nun wird er uns im Kino menschlich näher gebracht: der Diktator als von Sehnsüchten und Neigungen Getriebener, der Täter im Angesicht des eigenen Todes. Der nächste Schritt wäre dann ein Remake aus den Anfangsjahren, der Frühzeit des Führer-Mythos: Hitler mal volkstümlich, mal staatsmännisch, in Lederhosen und mit Schäferhund, in Uniform oder von großbürgerlichem Ambiente umgeben, im Frack, mit Bechstein-Flügel und Nietzsche-Büste.

Dass nun auch die NS-Täter verstärkt als Privatpersonen und mit ihren menschlichen Schwächen und

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Gewohnheiten - ja sogar als Opfer ihrer eigenen Taten und Triebe - gezeigt werden, bedient nicht nur das allgemeine Interesse an personifizierter Geschichtsdarstellung. Das Kinopublikum will auch unterhalten werden und der kriminellen Politprominenz von einst nahe kommen, talkshow-mäßig gewissermaßen, um die Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Was man von den führenden Nationalsozialisten zu halten hat, weiß man ja zur Genüge, weil man weiß, was sie angerichtet haben. Aber was weiß man von ihnen selbst, ihrer Privatsphäre - jenseits aller effektvollen Rhetorik und Selbstinszenierung vor der Kamera?

Einen ersten Versuch, diese Frage zu beantworten, hat Lutz Hachmeister mit seinem Goebbels- Experiment gemacht. Entstanden ist ein Dokumentarfilm, der auf Zeitzeugen und kritischen Kommentar ganz verzichtet, auf Texteinblendungen und musikalische Untermalung allerdings nicht. Er zeigt Goebbels in allgemein bekannten Wochenschau- und sonstigen Filmbildern und lässt ihn aus seinen Tagebüchern - mit bedächtig sanfter Stimme vorgelesen von Udo Samel - als einen "komplett verunglückten Menschen" (Olli Dittrich) hervortreten: als einen, der zwischen Selbstmitleid, Selbstzweifel und Selbstvergötterung schwankt, der unstillbar ist in seinem Verlangen nach Zuwendung und Anerkennung durch seinen "Führer", die Partei, die Massen und unersättlich, fanatisch und erbarmungslos in seinen Hass-Reden, seiner Härte, seiner Brutalität.

Die Entdämonisierung der NS-Führung war überfällig. Ihre Vermenschlichung ist jedoch nicht unproblematisch, zumal eine nicht unbedenkliche erzählerische Verkürzung hinzukommt. Im Goebbels-Experiment dominiert beispielsweise das Private das Politische, auch wenn der Film andeutet, warum im "Dritten Reich" die Ästhetisierung der Macht überlebenswichtig für das Regime war. In Der Untergang wird Hitler ausschließlich auf sein Ende reduziert, in Speer und Er gar nur auf eine homoerotische Beziehungsgeschichte. Der zeithistorische Kontext fällt dabei aus dem Blick. Ohne ihn sind aber Hitlers Aufstieg, Herrschaft und Verbrechen nicht zu verstehen - und auch nicht deren Fortleben in unserer Erinnerungskultur.

Frühe Hitler-Bilder

Bislang hat jede Generation der Nachkriegszeit genau das Bild Hitlers entworfen, das sie benötigte. Die Gesellschaft, die den Diktator hervorbrachte, über sich herrschen ließ, und die ihm in einen Völkervernichtungskrieg gefolgt war, konnte diese Schande nach 1945 nur ertragen, indem sie Hitler dämonisierte und sich selbst zum verführten und missbrauchten Opfer stilisierte. Dabei leugnete sie, von rechtsextremen Randgruppen abgesehen, die Verbrechen nicht, aber sie verdrängte ihre hoffnungsvolle oder gar gläubige Hitler-Gefolgschaft. Den einfachen Weltkriegssoldaten und gescheiterten Künstler Adolf Hitler, der ihr Heilsbringer und Hoffnungsträger geworden war, der sie von ihrem Versailler Trauma befreit hatte und als "Herrenvolk" auferstehen ließ - ihn machte die Nachkriegsgesellschaft zum Bösen schlechthin. Deutschlands damals prominentester Sprecher, der Philosoph Karl Jaspers, sprach von den Teufeln, die "auf uns eingehauen und uns mitgerissen" haben, " in eine Verwirrung, daß uns Sehen und Hören verging." Die Deutschen, so konnte man oft hören, seien mit "Terror und Massenhypnose" überwältigt, "die ersten Opfer der Barbareninvasion" (Wilhelm Röpke) geworden.[3] Historisch-strukturelle Ursachen wurden "wegerzählt". Damit verschafften sich die Bundesbürger, was sie zum Neuanfang dringend brauchten: Abstand von der Vergangenheit und ein halbwegs gutes Gewissen. Hitler wurde als eine übergeschichtliche Katastrophe gedeutet, die sprichwörtliche, aus den so genannten Sekundärtugenden herrührende "deutsche Tüchtigkeit" als durch ihn zwar missbraucht, aber nicht eigentlich diskreditiert angesehen. Das "Wirtschaftswunder", der Wiederaufstieg aus eigener Kraft und dem - wiederum sprichwörtlichen - Glück des Tüchtigen, ließ so den positiven Gründungsmythos der Bundesrepublik umso heller erstrahlen.

Dabei hätten die Deutschen schon damals mehr über Hitler und sich selbst wissen können, wenn sie es denn gewollt und verkraftet hätten. Nicht zuletzt durch Konrad Heidens heute fast vergessene zweibändige Biografie.[4] Sie erschien bereits Mitte der dreißiger Jahre in Zürich, verzichtet auf eine Dämonisierung ebenso wie auf eine Bagatellisierung Hitlers, beschreibt, theoretisch reflektiert, dessen

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Lebens- und Aufstiegsgeschichte als Führer einer Massen-Protestbewegung und verknüpft sie schlüssig mit dem Kontext des latenten Bürgerkriegs der Weimarer Republik.

Inzwischen liegen zahlreiche weitere Hitler-Biografien vor, darunter die der britischen Historiker Alan Bullock und Ian Kershaw.[5] Marksteine in der Hitler-Literatur setzten auch Sebastian Haffners Hitler- Essay und die Biografie von Joachim Fest.[6] Hitlers Lebensgeschichte wird darin in die Entwicklung der Gesellschaft eingebettet und so zugleich ein "Stück Biografie der Epoche" geschrieben. Neu und wegweisend an dieser Darstellung war, dass sie das antimoderne-moderne Doppelgesicht des "Dritten Reiches" herausstellte und die hohe Bedeutung der Ästhetisierung der Politik für dieses Regime. Diese Sicht ist immer noch nicht Teil des allgemeinen Geschichtsbildes. Dabei liegt gerade darin der Wesenskern des Nationalsozialismus. Ohne ihn sind weder die immer wieder erstaunliche gesellschaftliche Integrationsleistung und Mobilisierungsfähigkeit der Hitler-Diktatur noch die Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich die Ermordung von Millionen Menschen zu verstehen.

Onkel Hitler, Speer und Familie

In Heinrich Breloers vierteiligem Fernsehfilm Speer und Er spielen die Kinder von Albert Speer eine tragende Rolle. Oder besser: Sie hätten sie spielen können. Doch die Selbstdarstellungslust des Regisseurs ist zu groß, mag sie auch mal didaktisch, mal detektivisch motiviert sein. Schmerzlich vermisst man Eberhard Fechners asketisch-disziplinierte Kunst, zuzuhören und den verbalen Stoff visuell zu verdichten, seine Fähigkeit, alle Aufmerksamkeit auf die befragten Personen zu konzentrieren, wie in seinem Film über den Majdanek-Prozess (Der Prozeß, 1984). Fechner bleibt darin unsichtbar und unhörbar. Ohne Kommentar, nur durch die Montage von Rede und Gegenrede der unterschiedlich betroffenen Personen entsteht etwas Außerordentliches: ein fiktives Gruppengespräch zwischen Tätern und Opfern, Anklägern, Verteidigern und Richtern - ein Generationenporträt.

Breloer will mit seinem Film über Speer und Hitler mehr - und scheitert daran. Er soll alles zugleich sein: ein Interviewfilm, eine - allerdings viel zu späte - Befragung von Angehörigen einer Person der Zeitgeschichte, die sich, zumal unter dem Eindruck des später über ihren Vater Gesagten und Geschriebenen, nicht mehr genau oder gar nicht an ihre Wahrnehmungen als Kinder erinnern können oder wollen; eine Montage aus älteren Filmen und Fotografien, und schließlich auch noch ein fiktives Historiendrama, das vergangenes Geschehen an authentischen Orten nachspielen lässt: Hitler und Speer in der Reichskanzlei, im Idyll des Berghofes, Speer in Nürnberg, mal auf dem Reichsparteitagsgelände, mal vor dem Militärtribunal, Speer mit seinen Helfern und mit seinen Kindern.

Sind sie also die eigentlichen Helden des Films? Bringen sie uns den Vater, der ihnen fremd ist und bleibt, menschlich näher, wenn sie etwa mit dem prominenten Hauptkriegsverbrecher bei ihren Besuchen im Spandauer Gefängnis zusammentreffen? Eine kurze, für das Kind quälend lange Besuchsszene zeigt Albert jr., der dem Vater nichts zu sagen weiß, während jener ihn mit gut gemeinten Ratschlägen traktiert. Glaubt der Vater, mit seiner Fernerziehung etwas ausrichten zu können? Ahnt er, dass dies vergeblich ist? Leidet er darunter? Erinnert er sich an die eigene Kindheit, das schwierige Verhältnis zu seinem Vater? Müssen wir erfahren, dass Albert Speer jr., heute siebzigjährig und ein international renommierter Städteplaner, auf den Abschied vom Obersalzberg, wo sich die Speer- Kinder zeitweilig in quasifamiliärer Nähe zu Hitler aufhielten, mit erheblichen Sprechstörungen reagierte und der jüngere Bruder jede Kindheitserinnerung gelöscht hat? Muss der in Bildern und Worten schwelgende Regisseur uns wirklich dazu erklären: "Das waren ja alles die guten Onkel vom Berghof, die nun auf Giftkapseln bissen oder aufgehängt wurden, von denen man jetzt schreckliche Geschichten erfuhr." Warum verweigern sich die offensichtlich immer wieder irritierten, auch in Verlegenheit geratenen Speer-Kinder diesem indiskreten, aufdringlichen, besserwisserischen Befrager nicht?[7] Breloer geriert sich als ein Anwalt des legitimen öffentlichen Interesses an Albert Speer sen., einer Person der Zeitgeschichte. Aber er ist ohne Gespür für die Grenze, hinter der die schützenswerte Privat- und Intimsphäre der Angehörigen beginnt und die Befragung sich in Talkshow-Geschwätzigkeit verliert.

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Breloers Speer und Er will alles erfragen, sagen und zeigen. Der Film überwältigt und vermag deshalb nicht zu überzeugen. Sein Umgang mit der Geschichte ist nicht reflexiv, sondern suggestiv. Denn er befragt die Kinder Speers nicht nur über ihre Erinnerungen, er kommentiert sie auch, ja, er belehrt sie, wenn es ihm in den Sinn kommt. Zudem lässt er vieles nachspielen und nicht wenige der fiktiven Szenen auch noch wiederholen. Daraus spricht kein großes Vertrauen in den Zuschauer, kein Gespür für dessen Imaginationsvermögen, keine Toleranz gegenüber dessen Wunsch nach Pausen, nach Konzentration und Möglichkeit zu eigenem, einfühlenden Verstehen.

So bleibt die Frage, ob wir etwas Neues von der Hauptfigur in diesem Gerichts- und Gefängnisdrama erfahren? Breloer interessiert sich, der Speer-Biografie von Joachim Fest folgend, zunächst für die libidinöse Beziehung zwischen den beiden ungleichen Architekten aus Leidenschaft.[8] Speer spielte darin die "weibliche Rolle". Er sollte "austragen", was Hitler "inspirierte". Immer wieder werden beide mit den Modellbauten gezeigt. Im Zentrum steht indes das moralische Individuum Albert Speer, der Rüstungsminister und Ausbeuter von Millionen Zwangsarbeitern, der Nürnberger Angeklagte und Spandauer Häftling.

Die Feuilletons haben den Film zu einem Ereignis hochgejubelt, das "uns verändern wird" und unser Geschichtsbild sowieso.[9] Tut es das? Seit Jahrzehnten gilt dem schillernden Erfolgsmenschen Speer ein lebhaftes und kontroverses öffentliches Interesse. Es liegen mehrere Biografien vor, die seine Kariere nachzeichnen. Spätestens seit der Untersuchung von Gitta Sereny wissen wir über Speers Leben und sein verwinkeltes "Ringen mit der Wahrheit" im Detail Bescheid. Jahrelang hatte er erklärt, von der Judenvernichtung erst in Nürnberg erfahren zu haben. Am Ende seiner intensiven Befragung durch die englische Journalistin gestand er, dort nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. Seine Hauptschuld sah er in der "Billigung der Judenverfolgung". Darunter verstand er "Wegsehen" ohne " Kenntnis der Durchführung".[10] Speers eigentümlich redefreudig-verschwiegener Bekennermut und seine öffentliche Selbstprüfung haben ihm bei seinen Landsleuten Sympathie und Bestsellererfolge eingetragen. Es spricht nicht für den kritischen Blick von Breloer, dass er dafür Joachim Fest als Zeugen aufruft. Und es spricht nicht für die Redlichkeit des Speer-Lektors und Speer-Biographen, dass dieser sich heute über den unlauteren Speer beklagt, an dessen vorteilhaft manipuliertem Bild und Aufstieg zum Bestsellerautor er nach Kräften mitgewirkt hat.[11] Bei den Überlebenden von Auschwitz fand fand Speer weniger Zustimmung. Zum Erscheinen der Spandauer Tagebücher schrieb Jean Améry: "Es scheint mir, als habe keiner der einstigen Mittäter das moralische Recht, mit ergreifenden Expektorationen an die Öffentlichkeit zu treten. Sühne und Umkehr werden würdig nur in Einsamkeit vollzogen: ohne Geste an der Rampe."[12] Man hätte sich gewünscht, dass Breloer seine theatralische Bildergeschichte gebändigt und einen Blick über Speer hinausgetan hätte. Gewiss, das Rätsel Speer liegt zum Teil in seiner Person. Und den Schlüssel zu dieser hat uns Speers Architekturprofessor Heinrich Tessenow schon früh in die Hand gegeben, als er dessen gigantomanische Baupläne kommentierte: "Es macht Eindruck, das ist alles."[13] Das, so scheint es, gilt für Speers Leben allgemein. Er verstand es, Eindruck auf andere zu machen, und das in sehr unterschiedlichen Situationen: erst auf Hitler, dann auf die alliierten Richter und schließlich auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Sehr viel mehr aber liegt der Schlüssel zum "Rätsel Speer" bei seiner politischen Generation, den zwischen etwa 1900 und 1910 geborenen Weltkriegskindern, ihrer nationalistischen Gläubigkeit und gefühlsmäßigen Ablehnung der Weimarer Republik. Albert Speer war einer von jenen zahlreichen, idealistisch gesinnten Ingenieuren, Wissenschaftlern, Ärzten, Juristen und Offizieren, die sich, zumeist aus gutbürgerlichem Hause stammend, ganz der deutschen Sache verschrieben hatten - und der modernen Sachlichkeit. Enthusiastisch vorbehaltlos stellte sich diese technokratische Elite dem Hitler- Regime zur Verfügung: ein Bündnis der nationalen Erneuerung. Speers Erfolgskarriere und seine Schuld sind ohne das politische Verhalten dieser Generation nicht zu verstehen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 97 Hitlers letzte Tage als "Big-Bunker-Story"

Der Untergang mag ein spannender Film sein für alle, die grelle Farben, schrille Töne, Artillerie- und Maschinengewehrfeuer, Blut, zerfetzte Leiber, Sentimentalität, Fressorgien, Gruppensex und Gruppenselbstmord unterhaltsam finden. Da sich diese Ereignisse aber vor dem Hintergrund eines wichtigen Abschnitts der jüngeren deutschen Geschichte abspielen, ist er auch ein fragwürdiger Film. Zumal Regisseur Oliver Hirschbiegel uns einredet, auch der private Hitler, dem Tode nah, sei eine interessante historische Figur. "Kein schöner Land" singen die Goebbels-Kinder für "Onkel Hitler" - bevor sie von der hysterisch-kalten Magda, der "Mutter der Nation", vergiftet werden. Das ist Todeskitsch, mehr nicht.

Warum musste dieser Film überhaupt produziert werden, warum sollten wir ihn sehen? Warum wurde das Publikum vorab durch eine peinlich lobhudelnde Pressekampagne mobilisiert, mit Bild, FAZ und Spiegel als Leitmedien? Und warum hat sich sogar der international renommierte britische Hitler- Biograf Ian Kershaw vor diesen kommerziellen Kino-Karren spannen lassen und sich nicht gescheut, den Untergang allen Ernstes als "ein grandioses historisches Drama" zu bezeichnen?[14] Der Film ist für jeden, der in der audio-visuellen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mehr als bloße Unterhaltung sucht, eine Zumutung, er ist auf obszöne Weise belanglos. Denn er verhält sich gegenüber dem gleichzeitigen Untergang der Opfer und den vielen Orten des Mordens, Leidens und Sterbens eigentümlich ignorant. Das Ende von Auschwitz und Bergen-Belsen? Das Massensterben, das in vielen Lagern noch nach ihrer Öffnung durch Amerikaner und Russen andauerte, als das Untergangsspektakel in Berlin längst zu Ende war? Die Widerstandskämpfer, die noch im April 1945 in Flossenbürg und Plötzensee ermordet wurden? All dies kommt in Der Untergang nicht vor. Was entschieden zu wenig ist, zumal Regisseur Oliver Hirschbiegel sich selbst gern einen "Kenner der Geschichte des Dritten Reiches`" nennt und seinen Film als einen "historischen Auftrag" verstanden hat.[15] Mehrere Fragen und Vermutungen drängen sich auf.

Erzählt der Film uns etwas Neues über Hitlers letzte Tage, sofern das überhaupt ein irgendwie relevantes Thema ist? Das Wichtigste darüber wissen wir bereits, seit uns Hugh Trevor-Roper Hitlers letzte Tage (1947) näher brachte. Anton Joachimsthaler hat in jüngerer Zeit Details überprüft, ergänzt und alles noch einmal genau aufgeschrieben. Joachim Fest schrieb einen Essay zum Thema, der dem Film Text und Titel gab. Zudem haben uns die so genannten "Zeitzeugen" durch ihre Erinnerungsbücher Einblick in ihre (spätere) Sicht der Dinge gegeben. Auch auf sie stützt sich das Drehbuch, ebenso auf Albert Speer, auf Hitlers Leibarzt Ernst Schenck und schließlich auf Hitlers Schreibkraft Traudl Junge. Junge ist schon in Nürnberg als Zeugin befragt worden und hat auch an dem ersten deutschen Endzeitfilm mitgewirkt, unter der Regie von Georg Wilhelm Pabst (Der letzte Akt, 1955).

Wollte der Film von Starschauspieler Bruno Ganz profitieren und diesem zugleich dazu verhelfen, sein vielseitiges Rollenrepertoire zu erweitern? Der Faust- und Mephisto-Darsteller als Hitler-Karikatur? Die Imitation von Politikern ist im Allgemeinen nicht Sache der großen Bühnen-Mimen, sondern des politischen Kabaretts. Bruno Ganz hätte, so lesen wir in den meinungsbildenden Blättern, zusammen mit Produzent und Regisseur, Hitler ein "zweites Mal erfunden".[16] Und wer wäre für die originäre Erfindung des "Gröfaz" verantwortlich? Joachim Fest? Die Chefpropagandisten des "Dritten Reiches ", Goebbels, Hoffmann und Riefenstahl? Oder doch jene Millionen Deutsche, die ihn wählten, die an ihn glaubten oder sich von seinen vermeintlichen "Leistungen und Erfolgen" (Sebastian Haffner) überwältigen ließen? - sodass Hitler 1936 in Nürnberg in der Pose des Volksführers und Heilsbringers ausrufen konnte: "Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen, und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch geweckt (...). Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt (...) unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!"[17] Nicht das Ende Hitlers, das die Welt aufatmen und die Deutschen verstört zurück ließ, Anfang und Aufstieg dieser vielleicht bedeutendsten Unperson der Epoche sind das deutsche Thema. Das wird in Der Untergang völlig verkannt. Sprecher der Nation konnte Hitler nur werden, weil er weitgehend das war, was er vorgab zu sein: ein typischer Vertreter seines Volkes. Dessen Sehnsüchte, Ressentiments und Weltkriegserfahrungen kannte er sehr genau, denn es waren die seinen. Und was den epochalen Verbrecher irritierend groß erscheinen lassen mag und die Biografen und Filmemacher

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 98 immer wieder angezogen hat, kann der Film nicht einmal andeuten. Hitler war Person, Politiker, Mythos oder - moderner gesprochen - Markenname zugleich.

Was muss da alles zusammengedacht und zusammengesehen werden: zunächst Hitlers demagogische Begabung, schnelle Auffassungsgabe und vorzügliches Gedächtnis, menschenverachtende Brutalität und verhaltener Charme, sein plebiszitäres Erfolgscharisma, die außenpolitischen Triumphe und militärischen "Blitzsiege", seine Architektur-, Technik- und Wagner-Begeisterung, die Wiener Jahre und die Weltkriegserfahrung, seine Leit- und Feindbilder und nicht zuletzt sein Verhältnis zu Frauen sowie seine immer wieder strapazierte Tierliebe. "Hitler wie keiner ihn kennt", so wurde er früh volkstümlich mit Schäferhund auf dem Obersalzberg ins Bild gesetzt. Auch im Film spielt Blondi eine Rolle - als der letzte wahrhaft "treue Freund" Hitlers. Hermann (Göring) und der "treue Heinrich " (Himmler) sind längst als "Verräter" verstoßen. Entstehung und Verfall desFührer-Mythos und seine gesellschaftlichen Grundlagen kann dieses brutale Rührstück einer Big-Bunker- und Suizidgesellschaft nicht verständlich machen. Stattdessen zieht es das Publikum effektvoll mit Terror und Intimität in seinen Bann - halb (selbst-) mörderisches Schlachtfest, halb Walpurgisnacht, halb Familienidyll.

Hitler ist zu den Deutschen von außen gekommen. Und von außen ist er ihnen auch wieder genommen worden. Wirklich befreit haben wir uns bis heute nicht von ihm. Daran ändert auch Der Untergang nichts. Die "gewisse angewiderte Bewunderung", die schon Thomas Mann für dieses " Lebensphänomen" empfand und als ebenso beschämend wie unvermeidlich ansah, dauert bis heute an. Es geht in Deutschland heute sehr viel weniger um das politische Interesse an der so lange gegenwärtig gebliebenen, weil kontrovers gedeuteten Vergangenheit. Als Legitimation für die politische Ordnung und die nationale Identitätsbildung der Deutschen hat sie offenbar ausgedient.

Die Vermarktung der Vergangenheit und ihres bloßen Unterhaltungswertes steht jetzt im Vordergrund. Das erlebnishungrige Kinopublikum fragt nach dem Privaten und Intimen der historischen Figuren. Der Untergang soll Geld in die Kinokassen bringen, das die Constantin-Film AG, die ihn produzierte und deren Aufsichtsratsvorsitzender Bernd Eichinger ist, dringend benötigt. Als der Film für den Oscar nominiert war, durfte sie zumindest zeitweilig hoffen, dass er in den lukrativen internationalen Vertrieb kommen würde. Der Untergang sollte indes nicht nur ein kommerzielles, sondern auch ein Kulturereignis sein. Einige der meinungsmachenden Medien haben sich dabei kräftig ins Zeug gelegt. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach von einem "Meisterwerk".

Gewalt und schöner Schein

Ob Hitler, wie in der frühen Nachkriegszeit, als einer der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte dämonisiert wurde, oder ob er, wie in den gegenwärtigen Filmen, als Privatperson gezeigt wird - es gelingt uns offenbar weiterhin nicht oder nur schwer, diesen "Niemand aus Wien" als eine historisch- politische Figur zu begreifen.[18] Er war ein ungewöhnlich populärer Sprecher seiner Zeit, der dies aber doch nur werden und eine Zeit lang sein konnte, weil ihn große Teile der damals lebenden Deutschen dazu gemacht haben, bis in die frühen Kriegsjahre hinein in wachsender Zahl. Der neue Film-Hitler ist ein Führer, dem sein Volk weitgehend abhanden gekommen ist, der aber auch von seinem exorbitanten Zerstörungswerk getrennt wird, das er uns hinterlassen hat, und das uns immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert: Wie war dies möglich und warum konnte Hitler nicht verhindert werden?[19] Dabei verspricht uns Der Untergang, zu erklären, "was das Dritte Reich` möglich machte". Aber er kann es nicht, denn er produziert lediglich spektakuläre Bilder von den letzten Tagen im "Führerbunker ". Wer aber vom Untergang des "Dritten Reiches" spricht, darf von der Architektur des Untergangs nicht schweigen. So heißt nicht zufällig einer der besten Filme über die Zeit des Nationalsozialismus. Peter Cohen (Stockholm) hat ihn 1989 gedreht und das Wesentliche des Nationalsozialismus thematisiert: das konstitutive Verhältnis von Schönheitskult und Barbarei, von Gewalt und schönem Schein.[20] Der viel gelobte Bruno Ganz spielt darin übrigens - ohne gequetschte Stimme - als Sprecher aus dem Off eine sehr viel überzeugendere Rolle. Man hätte sich gewünscht, dass die Programmkinos, die sich mancherorts weigerten, den Untergang zu zeigen, Cohens Film als Alternative angeboten

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 99 hätten. Aber er ist wohl nur noch wenigen bekannt.

Die Herrschaftslogik des "Dritten Reiches", die auf der Erzeugung einer schönen Scheinwirklichkeit und der Entfesselung von Gewalt beruhte, wird in Der Untergang nur in ihrer letzten, selbstzerstörerischen Konsequenz ins Bild gebracht. Aber die gewalttätigen und ästhetisierenden Züge im Doppelgesicht des "Dritten Reiches" kommen nicht von ungefähr, sondern aus der nationalsozialistischen Weltanschauung und Rassenlehre selbst. Diese verlangte nach Veranschaulichung, ob im Bild des "nordischen Menschen" oder der ethnisch homogenen "arischen Volksgemeinschaft", im Volkskörper, in der Volksgesundheit. Sie war eine sich im Bilde darstellende Ideologie mit einer scharfen, visuell fixierten Wir-Ihr-Trennung zwischen den "Hochwertigen" und den " Minderwertigen", den deutschen "Volksgenossen" und den "Fremdvölkischen", den "Gesunden" und den "Kranken".

Aber auch das Herrschaftssystem selbst war auf Visualisierung angewiesen. Der Unrechtsstaat konnte sich nicht allein auf die Mittel seiner terroristischen Ordnungsstiftung und militärischen Zerstörungsmacht stützen. Wollte er nicht nur Angst und Schrecken verbreiten, sondern breite Akzeptanz gewinnen, war er deshalb zugleich zur permanenten Produktion von schönem Schein und symbolischer Gratifikation gezwungen. Die ästhetisierende Überformung der Weimarer Klassengesellschaft im Leitbild der "Volksgemeinschaft" konnte den Eindruck erwecken, der NS-Staat würde die soziale Frage lösen, ohne Bürgerkrieg und ohne die verhassten Parteien. Die politisch- religiöse Mystifizierung der Macht des Diktators, die architektonische Monumentalisierung seiner Herrschaft und schließlich die forcierte Aufrüstung und machtpolitisch demonstrative, vertragsbrüchige Überwindung des "Versailler Diktatfriedens" - sie versprachen die Lösung der nationalen Frage. Und die verheißungsvoll erlebten, vielfältig inszenierten Bilder einer modernen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft mit Massenkonsum, Massenkommunikation, Massenmotorisierung und Massentourismus suggerierten, dass der NS-Staat auch die Zukunftsfrage würde lösen können. Wer konnte, wer mochte da erkennen, dass dies alles zum Zwecke eines gigantischen Weltanschauungs-, Raumeroberungs- und Völkervernichtungskrieges geschah? Dass dieser Großkrieg, dass dieses Großverbrechen dem Untergang Hitlers und des Deutschen Reiches vorausging, scheint aber für die Filmemacher, die uns mit Hitlers letzten Tagen ein paar unterhaltsame Kinostunden bereiten wollen, eine nicht weiter erwähnenswerte Lappalie zu sein.

Bestätigt Der Untergang am Ende also nur, was Jean Améry schon in den sechziger Jahren vorausgesagt hat? Der jüdische Schriftsteller und Philosoph, der die Folter erfahren und Auschwitz überlebt hatte, der mit dem Sterben lebte, der gegen das Sterben schrieb und den das Schreiben doch nicht im Leben hielt, prophezeite: Schließlich wird das Reich Hitlers "Geschichte schlechthin sein, nicht besser und nicht übler als es dramatische historische Epochen nun einmal sind, blutbefleckt vielleicht, aber doch auch ein Reich, das seinen Familienalltag hatte (...). Hitler, Himmler, Heydrich (...), das werden Namen sein wie Napoleon, Fouché, Robespierre und Saint-Just (...) (und) die von einem hochzivilisierten Volk mit organisierter Verlässlichkeit (...) vollzogene Ermordung von Millionen wird als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig" dastehen. "Alles wird untergehen in einem (...) Jahrhundert der Barbarei`. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen (...) werden wir dastehen, die Opfer (...)."[21]

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 100 Ehrenrettung

Für eine gewisse Ehrenrettung des deutschen Films hat Volker Schlöndorff gesorgt. In Der neunte Tag geht es einmal nicht um das Private und Allgemein-Menschliche der verunglückten NS-Größen. Der Film folgt dem Tagebuch des luxemburgischen Paters und zeitweiligen Dachauhäftlings Jean Bernard. Im Mittelpunkt steht der Abbé Henri Kremer. Seinem gemarterten Körper, seiner Einsamkeit und Seelenqual gibt Ulrich Matthes (in dieser Rolle sehr viel überzeugender als in dem missglückten Untergangs-Goebbels) schmerzgebeugte Gestalt. Hier geht es um das Erleiden der Folter, um den Verlust des Mensch- und Heimischseins in der Welt, wie es Jean Améry und Primo Levi beschrieben haben. Ein schwaches, ein symbolisches Gegengewicht zu den filmisch vermenschlichten Lebensgeschichten unserer geschichtsprominenten Massenmörder. Aber immerhin.

Fußnoten

1. Eingehender dazu: Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley-Los Angeles-London 2001, und Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004; vgl. auch Michael Jeismann, Anschluß gesucht. Im Delta der großen Bilder: Wie der Film unser Gedächtnis prägt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 24.2. 2005. 2. Vgl. Torsten Körner, Viel Spaß mit Hitler!, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 16.9. 2004; Georg Seeßlen, Das faschistische Subjekt, in: Die Zeit vom 16.9. 2004; Michael Jeismann, Wer hat Angst vorm Sportpalast?, in: FAZ vom 13.4. 2005. 3. Karl Jaspers, Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945 - 1965, München 1965, S. 32 (das Röpke-Zitat: S. 125). 4. Konrad Heiden, Adolf Hitler. Eine Biographie, Zürich 1936 (Bd. I: Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit; Bd. II: Ein Mann gegen Europa). 5. Zur Hitlerforschung vgl. Wolfgang Wippermann (Hrsg.), Kontroversen um Hitler, Frankfurt/M. 1986. 6. Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978; Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/M. u.a. 1973. 7. Vgl. Er sah die Zukunft durch einen Triumphbogen. Unter dem frischen Eindruck von "Speer und Er": Albert Speer und Heinrich Breloer im Gespräch, in: FAZ vom 10.5. 2005. 8. Joachim Fest, Speer. Eine Biographie, Berlin 1999; vgl. dazu Peter Reichel, Der Lieblingstäter, in: Berliner Zeitung vom 12.10. 1999. 9. So Frank Schirrmacher, Der Engel fährt zur Hölle, in: FAZ vom 18.3. 2005; ders., Filme, die Geschichte machen, in: FAZ vom 22.6. 2004. Kritische Stimmen blieben selten; vgl. etwa Wolfgang Benz, Zu viel versprochen. Breloer hat Speers Mythos nicht entzaubert, in: SZ vom 17.5. 2005; Sybille Simon-Zülch, Auch nur ein Mensch: "Speer und Er", in: epd medien, (2005) 39. 10. Gitta Sereny, Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma, München 1995, S. 817. 11. Vgl. dazu das Interview: Albert Speer hat uns angelogen - und mehr verraten, als er musste, in: FAZ vom 25.5. 2005. 12. Jean Améry in einem Offenen Brief an Herrn Ex-Minister Albert Speer, c/o Propyläen Verlag, Berlin, in: Frankfurter Rundschau vom 14.10. 1975. 13. Zit. nach J. Fest (Anm. 8), S. 50. 14. Ian Kershaw, Der Führer küßt, der Führer ißt Schokolade, in: FAZ vom 17.9. 2004. Vgl. dagegen mit seiner dezidierten Kritik Martin Meyer, Gleichschritt in den Operntod, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22.9. 2004. 15. Vgl. das Interview mit Oliver Hirschbiegel, "Daher kommen wir", in: Berliner Zeitung vom 11.9. 2004. 16. Frank Schirrmacher, Die zweite Erfindung des Adolf Hitler, in: FAZ vom 15.9. 2004. 17. Zit. nach Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München und Wien 1991, S. 143. 18. Vgl. Joseph Peter Stern, Hitler. Der Führer und das Volk, München 1978. 19. Wohltuend in ihrer energischen und subtilen Kritik an dem neuen Film-Hitler: Gustav Seibt, Eine

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unangenehme Person, in: SZ vom 9.9. 2004; Georg Seeßlen, Mensch, Hitler, in: Berliner Zeitung vom 7.9. 2004; Götz Aly, Ich bin das Volk, in: SZ vom 1.9. 2004; Willy Winkler, Weil es reicht, in: SZ vom 12./13.4. 2003. 20. Ausführlicher wird dieser Zusammenhang untersucht und dargestellt in: P. Reichel (Anm. 17). 21. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966, S. 127f.

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Von Brussig bis Brecht Die DDR-Vergangenheit und ihre Widerspiegelung in neuen deutschen Filmen – ein Überblick

Von Ralf Schenk 12.3.2009

ist freier Autor und Filmpublizist, sowie Mitherausgeber des Jahrbuchs der DEFA-Stiftung (apropros: Film).

Tom Tykwers Eröffnungsfilm auf der Berlinale "The International", "Novemberkind" oder "Das Leben der Anderen": Die DDR hinterlässt im neuen deutschen Kino noch immer deutliche Spuren. Ob Actionfilm, Drama, Krimi, Agenten-, Liebes- und Heimatfilm - das Erbe der DDR taugt nahezu für alle Kinogenres. Das Bild der DDR fällt dabei sehr unterschiedlich aus.

Die DDR hinterlässt im neuen deutschen Kino noch immer deutliche Spuren. In Tom Tykwers Thriller " The International" (2009), dem Eröffnungsfilm der jüngsten Berlinale, zieht beispielsweise ein ehemaliger Offizier der Staatssicherheit, gespielt von Armin Mueller-Stahl, die Fäden: Im Auftrag einer global agierenden, an den Kriegen der Welt bestens verdienenden Großbank schafft er Konkurrenten aus dem Weg und kümmert sich darum, dass Interpol weitgehend im Dunkeln tappt. Dass sich der einstige DDR-Kundschafter schließlich zum Besseren wandelt, als ihm ins Gewissen geredet wird, entspricht einer Dramaturgie, wie sie seit Florian Henckel von Donnersmarcks Welterfolg "Das Leben der Anderen" (2005) möglich geworden ist: Auch da war ein Stasi-Offizier vom Saulus zum Paulus mutiert.

Die DDR-Vergangenheit prägt ein Familiendrama wie "Novemberkind" (Regie: Christian Schwochow), mit einer jungen Frau als Hauptfigur, die erfahren muss, dass sie Jahrzehnte lang über das Schicksal ihrer Eltern belogen wurde. Tiefe Wunden aus DDR-Zeiten sind auch in "Maria am Wasser" (Regie: Thomas Wendrich) präsent, einem symbolbefrachteten Drama um Schuld und Sühne: Die sächsische Elblandschaft dient hier als Hintergrund für die Aufdeckung eines lange verschwiegenen Unglücksfalls und der daraus entstandenen Lebenslügen. – Die Farce zu den Tragödien liefert "Barfuß bis zum Hals " (Regie: Hansjörg Thurn), in dem die Freunde der in der DDR heftig gepflegten ostdeutschen Freikörperkultur einem Münchner Textilfabrikanten Paroli bieten. – Zeitgleich mit diesen Uraufführungen annonciert eine Hamburger Produktionsfirma den Drehstart für eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte namens "Liebe Mauer", in der sich eine junge Westfrau in einen DDR-Grenzsoldaten verliebt. Regie führt Peter Timm, der einst wegen systemkritischen Denkens aus der DDR ausgewiesen worden war, mit "Go Trabi Go" (1991) einen veritablen Lustspiel-Erfolg verbuchen konnte und mit " Der Zimmerspringbrunnen" (2001) eine amüsante, leider viel zu wenig gesehene Komödie über den mentalen Zustand vieler Ostdeutscher nach zehn Jahren Einheit vorlegte. – Nicht zuletzt bemüht sich Robert Thalheim ("Netto") derzeit um einen Stoff, in dem er von zwei DDR-Schwestern erzählt, die im ungarischen Sommerurlaub über eine Flucht in die Bundesrepublik nachdenken.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 103 Das Erbe der DDR im Kino

Actionfilm, Lustspiel, Drama, psychologischer Krimi, Agenten-, Liebes- und Heimatfilm – das Erbe der DDR taugt nahezu für alle Kinogenres. Es scheint, als ob das neue deutsche Kino einer Anregung des Autors Thomas Brussig folgt, der dafür plädiert, das verschwundene Halbland für die Leinwand nicht so zu erzählen, "wie es wirklich war", sondern die Besonderheiten, Einmaligkeiten und Absurditäten der DDR als Anlass für pralle Genrefilme zu nutzen. Kino, so Brussig, sei weniger für eine differenzierte, historisch gerechte Sicht zuständig als für Tränen des Lachens und des Weinens. Das Erzählen für die große Leinwand würde erst schön durch Dramatisierungen, Zuspitzungen, Verkürzungen und Verfälschungen. "Die DDR ist ein Geschenk, das uns die Geschichte gemacht hat, und das die Filmemacher mit Stil annehmen sollten", wie Brussig in einer öffentlichen Diskussion im Januar 2008 in Berlin postulierte.

Der Autor selbst hatte mit "Sonnenallee" (1999, Regie: Leander Haußmann) gezeigt, wie er sich seine Theorie in der Praxis vorstellte: ein Film, den er als "Meilenstein der Fiktionalisierung" verstanden wissen will. "Sonnenallee" war vom ersten Entwurf an als Pubertätsmärchen aus dem Streichelzoo der DDR-Sozialisation angelegt, ein Film, "bei dem Westler neidisch werden, dass sie nicht in der DDR leben durften" (Brussig). Die Rechnung ging auf, weil das Team einen Sinn für den kultigen, aberwitzigen und albernen Umgang mit dem Thema bewies und damit auch gestalterisch Neuland betrat. Sprach " Sonnenallee" als nostalgischer Rückblick auf eine weit entfernte, im Licht der Erinnerung golden glänzende Jugendzeit ein gesamtdeutsches Publikum an, so war Wolfgang Beckers "Good bye, Lenin! " (2003) ein Film über das Abschiednehmen und die damit verbundenen Schmerzen. Hier wurden die Umbrüche in der Endzeit der DDR zum Anlass genommen, das weit größere Thema des Loslassens von einer überlebten Vergangenheit aufzufächern.

DDR im deutschen Genrefilm und in Hollywoodproduktionen

Brussigs These, die DDR fände "entweder im Genrekino statt oder gar nicht mehr", trifft auf neue deutsche Spielfilme fast hundertprozentig zu. Spannende Ansätze zur radikalen Fiktionalisierung von DDR-Geschichte hatte es aber auch bereits in einigen Nach-Wende-Arbeiten der DEFA gegeben. Jörg Foths Clownsspiel "Letztes aus der DaDaeR" (1990) geriet zum bilderbogenhaften Kabarettfilm, der heute als Zeitdokument aufregender ist als im Jahr seiner Uraufführung. Das trifft ebenso auf Herwig Kippings zornige Farce "Das Land hinter dem Regenbogen" (1991), Heiner Carows Melodram " Verfehlung" (1991) oder Ulrich Weiß surrealistische Parabel "Miraculi" (1992) zu, die sich nicht an einer historischen Authentizität festklammerten, sondern ihren Zorn und ihre Trauer in gleichnishaften Bildern verdichteten. Die metaphernreiche Bildsprache und der hohe künstlerische Anspruch, mit dem das geschah, ließen das Publikum eher verstört zurück. Neuere deutsche Genrefilme sind dagegen sehr viel weniger sperrig, geben dem Kino, was das Kino braucht und scheuen auch nicht vor einer gewissen Anpassung an die Unterhaltungsgewohnheiten eines breiten Zuschauerkreises zurück.

Von Hollywood, wo noch immer Filmstoffe über die DDR, zum Beispiel über den Protestsänger Dean Reed und über die von ihrem eigenen Mann bespitzelte Vera Wollenberger herumgeistern, wird man eine streng authentische Rekonstruktion der tatsächlichen Verhältnisse noch weniger erwarten können als von deutschen Spielfilmregisseuren. Der Wollenberger-Stoff, so ist zu vermuten, gerät in den USA zur tränenträchtigen Allegorie über Angst und Verrat. Stasi, Mauer und Schießbefehl, die oft als prägende Konstanten auch in deutschen DDR-Aufarbeitungsfilmen zur Geltung kommen, vor allem in starbestückten TV-Melodramen wie "Die Frau vom Checkpoint Charlie" (2007) oder der verniedlichenden Komödie "Heimweh nach drüben" (2007), dürften hier zur Hochform auflaufen. Wer US-amerikanische Produktionen über das Leben in der DDR kennt, von Alfred Hitchcocks "Der zerrissene Vorhang" (1965) bis Delbert Manns "Mit dem Wind nach Westen" (1981), weiß um die Unbekümmertheit, mit der satte Klischeebilder vom Land hinter dem Eisernen Vorhang ans Publikum gebracht wurden.

Andererseits behaupteten solche amerikanischen Filme aber auch nie, eine "absolute Authentizität " anzustreben und das Leben in der DDR "realistisch" auszuforschen. Genrekino verträgt sich eben

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 104 nicht mit diesem vom Spielfilm sowieso nur schwer einzulösenden Anspruch. Die Reaktionen vor allem ostdeutscher Intellektueller auf "Das Leben der Anderen" oder Dominik Grafs "Der Rote Kakadu" (2005) bewiesen das nachdrücklich: Weil die Regisseure diese Authentizität und diesen Realismus für ihre Filme in Anspruch nahmen, die Filme tatsächlich aber atmosphärisch und sachlich ungenau waren, verlief ihre Aufnahme höchst zwiespältig. Dort allerdings, wo DDR-Realität und Abbild nicht verglichen werden konnten, weil die Realität einfach nicht genügend bekannt war, zum Beispiel in Hollywood, funktionierte "Das Leben der Anderen" prächtig.

