Plenarprotokoll 12/227

Deutscher Bun desta g

Stenographischer Bericht

227. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Inhalt:

Gedenkworte für die in Auschwitz ermor- Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 19614 B deten Sinti und Roma und Begrüßung des Dr. Uwe Küster SPD 19615D Vorsitzenden des Zentralrates der deut- schen Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, Jörg van Essen F D P 19616 D mit einer Delegation 19605 A , Bundesminister Chef BK 19618A Glückwünsche zu den Geburtstagen der CDU/CSU 19620A Abgeordneten Dr. Hermann Schwörer, Erwin Horn, Rudolf Meinl, Karl-Heinz Christel Hanewinckel SPD 19621 C Spilker, Horst Niggemeier und Dr. Alexan- CDU/CSU 19622 D der Warrikoff 19605 D Hans-Peter Kemper SPD 19623 D Ausscheiden der Abgeordneten Christina Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 19625 A Schenk aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19606 A Ortwin Lowack fraktionslos 19625 D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 19626B Erweiterung der Tagesordnung 19606 A Tagesordnungspunkt 1: Absetzung von Punkten von der Tagesord nung 19606 D Fragestunde — Drucksache 12/7527 vom 13. Mai - Nachträgliche Überweisung eines Gesetz- 1994 — entwurfes und Antrages an Ausschüsse . 19606D Briefkopf einer Ansbacher Anwaltskanzlei Zusatztagesordnungspunkt 1: mit dem Namen von Bundesminister Carl Aktuelle Stunde betr. bundesgesetzli- Dieter Spranger che Konsequenzen aus rechtsradikalen MdlAnfr 1 Ausschreitungen in Deutschland am Hans Büttner (Ingolstadt) SPD Beispiel der jüngsten Vorfälle in Mag- deburg Antw StSekr Wighard Härdtl 19627 A Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE ZusFr Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 19627 B GRÜNEN 19607 A ZusFr Hans-Eberhard Urbaniak SPD 19627 C Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 19608 B ZusFr Uwe Lambinus SPD 19627 D Dr. Jürgen Schmude SPD 19609 C ZusFr Manfred Hampel SPD 19627 D Dr. F.D.P. 19610 D Gefährdung der flächendeckenden ärztli- 19611D Dr. PDS/Linke Liste chen Versorgung angesichts des Konkurses Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- fachärztlicher Praxen auf Grund des Ge- desministerin BMJ 19613 B sundheits-Strukturgesetzes II Deutscher — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

