Dossier Geschichte Und Erinnerung

Dossier Geschichte Und Erinnerung

Dossier Geschichte und Erinnerung bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 2 Einleitung Debatten wie beispielsweise um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas zeigen, wie gegenwärtig die Vergangenheit ist. Der Umgang mit der deutschen Geschichte wird auch in Zukunft Thema in Politik und Gesellschaft sein, wird Wissenschaft und Unterricht beschäftigen und auch in den Familien immer wieder diskutiert werden – denn Geschichte wird in jeder Generation neu erzählt. Und dies geschieht zunehmend auch als Medienereignis und lockt Millionen vor die Fernseher. Aber können Dokudramen und historische Spielfilme den Geschichtsunterricht ersetzen? Wie verändern die neuen Medien unser Bild von der Vergangenheit? Und wie vermittelt man Geschichte an die kommenden Generationen und an Jugendliche z.B mit polnischen oder türkischen Wurzeln? Das Dossier bietet einen Überblick über die Geschichte der Erinnerungskultur in beiden deutschen Staaten, blickt zurück auf vergangene Kontroversen und sucht nach Antworten, wie die Erinnerung in Zukunft aussehen könnte. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit nationale kollektive Erinnerungen von einem gemeinsamen europäischen oder transnationalen Gedächtnis abgelöst werden können. bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 3 Inhaltsverzeichnis 1. Geschichte - Erinnerung - Politik 5 1.1 Gedächtnis-Formen 6 1.2 Politik mit Geschichte – Geschichtspolitik? 9 1.3 Geschichtsmythen und Nationenbildung 14 1.4 Mythen der Neutralität 18 1.5 Kollektives Gedächtnis 26 1.6 Institutionen und Erinnerungen 29 1.7 Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive 34 1.8 Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung 48 2. Erinnerungskultur 60 2.1 Geschichte der Erinnerungskultur in der DDR und BRD 61 2.2 Erinnerungskultur in der DDR 66 2.3 Keine gemeinsame Erinnerung 70 2.4 Regieren nach Auschwitz 78 2.5 Zur Debatte: Flucht, Vertreibung, Versöhnung 83 2.6 "Unser Papa war in Stalingrad." 86 2.7 "Onkel Hitler und Familie Speer" - die NS-Führung privat 92 2.8 Von Brussig bis Brecht 102 2.9 Kollektive Erinnerung im Wandel 106 2.10 Die Akten schließen? 122 2.11 Die DDR im vereinten Deutschland 126 3. Zukunft der Erinnerung 133 3.1 Holocaust-Erziehung 134 3.2 Holocaust-Erziehung und Zeitzeugen 138 3.3 Erinnern unter Migranten 143 3.4 Erinnerung ohne Zeugen 146 3.5 Medien und Erinnerung 151 3.6 Erinnern in Europa 157 3.7 Erinnern global 160 bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 4 3.8 Virtuelles erinnern 164 3.9 Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis 172 3.10 Zur Zukunft der Erinnerung 180 4. Linkliste Webangebote zum Thema Geschichtslernen 188 5. Redaktion 189 bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 5 Geschichte - Erinnerung - Politik 3.6.2008 Jede Generation erzählt die Vergangenheit neu. Dabei wird unser Geschichtsbild geprägt von Politik und Gesellschaft, von Wissenschaft und Medien. Aber wie entstehen unsere Geschichtsbilder und was beeinflusst unser Geschichtsbewusstsein? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Politik und Geschichte? Und welche Aufgabe hat die Geschichtswissenschaft bei der Konstruktion des Gewesenen? bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 6 Gedächtnis-Formen Von Aleida Assmann 26.8.2008 ist seit 1993 Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu Ihrem Forschungsgebiet gehören u.a die Themen: Deutsche Erinnerungsgeschichte nach dem 2. Weltkrieg, kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung und Gedächtnistheorie. Unser Gedächtnis ist eine gigantische Sammlung von Daten. An manches erinnern wir uns ein Leben lang, anderes vergessen wir wieder. Woran liegt das? Wird unser Gedächtnis in Zeiten der Medienkultur schlechter? Haben wir alle ein Google-Gedächtnis? Verkörpert oder ausgelagert Durch die Möglichkeit, etwas aufschreiben zu können, erweitern Menschen und Kulturen die Reichweite ihres Merkvermögens. Der externe Speicher der Aufzeichnung erweitert und entlastet das Gedächtnis; damit entsteht zugleich eine wachsende Diskrepanz zwischen dem verkörperten Gedächtnis und dem extern Gespeicherten. Bibliotheken und Archive sind gigantische Datenspeicher, an die man sich anschließen und aus denen man schöpfen kann, aber sie garantieren nicht den Fortbestand lebendig verkörperten oder memorierten Wissens, dessen Umfang in einer Schriftkultur und erst recht in einer elektronischen Medienkultur immer geringer wird. Heute verlassen wir uns auf unser Google- Gedächtnis; der schnelle Zugriff auf Wissen ist uns wichtiger als der Besitz von Wissen. Das kulturelle Gedächtnis gliedert sich in zwei Bereiche, die sich wie Vorder- und Hintergrund zueiander verhalten: ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis sammelt und bewahrt