DDR im Dokumentarfilm

Das Authentische mag sowieso eher dem Dokumentarfilm vorbehalten sein. Aber auch da gibt es gravierende Unterschiede. Im Fernsehen dominieren die immer gleichen Kommentare zu den immer gleichen Bildern aus der DDR, wobei ein Klischee das andere erschlägt. Um ihre Zuschauer dennoch bei der Stange zu halten, geben die Redaktionen die absonderlichsten Themen in Auftrag: "Pornografie made in GDR", "Lotte Ulbricht privat", "Weststars im Osten" oder "Wo der Osten Urlaub machte". Dagegen sind im Kino hin und wieder Arbeiten zu besichtigen, die aus diesem Wust des oberflächlichen, auf Spekulation und Sensation zielenden Erinnerns herausragen. Zum Beispiel ist schon jetzt absehbar, dass Thomas Heises auf der Berlinale 2009 uraufgeführtes, 166 Minuten langes Essay "Material" zu diesen Ausnahmefilmen zählen wird.

Heise verknüpft Bilder, die er "rechts und links der Filme" zwischen 1988 und 2008 gedreht hat, bislang unveröffentlichte Szenen, Marginalien zum eigenen uvre und zur Zeitgeschichte, die sich, gebündelt, zu einer philosophischen Reflexion über deutsche Brüche und Umbrüche verdichten. Dabei werden die Sequenzen nicht, wie im Fernsehen meist üblich, zu einer flott geschnittenen, leicht bekömmlichen, möglichst unterhaltsamen Melange verrührt; im Gegenteil: Heise lässt sich Zeit, entfaltet Situationen und Atmosphären, stülpt Vergessenes, Verdrängtes oder nie Gewusstes nach oben. Die störrische Besessenheit, mit der Regisseur Fritz Marquardt am Berliner Ensemble bei der Inszenierung von Heiner Müllers "Germania Tod in Berlin" (1988) um ein einziges Wort ringt. Die gespannte Nervosität von Rednern, Fotografen oder Zuhörern am 4. November 1989, als auf dem Alexanderplatz die erste große freie Demonstration des DDR-Volkes stattfindet. Die Politbürogrößen, die von einer Sondertagung des SED-Zentralkomitees zu ihren draußen frierenden Genossen eilen und damals noch als Reformer bejubelt werden. Wärter und Gefangene des Zuchthauses Brandenburg, die im Dezember 1989 so offen wie nie zuvor und vermutlich auch nie danach über ihre Arbeit und ihre Lebensbedingungen sprechen. Ein Abgeordneter der Volkskammer, der sich in den letzten Tagen der DDR vor versammeltem Plenum als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit outet und ausführlich die Gründe für diese Mitarbeit darlegt.

In solchen Passagen wird Geschichte nicht auf das schnelle, bequeme Schwarz und Weiß, das " Hosianna!" und "Kreuziget ihn!" reduziert; vielmehr eröffnet sich ein Universum der Vernetzungen und Verstrickungen, und der Zuschauer bekommt eine Ahnung davon, wie weit das Feld zwischen Unschuld und Schuld, Anpassung und Widerstand, politischer Identifikation und systemkritischer Ablehnung sein kann. Nicht zuletzt erweist sich Thomas Heises "Material" als eine Beschwörung jenes Gefühls von Freiheit, das in der DDR zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 für ein paar Wochen von einem utopischen Traum zur greifbaren Realität geworden zu sein schien. Fast am Ende seines Films dokumentiert Heise dann aber auch den Schritt von der Freiheit ins Chaos: Er beobachtet die Uraufführung seines Films "Stau" (1992) in Halle, die Zerstörung des Kinos durch linke Autonome, den Angriff von rechten Randalierern, die Verstörung und Angst der "bürgerlichen Mitte", die dem Krawall hilflos gegenübersteht.

Dieses "Material" ist kein leicht zu fassender Stoff, zumal Heise sich jede verbale Kommentierung und Erklärung, jede zeitlichen Einordnung etwa durch Zwischentitel versagt. Die Zuschauer sollen sich durch Sehen ihre Erklärungen selber suchen: Gedankenarbeit im Brechtschen Sinne. Großes, dialektisches Kino.

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Kollektive Erinnerung im Wandel

Von Helga Hirsch 7.10.2008 Dr. phil., geb. 1948; Studium der Germanistik und Politologie an der FU Berlin, Promotion über die polnische Opposition der Jahre 1976 - 1980; seit 1985 freie Journalistin u.a. für den WDR, den Deutschlandfunk, Arte und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"; von 1988 bis 1995 Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit" in Warschau; 2001 mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet.

Anschrift: Holsteinische Straße 42, 10717 Berlin.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1945 - 1950, Berlin 1998; "Ich habe keine Schuhe nicht." Lebensläufe von polnischen, jüdischen und deutschen Grenzgängern, Hamburg 2002; Dokumentarfilme: "Späte Opfer". Deutsche in polnischen Lagern 1945 - 1950, WDR/MDR, 1999; "Der Erbfeind". Preußen/ Deutschland aus polnischer Sicht, Arte 2001.

Die Wiederkehr des Themas Flucht und Vertreibung zeigt, dass die teilweise traumatischen Spätfolgen unterschätzt worden sind. Zudem ist die Debatte über Deutsche als Opfer des Krieges lange verdrängt worden.

Flüchtlinge im Jahr 1945. Lizenz: cc by-sa/3.0/de (Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Foto: o. Ang. / CC-BY-SA)

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 107 Einleitung

Mit Flucht und Vertreibung der Deutschen 1944/45 kehrt ein Thema in die öffentliche Debatte zurück, das jahrzehntelang als anstößig und rückwärtsgewandt, ja revanchistisch verpönt war. Wer sich nicht vor der Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes scheue und die Aussöhnung mit den Nachbarn anstrebe, so hieß es, dürfe über Deutsche als Opfer nicht reden. Allein die Vertriebenenverbände kümmerten sich um die Betroffenen - und ihre allzu einseitige Betrachtungsweise galt vielen als hinreichender Beleg für die Diskreditierung des Themas. Als gebe es nur die Alternative zwischen einem reuigen Deutschen, der die Vertreibung als Strafe für die Verbrechen des Hitler-Regimes akzeptiert, und einem Ewiggestrigen, der das Leiden der Nachkriegszeit vor sich her trägt, um über die Schuld der Kriegszeit nicht zu reden.

Seit Anfang der neunziger Jahre weicht diese Frontstellung auf. Der ehemalige deutsche Osten rückt wieder ins Gesichtsfeld. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs löste eine wahre Erinnerungsflut und eine Neugier nach unterdrückten Wahrheiten aus. Verena Dohrn und Martin Pollack etwa schilderten das untergegangene Habsburgerreich in Galizien, Ralph Giordano reiste nach Ostpreußen und beschrieb mit großer Empathie die Trauer der einstigen Bewohner, Christian von Krockow schilderte die Strapazen der Flucht, Freya Klier griff das bis dahin tabuisierte Thema der Verschleppung von Frauen in die Sowjetunion auf, Ulla Lachauer notierte ostpreußische Lebensläufe, Roswitha Schieb machte sich auf die Reise in die Heimat ihrer Eltern nach Schlesien, Andreas Kossert entfaltete das Beziehungsgeflecht von Deutschen und Polen in Masuren, Matthias Kneip fuhr mit Großmutter, Vater und Tante in deren oberschlesische Heimat, und Helga Hirsch recherchierte über die Lager für deutsche Zivilisten in Polen.[1]

Günter Grass schließlich war mit seiner Novelle "Im Krebsgang"[2] ganz sicher kein Tabubrecher mehr. Aber sein Buch bewirkte den Durchbruch. Wenn dieser Linke, der stets vor neuen deutschen Großmachtträumen gewarnt und sich der Wiedervereinigung entgegengestellt hatte, das Ausblenden des Themas als "bodenloses Versäumnis" empfand und nun Empathie für Vertreibungsopfer zuließ, dann wollten auch Zaudernde nicht mehr bestreiten, dass sich das Bekenntnis zu deutscher Schuld und die Trauer über deutsches Leid nicht widersprechen müssen, sondern zwei Seiten einer Medaille sind.

Und so sind Flucht, Vertreibung und auch der Bombenkrieg präsent wie selten zuvor: durch Jörg Friedrichs "Der Brand"[3], im Fernsehen durch die Produktionen Guido Knopps, im Film durch " Schlesiens wilder Westen" von Ute Badura, in Talkshows, Seminaren und bei Podiumsdiskussionen. Und der Deutsche Bundestag hat die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen beschlossen, über dessen Standort heftig gestritten wird.

Das Jahrhundert der Vertreibungen

Im Rückblick ist das 20. Jahrhundert vielfach als das der Völkermorde und Vertreibungen bezeichnet worden. An seinem Beginn stand der Genozid an den Armeniern durch die Türken (1915), an seinem Ende standen "ethnische Säuberungen" im zerfallenden Jugoslawien. Dazwischen lagen allein in Europa u.a. die Zwangsdeportationen von Krimtataren, Tschetschenen, Wolgadeutschen und Einwohnern der baltischen Staaten innerhalb der Stalin'schen Sowjetunion, die Umsiedlungen von Polen aus dem okkupierten Westpolen in das Generalgouvernement, die Vernichtung der Juden durch das NS-Regime, die Vertreibung der Deutschen aus ihren Ostgebieten und der Ungarn aus der Slowakei.

Bisher haben sich Wissenschaftler und Medien nicht auf gemeinsame Bezeichnungen einigen können. Für die Armenier handelt es sich bei der Tötung ihrer Landsleute um gezielten Völkermord, für die Türken um das unbeabsichtigte Nebenprodukt von Deportationen. Deutsche sehen in den Ereignissen 1944/45 Vertreibungen, Polen hingegen eher Zwangsaussiedlungen, Tschechen oft sogar nur einen Bevölkerungs-"Abschub" (odsun). In Polen und Tschechien stoßen sich Wissenschaftler an dem angeblich zu emotionalen Terminus "Vertreibung"; die öffentliche Meinung in Deutschland hingegen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 108 reibt sich an dem sterilen Begriff der "ethnischen Säuberung". Nur in der Unterscheidung von Vertreibung und Völkermord scheint Einigkeit erreicht: Genozid, so Norman M. Naimark, meine die beabsichtigte Tötung eines Teils oder aller Mitglieder einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe; die Intention der ethnischen Säuberung bestünde hingegen darin, ein Volk und möglichst auch seine Spuren aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen.[4] Allerdings, räumt Naimark ein, könnten sich bei Zwangsdeportationen die Grenzen zum Genozid leicht verwischen, da Menschen, die sich der Aussiedlung aus ihrer Heimat widersetzten, oft getötet würden.

Angriffe stärkerer auf schwächere Völker, die mit der Ausrottung oder Vertreibung der Schwächeren endeten, hat es immer gegeben. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich dieses Phänomen durch die Entstehung des Nationalismus allerdings entscheidend verändert. Die alten Reiche - Österreich- Ungarn, das Osmanische und das Zarenreich, auch Preußen-Deutschland - hatten ihre Legitimität aus der Loyalität ihrer Untertanen gegenüber den Dynastien bezogen und nicht aus der Zugehörigkeit der Bürger zu einem bestimmten Volk. In Österreich-Ungarn konnte jemand Jude sein, Deutsch sprechen und einen ungarischen Pass besitzen. Mit der Durchsetzung des Nationalstaats aber wurden jene Bürger bevorzugt, die der staatstragenden, der Titularnation angehörten. Und da die mitteleuropäische Landkarte nur wenige ethnisch homogene Territorien kannte, waren Konflikte programmiert.

Als die Pariser Vorortverträge 1919/20 den Selbstbestimmungswünschen der Völker Rechnung trugen, erfüllten sie zwar die Träume von Polen, Litauern, Esten, Letten, Tschechen, Ungarn, Kroaten, Slowenen und Serben. Aber sie enttäuschten Minderheiten, die nun in ihren Heimatländern zu unerwünschten "Fremden" wurden und vom Völkerbund geschützt werden mussten. "Versailles hatte sechzig Millionen Menschen eigene Staaten gegeben", so der britische Historiker Mark Mazower, " dafür aber weitere fünfundzwanzig Millionen zu Minderheiten gemacht."[5] Trotz Schutzverträgen wurden ihre Rechte immer wieder massiv beeinträchtigt. So kam es Anfang der zwanziger Jahre zur gewaltsamen Vertreibung von 1,35 Millionen Griechen aus Kleinasien und - im Gegenzug - von 430 000 Türken aus Griechenland. Zu Gewaltausbrüchen kam es auch bei der Grenzziehung des neu gegründeten polnischen Staates 1918/1920. Die Provinzen Posen und Westpreußen sowie große Teile Nieder- und Oberschlesiens waren Polen ohne Abstimmung zugefallen. Ermland, Masuren, die westpreußischen Gebiete östlich der Weichsel sowie Teile Oberschlesiens blieben bei Deutschland, nachdem sich die Bevölkerung in Volksabstimmungen zu gut 60 Prozent (Oberschlesien) und zu weit über 90 Prozent (Masuren) entsprechend entschieden hatte. An der so entstandenen Grenzlinie konnte auch der dritte polnische Aufstand in Oberschlesien nichts ändern.[6]

Die 1,1 Millionen Deutschen, die im polnischen Staat mit insgesamt 27 Millionen Staatsbürgern blieben, sollten durch eine restriktive Politik verdrängt werden - u.a. mit dem Gesetz über die Staatsbürgerschaft, mit der Durchsetzung der Agrarreform, der Besetzung von Beamtenstellen und der Einschränkung des muttersprachlichen Unterrichts. Tatsächlich sind zwischen 1918 und 1931 mehrere Hunderttausend Deutsche aus Polen ausgewandert. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kannte der Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Polen allerdings nur Zwangsassimilierung und Verdrängung. Erst Hitler griff zu massenhaften Zwangsumsiedlungen und zu biologischer Vernichtung, denn ihm ging es um weit mehr als ethnische Entflechtung - er wollte "Lebensraum" für das deutsche Volk. Seine rassistische Politik ging von einer Hierarchie aus, die einigen "Rassen" die Hegemonie zuerkannte und anderen das Lebensrecht absprach. Daraus leitete er das Recht des "Mutterlandes " ab, zum "Schutz der Volksgruppe" unmittelbar im Gastland zu intervenieren: Er holte das Sudetenland "heim ins Reich" und siedelte die Tschechen ebenso aus den eingegliederten Gebieten aus wie die Polen gleich nach der Besetzung aus dem Warthegau. Während sich fortan die Polen im " Generalgouvernement" drängten, wurden auf den von ihnen geräumten Höfen und Wohnungen über eine Million (Volks-)Deutsche aus den baltischen Staaten, aus Wolhynien, Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, aus Bulgarien, Bosnien und Ungarn angesiedelt.

Es entsprach dem Geist der Zeit, wenn die in London ansässigen Exilregierungen von Polen und Tschechen für die Zeit nach dem Sieg über Hitler-Deutschland die Aussiedlung von Deutschen aus

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 109 ihren Ländern forderten. Damit verfolgten sie eine ethnische Homogenisierung, die ihnen bei der Staatsgründung 1918 nicht gelungen war: In Polen bildeten die ukrainischen, jüdischen, deutschen und weißrussischen Minderheiten bis 1939 etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung; in der Tschechoslowakei stellten die Deutschen etwa 23 Prozent. Weder Churchill noch Roosevelt waren einem "Bevölkerungstransfer" grundsätzlich abgeneigt. Der Vertrag von Lausanne bildete für sie sogar eine "idée fixe".[7] Entsprechend sagte Churchill in seiner Unterhausrede am 15. Dezember 1944: " Die Vertreibung ist - soweit wir es zu überschauen vermögen - das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie im Fall von Elsaß-Lothringen. Es wird gründlich aufgeräumt."[8] Präsident Franklin D. Roosevelt hatte sich bereits im Frühjahr 1943 gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden geäußert: "Wir wollen Vorkehrungen treffen, um die Preußen aus Ostpreußen auf die gleiche Weise zu entfernen, wie die Griechen nach dem letzten Krieg aus der Türkei entfernt wurden."[9]

Spätestens seit der Konferenz von Teheran (November 1943) war Churchill und Roosevelt klar, dass Stalin die polnischen Ostgebiete bis hin zur Curzon-Linie - die 1920 vom britischen Außenminister George Curzon vorgeschlagene sowjetisch-polnische Grenze - beanspruchte, Po-len insofern für die " wahrscheinlichen Verluste im Osten" entschädigt werden müsste. Seitdem war die Westverschiebung Polens im Prinzip eine beschlossene Sache, der Grenzverlauf wurde in Potsdam im August 1945 endgültig an Oder und westlicher Neiße festgelegt. USA und Großbritannien erklärten sich einverstanden, die "früher deutschen Gebiete" östlich davon unter polnische und das nördliche Ostpreußen unter sowjetische Verwaltung zu stellen - die endgültige Regelung der Grenzfrage sollte einer Friedenskonferenz vorbehalten bleiben. Soweit die Deutschen nicht schon vor der Front geflohen waren, war ihr "Transfer" auf "ordnungsgemäße und humane Weise" vorgesehen.

Hegten die Amerikaner zunächst Skrupel, so widersetzten sie sich doch niemals ernsthaft dem Kurs der Briten, der auf westlicher Seite treibenden Kraft der Ausweisung. Die Briten duldeten die Ausweisungspläne des tschechischen Exil-Staatspräsidenten Edvard Benes nicht nur, sie ermunterten ihn sogar zu einer möglichst weitgehenden Lösung. In der Tschechoslowakei wie in Polen machten sich im Laufe des Jahres 1944 auch die Kommunisten die Forderungen nach Vertreibung der Deutschen zu Eigen. Die prokommunistische Regierung in Lublin erklärte im Februar 1945, also noch vor der völkerrechtlichen Klärung in Potsdam, sie habe "in Ausführung des Programms, die polnische Westgrenze an die Oder und Neiße vorzuschieben, mit der Eingliederung der deutschen Vorkriegsterritorien in Polen begonnen", und der Erste Sekretär der Polnischen Kommunistischen Partei Wladyslaw Gomu|lka sprach von der Notwendigkeit der "Entdeutschung" seines Landes. Als historische Rechtfertigung ihres Anspruchs auf die "wiedergewonnenen Gebiete" diente ihnen die Herrschaft des Piastengeschlechts aus dem 10. bis 14. Jahrhundert, die sich zeitweise bis zur Oder erstreckt hatte.

Gegenüber Deutschland zogen die Sowjetunion und ihre späteren Satellitenstaaten Polen und Tschechoslowakei an einem Strang. Moskau musste die Polen und Tschechen zu nichts drängen, es brauchte sie nur gewähren zu lassen. "Wo die russischen Truppen standen", konstatiert Klaus-Dietmar Henke, "begannen die Vertreibungen deshalb als eine von den betroffenen Staaten beinahe wie eine innere Angelegenheit gehandhabte pauschale Abrechnung mit den Deutschen."[10] Alle einst von Hitler besetzten mittel- und osteuropäischen Staaten sahen in der Vertreibung der Deutschen eine Vergeltung für das NS-Regime. Die Nationalsozialisten hatten Rassismus und Nationalismus gesät; jetzt spürte Deutschland die Rache der Opfer. Gleichzeitig aber, bemerkte schon Martin Broszat, gingen die Vertreibung und die Errichtung einer polnischen Administration in den ehemaligen deutschen Ostgebieten weit über die Liquidierung des "Dritten Reiches" hinaus.[11] "Nationalismus", schreibt Naimark, "erschien als das dominierende Motiv der neuen Etappe der Staatenbildung am Ende des Zweiten Weltkriegs."[12]

Ihre Opfer wurden nicht allein die Deutschen. Polen vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch mit der Ukraine - aus Südostpolen zogen Ukrainer in die Sowjet-Ukraine, während Polen aus den "Kresy", den ehemals polnischen Ostgebieten, in die "wiedergewonnenen Westgebiete" umgesiedelt wurden.

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Nachdem bis Ende 1946 aufgrund der Pogrome von Kielce, Krakau und anderen Orten noch 220 000 Juden das Land verlassen hatten, war der Anteil der Minderheiten in Polen von 32 Prozent vor dem Krieg auf drei Prozent geschrumpft. In der Tschechoslowakei sank er nach der Aussiedlung der Ungarn aus der Slowakei von 33 auf 15 Prozent, in Rumänien von 28 auf 12 Prozent.[13]

Der Verlust der Heimat

Stalingrad bedeutete die Wende: Der Aggressor wurde zum Getriebenen, und die Kriegsschauplätze, bisher vor allem auf den Territorien fremder Staaten, verlagerten sich ins Reichsgebiet. Im Juli 1944 wurden die Bewohner des Memellandes hinter die Memel evakuiert, im Oktober zogen die ersten sowjetischen Truppen in Ostpreußen ein. Entgegen dem ausdrücklichen Verbot von Gauleiter Erich Koch begaben sich die meisten Zivilisten auf eigene Faust auf die Flucht - vor allem nach den Schreckensmeldungen über die Vergewaltigungen und Ermordungen der Frauen von Nemmersdorf, das am 21. Oktober 1944 eingenommen worden war.

Die Fluchtwelle aus Ostpreußen bildete erst den Anfang. Noch weit mehr Menschen setzten sich in Bewegung, als die Rote Armee Mitte Januar 1945 ihre Großoffensive begann und über die Weichsel nach Westen stieß: Vier bis fünf Millionen flüchteten aus Danzig, Masuren, Ober- und Niederschlesien, Ostpommern und Ostbrandenburg. Hunderttausende starben an Entkräftung oder Kälte, ertranken in den Fluten der Ostsee, verbluteten nach sowjetischen und amerikanischen Bombenangriffen oder wurden von der Front überrollt und von Rotarmisten vergewaltigt.[14]

Auch in den deutschen Siedlungsgebieten im südlichen Mitteleuropa kam es von Herbst 1944 an zu massiven Evakuierungen und Fluchtbewegungen. So wurden bis März 1945 100 000 von insgesamt 140 000 Deutschen aus der Slowakei und fast alle 95 000 Deutschen aus Kroatien ins "Protektorat Böhmen und Mähren", ins Sudentenland oder nach Österreich umgesiedelt.[15] Ebenfalls im Herbst 1944 flüchtete ein großer Teil der Deutschen aus Jugoslawien, ein anderer Teil wurde evakuiert. Von insgesamt 540 000 Menschen deutscher Muttersprache in Jugoslawien befanden sich Ende 1944 rund 340 000 bereits außerhalb ihrer Heimat.[16] Von den verbliebenen Volksdeutschen wurden nach der Machtübernahme durch die jugoslawische Volksbefreiungsarmee im "Blutigen Herbst" 1944 viele Opfer von Racheaktionen durch Partisanen. Etwa 67 000 Zivilisten sollen in den Arbeits- und Vernichtungslagern umgekommen sein.[17] Aus Rumänien wurden Ende August und Anfang Oktober 1944 etwa 100 000 Volksdeutsche evakuiert. Der größere Teil der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben blieb zurück. Anfang 1945 wurden rund 75 000 zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion deportiert; viele kehrten nicht mehr nach Rumänien zurück, sondern ließen sich nach Deutschland ausweisen.[18]

Im Frühjahr 1945 kam kaum jemand unter den Flüchtenden auf die Idee, der Verlust der Heimat könnte endgültig sein. Vor allem die Reichsdeutschen aus Schlesien, Westpreußen und Pommern warteten nur das Ende der Kampfhandlungen ab. Allein nach Breslau kehrten mehrere Zehntausende zurück, insgesamt waren es über eine Million. Doch im Juni 1945 wurden die zurückströmenden Menschen schon westlich der Oder von Polen abgefangen. Damals begann die erste Phase der Vertreibung aus Polen. Diese "wilden" Aussiedlungen noch vor der Potsdamer Konferenz setzten am 20. Juni 1945 ein und dauerten ungefähr einen Monat. In diesem Zeitraum sind bis zu 400 000 Deutsche aus dem Grenzgebiet östlich von Oder und Neiße und aus Oberschlesien ausgesiedelt worden. Teilweise in Razzien von einer unvorbereiteten Armee zusammengetrieben, mussten die Menschen den Weg bis zu Oder und Neiße zu Fuß zurücklegen, und selbst für Kranke gab es keinerlei Transportmittel. Aufgrund des Einspruchs der Roten Armee, aber auch von polnischen Behörden, welche die Deutschen als Arbeitskräfte benötigten, wurden die Aussiedlungen Mitte Juli eingestellt.

Danach befanden sich noch etwa 4,5 Millionen Deutsche in Polen. Gemäß einer Anweisung des Ministeriums für öffentliche Verwaltung vom Juni 1945, der zufolge den Deutschen "das Leben derart erschwert werden" solle, dass auch die "hartnäckigsten Feinde des Polentums den Mut verlieren", in Polen zu bleiben, wurden "freiwillige Ausreisen" gefördert: durch Enteignungen, unzureichende

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Versorgung, Ausschluss von ärztlicher Versorgung, Ausschluss der Kinder von der Schulpflicht, durch massenhafte Beseitigung der "Spuren des Deutschtums" und durch Duldung von Diebstählen und Vergewaltigungen. Bis Ende 1945 verließen bis zu 550 000 Deutsche "freiwillig" Polen. Noch in den Zügen wurden sie ausgeraubt.

Von Februar bis Dezember 1946 erfolgten organisierte Aussiedlungen in Absprache mit den Alliierten. Etwa 1,5 Millionen Menschen kamen in die britische und - bis November 1947 - 1,84 Millionen in die sowjetische Zone. Insgesamt verließen in dieser Zeit fast 3,5 Millionen Deutsche die alten Ostgebiete.[19] Noch bis 1950 kamen vereinzelt Transporte mit Frauen, Kindern und Alten aus Ostpreußen, wo vor allem junge Frauen für die Sowjets hatten Zwangsarbeit leisten müssen, oder aus polnischen Internierungslagern wie Jaworzno und Potulice, in denen Angehörige der deutschen Minderheit zur Zwangsarbeit herangezogen worden waren. Die Deutschen, die nach 1950 in Polen blieben, wurden "polonisiert": Sie mussten polnische Namen annehmen und sich als Polen erklären.

In der Tschechoslowakei kam es vor allem in Prag, aber auch im Sudetenland gleich in den ersten Nachkriegstagen zu massenhaften Racheakten von Militär, "revolutionären Garden" und Zivilisten. Staatspräsident Benes führte am 12. Mai 1945 in Brünn aus: "Wir werden Ordnung machen unter uns, insbesondere auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. Mein Programm ist - ich verhehle es nicht -, dass wir die deutsche Frage in der Republik liquidieren müssen. Bei dieser Arbeit werden wir alle eure Kräfte brauchen."[20] Die Sudetendeutschen galten nicht zuletzt aufgrund der Popularität der Henlein-Partei vor dem Krieg pauschal als Verräter am tschechoslowakischen Staat und als NS-Anhänger. Entsprechend pauschal waren die Strafaktionen. Am bekanntesten wurde das Pogrom von Aussig am 31. Juli 1945, als die tschechische Bevölkerung nach einer Explosion in einem Munitionswerk eine Hetzjagd auf Deutsche veranstaltete und wahllos Frauen und Kinder umbrachte. Etwa 2 700 Personen sollen damals umgekommen sein. Auf dem Todesmarsch von Brünn (30. Mai 1945) führten Frustration und Wut von Tschechen zu 1 700 Morden unter den insgesamt 30 000 deutschen Einwohnern der Stadt. Die sog. Benes-Dekrete sahen wie die entsprechenden Erlasse der polnischen Regierung neben der Enteignung auch Zwangsarbeit für Deutsche vor. Die Rolle als Freiwild war so beängstigend und demütigend, dass selbst tschechische Quellen allein für das Jahr 1946 5558 Selbstmorde von Deutschen verzeichneten - manchmal gemeinsam von ganzen Familien in bester Sonntagskleidung verübt.[21] Nur etwa 200 000 von einst über drei Millionen Sudetendeutsche blieben in der Tschechoslowakei.

Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn begann im Januar 1946 in Ortschaften entlang der Grenze zu Österreich, in denen die donauschwäbische Bevölkerung zusammengedrängt worden war. Ursprünglich war auch hier nach dem Prinzip der Kollektivschuld die Aussiedlung der gesamten, etwa 500 000 Personen zählenden Minderheit geplant; schließlich waren etwa 117 000 von ihnen betroffen. Nach einer Unterbrechung im Juni wurden die Transporte in die amerikanische Zone im November 1946 wieder aufgenommen, im Dezember aber vollständig eingestellt.[22]

Insgesamt sind etwa 14 Millionen Deutsche aus dem Osten vertrieben worden; etwa zwei Millionen von ihnen kamen während Flucht und Vertreibung um. Die SBZ nahm 37,2 Prozent auf (4,5 Millionen), die britische Zone 32,8, die amerikanische 28,2 und die französische 1,4 Prozent - insgesamt 7,9 Millionen Menschen. 1950 stellten die Vertriebenen in der Bundesrepublik 16,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, bis 1961 stieg ihr Anteil aufgrund der Massenflucht aus der DDR sogar auf 21,5 Prozent. Jeder fünfte Bundesbürger war ein Flüchtling oder Vertriebener. Ihre rasche soziale und wirtschaftliche Integration gilt daher manchen noch heute als das eigentliche Nachkriegswunder. Wenn überhaupt, dann fielen Vertriebenenkinder im Wirtschaftswunderland positiv auf. So hielt der Soziologe Helmut Schelsky lobend fest: "(Die Flüchtlingsjugend) ist in ihrer hohen sozialen Mobilität, ihrem Anpassungs- und Durchsetzungswillen, ihrem sozialen und beruflichen Aufstiegsstreben und Leistungswillen von der einheimischen Jugend (. . .) höchstens durch die Schroffheit und das Tempo unterschieden, mit der sie in diese Verhaltensnotwendigkeiten hineingezwungen wurden."[23] Die Flüchtlingsfrage schien gelöst.

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Doch heute sind wir uns dessen nicht mehr so sicher.

Die Integration der Flüchtlinge

Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde zur alleinigen Aufgabe der Deutschen erklärt, aber die Alliierten übten beträchtlichen Druck aus. Die Vertriebenen sollten sich auf keinen Fall um Forderungen nach Rückkehr in die alte Heimat scharen, sondern sich möglichst schnell assimilieren. " Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen soll ihr organisches Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung gewährleisten", hieß es etwa im Gesetz Nr. 303 in Baden-Württemberg vom Februar 1947.[24] So wurden die "Neuen" weit verstreut in ländlichen Gebieten angesiedelt, vor allem in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern. Erst später wurden die Belastungen für die einzelnen Bundesländer gerechter verteilt. Bis in den Sommer 1948 hinein galt in den Westzonen ein generelles Koalitionsverbot für Vertriebene.[25]

In den ersten Wochen und Monaten stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen bei den Einheimischen auf Mitgefühl: Die einen wie die anderen waren davon überzeugt, die Einquartierungen seien vorübergehend. Als sich dann abzeichnete, dass die Ostdeutschen bleiben würden, gab es vielerorts Ärger, denn die Wohnungsbewirtschaftung führte dazu, dass Alteingesessene Zimmer an Vertriebene abtreten mussten; in den westlichen Zonen lebten nun pro Quadratkilometer weit über 200 Menschen statt wie vor dem Krieg 160. Ferner bewirkte die plötzliche Konkurrenz, dass neben dem ansässigen Apotheker ein zweiter Laden in der Kleinstadt öffnete, dass schlesische Klempnermeister oder sudetendeutsche Gerber billigere Angebote unterbreiteten und sich auf dem Arbeitsmarkt Menschen bewarben, die größere Kompromisse einzugehen bereit waren als die Einheimischen. So wechselten zwei Drittel der vor dem Krieg selbständigen Vertriebenen nach 1945 den Erwerbszweig, unter den Landwirten waren es sogar 87 Prozent.[26]

Die teilweise katastrophale Unterbringung in leeren Fabrikhallen, Hotels oder in Baracken ehemaliger Zwangsarbeitslager suchte man seit 1950 durch Wohnungsprogramme abzuschaffen. Zehn Jahre nach Kriegsende existierten in der Bundesrepublik aber noch immer 3000 kriegsbedingte Lager, obwohl vielerorts neue Siedlungen entstanden waren und viele Vertriebene dank günstiger Darlehen eigene Häuser zu bauen begannen. Die Zahlungen durch den Lastenausgleich entschädigten die Betroffenen zwar nur für einen Bruchteil ihres verlorenen Vermögens, gaben ihnen aber das Gefühl einer gewissen Genugtuung. Um die Wachstumspolitik nicht zu gefährden, erfolgten die Hauptentschädigungen allerdings nicht vor 1959. In langwierigen Prozeduren, bei denen die Angaben von speziellen Kommissionen verifiziert wurden, sind bis 1979 etwa 22 Prozent der Vermögensverluste ausgeglichen worden.[27]

Die Vertriebenen in der DDR erhielten nach der Wiedervereinigung eine einmalige Pauschalsumme von 4000 DM. In der SBZ hatte es aufgrund des Befehls Nr. 304 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) von 1946 nur eine einmalige Unterstützung für Arbeitsunfähige und Bedürftige gegeben: 300 RM für Erwachsene, 100 RM für deren Kinder. Bis 1949 waren 400 Millionen Mark für diese Vertriebenensoforthilfe ausgeschüttet worden - fast jeder zweite Vertriebene hatte davon profitiert. Ebenfalls aufgrund eines Befehls der SMAD wurden die Vertriebenen seit 1945 offiziell als "Umsiedler " bezeichnet; die SED sprach auch von "Neubürgern". So spiegelte die Wortwahl wider, dass Kritik an Vertreibung und die Erinnerung an Unrecht in der SBZ/DDR nicht erwünscht waren.

Dabei ist der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete den deutschen Kommunisten nicht leicht gefallen.[28] Der SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck, ein gebürtiger Gubener, warb bei den Gemeindewahlen im Herbst 1946 mit einer Revision der Oder-Neiße-Grenze: "Wir werden alles tun, damit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Verwaltung der Ostgrenze vorgenommen wird."[29] Erst nach einem Besuch der SED-Führung Ende Januar 1947 in Moskau begann sich diese Politik zu verändern - zumindest innerhalb der Parteispitze, denn der später als Konterrevolutionär inhaftierte Wolfgang Harich, ein gebürtiger Ostpreuße, gab noch im Juni 1948 im Nordwestdeutschen Rundfunk seiner Hoffnung auf eine Grenzrevision bei einer

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Friedenskonferenz Ausdruck. Kurz darauf wurde das Thema zum Tabu. Am 6.Juni 1950 unterzeichneten Ost-Berlin und Warschau die Deklaration über die "Grenzmarkierung an Oder und Neiße". Wer die Grenze fortan in Frage stellte, hatte mit Parteistrafen und juristischer Verfolgung zu rechnen. Landsmannschaftliche Organisationen waren verboten. Eine Organisation für Vertriebene sei, so hieß es, in der DDR überflüssig, da es sich bei den Konflikten zwischen Eingesessenen und " Umsiedlern" um soziale Probleme handele, die angesichts einer raschen "Verschmelzung" der beiden Bevölkerungsgruppen nur vorübergehenden Charakter trügen.[30]

Vielen Vertriebenen in der DDR hat die Tabuisierung ihrer Vergangenheit die Trauerarbeit erschwert. Nicht einmal ihre kulturelle Identität konnten sie in die Aufnahmegesellschaft einbringen. Als 1989 die Mauer fiel, strömten Zehntausende Schlesier, Pommern und Ostpreußen in die Versammlungen der Vertriebenenverbände: Es bestand starker Nachholbedarf, über die verlorene Heimat zu reden und das Unrecht zu benennen. Viele hatten bereits lange vorher die Konsequenzen gezogen: Von den gut vier Millionen Vertriebenen in der DDR hatten sich bis zum Mauerbau 1961 über eine Million in den Westen abgesetzt.

In den Westzonen wurde das Koalitionsverbot für Flüchtlinge und Vertriebene Ende der vierziger Jahre aufgeweicht. Zunächst hatten die Alliierten befürchtet, unter den Westpreußen, Pommern oder Sudetendeutschen könnten schnell Nationalismus und Revanchismus erstarken. Im Februar 1946 war der Versuch von Linius Kather, vor 1933 einziger Vertreter der Zentrumspartei im Stadtparlament von Königsberg, eine "Notgemeinschaft einzelner Landsmannschaften" zu gründen, von der Militärregierung untersagt worden. Und im Mai 1946 wurde sein Antrag auf Genehmigung einer " Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" abgelehnt. Doch bei der evangelischen Kirche entstanden "Hilfskomitees" für Menschen aus den Vertreibungsgebieten, geleitet von Eugen Gerstenmaier; die katholische Kirche ernannte den früheren Ermländer Bischof Maximilian Kaller zum " Flüchtlingsbischof".

Der einsetzende Kalte Krieg erleichterte jedoch dann die Zulassung von Vertriebenenorganisationen. So durfte sich die "Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" unter dem neuen Namen " Aufbaugemeinschaft der Kriegsgeschädigten" im März 1948 als Verein eintragen, und im April 1949 schlossen sich die Landesverbände der Heimatvertriebenen zum "Zentralverband vertriebener Deutscher" (ZvD) zusammen. Gemeinsam mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und der Schlesier bildete er im November 1951 den Bund der Vertriebenen (BdV).[31]

Die "Charta der Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950 ist ein gutes Beispiel für die Mischung aus Radikalität und Mäßigung, mit der die Vertriebenenorganisationen fortan Politik machten. Einerseits verzichtete die Charta "auf Rache und Vergeltung" und forderte die "Schaffung eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können"; andererseits bestand sie auf dem "Recht auf Heimat" als grundlegendem Menschenrecht - als Recht auf Rückkehr verstanden. Bis in die achtziger Jahre hinein, als die schlesische Landsmannschaft ihren "Deutschlandtag" unter die Losung " Schlesien bleibt unser!" stellte, verstanden es die Vertriebenenverbände immer wieder, die Öffentlichkeit, vor allem aber die Nachbarn im Osten, mit radikalen, revanchismusverdächtigen Parolen aufzuschrecken. Dabei war es von den siebziger Jahren an still um sie geworden, seit mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition Aussöhnung gefragt war und nicht mehr Konfrontation. Unter den Vertriebenen gehörte schon 1965 nur knapp ein Prozent einer Landsmannschaft an.[32] Die starken Worte, so schien es Beobachtern, sollten von der schwachen Position ablenken: "Symbolische Handlungen, propagandistische Leerformeln und unrealistische Forderungen wurden zum Ersatz einer nicht realisierbaren Politik."[33]

Wesentlich kurzlebiger als der BdV erwies sich der im Januar 1950 in Schleswig-Holstein vom ehemaligen SS-Sturmbannführer Waldemar Kraft gegründete "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE). Bei der ersten Landtagswahl, an der er teilnahm (Schleswig-Holstein im Juli 1950), erreichte er überraschend 23,4 Prozent. Doch schon bei der Bundestagswahl 1953 erhielt er trotz eines Wählerpotentials von zehn Millionen Bundesbürgern mit Vertriebenen- oder

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Flüchtlingsstatus nur 5,9 Prozent (1,6 Millionen Stimmen), bei der Wahl 1957 schrumpfte sein Anteil auf 4,6 Prozent. Damit war der BHE, von Adenauer zuvor noch als Koalitionspartner geschätzt, nicht mehr im Parlament vertreten. Als Kommunikationsmittel zwischen den Vertriebenen dienten die Zeitungen der Landsmannschaften. Das "Ostpreußenblatt" erreichte 1959 eine Auflage von 128000, " Die Pommersche Zeitung" 53 000 (1960), "Die Sudetendeutsche Zeitung" 25 000 (1960) und "Unser Oberschlesien" 22 900 (1962). Als Lesemotive standen an erster Stelle: Heimaterinnerungen, landsmannschaftlich-familiäre Nachrichten, Unterhaltung, Lastenausgleich und Soziales.[34] Parteipolitisch hatten sich die meisten Vertriebenen der SPD oder den Unionsparteien zugewandt.

Gelungene oder erzwungene Integration?

Mitte der achtziger Jahre mehrten sich Stimmen in der sozialhistorischen Migrationsforschung, die den Integrationsprozess der Vertriebenen nicht mehr uneingeschränkt positiv beurteilten.[35] Zu schnell hatten die bedrückenden Erfahrungen ins Private oder in die abgeschlossenen Kreise von Vertriebenenverbänden gedrängt werden müssen; zu schmerzhaft war die Zurückweisung durch eine Öffentlichkeit, die nicht mit Leidensgeschichten jener bedrängt werden wollte, die persönlich am härtesten für die NS-Verbrechen zu bezahlen hatten. Die traumatischen Erlebnisse vieler Flüchtlinge und Vertriebenen sind bis heute nicht verarbeitet.[36] Das Schweigen drückte weniger eine gelungene als eine erzwungene Integration aus: Man schwieg, um nicht als "Fremder" in Distanz zu den Einheimischen zu geraten; man schwieg auch, weil man nicht mehr an die Vergangenheit denken wollte, tauchten da doch Schuldgefühle auf, weil man die Heimat und die Gräber der Eltern "im Stich gelassen" hatte. Auch Schamgefühle spielten eine Rolle, weil man in den Anfangsjahren in der neuen Heimat so abhängig und hilfsbedürftig war. Dem Stolz von Politikern - "Wir haben sie integriert!" - entsprach der Stolz der Betroffenen: "Wir haben es geschafft!"