MdlAnfr 35 c) Beratung der Beschlußempfehlung und Ortwin Lowack fraktionslos des Berichts des Ausschusses für Bil- dung und Wissenschaft zu dem Antrag Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Pohl BMG 19628 A Evelin Fischer (Gräfenhainichen), wei- ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . 19628B terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sicherung eines auswahlfähigen, Urteil des BVerfG vom 28. April 1994 zum qualifizierten Ausbildungsplatzange- Besitz, Erwerb und der Einfuhr von botes für alle Jugendlichen in den Haschisch in geringen Mengen zum Eigen- neuen Ländern (Drucksachen 12/5495, verbrauch; Fortschreibung des nationalen 12/7086) Rauschgiftbekämpfungsplans d) Beratung der Beschlußempfehlung und MdlAnfr 40, 41 des Berichts des Ausschusses für Bil- Dr. Margret Funke-Schmi tt-Rink F.D.P. dung und Wissenschaft zu dem Antrag Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann- der Abgeordneten Do ris Odendahl, Pohl BMG 19628D, 19629 C Günter Rixe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht über ZusFr Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink die Erfahrungen mit dem Zweiten FDP 19629B, D Gesetz zur Änderung des Berufsbil- ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 19629B, 19630A dungsförderungsgesetzes (Drucksa chen 12/5783, 12/7275) Zusatztagesordnungspunkt 2: e) Beratung der Beschlußempfehlung des Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- desregierung zur Zukunft von EKO- tung durch die Bundesregierung: Über- Stahl und von Eisenhüttenstadt im Rah- planmäßige Ausgabe bei Kapitel 31 04 men eines stahlpolitischen Gesamtkon- Titel 685 03 — Beteiligung des Europäi- zepts schen Sozialfonds am Sonderpro- gramm zur Schaffung zusätzlicher Aus- Manfred Hampel SPD 19630 B bildungsplätze in den neuen Ländern CDU/CSU 19631 A und Berlin (Ost) (Drucksachen 12/6984, 12/7370) Jörg Ganschow F D P 19632 A Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU 19644 C Dr. PDS/Linke Liste 19632D (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Günter Rixe SPD 19645 D GRÜNEN 19634 A Dr. F.D.P. 19647 C Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Doris Odendahl SPD 19648A, 19656B BMWi 19635 A Siegfried Vergin SPD 19648B Manfred Stolpe, Ministerpräsident des L an 19636 C-des Brandenburg Dr. PDS/Linke Liste 19649 C Dr. Hermann Pohler CDU/CSU 19637 B Dr. , Parl. Staatssekretär BMBW 19650B Dr. F.D.P. 19638 A Maria Eichhorn CDU/CSU 19652A Herbert Meißner SPD 19639B- Eckart Kuhlwein SPD 19653 A Erich G. Fritz CDU/CSU 19640A Maria Eichhorn CDU/CSU 19653 B Wolfgang Weiermann SPD 19640 D Dr. Norbert Lammert CDU/CSU 19654 C Dr. Ruprecht Vondran CDU/CSU 19641D Dirk Hansen F.D.P. Dr. Jürgen Warnke CDU/CSU 19643 A 19655B Dirk Hansen F.D.P. 19655 D Tagesordnungspunkt 2: Wolfgang Meckelburg CDU/CSU 19657B a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbe- Tagesordnungspunkt 3: richt 1994 (Drucksache 12/7344) Erste Beratung des von dem Abgeordne- b) Zweite und dritte Beratung des von den ten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der Abgeordneten Eckart Kuhlwein, Do ris PDS/Linke Liste eingebrachten Ent- Odendahl, weiteren Abgeordneten und wurfs eines Gesetzes über den Tag der der Fraktion der SPD eingebrachten Mahnung und Erinnerung an die jüdi- Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur schen Opfer des Massenmordes wäh- Änderung des Hochschulrahmengeset- rend der Nazidiktatur zwischen 1933 zes (Drucksachen 12/2125, 12/7272, und 1945 in Deutschland (Drucksache 12/7273) 12/5781)

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 III

Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 19659C Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Dr. Roswitha Wisniewski CDU/CSU 19661A Jahr 1993 (Drucksache 12/7396) Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 19661 D Dr. Gero Pfennig CDU/CSU 19684 D Siegfried Vergin SPD 19662 B Horst Peter (Kassel) SPD 19686 C Wolfgang Lüder F.D.P. 19663 B Birgit Homburger F.D.P. 19689 A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 19664 A Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19691 A Tagesordnungspunkt 4: Dr. PDS/Linke Liste 19692 C Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. , Konrad Weiß Martin Göttsching CDU/CSU 19693 D (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/ Brigitte Lange SPD 19694 D DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straf- Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. 19696A gesetzbuches — Strafbarkeit der Leug- Franz Romer CDU/CSU 19697 A nung des nationalsozialistischen Völ- kermordes (Drucksache 12/7421) Christel Hanewinckel SPD 19698 B

Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Nächste Sitzung 19699 D GRÜNEN 19665 A Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 19666 A Anlage 1 Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Liste der entschuldigten Abgeordneten 19701* A GRÜNEN 19666 D Dr. Jürgen Schmude SPD 19666 D Anlage 2 Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 19667 A Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Dr. Hans de With SPD 19667 D nungspunkt 6 (Bericht des Petitionsaus- Jörg van Essen F.D.P. 19669A schusses) Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste 19669D Trudi Schmidt (Spiesen) CDU/CSU 19701* C Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 19670 D Anlage 3 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- Verwicklung von in Deutschland lebenden desministerin BMJ 19671 B Serben, Kroaten und Moslems in Kriegsver- brechen in Bosnien-Herzegowina; Finan- Tagesordnungspunkt 5: zierung von Waffenkäufen durch illegale Beratung des Antrags der Abgeordne- Geschäfte ten Klaus Lennartz, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter MdlAnfr 2, 3 — Drs 12/7527 — Dr. CDU/CSU und der Fraktion der SPD: Kinder- gesundheit und Umweltbelastungen SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 19702* C (Drucksache 12/6833) Klaus Lennartz SPD 19672 C Anlage 4 Dr. Harald Kahl CDU/CSU 19674 A Begrenzung der Mieten für Gewerberäume in Altbauten, insbesondere in Berlin Gerhart Rudolf Baum F.D.P. 19675 B MdlAnfr 4, 5 — Drs 12/7527 — Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 19676 D Dr. Elke Leonhard - Schmid SPD Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE SchrAntw PStSekr BMJ 19703* A GRÜNEN 19678A Dorothea Szwed CDU/CSU 19679B Anlage 5 Horst Peter (Kassel) SPD 19681 A Beihilferegelung der niedersächsischen Landesregierung gegenüber Landwirten, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staats- die Schweine im Rahmen der schweine- sekretärin BMG 19682 C pestbedingten Bekämpfungsmaßnahmen abgegeben haben Tagesordnungspunkt 6: Beratung des Berichts des Petitionsaus- MdlAnfr 6, 7 — Drs 12/7527 — schusses Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/ CSU Bitten und Beschwerden an den Deut- schen Bundestag SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BML 19703* D

IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Anlage 6 Anlage 11 Anfangsgehalt von Absolventen/Absolven- Anerkennung von Vordienstzeiten für Be tinnen von ingenieurwissenschaftlichen -schäftigte des Wissenschaftler-Integra- Studiengängen tions-Programms und des Hochschul- Erneuerungs- Programms MdlAnfr 9 — Drs 12/7527 — Horst Kubatschka SPD MdlAnfr 19, 20 — Drs 12/7527 — Holger Bartsch SPD SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA 19704* A SchrAntw PStSekr BMFT 19306* A

Anlage 7 Verhinderung einer erneuten Überschul- Anlage 12 dung der Deutschen Bahn AG; Verringe- „Verschwinden" von Plutonium aus Anla- rung des Wettbewerbsnachteils gegenüber gen dem Straßenverkehr MdlAnfr 21 — Drs 12/7527 —

MdlAnfr 10 — Drs 12/7527 — Dr. Klaus Kübler SPD Benno Zierer CDU/CSU SchrAntw PStSekr Bernd Neumann SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel BMFT 19706* D BMV 19304* C Anlage 13 Gespräche der Bundesregierung mit russi- Anlage 8 schen Stellen über Uranlieferungen für den Einführung von Mautgebühren geplanten Forschungsreaktor München II

MdlAnfr 11 — Drs 12/7527 — MdlAnfr 22, 23 — Drs 12/7527 — Dr. Klaus Kübler SPD Wolf - Michael Catenhusen SPD SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMV 19705* A BMFT 19707* A

Anlage 14 Anlage 9 Unterschiedliche Vergütungen für Ergo- Höhe radioaktiver Freisetzungen bei der therapeuten in den einzelnen Bundeslän- Atomkatastrophe in Tschernobyl dern

MdlAnfr 12 — Drs 12/7527 — MdlAnfr 37 — Drs 12/7527 — Horst Kubatschka SPD Peter Büchner (Speyer) SPD SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU 19705* A SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- mann-Pohl BMG 19707* B