Quellen, Objekte und Daten, unabhängig davon, ob sie von der Gegenwart gebraucht werden; wir können hier noch einmal von einem passivem Gedächtnis sprechen. Das Funktionsgedächtnis ist demgegenüber ein aktives Gedächtnis; es enthält die jeweilige kleine Auswahl dessen, was eine Gesellschaft jeweils von der Vergangenheit auswählt und aus dem Bestand ihrer kulturellen Überlieferung aktualisiert. Der Prozess der Auslagerung von Wissen in Schrift ist also keine Einbahnstraße, sondern wird durch Rückkoppelungen an Gedächtnisse und persönliche Wiederaneignungen beantwortet. Diesen verkörperten Schatz kulturellen Wissens nennen wir Bildung. Kanonisierte Klassiker werden auswendig gelernt oder sind zumindest in Zitaten präsent, Museen kanonisieren Bilder und Skulpturen in ihren Dauerausstellungen, Monumente halten die Vergangenheit physisch präsent, Jahrestage holen historische Ereignisse in regelmäßigem Turnus zurück in die Gegenwart. bpb.de Dossier: Geschichte und Erinnerung (Erstellt am 23.09.2021) 7 individuell versus kollektiv Während niemand je angezweifelt hat, dass es ein individuelles Gedächtnis gibt, gibt es viele, die den Begriff 'kollektives Gedächtnis' für eine reine Mystifikation halten. Bereits Maurice Halbwachs, der diesen Begriff in den 1920er Jahren einführte, stieß auf Kritik und Misstrauen. Kritiker, die unter dem Begriff so etwas wie einen kollektiven Volksgeist verstanden, meldeten berechtigte Skepsis an. Die Forschungen von Halbwachs gingen jedoch in eine ganz andere Richtung. Er untersuchte Formen eines sozialen Gruppengedächtnisses, an dem jene partizipieren, die einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund haben wie eine Familie, eine Schulklasse, ein Soldatenregiment oder eine Reisegruppe. Er hat gezeigt, dass Erinnerungen von Haus aus sozial sind und den kommunikativen und emotionalen Kitt einer Gruppe bilden. Seine radikale These war, dass Menschen überhaupt kein im strikten Sinne individuelles Gedächtnis ausbilden, sondern immer schon in Gedächtnisgemeinschaften eingeschlossen sind. Das Gedächtnis bildet sich – ähnlich wie die Sprache – in kommunikativen Prozessen aus, d. h. im Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen in Näheverhältnissen. Wer ganz allein ist, kann nach Halbwachs überhaupt kein Gedächtnis ausbilden. Wer den Begriff 'kollektives Gedächtnis' nicht nur auf sozialen Kleingruppen in face to face Situation, sondern auch auf Großgruppen wie Ethnien, Nationen und Staaten anwendet, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass solche Einheiten kein kollektives Gedächtnis haben, sondern sich eines machen mithilfe unterschiedlicher memorialer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern, Jahrestagen und Kommemorationsriten. Mithilfe gemeinsamer Bezugspunkte in der Vergangenheit und der kulturellen Überlieferung machen sich solche Kollektive zugleich eine Wir-Identität, die nicht Sache der Herkunft und Abstammung ist, sondern der Teilhabe in Form von Lernen, Identifikation und anderen Formen praktizierter Zugehörigkeit. Bis vor kurzem folgten die Regeln der Auswahl von Bezugspunkten der Vergangenheit dem, was Nietzsche als 'monumentalische Geschichtsschreibung' definiert hat; es ging darum, ein heroisches Selbstbild der Gruppe zu konstruieren und es mithilfe von Feindbildern mythisch zu überhöhen. Eine entscheidende Wende vollzog sich in der Vergangenheitspolitik seit den 1990er Jahren, als verschiedene Staaten damit begannen, ihre historische Schuld zu reflektieren und in Formen öffentlicher Bekenntnisse in ihr Selbstbild aufzunehmen. Trauma Trauma bezieht sich auf ein Erlebnis, das so schmerzhaft ist, dass sich die Pforten der Wahrnehmung vor dieser Wucht schließen. Als etwas, das im Rahmen der Identitätskonstruktion einer Person nicht erzählbar und nicht erinnerbar ist, wird es vom Bewusstsein abgespalten und eingekapselt. Was in der Kapsel oder Krypta verschlossen ist, wird nicht etwa vergessen, sondern im Abseits konserviert und macht sich nach einem gewissen zeitlichen Intervall durch eine bestimmte Symptomatik bemerkbar. Die Therapie zielt darauf, das Trauma in bewusste Erinnerung zu transformieren und mit der Identität der Person zu vermitteln. Dadurch kann es zwar nicht geheilt, aber in seiner destruktiven Kraft entschärft werden. Das Spezifische am Trauma sind die Langzeitfolgen bei Opfern von sexuellem Missbrauch oder Folter, weshalb für solche Vergehen die Verjährungsfrist aufgehoben wurde. Beim kollektiven Geschichts- Trauma des Holocaust ist die Nachträglichkeit ebenso evident; es hat bis in die 1980er Jahre gedauert, bis die schmerzhaften und entwürdigenden Erfahrungen der Opfer erzählbar wurden und ihnen Gehör geschenkt wurde. Der Begriff des moralischen Zeugen, der den Toten unter den Opfern eine Stimme gibt, gehört in diesen Zusammenhang.

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