In den ersten Jahren war das Anderssein der Flüchtlingskinder nicht zu übersehen gewesen. Die " Langeoog-Studie" - so benannt, weil sie von 1946 bis 1950 insgesamt 12 500 Kinder (die Hälfte von ihnen aus vertriebenen Familien) untersuchte, die zu Erholungskuren auf die Insel geschickt wurden - stellte für 1946 fest: Das Untergewicht von Vertriebenenkindern betrug bis zu 20 Prozent, das Längenwachstum blieb deutlich hinter der Norm zurück, Eiweißmangel führte zu Haltungsschäden, falsche Ernährung zu schlechten Zähnen, Rachitis und erhöhter Anfälligkeit für infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose. Nicht alle verfügten über Seife, ihre Haut war oft schmutzig, verkrustet, welk, die Kinder wirkten alt. Sie zeigten einen Mangel an Selbstvertrauen, waren misstrauisch, ernst, schweigsam und litten an mangelnder Konzentrationsfähigkeit, an Schlafstörungen, Alpträumen, Bettnässen, Sprachstörungen, Schwindel und Kopfschmerzen - all jene Symptome, die man heute als Posttraumatisches Belastungssyndrom bzw. post-traumatic stress disorder (PTSD) bezeichnet.[37]

Die "Langeoog-Studie" zeigte, dass die Kinder ab 1949 weniger von den Eindrücken der Vergangenheit erzählten, bei einigen trat sogar Erinnerungsverweigerung auf. Stattdessen drehten sich ihre Erzählungen um die Gegenwart, vor allem um aktuelle Mangelsituationen.[38] Die Kinder waren nun vor allem mit Assimilierungsprozessen beschäftigt, um einer Ausgrenzung zu entgehen: Sie lernten den bayerischen Dialekt, um für ihren schlesischen nicht mehr als "Saupreiß" beschimpft zu werden; sie legten die Tracht der Ungarndeutschen ab, um in Hessen nicht mehr als "Zigeuner" verachtet zu werden; sie hörten auf, die alte Heimat zu erwähnen, und konzentrierten sich aufs Lernen und Arbeiten. Das Land befand sich im Rausch des Wirtschaftswunders. "In ihm wurden Produktivität, Modernität, Jugend, wirtschaftliche Integration und innenpolitische Stabilität zur Obsession", schreibt der amerikanische Historiker Tony Judt.[39]

Die Kinder, denen die Funktion des Bindeglieds zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zugewiesen wurde, gerieten in einen inneren Spagat. Die Schule und die neue Heimat setzten sie unter starken Anpassungsdruck, und auch die Eltern wollten mit ihren Kindern beweisen, dass "wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimischen". Aber die Eltern empfanden die Aufgabe des alten Dialekts oder die Übernahme neuer Sitten auch als Verrat. So pendelten die Kinder zwischen zwei Welten, zwei sich ausschließenden Anforderungen, denen sie nicht gleichzeitig genügen konnten. Innerlich fühlten

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 115 sie sich oft zerrieben, erfüllten sie äußerlich auch alle Erwartungen.

Eine psychologische Studie kam 1964 zu dem Ergebnis, dass der körperliche Entwicklungsstand der Flüchtlingskinder durch die Versorgungsengpässe während und nach der Flucht "vermutlich nicht dauerhaft" beeinträchtigt worden sei. Krankhafte Befunde seien seltener als bei einheimischen Altersgenossen, schulische Leistungen sogar besser, und mögliche frühkindliche traumatische Erlebnisse hätten zu keiner Beeinträchtigung geführt.[40] Diese Diagnose entsprach der damals gängigen psychologischen Lehrmeinung, dass Menschen in Extremsituationen sehr stark belastbar seien und der Organismus praktisch unbegrenzte Ausgleichsmöglichkeiten besitze. Kinder verfügten danach über eine außerordentliche Elastizität, konnten schnell vergessen und sogar von Bombenangriffen und dem Anblick von Toten in ihrer Seele wenig tangiert werden, solange sie bei der Mutter seien. Einige vermuteten in der Tatsache, dass Kinder scheinbar so gut mit den Ereignissen zurechtkämen, sogar eine Spätfolge der NS-Erziehung, die das Ideal "harter" Maskulinität gepredigt hatte.[41]

Diese Auffassungen über die Belastbarkeit von Menschen wurden erst durch die Erfahrungen bei der Behandlung von Holocaust-Überlebenden ab Ende der fünfziger Jahre in Zweifel gezogen. 1961 schrieb Walter Ritter von Baeyer, ehemals beratender Psychiater der Wehrmacht und von 1955 bis 1972 Leiter der Universitätsnervenklinik in Heidelberg: "Der alte Erfahrungssatz - der Kern der bis dato herrschenden Lehre -, dass der Mensch unglaublich viel verträgt, ohne dauernden Schaden an seiner Seele zu nehmen, gilt hier nicht mehr. Davor dürfen wir nicht länger die Augen verschließen."[42] Seit den achtziger Jahren ist PTSD als Krankheitsbild beschrieben: Jemand muss in Lebensgefahr gewesen sein, unter wiederkehrenden Erinnerungsfetzen, unwillkürlichem Wiedererleben, Symptomen eines erregten Zustands wie Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Alpträumen etc. leiden und ein Verhalten entwickeln, das ihn Situationen vermeiden lässt, die an das Trauma auslösende Ereignis gedanklich oder emotional erinnern könnten. Derartige Symptome zeigen sich sogar noch Jahrzehnte nach dem auslösenden Ereignis. So wiesen etwa ein Drittel der norwegischen und niederländischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs noch 45 Jahre nach Kriegsende eine partielle PTSD auf.[43] Bei alternden Opfern des Holocaust ergab sich in den achtziger Jahren sogar eine PTSD-Beeinträchtigung von 57 Prozent.

Das Psychologische Institut in Hamburg hat 1999 erstmals eine Untersuchung unter 270 Vertriebenen durchgeführt, davon 205 Frauen. Diese waren bei der Flucht zwischen neun und 21 Jahre alt (diebefragten Männer zwischen sieben und 15). 82 Prozent hatten gehungert, 70 Prozent waren durch Beschuss und Bombardierung in Todesnähe geraten, mehr als die Hälfte der Frauen war vergewaltigt worden. Am schrecklichsten wurden Vergewaltigungen, Hinrichtungen, der Anblick von verstümmelten Toten und der Tod von Familienangehörigen erlebt. Noch zur Zeit der Befragung litten 62 Prozent unter traumabezogenen Symptomen; bei 4,8 Prozent wurde ein voll ausgeprägtes, bei 25 Prozent ein partielles PTSD festgestellt.[44]

Weit überproportional sind Vertriebene und ihre Kinder auch unter den Patienten von Schmerztherapeuten und Psychoanalytikern zu finden. Zwar gibt es noch keine systematischen Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen chronischen Schmerzen, Beziehungsstörungen, mangelndem Selbstwertgefühl und Schädigungen während Flucht und Vertreibung. Doch einige Analytiker haben erste Schlussfolgerungen gezogen.[45] Kennzeichnend für die meisten Vertriebenen (und viele ihrer Kinder) ist ein Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie fühlen sich unruhig, getrieben, unfähig, sich irgendwo langfristig niederzulassen. Sie zeigen tendenziell eine hohe Mobilität, oder aber - gerade umgekehrt - das zwanghafte Bestreben, sich mit dem Bau eines Hauses festzukrallen. Auch im Beruf und in persönlichen Beziehungen zeigt sich, dass Vertriebene sich oft nur unter Vorbehalt einlassen - nach dem Motto: "Ich kann immer jederzeit wieder gehen." Nirgends fühlen sie sich auf Dauer heimisch, und in der Tiefe ihres Herzens bleiben sie fluchtbereit.

Dass diese Phänomene erst in jüngster Zeit ins Bewusstsein rücken, liegt auch daran, dass viele Vertriebenenkinder ins Rentenalter kommen. Plötzlich werden sie sich bewusst, wie weit sie mit einer

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überzogenen Leistungsorientierung, mit protestantischer Arbeitsethik und Karrieredrang ein brüchiges Selbstwertgefühl zu überdecken versuchten und sich in die Arbeit flüchteten, obwohl ihnen berufliche Erfolge häufig nur bedingte Befriedigung verschafften. Sie haben im Leben oft viel erreicht, fühlen sich aber aufgrund emotionaler Defizite und schwachen Selbstbewusstseins unzufrieden und unausgefüllt. Insofern sind noch die Kinder mit der Hypothek der Eltern belastet. Es trifft eben nicht zu, dass sich das Problem der Flucht durch das Ableben der Erlebnisgeneration von selbst erledigt. Im Unterschied zur Erlebnisgeneration ist die Generation der Kinder nicht mehr dazu erzogen worden, "die Zähne zusammenzubeißen". Das Individuum muss sich nicht immer als stark, hart und als Herr der Situation beweisen. Jemand, der sich sensibel mit seinen beschämenden, demütigenden Erlebnissen auseinandersetzt, erfährt neuerdings sogar eher Wertschätzung als einer, der Probleme hinter einer stoischen Fassade verbirgt.

Drei Phasen kollektiven Erinnerns

Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs gehörte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den ersten, die von einem "kollektiven Erinnern" und einem "kollektiven Gedächtnis" sprachen. Seine zentrale These besagt - sehr zugespitzt -, dass sich jede Gemeinschaft die Vergangenheit schafft, die sie für ihr Selbstbild braucht. Die Vergangenheit wird wie ein Reservoir aus Symbolen, Zeichen, "ewigen" Wahrheiten benutzt, aus denen sich das kollektive Gedächtnis identitätsstiftende Bezugspunkte heraussucht, um aktuellen und zukünftigen Zielsetzungen der Gesellschaft Sinn zu unterlegen. Aus diesem gemeinsamen Erinnern, so Jan Assmann in Anlehnung an Halbwachs, entstehe kollektive Identität: "Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das wir 'kollektive Identität' nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis."[46]

Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft geht es dem kollektiven Erinnern nicht um eine detailgerechte Rekonstruktion von Fakten. Vielmehr greift das "gemeinsame Gedächtnis" auf zentrale Codes, Orte, auf Archetypen, Mythen, Feste und Riten zurück, die historische Differenzierungen weitgehend unberücksichtigt lassen. "Es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen und unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten und Projektionen fähig (. . .) und rückt die Erinnerung ins Sakrale", erläutert der französische Historiker Pierre Nora.[47]

Wenn die Deutschen nun nach Jahrzehnten der Tabuisierung die Vertreibung wieder zu einem Bezugspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses machen, stellt sich die Frage: Welchen veränderten Sinn gibt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung unserem Gemeinschaftsgefühl? Inwiefern verändert sich unsere kollektive Identität? Nach den sechziger Jahren erleben wir augenblicklich die zweite Korrektur in der Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung. Für Konrad Adenauer lag im festen Bündnis mit dem Westen die Antwort auf die Bedrohung durch die Sowjetunion. Für ihn war der Antikommunismus die zentrale Lehre aus dem Nationalsozialismus: "Ich bin seit Jahr und Tag davon ausgegangen, dass das Ziel Sowjetrusslands ist, im Wege der Neutralisierung Deutschlands die Integration Europas zunichte zu machen", erklärte er im April 1952.[48] Adenauer wollte keine Sonderstellung durch Neutralität riskieren, die Bundesrepublik vielmehr fest im Westen einbinden und als Bollwerk des christlichen Abendlandes gegen die atheistische Sowjetunion ausrichten. Diese Politik der Westintegration hat ihm den Vorwurf eingetragen, der Wiedervereinigung zu wenig Gewicht beizumessen und unsensibel für den Verlust der Ostgebiete zu sein. Tatsächlich haben zunächst sehr viele Vertriebene die SPD gewählt, denn bis in die sechziger Jahre hinein warben die Sozialdemokraten vor Wahlen mit einem Deutschland in den Grenzen von 1937.

Aber auch Adenauer kam den Vertriebenen, die wenige Jahre nach der Flucht noch massenhaft zu " Tagen der Heimat" strömten, entgegen. Auf einer Kundgebung am Berliner Funkturm erklärte er Anfang Oktober 1951: "Lassen Sie mich mit letzter Klarheit sagen: Das Land jenseits der Oder-Neiße gehört für uns zu Deutschland."[49] Um sich einer Zweidrittelmehrheit für den Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sicher sein zu können, nahm er 1953 auch den BHE in die Koalition,

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 117 obwohl an dessen Spitze Politiker mit nationalsozialistischer Vergangenheit standen. Adenauer wusste, dass er mit der Forderung nach Rückgewinnung der Ostgebiete bei den Alliierten auf Widerspruch stieß. Schon im November 1950 hatten ihm die drei Hohen Kommissare in Zusammenhang mit den Verhandlungen über die EVG unmissverständlich klargemacht, dass sie, wenn sie von Wiedervereinigung sprechen, nicht an die Grenzen des Reiches von 1937 dächten, sondern die " Wiedervereinigung der östlichen Zone und Berlins mit der Bundesrepublik" im Sinn hätten.[50] Faktisch endete Deutschland im Osten also damals bereits an Oder und Neiße.

Wenn die Grenzfrage in der Öffentlichkeit dennoch offen gehalten wurde, hatte das taktische Gründe. 1951 glaubten 66 Prozent der Bevölkerung, die Ostgebiete würden irgendwann wieder an Deutschland fallen. Auch um deren Erwartungen entgegenzukommen, finanzierte Vertriebenenminister Theodor Oberländer (BHE) eine mehrbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa" - die erste von einer Historikerkommission seit 1951 erarbeitete wissenschaftliche Abhandlung über Flucht und Vertreibung, die vor allem auf Augenzeugenberichten, privaten Briefen und Umfragen fußt. Sie erschien zwischen 1953 und 1961. Kritiker monierten, dass der historische Kontext fehlte, und der Historiker Theodor Schieder urteilte, dass "das ganze Spektakel (. . .) ja nichts weiter als der Versuch ist, die Volksgruppen aus dem allgemeinen Gericht über die NS-Politik auszunehmen, unter das wir als sogenannte Binnendeutsche uns ja ohne weiteres stellen". Die deutschen Leiden wurden herausgestrichen und gleichzeitig das Erscheinen einer 1000-seitigen Studie über die Volkstumspolitik des NS-Staates verhindert. Man befürchtete, sie könnte von den Alliierten als "Entschuldigungszettel" für die Vertreibung genutzt werden.[51]

Was der Philosoph Hermann Lübbe 1983 anlässlich der 50. Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtübernahme als Maßnahme "kommunikativen Beschweigens" lobte, weil es der Mehrheit des Volkes, die mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen sei, den Übergang in die Demokratie ermöglicht habe, stieß bei der jungen Generation in den sechziger Jahren auf Widerspruch. Aufgewühlt von den Prozessen gegen KZ-Aufseher in den Jahren 1963 bis 1965 und dem Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem begann die 68er-Generation das Selbstverständnis der Gesellschaft in Frage zu stellen. Es empörte die Söhne und Töchter, dass ihre Eltern sich schon 1946 über das Unrecht der Alliierten gegenüber den Deutschen (die Entnazifizierung) mehr erregt hatten als über die Verbrechen der Deutschen. Es empörte sie, dass die Schuldigen rasch amnestiert, die Verwicklung von Mitläufern erst gar nicht untersucht und Organisationen wie die Wehrmacht in toto rehabilitiert worden waren. Es empörte sie auch, dass ökonomische Prosperität Vorrang hatte vor einer juristischen Bewältigung der NS-Vergangenheit und der Antikommunismus dazu diente, von der Auseinandersetzung mit der Geschichte abzulenken.

Im Laufe der sechziger Jahre fokussierte sich die Debatte auf die Frage der deutschen Schuld. Der Holocaust wurde, so der Publizist Karl Heinz Bohrer, "zum archimedischen Punkt der deutschen Geschichte". War für Adenauer das Jahr 1945 der entscheidende Bezugspunkt gewesen - und damit deutsches Leid und die Kritik am kommunistischen Unrechtsregime in Mitteleuropa -, so wählten die 68er gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt das Jahr 1933 als Ausgangspunkt ihrer Erinnerungspolitik. Brandt war der erste Kanzler, der mit dem Kniefall vor dem Warschauer Mahnmal für die Gefallenen im Ghetto-Aufstand 1943 öffentlich Reue zeigte. In dieser zweiten Phase kollektiven Erinnerns standen Fragen nach Schuld und Verantwortung der Nachgeborenen im Vordergrund. Doch indem sie die eine Einseitigkeit aufhob, verfiel die Debatte nach 1968 in eine andere: Die deutsche Nation, so die Logik, habe sich moralisch selbst vernichtet. Die Deutschen wurden nur noch verächtlich als Tätervolk wahrgenommen. Es galt als politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen, während es als korrekt galt, den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die NS-Verbrechen zu akzeptieren. Viele sahen bereits im Erinnern an Vertreibung einen potentiell revanchistischen Akt, der einer Aussöhnung mit den Nachbarn entgegenstehe.

Um das politische Eis gegenüber den kommunistischen Staaten zu brechen, waren die Anhänger von Brandts Ostpolitik zu vielen Zugeständnissen bereit. So übernahmen sie in der nach dem Warschauer Vertrag 1970 gegründeten deutsch-polnischen Schulbuchkommission in Bezug auf die Vertreibung

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 118 die polnische Sicht, empfahlen für deutsche Schulbücher die Benutzung des Begriffs " Bevölkerungstransfer" und ließen die wilden Vertreibungen ebenso unerwähnt wie die inhumane Praxis bei den organisierten Zwangsaussiedlungen.[52] Ein endloser Streit entzündete sich auch um die Ortsnamen. Liberale und Linke quälten sich mit dem polnischen "Wroc|law" und "Szczecin", weil ihnen das deutsche "Breslau" und "Stettin" als Ausdruck revanchistischer Gesinnung erschien.

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Wiedervereinigung Deutschlands befinden wir uns nun offensichtlich in einer dritten Phase kollektiven Erinnerns. Intensiver als zuvor stellt sich die Frage, was nationale Identität konstituiert, die Ost- und Westdeutsche "ein Volk" sein lässt. Dabei stellt sich heraus, dass neben der gemeinsamen Sprache und kulturellen Tradition auch die Erfahrungen von Krieg und Vertreibung zu den wichtigen gesamtdeutschen Klammern zählen. Seit 1989 ist das Land nicht nur wiedervereint. Es hat sich auch nach Osten verlagert. Die neue gesamtdeutsche Ostgrenze an Oder und Neiße ist nicht mehr undurchlässig. Dadurch, so der frühere Staatsminister für Kultur und Medien Julian Nida-Rümelin, werde es leichter, "das kulturelle Erbe im mittleren und östlichen Europa wieder selbstverständlicher zu sehen und es als Teil auch der deutschen Kulturgeschichte zu begreifen"[53]. Begegnungen sind nicht mehr geprägt durch offiziöse Geschichtsdarstellungen und obligatorische Reiseführer. Hinter der Gegenwart von Wroc|law eröffnet sich die Vergangenheit von Breslau, neben die ukrainische Literatur über Ostgalizien treten die deutschsprachigen Romane von Joseph Roth. Endlich ermöglichen private Begegnungen einen authentischen Meinungsaustausch, und zunehmend werden die bis dahin weitgehend entlang nationaler Fronten verlaufenden Diskussionen in Wissenschaft, Kultur und Politik durch individuelle Standpunkte ersetzt.

Angesichts dieser äußeren Umstände beschleunigt sich auf beiden Seiten der Grenzen ein Prozess des Umdenkens: So wie in Deutschland die einseitige Selbstwahrnehmung als Täternation einem differenzierteren Selbstbildnis wich, erhalten auch in Osteuropa die gestanzten, mythologisierten Bilder von den Opfervölkern Risse. Tschechische Historiker stellen die Frage, ob es sich bei der tschechischen Macht unter Staatspräsident Emil Hacha im "Protektorat Böhmen und Mähren" um Kollaboration gehandelt habe. Polen debattiert angesichts der Ermordung der Juden 1941 im ostpolnischen Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger die Mitschuld am Holocaust. Beide Länder befassen sich nun schon seit Jahren mit ihrer Rolle bei derVertreibung von Deutschen, Ukrainern und Ungarn bei Kriegsende.

In all diesen Fällen geht es nicht nur um die Aufdeckung bisher unbekannter oder tabuisierter historischer Fakten. Was diese Debatten so schmerzhaft, emotionsbeladen und mühselig macht, sind die damit einhergehenden Veränderungen im kollektiven Gedächtnis, die ganz subjektiven Erinnerungen Rechnung tragen und nicht selten von den Aussagen der großen Geschichte abweichen. Bleiben diese Einzelerfahrungen mit ihren Orten und Namen aber unberücksichtigt oder werden sie zu schnell in allgemeinere Erfahrungen übergeleitet, drohen wichtige Chancen für den gesellschaftlichen Integrationsprozess ungenutzt zu bleiben: Dann kann weder die Bitterkeit von Bürgern gemildert werden, die sich in ihrem Leid übergangen fühlen, noch können Erzählungen durch die Rekonstruktion des ganz Konkreten korrigiert werden.

Da es sich bei der augenblicklichen Debatte über Vertreibung zweifellos in erster Linie um einen Dialog der Deutschen mit sich selbst handelt, müsste das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in erster Linie auch den Bedürfnissen der Deutschen Rechnung tragen: den Erzählungen über deutsches Leid (wieder) Raum schaffen, die Geschichte des deutschen Ostens (wieder) in Erinnerung rufen, der ganz spezifischen Verflechtungvon Täter-Opfer-Konstellationen nachgehen. Zweifellos wäre der geeignetste Ort dafür Berlin. Die Stadt ist nicht nur ein Symbol für Hitlers Rassenwahn; Berlin war auch Schauplatz des Widerstands und ein Ort, an dem Zehntausende von Flüchtlingen nach dem Krieg Unterschlupf fanden. Gerade weil ein Zentrum in Berlin dem Leid der deutschen Vertriebenen endlich die entsprechende Anerkennung zukommen ließe, würde es keineswegs die Relativierung von fremdem - polnischem, jüdischem, russischem - Leid nach sich ziehen. Denn entgegen einer weit verbreiteten Annahme müssen Opfergruppen nicht notwendigerweise in Konkurrenz zueinander

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 119 stehen. Wirkliche Empathie schließt die Anerkennung fremden Leids ein. Und so, wie die Bilder aus Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre viele sensibler werden ließen für die Vertreibungsschicksale in den eigenen Familien, kann die Beschäftigung mit dem deutschen Leid auch ihre Einfühlung in die Nachbarn fördern.

Zwar war schon vor 1989 ein Anstieg der Reisen von Betroffenen in die früheren Heimatorte zu verzeichnen; doch nach Öffnung der Grenzen hat sich diese Tendenz verstärkt. Fuhren früher fast ausschließlich Busse mit Angehörigen der Erlebnisgeneration, machen sich inzwischen ganze Familien auf den Weg: Söhne, Töchter und Enkel, welche die Geburtsorte der Eltern und Großeltern und die Wurzeln der Familien kennen lernen wollen - in Ostpreußen, Schlesien, im Sudetenland, im Baltikum, in Bessarabien, Wolhynien, Rumänien, Ungarn, Russland, in Serbien oder in der Slowakei. Auch das ist ein Teil der Veränderung des kollektiven Erinnerns: Mit den Familiengeschichten kehren die Orte des verlorenen Ostens in das Gedächtnis zurück. Der Blick richtet sich nicht mehr nur nach Westen und Süden, sondern auch - wieder - nach Osten und Südosten: nicht als Räume einer neuen Begierde, sondern als Räume der Erinnerung.

In den Zeugnissen, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigt sich noch manche Bitterkeit: von inzwischen sehr alten Menschen, die nicht nur die Heimat, sondern auch Ehepartner und Kinder verloren haben und die sich in der neuen Umgebung und in neuen Ehen nie mehr vollständig einrichteten. Dominierend sind jedoch andere Sichtweisen. Zum Teil versuchen sich Menschen endlich durch das Niederschreiben von traumatischen Erinnerungen zu entlasten. Zum Teil geben sie ihrer Trauer Ausdruck, wenn sie sich bei Reisen in die Geburtsorte den unwiederbringlichen Verlust noch einmal vor Augen führen: eine tiefe Kränkung, die in der Regel jedoch nicht mehr mit Wut und Hader gegenüber dem Schicksal verbunden, sondern zu einer zukunftslosen Erinnerung geworden ist. Bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation schließlich, die zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, steht in Ost- wie in Westdeutschland die Entdeckung von bisher tabuisierten und ausgeklammerten Familiengeschichten im Vordergrund, die Suche nach Wurzeln, nach geheimnisvollen, nicht erklärbaren Familienlegenden, die Suche nach Identität.

Und plötzlich stellt sich heraus, dass die Interessen der Kinder und Enkel von Vertriebenen auf frappierende Weise mit den Interessen gleichaltriger Polen, Tschechen, Ungarn oder Juden übereinstimmen: Die einen wie die anderen forschen nach Tiefenschichten von Orten und Landschaften und Geschichten, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten worden sind.[54] Die einen wie die anderen suchen die weißen Flecken in den Geschichten ihrer Familien und Völker auszufüllen. Diese Nachkriegskinder suchen nach untergegangenen Vergangenheiten, in denen die Geschichte ihren ganzen Reichtum und ihre ganze Vielfalt offenbart und alle Kulturgüter für alle zugänglich sind. Insofern enthält der augenblickliche Prozess im Kern nichts Beängstigendes, aber viel Befreiendes, Aufklärerisches, Heilendes.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41, 2003) (http://www.bpb.de/publikationen/7GE5AG,0, Kollektive_Erinnerung_im_Wandel.html)

Fußnoten

1. Verena Dohrn, Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa, Berlin 2000; Martin Pollack, Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Frankfurt/M. 2001; Ralph Giordano, Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land, Köln 1994; Christian von Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 - 1947, Stuttgart 1997; Freya Klier, Verschleppt bis ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern, Berlin 1998; Ulla Lachauer, Ostpreußische Lebensläufe, Reinbek 1998; Roswitha Schieb, Reise durch Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls, Berlin 2000; Andreas

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Kossert, Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001; Matthias Kneip, Grundsteine im Gepäck. Begegnungen mit Polen, Paderborn 2002; Helga Hirsch, Die Rache der Opfer, Berlin 1998. 2. Göttingen 2002. 3. München 2002. 4. Vgl. Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe, London 2002, S. 3. 5. Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20.Jahrhundert, Berlin 2000, S. 70. 6. Vgl. Joachim Rogall (Hrsg.), Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, Berlin 1996, S. 373. 7. Klaus-Dietmar Henke, Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Frankfurt/M. 1995, S. 58ff. 8. Zit. bei N. Naimark (Anm. 4), S. 110. 9. Zit. bei K.-D. Henke (Anm. 7), S. 66. 10. Ebd., S. 77f. 11. Vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 307ff. 12. N. Naimark (Anm. 4), S. 137. 13. Vgl. M. Mazower (Anm. 5), S. 317. 14. Für Deutschland in den Grenzen von 1937 wird von mindestens zwei Millionen Vergewaltigungsopfern ausgegangen. Vgl. Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas, Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg-Berlin-Bonn 2002, S. 122. 15. Vgl. Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.), Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem, Stuttgart 2002, S. 17. 16. Vgl. Donauschwäbische Kulturstiftung (Hrsg.), Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944 - 1948, München 2000, S. 66. 17. Vgl. ebd., S. 312. 18. Vgl. Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. III, München 1984, S. 64 E ff. 19. Vgl. W 20. Dt. Übersetzung in: Der "Brünner Todesmarsch" 1945. Die Vertreibung und Misshandlung der Deutschen aus Brünn, Schwäbisch Gmünd 1998, S. 35. 21. Vgl. Jaroslaw Kucera, Odsunove ztraty sudetonemeckeho obyvatelstva, Prag 1992, zit. nach N. M.Naimark (Anm. 4), S. 118. 22. Vgl. Agnes Tóth, Migrationen in Ungarn 1945 - 1948, München 2001, S. 175. 23. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1963, S. 331. 24. Zit. nach: Haus der Heimat (Anm. 15), S. 26. 25. Vgl. Reinhold Schillinger, Der Lastenausgleich, in: W.Benz (Anm. 7), S. 232. 26. Vgl. Die Flucht der Deutschen, Spiegel-Spezial, 2/2002, S. 125. 27. Vgl. R. Schillinger (Anm. 25), S. 240. 28. Vgl. Andreas Malycha, "Wir haben erkannt, dass die Oder-Neiße-Grenze die Friedensgrenze ist ". Die SED und die neue Ostgrenze 1945 bis1951, in: Deutschland Archiv, 33 (2000) 2, S. 193 - 207. 29. Zit. nach: Die Flucht der Deutschen (Anm. 26), S. 120. 30. Vgl. Michael Schwartz, Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv, 30 (1997) 2, S. 177 - 195; ders., Tabu und Erinnerung. Zur Vertriebenen-Problematik in Politik und literarischer Öffentlichkeit der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (2003) 1, S. 89. 31. Vgl. Hermann Weiß, Die Organisationen der Vertriebenen und ihre Presse, in: W. Benz (Anm. 7), S. 248. 32. Vgl. Dietrich Strothmann, "Schlesien bleibt unser": Vertriebenenpolitik im Rad der Geschichte, in: W. Benz (Anm. 7), S. 267. 33. Joseph Foschepoth, Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: W. Benz (Anm. 7), S. 105. 34. Vgl. H. Weiß (Anm. 31), S. 260. 35. Vgl. u.a. P. Lüttinger, Der Mythos der schnellen Integration, in: Zeitschrift für Soziologie, 15 (1986), S. 20 - 36.

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36. Vgl. u.a. H.-W. Rautenberg, Die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 53/1997, S. 34 - 46. 37. Vgl. E. Lippelt/ C. Keppel, Deutsche Kinder in den Jahren 1947 bis 1950, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, (1950) 9, S. 212 - 322. 38. Vgl. Volker Ackermann, Das Schweigen der Flüchtlingskinder, unveröff. Ms., S. 19. 39. Vgl. Tony Judt, Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit, (1993) 6, S. 100. 40. Vgl. Ursula Brandt, Flüchtlingskinder. Eine Untersuchung zu ihrer psychischen Situation, München 1964, S. 80 - 83 und 151 - 154. 41. Vgl. H. Stutte, Ärztliches Problem des Flüchtlingskindes, in: Unsere Jugend, (1950) 2, S. 214ff. 42. Zit. nach V. Ackermann (Anm. 38), S. 23. 43. Zit. nach Frauke Teegen/Verena Meister, Traumatische Erfahrungen deutscher Flüchtlinge am Ende des II. Weltkriegs und heutige Belastungsstörungen, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, (2000) 13, S. 112 - 124. 44. Vgl. ebd., S. 116. 45. Vgl. u.a. Günter Jerouschek, Vertreibungsschicksale in Psychoanalysen, Vortrag im Mai 2002 in Leipzig; Uwe Langendorf, Heimatvertreibung - das stumme Thema, Vortrag im Oktober 2002 in Berlin. 46. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002(4); Hervorhebung im Original. 47. Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1998, S. 13. 48. Zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2000, S. 148. 49. Keesing's Archiv der Gegenwart, 1951, S. 3146. 50. J. Foschepoth (Anm. 33), S. 107. 51. Zit. nach: Mathias Beer, Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 2, S. 376; ders., Die Dokumentation der Vertreibung der deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 50 (1999) 2, S. 111. 52. Vgl. Krzysztof Ruchniewicz, Die Problematik der Aussiedlung der Deutschen aus polnischer und deutscher Sicht in Vergangenheit und Gegenwart, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 10 (2002). 53. Zit. nach: Wie viel Geschichte liegt im Osten?, hrsg. vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2003, S. 10. 54. Vgl. z.B. Martha Kent, Eine Porzellanscherbe im Graben, Zürich 2003; Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten, München 2003; Michael Zeller, Die Reise nach Samosch, Cadolzburg 2003.

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Die Akten schließen? Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit - zwei Diktaturen in Deutschland

Von Christoph Kleßmann 22.4.2008 Christoph Kleßmann war Professor für Zeitgeschichte an den Universitäten Bielefeld und Potsdam, und von 1996 bis zur Emeritierung 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Am bekanntesten sind zwei seiner Bücher zur deutschen Geschichte nach 1945 "Die doppelte Staatsgründung" und "Zwei Staaten, eine Nation".

Wird die DDR-Diktatur verharmlost? Und warum begann die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erst so spät? Die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit ist nicht einfach. Christoph Kleßmann erklärt warum.

Als die amerikanischen Truppen im April 1945 große Teile des Deutschen Reiches im Westen bereits besetzt hatten, schrieb die amerikanische Journalistin Martha Gelhorn in einer ihrer Reportagen mit bitterer Ironie über ihre deutschen Gesprächspartner: "Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben (...) Oh, die Juden? Tja, es gab eigentlich in dieser Gegend nicht viele Juden (....)Wir haben nichts Unrechtes getan; wir sind keine Nazis." (In Fußnote: Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948, gesammelt von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/M. 1990, S.9).

Von dem frenetischen Jubel der großen Masse des Volkes für den "Führer" wollten nach 1945 die meisten Deutschen nichts mehr wissen. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis sich auch in der breiteren Öffentlichkeit ein anderes, kritisches Bild vom Nationalsozialismus und seiner Verwurzelung in der deutschen Gesellschaft durchzusetzen begann. Noch 1955 hielten in einer Allensbach Umfrage 48 Prozent der Befragten Hitler für einen der größten deutschen Staatsmänner.

Als im Herbst 1989 die SED-Diktatur zusammenbrach und ein Jahr später die DDR von der historischen Bühne verschwand, war die Situation eine völlig andere. In einer im Wesentlichen friedlich verlaufenen Revolution befreiten sich die Ostdeutschen selber von ihrem marode gewordenen Regime. Die Beseitigung des Nationalsozialismus war dagegen erst in einem blutigen Weltkrieg dank der gewaltigen militärischen Überlegenheit der alliierten Mächte gelungen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 123 Umgang mit den zwei Vergangenheiten

Angesichts der ungeheuren nationalsozialistischen Verbrechen haben sich die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR zunächst schwer getan mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Erst 1952 wurde in München das Institut für Zeitgeschichte gegründet, das intensiv die NS-Geschichte erforschte, während das an den Universitäten noch kaum geschah und in der Öffentlichkeit darüber meist geschwiegen wurde. Nach einem verspäteten Start ist dann jedoch ohne Frage viel auf diesem Feld geschehen.

Nach 1990 tauchte bei manchen Beobachtern die Sorge auf, unter die NS-Zeit würde nun der oft geforderte "Schlussstrich" gezogen und alle historisch-politischen Energien würden sich auf die kommunistische Nachkriegszeit richten, über die nach Öffnung der Archive plötzlich riesige Mengen von Archivmaterial zur Verfügung standen. Diese Sorge erwies sich zwar als unbegründet. Aber inwiefern konnte man 1990 aus den Fehlern der Zeit nach 1945 lernen?

Wer genauer hinsieht, wird vor allem die gravierenden Unterschiede im Umgang mit den beiden diktatorischen Vergangenheiten feststellen. Schon im Gefolge der friedlichen Revolution und der Wiederherstellung der deutschen Einheit gab es eine breite öffentliche Diskussion über die DDR. Zahlreiche neue Forschungsinstitutionen, Lehrstühle, Stiftungen, Kommissionen, Gedenkstätten wurden geschaffen. 1991 setzte der Deutsche Bundestag eine Enquetekommission ein, die sich intensiv mit den Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen der SED-Diktatur befasste und ihre Ergebnisse (mit Fachgutachten und Stellungnahmen von Zeitzeugen) in 18 Bänden veröffentlichte.

Mit der Erstürmung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) durch Bürgerrechtsgruppen im Januar 1990 und der Sicherung der Akten stand plötzlich neben der SED-Überlieferung ein einmaliges Archivmaterial zur Verfügung, das Einblick in die geheimsten Winkel der Macht gab. Stasi-Akten machten erstmals die perversen Fantasien dieser Geheimpolizei und das unglaubliche Ausmaß der Überwachung der ostdeutschen Bevölkerung in vollem Umfang deutlich. Da das zuvor unbekannt war, stürzten sich die Massenmedien, aber zum Teil auch die Historiker auf diese Quellen und DDR- Geschichte hatte Hochkonjunktur in der zeithistorischen Forschung. Die DDR, seit 1972 ein trotz fehlender demokratischer Legitimation international anerkannter Staat mit zunehmend gewachsenen Kontakten zu Westdeutschland, erschien nun vor allem als "Stasi-Staat". Solche zugespitzten Urteile waren charakteristisch für die öffentliche Debatte in den 1990er Jahren. In der Diskussion um die Vergangenheit sind aber mittlerweile differenziertere Positionen in den Vordergrund gerückt.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Schaut man auf die verspätet begonnene, aber intensive Erforschung der NS-Vergangenheit in der alten Bundesrepublik, so lassen sich einige inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Zunächst gab es eine starke Konzentration auf die politische Geschichte, auf Hitler und die Außenpolitik, aber auch auf den vorwiegend von Militärs und konservativen Kräften getragenen Widerstand vom 20. Juli 1944. Der Widerstand der Arbeiterschaft wurde hingegen kaum berücksichtigt. Das Konzept des Totalitarismus, das die strukturelle Ähnlichkeit von NS- und kommunistischer Diktatur hervorhob, spielte in der Frühphase der Aufarbeitung eine wichtige Rolle. Ohne Frage war der Nationalsozialismus eine totalitäre Diktatur, die sämtliche Lebensbereiche erfassen und umgestalten wollte.

In vielen Feldern konnten sich die Nationalsozialisten jedoch auf Traditionen und Zustimmung stützen und diese nun mit einer rassistischen Ideologie aufladen. Andererseits gab es in der Gesellschaft und im kulturellen Leben auch Nischen und Rückzugsmöglichkeiten, um sich den Zumutungen des Regimes zu entziehen. Diese Aspekte eines breiten Konsenses der Bevölkerung mit dem Naziregime in Politik und Alltag, aber auch der begrenzten Möglichkeiten zu Verweigerung und Resistenz haben erst seit den 1970er Jahren intensiv Eingang in die Forschung und öffentliche Debatte gefunden.

Im Umgang mit der DDR-Geschichte gibt es einige Ähnlichkeiten, aber insgesamt mehr Unterschiede. Auch die SED-Herrschaft war in der Anlage eine totalitäre Diktatur. Ein solches Etikett verdeckt jedoch

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 124 leicht, dass sich die Formen von Herrschaft und Repression im Laufe von 40 Jahren erheblich veränderten. Für eine differenzierte Auseinandersetzung ist es wichtig, die Jahrzehnte der DDR- Geschichte nicht als Einheit zu betrachten, sondern die beträchtlichen Veränderungen wahrzunehmen. Wer das nicht tut, geht auch an den sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen der Betroffenen vorbei. Das Ausmaß und die Grenzen der "Sowjetisierung" der SBZ/DDR sowie die relative Stärke und Kontinuität deutscher Traditionen sind mittlerweile intensiv erforscht worden. Auch der Widerstand gegen die SED-Herrschaft und die Möglichkeiten, trotz allen politischen Drucks "aufrechten Gang" zu praktizieren, haben frühzeitig Interesse gefunden. Die herausgehobene Rolle der evangelischen Kirche und ihre erschreckende Infiltration durch Stasileute wurden dagegen erst mit der Öffnung der Akten des MfS genauer untersucht. Auch der ökonomische Niedergang und die fatale Überforderung der Wirtschaft durch zahlreiche sozialpolitische Wohltaten,insbesondere die massive Subventionierung der Lebensmittel und der Mieten sind erst nach dem politischen Ende der DDR in vollem Umfang sichtbar geworden.

Forschungsdebatten

Gestritten wird in der Publizistik und in der Geschichtsschreibung nach wie vor heftig um die Rolle des "Alltags" in der Diktatur. Auch hier gibt es zahlreiche Parallelen zu den Diskussionen über die NS- Zeit. Der vor allem für die DDR-Geschichte vorgebrachte Verdacht, hier würde die Diktatur verharmlost, verbietet sich jedoch, wenn Alltag nicht nur als Ansammlung von banalen Details, sondern als zentrales Element von Herrschaft verstanden wird. Einflüsse und Grenzen eines diktatorischen Regimes auf das individuelle Leben der Betroffenen werden dabei sichtbar.

Angesichts einer kaum noch überschaubaren Menge von Publikationen zur DDR-Geschichte warnen kritische Stimmen zu Recht vor einer "Verinselung", d.h. vor einer Isolierung und allzu starken Konzentration des Interesses auf die DDR. Schließlich war der zweite deutsche Staat nicht der Mittelpunkt der Weltgeschichte. Seine Geschichte gehört neben der Verflechtung mit Westdeutschland in den größeren Zusammenhang der Kommunismusgeschichte in Ostmitteleuropa. Und hier gibt es noch erhebliche Defizite. Denn erst vergleichende Studien können die Besonderheiten der DDR schärfer herausarbeiten.

Ein besonderes Problem der Zeitgeschichte, vor allem für die politische Bildung, sind biografische Erinnerungen. Zeitzeugen, im Fernsehen besonders beliebt, sind ohne Frage eine wichtige Quelle. Aber sie haben zumeist nur einen höchst begrenzten Blick auf einen Teil der Vergangenheit, den sie selber erlebt haben. Sie eröffnen für die Geschichte von Diktaturen einerseits eindrucksvolle Perspektiven auf Unterdrückung und Terror, aber auch auf Möglichkeiten eines "richtigen Lebens im falschen System". Andererseits zeigen sich in den letzten Jahren verstärkt Trends zur "ostalgischen " Verklärung des Lebens in der DDR oder auch zur gedankenlosen Rechtfertigung der Rolle von Stasi- und Parteifunktionären. Ehemalige Offiziere des MfS melden sich in dreister apologetischer Absicht zu Wort, als wäre die DDR ein ganz normaler Rechtsstaat gewesen.

Aber auch die selektive Erinnerung an Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit, an die vermeintlich " heile Welt" der Diktatur ist im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs und der einschneidenden ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung stärker geworden. Geschichtswissenschaft und politische Bildung müssen sich mit solchen Erscheinungen aktiv und unaufgeregt auseinandersetzen. Jede Generation wird dabei ihre eigenen und oft neuen Fragen stellen.

Die "Historisierung" der NS-Zeit hat erst in den siebziger Jahren intensiv begonnen. Sie zielt auf Einordnung der zwölf Jahre des "Dritten Reiches" in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch auf die schwierige Verbindung von singulären Verbrechen und trivialem Alltag. Ein neuer Akzent der jüngsten Zeit ist die Opferdebatte: die deutsche Bevölkerung als Opfer des totalen Krieges, den Goebbels 1943 ausgerufen hatte, Opfer des Bombenkrieges, vor allem aber Opfer der überstürzten Flucht vor der Roten Armee und der Vertreibung nach Kriegsende.

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Diese Opferperspektive war im Bewusstsein der Betroffenen stets präsent, aber erst seit Ende der 1990er Jahre ist sie auch wieder stärker in der Publizistik und Historiographie erörtert worden. Das ist legitim und notwendig, aber an eine wichtige Voraussetzung gebunden: Die Verursacher des Elends müssen zunächst benannt werden. Insofern ist bei der Erörterung der Schrecken des Krieges und des Zusammenbruchs der Verweis auf das Jahr 1933 unerlässlich. Dass auf den Trümmern des "Dritten Reiches" in der östlichen Hälfte Deutschlands schließlich eine neue, wenn auch völlig andere Diktatur errichtet werden konnte, war historisch nicht zwingend, gehört aber in den Zusammenhang einer solchen Erörterung.

Auf staatlicher Ebene hat es mittlerweile einen gewissen Konsens über den Umgang mit der Vergangenheit gegeben. Er hat seinen Niederschlag im Gedenkstätten-Konzept des Bundes von 2008 gefunden. Einer der Schlüsselsätze darin lautet: "Jede Erinnerung an die Diktaturvergangenheit in Deutschland hat davon auszugehen, dass weder die nationalsozialistischen Verbrechen relativiert werden dürfen noch das von der SED-Diktatur verübte Unrecht bagatellisiert werden darf."

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Die DDR im vereinten Deutschland

Von Thomas Großbölting 21.6.2010

Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster.

Was war die DDR? Die Frage ist seit der Wiedervereinigung umstritten. Die Geschichtsbilder an die DDR sind vielfältig und vielschichtig, aber welche Rolle spielt Geschichtspolitik dabei und was heißt dies für die historisch-politische Bildung?