Anlage 10 Anlage 15 Zukunft des Wissenschaftler-Integrations- Verbesserung der Situation der Ergothera- Programms in den neuen Bundesländern peuten

MdlAnfr 17, 18 — Drs 12/7527 — MdlAnfr 38, 39 — Drs 12/7527 — Dr. - Ing. Rainer Jork CDU/CSU Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD SchrAntw PStSekr Bernd Neumann SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- BMFT 19705* B mann-Pohl BMG 19707* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19605

227. Sitzung

Bonn, den 18. Mai 1994

Beginn: 12.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Juden und anderen Menschen ermordet wurden, sind Herren, die Sitzung ist eröffnet. für die Überlebenden bis heute mit qualvollen Erin- Darf ich Sie bitten, sich zur Erklärung zum Geden- nerungen verbunden. ken an die Sinti und Roma von Ihren Plätzen zu Es gibt in Deutschland und in den einst von den erheben. Nationalsozialisten besetzten Ländern Europas keine (Die Abgeordneten erheben sich) Familie der Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren hat. Das Trauma der Verfolgung Wir beginnen die heutige Sitzung mit einem Geden- hat alle geprägt. Die Erinnerung an das Unfaßbare ist ken an die vor 50 Jahren in Auschwitz ermordeten Teil ihres Bewußtseins geworden. Sinti und Roma. Zu diesem Gedenken begrüße ich den Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Sinti und In unserem Land leben heute fast 70 000 deutsche Roma, Herrn Romani Rose, der zusammen mit einer Sinti und Roma. Sie erinnern sich in diesen Tagen Delegation des Zentralrats auf der Tribüne Platz gemeinsam mit uns an Verfolgung, Entrechtung und genommen hat. Ermordung. In der Nähe des Reichstagsgebäudes in Berlin ist eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Vor 50 Jahren, im Mai 1944, gab die SS-Führung des Vernichtung der Sinti und Roma geplant. Unter Mit- Reichssicherheitshauptamts den Befehl zur Liquidie- hilfe von Yad Vashem, des Wiesenthal-Instituts und rung des als „Zigeunerlager" bezeichneten Ab- des Holocaust Memorial Museums in Washington schnitts des Vernichtungslagers Auschwitz. Doch die wird beim Dokumentations- und Kulturzentrum der 6 000 noch lebenden Sinti und Roma ließen sich nicht deutschen Sinti und Roma in Heidelberg zur Zeit die ohne Gegenwehr ermorden. Am 16. Mai 1944 schei- erste umfassende Ausstellung zum Völkermord im terte der erste Versuch, die Gruppe durch Gas zu nationalsozialistisch besetzten Europa vorbereitet. töten, am aktiven Widerstand der sich mit Spaten, Steinen und Stangen wehrenden männlichen Häft- Die Verbrechen an den Sinti und Roma mahnen uns linge. Danach zwang die SS 3 000 Männer und Frauen nachdrücklich, gegen jedes an Minderheiten began- zur Sklavenarbeit, zur „Vernichtung durch Arbeit" gene Unrecht vorzugehen, im eigenen L and, aber — wie damals gesagt wurde — und verlegte sie in auch außerhalb unserer eigenen Grenzen. Gerade andere Konzentrationslager. Die übrigen Häftlinge, angesichts der jüngsten brutalen ausländerfeindli- Kinder, Frauen und Ältere, wurden in der Nacht vom chen Übergriffe in und — in dieser 2. zum 3. August 1944 in den Gaskammern ermor- Nacht — in Hamburg sind alle Demokraten, sind wir det. alle aufgefordert und gefordert, jede Form von Herab- setzung, Ausgrenzung und tätlichem Angriff auf Men- 22 000 Sinti und Roma aus fast allen Teilen Europas schen, gleich welcher Hautfarbe, Nationalität oder waren zwischen 1943 und 1944 nach Auschwitz- Weltanschauung, mit allen Mitteln zu ächten und zu Birkenau verschleppt worden. Tausende fanden dort unterbinden. Jeder und jede in unserem Land, ob den qualvollen Tod in den Gaskammern, bei men- Deutscher oder Nichtdeutscher, hat den ungeteilten schenverachtenden medizinischen Experimenten Anspruch auf Schutz, auf Achtung der Menschen- oder