"Eine schräge Geschichte" biete die deutsche Hauptstadt, ließ die britische DDR-Historikerin Mary Fulbrook im Juli 2007 im "Tagesspiegel" vermelden. Beim Blick auf den Stadtplan sei ihr ein großes Missverhältnis aufgefallen. Natürlich gebe es eine ganze Reihe von Erinnerungsorten, Gedenkstätten und Museen, aber: "Die Touristen-Geschichten, die (dort) erzählt werden, führen in die Irre", so Fulbrook. 80 Prozent der DDR-Bevölkerung kämen in den Darstellungen und Arrangements von Gedenkstätten und Museen nicht vor. Fast immer gehe es stattdessen um hohe Funktionäre auf der einen, profilierte Intellektuelle auf der anderen Seite, während die mittlere Ebene der Gesellschaft kaum berücksichtigt werde. Zudem mache die Fixierung auf die Unterdrückungsinstrumente Mauer und Staatssicherheit aus allen DDR-Bürgern Opfer. Komplizentum und Einverständnis blieben außen vor. "Konnte man in der Diktatur glücklich sein, zu welchem Preis und mit welchen Kosten?" Fragen wie diese mit potenziell offenen Antworten würden an den Orten des Erinnerns nicht angeregt. Ebenso sei die Opposition an der Basis in ihrer wichtigen Rolle nicht angemessen repräsentiert. Selbst die Zionskirche in Mitte, Standort der oppositionellen Umweltbibliothek, sei für Berlin-Besucher als historischer Ort nicht ausgewiesen.(1)

Schon Mitte der 1960er Jahre formulierten drei Redakteure der "Zeit" ihre Eindrücke von einem Besuch in der DDR unter dem Titel "Reise in ein fernes Land".(2) Mittlerweile sind die beiden Teilstaaten seit fast zwanzig Jahren wiedervereint, die deutschen Gesellschaften Ost und West gemeinsam auf dem Weg, um ein Verhältnis zur DDR-Vergangenheit zu finden. Nicht nur die touristischen Empfehlungen Fulbrooks zeigen, dass die Reise dorthin schwieriger, verworrener ist, als zunächst angenommen. Die verflossene Zeit hat das Land mehr und mehr in die Ferne gerückt, aber ohne dass die Gegenwart dadurch Abstand zu ihr gewonnen hätte. Die DDR als Vergangenheit bleibt präsent, nicht flächendeckend und nicht immer, aber doch unübersehbar für jeden, der das wiedervereinte Deutschland, seine Selbstverständigungsdebatten und seine kulturellen wie geschichtskulturellen Inszenierungen in den Blick nimmt.

Die Erinnerung an die DDR ist vielfältig und vielschichtig, oftmals sogar so diversifiziert und unverbunden, dass sich das Bild von ihr in verschiedenste Facetten auflöst. War die DDR ein Schurkenstaat, in der "die Stasi (...) doch wohl charakteristischer (...) gewesen (ist) als die Kinderkrippen "? (3) Müssen wir, sollten wir oder wollen wir die Institutionen und Akteure von Macht und Repression besonders zeigen? Stasi, Mauer und SED als die Zwangsinstrumente des Realsozialismus? Oder betonen wir stattdessen eine andere Facette der DDR, die schon bundesdeutsche Zeitgenossen der 1960er Jahre als "eine Art Freilichtmuseum deutscher Vergangenheit" beschrieben haben? "Das Deutschland von Anno dazumal ist dort konserviert, das Zeitalter der Fußgänger und Bierkutscher noch nicht zu Ende", schrieb Marion Gräfin Dönhoff 1964.(4) Zeitgenössisch wurde die Schrift vor allem als Vorbotin der Entspannungspolitik charakterisiert. Zugleich aber stand sie am Anfang eines DDR-Bildes, das durch das Staunen über den so anderen deutschen Staat geprägt war.

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Das Bild von der DDR als "fernes Land" und dem dort vorzufindenden Kabinett des Skurrilen haben die "Ostalgie"-Filme wieder aufgenommen. Insbesondere Leander Hausmann hat mit "Sonnenallee " ein Bild der DDR auf Zelluloid gebannt, welches die Diktatur zwar nicht völlig ausblendet, aber doch das Bunte, Skurrile, ja auch das Amüsante in den Vordergrund rückt. Der Filmemacher lässt seinen Hauptprotagonisten, Michael Ehrenreich, am Ende des Streifens erklären: "Es war einmal ein kleines Land namens DDR. Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt." Insbesondere dieses private Erinnern in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, welches die lebensweltliche Seite betont, scheint inkommensurabel mit dem DDR-Bild, welches die Politik im engeren Sinne wie auch die von ihr installierten und finanzierten Aufarbeitungsinstitutionen mit ihrer Konzentration auf Macht und Repression zu etablieren suchen. Warum eigentlich soll der Alltag in der DDR grau gewesen sein? Und wenn ja, ist er denn heute bunter? In vielen Diskussionen um die Frage "Was war die DDR?" tauchen diese Fragen auf und zeigen, in welcher Spannung beide Vergegenwärtigungsstränge miteinander stehen.

(1) Markus Hesselmann, Eine schräge Geschichte. Berlin, geprägt von Stasi und Mauer? Die britische Historikerin Mary Fulbrook kritisiert das Geschichtsbild der Hauptstadt, in: Tagesspiegel vom 18.7.2007. (2) Vgl. Marion Gräfin Dönhoff/Rudolf Walter Leonhardt/Theo Sommer, Reise in ein fernes Land, Hamburg 1964. (3) Horst Möller, Trabi, Stasi, Kinderkrippen, in: Rheinischer Merkur vom 22.6.2006, S. 24. (4) M. Dönhoff et al. (Anm. 2), S. 98.

Wahrheitsfindung ja, Versöhnung nein?

Ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten die "Reise in ein fernes Land", welches das wiedervereinte Deutschland unternimmt, genau und stellen der Geschichtspolitik und Aufarbeitungsszene für diesen Prozess der Wiederannäherung keine guten Zeugnisse aus. Während die Geschichte der DDR deutlich weniger Interesse ausländischer Forscherinnen und Forscher findet als etwa die Geschichte des Nationalsozialismus, übt das wiedervereinte postdiktatorische Deutschland großen Reiz aus. Politologen, Sozialwissenschaftler, Historiker und Vertreterinnen und Vertreter anderer kultursensibler Disziplinen konstatieren mindestens zwei Tendenzen.

Zum einen gibt es einen großen Konsens darüber, wie vielfältig und umfassend die Bemühungen zur " Aufarbeitung" nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch der Geschichte der SED-Diktatur gewesen seien. Dabei werden nicht nur die großen personellen und finanziellen Bemühungen angeführt, die insbesondere von Staats wegen mobilisiert wurden. Außer Frage steht auch, dass es einen starken gemeinsamen Willen der politischen Klasse zur Aufarbeitung gab. James McAdams beispielsweise resümiert diese Auffassung, wenn er betont, dass es kaum möglich sei, einen anderen Staat zu finden, "der so rasch so unterschiedliche Schritte gegangen ist, um mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen".(5)

Zum anderen aber bleibt bei vielen dieser Autorinnen und Autoren eine zweite Schnittmenge. In dieser sammelt sich Unbehagen an dem, was man beobachtet: eine zweite Chance, die nicht ergriffen wurde, so Anne S'adah,(6) die Kolonisierung des Ostens, so Paul Cooke,(7) oder das ebenso scharfsinnige wie eindeutige Fazit des australischen Deutschlandexperten Andrew Beattie: "Which lessons to learn from the Germans?" Vorbilder werden gesucht für die Aufnahme postkommunistischer Beitrittskandidaten in die Europäische Union, da gilt es, aus der deutschen Erfahrung zu lernen. Beattie wendet sich vehement gegen die Vorstellung, in Deutschland habe es eine mustergültige Vergangenheitsaufarbeitung gegeben. Er vermisst insbesondere Multiperspektivität, Selbstkritik und Selbstreflexion. Verlautbarungen des politischen Berlins und der Aufarbeitungsinstitutionen seien geprägt gewesen durch "oversimplified western success stories" auf der einen und "eastern horror stories" auf der anderen Seite. Im Prozess der Aufarbeitung habe man aktuelle Wert- und Moralvorstellungen in hohem Maße in die Geschichte projiziert und auf diese Weise den Einigungsprozess durch politische und symbolische Disparitäten stark belastet. Statt einer

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 128 möglichen integrativen Erinnerungskultur seien ostdeutsche Erfahrungen durch eine fälschlich glorifizierte Westnorm an die Seite gedrückt worden. Für ein sich nach Osten erweiterndes Europa könne dieses kein Modell sein, so die ebenso klare wie ernüchternde Schlussfolgerung Beatties.(8)

Diese Argumentation findet Unterstützung selbst bei solchen Autoren, die den Prozess der Wiedervereinigung insgesamt als gelungen beurteilen und davon ausgehen, dass sich die beiden Teilgesellschaften immer stärker annähern werden. In einem Punkt aber seien die Disparitäten zwischen Ost und West ungeachtet aller Fortschritte eher stärker als schwächer geworden: in dem der Beurteilung der Vergangenheit.(9) "Truth without reconciliation" - Wahrheitsfindung ja, Versöhnung nein, so das wenig schmeichelhafte Resümee, welches Jennifer Yoder aus den Bemühungen der Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihrer Folgen gezogen hat.(10)

Haben wir mit "unserer" Geschichtspolitik und den Aufarbeitungsaktivitäten die verschiedenen Reisegruppen eher auseinandergeführt als auf ein gemeinsames Ziel hin gesteuert? Im Folgenden sollen zwei Tendenzen skizziert werden, welche die skizzierten Schwierigkeiten mit verursachen oder gar befördern: die allzu offensichtliche Instrumentalisierung von Vergangenheit einerseits, die Virtualisierung von Erinnerung andererseits.

Schlachten von gestern und Schüler von heute

Geschichtspolitik heute ist ein Betätigungsfeld mit einer eigenen Entwicklung. Die Thematisierung der diktatorischen Vergangenheit, wie sie nach 1990 vom Staat wie auch von den Akteuren der Zivilgesellschaft betrieben wurde, fand immer auf dem Vorbild der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt, wie sie in der alten Bundesrepublik betrieben worden war. Zwar steht eine Untersuchung zu den Protagonisten der Aufarbeitungsbranche noch aus, doch zeigt schon ein kurzer Blick auf die Szene, dass es, neben der Konkurrenz der Opfer- und Betroffenenverbände, auf der Ebene der Gedenkstätten und ähnlicher Einrichtungen viele personelle Überschneidungen oder gar Wechselbeziehungen gibt.(11)

Zudem war Geschichtspolitik ein Element der friedlichen Revolution selbst: Die Opposition wie auch die Demonstrationsbewegung zielten 1989 und 1990 natürlich vorrangig auf die Stasi, deckten deren Monstrosität ebenso auf wie die von diesem Apparat begangenen Verbrechen. Man wehrte sich mit dem Instrument der öffentlich gemachten Gegenwart und Geschichte gegen den Repressionsapparat, der zu diesem Zeitpunkt immer noch eine reale Bedrohung darstellte.

Es wären weitere Faktoren zu nennen, die in der öffentlichen Darstellung der DDR-Vergangenheit den Gestus des Delegitimierens insbesondere in den frühen 1990er Jahren befördert haben, zum Teil mit guten Gründen. Gegenwärtig scheint mir die Situation indes verändert zu sein: Wir müssen die DDR nicht oder zumindest nicht mehr delegitimieren. Das hat das System selbst getan, und es reicht die nüchterne Darstellung der Fakten, um dieses zu zeigen. Dass das Leichengift der Diktatur die politische Kultur, das zivilgesellschaftliche Engagement unserer Demokratie beeinträchtigt, sehe ich nirgends. Die direkt ins Politische zielenden Initiativen der Geschichtsklitterung, wie sie etwa von Organisationen wie dem Insiderkomitee oder anderen Zusammenschlüssen von Altkadern der Staatssicherheit betrieben werden, wird man aufmerksam beobachten müssen und dann gegensteuern, wenn diese tatsächlich Wirkung zu entfalten drohen. Aktuell scheint mir dieses politisch rückwärtsgewandte Denken keinerlei gesellschaftliche Resonanz zu finden, so dass sich diese Haltung überleben wird. Deswegen wirkt auch gelegentlich verbreiteter Alarmismus höchst künstlich. Parolen wie "Die Täter sind unter uns" mögen eine kurzfristige Mobilisierungsfunktion haben, der Aufarbeitung insgesamt aber sind sie abträglich.(12) Im Gegenteil befördern sie geradezu eine Ostalgie, die sich meist weniger aus der politischen Rechtfertigung des alten Systems nährt, sondern vor allem aus den gegenwärtigen Konstellationen: Der vielleicht selbst erlebte Zwangs-Charakter des SED-Systems verblasst dann gegenüber dem Versuch, das eigene Leben oder das der Eltern und Großeltern angesichts der als ungerecht empfundenen Anwürfe zu verteidigen und zu rechtfertigen.

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Geschichtsvermittlung sollte demgegenüber auf eine andere Strategie setzen. Wir müssen dem Ostalgiker erklären, dass viele der von ihm gelobten "Errungenschaften" genuin verbunden waren mit der politischen Unfreiheit vieler anderer. Nur wer sich im System politisch konform bewegte, spürte seine Ketten nicht. Und wir sollten denjenigen Publizisten und Historikern, die vor allem auf Schlagzeilen aus sind, ebenfalls eine differenzierte Darstellung abverlangen und ihnen gegebenenfalls ihren Populismus nachweisen: Dass die bundesdeutsche Justiz, um nur ein Beispiel zu nennen, nur wenige Stasi- und SED-Funktionäre bestraft hat, stößt zu Recht bitter auf und verweist auch auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung unseres juristischen Systems. Dass Richter und Staatsanwälte aber konsequent an wichtigen Rechtsgrundsätzen wie dem Rückwirkungsverbot festhalten, spricht eher für das Funktionieren unserer Justiz als umgekehrt. Wer das im Sinne einer vordergründigen Pädagogisierung oder auch des Populismus verkürzt darstellt, ist in dieser Hinsicht nicht wahrhaftig.

Die größte Gefahr dieser Herangehensweise an Vergangenheit besteht darin, dass auf diese Weise jegliches Interesse nachwachsender Generationen erstickt wird. Wer mag es einem 16-jährigen Schüler verdenken, die verbalen, von der Presse gerne aufgegriffenen Schlagabtausche und geschichtspolitischen Skandale weniger als Suche nach einer angemessenen Interpretation der DDR zu sehen, sondern vor allem als so vordergründig auf die Positionierung im Heute ausgerichtete Debatte? Wer in diesem Stil die Kämpfe von Gestern führt, gerät leicht in Gefahr, zum geschichtspolitischen Dinosaurier zu werden.

(5) James McAdams, Judging the Past in Unified Germany, Cambridge 2001, S. 1. (6) Vgl. Anne S'adah, Germany's Second Chance. Truth, Justice and Democratization, Cambridge 1998. (7) Vgl. Paul Cooke, Representing Since Unification: From Colonization to Nostalgia, London 2005. (8) Vgl. Andrew H. Beattie, Learning from the Germans? History and Memory in German and European Discourses of Integration, in: PORTAL. Journal of Multidisciplinary International Studies, 4 (2007) 2, S. 18. Vgl. auch ders., Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany, New York 2008. (9) Vgl. Laurence McFalls, Illegitimate Unions? German and European Unifications Viewed in Comparative Perspective, in: John Breuilly/Ronald Speirs (eds.), Germany's Two Unifications, Basingstoke 2005; John S. Brady/Sarah Elise Wiliarty, How Culture matters, in: German Politics & Society, 20 (2002), S. 4. (10) Vgl. Jennifer A. Yoder, From East Germans to Germans? The New Postcommunist Elites, Durham, NC 1999; Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED- Diktatur in Deutschland", Bd. 1: Anträge, Debatten, Bericht; Bd. 2: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, beide Baden-Baden 1995. (11) Vgl. Jens Hüttmann, DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008. (12) Vgl. Hubertus Knabe, Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin- München 2007.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 130 Virtualisierung von Erinnerung

Die Funktionalisierung von Geschichte zur Identitätsstiftung, als Waffe im politischen Geschäft oder in sonstigen Formen ist oft beschrieben und kritisch analysiert worden. Diese Geschichtspolitik alten Stils hat sich in dem Maße überlebt, wie in der nachmodernen Gesellschaft Tradition ihre legitimitätsstiftende Wirkung verliert. Wegen des starken Wandels der Gesellschaft, ihrer Kommunikations- und ihrer Medienstrukturen lässt sich darüber hinaus eine zweite Tendenz des Umgangs mit der Vergangenheit im Allgemeinen und mit der DDR-Geschichte im Speziellen feststellen. In Anlehnung an Forscher, die sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus beschäftigen, lässt sich diese als "Virtualisierung" des Gedenkens kennzeichnen. Damit ist einerseits angespielt auf den raschen Medienwandel, der historische Fragmente überall und weltweit verfügbar macht. Ihre Abrufbarkeit ist nicht mehr an Konkretionen und Kontexte gebunden. Damit eng verbunden ist eine hier nur kurz anzudeutende Veränderung in Vergemeinschaftungsprozessen in der Nachmoderne überhaupt, die durch Prozesse der Individualisierung und Medialisierung gekennzeichnet ist.(13) "Virtualisierung" der Erinnerung bedeutet andererseits dann auch, dass Erinnerung an Vergangenheit in Grundzügen anders funktionieren und vor allem ganz andere Wirkungen haben kann.

Ich will den Punkt am Beispiel des Supergedenkjahrs 2009 und an der dort betriebenen Erinnerung an die DDR illustrieren: Alle Befürchtungen, es könne hier eine deutlich nationale Profilierung erfolgen, zerstoben bald. "Über allen geschichtspolitischen Wipfeln ist Ruh", konstatierte Karsten Rudolph bereits Ende 2009, die gewöhnliche Funktionalisierung von Geschichte, der Versuch, für sich, seine Gruppe, seine Partei darüber Identität zu stiften, schien wenig attraktiv.(14) Die zentrale und gleichsam regierungsamtliche Gedenkveranstaltung, das "Fest der Freiheit", hatte in der politischen Klasse selbst wie auch darüber hinaus weniger Resonanz gefunden als erwartet. Kern des Events waren ein Stelldichein europäischer und internationaler Staatenlenker wie eine Videobotschaft des amerikanischen Präsidenten. Die "friedliche Revolution" wurde als Verpflichtung inszeniert, "Mauern auf der ganzen Welt zum Einsturz zu bringen", so der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit fast unisono mit dem kurz vor ihm sprechenden französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. Die Kultur schloss sich dem Tenor an: DJ Paul van Dyk präsentierte seine Hymne zum Mauerfall "We are one", gesungen von Johnny McDaid, von "Gänsehautatmosphäre " berichtet die "Bild"-Zeitung. Bon Jovi rockte das Brandenburger Tor mit dem Titel "We weren't born to follow", Starmoderator Thomas Gottschalk interviewte Hans-Dietrich Genscher und Michail Gorbatschow. Viele Redner nutzten das Geschichtsereignis vor allem zur Beschwörung überzeitlicher Werte und zu aktuellen Betrachtungen: "Freiheit" war das beherrschende Leitmotiv.

"Freiheit" ist ein hoher Wert, und es gibt wohl kaum einen besser geeigneten historischen Vorgang, an den es zu erinnern gilt, um dieses in Erinnerung zu rufen. Warum blieb aber trotzdem bei vielen Beobachtern ein schaler Nachgeschmack? Man muss nicht dem gesamten Gebäude der Systemtheorie folgen, um einen Gedanken für die hier angestellten Überlegungen fruchtbar zu machen: Die in hohem Maße stilisierte und auf schematische Bilder konzentrierte Thematisierung von Vergangenheit kann man funktional auch als "Kommunikationsverhinderungskommunikation" (Niklas Luhmann) charakterisieren. Vergangenheit hat ihre Fähigkeit verloren, als Tradition Legitimität und vielleicht sogar einen Wertekonsens zu stiften. Stattdessen wird sie deshalb "nur noch in ihrer spezifischen Funktion als reduzierte Komplexität (...) herangezogen". Vergangenheit fungiert als Element der Unsicherheitsabsorption. Diskussionen werden abgekürzt, indem von vornherein auf einen Topos verwiesen wird. Historische Rückbezüge dienen dazu, generalisierte Erfahrung zu repräsentieren.(15) An die Stelle von Konkretisierung, Präzision, die damit verbundenen Ebenen der Auseinandersetzung und des Gedächtnisses mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Akzenten tritt ein recht unbestimmt bleibendes, vor allem symbolisch verdichtetes Erinnerungsmoment. Gedenkkommunikation in einer sowohl sozial immer stärker pluralisierten wie auch mit Blick auf den Mediengebrauch zunehmend zerklüfteten Gesellschaft, so führt Mark Arenhövel den Gedanken weiter, dient dann "der Entlastung von identifikatorischer Aneignung".(16)

Welche Weiterungen haben diese Überlegungen? Forschungen wie auch Initiativen zur Geschichtspolitik und zur Erinnerungskultur werden viel mehr als bisher in den Blick nehmen müssen,

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 131 welche unterschiedlichen Funktionen die jeweils thematisierte Vergangenheit übernimmt. Im Fall von Politik und Geschichte existiert eine kategoriale Differenz zwischen der jeweils praktizierten Geschichtspolitik und der Vergangenheit. Die jeweilige Geschichtspolitik ist nahezu unabhängig von Vergangenheit. Historiker oder die Ergebnisse ihrer Arbeit kommen allenfalls als Stichwortgeber zu Gunsten der je eigenen Position oder sogar als Störenfriede in diesen Prozessen vor. Das Bild vom Historiker als "Anwalt der Vergangenheit" trifft den Sachverhalt nicht, da seine Kompetenz - "wahr " oder "unwahr" mit Blick auf die Vergangenheit zu entscheiden - nicht gefragt ist. Die Vergangenheit ist ein diskursives Element im Funktionieren des politischen Systems. Der (geschichts)politische Streit um die realsozialistische Vergangenheit kann ebenso wenig wie ein anderes geschichtspolitisches Thema durch intensivierte historische Forschung oder dadurch beigelegt werden, dass die Wissenschaft nun tatsächlich die "wichtigen" oder "richtigen" Fragen aufgreift. Die geschichtspolitische Auseinandersetzung ist zuvörderst eine Funktion des Verhältnisses, in dem sich die Deutschen zur Berliner Republik befinden. Ihr Ansinnen oder ihr "Code" ist nicht die Suche nach "wahr" oder "falsch ", sondern die Nutzung des Vergangenheitsbezugs für das Heute.

Zugleich wandeln sich die Grundlagen, die Darstellungsformen und damit auch die Inhalte von Geschichtspolitik: Mit der Veränderung des Geschichtsbewusstseins in Richtung Fragmentierung, Individualisierung und Subjektivierung verbindet sich ein massiver Medienwandel, der diese Tendenz bestärkt und den Zusammenhang von Geschichte und Politik mittel- und langfristig grundlegend verändert.(17) In einer medial entgrenzten Gesellschaft, in der die soziale Einbettung des Einzelnen ebenso schwindet wie die globale Kommunikation zunimmt, läuft Geschichtspolitik Gefahr, zur formelhaften " Erinnerungsreligion" zu gerinnen, die von Zeit und Ort abstrahiert und sich letztlich festmacht an abstrakten Erinnerungsikonen. "Zurück bleibt ein entleertes, inhaltsloses Konstrukt, auf das sich vielleicht alle als gemeinsamen Bezugspunkt beziehen und verständigen können, das dabei alles Herausfordernde verloren hat und zum Kitsch wird." Das Gedächtnis Europas brauche aber, so hält dem Helmut König entgegen, nicht die Integration der Erinnerung in eine Gedächtnisreligion, in der sie rituell gezähmt werden, sondern umgekehrt "die Bewahrung und Öffnung von Räumen für konkrete Erzählungen und Erfahrungen".(18)

Geschichte ist konkret und komplex - und auch so zu vermitteln

Was man dem entgegenhalten kann, wird sich nicht in globalen Rezepten thematisieren lassen, sondern in der praktischen Arbeit in Schulen, Hochschulen, Gedenkstätten und Museen bewähren müssen. In diesem Sinne sind die abschließenden Überlegungen dazu, ob und wenn ja, welche " Standards" der Geschichtspolitik etabliert werden sollten, vorläufig und fragmentarisch.

Eine Historisierung der DDR, die auch die Erfahrungsseite vieler DDR-Bürger berücksichtigt, wird nicht wie von Kritikern befürchtet auf eine Weichzeichnung ihres Diktaturcharakters hinauslaufen, sondern sowohl wissenschaftlich als auch für die öffentliche Aufarbeitung ein adäquateres Bild der DDR zu zeichnen erlauben. Anzustreben wäre, dass wir einerseits daran festhalten, Unterschiede zwischen Demokratien und Diktaturen deutlich zu benennen und infolge dessen die DDR und ihr politisches System als Diktatur, als Unrechtsstaat mit Menschenrechtsverletzungen deutlich charakterisieren: Die DDR war der langlebige Versuch, in Ostdeutschland ein nur ideologisch legitimiertes und in sich nicht funktionierendes Staats- und Gesellschaftsmodell aufrecht zu erhalten. Damit gingen Jahrzehnte der Unfreiheit einher. Es etablierte sich ein Zwangs- und Repressionsapparat, mit dessen Wirken permanente Menschenrechtsverletzungen einhergingen. Das brachte vielfältiges individuelles Unrecht und Leiden der Unangepassten, der Nonkonformen oder der sonst wie in die Mühlen des Unterdrückungsapparats Geratenen mit sich. Geschichtspolitisch müssen wir ihre Schicksale in Erinnerung behalten. Nicht zuletzt sind auch die Jahrzehnte nationaler Trennung und Teilung und die damit verbundenen Einschränkungen der Ost- wie der Westdeutschen unter die beklagenswerten Folgen der SED-Diktatur zu zählen. Diese - und viele weitere zu ergänzende - Fakten qualifizieren die DDR in der Summe als Diktatur und damit als ein System, das sich grundlegend von demokratischen Systemen unterscheidet.

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Damit darf aber keine pauschalierende Abwertung von so zahlreichen Biografien von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürgern verbunden sein. Stattdessen, so Bodo von Borries, sei das Ziel die " Würdigung des Lebens der Menschen dort und um eine offene, gemeinsam zu gestaltende Zukunft. Dafür ist gegenseitiges Zuhören - auch wechselseitige Kritik auf Augenhöhe - erforderlich, aber nicht tatsächliche oder eingebildete einseitige Zurücksetzung bzw. Demütigung. (...) Eine historische Bildung, die für die SED-Diktatur nur die Systemgeschichte und nicht auch ihren lebensweltlichen Alltag gelten lässt, muss mit kontraproduktiven Effekten rechnen."(19) Sie fördert "viel weniger die kritische Sinnbildung einer geschichtsbewussten Zivilgesellschaft als vielmehr die Aufspaltung des Gedächtnisses in ein rituelles und ein kommunikatives".(20)

Dagegen sollte man Mut zur Differenzierung, zur Konkretion und auch zur Komplexität setzen. Wenn wir tatsächlich aus Geschichte in irgendeiner Form lernen wollen, dann bedarf es einiger Mühe, sich der komplexen Vergangenheit zu nähern. Spannender - intellektuell wie auch lebensweltlich herausfordernder - als die auf Abziehbilder reduzierte Präsentation von Geschichtsikonen ist diese Form der Beschäftigung mit Vergangenheit allemal.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)

(13) Vgl. dazu den historiographisch noch nicht fruchtbar gemachten Entwurf von Manuel Castells, Die Macht der Identität. Teil 2 der Trilogie: Das Informationszeitalter, Opladen 2003, S. 7-74. (14) Vgl. Karsten Rudolph, 1949-1989-1929. Gedenken im Zeichen der Krise, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, (2009) 5, S. 28ff. (15) Vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1970, S. 167f. (16) Zu diesem Gedanken wie auch zum folgenden Mark Arenhövel, Das Gedächtnis der Systeme, in: Horst-Alfred Heinrich/Michael Kohlstruck (Hrsg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart 2008, S. 59-74. (17) Vgl. dazu Claus Leggewie, Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns, in: Eric Meyer (Hrsg.), Erinnerungskultur 2.0, Frankfurt-New York 2009, S. 9-28. (18) Helmut König, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008, S. 641. (19) Bodo von Borries, Zwischen "Katastrophenmeldungen" und "Alltagsernüchterungen"? Empirische Studien und pragmatische Überlegungen zur Verarbeitung der DDR-(BRD-)Geschichte, in: Deutschland Archiv, (2009) 4, S. 665-677. (20) Martin Sabrow, Wie, der Schüler kennt den Dicken mit der Zigarre nicht?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.2.2009.

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Zukunft der Erinnerung

3.6.2008

Die Erinnerungs- und Gedenkkultur steht vor neuen Herausforderungen: Das Verschwinden der Zeitzeugen und die mediale Aufbereitung der Vergangenheit beeinflussen zunehmend die Erinnerung. Geschichte findet heute als Fernsehereignis statt und sorgt für Einschaltquoten. Aber was bedeutet diese Entwicklung für die Vermittlung der Shoah an Schulen? Welche Rolle spielen NS- und DDR- Geschichte für Migranten in unserer Gesellschaft? Und wie sieht die Zukunft der Erinnerungskultur aus in Deutschland, Europa und der Welt?

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Holocaust-Erziehung

Von Dr. Juliane Wetzel 26.8.2008 Geb. 1957 in München, ist seit 1996 wiss. Angestellte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie ist geschäftsführende Redakteurin des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung.

In den 1970er Jahren setzte eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust ein. Heute wächst bei Schülern, aber auch bei Lehrern das Gefühl, dass die Präsenz des Themas in den Medien ausreichend Informationen bietet. Ist das wirklich so? Wie sollen Schulen reagieren und welche pädagogischen Konzepte sind zeitgemäß?

"Holocaust-Education"

Die Ausstrahlung der vierteiligen amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" Ende der 1970er Jahre hat trotz ihrer fiktiven Geschichte, die manche als Seifenoper bezeichneten, nicht nur in Deutschland zur Einführung des Begriffs "Holocaust" für die nationalsozialistische Vernichtung der Juden geführt, sondern auch eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden angestoßen.

In den 1980er Jahren wurde in vielen Ländern darüber diskutiert, wie das Thema Holocaust nachhaltiger in die Erziehungsarbeit eingebunden werden könnte. International hat sich für die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Forschung und Praxis der Begriff "Holocaust-Education " durchgesetzt, der in zweierlei Hinsicht problematisch ist. Zum einen beschreibt der Terminus Holocaust in seiner Bedeutung "Brandopfer" nicht annähernd die industriell betriebene Vernichtung der Juden während des Nationalsozialismus.

In einigen Ländern findet daher mehr und mehr der Begriff Shoah Verwendung, der aus dem Hebräischen stammt und "Unheil", "große Katastrophe" bedeutet. Zum anderen wird unter "Holocaust- Erziehung" nicht so sehr eine Vermittlung kognitiven Wissens über den Holocaust verstanden, sondern vielmehr eine Moral- und Werteerziehung, die gegen Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und vieles mehr immunisieren soll und das eigentliche Geschehen immer weiter in den Hintergrund treten lässt. Die Vermittlung historischen Wissens steht dabei nicht im Mittelpunkt.

Der Holocaust lässt sich auch nicht zum bloßen historischen Ereignis reduzieren. Neben der Vermittlung kognitiven Wissens muss die Auseinandersetzung mit Erinnerungsabwehr und Schuldprojektionen auf die Opfer des Holocaust, die zu einem sekundären Antisemitismus, also einem Antisemitismus wegen Auschwitz führen können, ein zentrales Anliegen der schulischen Bildung sein. Politische Skandale, Erinnerungskultur und -narrative in den letzten Jahren haben gezeigt, dass der Holocaust Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik ist und als solcher durchaus immer wieder Auswirkungen auf die Tagespolitik hat und aktuelle Debatten bestimmt. Zudem gilt es den Holocaust ebenso unter dem Aspekt zu betrachten, wie stark das Trauma der Verfolgung bis heute bei den Kindern, Enkelkindern und Urenkeln der Opfer nachwirkt. Deshalb müssen sich die nachwachsenden Generationen mit der Thematik in ihren aktuellen Bezügen auseinandersetzen und die jüdische Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung als Teil der historischen Bildung erfahren. Allerdings heißt dies auch, die Inhalte der " Holocaust-Erziehung" den veränderten Lebenssituationen jeder neuen Generation anzupassen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 135 Pädagogische Konzepte

Pädagogische Konzepte, die vor Jahren noch wirkungsvoll waren, müssen dies nicht bis heute sein. Eine wichtige und kaum zu ersetzende Methode, bei Kindern die notwendige Empathie und damit den Schlüssel für Verständnis zu erzeugen, sind die Gespräche mit Zeitzeugen. Allerdings werden solche Konzepte aus altersbedingten Gründen bald der Vergangenheit angehören. Videoaufzeichnungen von Interviews, wie sie etwa das Visual History Archive der Shoah Foundation anbietet,[1] können den Verlust nur bedingt ausgleichen, bieten aber wohl in der Zukunft, neben Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungsliteratur, die einzige Möglichkeit, persönliche Erlebnisse und Erfahrungen der Verfolgung zu vermitteln.

Der Holocaust kann als Schablone für viele aktuelle Probleme von Asyl, Flucht, Genozid, Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, Fremdheitsgefühle im eigenen Land dienen. Solche Vergleiche sind aber nur dann sinnvoll, wenn sie mit ihrem jeweiligen historischen Kontext vermittelt werden und nicht zu einer Gleichsetzung führen, die die Gefahr einer Verharmlosung des Holocaust birgt. Aktuelle Bezüge können sinnvoll sein, bergen aber immer auch die Gefahr einer Überfrachtung der "Holocaust- Erziehung" mit gesellschaftspolitischen Ansätzen. Dies gilt ebenso für die Vorstellung, "Holocaust- Erziehung" sei ein Präventivmittel gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus, Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit oder würde gar gegen solche gesellschaftlichen Auswüchse immunisieren.

"Holocaust-Erziehung" kann Jugendliche für die Gefahren des Antisemitismus sensibilisieren, aber nie dagegen "immunisieren". Empathie ist eine notwendige Voraussetzung, moralisierende Töne hingegen sind kontraproduktiv und können Distanz und Abwehrhaltung erzeugen. Ausländerfeindlichen Äußerungen in einer Klasse mit dem Hinweis auf Auschwitz zu begegnen, ist in höchstem Maße kontraproduktiv, denn es wird weder helfen solche Ressentiments zu unterbinden, noch wird es den Opfern der NS-Zeit oder der heutigen Situation der Migranten gerecht.

Internationale Wege

Das Thema Holocaust hat inzwischen seinen nationalen Rahmen verlassen und wird in den letzten Jahren verstärkt auf internationaler Ebene diskutiert, nicht zuletzt deshalb, weil im internationalen Austausch neue Wege und Methoden erarbeitet werden können, die heutigen Anforderungen an das Thema gerecht werden. Damit wird die Zeit des Nationalsozialismus und der Genozid an den europäischen Juden in einen europäischen und internationalen historischen Kontext gestellt, der die Aufarbeitung der nationalen Vergangenheit befruchten kann. Die Gründung der "Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research" (ITF) im Jahr 1998, der inzwischen 25 Länder angehören, war Ausdruck und Ergebnis dessen, was heute als Globalisierung der "Holocaust-Erziehung" zu bezeichnen ist.

Thema Holocaust im Unterricht

Heute stehen wir in vielen europäischen Ländern vor neuen Herausforderungen im Bezug auf das Thema Holocaust im Unterricht. Migration und politische Veränderungen erfordern neue Ansätze und eine Abkehr von tradierten Mustern. Obwohl oder gerade weil in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern das öffentliche Interesse am Thema Holocaust/Shoah zugenommen hat, zeigt sich in Teilen der Bevölkerung eine zunehmend abwehrende Haltung gegenüber einer vermeintlichen Überinformation. In vielen europäischen Ländern steht der Einführung von Holocaust-Gedenktagen, der Eröffnung von Holocaust-Museen und der stärkeren Präsenz der Gedenkstätten in der pädagogischen Arbeit ein zunehmender Widerstand bei Schülern, aber ebenso bei manchen Lehrern gegenüber. In Deutschland etwa ist der Rückgang der Teilnahme an Lehrerseminaren zum Thema ein Ausdruck dieser Entwicklung.[2]

Bei Schülern, aber auch bei Lehrern, wächst das Gefühl, dass die Präsenz des Themas in den Medien ausreichend Informationen bietet und deshalb im Unterricht nur noch einer reduzierten Behandlung

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 136 bedürfe. Da Doku-Dramen, TV-Diskussionen, Spielfilme und Zeitungsartikel in der Regel nur Ausschnitte des komplexen Themas bieten und oft historische Fakten nicht adäquat oder einseitig präsentieren, ersetzt die Flut von Informationen keineswegs die Vermittlung von Fakten in Schule und Universität.

Gefühl der Übersättigung

Die Vorstellung, die mediale Aufmerksamkeit für das Thema würde gleichzeitig auch bedeuten, dass profunde Kenntnisse über den Holocaust transportiert würden, beeinflusst die "Holocaust-Erziehung " auch insofern, als durch die Informationsflut häufig ein Übersättigungsgefühl eintritt. Dies kann dazu führen, dass Schüler dem Thema im Unterricht keine entsprechende Aufmerksamkeit mehr entgegenbringen. Eine Rolle mag wohl ferner spielen, dass der Holocaust häufig im Schulalltag etwa in Deutsch, Ethik oder Religion viel früher als im Geschichtsunterricht bereits gestreift wird und wenn das Thema nach dem Chronologieprinzip des Geschichtsunterrichts dann erst viel später intensiver behandelt wird, sich der Eindruck einer ständigen Wiederholung bei den Schülern verfestigt.

Umfragen der Anti-Defamation League in den Jahren 2005 und 2007 ergaben, dass 48% bzw. 45% der Befragten in Deutschland eher der Meinung sind, Juden würden "immer noch zu viel über den Holocaust reden".[3] Hier zeigt sich, dass die mediale Präsenz des Themas nicht nur ein Übersättigungsgefühl ausgelöst hat, sondern auch den falschen Eindruck verstärkt, Juden würden ständig über ihr Schicksal reden. Die hohe Zustimmung ist daher auch Ausdruck einer Abwehr gegen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und einer Schuldzuschreibung an die Juden, die dafür verantwortlich gemacht werden, dass der immer wieder geforderte Schlussstrich unter die Vergangenheit nicht erfolgen kann.

Neue Formen der Auseinandersetzung

In der heutigen medialen Welt gehört es zu den elementarsten Bildungsaufgaben, Kindern und Jugendlichen eine kritische Medienkompetenz zu vermitteln. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit dem Internet. Die Erkenntnis der Brisanz dieses Mediums scheint bis heute noch zu wenig verbreitet. Lehrer empfehlen ihren Schülern das Internet als potentielles Nachschlagewerk oder als Informationsquelle, ohne sie im kritischen Umgang damit zu unterweisen. Gerade im Bezug auf die NS-Geschichte und den Holocaust ist die Gefahr groß, dass die Jugendlichen Seiten finden, die die Holocaust-Leugnung oder zumindest die Verharmlosung des Genozids an den Juden als vermeintliche Wissengrundlage eröffnen. Deshalb müssen neue Formen der Auseinandersetzung entwickelt werden, die der Flut von Legenden, Lügen und Verharmlosungen, die über das World Wide Web Verbreitung findet, Wissen entgegensetzt.

Der Holocaust und der Nationalsozialismus sind fester Bestandteil der Curricula in den 16 Bundesländern, neben Schulbüchern, die die Thematik ausführlich behandeln, steht eine breite Palette von Materialien ebenso zur Verfügung wie eine große Auswahl an Jugendlektüre, die sich für den Einsatz in den verschiedensten Fächern eignen. Diese Fülle an Material garantiert allerdings noch nicht, dass das Thema auch nachhaltig behandelt wird.

Häufig sind schulische Zwänge ausschlaggebend dafür, dass die Zeit für eine intensive Beschäftigung fehlt oder Lehrer andere Schwerpunkte im Unterricht setzen, die ihnen wichtiger erscheinen. Die Fülle der Themen, die die Schule vermitteln soll, erweitert sich ständig, deshalb steht zu befürchten, dass " Holocaust-Erziehung" immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Dies wäre allerdings eine fatale Entwicklung insbesondere im Hinblick darauf, dass einerseits Schlussstrichforderungen immer mehr um sich zu greifen scheinen und andererseits, vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, Vergleiche zwischen der Politik Israels gegenüber den Palästinensern mit der NS-Judenverfolgung eine offensichtliche Unkenntnis über den Holocaust offenbaren, die antisemitische Vorurteile befördert.

[1] Das Visual History Archive an der Freien Universität Berlin

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 137 www.vha.fu-berlin.de (http://www.vha.fu-berlin.de) [2] www.fasena.de (http://www.fasena.de/download/forschung/Resultate.pdf) [3] Attitudes Toward Jews in Twelve European Countries May 2005, www.adl.org (http://www.adl.org/anti_semitism/european_attitudes_may_2005.pdf); Attitudes Toward Jews and the Middle East in Five European Countries May 2007, www.adl.org (http:// www.adl.org/anti_semitism/European_Attitudes_Survey_May_2007.pdf)

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Holocaust-Erziehung und Zeitzeugen

Von Wolfgang Meseth 26.8.2008 ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Gedenk- und Erinnerungspädagogik und politische Bildung in der Schule und an außerschulischen Lernorten.

Die reale Begegnung mit Zeitzeugen ermöglicht einen Einblick in die alltäglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Aber welche Rolle spielen Zeitzeugenberichte heute bei der Holocaust-Erziehung und wie kann man Zeitzeugen in den Unterricht integrieren? Wolfgang Meseth gibt Antworten.

In den vergangenen Jahren haben sich Zeitzeugengespräche zu einem festen Bestandteil der schulischen und außerschulischen Behandlung der NS-Geschichte entwickelt. Ihnen wird ein besonderes kognitives und moralisches Lernpotential zugeschrieben. Die reale Begegnung mit Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus soll den Schülern einen Einblick in die alltäglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik eröffnen, sie zur Empathie befähigen und für Menschenrechte und Toleranz sensibilisieren.

Wenn von Zeitzeugen die Rede ist, wird in der Regel davon ausgegangen, dass es sich um die Gruppe der Verfolgten des Nationalsozialismus handelt. Diese Annahme liegt nahe, weil die Bezeichnung " Zeitzeuge" in der deutschen Erinnerungskultur vorzugsweise für diese Gruppe reserviert ist. Viele Verfolgte wurden zu Zeugen vor Gericht oder legten – wie zum Beispiel Ruth Klüger, Victor Klemperer oder Primo Levi – literarische Zeugnisse ab. Die pädagogische Festlegung von Zeitzeugen auf die Gruppe der Verfolgten ist darüber hinaus eng mit dem gestiegenen Interesse an der Alltags- und Regionalgeschichte im Nationalsozialismus in den 1980er Jahren verbunden.

Die Hinwendung zu dokumentarischen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden führte in der Pädagogik zu ersten Überlegungen, reale Begegnungen zwischen Zeitzeugen und Schülern in die pädagogische Arbeit einzubeziehen. Als Vorbild hierfür diente die Oral-History-Bewegung in den USA.

Sie ist als Teil des Selbstvergewisserungsprozesses der Bürgerrechtsbewegung entstanden, weil die Minderheiten mehr über die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte erfahren wollten und wurde dann als politisches und pädagogisches Mittel zur Bildung kollektiver Identität weiterentwickelt. Bezugspunkt der Methode waren erzählte Lebensgeschichten, die den Zuhören als Identifikationsangebot dienen und ihnen das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte geben sollten.

Die Grundsätze der Oral History wurden für die spezielle Situation der deutschen Erinnerungsgeschichte übersetzt und in das pädagogische Konzept des "Zeitzeugengesprächs " überführt. Seinen besonderen pädagogischen Wert erhält das Gespräch mit Zeitzeugen bis heute durch das Argument der Authentizität. Affektiv-moralische Erfahrungsmöglichkeiten sollen den Lernprozess der Schüler intensivieren und mit Blick auf die hohen Ziele einer Holocaust-Erziehung effektiver gestalten.

Aktuell wird über die pädagogische Bedeutung von Zeitzeugengesprächen auf verschiedenen Ebenen diskutiert: Zum einen wird der auf Wirkungssteigerung zielende Einsatz von Zeitzeugen aufgrund der offensichtlichen Instrumentalisierung der Betroffenen kritisch betrachtet. Zweitens wird die einseitige

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Festlegung von Zeitzeugen auf die Gruppe der Verfolgten problematisiert. Hingewiesen wird darauf, dass auch die Berichte von Zuschauern und Tätern des Nationalsozialismus ein wichtiges Lernpotential beinhalten. Ein dritter Aspekt liegt in der strukturellen Spannung zwischen der subjektiven Erinnerung der Zeitzeugen einerseits und dem Anspruch des Geschichtsunterrichts auf wissenschaftliche Objektivität. Viertens schließlich wird die soziale Tatsache reflektiert, dass mit dem zeitlichen Abstand zu den NS-Verbrechen die Möglichkeit von realen Begegnungen mit Zeitzeugen immer seltener wird und daher stärker über den Einsatz archivierter Zeitzeugenberichte nachgedacht werden muss.

"Authentizität" als pädagogisches Argument

Die Rede von der Authentizität, die Zeitzeugengesprächen im pädagogischen Kontext heute ihr spezielles Lernpotential verleiht, gehört seit den 1950er Jahren zu einem festen Bestandteil der Diskussion um die Darstellbarkeit des Holocaust. Theodor W. Adornos berühmtes Diktum, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", hatte damals eine öffentliche Kontroverse über die Fragen ausgelöst, ob und wie die NS-Verbrechen angemessen dargestellt werden können, ohne die historischen Ereignisse zu trivialisieren und das millionenfache Leiden der Opfer zu schmälern.

Bis heute wirkt diese Diskussion in der deutschen Erinnerungskultur nach, wird jedes Repräsentationsbemühen der Verbrechen von einer Problematisierung begleitet und auf seine Angemessenheit befragt. Ausgenommen von dieser Problematisierung waren damals wie heute die Berichte von Zeitzeugen. Die Kategorie des Authentischen bleibt für sie reserviert. Aufgrund der besonderen Leidens- und Überwältigungserfahrung wird ihnen eine "Deutungsautorität" (Reemtsma) zugesprochen. Zeitzeugenberichte stehen zum einen für historisch verbürgtes Wissen über die Verbrechen. Zum anderen besitzen sie als einzige Darstellung des Holocaust uneingeschränkt Legitimität, weil sich mit ihnen das gleichsam natürliche Recht verbindet, dem eigenen Leiden Ausdruck zu verleihen. Zudem stehen sie mit ihrer Leidensgeschichte stellvertretend für das millionenfache Leid der ermordeten Opfer, die nicht mehr berichten können.

Die Mitteilung der eigenen Leidensgeschichte gilt ebenso wie das Zuhören und die Beschäftigung mit diesen Berichten als Akt des Gedenkens, der für sich selbst steht und zunächst keinen anderen Zweck verfolgt als den, in der erinnernden Auseinandersetzung mit dem Leiden die Würde der Opfer wiederherzustellen. Zugleich dient das Gedenken aber auch der Vergewisserung des Imperatives: dafür Sorge zu tragen, dass sich dieses Leiden zukünftig nicht wiederholt. Dadurch läuft die Praxis des Gedenkens immer Gefahr, ihren Selbstzweck zu Gunsten politischer und pädagogischer Gegenwartsinteressen aufzugeben. Gerade weil das Gedenken der Opfer nicht pädagogisch konzipiert ist, Holocaust-Erziehung jedoch notwendig gegenwartsbezogene Ziele verfolgt, steht sie bei Zeitzeugengesprächen vor dem Problem, die erinnernde Auseinandersetzung mit dem Leiden der Opfer aus den Augen zu verlieren und die Betroffenen – wenngleich in guter pädagogischer Absicht – einseitig als Mittel zum Zweck der Zivilisierung zu betrachten.

Zeitzeugengespräche mit Verfolgten des Nationalsozialismus

Eine zentrale Herausforderung bei der Durchführung von Zeitzeugengesprächen wird darin gesehen, den Zeitzeugen und den Schülern gleichermaßen gerecht zu werden. Es wird empfohlen, für den Erzählenden und die Zuhörer jeweils eigene Experten vorzusehen. Eine aufmerksame Gesprächsführung, das einfühlende Zuhören und die Fähigkeit, mögliche psychische und sozialpsychologische Dynamiken aufzufangen, die ein solches Gespräch auslösen kann, sind sinnvoll nur von einem Moderator zu erwarten, der sich von pädagogischen Fragen entlastet sieht. Für diese wiederum sollte der für die Gruppe zuständige Lehrer verantwortlich sein, der das Gespräch entsprechend vorbereitet, es im Hintergrund verfolgt und unter dem Eindruck der Erfahrung des Gespräches gemeinsam mit den Schülern nachbereitet. Noch idealer ist die Zusammenarbeit mit pädagogischen Einrichtungen, die Zeitzeugengespräche für Schulklassen anbieten. Der Vorteil solcher Angebote liegt darin, dass die Einrichtungen zumeist mit professionellen Moderatoren kooperieren und pädagogische Mitarbeiter die Begegnung im Vorfeld mit den Lehrern vorbereiten und im Anschluss

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 140 auch ein erstes Nachgespräch mit den Schülern führen können.

Für das Zeitzeugengespräch mit Verfolgten bleibt zu betonen, dass der respektvolle Umgang mit dem Erzähler und die Fähigkeit des emphatischen Zuhörens einerseits selbstverständlich sein sollte, bei den Schülern allerdings nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Dadurch gerät das Zeitzeugengespräch in den Widerspruch, für eine angemessene Durchführung der Begegnung eine soziale Kompetenz in Anspruch nehmen zu müssen, die eigentlich als Lernziel formuliert wird.

Berichte von Zuschauern und Tätern des Nationalsozialismus als Lerngegenstand

Neben der erinnernden Beschäftigung mit den Berichten von Verfolgten des Nationalsozialismus wird in der pädagogischen Diskussion auch dafür plädiert, den Schülern die Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik auch aus der Perspektive der Entscheidungs- und Handlungssituation von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln. Durch die differenzierte Auseinandersetzung mit Berichten von Zuschauern und Tätern soll für die Schüler nachvollziehbar werden, wie das Handeln der Täter bzw. das Nichthandeln der Zuschauer andere Menschen zu Opfern gemacht hat und das nationalsozialistische Terrorsystem dadurch aktiv getragen und passiv geduldet wurde.

Während es in Zeitzeugengesprächen mit Verfolgten vorrangig um Empathie, das Gedenken der Opfer und die allgemeine Vergewisserung des Imperatives "Nie Wieder" geht, soll die Auseinandersetzung mit Berichten von Zuschauern und Tätern den Schülern konkrete Lern- bzw. Handlungsperspektiven eröffnen. Wie wurden Menschen zu Tätern? Warum haben nicht mehr Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung gegen die Ausgrenzungspolitik und -praxis der Nationalsozialisten protestiert? Hätte ich mich auch so verhalten? Wie lassen sich gesellschaftliche und individuelle Voraussetzungen schaffen, damit solche Verbrechen sich nicht wiederholen? In der Auseinandersetzung mit diesen und ähnliche Fragen sollen die Schüler die Handlungsspielräume der damaligen Bevölkerung aus dem konkreten historischen Kontext rekonstruieren lernen und zum Nachdenken über das eigene politische und öffentliche Engagements gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus angeregt werden.

Neben einer grundsätzlichen Befürwortung sind mit der Einbeziehung der Berichte von Zuschauern und Tätern auch pädagogische und didaktische Schwierigkeiten verbunden. So besteht bei realen Begegnungen mit Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft grundsätzlich die Gefahr, dass diese den Schülern ein problematisches Identifikationsangebot machen können, wenn sie selbst nicht genügend kritische Distanz zu ihrer damaligen Haltung wahren und sich ihrerseits zu Opfern des Nationalsozialismus machen. Um diese Identifikationsprozesse bereits im Rahmen des Gespräches zu durchbrechen, sind genaue Kenntnisse des je konkreten historischen Kontextes von besonderer Bedeutung, die seitens des Moderators, spätestens aber in der Nachbereitung durch den Lehrer in den Lernprozess eingebracht werden sollten. Unter anderem aus diesen Gründen wird von einer realen Begegnung mit Tätern des Nationalsozialismus abgeraten und auf den Einsatz von dokumentierten Erfahrungsberichten verwiesen, da mit ihnen die möglicherweise negative sozialpsychologische Dynamik eines solchen Gespräches vermieden wird.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 141 Zeitzeugengespräche zwischen subjektiver Erinnerung und wissenschaftlicher Objektivität

Ein grundsätzliches Problem, das sowohl Zeitzeugengespräche mit Zuschauern als auch mit Verfolgten des Nationalsozialismus betrifft, ist die Differenz von subjektiver Erinnerung und objektiven historischen Fakten. Nicht selten weichen die von den Zeitzeugen eingebrachten Information über historische Ereignisse im Detail vom aktuellen Stand der historischen Forschung ab. Hier gerät insbesondere der Geschichtsunterricht in Widerspruch zu seinem Anspruch, wissenschaftliche Wahrheit einerseits und die moralischen Lernziele einer Holocaust-Erziehung andererseits zu erreichen.

Während in der Holocaust-Erziehung die Identitäts- und Gewissensbildung der Schüler im Vordergrund steht, zielt der Geschichtsunterricht vorrangig auf die Ausbildung propädeutischer Kompetenzen und eines reflektierten Geschichtsbewusstsein. Dort wo es aus Sicht der kognitiven Ansprüche des Geschichtsunterrichts notwendig wäre, korrigierend einzugreifen, kann es aus der normativen Perspektive einer Holocaust-Erziehung – aber auch aus Gründen des Taktes gegenüber dem Zeitzeugen – angebracht sein, sich einer korrigierenden Bewertung zu enthalten. Um den gleichwertigen und zugleich widersprüchlichen Lernerwartungen gerecht zu werden, ist neben der genauen Sachkenntnis vor allem ein grundsätzliches Problembewusstsein über die genannte Spannung in pädagogisch arrangierten Zeitzeugengesprächen notwendig.

Mit dem zeitlichen Abstand zu den NS-Verbrechen schwindet auch die Möglichkeit der mündlichen Weitergabe von Lebenserinnerungen. Für eine Holocaust-Erziehung bedeutet der vielzitierte Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, dass sie in naher Zukunft auf die reale Begegnung verzichten muss und auf videographierte Erinnerungsberichte und Memoiren von Überlebenden verwiesen bleibt. Berichte von Zeitzeugen erlangen damit den Status von historischen Quellen. Für deren Einsatz gilt die bekannte, aber keineswegs zu unterschätzende Fragen an jedes didaktisches Arrangement: Wie ist der historische Sachverhalt – in diesem Fall die Erfahrungsberichte von Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus – sachlich angemessen und zugleich in sinnvoller Abstimmung mit den Geschichtsbedürfnissen und -interessen der Schüler zu vermitteln? Die pädagogischen und didaktischen Konsequenzen, die aus der natürlichen Historisierung der NS-Verbrechen für eine Holocaust-Erziehung folgen, haben sich in den vergangenen Jahren bereits zu einem Bezugspunkt der Reflexion entwickelt. Zu erwarten ist, dass die bislang noch relativ lose geführte Diskussion in den nächsten Jahren eine weitere Systematisierung erfährt.

Weiterführende Literatur

Assmann, J. (2000). Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck.

Elm, M. (2008): Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin

Kößler, G. (2007): Gespaltenes Lauschen. Lehrkräfte und Zeitzeugen in Schulklassen. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, S. 176-191.

Krankenhagen, S. (2001): Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln u.a.

Reemtsma, J. P. (1998): Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts. In: ders.: Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Hamburg. S. 227-253.

Henke-Bockschatz, Gerhard (2004): Der "Holocaust" als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (Hg): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt am Main, S.

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298-322.

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Erinnern unter Migranten Die Rolle des Holocaust für Schüler mit Migrationshintergrund

Von Dr. Juliane Wetzel 26.8.2008 Geb. 1957 in München, ist seit 1996 wiss. Angestellte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Sie ist geschäftsführende Redakteurin des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung.

Die Holocaust-Erziehung steht heute vor neuen Herausforderungen: Welche Bedeutung hat der Holocaust für Jugendliche mit türkischen oder polnischen Wurzeln? Und welche Folgen hat das für die Vermittlung in Schule und Unterricht?

"Holocaust-Erziehung" in multikultureller Gesellschaft

Erst in den letzten Jahren hat sich mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass die "Holocaust- Erziehung" in einer multikulturellen Gesellschaft vor neuen Herausforderungen steht. Dabei gilt es den jeweiligen Migrationshintergrund zu beachten. Schüler mit polnischen oder russischen Wurzeln sind mit anderen familiären Narrativen sozialisiert als jene, die aus dem arabischen Raum stammen oder jene, die einen türkischen Hintergrund haben. Wieder anders stellt sich die Situation bei Schülern mit Migrationserfahrung aus dem Kosovo oder weiteren Ländern des ehemaligen Jugoslawien dar.

Unterschiedlich sind nicht nur die jeweiligen Migrationserfahrungen, sondern auch die Opfer-Diskurse, die insbesondere bei der Thematik der NS-Judenverfolgung einen erheblichen Einfluss auf den Unterricht haben können. Für Schüler polnischer, russischer oder ex-jugoslawischer Herkunft ist der Nationalsozialismus Teil der Geschichte ihrer jeweiligen Herkunftsländer, aber sie bringen durchaus auch ihren eigenen Opferdiskurs mit in den Unterricht, der anerkannt werden muss, aber nicht zu Vergleichen führen darf, die den Holocaust verharmlosen.

Schüler, die aus dem arabischen Raum stammen oder gar palästinensischer bzw. libanesischer Herkunft sind, neigen dazu, den Nahostkonflikt eng mit dem Holocaust zu verknüpfen, sei es durch eine Gleichsetzung mit der israelischen Politik in den palästinensischen Gebieten oder mit einer Täter- Opfer-Umkehr, die unterstellt, Israelis bzw. "die Juden" seien nun als ehemalige Opfer zu Tätern geworden. Unter Schülern türkischer Herkunft, die weder direkt vom Nahostkonflikt betroffen sind, noch einen familiären Bezug zum Holocaust haben, ist in den letzten Jahren die Tendenz zu spüren, sich mit den Palästinensern als "Opfer" zu solidarisieren, weil sie mehrheitlich Muslime sind.

Diese Entwicklungen bleiben nicht ohne Folgen für das Thema Holocaust im Unterricht. Insofern haben politische Ereignisse im Nahen Osten und deren mediale Präsenz dazu geführt, dass Schüler mit arabisch bzw. türkischem Migrationshintergrund, die den Holocaust lange Zeit ausschließlich als ein Thema der Mehrheitsgesellschaft empfunden haben, nun ihre z. T. diffusen Eindrücke über tagespolitische Ereignisse auf den Holocaust projizieren und in den Unterricht hineintragen. Lehrer sind nur selten auf diese komplizierte Gemengelage vorbereitet, weil sie weder mit den verschiedenen Narrativen der Schüler vertraut sind, noch die komplexe Geschichte des Nahostkonflikts so beherrschen, dass sie Debatten entsprechend moderieren und die jeweiligen Opferdiskurse so kontextualisieren können, dass der Holocaust als historisches Ereignis und Erinnerungsnarrativ seinen angemessenen Platz behält.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 144 Rolle und Vermittlung des Holocaust

Erst in den letzten Jahren haben sich Pädagogen und Multiplikatoren mit Fragen nach der Rolle und der Vermittlung des Holocaust in multikulturellen Klassen auseinandergesetzt. Dies ist auch eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass erst die dritte Generation der Migranten sich in höherem Maße als Teil der bundesdeutschen Gesellschaft begreift, wenn sie auch immer noch oder gerade deshalb Ausgrenzung und Diskriminierung von der Mehrheitsgesellschaft erfährt.

Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust kann bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in vielfältiger Weise geweckt werden. Sie bietet unzählige Möglichkeiten, aktuelle Probleme der Flüchtlings- und Migrationsproblematik zu thematisieren: Sprachprobleme, kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Ausgrenzung und Verfolgung. Zugänge zum Thema können über die eigenen Erfahrungen als Minderheit, über Diskriminierungserlebnisse, über Flucht- und Asylerfahrungen geschaffen werden, wobei immer der jeweilige Kontext mitgedacht werden muss, um zu vermeiden, dass Vergleiche in einer Gleichsetzung münden, die den Holocaust marginalisiert und verharmlost.

Die Anerkennung der Migrations- und Diskriminierungserfahrung der Schüler ist notwendige Voraussetzung, um in multikulturellen Klassen Widerstände gegen das Thema Holocaust aufzubrechen. Gelingt es, Interesse an der Materie zu wecken, kann das Wissen über den Holocaust als integratives Moment wirken, wenn die Schüler die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Mord an den Juden und die Erinnerung daran als Teil der deutschen Geschichte und damit auch als Teil ihrer eigenen Geschichte annehmen.

Neue Unterrichtskonzepte

Neue Unterrichtskonzepte zum Holocaust müssen die gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigen, die sich vor allem in den Schulen mit einer multikulturellen Schülerschaft spiegeln. Insbesondere beim Thema "Holocaust-Erziehung" werden nicht nur die unterschiedliche kulturelle und soziale Herkunft der Klassengemeinschaft zu einer Herausforderung für die Lehrer, sondern auch die eigene Einstellung zur Migration, die Positionierung zur eigenen familiären Geschichte und die Wahrnehmung der sozialen Probleme der Migranten.

Zu den Vorreitern bei der Entwicklung neuer Konzepte für die "Holocaust-Erziehung" gehören die Niederlande, die schon früh auf die Herausforderungen bei der Vermittlung des Themas in einer multiethischen Gesellschaft reagierten. Ausstellungen, Bücher und Unterrichtssoftware wurden konzipiert, die z. B. die Geschichte marokkanischer Soldaten in den Alliierten Streitkräften erzählen oder von einem Friedhof berichten, auf dem alliierte marokkanische Soldaten – jüdische und muslimische – begraben sind, um den Zweiten Weltkrieg als eine gemeinsame Geschichte darzustellen, die für alle Schüler, gleich welcher Herkunft, wichtig ist. Auch in Deutschland arbeiten Gedenkstätten und außerschulische Bildungseinrichtungen inzwischen mit Dokumenten, die zeigen wie muslimische und jüdische Türken oder Bürger aus arabischen Ländern während der NS-Zeit in Deutschland diskriminiert wurden oder dem Holocaust zum Opfer fielen, um damit die Lebenswelten der Kinder zu erreichen.

Häufig werden Lehrer heute im Unterricht zum Holocaust mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert, die keineswegs ausschließlich auf Schüler mit Migrationshintergrund beschränkt sind. Aber die Angst, marginalisierte Jugendliche durch den Vorwurf, antisemitische Stereotypen zu verwenden, noch weiter ins Abseits zu stellen, veranlasst viele Lehrer dazu, antisemitische Einstellungen eher zu verharmlosen als sie konsequent zu thematisieren. Zwar sind wir in Deutschland noch eher selten damit konfrontiert, dass, wie in einigen skandinavischen Ländern oder in Frankreich und die Niederlanden, muslimische Schüler unter Protest den Raum verlassen, wenn das Thema Holocaust auf dem Programm steht, aber der Widerstand gegen solche Unterrichtseinheiten scheint auch in Deutschland zu wachsen. In den letzten Jahren sind einzelne Fällen bekannt geworden, aber eine fundierte wissenschaftliche Erforschung des Phänomens steht noch immer aus. Erst wenn empirische Daten vorliegen, kann über

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 145 das Ausmaß geurteilt werden und es können entsprechende pädagogische Konsequenzen gezogen werden.

Lehrer sind bisher kaum auf solche Situationen vorbereitet. Sowohl inhaltlich wie auch pädagogisch sind sie überfordert, wenn die Unterrichtseinheit Nationalsozialismus und Holocaust von Schülern zudem noch als Plattform benutzt wird, den Nahostkonflikt leidenschaftlich zu diskutieren und eine ganze Palette von antisemitischen Klischees in die Debatten einfließt. Jugendliche mit Migrationshintergrund wissen, dass die Erfahrung der Opfer des Holocaust im Grundkonsens der Bundesrepublik einen hohen Stellenwert einnimmt. Oberflächliches Wissen über den Holocaust und die Präsenz der Erinnerung in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft bestärken sie darin, ihre eigenen Erfahrungen als Opfer von Flucht und Verfolgung oder die ihrer Eltern- und Großeltern mit der NS-Judenverfolgung gleichzusetzen, um gleichermaßen anerkannt zu werden.

Umgang mit judenfeindlichen Klischees

Judenfeindliche Äußerungen von Jugendlichen mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund, gleich ob sie im Unterricht zum Holocaust oder in anderen Zusammenhängen fallen, müssen in der Schule thematisiert und diskutiert werden, damit sie nicht als "Wissen" auch von anderen Schülern " gelernt" werden. Allerdings wäre es pädagogisch höchst kontraproduktiv, die Schüler als Antisemiten zu denunzieren und damit zu implizieren, dass sie eine fest umrissene Weltanschauung haben, gegen die es kaum pädagogische Rezepte gibt. Zumal die Verwendung antisemitischer Klischees nicht gleichzeitig auch eine verfestigte judenfeindliche Haltung impliziert.

Schüler mit Migrationshintergrund ebenso wie Schüler deutscher Herkunft wissen, dass sie mit bestimmten Äußerungen provozieren und hektische Reaktionen von Lehrern hervorrufen können. Wichtig ist hier die Thematisierung solcher Äußerungen im Unterricht, ohne allerdings bestimmte Gruppen oder einzelne Schüler herauszugreifen. Widerstände gegen das Thema Holocaust sind ebenso wie antisemitische Klischees ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die mediale Aufmerksamkeit, die antisemitische Äußerungen insbesondere von männlichen muslimischen Jugendlichen zurzeit erfahren, birgt ebenso wie der Holocaust als identitätsstiftendes Integrationsthema in multikulturellen Klassen die Gefahr, die deutsche Verantwortung zu marginalisieren und antisemitische Stereotype der Mehrheitsgesellschaft zu verdrängen.

Zusammenfassung

Ein großer Teil der Lehrer ist eher säkular geprägt und hat nur wenig Zugang zu religiösen Themen. Deshalb fühlen sich Schüler, in deren Leben Religion eine wichtige oder gar zentrale Rolle spielt, häufig unverstanden und verschließen sich gegenüber der Vermittlung eines so emotionalen Themas wie dem des Holocaust. Religiöse und politische Dispositionen treten in den Hintergrund, wenn Lehrer einen besonderen Bezug zu ihren Schülern haben. Dann werden sie auch Themen, die zunächst Widerstand in der Klasse oder bei einzelnen Schülern ausgelöst haben, besprechen und Interesse erwecken können. Wenn die Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt stehen und nicht die Differenzen, können heterogene Lerngruppen die Auseinandersetzung mit historischen Fakten und verschiedenen Erinnerungskulturen befruchten und zu einem besseren Verständnis beitragen.

Der Holocaust wird auch in Zukunft eine unterschiedliche Rolle in den jeweiligen Erinnerungsnarrativen der multiethischen Gesellschaft spielen, aber ein gemeinsames Erarbeiten des historischen Ereignisses und der Rezeptionsgeschichte sind notwendige Voraussetzungen, um die Relevanz des Themas für die bundesrepublikanische Gesellschaft zu begreifen und anzuerkennen.

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Erinnerung ohne Zeugen

Von Michael Elm 26.8.2008 ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Zuvor arbeitete er am Fritz Bauer Institut im Arbeitsbereich Erinnerungskultur und Rezeptionsforschung. Das Thema seiner Dissertation lautete: "Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust."

In den kommenden Jahren wird es keine Überlebenden des Holocaust mehr geben, die über ihre Erlebnisse berichten könnten. Aber sie hinterlassen ihre Zeugnisse in Büchern, auf Tonbändern und Filmen. Was bedeutet der Verlust der Zeitzeugen und wie wird sich die Erinnerungskultur verändern?

Deportation jüdischer Frauen. Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Bundesarchiv, B 145 Bild-F016206-0003 / Fotograf: o.Ang.)

Seit nun gut zwanzig Jahren wird davon gesprochen, wie der Übergang der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust nach dem Ende der biografischen Zeugenschaft zu gestalten ist. Die Beunruhigung ist unter anderem ein Ausdruck davon, welch immense Bedeutung den Zeitzeugen für die Vermittlung von Zeitgeschichte zukommt. Die Entwicklung, die Augenzeugenberichte der Überlebenden des Holocaust in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, setzte 1961 mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem ein. Schon damals hatten die Zeugenaussagen eine weit über den Strafprozess hinausreichende Bedeutung, was nicht unumstritten blieb [1].

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 147 Bedeutung der Zeitzeugen

Angesichts der erheblich verbesserten technischen Aufzeichnungs- und Archivierungsmedien mag die Besorgnis über den Verlust der unmittelbaren Zeitzeugen überraschen. Der Massenmord an den europäischen Juden ist jedoch ein Ereignis, das nicht nur Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist, sondern diese auch massiv verändert hat. Da die europäischen Juden systematisch verfolgt und ermordet wurden – gegen Ende des Krieges bemühten sich Sonderkommandos der SS sogar noch um die Beseitigung von Spuren des Verbrechens [2] – sind die Berichte der Überlebenden zu besonderen Quellen innerhalb der Erinnerungsgeschichte geworden.

Ähnliches gilt für Zeugnisse von Angehörigen anderer Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Verfolgte, so genannte Asoziale, Zwangsarbeiter, rassisch oder religiös Verfolgte. Führende Historiker wie Saul Friedländer oder Yehuda Bauer haben Zeitzeugenberichte in ihre Darlegungen der NS-Geschichte aufgenommen, um bewusst subjektive Elemente und Informationen, die einem herkömmlich quellenkritischen Geschichtsverständnis nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen, verarbeiten zu können.

Erst die Stimmen der Opfer, die häufig nur durch Glück, Mut, Zufall und der Hilfeleistung einiger weniger überlebten, tragen zu einem umfassenden Verständnis dieser Epoche bei [3]. Mit dieser Bezugnahme auf Elemente der Oral History hat sich die Form der historischen Erinnerung selbst gewandelt.

Tradition der Zeugenschaft

Für ein Verständnis des zukünftigen Erinnerns ist die Kenntnis der Zeugenschaftstraditon von besonderer Bedeutung. Bekanntermaßen beziehen sich viele Überlebende des Holocaust in ihren Berichten auf die Pflicht, Zeugnis abzulegen. Diese Zeugnispflicht hat – insbesondere in der jüdischen Kultur – eine lange Geschichte. Welche Stellung können die Nachgeborenen in der intergenerationellen Tradierung einnehmen? Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat für die besondere Zeugenschaft der Holocaust-Überlebenden den Begriff des moralischen Zeugen geprägt [4].

Der moralische Zeuge unterscheidet sich vom religiösen Zeugen, also etwa dem jüdisch-christlichen Märtyrer (gr. Martys/Zeuge) oder dem islamischen Shahid, dadurch, dass er nicht durch den Tod für die Existenz seines Gottes zeugt, sondern sein Überleben notwendige Voraussetzung des Zeugnisses ist. Der religiöse Zeuge braucht demnach einen weiteren, sekundären Zeugen, der seine Tat in der Welt bekundet. Eine verhängnisvolle Modernisierung der sekundären Zeugenschaft kann man in den Bekennervideos von Selbstmordattentätern beobachten sowie in der medialen Berichterstattung über solche Anschläge, die das Publikum zu Zeugen der Tat machen.

Der moralische Zeuge des Holocaust ist demgegenüber den Toten, sich selbst und einer zunächst unwissenden, häufig auch ungewissen Öffentlichkeit verpflichtet. Nach Margalit hat er das von einem ethisch Bösen verursachte Leid selbst erfahren und zielt mit seinem Zeugnis auf die Überwindung dieses Bösen in der Welt. Das unterscheidet ihn auch vom juristischen Zeugen, der vor Gericht möglichst unvoreingenommen zu sein hat, wie vom historischen Zeugen, der an der zu überbringenden Botschaft unbeteiligt erscheint [5].

Für eine ethische Betrachtung der Zeugenschaft des Holocaust folgt daraus, dass die Nachgeborenen nicht an die Stelle der moralischen Zeugen treten können, da sie das Leid nicht selbst erfahren haben. Vielmehr kommt es auf eine bewusste Wahrnehmung der generationellen Differenz an, die die Nachgeborenen als sekundäre Zeugen zu Grenzgängern einer Erfahrung macht, der sie sich qua Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft nur annähern können. Der Mitbegründer des Fortunoff Video Archive For Holocaust Testimonies, Geoffrey Hartman, hat dafür den Begriff des intellektuellen Zeugen geprägt [6]. Eine entsprechende Gefahr bei Missachtung der generationellen Differenz liegt in einer Überidentifikation mit den Überlebenden, die leicht ebenso in Ablehnung gegenüber der gesamten Thematik umschlagen kann.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 148

Weiterführende Literatur

[1] Wieviorka, Annette (2000): Die Entstehung des Zeugen, in: Smith, Gary (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited: "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen, Frankfurt a. M., S. 136–159.

[2] Hoffmann, Jens (2008): »Das kann man nicht erzählen« "Aktion 1005" – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Konkret Literatur Verlag, Hamburg.

[3] Friedländer, Saul (2006): Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, bpb, Schriftenreihe Bd. 565, Bonn.; Bauer, Yehuda (2001): Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Reinterpretationen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

[4] Margalit, Avishai (2002): Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

[5] Assmann, Aleida (2007): "Vier Grundtypen der Zeugenschaft", in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Red.: Elm, Michael / Kößler, Gottfried, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York, S. 33-51.

[6] Hartman, Geoffrey (1999): Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Aufbau-Verlag, Berlin.

Die Übernahme von generationeller Verantwortung ist gerade im Kontext der deutschen Tätergesellschaft mit einer enormen moralischen Hypothek verbunden, die eines differenzierten historischen Zugangs bedarf. Aus entwicklungspsychologischer und pädagogischer Perspektive ist für ein zukünftiges Erinnern die Gegenwart des generationellen Zugangs zu betonen, eigene Leid- oder Ausschlusserfahrungen zu thematisieren, um im Vergleich die in der Regel enorme historische Differenz auszuloten. Ein sachbezogener, auf die Vermittlung von historischem Wissen angelegter Unterricht, der die erinnnerungskulturelle Stellung der Zeitzeugen berücksichtigt, kann besonders im schulischen Kontext den thematischen Zugang vereinfachen [7].

Audiovisuelle Zeugnisse der Überlebenden

Damit werden die audiovisuellen oder schriftlichen Zeugnisse der Überlebenden zu historischen Quellen, die es in ihrer emotionalen und affektiven Dimension zu verstehen, aber auch als mediale Kunstprodukte zu re- und dekonstruieren gilt. Entsprechende geschichtsdidaktische Konzepte zur Förderung historischer Kompetenz und zur Analyse von Zeitzeugendarstellungen im Dokumentar- und Spielfilm haben etwa Bodo von Borries und Waltraud Schreiber entwickelt [8]. Generell ist es wichtig, dass die Zeugnisse nicht nur defizitär – in Abgrenzung zur unwiederbringlichen Situation der direkten Begegnung – verstanden werden.

Die medialen Artefakte transformieren durch ihre spezifische Form zwar den Gehalt des Ausgesagten, bringen dabei aber eigenständige Qualitäten hervor [9]. Dazu zählt nicht nur die prinzipielle Wiederholbarkeit der medialen Situation, sondern ebenso technische wie ästhetische Besonderheiten wie Großaufnahmen, Schnitt und Montage die den Rezipienten eigenständige Zugangsformen eröffnen. In der Regel sind videografierte Zeitzeugeninterviews so gestaltet, dass der Zeitzeuge knapp an der Kamera vorbei, auf den Interviewer blickt. Für die späteren Betrachter wird durch den fehlenden direkten Blickkontakt eine ästhetische Distanz erzeugt, die je nach Zuschauerneigung eine vorsichtige Annäherung oder auch voyeuristische Haltungen fördert.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 149 Zeitzeugen in Filmen und Dokumentationen

Die zunehmende Verwendung von Zeitzeugenaufnahmen in dokumentarischen und fiktionalen Filmen macht es notwendig, ein historisches, kulturwissenschaftliches und medienpädagogisches Verständnis dieser Artefakte zu erwerben. So werden die entsprechenden Szenen mit Zeitzeugen meist zur Authentifizierung der jeweiligen filmischen Erzählung verwendet, das heißt, sie dienen dem Eindruck, eine Atmosphäre des Dabeigewesenseins und der Unmittelbarkeit zu erzeugen. Als Beispiel aus dem Bereich des fiktionalen Films kann hierfür "Der Untergang" von Oliver Hirschbiegel angeführt werden, in dem die Filmhandlung durch eine Videosequenz mit Hitlers ehemaliger Sekretärin Traudl Junge gerahmt wird [10]. Generell kann davon ausgegangen werden, dass im Bereich der so genannten Event-Movies der Bezug auf Zeitzeugen einem Trend zur Personalisierung und Emotionalisierung von geschichtlichen Darstellungen unterliegt [11].

Jüngere Untersuchungen zur Verwendung von Zeitzeugendarstellungen in deutschen TV- Dokumentationen, etwa den ZDF-Produktionen unter der Leitung von Guido Knopp, belegen eine Ausweitung von Opfernarrativen auf tendenziell alle Zeitgenossen des Zweiten Weltkriegs [12]. Ehemalige Angehörige der Wehrmacht nehmen die gleiche Sprecherposition wie Angehörige der verschiedenen Opfergruppen ein. Aus den an der deutschen Kriegsführung beteiligten Akteuren sind Kommentatoren und Geschichtsexperten geworden. Es zeichnet sich im deutschen, aber auch insgesamt im europäischen Gedächtnis eine Entwicklung ab, bei die nationalen Geschichtserzählungen in eine umfassendere, die Opfergeschichte einschließende Perspektive gebracht wird. Im retrospektiv aufgeklärten Blick verwischen sich leicht die Grenzen zwischen Opfern und Tätern und geht die gewiss begrüßenswerte Perspektiverweiterung mit einer historischen Unschärfe einher.

In einer zukünftigen Erinnerung erscheint es sinnvoll, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust durch die widerstreitenden, ethnisch und national diversifizierten Gedächtnisse hindurch zu erinnern. Diese haben mit den zahlreichen, auch regional in Archiven niedergelegten Zeugenschaftsberichten ein menschliches Gesicht bekommen. Deren Nutzung und Aktivierung ist unvermeidlich vom generationellen Interesse der Nachgeborenen und einer interessierten Pädagogik abhängig. Vielleicht kann die den Zeugenschaftsberichten inhärente Verpflichtung, gesehenes Unrecht gegenüber der Öffentlichkeit zu berichten, einen Anstoß liefern, diese Tradition zu beleben. Damit wäre der geschichtlichen Erinnerung wie den gegenwärtigen Verhältnissen gleichermaßen gedient.

Weiterführende Literatur

[7] Kößler, Gottfried (2004): "Menschenrechtsbildung und historisches Lernen. Erfahrungen mit dem Projekt »Konfrontationen«", in: Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York, S. 237–251.

[8] Schreiber, Waltraud/Wenzel, Anna (Hrsg.) (2006): Geschichte im Film. Beiträge zur Förderung historischer Kompetenz, Themenhefte Geschichte 7, ars una, Neuried.

[9] Schneider, Christoph (2007), ">Das ist schwer zu beantworten und entschuldigen Sie, wenn mir jetzt die Tränen kommen< Medialität und Zeugenschaft", in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Red.: Elm, Michael/Kößler, Gottfried, Frankfurt a. M./New York, S. 260-279.

[10] Frölich, Margrit / Schneider, Christian/Visarius, Karsten (Hrsg.) (2007): Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film, edition text + kritik, München.; Wildt, Michael (2008): " DER UNTERGANG: Ein Film inszeniert sich als Quelle", vgl.: www.zeithistorische-forschungen.de (http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208312/default.aspx), eingesehen 25.08.2008.

[11] Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.) (2008): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 150 im Fernsehen, UVK, Konstanz.

[12] Keilbach, Judith (2008): Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Lit Verlag, Münster.; Elm, Michael (2008): Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Metropol Verlag, Berlin.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 151

Medien und Erinnerung

Von Christoph Classen 26.8.2008 ist Projektleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a: Medien- und Kommunikationsgeschichte, Erinnerungskultur und politische Kulturforschung. Er ist u.a Autor des Buches: "Bilder der Vergangenheit. Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965. Köln, Weimar, Wien 1999"

Die Formen der Erinnerung haben sich in den vergangenen Jahren durch die Massenmedien gewandelt. Seit der Medienrevolution besteht geradezu ein "Erinnerungsboom", meint Christoh Classen. Aber wie beeinflussen moderne Medien die Erinnerung?

Eine Festplatte ist ein magnetisches Speichermedium der Computertechnik. Lizenz: cc by-sa/2.0/de (Alpha six/flickr. com)

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 152 "Erinnerungsboom" in den Massenmedien

Der gegenwärtige "Erinnerungsboom" ist schwer denkbar ohne die modernen Massenmedien. Erst die allgemeine Verfügbarkeit diverser Medien von Zeitungen und Zeitschriften über das Radio und Fernsehen bis hin zu Computern hat die Voraussetzungen für eine so weitreichende Beschäftigung mit der Vergangenheit geschaffen, wie wir sie heute tagtäglich erleben: von öffentlichen Debatten zur Denkmalkultur über Fernsehdokumentationen bis hin zum "Oldie" auf dem privaten mp3-Player. Die Voraussetzung dafür ist jene "Medienrevolution", die das Leben der Menschen in den letzten Hundert bis Hundertfünfzig Jahren grundlegend verändert hat. Zwar war die Entwicklung und Ausbreitung neuer Medien zunächst vor allem auf die Überwindung von räumlichen Distanzen gerichtet, unbestreitbar ging damit aber auch ein verändertes Verhältnis zur Zeit einher.

Angesichts dieses grundlegenden Wandels der Raum- und Zeiterfahrung ist es wenig überraschend, dass bis vor kurzem kaum darüber nachgedacht worden ist, welche Konsequenzen die Medienrevolution für das Verhältnis zur Vergangenheit hat. Dabei ist davon auszugehen, dass dies sowohl die individuelle Erinnerung beeinflusst, als auch die Art, wie sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit (und damit ihrer Identität) versichern.

Formen der Erinnerung

Um sich die Reichweite der Veränderungen vor Augen zu führen, hilft ein Blick in die fernere, vormoderne Vergangenheit: Lange Zeit waren mündliche Erzählungen und Rituale für die Mehrzahl der Menschen die wichtigste Form der Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Sie wurden oft von Generation zu Generation weitergegeben. Im Bereich der privaten Familienerinnerung spielen solche Erzählungen auch noch heute eine wichtige Rolle – mit dem Unterschied, dass die mündliche Tradierung sich heute in der Regel auf den privaten Raum beschränkt und sie zudem nicht mehr allein steht. Natürlich gab es auch früher schon Handschriften und Bücher, in denen Darstellungen der Vergangenheit schriftlich oder in Bildern festgehalten wurden.

Aber solche Bücher waren etwas Exklusives; sie waren den meisten Menschen schon deshalb nicht zugänglich, weil sie selbst nicht lesen und schreiben konnten. Ihr Inhalt hatte daher auch kaum etwas mit dem Alltag, dem Erleben und der unmittelbaren Vergangenheit zu tun, sondern sie bezogen sich – wie beispielsweise die Bibel – auf eine ferne, mystische und außeralltägliche Vergangenheit oder auf die Traditionen der regierenden Fürstenhäuser. Ihre Funktion bestand vor allem darin, die etablierten religiösen und politischen Normen und Werte zu sichern und die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu legitimieren. Vermittelt wurde diese gewissermaßen "heilige" Vergangenheit über Priester und Gelehrte, gelegentlich gestützt durch Bilder, wovon bis heute die Fresken und Wandmalereien in vielen Kirchen zeugen.

Die Schrift, auch die Malerei als Speichermedium für Vergangenes, diente also lange Zeit vorwiegend dieser "offiziellen" Erinnerung, dem "kulturellen Gedächtnis" (Jan Assmann). Die Möglichkeiten, sich jenseits dessen der Vergangenheit zu vergewissern, die über die eigene Lebensspanne hinausreichte, waren für die Bevölkerung somit sehr gering; sie waren auf Erzählungen, Feste und andere Riten beschränkt. Mit der Verfügung über die Speichermedien Schrift und Malerei war nicht nur eine autoritative Verwaltung der Erinnerung verbunden, sondern dies hatte auch unmittelbare Auswirkungen auf die Zukunftserwartungen: Die Vorstellung von "Geschichte" als prinzipiell offenem Prozess, von einer kontingenten Zukunft, in der vieles ganz anders sein könnte als in der Gegenwart, gehörte nicht zum Deutungshorizont des vormodernen Menschen.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 153 Bedeutung von Speichermedien

Der kleine historische Exkurs mag veranschaulichen, welche Bedeutung Speichermedien wie Schrift und Bild für die Erinnerung und darüber hinaus die Zeiterfahrung insgesamt hatten und noch immer haben, auch welches Machtpotential aus der Verfügung darüber erwuchs. Was überhaupt erinnert wird und in welcher Form dies geschieht, ist also nicht nur davon abhängig, wer die Medien kontrolliert, sondern auch, in welchen Medien die Erinnerung transportiert oder besser geformt wird. Medien sind nämlich nie nur neutrale Speicher oder Vermittler von Wirklichkeit; vielmehr strukturieren sie unsere Wahrnehmung, indem sie ihren eigenen Logiken folgen. So neigen beispielsweise Film und Fernsehen dazu, Geschichte zu personalisieren und anhand von Ereignissen darzustellen, weil sie auf bewegte Bilder angewiesen sind und für die Darstellung meist nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht. Komplexe analytische Zugänge, auch die Darstellung von historischen Prozessen lassen sich in diesen Medien kaum realisieren. Dafür weisen sie eine sinnliche Qualität auf; sie können emotionale Anteilnahme provozieren und Geschichte erlebbar machen, wie dies kein wissenschaftliches Buch jemals könnte.