starben an den Folgen der unmenschlichen würde und auf körperliche Unversehrtheit. Lagerbedingungen, an Hunger und Seuchen. Erinnern macht nur Sinn, wenn wir daraus lernen, Dem Völkermord an den Sinti und Roma gingen anders zu handeln, nämlich Unrecht an Menschen ihre planmäßige Diskriminierung und Entrechtung nicht zuzulassen, Hilfe nicht zu verweigern, Men- voraus. Verfolgungsgrund war der Rassenwahn der schenleben gemeinsam zu schützen. nationalsozialistischen Ideologie. Sie haben sich erhoben. Ich danke Ihnen. Wir Wenn wir heute der in Auschwitz umgekommenen nehmen wieder Platz. Sinti und Roma gedenken, so stehen ihre Namen stellvertretend für die insgesamt etwa 500 000 Opfer Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte des an den Sinti und Roma begangenen Völkermor- ich dem Kollegen Dr. Hermann Schwörer, der am des. Die Namen der Orte, in denen sie zusammen mit 1. Mai seinen 72. Geburtstag feierte, dem Kollegen 19606 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Erwin Horn, der am 2. Mai seinen 65. Geburtstag, und 4. Abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu dem Kollegen Rudolf Meinl, der ebenfalls am 2. Mai TOP 26) seinen 60. Geburtstag feierte, aber auch dem Kollegen a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Karl - Heinz Spilker, der am 3. Mai seinen 73. Geburts- zu dem Protokoll vom 25. September 1991 zum Chlorid- tag, dem Kollegen Horst Niggemeier, der am 10. Mai übereinkommen/Rhein (Zusatzprotokoll zum Chlorid- seinen 65. Geburtstag, und dem Kollegen Dr. Alexan- übereinkommen/Rhein) — Drucksachen 12/6971, der Warrikoff, der am 14. Mai seinen 60. Geburtstag 12/7465, 12/... — beging, nachträglich die herzlichsten Glückwünsche b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des des Hauses übermitteln. Innenausschusses (4. Ausschuß) zu dem Entschließungs- antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Sodann teile ich Ihnen mit, daß die Abgeordnete Dr. , und weiterer Abgeord- Christina Schenk nicht mehr der Gruppe BÜND- neter zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang NIS 90/DIE GRÜNEN angehört. Sie wird bis zum Ende Börnsen (Bönstrup), Die trich Austermann, Heinz-Günter Bargfrede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der dieser Wahlperiode dem Deutschen Bundestag als CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carl Ewen, Arne fraktionsloses Mitglied angehören. Börnsen (Ritterhude), , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Lisa Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Peters, Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Günther Bredehorn, verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktli- des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe ste aufgeführt: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Situation der Niederdeut- schen Sprache — Drucksachen 12/6579, 12/5355, 12/6073, 12/7443 — 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 5. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entschädi- Bundesgesetzliche Konsequenzen aus rechtsradikalen Aus- gung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfra- schreitungen in Deutschland am Beispiel der jüngsten Vor- gen und über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignun- fälle in Magdeburg gen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Grundlage (Entschädigungs - und Ausgleichsleistungsgesetz — EALG) — Drucksachen 12/4887, 12/..., 12/... — Haltung der Bundesregierung zur Zukunft von EKO-Stahl und von Eisenhüttenstadt Im Rahmen eines stahlpolitischen 6. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und Gesamtkonzepts F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- lung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz (Bundes- 3. Weitere Überweisungen Im vereinfachten Verfahren (Er- grenzschutzneuregelungsgesetz — B GSNeuRegG) — Druck- gänzung zu TOP 25) sache 12/7562 — a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und 7. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ä nde F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Beschäftigungsförde- rung des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit rungsgesetzes 1994 (BeschfG 1994) — Drucksache 12/7565 — und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 12/7563 — 8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- dem Antrag der Fraktion der SPD: Verbesserung des Ärztli- ten Entwurfs eines Ausländerzentralregistergesetzes chen Dienstes und der Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt (AZR-Gesetz) — Drucksache 12/7520 — für Arbeit — Drucksachen 12/2142, 12/3593 — c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Edith Nie- 9. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und huis, Dr. Sissy Geiger (Darmstadt), Uta Würfel, weiterer F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und des Arbeitsförderungsgesetzes Im Bereich des Baugewerbes F.D.P.: Frauenförderung Innerhalb der Europäischen — Drucksache 12/7564 — Strukturförderung — Drucksache 12/7504 — d) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Hans Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Gottfried Bernrath, , weiterer Abgeordneter Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der und der Fraktion der SPD: Internationale Anstrengungen Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich zur friedlichen Lösung des Kurdenproblems in der Türkei ist, abgewichen werden. — Drucksache 12/7422 — - e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha Die Tagesordnungspunkte 7, Geschwindigkeits- Wisniewski, Wolfgang Zeitlmann, Werner Skowron, wei- beschränkungen in Nationalparks, 18e, Be richt der terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie Bundesregierung für die Belange der Ausländer, 20a des Abgeordneten Wolfgang Lüder, weiterer Abgeordne- und b, versorgungs- und dienstrechtliche Vorschrif- ter und der Fraktion der F.D.P.: Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts in den baltischen Staa- ten, sowie 24, Gesetzentwurf zur Änderung des Wirt- ten — Drucksache 12/7467 — schaftsrechts, werden abgesetzt. Der Tagesordnungs- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, punkt 19, Entwurf eines Kündigungsschutzgesetzes, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weite- wird ohne Debatte überwiesen und Tagesordnungs- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Grenzüber- punkt 21, Umweltinformationsgesetz, ohne Ausspra- schreitende Kulturarbeit im östlichen Europa — Drucksa- che beraten. che 12/6901 — Die Beratungen ohne Aussprache werden am Don- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, , Ing rid Becker-Inglau, weiterer Abgeord- nerstag vor der Befragung der Bundesregierung auf- neter und der Fraktion der SPD: Zukunft der Bundeskul- gerufen. turförderung — Drucksache 12/7047 — Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Aus- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha schußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktli- Wisniewski, , Wilfried Seibel, weiterer ste aufmerksam: Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Gerhart Rudolf Baum, Der in der 225. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. 4. Dr. Burkhard Hirsch, weiterer Abgeordneter und der 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg- Fraktion der F.D.P.: Kulturförderung des Bundes ab 1995 lich dem Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung — Drucksache 12/7231 — überwiesen werden: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19607