Die Darstellungen unterschiedlicher Medien wie Buch, Fotografie und Fernsehen beeinflussen aber nicht nur kollektive Erinnerungsprozesse, sondern wirken auch darauf ein, wie wir uns individuell erinnern. So hat der Sozialpsychologe Harald Welzer herausgefunden, dass manche Menschen populäre Filme und Romane als Vorlagen für ihre eigenen Lebensgeschichten benutzen, offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein. Familienfotos, alte Briefe, Zeitungen, Popmusik, aber auch Konsumprodukte dienen oft als Anlass, sich an vergangene Zeiten zu erinnern und darüber zu sprechen. Die Fernseh- und Radiosender haben das nostalgische Bedürfnis vieler älterer Menschen, sich an "früher" zu erinnern, seit einiger Zeit erkannt und bedienen es mit diversen Shows und Musiksendungen über die fünfziger bis hin zu den achtziger Jahren sowie der Wiederholung alter, " zeitgeistiger" Serien bzw. Musiktitel.

Solche Alltagspraxen und kulturelle Überformungsprozesse geben bereits erste Hinweise auf die Frage, wie sich die stürmische Entwicklung der modernen Massenmedien während des 20. Jahrhunderts auf Erinnerungsprozesse ausgewirkt hat. Wie eingangs bereits angesprochen, ist dieser Prozess gewiss mitverantwortlich für das Anwachsen erinnerungskultureller Bezüge. Es stehen schlicht viel mehr und eben auch unterschiedliche Medien zur Verfügung, die als Träger oder Anlass von Erinnerung dienen können. Zu den meisten dieser Medien hat zumindest in den westlichen Industrienationen potentiell jedermann Zugang. Mit der Digitalisierung sind die Speichermöglichkeiten (und damit die Menge der potentiellen Erinnerungsanlässe und –bezüge) schier ins Unermessliche gewachsen. Die Verfügung über gesellschaftliche Erinnerungen ist daher viel weniger als früher die Sache von Eliten, sondern wir haben es mit pluralen Öffentlichkeiten zu tun, in denen sich ganz unterschiedliche, häufig konkurrierende Deutungen und Formen der Erinnerung (und daran gebundene Identitäten) gegenüberstehen. Der Pluralisierung der westlichen Gesellschaft entspricht die Pluralisierung der Erinnerungen.

Die Durchsetzung der modernen Massenmedien hat aber nicht nur zu einem "Mehr" an Erinnerung geführt. Zugleich haben sich auch die Gesetzmäßigkeiten geändert, die darüber entscheiden, was überhaupt zum Anlass und Gegenstand kollektiver Erinnerung wird. Während dies früher primär eine politische Frage war, die in der Regel im nationalen Rahmen verhandelt wurde, sind heute die Bedingungen einer kommerzialisierten, transnationalen Eventkultur mindestens ebenso wichtig. Dies hat zwar einerseits zur Relativierung geschichtspolitischer Polarisierungen geführt, hat aber andererseits auch viele problematische Folgen: Unübersehbar ist beispielsweise die Konzentration auf spektakuläre und sensationelle Themen, wie beispielsweise Aspekte der Geschichte des Nationalsozialismus, die zudem bisweilen voyeuristisch inszeniert werden.

Nicht selten wird versucht, mit (vermeintlichen) Tabubrüchen oder überzogenen, umstürzenden Thesen auf sich aufmerksam zu machen, obwohl sie kaum haltbar sind. Und es grassiert eine Fixierung auf " runde" Jahrestage, die dazu führt, dass die Erinnerung an Ereignisse wie die Studentenunruhen 1968 oder die Gründung und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1949/1989 im jeweiligen

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Jubiläumsjahr jegliches Maß zu sprengen scheint und dadurch zu Überdruss und Ablehnung führt. Dahinter stehen die marktförmigen Logiken einer Medienöffentlichkeit, die von immer mehr Angeboten geprägt ist und wo es deshalb vor allem darauf ankommt, Aufmerksamkeit und Interesse zu erregen.

Die "visuelle Revolution"

Einen entscheidenden Einfluss auf die Erinnerungskultur hat zudem die "visuelle Revolution", die Etablierung von technisch reproduzierbaren Bildern in Form von Fotos, Filmen und Fernsehen. Zu Recht ist das 20. Jahrhundert auch als "Jahrhundert der Bilder" (Gerhard Paul) bezeichnet worden. Fotografie und Film suggerieren uns, objektive Abbilder der Wirklichkeit zu liefern. Tatsächlich ist häufig unklar, was wir auf einem Bild tatsächlich sehen. Sie bedürfen eher noch stärker der Interpretation und Kontextualisierung als sprachliche Aussagen.

Die Macher der Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht haben dies in den neunziger Jahren schmerzlich erfahren müssen: Die Ausstellung musste seinerzeit zurückgezogen werden, weil manche Bilder nicht die Ereignisse zeigten, denen man sie zugeordnet hatte. Bilder machen uns leicht vergessen, dass auch sie nur selektive Wirklichkeiten transportieren, dass es sich um Momentaufnahmen handelt, deren Perspektiven, Ausschnitte und andere Gestaltungsmerkmale subjektiv, tendenziös und manchmal manipulativ sind – von den Möglichkeiten des Films wie Kameraperspektive, Schnitt, Ton und Musik etc. gar nicht zu reden. Hinzu kommt, dass viele Bilder nachträglich mit Bedeutungen aufgeladen werden, die sie ursprünglich gar nicht hatten. Die Verwendung von historischen Bildern dient besonders in Fernsehdokumentationen oft weniger der Aufklärung, als der bloßen Illustration – oder gar dem Versuch, uns vergessen zu machen, dass uns dort keineswegs die einzig richtige, objektive historische Wahrheit präsentiert wird.

Die Digitalisierung bringt weitere tiefgreifende Veränderungen mit sich. Die immer besseren Möglichkeiten, historische Vorgänge computergestützt scheinbar wirklichkeitsgetreu nachzustellen, wie etwa den Bombenangriff vom Februar 1945 auf Dresden in Roland Suso Richters gleichnamigem Film, haben es nicht leichter gemacht, diese visuellen Inszenierungen als solche zu durchschauen. Vielleicht noch bedeutsamer ist die "Verflüssigung" von Erinnerung in Medien wie dem Internet: Informationen sind hier nicht mehr statisch gespeichert wie in den klassischen Medien. Anders als auf Papier kann hier ein Text oder ein Bild jederzeit und ohne nennenswerten Aufwand verändert werden – fast unmerklich könnte hier aus einem "Dissidenten" ein "Despot" oder aus einem "Verehrer" ein " Verräter" werden.

Nicht nur, aber besonders mit den digitalen Medien, dem "World Wide Web", ist zudem das Paradigma der globalen Verfügbarkeit und transnationaler Medienwirkungen verbunden. Es steht daher die Frage im Raum, ob dies auch zu einer weltweiten Angleichung von Erinnerungskulturen führt; besonders bezogen auf die Erinnerung an den Holocaust ist so argumentiert worden. Dabei steht außer Frage, dass transnationale Medienwirkungen auch im Bereich der Erinnerungskultur von Bedeutung sind. Ein frühes Beispiel dafür ist der Erfolg der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" in Deutschland Ende der siebziger Jahre. Erst seitdem wurde auch in Deutschland zunehmend der jüdischen Opfer gedacht. Wie allerdings solche transnationalen Einflüsse mit nationalen und regionalen Traditionen zusammenwirken, ist derzeit noch wenig untersucht.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 155 Kommerzialisierung der Erinnerungskultur

Die Popularisierung, Kommerzialisierung und Verflüssigung der Erinnerungskultur erzeugt bei vielen Menschen verständlicherweise eine Sehnsucht nach "der Wahrheit", nach "Authentizität" und unumstößlichen Fakten; schon Walter Benjamin hat vor mehr als sieben Jahrzehnten den Verlust der " Aura", des "Echten" im "Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" beklagt. Diesen Wünschen haftet etwas Paradoxes an, weil jede öffentliche Erinnerung medial vermittelt ist, und, wie oben angedeutet, selbst unsere individuellen, privaten Erinnerungen kulturell geprägt und durch Medien ebenso wie durch spätere Erfahrungen beeinflusst sind.

Viele Filmemacher, Autoren und Fernsehregisseure bedienen dieses Bedürfnis gleichwohl, indem sie versprechen, "wahre" Geschichten zu erzählen oder, wie in den Produktionen Guido Knopps, eine Legion von Zeitzeugen aufmarschieren lassen. Letztere sollen durch ihr persönliches Miterleben die Darstellung der Filme beglaubigen.

Im deutschen Kontext haben in den letzten Jahren unter anderem die Regisseure von Spielfilmen wie " Sophie Scholl", "Der Untergang" und "Rosenstraße" den Anspruch erhoben, exakte Rekonstruktionen der Vergangenheit zu liefern. Genau dafür eignet sich das Medium des populären Spielfilms mit seinen spezifischen dramaturgischen und ästhetischen Zwängen jedoch kaum. Spielfilme transportieren subjektive Vorstellungen über die Vergangenheit – im guten Fall sind sie emotional eindrucksvoll inszeniert und dadurch Träger einer eigenen, ästhetisch-künstlerischen Wahrheit. Einen Zugang zu einer – ohnehin unverfügbaren – objektiven historischen Wahrheit können sie dagegen ebenso wenig bieten wie die subjektiven Erinnerungen von Zeitzeugen. Wir tun daher gut daran, stets im Hinterkopf zu behalten, dass es sich auch bei den eindrucksvollsten medialen Inszenierungen immer nur um mehr oder weniger plausible Gegenwartsvorstellungen der Vergangenheit handelt. Literatur

Assman, Aleida/Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u.a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994, S. 114-140.

Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 32000.

Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Claus Pias (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, S. 18–36.

Erll, Astrid/Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin/New York 2004.

Kaschuba, Wolfgang, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt/M. 2004.

Paul, Gerhard (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006.

Paul, Gerhard, Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute. Göttingen 2008.

Medien & Zeit. Themenheft Kommunikationsgeschichte als Generationengeschichte. Heft 3/2006.

Moller, Sabine, Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland. Tübingen 2003.

Vansina, Jan, Oral Tradition: A Study in Historical Methodology. Chicago 1965.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 156

Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002.

Welzer, Harald/Sabine Moller/Karoline Tschugnall, "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002.

Online-Publikationen und Links:

Faulstich, Werner, Geschichte der Bildkultur bis zum Visualisierungsschub im 19. Jahrhundert, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Von der Felswand zum Cyberspace, www.bpb.de (http:// www.bpb.de/themen/N49ABC,0,Bilder_in_Geschichte_und_Politik.html)

Faulstich, Werner: Die Entfaltung der Bildkultur in den Medien des 20. Jahrhunderts, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Von der Felswand zum Cyberspace, www.bpb.de (http://www.bpb.de/ themen/N49ABC,0,Bilder_in_Geschichte_und_Politik.html)

Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie "Holocaust" – Rückblicke auf eine "betroffene Nation ", Beiträge und Materialien, hg. von Christoph Classen, März 2004, www.zeitgeschichte-online.de (http://www.zeitgeschichte-online.de/md=FSHolocaust-Inhalt) Sonderforschungsbereich 434 "Erinnerungskulturen" an der Justus-Liebig-Universität Gießen, www.uni-giessen.de (http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/home/index.html)

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Erinnern in Europa

Von Christoph Corneließen 27.10.2008 Prof. Dr. Christoph Corneließen ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Geschichte der deutschen und internationalen Historiographie, International vergleichende Erforschung von Erinnerungskulturen und die Geschichte Europas.

Der Holocaust ist in der europäischen Erinnerungskultur verankert. Aber kann man auch von einem gemeinsamen europäischen Gedächtnis sprechen? Welche nationalen Unterschiede gibt es?

Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ist in vielen Gesellschaften Europas eine auffallend starke " Konjunktur des Gedächtnisses", teilweise sogar ein ausgesprochener Memory Boom zu beobachten. Meist standen hierbei der nationalsozialistische Völkermord sowie die Erinnerung an die deutsche Besatzungsherrschaft sowohl im Osten als auch im Westen Europas im Mittelpunkt eines breiten öffentlichen Interesses. Obwohl es sich hierbei um ein transnationales Phänomen handelt, behielten jedoch fast überall die nationalen Varianten der Gedenkkultur die Oberhand. Dass dies zunächst in den ersten Jahrzehnten nach 1945 gar nicht anders hatte sein können, wurzelt in den sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen sowohl von Individuen, größeren sozialen Gruppen als auch ganzen Nationen. Schon bald darauf entfaltete jedoch ebenso die öffentliche Gedenkpraxis ihr eigenes Gewicht, so dass jeweils nationale Deutungen sich tief in den Erinnerungshaushalt der Nationen eingraben konnten. Ohne Zweifel war hierbei auch das bereits ältere Erbe aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wirksam, war doch schon in der Zwischenkriegszeit über die Schulen und eine immer weiter ausgreifende Nationalisierung der Erinnerungskulturen die entsprechende Richtung vorgezeichnet worden.

Ost-Westtrennung der Erinnerung nach 1945

Nach 1945 aber kam noch Weiteres hinzu: So sorgte die andauernde Ost-West-Spaltung Europas dafür, dass die Regierungen im Osten es lange Zeit vorzogen, im Signum des "Antifaschismus " Belastendes aus der eigenen Vergangenheit Richtung Westen zu verschieben. Aber auch im "Westen " waren weder die Regierungen noch die Bevölkerungen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten dazu bereit, sich offenherzig mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Im Einzelfall konnte das eine sehr unterschiedliche Gestalt annehmen, aber doch überwogen fast überall das Verdrängen und das Vergessen. Obwohl bereits im Laufe der 1960er Jahre erste Risse in diesem homogenisierenden Gedenken auftraten, unter anderem, weil seit dieser Zeit die historische Täter- und Opferforschung ein differenzierteres Bild des Kriegsgeschehens wie auch des Holocaust zeichneten, schufen endgültig erst die weltpolitischen Umbrüche von 1989/90 und das Ende der Blockkonfrontation die Voraussetzungen dafür, dass die Europäisierung des Erinnerns auf die Agenda der Politik rücken konnte.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 158 Europäisches Gedächtnis?

Auch vor dem Hintergrund des ständig laufenden Generationswandels sowie der inzwischen weit vorangeschrittenen politischen und wirtschaftlichen Integration der Europäischen Union ist in den letzten Jahren die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die Begründung und Förderung eines " europäischen Gedächtnisses" notwendig sei. Ein wesentlicher Anstoß hierzu ging von den internationalen Feiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa aus. Endgültig aber erst mit der Stockholmer Internationalen Holocaust-Konferenz vom Januar 2000 rückte das Bemühen vieler Regierungen in den Vordergrund, den Völkermord an den Juden zu einem gemeinsamen, wenn auch negativen Hauptbezugspunkt der europäischen Erinnerungskultur auszuwählen. Seit dieser Zeit haben viele Mitglieder der Europäischen Union den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz am 27. Januar 1945 in ihren offiziellen Gedenkkalender aufge-nommen und zelebrieren alljährlich entsprechende Gedächtnisfeiern. Freilich hat sich bislang gezeigt, dass die Intensität dieses öffentlichen Gedenkens in den einzelnen Staaten sehr schwankt. Überdies hat sich in den letzten Jahren ein gedächtnispolitischer Streit insbesondere entlang der früheren Ost-West-Trennlinie Europas über die Frage eingestellt, welchen Stellenwert die politisch-kulturelle Erinnerung an die NS-Jahre im Vergleich zu der sowjetischen Hegemonialpolitik einnehmen sollte. Insbesondere aus Ostmitteleuropa, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern ist immer wieder der mahnende Appell zu hören, den Opfern des sowjetisch angeführten Kommunismus im öffentlichen Gedenken einen ebenso würdigen Platz einzuräumen wie den Opfern der NS-Diktatur und NS-Besatzungsherrschaft .

Begriff und Bedeutung von Erinnerungskultur

Erinnerungskulturen sind also immer das Ergebnis konfliktreicher politischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Was aber ist überhaupt mit diesem Begriff gemeint? Im Grunde handelt es sich hierbei um einen erst seit den 1990er Jahren sowohl in die Wissenschafts- als auch allgemeine Sprache eingedrungenen Terminus, der zunehmend an die Stelle der älteren, vergleichsweise pathetisch konnotierten Formulierung "Vergangenheitsbewältigung" gerückt ist. In einer Definition des Münchner Historikers Hans-Günter Hockerts stellt "Erinnerungskultur" einen "lockeren Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte für die Öffentlichkeit" dar . Um jedoch der Dynamik von Erinnerungskulturen gerecht werden zu können, sollte man ergänzen: Erinnerungskulturen sind das Ergebnis von Aushandlungen in der Öffentlichkeit, die sich aus einem Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und Erinnerung, politisch normierter sowie gesellschaftlich gewünschtem Gedenken und wissenschaftlich objektivierter Geschichte ergeben. Ein wesentliches Spannungsmoment ergibt sich hierbei daraus, dass die öffentlich sanktionierten Erinnerungspraktiken keineswegs immer oder sogar dauerhaft mit privaten Formen der Erinnerung überein-stimmen müssen. Im Gegenteil, die Tradierung von Vergangenheit über die Familie erzielt wegen der ihr eigenen emotionalen Seiten regelmäßig eine nachweisbar höhere Wirkungsmacht als öffentliche Gedächtnisfeiern oder die pädagogische Geschichtsvermittlung .

Erinnerungskulturen in Europa

Wenn man die gesamte Nachkriegsepoche seit 1945 in den Blick nimmt, lassen sich grob gesprochen drei Phasen der Erinnerungskultur in Europa voneinander unterscheiden. Paradigmatisch kennzeichnend für die erste Teilphase der Vergangenheitsbewältigung bis Mitte der 1960er Jahre war fast überall der starke Kontrast zwischen der Konkretheit der millionenfachen Kriegs-, Vernichtungs- und Verlusterfahrungen auf der einen Seite sowie ihrer sprachlichen Dekonkretisierung im öffentlichen Raum auf der anderen Seite. Was sich in der Bundesrepublik als Entkonkretisierung, Beschweigen, Vergessen oder sogar als Verdrängung äußerte, bei der allerdings nicht die normative Abgrenzung von der NS-Vergangenheit übersehen werden darf, weist zahlreiche Parallelen zu ähnlich gelagerten Entwicklungen im europäischen Ausland auf. So blieb in Frankreich die Kollaboration des Vichy- Regimes mit dem Nationalsozialismus zunächst für weit länger als ein Jahrzehnt aus der französischen Erinnerungskultur ausgeblendet. Hier wie auch in den meisten anderen vormals von den deutschen Truppen besetzten Ländern traten letztlich deutliche Spannungen auf bei dem Versuch, einerseits die

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Vergangenheit zugunsten des nationalen Wiederaufbaus auszublenden und andererseits die "Helden " und "Opfer" zu würdigen, während gleichzeitig gegen die Kollaborateure, Faschisten und " eingeborenen" Antisemiten Prozesse geführt wurden. Diese Lage mündete in vielen Ländern nach dem Kriegsende in erinnerungspolitischen "Karenzzeiten" von rund ein bis zwei Jahrzehnten.

Vielfach gefördert von dem laufenden Wandel der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch aufgrund neuer Enthüllungen änderte sich die Zielrichtung der nationalen Erinnerungskulturen in Europa in der Zweiten Phase von Mitte der 1960er Jahre bis zum Ende der Ost-West-Blockkonfrontation erheblich. Während in der Bundesrepublik sich der zuvor stark selbstbezogene nationale Opferdiskurs allmählich auf einen Täterdiskurs verlagerte, was ebenfalls zu einem veränderten Umgang mit den ehemaligen Orten des NS-Terrors in vielen deutschen Städten und Gemeinden führte – Beispiele wären dafür die Eröffnung von Gedenkstätten auf dem Gelände der ehemaligen Konzentrationslager in Dachau und Bergen-Belsen, wurden gleichzeitig im westlichen Ausland überkommene Opfer-/Täter-Zweiteilung in Frage gestellt. Außerdem können wir beobachten, wie fast im gesamten europäischen Westen im Laufe der 1970er Jahre Fragen zur Kollaboration zwischen Besatzern und Besetzten sowie zum Antisemitismus der besetzten oder mit dem "Dritten Reich" alliierten Länder zu Themen mit breiter öffentlicher Resonanz aufrückten. Freilich blieben auch noch in dieser Phase viele Opfergruppen weiterhin aus dem nationalen Gedenkkult ausgeschlossen. Teilweise kam es sogar zu gegenläufigen Entwicklungen, erfuhr doch beispielsweise in Italien die nationale Widerstandsbewegung in der zweiten Phase eine politisch sanktionierte Überhöhung mit geradezu mythischen Bezügen.

Erinnerungskultur nach 1989

Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und in der Deutschen Demokratischen Republik haben sich jedoch die Rahmenbedingungen für nationale Erinnerungskulturen in Europa erneut entscheidend gewandelt. Zu den sichtbaren Begleiterscheinungen des eingetretenen Umbruchs zählen seitdem das Schleifen und die Zerstörung zahlreicher Denkmäler sowie ihre Umgestaltung oder ihr Ersatz durch neue materielle Erinnerungszeichen. Zwangsläufig änderte sich ab 1989 ebenso die Gestaltung der politischen Inszenierung im Rahmen öffentlicher Erinnerungsfeiern.

Im Zuge dieser Entwicklung kam in Europa eine Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust in Gang, deren Anfänge zwar bis in die 1970er Jahre zurückreichen, aber erst in der dritten Phase zum Mittelpunkt einer transnationalen europäischen Erinnerungskultur aufstiegen. Damit einher ging ein grundlegender Perspektivenwandel, der als ein sich beschleunigender Prozess einer Geschichtsbetrachtung aus der Opferperspektive verstanden werden kann. Ob in Gedenkfeiern, medialen oder auch historiographischen Darstellungen: Zunehmend werden die Opfer in das Zentrum gerückt, während in der Vergangenheit die nationalen Narrative meist die Figur des Helden bevorzugt hatten. Es handelt sich hierbei, so der französische Historiker Henry Rousso, um den bedeutsamen Übergang von einem politischen zu einem moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung .

Obwohl hierüber eine Pluralisierung wie auch eine Universalisierung der Gedächtniskulte in Europa in Gang gekommen ist, darf eine solche Erweiterung der nationalen Gedenkdiskurse nicht zu einer beliebigen Homogenisierung der Erinnerungen führen. Denn die konkreten Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg bleiben nun einmal von Land zu Land, aber auch von Region zu Region, wie auch zwischen sozialen Gruppen, Generationen oder auch Geschlechtern ausgesprochen unterschiedlich. Davon kann und darf eine wie immer geartete "gesamteuropäische Erinnerungskultur" nicht absehen. Was allerdings zukünftig in die kulturellen Gedächtnisse der europäischen Gesellschaften eingeht, wird das Ergebnis der jetzt im Gang befindlichen Aushandlungen sein.

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Erinnern global

Von Jens Kroh 26.8.2008 ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Stipendiat der Fritz Thyssen Stiftung. Er studierte Sozialwissenschaften an der Universität in Gießen und am Institut d'Etudes Politiques in Grenoble in Frankreich. Seine Dissertation schrieb er zum Thema: "Die Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung: Vom Medienereignis zur Geschichtspolitik".

Der Holocaust ist Bestandteil der Agenda der internationalen Politik. Aber welche Rolle spielt er im transnationalen Gedächtnis? Wie wird er erinnert, welche Unterschiede gibt es in den Erinnerungskulturen?

Globale Erinnerungskultur

"Der Holocaust war eine beispiellose und nicht zu leugnende Tragödie," so formulierte der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon anlässlich des "Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" im Januar 2007. Erst im November 2005 hatte die UN- Vollversammlung den Rahmen für seine Rede geschaffen, indem sie den Beschluss fasste, fortan jedes Jahr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar und damit verbunden der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu erinnern.

Diese Entscheidung markiert den vorläufigen Höhepunkt einer mehrere Jahrzehnte andauernden Entwicklung. Während die systematische Ermordung der Juden in der Perspektive von Historikern, Massenmedien und Politikern lange Zeit nur einen untergeordneten Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit "Drittem Reich" und Zweitem Weltkrieg bildete, wird sie heute als " paradigmatisches Menschheitsverbrechen" (Dirk Rupnow) gedeutet: als singuläres Ereignis, dessen Erinnerung unentbehrliche Lehren für Gegenwart und Zukunft bereit halte. Dementsprechend kreisen die Debatten über die Existenz eines europäischen oder globalen Gedächtnisses häufig um Konjunktur und Relevanz der Holocaust-Erinnerung.

Warum aber sollte sich ausgerechnet der dunkelste Teil der deutschen Geschichte als Bezugspunkt für eine globale Erinnerungskultur eignen? Wie geschlossen stimmt die Staatenwelt tatsächlich darin überein, dass dem "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) ein herausragender Platz im Gedächtnis der Völker gebührt?

Zumindest auf die erste Frage hält der Soziologe Bernhard Giesen eine Antwort parat. Mit Blick auf das Ende des 20. Jahrhunderts erkennt er in westlich geprägten Demokratien eine Abkehr vom " Triumph" und eine Hinwendung zum "Trauma". Die zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Korrumpierung und Kollaboration hat laut Giesen positive Folgen für die Herausbildung einer transnationalen – das heißt, einer nicht ausschließlich durch nationale Referenzrahmen und Grenzen determinierten – Gemeinschaft: "Während die Feiern eines triumphalen Sieges einer Nation jenseits der Grenzen, im Lande der Besiegten, Bitterkeit und Ressentiment auslösen, wirkt das gemeinsame Opfergedenken durch die politischen Repräsentanten der Sieger und Besiegten von gestern versöhnend."

In besonderer Weise trifft diese Diagnose auf die Erinnerung an die Opfer des Holocaust zu. Wie die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrem Buch "Erinnerung im globalen Zeitalter " ausführen, hat eine Reihe von Medienereignissen (das "Tagebuch der Anne Frank", der "Eichmann- Prozess" in Jerusalem, die TV-Serie "Holocaust" und der Hollywood-Blockbuster "Schindlers Liste")

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 161 wesentlich dazu beigetragen, dass sich Menschen mit unterschiedlichem ethnischem und gesellschaftlichem Hintergrund die Möglichkeit zur Identifikation mit den jüdischen Opfern bietet. Gleichzeitig hat sich das Leiden der Juden als universaler Maßstab für die Erfahrungen anderer Opfergruppen etabliert, was nicht zuletzt zu einer stärkeren "Opferkonkurrenz" und Indienstnahme des Holocaust geführt hat. Neben den Massenmedien, die von Vertreibung und Völkermord (Stichwort: Kosovo und Ruanda) berichten, nutzen etwa Abtreibungsgegner und radikale Tierschützer (PETA) mit dem Holocaust assoziierte Bilder und Metaphern, um eine möglichst große Öffentlichkeit zu erreichen.

"Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz"

Auch Regierungsmitglieder legitimieren ihr politisches Handeln mit dem Holocaust. Unvergessen ist der Spagat des damaligen Außenministers der Rot-Grünen Koalition, Joschka Fischer, der auf einem Sonderparteitag seiner Partei im Mai 1999 mit folgenden Worten für die Beteiligung der Bundesrepublik am Kosovo-Krieg warb: "Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus." Allerdings stand Fischer mit seiner Position, die eher unfreiwillig verdeutlicht, dass Auschwitz keine klare Richtschnur für politische Entscheidungen liefert, nicht allein. Dies zeigte sich kurz darauf bei der internationalen " Holocaust-Konferenz" in Stockholm.

Das Gipfeltreffen, dessen Ursprünge in der US-Geschichtspolitik der 1990er Jahre liegen, führte vom 26. bis zum 28. Januar 2000 mehr als zwanzig überwiegend europäische Staats- und Regierungschefs zusammen. In ihren Reden bekräftigten sie die fortdauernde Aktualität des Holocaust und verpflichteten sich außerdem in einer gemeinsamen Deklaration zur Bekämpfung jeglicher Form von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Dass sich der Bezug auf Auschwitz immer auch aus aktuellen Interessen speist, verdeutlicht die Ankündigung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, eine globale Menschenrechtspolitik notfalls mit Hilfe militärischer Interventionen durchsetzen zu wollen.

Doch obwohl heute Holocaust-Museen und -Zentren in allen Erdteilen existieren , wäre die Annahme eines globalen oder auch nur europäischen Konsenses falsch. Trotz der sichtbaren Bemühungen der UN-Spitze, das Gedenken an die Opfer des Holocaust als internationale Norm zu etablieren, gibt es bereits deutliche Unterschiede in den Erinnerungskulturen der europäischen Staaten. Während das alte Europa den Holocaust als negative Referenz seines Gedächtnisses verankert hat, deutet das neue Europa die stalinistischen Verbrechen oft als relevantere historische Erfahrung. Dabei wird die eigene Beteiligung und Mitwirkung an der deutlich längeren und zugleich jüngeren kommunistischen Diktatur regelmäßig mit dem Verweis auf die oktroyierte sowjetische Fremdherrschaft relativiert. Folgerichtig sind die von einer doppelten diktatorischen Vergangenheit betroffenen mittel- und osteuropäischen Staaten von einem "negativen Gedenken" (Volkhard Knigge), das sich durch "die öffentliche Erinnerung an begangene, nicht an erlittene Untaten" auszeichnet, noch recht weit entfernt.

Erinnerungskultur in Russland und Asien

Auch der russischen Erinnerungskultur ist diese Form des selbstkritischen Vergangenheitsbezugs fremd. Im Gegenteil: Die staatlich monopolisierte Erinnerung verherrlicht vor allem den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg, der in Russland nach wie vor als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wird. Damit geht eine Ausblendung der Verbrechen Stalins (Große Säuberung, GULag und Holodomor) und dessen Teilrehabilitierung einher. Immer wieder kommt es deshalb zu brisanten Konflikten zwischen Russland und den ehemals von der Sowjetunion besetzten Staaten in Mittelosteuropa.

Die Erinnerungskultur im Nachbarland China unterscheidet sich ebenfalls stark vom Modell des " negativen Gedenkens". Zum einen werden in Hinblick auf die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts von offizieller Seite keine Anstrengungen zur Aufarbeitung der Schattenseiten der Diktatur Mao Zedongs (u.a. Großer Sprung nach Vorn und Kulturrevolution) oder des Tian´anmen-Massakers

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 162 unternommen. Zum anderen ist die chinesische Erinnerungskultur seit Mitte der 1980er Jahre stark von einem Opfernarrativ geprägt.

Das Massaker von Nanking, bei dem im Dezember 1937 japanische Soldaten zwischen 200.000 und 300.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet haben, wird dabei sogar direkt mit dem Holocaust in Verbindung gesetzt. Auf der offiziellen (englischsprachigen) Seite der Gedenkstätte heißt es, dass sie auf "einem der Exekutionsgelände und Massengräber des Holocaust" errichtet worden sei. Insofern überrascht es wenig, dass das Gedenken an die Opfer von Nanking in Teilen analog zum israelischen Holocaust-Gedenktag (Yom Hashoah) erfolgt: Seit 1995 ertönt am 13. Dezember, dem Tag des Beginns des Massakers, in Nanking Sirenengeheul. Der Holocaust dient jedoch vorrangig als Mittel, um international auf die japanischen Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen. Ein Gedenken an die ermordeten Juden findet in diesem Zusammenhang nicht statt.

So ausführlich und unversöhnlich chinesische Schulbücher die japanischen Gräueltaten zum Thema machen, so wenig werden wiederum japanische Schüler über den von ihren Landsleuten in Ostasien geführten Vernichtungskrieg aufgeklärt. Besonders augenfällig wird dieser Sachverhalt dann, wenn das für die Zulassung von Lehrmitteln verantwortliche Erziehungsministerium Schulbücher mit revanchistischen Positionen genehmigt. Dieser Vorgang löste zuletzt 2001 und 2005 massive Proteste in China und Südkorea aus. Auch die Besuche japanischer Politiker des Yasukuni-Schreins, der dem Gedenken gefallener Soldaten, aber auch verurteilter Kriegsverbrecher dient, stoßen international auf Unverständnis.

Parallel dazu tobt seit Jahrzehnten ein japanischer "Historikerstreit" zwischen auf der einen Seite seriösen Geschichtswissenschaftlern und auf der anderen Seite reaktionären Historikern, die den Versuch unternehmen, den Großasiatischen Krieg zu heroisieren und das Massaker von Nanking zu verharmlosen. Insgesamt ist das Gedenken an Militarismus und Zweiten Weltkrieg in Japan jedoch dadurch charakterisiert, sowohl Täter als auch Opfer gewesen zu sein. Dabei ist eine ungewöhnliche Aufgabenverteilung zu beobachten: Während staatliche Akteure die Erinnerung an die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki organisieren, gibt es eine Reihe zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich der Auseinandersetzung mit den Tätern verschrieben haben. Die japanische Erinnerungskultur kommt ungeachtet zweier Holocaust-Zentren in Fukuyama und Tokyo allerdings weitgehend ohne das Gedenken an die Opfer des Holocaust aus.

Differenzen in der Erinnerung

Offensichtlich bestehen international große Differenzen in der Erinnerung des Holocaust. Das Spektrum reicht von Staaten, in denen der Holocaust als Grundlage eines offiziellen Gedächtnisses dient (z.B. USA, Israel und viele vorwiegend westeuropäische Nationen) bis hin zu Ländern, in denen wichtige politische Akteure – etwa der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad – die Realität der industriell betriebenen Massenvernichtung leugnen. Neben diesen Einwänden gibt es weitere Argumente, die Anlass geben, Reichweite und Nachhaltigkeit einer transnationalen oder globalen Holocaust-Erinnerung zu hinterfragen. Erstens legen empirische Studien nahe, dass sich Elemente der offiziellen Erinnerungskultur und Inhalte nicht-öffentlicher Erinnerung deutlich voneinander unterscheiden.

Zweitens ist die politische Instrumentalisierung des Holocaust mit ebenso großer Skepsis zu sehen wie das verbreitete Argument, Auschwitz halte universale Lehren bereit. Denn auch in der Bundesrepublik, deren Bildungseinrichtungen und Massenmedien beständig Angebote zur Information über den Holocaust machen, sind Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus noch immer an der Tagesordnung. Drittens potenzieren sich im globalen Maßstab die Erinnerungskonflikte zwischen ethnischen Gruppen oder Nationalstaaten. Damit ist zugleich das Problem verbunden, dass die Schlichtung von geschichtspolitischen Gegensätzen mit autoritären, häufig nationalistischen Regimen notwendig wird, die deutlich prekärer ist als die Konfliktregulierung zwischen pluralistischen Demokratien in der EU. Insofern erscheint fraglich, ob sich tatsächlich eine globale Erinnerung mit

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 163 dem Holocaust als Referenzpunkt herausbilden wird.

Literatur

Cornelißen, Christop/Klinkhammer, Lutz/Schwentker, Wolfgang (Hg.), Erinnerungskulturen: Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2003.

Dubin, Boris, "Erinnern als staatliche Veranstaltung. Geschichte und Herrschaft in Russland", in: Osteuropa 58 (2008), S. 57-66. Giesen, Bernhard, "Europäische Identität und transnationale Öffentlichkeit. Eine historische Perspektive", in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 67-84.

Kohlhammer, Siegfried, "Die Vergangenheit gebrauchen zum Nutzen der Gegenwart! Das Nanking- Massaker und die chinesische Geschichtspolitik", in: Merkur 61 (2007), S. 594-603.

Kroh, Jens, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008.

Levy, Daniel/Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.

Müller, Jan-Werner, "Europäische Erinnerungspolitik Revisited", in: Transit. Europäische Revue 33 (2007), S. 166-175.

Rupnow, Dirk, "Transformationen des Holocaust. Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts ", in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), S. 68-88.

Uhl, Heidemarie, "Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur", in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), S. 6-22.

Welzer, Harald (Hg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007.

Links:

Gedenkstätte und Museum Auschwitz-Birkenau (http://www.auschwitz.org.pl) "Aktive Europäische Erinnerung" im Rahmen des EU-Programms "Europa für Bürgerinnen und Bürger " (http://ec.europa.eu/citizenship/programme-actions/doc48_en.htm) Gedenkstätten, Denkmale, Museen und Institutionen zum Gedenken an NS-Opfer (http://www. gedenkstaetten-uebersicht.de) Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (http:// www.holocausttaskforce.org) Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Nanking (http://www.nj1937.org/english/default.asp) "Holocaust Education" in den OSZE-Staaten (http://www.osce.org/documents/odihr/2005/06/14897_en. pdf) Friedensmuseum Hiroshima (http://www.pcf.city.hiroshima.jp/top_e.html) Vereinte Nationen und Holocaust-Erinnerung (http://www.un.org/holocaustremembrance/emainpage. shtml) Anregungen der Gedenkstätte Yad Vashem zur Gestaltung von Holocaust-Gedenktagen (http://www1. yadvashem.org/education/german/guideline.pdf)

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Virtuelles erinnern

Von Dörte Hein 21.6.2010 Dörte Hein ist Referentin für Forschung und Medienkompetenz bei der Landesanstalt für Medien in NRW. Sie promovierte zum Thema Erinnerungskulturen online.

Digitale Medien prägen nicht nur die heutige gesellschaftliche Kommunikation, sie bestimmen auch zunehmend unser Verständnis der Vergangenheit und schaffen neue Formen des Erinnerns und der Vermittlung von Geschichte. Hat das Geschichtsbuch also ausgedient? Und werden Gedenkstättenbesuche überflüssig? Dörte Hein über virtuelles Erinnern.

Pilgerfahrt nach Auschwitz. Zum Umgang deutscher Medien mit Erinnerungskultur, Israelkritik und Antisemitismus - dies war das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der die Jüdische Gemeinde zu Berlin im April 2010 eingeladen hatte.(1) Anlass war ein Beitrag der in Israel geborenen, seit Jahren in Deutschland lebenden Journalistin Iris Hefets, der im März dieses Jahres in der " tageszeitung" (taz) erschienen war. Hefets hatte darin kritisiert, dass die Rosa- Luxemburg- und die Heinrich-Böll-Stiftung den seit der Veröffentlichung seines 2001 in deutscher Übersetzung erschienenen Buches "Die Holocaust- Industrie" umstrittenen amerikanischen Politikwissenschaftler Norman Finkelstein erst zu einer Veranstaltung ein- und dann wieder ausgeladen hatten. Dies interpretierte sie als "Redeverbot", das mithilfe einer " Wie verändert sich unsere Erinnerung durch Mystifizierung" des Völkermords an den Juden durchgesetzt werde. Diese das Internet? Hat das Mystifizierung komme, so die Journalistin, vielen Deutschen gelegen: "Denn Geschichtsbuch ausge­ dient? Lizenz: cc by-nc- wenn Auschwitz eine heilige Aura umgibt, dann muss man sich nicht mehr mit nd/2.0/de (dynet / flickr. dem eigenen Potenzial zur Täterschaft auseinandersetzen." Die com) Podiumsdiskussion sollte die Debatte aufgreifen. Während des Einführungsvortrags der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Lala Süsskind, in dem sie sich unter anderem gegen die als antiisraelisch bezeichneten Positionen Hefets' wandte, hielten Aktivisten des Vereins "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" Pappschilder in die Luft, auf denen in Englisch und Hebräisch zu lesen war: "Wir alle sind Iris Hefets." Einige von ihnen wurden daraufhin von Ordnern hinausgeführt. Nach der durch den Gastgeber erfolgten Zurückweisung des Vorschlags der taz-Chefredakteurin Ines Pohl, man solle Hefets die Möglichkeit zur Stellungnahme geben, verließ Pohl den Veranstaltungsort.

Dieses aktuelle Beispiel ist nur eines von vielen: Geschichtspolitische Debatten der jüngeren Vergangenheit haben sich vielfach an Fragen des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit entzündet. Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten", der die fiktiven Lebenserinnerungen des SS-Obersturmführers Maximilian Aue und seine Beteiligung an der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden von Juni 1941 bis April 1945 zum Inhalt hat, die " Goldhagen-Debatte" von 1996, Martin Walsers Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche, der Streit um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Kontroverse um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin oder die "Finkelstein-Debatte" von 2001 sind weitere Beispiele. Der übergeordnete Bezugspunkt der Frage nach dem historischen Erinnern, nach sozialen Erinnerungsprozessen an Holocaust und Nationalsozialismus, ist die Debatte um eine angemessene Art der Vermittlung dieses Teils der

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 165 deutschen Geschichte. Wie die öffentlich und medial ausgetragenen, größtenteils hoch emotional geführten Diskussionen zeigen, ist die NS-Vergangenheit sowohl hinsichtlich der Polarisierung, welche die Debatten auslösen, als auch der Sensibilität, die der Umgang damit erfordert, mit keinem anderen Thema der deutschen Erinnerungskultur vergleichbar. Nirgendwo sonst stellen sich Fragen nach der Angemessenheit der Darstellung, den Risiken einer Virtualisierung der Erinnerung sowie der Deutungsmacht und -hoheit - auch in fachwissenschaftlich-disziplinärer Hinsicht - in vergleichbarer Brisanz.

Vor dem Hintergrund des nahenden Endes lebensgeschichtlicher Erinnerung und gelebter Zeitzeugenschaft wird die besondere Relevanz des Themas deutlich. Fragen nach kultureller und medialer Vermittlung sind längst in den Fokus geraten. Die Rolle von Büchern, Spiel- und Dokumentarfilmen als wesentliche, populäre Gedächtnismedien ist dabei unbestritten, wenn auch die Art und Weise, wie hier Geschichte präsentiert wird, vielfach kritisiert wird. Lang anhaltend und fächerübergreifend wurde und wird über eine vermutete Banalisierung und Kommerzialisierung der historischen Ereignisse im Zuge ihrer massenmedialen Bearbeitung diskutiert: Insbesondere das Fernsehen steht im Verdacht, den Holocaust zu trivialisieren, zu verflachen und zu kommerzialisieren. Der massenmedialen, auf Unterhaltung und Einschaltquoten angelegten Logik folgend, werde der Holocaust in eine Banalität verwandelt und Gewalt zum "folgenlosen konformistischen Genuss", wodurch ein Bedürfnis nach immer mehr Gewalt und Genuss erzeugt werde.(2) Zeitgeschichte werde zum "geschichtskulturellen Zuliefererbetrieb" und zur "ereignisfixierten Event- Geschichte", die allein den Gesetzen der medialen Nachfrage folge (3) - so nur zwei Beispiele von Gegenwartsdiagnosen und Einschätzungen, welche die mediale Bearbeitung und Repräsentation historischer Ereignisse problematisieren. Die Reichweite und die Wirkungsmacht, die publizistische Medien mit Blick auf die Vermittlung von Geschichte haben, sind - allen Risiken zum Trotz - Tatsachen des gegenwärtigen und zukünftigen historischen Erinnerns.

(1) Der Originalbeitrag von Iris Hefets online: www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/pilgerfahrt- nach-auschwitz (http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/pilgerfahrt-nach-auschwitz/) (15.3.2010). Zum Ablauf der Podiumsdiskussion und den Hintergründen vgl. auch Ulrich Gutmair, Spucken und Schreien, online: www.taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/spucken-und-schreien (http://www.taz.de/1/ debatte/theorie/artikel/1/spucken-und-schreien/) (30.4.2010) sowie Zoff bei Diskussion. Eklat in der Jüdischen Gemeinde, online: www.bz-berlin.de/ aktuell/berlin/eklat-in-der-juedischen-gemeinde-article823477.html (http://www.bz-berlin.de/aktuell/ berlin/eklat-in-der-juedischen-gemeinde-article823477.html) (30.4.2010).

(2) Vgl. Detlev Claussen, Die Banalisierung des Bösen, in: Michael Werz (Hrsg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt/M. 1995, S. 14.

(3) Vgl. Martin Sabrow, Das Unbehagen an der Aufarbeitung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12.1.2009, S. 25.

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 166 Internet und historisches Erinnern

Mittlerweile hat sich auch das Internet als Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit etabliert. Forschungseinrichtungen, Museen und Gedenkstätten tragen ihre Deutungsangebote der Vergangenheit ins Netz. Hinzu kommen Online-Angebote der Tageszeitungen sowie viele weitere, vor allem private Anbieter, die sich am Diskurs beteiligen. Nimmt man eine Kategorisierung der Angebote vor, so kann man drei Gruppen ausmachen: Informationen zu Nationalsozialismus und Holocaust findet der Nutzer auf Internetportalen, den "Pforten" zu weiteren Informationen, die Orientierungsfunktionen erfüllen und so als eine Art Wegweiser im Netz fungieren. Die Websites öffentlicher Einrichtungen, NS-Gedenkstätten und anderer Erinnerungsorte sind serviceorientierte Angebote, die weniger historische "Fakten" als vielmehr Serviceinformationen zu den Institutionen selbst, deren Veranstaltungen und Öffnungszeiten bieten. Die meist von Interessenvereinigungen vielfach gemeinschaftlich verfassten Informations- und Kommunikationsplattformen hingegen wollen eben dies bieten: Ereignisgeschichte, Verläufe, Hintergrundinformationen.

Haben wir es bei diesen virtuellen Repräsentanzen mit neuen Erinnerungskulturen, mit alternativen und eigenständigen Wegen der Vermittlung erinnerungsrelevanter Inhalte zu tun? Wird das Internet zum Ort, an dem sich durch die größeren Partizipationsmöglichkeiten Online-Erinnerungsgemeinschaften ausbilden? Wird es gar zum "Bauch der Weltgesellschaft"? (4) Die spezifischen Kommunikationsformen im Netz sind auf technisch-mediale Besonderheiten zurückführen. Diese zeitigen Konsequenzen für die Zugänge, die Nutzer zu den gespeicherten Inhalten haben: Interaktivität, Multimedialität, Vernetzung und Individualisierung sind wesentliche Schlagworte und Bereiche, welche die allgemeine Diskussion um die Qualitäten der neuen Medien prägen.

Weiterhin stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Online-Angebote zu anderen gesellschaftlichen Sphären stehen und wie sie im Ensemble erinnerungskultureller Vermittlungsinstanzen zu verorten sind. Mit der offiziellen Erinnerungskultur und mit Geschichtspolitik wird der Anspruch verbunden, das Bekenntnis zu einer mahnenden Erinnerung an die Opfer für das Gemeinwesen verbindlich zu demonstrieren. Kritik bezieht sich auf ritualisierte Formen des Gedenkens, die nichts mehr mit den Erfordernissen der Gegenwart zu tun hätten und vor allem der jungen Generation nicht zu vermitteln seien.(5) Sind historische Themen und Inhalte online tatsächlich der jungen Generation, jungen Nutzern zugänglicher und damit auch eine bessere Form der Ansprache? Tritt virtuelle Zeitzeugenschaft an die Stelle von gelebter? Und nicht zuletzt: Ist die Zukunft des Erinnerns virtuell?

Als technische Plattform zur Ermöglichung unterschiedlicher medialer Dienste übernimmt das Internet immer mehr zentrale Speicherungs- und Kommunikationsaufgaben der Gesellschaft. Es ist, was die Menge an Daten anbelangt, ein sehr leistungsfähiges Speichermedium. Daher wird schon von einem " unermesslichen Super-Archiv"(6) gesprochen. Online-Angebote wie "einestages - Zeitgeschichten auf Spiegel Online", " zeitzeugengeschichte.de - Das Webportal für Zeitzeugeninterviews" oder "Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte" nutzen das Internet in unterschiedlicher Weise, um Biografien festzuhalten, um Lebensgeschichten und Schicksale zugänglich zu machen, um sie für einen Austausch zu öffnen. Im digitalen Archiv zum Thema Zwangsarbeit von 1939 bis 1945 etwa erzählen knapp 600 ehemalige Zwangsarbeiter aus 26 Ländern ihre Lebensgeschichten in ausführlichen Audio- und Videointerviews. Die Interviews wurden digitalisiert und sind nach Anmeldung und Registrierung auf der Online-Plattform verfügbar. Das von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft " getragene, in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum angebotene Online-Archiv richtet sich an Schulen und Gedenkstätten, soll aber auch in Lehre und Forschung genutzt werden. Ein Beispiel "einzigartiger Geschichts-Notfallhilfe" - so die Nominierungskommission, die dieses wie auch das Archiv zur Zwangsarbeit 2009 für den Grimme- Online-Award vorschlug - ist auch "Das digitale Historische Archiv Köln". Jeder Nutzer, der über Abschriften, Kopien, Mikrofilme oder Fotografien der Kölner Archivbestände verfügt, kann sie im digitalen Archiv hochladen und so einen Beitrag dazu leisten, die Sammlung nach dem Einsturz des Stadtarchivs 2009 wieder zu vervollständigen. Gedächtnis im digitalen Zeitalter - neue Chancen und

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Möglichkeiten?

Mit der Immaterialität der Daten im Netz geht deren Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit einher, die dadurch verstärkt wird, dass Hypertexte - die dem Internet zugrunde liegenden Informationseinheiten - nicht aus einer festen Anzahl von Modulen bestehen, sondern sich im ständigen Auf- und Umbau befinden. "Das Memorieren ist nicht seine Sache", konstatiert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die sich mit der Medialität von kulturellem Gedächtnis und Erinnerung beschäftigt.(7) Sie verweist auf Ansätze, welche die Veränderungen, die sich mit dem Internet vollziehen, im Rückgriff auf die zu geringe Haltbarkeit digital gespeicherter Daten als krisenhaft und bedrohlich beschreiben. Von einem Merkmal der Technologie werden umfassende und weit reichende Thesen abgeleitet: " Gespeichert, das heißt vergessen." Die Rede ist von einem "digitalen Gedächtnis-Dilemma";(8) befürchtet wird gar die "Zerstörung von historischem Gedächtnis".(9) Gedächtnis im digitalen Zeitalter - ein Widerspruch? Ebenso wie die Beschreibung des Gedächtnisses wird auch die des World Wide Web an Metaphern geknüpft. Diese reichen von Datenuniversum, globalem Gehirn, intelligentem Superorganismus bis hin zu dem Anspruch, der für bestimmte Websites explizit formuliert wird, hier solle sich das "kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft " manifestieren.(10)

(4) Claus Leggewie/Erik Meyer, "Collecting Today for Tomorrow". Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des "Elften September", in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 286.

(5) Vgl. Clemens Wischermann, Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart 2002, S. 15.

(6) Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 288.

(7) Vgl. Aleida Assmann, Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, in: A. Erll/A. Nünning (Anm. 4), S. 55.

(8) Vgl. Manfred Osten, Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Eine kleine Geschichte des Vergessens, Frankfurt/M. 2004, S. 72.

(9) A. Assmann (Anm. 7), S. 55.

(10) So etwa das Selbstverständnis der bereits erwähnten Website http://einestages.spiegel.de/page/ Home.html (http://einestages.spiegel.de/page/Home.html) (einestages - Zeitgeschichten auf Spiegel Online) (26.5.2010).

Vielfalt der Perspektiven - Verantwortung der Nutzer

In Daten und Entwicklungstrends fassbar ist die ungebrochen hohe Bedeutung und Relevanz des Internets. In Deutschland stieg der Anteil der "Onliner" an der Gesamtbevölkerung von 1997 bis 2009 von 6,5 auf rund 67 Prozent.(11) 43,5 Millionen Personen ab 14 Jahren waren im Frühjahr 2009 in Deutschland online. Zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit ist die Internetnutzung insbesondere für eine Generation geworden, die in einer von digitalen Technologien wie Computer und Internet geprägten Umwelt aufgewachsen ist, den Digital Natives.

Drei Viertel der von der Studie "Jugend, Information, (Multi-) Media" (JIM) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest im Jahre 2009 erfassten Heranwachsenden von 12 bis 19 Jahren haben einen Computer oder Laptop in ihrem Besitz, mehr als jeder Zweite hat vom eigenen Zimmer aus Online-Zugang.(12)

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Zu den Nutzern des Internets zählen 98 Prozent der 12- bis 19-Jährigen. Auch der Anteil der Intensivnutzer, die täglich bzw. mehrmals pro Woche online sind, ist weiter angestiegen. Wie aus den Erhebungen der JIM-Studie ebenso hervorgeht, steigt das Informationsbedürfnis der Jugendlichen mit zunehmendem Alter an, entsprechend nutzen ältere Jugendliche häufiger Suchmaschinen und rufen Informationen ab, die nicht direkt mit Schule oder Ausbildung verbunden sind. Bei Wikipedia oder auch Newsgroups hingegen steigt der Studie zufolge das Interesse ab 14 Jahren sprunghaft an und bleibt dann nahezu stabil. Doch geht die "Generation @"(13) auch zum Abruf historischer Informationen online?

Richtet man zunächst den Blick auf diejenigen, die im Netz Angebote und Inhalte dieses Themenbereichs anbieten, fällt auf, dass dies nicht nur die traditionellen Institutionen und Produzenten von Geschichte wie etwa Gedenkstätten, Museen oder Archive sind. Neben diesen etablierten Einrichtungen beteiligen sich auch Privatpersonen oder Interessenvereinigungen am Online-Diskurs. Auch Websites journalistischer Anbieter und Verlage sind stark im Netz vertreten. Die Motivationslagen sind verschieden: Während es private Anbieter gibt, bei denen die neuen technischen und medialen Möglichkeiten und deren Erprobung im Vordergrund stehen, spielen technisch-mediale Erwägungen etwa bei den Anbietern von Websites der Gedenkstätten kaum eine Rolle. Überregionale Informationsverbreitung, Beförderung des Austausches und Schaffung von Netzwerken, Online- Vermarktung, Argumentation gegen neonazistische Propaganda sowie neue Vermittlungswege für eine jüngere Zielgruppe sind weitere mit den Internetauftritten verbundene Ziele. Die Ziel- und Nutzergruppen sind Schülerinnen und Schüler sowie Studierende, ferner Individual- und Gruppenbesucher von Gedenkstätten, potenzielle Geldgeber und Pädagogen.

Die Beteiligung alternativer Anbieter am Online-Diskurs führt einerseits zu einer größeren Vielfalt an Perspektiven im Umgang mit Geschichte. Andererseits wird ein höheres Maß an Eigeninitiative und Verantwortung an den Nutzer delegiert: Man muss Websites und deren Inhalte auswählen und vor allem auch bewerten können. Die Relevanzzuschreibung obliegt, gerade bei Websites, hinter denen keine bekannte Institution steht, den Nutzern. Information im Netz ist demnach kein Wert an sich, vielmehr sind Selektivität und gegenseitige Verknüpfungen entscheidend. Wie geht man mit Informationen um, hinter denen keine bekannte Institution steht? Wie lassen sich nur scheinbar gesicherte historische Fakten nachprüfen?

Auch im freien Netz sind die Anker und Fixpunkte der "realen Welt" sehr wichtig. Intermediale Referenz meint wechselseitige Bezüge und Orientierungen zwischen verschiedenen Medien. In diesem Fall spielt vor allem die Rückbindung der Online-Diskurse über die NS-Vergangenheit an andere gesellschaftliche Sphären eine wesentliche Rolle. Mit ihnen etablieren sich keine losgelösten Wege der Vergangenheitsvermittlung. Narrative, die in anderen Bereichen hervorgebracht werden, bestimmen auch die Diskurse im Internet. Seitens der Anbieter werden die vermutete Wirkungsmacht publizistischer Medien sowie die Aura von Erinnerungsorten als entscheidende Gründe gegen eine Substitution traditioneller Gedächtnismedien durch Online-Angebote angeführt: "Historische Orte mit Bodenhaftung", das "haptisch-empirisch Wahrnehmbare" und das "Körpererlebnis" am realen Ort werden zu Alleinstellungsmerkmalen, gar zum "Pfund", mit dem man "wuchern" könne.(14) Websites sollen demnach keine virtuellen Gedenkorte sein.

So wichtig das Internet für die Vermittlung historischer Information auch ist: Die Themen, die hier behandelt werden, entstehen meist anderswo. Geschichte im Film, in Fernsehdokumentationen, in Büchern, im Geschichtsunterricht in der Schule und in Erzählungen in der Familie - all dies sind die wesentlichen Instanzen und Quellen. Diese Komplementarität konnte auch in Nutzerbefragungen bestätigt werden. Über alle Altersgruppen hinweg sind neben historischen Fachbüchern, mit denen Seriosität verbunden wird, und Erinnerungsorten, die als authentisch gelten, Sozialisationsinstanzen wie Schule oder Familie als wesentliche Informationsquellen zu benennen. Nicht zu vergessen sind publizistische Medien, denen ebenso eine gesellschaftlich relevante Rolle zur Information über die nationalsozialistische Vergangenheit zukommt.

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(11) Vgl. Birgit van Eimeren/Beate Frees, ARD/ZDF Online-Studie 2009. Der Internetnutzer 2009 - multimedial und total vernetzt, in: Media Perspektiven, (2009) 7, S. 334-348, hier S. 335.

(12) Vgl. JIM-Studie 2009. Jugend, Information (Multi-) Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2009, S. 37, online: www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf09/JIM-Studie2009. pdf (http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf09/JIM-Studie2009.pdf) (26.5.2010).

(13) Horst W. Opaschowski, Generation @. Die Medienrevolution entläßt ihre Kinder. Leben im Informationszeitalter, Hamburg 1999, S. 19.

(14) Die Zitate stammen aus Experteninterviews, die mit Anbietern von Websites des Bereichs Nationalsozialismus und Holocaust geführt wurden, ausführlicher in: Dörte Hein, Erinnerungskulturen online. Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz 2009.

Motivationen junger Nutzer

Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass das Alter der User ein maßgeblicher Faktor bei der Quellenauswahl ist. So ist für die 14- bis 19-Jährigen das Web schon jetzt das wichtigste Informationsmittel. Damit unterscheidet sich diese junge Gruppe der Nutzer signifikant von jungen Erwachsenen im Alter von 20 bis 29 Jahren, für die nach wie vor historische Fachbücher die wesentlichen Informationsquellen sind. Besonders Schülerinnen und Schüler wenden sich verstärkt Online-Angeboten zu Nationalsozialismus und Holocaust zu. Das Internet ist für jüngere Zielgruppen als Medium der gezielten Recherche neben die gedruckte Fachliteratur getreten. Legt man die biografische Prägung des Medienhandelns zugrunde, ist zum einen zu vermuten, dass die heute 14- Jährigen dies auch dann noch tun, wenn sie 24, 34 oder 44 Jahre alt sind. Zum anderen liegt die Prognose nahe, dass auch bei nachfolgenden Generationen das Netz als Informationsmedium immer wichtiger wird. Was bedeutet das für die Zukunft der Erinnerungskultur im Online-Bereich?

Wichtig sind jungen Nutzern schon heute der Austausch und die Kommunikation mit Anderen zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust. Die in Studien zur Online-Nutzung als "Junge Hyperaktive " bezeichnete Nutzergruppe ist sehr stark daran interessiert, sich durch das Netz nicht nur zu informieren, sondern sich auch mit Anderen auszutauschen. Dies entspricht den in der JIM-Studie 2009 ermittelten Befunden: Mit rund der Hälfte der online verbrachten Zeit entfällt auf die Nutzung kommunikativer Dienste wie Communities, Chats, E-Mail oder Messenger deutlich mehr Zeit als auf die Suche nach Informationen. Je älter die Internetnutzer aber werden, desto höher wird auch der Nutzungsanteil für die Informationssuche.(15) Auch im Stil der Nutzung unterscheidet sich die jüngere Generation deutlich von älteren Nutzern: Selbst wenn Interaktionsmöglichkeiten auf den Websites vorhanden sind, will sich ein Großteil der User hauptsächlich informieren. Elemente wie Diskussionsforen oder Chats spielen eine eher untergeordnete Rolle. Die prinzipiell mögliche Ausbildung von Online-Erinnerungsgemeinschaften ist bis dato bei einem Großteil der Nutzer nicht zu erkennen. Die Metapher vom Bauch der Weltgesellschaft beschreibt nicht die realen Verhältnisse der Online-Angebote und ihrer Nutzung. Auch seitens der Anbieter wird die technisch problemlos mögliche Einbindung der Nutzerinnen und Nutzer eher zurückhaltend erschlossen. Die Gründe dafür reichen von der Befürchtung, rechtsextremen Gedanken eine Plattform zu bieten, über mangelnde personelle und finanzielle Möglichkeiten der Betreuung bis hin zum allgemeinen Grundsatz, kein Ort zum Austragen von Debatten sein zu wollen.

Der webbasierte Austausch über Nationalsozialismus und Holocaust ist bisher eher Sache der jungen Nutzer. Altersübergreifend hingegen wird die Möglichkeit, historische Informationen nicht nur durch Texte, sondern auch mit Bildern, Tönen oder Videos zu vermitteln, als großer Vorteil des Webs angesehen. Historische Hintergrundinformationen sind dabei neben Berichten über Einzelschicksale sowie Links und Linklisten zu anderen thematischen Websites die wichtigsten inhaltlichen Bereiche von Websites des Themenspektrums Nationalsozialismus und Holocaust. Es scheint der Wunsch zu

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 170 bestehen, neben Texten und Bildern auch Originaltöne und Videos nutzen zu können. Multimedialität wird im Sinne der emotionalen Kraft und des "Sich-in-die-Zeit-Hineinversetzens" positiv bewertet.

Multimedia als verheißungsvolles Potenzial neuer Medien - wie sehen das die Anbieter? Insgesamt dominiert Zurückhaltung. Die Anbieter sprechen sich - etwa aus den einleitend bereits angesprochenen Gründen der Angemessenheit der Darstellung - für einen reduzierten Umgang mit Bildmaterial und gegen Bilder im Sinne einer befürchteten "Betroffenheitspädagogik" aus. Die inhaltlichen Bezüge setzen den medialen Innovations- und Experimentiertendenzen der Kommunikatoren erkennbare Grenzen. Auch die technisch reduzierten Möglichkeiten der Websites, Urheberrechte bei Bildern oder die Priorität eines sachlich-informativen Zugangs sind Gründe für eine vorwiegend textliche Vermittlung. Der Mehrwert des World Wide Web für die multikodale (unter Verwendung mindestens zweier Symbolsysteme erfolgende) Vermittlung von Informationen wird zwar als Vorteil angesehen, bisher jedoch kaum umgesetzt.

(15) Vgl. JIM-Studie (Anm. 12), S. 33.

Gegenwart und Zukunft virtuellen Erinnerns

Online-Erinnerungskulturen haben viele Facetten und machen Widersprüche sichtbar. Heute existieren maximale Speicherkapazitäten, aber es gibt auch Probleme bei der dauerhaften Archivierung von Daten. Es bieten sich größere Freiheiten der Nutzer, aber damit auch ein größerer Zwang zur Auswahl und mehr Verantwortung in der Bewertung der Inhalte. Und nicht zuletzt: Die Technik ermöglicht inzwischen eine stärkere Einbindung der User, der allerdings eine sehr zurückhaltende Umsetzung gegenübersteht. Diese Ambivalenzen widersetzen sich einseitigen Bewertungen. Metaphern vom digitalen Gedächtnis-Dilemma bis hin zum Netz als intelligentem Superorganismus bedürfen der Differenzierung und Kontrastierung mit empirisch Beobachtbarem.

Von erinnerungskulturellen Qualitäten der Websites ist dann auszugehen, wenn das Bereitstellen sowie das Abrufen von Informationen als Teile von Erinnerungsprozessen und damit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begriffen werden. Sozialer Erinnerung, verstanden als dynamischer Aneignungsprozess von Vergangenheit, liegen demnach Prozesse der Informationsverarbeitung auf der Seite der Anbieter sowie der Nutzer zugrunde. Erst dadurch werden Daten zu Informationen respektive in sozial validierter Form zu Wissen, das nicht als Speicher vorliegt, sondern veränderlich und ortsunabhängig verfügbar ist.

Erinnerungskulturen sind nicht allein durch die Analyse von Gedächtnismedien, sondern erst durch die Betrachtung der zugrunde liegenden Kommunikationsprozesse umfassend beschreibbar. Allein die Feststellung bestimmter technisch-medialer Potenziale reicht nicht aus, um spezifische kommunikative Gebrauchsweisen abzuleiten. Dieser Befund spricht für eine integrative Perspektive, die medienanalytische und kommunikationsbezogene Betrachtungen verbindet. Durch diesen Ansatz werden gleichzeitig statische Gedächtniskonzepte zugunsten der Beschreibung von Ausschnitten der in bestimmten Medien hergestellten Vergangenheitsbezüge sowie deren Nutzung modifiziert. Die Rede vom "Gedächtnis", das zerstört wird oder sich in einer Krise befindet, wird den vielfältigen kommunikativen Prozessen, die den Bezügen zur Vergangenheit zugrunde liegen, nicht gänzlich gerecht. Mit neuen Medientechnologien ist nicht per se das Ende der Erinnerung besiegelt.

Wie sieht die Zukunft des Gedenkens und medialen Erinnerns an diesen Teil der deutschen Geschichte aus? Die Herausforderung besteht schon gegenwärtig darin, die Erinnerungen von Zeitzeugen und historische Hintergrundinformationen mediengestützt zu vermitteln. Die Frage, wie aus den Ausdrucksformen lebensgeschichtlicher Erinnerung ethische Imperative für zukünftige Formen kulturell gestützter Erinnerung abzuleiten sind, ist eine sehr drängende. Aufschlussreich im Sinne einer Verbindung kommunikativer und kultureller Vermittlungsformen ist die Möglichkeit, Zeitzeugenberichte online verfügbar und insofern virtuelles Erinnern möglich zu machen. Dabei ist insbesondere auf die historische Kontextualisierung zu achten, weshalb klar strukturierte und aufbereitete Informationen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 171 wesentliche Elemente solcher Websites bleiben. Wenn Geschichte vermittelt wird, sollte an den Erfahrungshorizont und vor allem an das Mediennutzungsverhalten der jüngeren Generationen angeknüpft werden. Denn: Für junge Nutzer hat sich das Netz als Medium zur historischen Information längst etabliert.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)

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Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis

Von Harald Welzer 21.6.2010 Harald Welzer ist Sozialpsychologe und Professor und Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.

Da sich die Zugänge zur Geschichte mit jeder Generation und dem Zeitabstand zu den historischen Ereignissen verändern, muss sich auch die Vermittlungspraxis beständig modernisieren, sagt Harald Welzer.

Die deutsche Erinnerungskultur zielt über die Vermittlungen des Geschichtsunterrichts, der politischen Bildung, der Gedenkstättenpädagogik, der Medien und des weiten pädagogischen Feldes der Holocaust Education auf eine historisch-moralische Bildung ab, die zum einen Nationalsozialismus und Holocaust historisch verständlich machen, zum anderen Persönlichkeiten bilden soll, die sich gegenüber massen- oder völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können. Erklärte Erziehungsziele sind das Einüben von Demokratiefähigkeit und die Entwicklung von Zivilcourage.

Diese erinnerungspolitische Zielformulierung teilt die Bundesrepublik mit einer Reihe europäischer wie nichteuropäischer Staaten. Ihren gleichsam offiziellen Gründungsakt erfuhr diese erinnerungskulturelle Perspektivierung mit der internationalen Holocaust-Konferenz, die im Januar 2000 in Stockholm stattfand. Gemeinsam mit den USA, Großbritannien, Israel und Deutschland hatte Schweden 1997 die Task Force on International Cooperation ins Leben gerufen, die unter anderem jene Konferenz initiierte, bei der sich Vertreterinnen und Vertreter aus 45 Ländern in Stockholm trafen. Die Teilnehmenden kamen aus der Politik, der Wissenschaft, aus Institutionen der pädagogischen Geschichtsvermittlung sowie aus Organisationen von Überlebenden des Holocaust. Am letzten Konferenztag wurde eine Erklärung verabschiedet, in der sich die Beteiligten unter anderem dazu verpflichten, "Erziehung, Gedenken und Forschung über den Holocaust zu fördern", "der Opfer des Holocaust zu gedenken und die zu ehren, die sich dagegen verhalten haben".

Dieser Gründungsakt einer transnationalen Erinnerungskultur fiel in den meisten europäischen Ländern mit einer neuen Geschichtsbezogenheit zusammen, in deren Zentrum der Holocaust, der Zweite Weltkrieg, die Vertreibungen und schließlich auch die Kollaboration standen und noch stehen. Der Generationenroman erlebt eine europäische Renaissance, Geschichtsfeatures haben ebenso Hochkonjunktur wie die Figur des Zeitzeugen, und eine ganze Generation wurde neu erfunden, die der "Kinder des Weltkriegs", die heute im Rentenalter sind und sich auf die Suche nach den Ursachen ihrer "frühen Traumatisierungen" machen. Es hat sich ein Kult des Leidens und der Opferschaft zu etablieren begonnen, der Ansprüche an eine eigene, dann wieder nationale Erinnerung am besten zu begründen scheint.

In diesem Spannungsfeld universalistischer und nationaler Erinnerungen ist Erinnerungspolitik zu einem immer wichtigeren politischen Handlungsfeld geworden. Bezugnahmen auf gefühlte und reale Vergangenheiten haben weit reichende Folgen für die Begründung kultureller und sozialer Zugehörigkeiten und wirken sich auf die Verhandlung politischer Positionen aus. Zudem ergibt sich die Frage, ob ein "europäisches Gedächtnis" zwingend für einen gelingenden Integrationsprozess ist oder ob das künftige Europa ohne eine solche mentale Gemeinschaftsstiftung auskommt bzw. auskommen muss, weil seine Erinnerungslandschaft zu heterogen und pluralistisch ist. Nach wie vor kommt dem Zweiten Weltkrieg bzw. der deutschen Besatzung in den meisten europäischen Ländern

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 173 eine herausragende Bedeutung zu, wenn es darum geht, die eigene Identität und den daran gebundenen Wertekonsens zu bestimmen.(1) Die tragischen Ereignisse um den diesjährigen Jahrestag des Massakers von Katyn legen davon beredtes Zeugnis ab.

Nationale und transnationale Erinnerungskulturen

Fragen der Tradierung von Geschichte und die Konstruktion von Vergangenheitsbildern haben stets eine wichtige Rolle für die Selbstvergewisserung von Individuen, gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen von Herrschaft, Staaten und Nationen gespielt. Dies wird besonders in Umbruchzeiten deutlich, wenn Herrschaftsansprüche und Mechanismen zur Herrschaftsstabilisierung aus neu oder wieder "erfundenen Traditionen" begründet und mit einer neu konstruierten Geschichte abgesichert werden.(2) Gegenwärtig lassen sich zwei scheinbar gegenläufige, einander jedoch bedingende und prägende Tendenzen beobachten: erstens eine Neuverhandlung und Neubestimmung nationaler Geschichtserzählungen, zweitens die Öffnung nationaler Geschichtsschreibung hin zu einer transnationalen bzw. globalisierten Perspektive.(3)

Die Neubewertung der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, der Besatzungszeit, der Kollaboration, der Vertreibung und des Widerstands gehört zu den zentralen Themen öffentlicher Diskurse in allen europäischen Gesellschaften. Das verwundert nicht: Der Umstand, dass alle westeuropäischen Gesellschaften inzwischen Einwanderungsgesellschaften sind, bringt die Notwendigkeit der Entwicklung einer transnationalen Erinnerungskultur mit sich. Die osteuropäischen Transformationsgesellschaften haben erhebliche Selbstvergewisserungsbedürfnisse und sind auf der Suche nach einer integrativen Geschichte, wobei es hauptsächlich Opfernarrative sind, die diese Suche anzuleiten scheinen. In den westeuropäischen Gesellschaften, die ihrem Selbstverständnis nach nicht von ähnlich tief greifenden Transformationen gekennzeichnet sind, scheint das erhöhte Bedürfnis nach Selbstvergewisserung über die Vergangenheit eher die Folge einer erheblichen Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft zu sein – die sich angesichts sich verschärfender Wirtschaftskrisen noch vertiefen dürfte.

In diesem unübersichtlichen erinnerungskulturellen Gelände bilden sich transnationale Erinnerungsräume (4) heraus, was auf die folgenreichen Wirkungen horizontaler Europäisierungsprozesse verweist.(5) Der Nationalstaat kann nicht mehr der selbstverständliche Referenzpunkt von Geschichtsschreibung und -kultur sein, weil er den Identitäts- und Selbstvergewisserungsbedürfnissen von Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Herkunftsländern nicht entspricht. Für Jugendliche mit Einwanderungshintergrund bieten die schulische und mediale Vermittlung nationaler Geschichtskultur wenig, um ein Zugehörigkeit stiftendes Geschichtsbewusstsein entstehen zu lassen.(6) Hier sind neue, integrierende Wege der Geschichtsvermittlung gefragt. Ferner wird auf die " Globalisierung der Erinnerung" und die Konsequenzen der europäischen Integration für Geschichtskulturen und -vermittlung hingewiesen. Nationale Geschichtsbilder und -mythen verlieren ihre integrierende Kraft.

Mediale Repräsentationen gehen in eine internationale Ikonografie des Holocaust ein, der über nationale Geschichtskulturen hinweg zum gemeinsamen Referenzpunkt wird. Er steht für das inzwischen weltweit anzutreffende Paradigma einer Beschäftigung mit, wie Reinhart Koselleck es genannt hat, "negativer Geschichte", das seinerseits konfliktträchtig ist. Befürchtungen, die Beschäftigung mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte sei kontraproduktiv für die Stabilität einer Nation, haben sich für Deutschland langfristig als unzutreffend erwiesen. Jene, die zunächst auch in Opposition zum Staat für die Erinnerung an die Verbrechen eintraten, haben den Grundstein zu einer differenzierten Erinnerungslandschaft gelegt, die ausgesprochen positive Effekte für die Außenwahrnehmung Deutschlands hatte. Zugleich, und hier zeigt sich ein psychologisches Problem, haben noch immer viele Menschen Schwierigkeiten mit der prominenten Rolle, die der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis Deutschlands einnimmt. Und schließlich treten Nationalsozialismus und

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Holocaust mit dem Verschwinden der Zeitzeugengeneration in den Aggregatzustand des kulturellen Gedächtnisses und der Historisierung. Die Erinnerungen daran werden kalt, die Aushandlungen weniger emotional.

Es gibt tiefe Unterschiede in den jeweiligen nationalen Basiserzählungen über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Kollaboration und den Widerstand. In Deutschland ist diese Erzählung tendenziell metanarrativ angelegt - sie ist immer auch eine Auseinandersetzung damit, wie man Geschichte erzählen kann und wie nicht, wogegen sich in den anderen Ländern Erzählstrukturen finden, die viel stärker als nationale Geschichtsschreibung konturiert sind. Solche unterschiedlichen Modi historischer Kommunikation können einen gemeinsamen europäischen Geschichts- und Lernraum viel stärker behindern als unterschiedliche Bewertungen historischer Ereignisse.(7)

Private und öffentliche Erinnerungskulturen

Die Vermittlungen zwischen privater und öffentlicher Erinnerung pluralisieren sich. Dabei hat die in noch vor der Jahrtausendwende in Deutschland durchgeführte Untersuchung "Opa war kein Nazi"(8) gezeigt, dass die Erinnerungspraktiken und -inhalte der offiziellen Erinnerungs- und Gedenkkultur auf der einen und der privaten Erinnerungspraxis auf der anderen Seite erheblich auseinanderklaffen können.

Individuen gehören unterschiedlichen Erinnerungsmilieus an, wie sie durch Familien, lokale Gemeinschaften, Interessengruppen, pädagogische Rahmenvorgaben und nicht zuletzt durch die Massenmedien geschaffen werden. In Familien und kleinräumigen Erinnerungsgemeinschaften sind es gerade nicht die großen Erzählungen, sondern die kleinen, profanen Geschichten über partikulare Ereignisse und persönliche Erlebnisse, aus denen das gemeinsame Gedächtnis gebildet ist und in denen es sich tradiert.(9) Die Episoden und Geschichten, die oft en passant im Rahmen anderer Zusammenhänge erzählt werden, fungieren als Bausteine einer erinnernden sozialen Kommunikation, die der gemeinsamen Aufrechterhaltung des Gedächtnisses der Erinnerungsgemeinschaft dient.(10) In diesem Sinne kann man soziale Gruppen als Gedächtnissysteme verstehen, die in der Kommunikation ihrer Mitglieder ein "transaktives Gedächtnis" bilden, in dem jedes einzelne Mitglied als interner Speicher und die anderen Gruppenmitglieder als externe Speicher fungieren.(11) Die Familie stellt als Erinnerungsgemeinschaft ein Relais zwischen biographischem Erinnern auf der einen und öffentlicher Erinnerungskultur sowie offiziellen Geschichtsbildern (12) auf der anderen Seite dar.

Bislang ist die Bedeutung der Weitergabe von Vergangenheitsvorstellungen durch direkte Kommunikation, etwa in der Familie, gegenüber den Effekten pädagogischer Geschichtsvermittlungen erheblich unterschätzt worden. Was in der Familie beiläufig und absichtslos, aber emotional nah und damit immer auch als etwas vermittelt wird, was mit der eigenen Identität zu tun hat, kann andere Vorstellungen erzeugen als das, was über dieselbe historische Zeit in der Schule als Wissen vermittelt wird - und es kann für die Geschichtsdeutung wirksamer sein. Man kann diese Diskrepanz als Unterschied von "Album" und "Lexikon" bezeichnen, wobei deutlich ist, dass die emotional grundierte Vergangenheitsdarstellung des Albums zugleich auch eine Grenze der Wissensvermittlung durch Bildungsinstitutionen markiert: Der Gebrauch des Geschichtswissens bestimmt sich nach Deutungsrahmen, die jenseits der Institutionen entstanden sind. Dieser Befund wird noch bedeutsamer, wenn die Abnehmerinnen- und Abnehmergruppen der Bildungsangebote soziokulturell heterogen zusammengesetzt sind. Und schließlich wird das vermittelte Wissen je nach sozialer Konfiguration - Familiengespräch, politische Diskussion, Gedenkstättenbesuch - unterschiedlich eingesetzt.

(1) Vgl. Harald Welzer (Hrsg.), Der Krieg der Erinnerung. Zweiter Weltkrieg, Kollaboration und Holocaust im Europäischen Gedächtnis, Frankfurt/M. 2007; Helmut König/Julia Schmidt/Manfred Sicking (Hrsg.), Europas Gedächtnis, Bielefeld 2008; Richard Ned Lebow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (eds.), The Politics of Memory in Postwar Europe, Durham-London 2006.

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(2) Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (eds.), The Invention of Tradition, New York 1983; Florian Fiedler, Bildersturm in Osteuropa, München 1995.

(3) Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Memory Unbound: The Holocaust and the Formation of Cosmopolitan Memory, in: European Journal of Social Theory, 5 (2002) 1, S. 87-106.

(4) Vgl. ebd.

(5) Vgl. Ulrich Beck/Edgar Grande, Kosmopolitisches Europa, Frankfurt/M. 2004.

(6) Vgl. Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.

(7) Vgl. Christian Gudehus, Germany's meta-narrative memory culture. An essay on sceptic narratives and minotaurs, in: German Politics and Society. Special Issue: The dynamics of memory in 21st Century Germany, 26 (2008) 4, Winter 2008.

(8) Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002.

(9) Vgl. John Borland, Graffiti, Paraden und Alltagskultur in Nordirland, in: Harald Welzer (Hrsg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 276-295; Michael Zimmermann, Mythen der Verfolgung im israelischen Alltag, in: ebd., S. 296-320.

(10) Vgl. Angela Keppler, Tischgespräche, Frankfurt/M. 1994; H. Welzer (Anm. 9); H. Welzer et al.(Anm. 8).

(11) Vgl. Jerome S. Bruner, Sinn, Kultur und Ich-Identität, Heidelberg 1997; Harald Welzer, Über Engramme und Exogramme. Die Sozialität des autobiographischen Gedächtnisses, in: ders./Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S. 111-128.

(12) Hier sind nationale Geschichtsschreibungen zu nennen, aber auch andere soziale, religiöse oder politische Gruppen verfügen über eigene Geschichtsbilder und -mythen; diese sind jedoch meist mit nationalen Vergangenheitskonstruktionen verschränkt.

Modernisierung der erinnerungskulturellen Praxis

Da sich die Aneignungsformen von Geschichte mit den Generationen und dem Zeitabstand zu den Ereignissen beständig verändern, kann man die bislang erfolgreiche Erinnerungs- und Vermittlungspraxis nicht einfach fortschreiben, sondern muss sie beständig modernisieren. Besonders wichtig ist die zeitnahe Auswertung neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Ergebnisse für pädagogische Handlungsfelder. So können neuere Erkenntnisse zur breiten Zustimmung der Bevölkerung zur nationalsozialistischen Politik oder zur Tötungsbereitschaft "ganz normaler Menschen " einleuchtende Gegenwartsbezüge und Anschlüsse an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern herstellen. Auch hier erwachsen aus der multikulturellen Zusammensetzung der Schulklassen neue Anforderungen an Geschichtspädagogik und Gedenkstättenarbeit.

In diesem Zusammenhang fällt schmerzlich auf, dass es trotz der breiten öffentlichen Verankerung des Erinnerns und Gedenkens und der Etablierung entsprechender Orte und Anlässe bisher nicht gelungen ist, Vermittlungen zwischen der Holocaust- und Völkermordforschung und den Praxisfeldern Schule, politische Bildung, Stiftungen und Gedenkstätten systematisch zu verankern. Vieles hängt von individuellen Initiativen und Programmen ab, und wissenschaftliche Befunde, die für pädagogische

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Handlungsfelder wichtig sind, werden nicht systematisch an Anwender gebracht, sondern, falls überhaupt, durch engagierte Pädagogen abgerufen und in die pädagogische Arbeit zu implementieren versucht. Das hat häufig nicht nur die Vermittlung veralteten Wissens zur Folge, sondern auch eine generationsfixierte Ritualisierung, ja Versteinerung der pädagogischen Angebote, welche die emotionale Dimension des Geschichtsbewusstseins heutiger Rezipienten völlig vernachlässigen.

Zusammengefasst ergibt sich im europäischen Vergleich ein erheblicher Bedarf nach verbesserten Schnittstellen zwischen Wissenschaft und politischer Bildung, in denen Vermittlungsangebote auf dem Niveau des aktuellen Forschungsstands für unterschiedliche Abnehmergruppen entwickelt, koordiniert und angeregt werden. Während in vielen anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren Zentren und Institute für Holocaust- und Genozidforschung (z.B. Kopenhagen Peace Research Institute; Holocaust Senteret Oslo) eingerichtet wurden, gibt es eine solche Einrichtung, die Forschung und Vermittlung integriert, ausgerechnet in Deutschland bislang nicht. Obwohl sich die deutsche Geschichtswissenschaft sehr intensiv mit Fragen der Holocaust- und Völkermordforschung befasst hat, ist die Vermittlungslandschaft weitgehend unkoordiniert geblieben.

Die Entwicklung modernisierter Konzepte der erinnerungskulturellen Arbeit leidet unter einem weiteren zentralen Defizit: Bislang ist die Wirkungs- und Rezeptionsforschung systematisch vernachlässigt worden. Das eklatante Defizit zeigt sich insbesondere im Vergleich zu Museen und speziell zu Geschichtsmuseen, die schon lange systematisch zu diesen Fragen forschen oder, wie etwa das Jüdische Museum Berlin, eigene Abteilungen für Besucherforschung unterhalten. Seit vielen Jahren wird über eine bundesweite Evaluation zumindest der großen Gedenkstätten gestritten. Dabei werden die Besonderheit der Gedenkstätten und ihre Vergleichbarkeit mit Museen ins Feld geführt. Ebenso herrscht Uneinigkeit, ob der Messung von Besucherströmen größere Aufmerksamkeit zuteil werden soll oder ob man sich vorrangig mit qualitativen Methoden der pädagogischen Arbeit annähern sollte.(13) Dass es dennoch Studien zu Gedenkstättenbesuchen gibt, ist einer großen Zahl von Einzelpersonen zu verdanken, die sich in der Regel im Rahmen von Qualifikationsarbeiten mit dieser Problematik beschäftigt haben. Hinzu kommen wenige von Gedenkstätten oder Landeszentralen für politische Bildung selbst initiierten Studien.(14)

Beide Desiderate hängen eng miteinander zusammen. Die Programmatik der erinnerungskulturellen Institutionen ist nach wie vor stark von ihrer eigenen Durchsetzungsgeschichte geprägt und betont die Notwendigkeit erstens der historischen Aufklärung und zweitens emphatisch eine Politik des Nicht- Vergessens. Beides ist durch die erfolgreiche Erinnerungspolitik der Bundesrepublik und nicht zuletzt durch die engagierte Arbeit vieler Gedenkstättenakteure heute erinnerungskultureller Standard, so dass insbesondere jüngere Besucherinnen und Besucher mit Vorwissen und Erinnerungsbereitschaft den erinnerungskulturellen Angeboten gegenübertreten und durch die Emphase der Vermittlungsrhetorik eher irritiert, wenn nicht abgeschreckt werden. Wer unablässig gesagt bekommt, er dürfe nicht vergessen, obwohl er nie die Absicht zu vergessen hatte, wird sich irgendwann genervt anderen Dingen zuwenden. Der Geschichtsdidaktiker und langjährige Leiter der Gedenkstätte Villa ten Hompel, Alfons Kenkmann, hat pointiert formuliert, dass die "junge Generation auf eine Generation von Gedenkstättenpädagogen [trifft], die mit ihren Einrichtungen alt geworden sind und sich nun der Entwicklung von den Gedenk- zu Lernorten zu stellen haben. Diese Befunde verlangen eine Offenheit für neue museumsdidaktische Konzeptionen und damit eine Überarbeitung der vor bis zu drei Dekaden entstandenen musealen und geschichtsdidaktischen Angebote."(15)

(13) Teilweise dokumentiert ist die Diskussion in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Gedenkstätten und Besucherforschung, Bonn 2004. (14) Einen Überblick zur Besucherforschung in Gedenkstätten und historischen Ausstellungen liefert Bert Pampel, Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist. Zur Wirkung von Gedenkstättenbesuchen auf ihre Besucher, Frankfurt/M. 2007.

(15) Alfons Kenkmann, Fokussierung oder Vielfalt? Aktuelle Diskussionen um die Struktur der NS- Gedenkstätten - Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.),

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Aufarbeitung der Diktatur - Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 59-69, hier S. 68f.

Reflexive Erinnerungskultur

Wie kann in einer Erinnerungs- und Memorialkultur angemessen Ausdruck finden, dass die Judenverfolgung die Zustimmungsbereitschaft der meisten nichtjüdischen Deutschen zum Nationalsozialismus nicht behinderte, sondern förderte? Sicher nicht durch Formen, die es über fiktive Identifikationen mit Opfern und artifizielle Betroffenheit erlauben, auf Abstand von solchen Befunden zu gehen, denn dieser Abstand erspart es wiederum, Bezüge zwischen einer gelebten Gegenwart und einer rituell erstarrten Vergangenheitsbetrachtung herzustellen. Wenn der Holocaust nicht aus Mangel an Zivilcourage, sondern als in breiten Teilen der Bevölkerung zustimmungsfähiges Projekt zustande gekommen ist, liegt darin die Herausforderung, in der Gegenwart die Potentiale für antisoziales Verhalten, für die Aufweichung rechtsstaatlicher Prinzipien, für gegenmenschliche Praktiken wahrzunehmen. Dann aber wäre die Erinnerung nicht museal und identifikatorisch, sondern gegenwärtig, reflexiv und politisch.

Für eine reflexive Erinnerungskultur sind Pathosformeln ebenso kontraproduktiv wie Ansprüche auf transtemporale Gültigkeit der Inhalte. Erinnerung schreibt sich immer nach Erfordernissen der Gegenwart um, und das Gedenken folgt diesen Umschriften in gemessenem Abstand. Wäre das nicht so, hätten wir heute gar keine Holocausterinnerung, denn der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft ging es, wenn denn um irgendetwas Zurückliegendes, um das Gedenken der eigenen Verluste und Leiden, nicht um die Erinnerung an die Taten. Diese frühe Erinnerungskultur ist sukzessive durch jene abgelöst worden, welche die Opfer und ihre Leiden in den Mittelpunkt stellte. Auf diesem Fundament steht die gegenwärtige Erinnerungskultur, und jetzt kommt es darauf, sich den Potentialen, Handlungen und Orientierungen zu widmen, die Ausgrenzungsgesellschaften entstehen und Genozide möglich werden lassen. In diesem Sinn ist Erinnerungskultur eine zivilgesellschaftliche Angelegenheit, deren Bezugspunkt die Gegenwart und Zukunft und gerade nicht die Vergangenheit ist. Es kommt darauf an, von der Thematisierung des Grauens und der Opferschaft auf die Herstellung von Ausgrenzungs- und Tötungsbereitschaft zu wechseln und verstehbar zu machen, wie sich normative Verschiebungen in modernen Gesellschaften etablieren, die schließlich zu gegenmenschlichen Entwicklungen und Massengewaltprozessen führen können.

Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen sind als Speicher von Potentialen zu verstehen, die Handlungsbereitschaften und Handlungen unterschiedlichster Art entbinden können. Weil hoch arbeitsteilige Funktionsvollzüge partikulare Handlungsrationalitäten ausbilden, welche die Voraussicht über die Folgen eigenen Handelns systematisch begrenzen, muss über Konzepte partikularer Verantwortungsstärkung nachgedacht werden. Hier liegt eine ganze neue Aufgabe für das weite Feld der politischen und historischen Bildung, die sich bisher auf die Entwicklung universaler Verantwortungs- und Moralvorstellungen konzentriert, die Individuen in konkreten Handlungssituationen aber - das zeigte etwa das Milgram-Experiment (1961) - radikal überfordern können. Designs künftiger Angebote der politischen Bildung und der zivilgesellschaftlichen Erinnerungskultur sollten daher an die lebensweltliche Gegenwart der Abnehmerinnen und Abnehmer der Vermittlungsangebote anknüpfen. Daraus folgt notwendig eine Abkehr vom Paradigma der Top-down-Pädagogik ("Ihr sollt wissen") zur kooperativen Erarbeitung von Inhalten oder Ausstellungseinheiten (bottom up). Strategien reichen von der klassischen "Flachware", also Bild- und Textmedien, die über Anwendungsfälle von Zivilcourage und zivilem Widerstand berichten (z.B. über Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Rosa Parks), zugleich aber - etwa mittels computergenerierter Ausbreitungsmuster von Widerstandsbewegungen - verdeutlichen, dass es hier nicht um Heroisierungen, sondern um soziale Handlungen mit Impulswirkung geht. Die Perspektive auf die Öffnung und Nutzung von Handlungsspielräumen kann am Beispiel von Personen erfolgen, muss aber Personalisierungen vermeiden. Dabei ist immer auch die zeitgenössische Perspektive wichtig, etwa: Wie werden Umwelt- und Klimaflüchtlinge in der EU behandelt, wie ahnden Rechtsstaaten Menschenrechtsverletzungen, was ist Folter?

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Wie Handlungsspielräume auch unter extremen Bedingungen genutzt werden können, kann an historischen Beispielen gezeigt werden - etwa an Helfer- und Retterverhalten während der NS-Zeit, das Privatpersonen (wie Oskar Schindler) genauso gezeigt haben wie Wehrmachtsangehörige (wie Heinz Drossel). Solche Personen haben Handlungsspielräume anders genutzt als die übergroße Mehrheit ihrer Zeitgenossen, und darin liegt ein erhebliches Lernpotential. Solches Material kann um kleinere Experimente und Planspiele ergänzt werden. Experimente zum Bystander-Verhalten etwa haben gezeigt, dass das Maß der "Verantwortungsdiffusion" als zentraler Faktor für erfolgende oder ausbleibende Hilfe gelten kann: Je mehr Personen anwesend sind, wenn sich jemand in einer Notsituation befindet, desto weniger neigen Einzelne zum Helfen (bystander effect). Das Wissen über hemmende Faktoren in Hilfesituationen moderiert das Verhalten, prosoziales Verhalten kann also durch Lernen beeinflusst werden. Andere klassische Experimente der Psychologie und Sozialpsychologie, etwa die Konformitätsexperimente von Asch (1951) oder Experimente zum Hilfeverhalten (Aronson 1994), können mit Hilfe von game designs für Alleinbesucher als Lernspiele operationalisiert werden oder für Gruppen zu Rollenspielen aufbereitet werden. Die Möglichkeit, Erfahrungen mit eigenen Handlungs- und Verhaltensbereitschaften zu machen, dürfte für nachhaltigere pädagogische Effekte sorgen als die bloße kognitive Konfrontation mit dem, was anderen Menschen zu anderen historischen Zeiten widerfahren ist. Zudem könnten gerade unter Nutzung elektronischer Medien Projekte initiiert werden, in denen Schülerinnen und Schüler Präsentationen, Rollenspiele oder Computersimulationen zu Fragen wie Zivilcourage, Ausgrenzung und prosozialem Verhalten erarbeiten, anstatt sich in alle Zukunft im "Spurensuchen" und in Verbrechensrekonstruktionen zu ergehen.

Dabei verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. Die tradierten Strategien der politischen und historischen Bildung stehen nicht nur in Konkurrenz zu massenmedialen Geschichtsvermittlungen; auch in der Vermittlungslandschaft haben sich enorme Veränderungen hin zum Infotainment ergeben. Häuser wie das "Phaeno" in Wolfsburg, das "Universum" in Bremen oder das "Klimahaus" in Bremerhaven bieten anspruchsvolle Vermittlungsangebote mit Event-Charakter auf dem neuesten Stand der Präsentationstechnik. Dass es solche Ausstellungshäuser, die nicht zufällig nicht mehr "Museum " oder "-stätte" heißen, bislang ausschließlich im naturwissenschaftlich-technischen Bereich gibt, sollte als Herausforderung begriffen werden, analoge Häuser im geschichts- und gesellschaftswissenschaftlichen Feld zu etablieren. Anregungen dafür sind etwa in den Ausstellungen von levande historia in Stockholm, des Hygiene-Museums Dresden oder in den erwähnten Häusern selbst zu bekommen. Der Transfer von Wissen zu sozialem Handeln in zeitgenössischen Formaten würde dazu führen, dass Besucherinnen und Besucher die Institutionen der politischen Bildung nicht mehr mit Inferioritäts- und Beschämungsgefühlen verlassen, sondern mit dem Bewusstsein, etwas Interessantes gemacht und erlebt zu haben.

Zukunftsgedächtnis

Dies alles lässt sich als Plädoyer dafür lesen, die Erinnerungskultur in Richtung Zukunft neu zu justieren. Dieses Plädoyer lässt sich mit einem weitgehend unbeachteten Aspekt der Gedächtnistheorie untermauern: Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. Deshalb spielen "Vorerinnerungen", wie Edmund Husserl (16) bemerkt hat, also Vorgriffe auf etwas erst in der Zukunft Existierendes, als Orientierungsmittel für die Ausrichtung von Entscheidungen und Handlungen eine mindestens so wichtige Rolle wie der Rückgriff auf real oder vorgestellt erlebte Vergangenheiten. Husserls Unterscheidung zwischen Retentionen als Rückgriffen auf Vergangenheitsbestände und Protentionen als auf Späteres gerichtete Intentionen, die schon die enorme Bedeutung von imaginierten Zukünften für Handlungsentwürfe und - ausführungen dargelegt hat, ist von Alfred Schütz in seinem Konzept der "antizipierten Retrospektionen " weiter entwickelt worden. Das humanspezifische Vermögen, die persönliche Existenz in einem Raum- Zeit-Kontinuum zu situieren und auf eine Vergangenheit zurückblicken zu können, hat den Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermöglichen. Umgekehrt aber können Menschen auf eine Zukunft zurückblicken, die noch gar nicht Wirklichkeit geworden ist. Die grammatische Form dafür ist

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 179 das Futurum II - es wird gewesen sein -, seine mentale Form die "antizipierte Retrospektion", der Vorausblick auf etwas im Vorgriff auf den Zustand seines Verwirklichtseins.(17)

Antizipierte Retrospektionen spielen für menschliches Handeln eine zentrale Rolle - jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien - aus dem Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen. Die prospektive Form des Gedächtnisses hat der menschlichen Lebensform den evolutionären Vorteil verschafft, Vorteile und Hindernisse bei der Gestaltung der Welt abschätzen und virtuell durchspielen zu können. Der Bezugspunkt des Gedächtnisses ist die gehoffte Zukunft.

Für das, was man unter Erinnerung und Gedächtnis versteht, öffnet sich damit ein erheblich weiterer Raum als bisher. Ungleichzeitigkeiten in Handlungsorientierungen und -optionen werden sowohl auf der gesellschaftlichen wie auf der individuellen Ebene zugänglich, die Schwerkraft von Selbstbildern und Habitusbildungen oder die Tiefenwirkung historischer Erfahrungen auf die Konzipierung von Zukunftsentwürfen oder allgemeiner: zukunftsbezogenen Handlungspotentialen werden besser verständlich. Wenn Zukunft systematisch zur Erinnerung gehört, könnte man eine "Theorie des Zukunftsgedächtnisses" (H.-J. Heinrichs) entwickeln. Damit würde die Privilegierung der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart und der Zukunft in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung ebenso Geschichte sein wie die Höherbewertung des Erinnerns gegenüber dem Vergessen. Da jede Gedächtnistätigkeit ein selektiver Vorgang ist, ist Vergessen konstitutiv für Erinnerung überhaupt. Und da der funktionale Überlebenswert des Gedächtnisses von seinem Zukunftsbezug abhängt, ist es die Zukunft, die konstitutiv für das Gedächtnis ist, nicht die Vergangenheit. Die Zukunft macht Vergangenheit erst verstehbar und motiviert Geschichtsbewusstsein.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)

(16) Edmund Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18), hrsg. von Rudolf Bernet/Dieter Lohmar, Dordrecht-Boston-London 2001, S. 12ff.

(17) Vgl. Alfred Schütz, Tiresias oder unser Wissen von zukünftigen Ereignissen (1959), in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 261.

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Zur Zukunft der Erinnerung

Von Volkhard Knigge 21.6.2010 Volkhard Knigge ist Honorarprofessor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Volkhard Knigge plädiert für einen Abschied vom Paradigma der Erinnerung der moralischen Appelle, Pathosformeln und den gewohnten Formeln und Ritualen. Aber wie kann historisches Lernen der Zukunft aussehen?

Gedenktafel an die Deportation von jüdischen Menschen aus dem Grossraum Frankfurt am Main. Die Transportzüge wurden hier zwischen 1941 und 1945 zusammengestellt. Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Dontworry)

Die folgenden Überlegungen zur Zukunft der Erinnerung haben ein doppeltes Anliegen. Zum einen verstehen sie sich als rettende Kritik an Erinnerungskultur als gesellschaftlichem Projekt der selbstkritischen Verständigung über Geschichte, insbesondere über die Geschichte und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Deutschland. Zum anderen skizzieren sie eine aus dieser Kritik hervorgehende Neuorientierung. Von Erinnerung bzw. Erinnerungskultur wird deshalb am Ende nicht mehr die Rede sein, wohl aber von reflektiertem Geschichtsbewusstsein als Ausgangspunkt für eine Zivilgeschichte der Zukunft.

Dass ein langjähriger Protagonist der institutionalisierten Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Paradigma der Erinnerung plädiert, mag auf den ersten Blick überraschen, gelten doch gerade die Verantwortlichen in Gedenkstätten in besonderer Weise als Sachwalter und Treuhänder

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 181 von Erinnerung, als diejenigen, die Erinnerung wach halten und zukunftsfest machen. Allerdings könnte man bereits hier ins Stutzen kommen. Denn Erinnerung, so allgemein formuliert, verschleiert, dass Gedenkstätten nicht eine Erinnerung repräsentieren, sondern Kristallisationspunkt zahlreicher und keineswegs einheitlicher Erinnerungen sind. Überlebende der Lager haben ihre je eigenen Geschichten und Erfahrungen, die sich mit denen anderer Überlebender zwar berühren, kreuzen oder überschneiden können, die aber deshalb doch nicht identisch sind. Zudem haben Überlebende - wie alle Menschen - ihre Geschichten auf eigene, manchmal anderen ähnliche, aber nicht zwingend gleiche Weise verarbeitet und gedeutet wie auch im Licht neuer Erfahrungen oder veränderter Verhältnisse re-rekonstruiert und re-interpretiert.

Dass menschliches Erinnern bei aller Rückgebundenheit an Erfahrungen kein bloßes Widerspiegeln ist, sondern immer auch gegenwartsverhaftete und zukunftsgerichtete Konstruktion, ist eine Binsenweisheit. Wenn also Gedenkstätten Erinnerungen weitergeben, dann in dem Sinn, dass sie als gewichtigen Teil ihrer Arbeit erfahrungsgeschichtliche Zeugnisse sammeln, quellenkritisch aufbereitet dokumentieren und für die kritische Auseinandersetzung mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen - gerade aus Sicht der Opfer - nutzen und zur Verfügung stellen. Dass mit quellenkritisch aufbereiteten, kontextualisierten erfahrungsgeschichtlichen Quellen empfindliche Lücken der Überlieferung geschlossen werden können und zu Opfern gemachte Menschen mittels ihrer Zeugenschaft zugleich ihren Subjektstatus zurückerobern und festigen, bedarf keiner Erklärung. Die Selbstgenügsamkeit von Erinnerung hingegen, ihre Abkopplung von geschichtswissenschaftlicher Forschung und methodisch fundierter Vernunft, ihre Transformation in unhinterfragbare historische Offenbarung hingegen ist entweder naiv oder bahnt politischen Religionen und deren hohen Priestern den Weg. Mit historischer Selbstverständigung und handlungsorientierender, kritischer historischer Selbstreflexion auf humane Gegenwart und Zukunft hin hat solches Erinnern nichts zu tun.

Der Umstand, dass es zu überraschen vermag, wenn ein Protagonist der öffentlichen Erinnerungskultur für einen bewussten Abschied vom Erinnerungsparadigma plädiert, um dessen historische Substanz zugleich zu bewahren, wird darüber hinaus durch die erhebliche Diskrepanz befördert, die zwischen moderner Gedenkstättenarbeit und einem Großteil öffentlicher Erinnerungskultur besteht. Denn im öffentlichen Diskurs wird Erinnerung zunehmend als moralisch aufgeladene, eher diffuse Pathosformel gebraucht, als sei Erinnerung als solche bereits der Königsweg zur Bildung von kritischem Geschichtsbewusstsein, als stehe Erinnern als solches bereits für gelingende Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Aus dem Blick gerät dabei nicht zuletzt, dass historisches Erinnern in der Geschichte eher dem Gegenteil, nämlich immer wieder hoch aggressiven Zwecken, gedient hat und weiterhin dient, etwa in Gestalt der Verortung und Verstetigung von Feindbildern oder der Begründung und Anheizung angeblich ausstehender Rache und Revanche. Clashes of Memory lassen sich nicht nur in Post-Bürgerkriegsgesellschaften wie Spanien oder zerfallenen Staaten wie dem ehemaligen Jugoslawien beobachten, sie finden sich, wenn auch unterschiedlich aggressiv oder entzweiend, in allen Gesellschaften. Anders gesagt, Erinnern und Erinnerungen sind weder a priori friedfertig noch moralisch. Sie sind sich darüber hinaus zunächst selbst genug und deshalb als solche nur schwer - oder mit Macht - zu verallgemeinern. Sie zielen nicht automatisch auf historische Aufklärung, und auch die Addition von Erinnerungen bedeutet nicht zwangsläufig historisches Begreifen.

Die wegweisenden Neukonzeptionen der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR - wie Buchenwald oder Sachsenhausen - nach 1990 haben sich deshalb weniger an Konzepten von Erinnerung als vielmehr an erfahrungsorientiertem, forschenden Lernen orientiert, etwa an Konzepten partizipativer, niederschwelliger Museumsarbeit. In dieser Perspektive, die an vor allem in den 1980er Jahren geführte Diskussionen um Gedenkstätten als arbeitende Institutionen, als Lernorte anknüpfen konnte, gelten Gedenkstätten als geschichtswissenschaftlich fundierte Institutionen anwendungsbezogener Forschung und historischen Lernens, als Orte historisch-politischer, ethischer Bildung mit einem gewissen Andachtscharakter. Sie verstehen sich als zeithistorische Museen mit eigentümlichen, ihrer Geschichte als ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager entspringenden Eigenschaften,

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 182 die sie bei aller Gemeinsamkeit von klassischen Geschichtsmuseen unterscheiden. Denn im Gegensatz zu diesen sind sie als Denkmale aus der Zeit sowohl Tat- und Leidensorte wie auch - konkret und symbolisch - Grabfelder und Friedhöfe. Zudem haben Gedenkstätten nach wie vor humanitäre Aufgaben.(1) Auch wenn diese Merkmale historisches Lernen im engeren Sinn übersteigen und dessen Verbindung mit Gedenken ebenso einfordern wie ermöglichen, stehen sie zum Lernen an und aus der Geschichte nicht zwingend im Gegensatz. Vielmehr lassen sie sich mit solchem Lernen bereichernd verbinden: Denn die Verknüpfung von kognitiven und affektiven Zugängen zur Vergangenheit intensiviert Auseinandersetzungsprozesse. Schließlich braucht Gedenken Wissen. Mehr noch, mit dem endgültigen Schwinden direkter erfahrungsgeschichtlicher Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit kann Gedenken überhaupt erst aus nachträglich erarbeiteten Erkenntnissen folgen. Ohne solche reduziert es sich auf oberflächliche Rituale und vordergründige Betroffenheit oder verkommt gar zur gefühlig verbrämten (geschichts-)politischen Manipulation.

(1) Die in der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten zusammengeschlossenen großen Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland haben ein entsprechendes Selbstverständnis im November 1997 veröffentlicht. Es hat im Jahr 2000 Eingang in die Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes gefunden.

Befund

Das Erlöschen unmittelbarer Erfahrungsgeschichte in Bezug auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, populär gefasst als Abschied von den Zeitzeugen, intensiviert die Frage nach der Zukunft der Erinnerung. Zugleich droht dieser Abschied - der als Feststellung wie als Topos öffentlicher Rede eine bereits mindestens fünfzehnjährige Geschichte hat (2) - aber auch, zukunftsrelevante Fragestellungen in Bezug auf demokratische Geschichtskultur und die Entwicklung reflektierten Geschichtsbewusstseins zu verstellen. Denn Abschied von der Erinnerung steht für mehr als die Herausforderung, Ersatz für "Lebensgeschichten als Argument" zu schaffen. Vielmehr bedarf es einer umfassenden begrifflichen und methodischen Weiterentwicklung historischen Lernens aus der Geschichte des extremen 20. Jahrhunderts, wenn die mit Erinnerung einmal gemeinten selbstkritischen, Geschichtsbewusstsein bildenden, Lebenspraxis orientierenden Impulse gewahrt und fortgeführt werden sollen.

Einerseits ist es gelungen, in der Bundesrepublik negatives Gedächtnis (3) als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe zu etablieren und zu einer Ressource für demokratische Kultur und diese fundierende Lern- und Bildungsprozesse zu machen. Dieser Erfolg verdankt sich ganz wesentlich innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik ab Ende der 1950er Jahre um die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen; Debatten und Auseinandersetzungen, die ab Ende der 1970er Jahre auch in die Gedenkstättenbewegung einmündeten. Diese Auseinandersetzungen - verstanden als gesellschaftlich folgenreiche, empirische, wissen-wollende und Rechenschaft fordernde Aufarbeitung der Vergangenheit - gingen dem Bildungsprojekt voraus oder begleiteten es, verliehen ihm unmittelbare Relevanz und praktisch nachvollziehbare Evidenz und Plausibilität. Erinnerung hatte in diesem Zusammenhang eine spezifische, vor allem an die Beteiligtengeneration gerichtete Bedeutung. Denn die Aufforderung, sich zu erinnern, wendete sich gegen das ubiquitäre Beschweigen und Ableugnen der NS-Verbrechen, stand gegen die hohle, aber hartnäckige Behauptung: Davon haben wir nichts gewusst. Erinnern hieß in diesem Kontext, sich und anderen die ganze Wirklichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands einschließlich der eigenen Rolle darin einzugestehen und individuelle wie gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen. Dieser semantische, direkt mit der nationalsozialistischen Erfahrung verbundene Kern ist weitgehend in Vergessenheit geraten. An seine Stelle ist ein Erinnerungsbegriff getreten, der mit und in zugleich schiefer Adaption von Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte ein vor-, wenn nicht antimodernes Konzept des Umgangs mit Vergangenheit vorantreibt: Erinnerung als

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Identität und Gemeinschaft stiftendes Erzählen von Vergangenheit jenseits methodisch reflektierten, begrifflich bedachten Durcharbeitens.

Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als Überwindung ideologischer und gesellschaftlicher Kontinuitäten nach 1945, Aufarbeitung der Vergangenheit als gesellschaftliches Lernen durch damit verbundene Konflikte war im Kern ein generationelles Projekt; es ist als solches - auch auf Grund seines politischen Erfolgs - weitgehend zu Ende gegangen. Sein Ende bedeutet den eigentlichen Epochenschnitt und ist nicht weniger folgenreich als der Abschied von den unmittelbaren Zeugen. Mit letzteren gehen gewichtige Veto-Instanzen gegen politisch leichthändige Indienstnahmen und historisch wie moralisch schiefe Vergleiche oder unzulässige Verallgemeinerungen und Analogisierungen verloren. Mit letzteren schwinden Menschen, deren Geschichte in besonderer Weise berührt und mit denen Geschichte als lebendige Erfahrung in die Gegenwart hineinreichte und unmittelbare Anteilnahme und Auseinandersetzung einforderte.

Mit der Generation Aufarbeitung (4) schwindet nicht nur der zentrale gesellschaftliche Akteur dieses Projekts, das Projekt selbst ändert seinen Aggregatzustand, ja, es hat ihn längst geändert. Diese Änderungen bleiben weitgehend ausgeblendet: zum einen auf Grund des Zeitzeugenbooms mit Beginn der 1990er Jahre, zum anderen durch die forcierte Entwicklung des Ausbaus der KZ-Gedenkstätten nach der Vereinigung der beiden Deutschlands 1990. Denn erst der unabweisliche Bedarf für eine Neukonzeption der an die Bundesrepublik übergegangenen ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR und die damit einhergehende staatliche Verpflichtung hat zur Sicherung und zum angemessenen Ausbau der KZ-Gedenkstätten in ihrer heutigen Form geführt. Der karge Ausbau von Gedenkstätten wie Dachau, Bergen-Belsen, Flossenbürg oder Neuengamme spricht eine deutliche Sprache: Waren in Buchenwald 1990 gegen einhundert Menschen beschäftigt, waren es in Dachau kaum fünf.

Jüngere erleben die Bundesrepublik zu Recht nicht mehr als praktische Aufarbeitung fordernde, postnationalsozialistische Gesellschaft. Kaum camouflierte nationalsozialistische Lehrer sind ihnen ebenso fremd wie das Fortwirken nationalsozialistisch geprägter Mentalität oder Elitenkontinuitäten vor und nach 1945. Eine zumeist von Älteren angemahnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt ihnen überwiegend als Erinnerungsimperativ bzw. als institutionalisierte Praxis in Studium, Geschichtsunterricht, Gedenkstätten, Denkmalen und Gedenktagen entgegen und begegnet ihnen in Gestalt massenmedialer oder öffentlich habitualisierter Redundanzen und Kümmerformen wie etwa Gedenkstättenpflichtbesuchen, rhetorischen Codes, visuellen Klischees oder vordergründiger Symbolpolitik. Mit diesem Wandel verbunden sind Erosionen historischer Neugier und gleichsam unmittelbar gegebener lebensweltlicher Relevanz, aber auch Glaubwürdigkeitsdefizite und eine Verschiebung von der Zivilgesellschaft zu staatlichen Regulierungen von Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit - mit allen Vor- und Nachteilen. Christian Meier spricht bereits vom "Gedenkwesen ". (5)

Anders gesagt: Aus dem einstigen Vorhaben, mittels kritischer Selbstreflexion nationalsozialistischer Vorgeschichte mehr Demokratie und demokratische Haltungen praktisch zu erwirken, ist tendenziell ein von kritischer Selbstvergewisserung und transzendierender gesellschaftlicher Praxis abgekoppeltes Lehrvorhaben geworden: vergangenheitsgefärbtes, eher formales, auch scholastisches Demokratielernen. "Wer aus der Vergangenheit nicht lernt, versteht weder die Gegenwart, noch wird er die Zukunft bewältigen ..." - solche formelhaften Sätze zitieren zwar auch Jüngere gelegentlich gerne, aber es ist zu befürchten, dass sie dabei eher die hilflose Rhetorik der Älteren imitieren. Wie jedes Trockenschwimmen ist solch vergangenheitsgefärbtes Demokratielernen von Monotonie, Langeweile und dem Ruch der Folgenlosigkeit und Wirklichkeitsferne bedroht.

Mit diesem Wandel verbinden sich darüber hinaus nicht nur unzulänglich diskutierte didaktische und methodische Fragen, sondern das so verfasste Lernvorhaben trägt auch zunehmend kompensatorische bzw. affirmative Züge: kompensatorische Züge dort, wo es sich vornehmlich an demokratieferne oder demokratieabstinente Jugendliche als angeblich alleinigem Gefährdungspotential

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 184 demokratischer Verhältnisse adressiert und die darüber hinausgehenden mentalen und strukturellen Gefährdungen demokratischer Gesellschaftlichkeit außer Acht lässt, etwa in Gestalt xenophober, antisemitischer oder (proto-)rassistischer Haltungen in der Mitte der Gesellschaft oder forciertem Sieger-Verlierer-Denken mit sozialdarwinistischer Grundierung. Affirmativ-teleologisch droht das vergangenheitsgefärbte Demokratielernen zudem dort zu werden, wo die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik spätestens mit der Vereinigung von 1989/90 als wesentlich abgeschlossen gilt, mit der Konsequenz, dass nur mehr der Status quo zu festigen sei. Das ist gleichsam die bundesrepublikanische Variante eines selbstgenügsamen Post-Histoire, das Lernen aus der Geschichte als obsolet erscheinen lässt bzw. entsprechende Aufforderungen in das schiefe Licht in sich widersprüchlicher Double-Bind-Kommunikation taucht.

Wohin das führt, lehren die Geschichte der DDR und die SED-Geschichtspolitik. Noch 1989 veranlasste die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald eine Jugendstudie zur Wirkung ihrer Arbeit. Angestoßen worden war sie durch die nicht mehr zu übergehende alltägliche Erfahrung, junge Menschen kaum mehr zu erreichen. Die nie zur Veröffentlichung vorgesehene Untersuchung erbrachte drei Befunde, die uns warnen sollten. Zum einen verwies sie auf den Verschleiß der immer gleichen Formeln und Rituale und damit indirekt auch auf den Zusammenhang zwischen mehr oder minder deutlich eingeforderten (Lippen-)Bekenntnissen und Desinteresse. Zum anderen machte sie die Folgen eindimensionaler, unkritischer staatlicher Selbstpositivierung in Verbindung mit geschichtsteleologischer Zwangsläufigkeit deutlich. Warum sollen wir uns, fragten sich jüngere Gedenkstättenbesucher nämlich, diese Geschichte überhaupt etwas angehen lassen, wenn die "Wurzeln des Faschismus" in unserem Land bereits ein für alle mal ausgerottet worden sind, faschistische Gefahr nur noch im Anderswo, im Westen, droht und der Sieg des Kommunismus geschichtsgesetzlich verbürgt ist? (6) Warum und wofür sollte man unter solchen Voraussetzungen überhaupt aus der Geschichte lernen und Verantwortung für ihre Entwicklung übernehmen?

Den hier umrissenen Verschiebungen entspricht die schleichende Transformation kritischer historischer Selbstreflexion in Gedächtnis- bzw. Identitätspolitik seit Mitte der 1980er Jahre. Sollten mit Gedächtnis- und Identitätspolitik zunächst vor allem Vertrautheitsschwund und Entheimatungserfahrungen im Prozess technisch beschleunigter Moderne durch Rückgriff auf symbolisch bewahrte Traditionen und die kulturelle Revitalisierung von Erinnerungsorten, Geschichtsbildern oder Mythen symbolisch nur mehr kompensiert werden (7), haben sie darüber hinaus mit der deutschen Vereinigung zunehmend nationale Züge und Funktionen angenommen. Zu den Folgen gehören eine Entkopplung von kritischer Geschichtswissenschaft und Gedächtnisformierung, die vormoderne Mythisierung von Geschichte als Summe individueller Erlebnisse und Erinnerungen, die Behauptung eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen a priori kalter, unauthentischer Geschichtsschreibung und a priori authentischer Zeitzeugenschaft, das Verschleifen der Grenzen von Erinnerungskultur und -politik, die tendenzielle Reduktion von Erinnerungskultur auf historisch entkernte Pietät jenseits empirisch gehaltvoller Auseinandersetzung mit den Ursachen von Staats- und Gesellschaftsverbrechen als dem Kern präventiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und schließlich die Fokussierung auf bloße Abstandsermessung zwischen Damals und Heute, nicht aber deren reflexive Verknüpfung und Analyse. Lernen an negativer Vergangenheit reduziert sich schnell auf moralische Appelle, überhistorisches Existentialisieren bzw. Anthropologisieren - Welt und Menschen sind und waren immer schon schlecht - oder die Akklamation von Bürger- und Menschenrechten im gleichsam luftleeren Raum. Nicht zuletzt aber entschwindet ein empirisch gehaltvolles, reflektiertes Bewusstsein der Verzahnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So wie die Gegenwart meint, sich von der Vergangenheit umfassend distanzieren zu können, schafft sie Zukunft jenseits technischen Wandels und funktionaler Modernisierung gleichsam ab. Lernen aus der Geschichte wird zum Glasperlenspiel.

Dabei muss nicht zuletzt verwundern, wie unbedacht einer Kollektivierung von Erinnerungen im Namen des antitotalitären Konsenses das Wort geredet wird, geradezu so, als gehörte nicht gerade die Uniformierung noch des Innersten und Subjektivsten zu den von George Orwell in seiner totalitarismuskritischen negativen Utopie "1984" beschriebenen Alpträumen. Insofern Erinnerungen in

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 185 unaustauschbaren Erfahrungen gründen, lassen sie sich, ohne diesen Erfahrungen Gewalt anzutun, eben gerade nicht kollektivieren. Statt Erinnerungskollektive zu behaupten, sie also rhetorisch, sozial oder politisch zu konstruieren, ließe sich vernünftigerweise nur nach überindividuellen Rahmenbedingungen für historische Erinnerungen und Sinnbildungen als Anknüpfungspunkte für subjektverbundenes und zugleich transpersonalen Geschichtsbewusstsein fragen.

(2) Der Topos findet sich bereits 1995 im Zusammenhang mit den fünfzigsten Jahrestagen der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. (3) Negatives Gedenken - den Inhalten, nicht den Zielen nach - meint die Bewahrung eines öffentlichen, selbstkritischen Gedächtnisses an von den Eigenen an Anderen begangenen Staats- bzw. Gesellschaftsverbrechen und die damit verbundene Verantwortungsübernahme einschließlich des Ziehens praktischer Konsequenzen. (4) "Generation" ist hier eher metaphorisch gemeint. Weder handelt es sich um eine, noch soll behauptet werden, dass alle jeweiligen Mitglieder sich das Projekt Aufarbeitung zu eigen gemacht hätten. Als Metapher zielt der Begriff auf eine Gemeinsamkeit der Beteiligten: ihre erfahrungsgeschichtliche Verbindung mit dem Nationalsozialismus, seinen Aus- bzw. Nachwirkungen. (5) Christian Meier, Zum deutschen Gedenkwesen, in: Norbert Lammert (Hrsg.), Erinnerungskultur, Sankt Augustin 2004, S. 21-42. (6) Vgl. Wilfried Schubarth, Historisches Bewußtsein und historische Bildung in der DDR zwischen Anspruch und Realität, in: Werner Henning/Walter Friedrich (Hrsg.), Jugend in der DDR. Daten und Ergebnisse der Jugendforschung vor der Wende, Weinheim-München 1991, insbes. S. 27ff. (7) So insbes. Hermann Lübbe und Odo Marquard.

Perspektiven

Hier muss ansetzen, wer Erinnerung - verstanden als Metapher für die kritische, handlungsorientierte Auseinandersetzung mit den negativen Horizonten eigener Geschichte - bewahren will. An die Stelle des leerlaufenden Erinnerungsimperativs tritt die Bildung reflektierten Geschichtsbewusstseins als Resultat begreifen wollender Auseinandersetzung sowohl mit Quellen und Überresten, als auch - an sie rückgekoppeltem - Durcharbeiten historischer Erinnerungen. Zukunft gewinnt Erinnerung nicht durch Erinnerungsübertragung, sondern durch ihre Erschließung als historische Quelle und als Lerngegenstand. Reflektiertem Geschichtsbewusstsein wird Erinnerung selbst historisch verstehens- und deutungsbedürftig.

Geschichtsbewusstsein in diesem Sinn begreift die extreme Geschichte des 20. Jahrhunderts als unermessliches Reservoir für eine ebenso plastische wie konkrete Auseinandersetzung mit allen Formen politisch, gesellschaftlich und kulturell verursachter Menschenfeindlichkeit, ihren Keimformen und ihren Folgen. Umgekehrt fragt die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte aber auch - nicht zuletzt mit Blick auf die Zeit ab 1945 - nach aus solchen Erfahrungen gewachsenen Konzepten und Praktiken politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenhandelns, dessen Begründung, Umsetzung und auch Institutionalisierung - etwa in Formen des Rechts oder der historisch-politischen Bildung -, national wie transnational. Ihr Gegenstand ist nicht die Vergangenheit als solche, sondern die daran genährte Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft.

Um diese Zivilgeschichte zu entfalten und mitzugestalten, bedarf es ebenso der Suche nach Zukunft in der Vergangenheit wie der antizipierenden Auseinandersetzung mit technologisch, politisch, soziokulturell oder ökonomisch generierten Gefährdungen menschlicher Zukunft. Ursachenforschung wie die Ermittlung von Alternativen und Gegenkonzepten greift dabei notwendig deutlich über das 20. Jahrhundert hinaus, und zwar sowohl im Sinne einer Archäologie des individuell und überindividuell Inhumanen und seiner Bedingungen wie der Spuren liegengebliebener, uneingelöster, verhinderter oder enteigneter Zivilität in der Geschichte, verstanden etwa als Verbürgung leiblicher Unversehrtheit, eines menschenwürdigen Lebens, der solidarischen Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen

bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 186 oder der Verpflichtung zu gewaltfreier Konfliktaustragung. Einen frühen Bundesgenossen findet solche Auseinandersetzung mit Geschichte in Montaigne, der unter dem Eindruck der verheerenden Religionskriege seiner Zeit den Kern solchen historischen Lernens umrissen hat: "Ich (...) lerne von Gegenbeispielen mehr als von Beispielen, und weniger durch Nachvollziehen als durch Fliehen. (...) Meine Abscheu vor Grausamkeit zieht mich stärker zur Barmherzigkeit hin, als es deren leuchtendste Vorbilder je bewirken könnten. Was sticht, berührt uns tiefer und macht uns wacher, als was uns streichelt. Die jetzige Zeit vermag uns nur durch ihre Abkehr von ihr zu bessern: durch Nichtanpassung mehr als durch Anpassung, durch Widerspruch mehr als durch Zustimmung."(8)

Erschließung und Entwicklung solcher Zivilgeschichte zielen auf die Bildung einer geschichtsbewussten citoyenneté (aktive Bürgerschaft) durch Aneignung und Bearbeitung historischer Erfahrungen und Handlungsfolgen. Insofern unterscheiden sie sich sowohl vom bloßen Einlernen formaler demokratischer Strukturen wie von historisch entkonkretisierten Verpflichtungen auf abstrakte Moral. Vielmehr fußen auch universelle Konsequenzen, etwa die Verpflichtung auf Bürger- und Menschenrechte, im historisch Besonderen, Plastisch-Anschaulichem und transzendieren es gerade dadurch. Von überkommenen, romantischen Vorstellungen einer naturhaft-emanzipatorischen Kraft der Geschichte, insbesondere einer Geschichte "von unten", unterscheidet sich solche Zivilgeschichte insofern, als sie ohne geschichtsteleologische Illusionen auf allen Ebenen des Politischen, Sozialen und Kulturellen nach Ansätzen und uneingelösten Potentialen für Zivilität sucht und kein apriorisches historisches Subjekt postuliert, das allein zu solcher citoyenneté fähig wäre. Die etablierten Formen des Gedächtnisses sind ihr Bezugs- und Orientierungspunkte; aber nicht im Sinne fixierter Traditionen oder ewig gültiger Repräsentationen sondern im Sinne von zeitgebundenen Deckerinnerungen, die auch auf ihre vorbewussten, latenten Gehalte mitbefragt und dadurch gleichsam wieder verflüssigt werden müssten, auch auf lebensweltliche Erfahrungen und Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart hin.

Nimmt man - um einen Gegenstandsbereich zu wählen - mit dem Nationalsozialismus verbundene Kernerfahrungen und Handlungsfolgen ernst, dann zeichnen sich beispielsweise als Arbeitsfelder einer solchen Zivilgeschichte folgende ab: politische und soziokulturelle Formen der Stabilisierung bzw. Destabilisierung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch; die gesellschaftliche Verursachung von Angst, deren Folgen und Überwindung; Würde, Selbstachtung und Partizipation; Strukturen und Dynamik sozialer und kultureller Exklusion und Inklusion; Vertrauen und Gewalt. Im Blick auf den Stalinismus ließe sich unter anderem als Arbeitsfeld der Zusammenhang von diskursiver Konfliktaustragungsunfähigkeit und Gewalt als Medium gesellschaftlicher Entwicklung und Steuerung hinzufügen.

Allerdings fände die Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft ihre Gegenstände nicht nur in den beiden zentralen, weil folgenreichsten Diktaturgeschichten des 20. Jahrhunderts, der deutschen und der sowjetisch-russischen. Die Unrechts- und Gewaltgeschichte geht in diesen nicht auf. Deshalb operiert eine Geschichte der Zivilität mit potentiell offenem, nationalgeschichtlich nicht eingeschränktem Untersuchungshorizont, schlägt aber nicht alles über einen Leisten und bleibt historischer Konkretion und dem jeweils Besonderen, Spezifischen der einzelnen Geschichten verpflichtet. Denn erst die uneingeschränkte, selbstkritische Anerkennung und Auseinandersetzung mit inhumaner Gesittung und menschenfeindlicher Praxis in der eigenen Geschichte nährt Zivilität und demokratische Kultur nachhaltig. Erst sie erlauben die glaubwürdige, anteilnehmende Öffnung auf die Verhältnisse und Erfahrungen Anderer hin.

Die empirisch gehaltvolle Bearbeitung von Themenfeldern wie den oben genannten in Verbindung mit Gegenwarts- und Zukunftsfragen diente nicht nur der Gewinnung von Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenzen, sondern zielte durch sie hindurch auf die Historizität - und damit Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit - eigenen Lebens. Zugespitzt formuliert, gegen verbreitete Gefühle der Nichtigkeit, des Überflüssig- und Abgehängtseins ginge es nicht zuletzt darum, Lebensgeschichten - im Sinne kultureller Vergesellschaftung und Inklusion - die Rückkopplung an Geschichte zu ermöglichen; nicht zuletzt im Sinne nachträglicher Erwirkung von Subjektivität und reflexiver Identität

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(9) als Voraussetzungen solidarischer Bewältigung - bzw. Vermeidung - entgleisender Geschichte im Zeitalter der Globalisierung. Zivilgeschichte der Zukunft in diesem Sinne fände, wie gesagt, essentielle Anstöße in nationaler Geschichte, ginge in dieser aber notwendig nicht auf. Sie hätte nicht nur eine inhaltliche Seite, sondern fundierte sich zugleich in methodischen Kompetenzen des kritisch-rationalen Umgangs mit Überlieferung. Sie überschritte das rein Kognitive durch die Ausbildung überlieferungsverbundener historischer Vorstellungskraft als Voraussetzung konkreter Empathie und uneingeschränkter Mitmenschlichkeit, verstanden als Bewahrung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)

(8) Michel de Montaigne, Essais. Drittes Buch, Frankfurt/M. 1998, S. 462. (9) Im Gegensatz zu zugeschriebener, über traditionale oder anders vorgegebene Identifikationsmuster einbahnstraßenartig gebildete, starre, auf politische Orthopädien gegründete Identität.

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Linkliste Webangebote zum Thema Geschichtslernen

11.4.2011

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24.11.2011

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