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Gesetzentwurf der Abgeordneten Siegf ried Hornung, Dr. Hans lich. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Justiz, die sich, Stercken, Michael von Schmude, weiterer Abgeordneter und der im ganzen genommen, nie tief und ehrlich mit ihren Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Ina Albowitz, Gerhart Rudolf Baum, weiterer Untaten im Dritten Reich befaßt hat, heute rechtsra- Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Gesetz über den dikale Verbrecher mit unglaublicher Milde und Nach- deutschen Auslandsrundfunk sichtigkeit behandelt. — Drucksache 12/7401 — Ebensowenig ist es ein Zufall, daß sich fremden- Der in der 223. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. 4. feindliche Ausschreitungen dort häufen, wo bis vor 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem die Macht hatten. Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen vier Jahren die Realsozialisten werden: Diese feigen, verrohten Schläger in Magdeburg sind Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Die Struktur- auch Kinder der DDR und Ergebnis der sozialistischen krise der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie überwin- Erziehung. Ihre Eltern und Lehrer waren brave SED- den, den Textilstandort Deutschland erhalten — Drucksache Genossen oder untertänige Stasi-Spitzel. Ihre Grund- 12/7242 — erfahrung war der Mauerstaat, der ausgrenzte und Sind Sie mit den Änderungen der Tagesordnung isolierte. Die heute Zwanzigjährigen haben doch und den nachträglichen Ausschußüberweisungen mitbekommen, wie von Staats wegen die Polen und einverstanden? — Das ist der Fall. Dann haben wir es ihre Solidarnosc verunglimpft und die Juden in Israel so beschlossen. mit Haß überschüttet wurden. Weiterhin möchte ich Sie darauf hinweisen, daß für Vieles im wiedervereinigten Deutschland bestärkt heute — abweichend von der Geschäftsordnung — diese entwurzelten und desorientierten Jugendlichen zwei Aktuelle Stunden stattfinden sollen. Sind Sie in ihrem Wahn. Sie führen radikal aus, wozu der Staat auch damit einverstanden? — Das ist der Fall. Darm ist sie mit seinen ausländerfeindlichen Gesetzen ermu- das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. tigt. Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wo ist das Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe denn? Wo haben wir ein ausländerfeindli BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ches Gesetz?) Bundesgesetzliche Konsequenzen aus rechts Die Asyldebatte mit ihren unsäglichen Entgleisun- radikalen Ausschreitungen in Deutschland am gen hatte verheerende Folgen für die Akzeptanz von Beispiel der jüngsten Vorfälle in Magdeburg Ausländerinnen und Ausländern. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konrad Weiß. sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Genau umgekehrt ist Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): es!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder Die Energie, Einsatzfreudigkeit und Phantasie, mit einmal muß sich der Deutsche Bundestag mit rechts- der deutsche Politiker, Richter, Grenzschützer und befassen. Wieder einmal radikalen Ausschreitungen Polizisten gegen Flüchtlinge vorgehen, bleibt doch rn und Scham, suchen nach Ursachen bekunden wir Zo auch bei den Rechtsradikalen nicht unbemerkt. Und für diese Welle der Gewalt, fordern strengere Gesetze wenn Herr Herzog, der Präsidentschaftskandidat der und bessere Handhabe für Polizei und Justiz. CDU, die Ausländer, die nicht eingedeutscht werden Wieder einmal sind wir hilflos, entsetzlich hilflos. wollen, aus dem Land verbannen will, dann fordert er Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln, Lübeck, doch geradezu zur Menschenjagd auf! Magdeburg — was dort und an hundert anderen Orten in Deutschland geschah und geschieht, dafür tragen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie haben wir alle, dafür trage auch ich Verantwortung. wohl den Verstand verloren?! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Es ist zu bequem, die Ursachen allein in der Gewalt- - bereitschaft und rassistischen Verblendung der radika- Dann macht seine Empörung hinterher auch nichts len Jugendlichen zu sehen. Es ist zu bequem, die gut. Verantwortung nur bei den Polizisten und Staatsanwäl- Zu dem, was die Gewalt unmittelbar fördern, ja, ten und den Politikern vor Ort zu suchen. geradezu provozieren muß, gehören diese unerträgli- Richtig ist, daß wir alle verantwortlich sind für das che Nachlässigkeit und Tatenlosigkeit von Polizei Klima, das im Lande herrscht, für die latente Gewalt- und Justiz, die sich manchmal kaum noch von offener bereitschaft, für den Haß, für die Isolation und Aus- Sympathie für Rechtsradikale unterscheiden. Wie grenzung. Diese Rechtsradikalen sind unsere Kinder, sonst ist zu erklären, daß in Magdeburg die klaren und sie sind geworden, was sie sind, weil wir ihnen Warnungen des Verfassungsschutzes in den Wind keine Ideale und keine Zukunft gegeben haben. geschlagen wurden! Entweder ist Herr Remmers Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der unendlich naiv oder durch sein Doppelministerium in Gewalt. Diese Gewalt, ob direkt verübt oder struktu- einer nicht mehr zu verantwortenden Weise überla- rell vorhanden, ist allgegenwärtig, ohne daß wir uns stet. ernsthaft urn die einzige Alternative, die Gewaltlosig- Unerträglich war auch das Verhalten des Magde- keit, bemühen würden. Wir müssen die Gewalt ein- burger Polizeipräsidenten Stockmann. Sein Kom- grenzen, statt die Gewalttäter auszugrenzen. mentar, die Hetzjagd auf Ausländer habe mehr mit Die neue Gewalt muß in engem Zusammenhang mit Alkohol und Sonnenschein denn mit Ausländerfeind- den Gewaltregimen in Deutschland gesehen werden. lichkeit zu tun, war eine schlimme Entgleisung und Die Auseinandersetzung mit unserer totalitären Ver- Verhöhnung der Opfer. Offenbar kennt dieser Polizei- gangenheit war und ist zu nachlässig und oberfläch- präsident nicht einmal das Strafgesetzbuch. Wie sonst 19608 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Konrad Weiß (Berlin) ist zu erklären, daß er und seine Polizisten beim ten über mehrere Stunden farbige Ausländer wie Vieh Zeigen und Grölen des Hitlergrußes, mit dem die durch Magdeburg get rieben und — obendrein — rechtsradikalen Verbrecher durch Magdeburg zogen, Bürger und Polizei hätten das geschehen lassen, ohne nicht eingegriffen haben! Die Frage drängt sich auf, etwas zu unternehmen. Das stimmt nicht. ob der verzögerte und dilettantische Polizeieinsatz Richtig ist, daß betrunkene, brutale und gewalttä- vielleicht beabsichtigt war. tige Hooligans, die zunächst in einer Straßenbahn (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Schwach- randaliert hatten, beim Aussteigen zufällig auf eine sinn!) Gruppe von Schwarzafrikanern stießen und spontan Haben diese ehemaligen Volkspolizisten überhaupt auf diese losgingen. Die Ausländergruppe flüchtete in schon begriffen, daß sie Staatsbürger in Uniform, nicht ein nahegelegenes Lokal. Die Hooligans folgten ihr aber mehr Büttel eines Willkürregimes sind und daß dorthin und richteten schwere Verwüstungen an. Der jeder einzelne Verantwortung für den Schutz der Vorgang dauerte, nach den Informationen der Polizei, Demokratie in unserem Land trägt? 25 Minuten. Völlig unverständlich ist auch die unverzügliche In der Folge kam es dann — immer wieder aufflak- Freilassung selbst der gefährlichsten Gewalttäter. kernd — gleichsam eruptiv an verschiedensten Stel- Auch dies betrachte ich als eine unmittelbare und len der Stadt zu meist spontanen Auseinandersetzun- gewollte Begünstigung der rechtsradikalen Schläger. gen und vandalistischen Aktionen, woran sich unter- Wie sollen Bürgerinnen und Bürger denn noch Ver- schiedliche deutsche und ausländische Gruppen trauen in unseren Rechtsstaat haben, wenn sie immer beteiligten. Der Polizei bot sich ein verwirrendes Bild, und immer wieder erleben müssen, daß eben verhaf- ein Durcheinander der verschiedensten Gruppen. Es tete, blutrünstige Schläger umgehend wieder auf war den Beamten weitgehend unmöglich, exakt fest- freien Fuß gesetzt werden, daß sie die Polizeiwache zustellen, wer Täter und wer Opfer war. Ablauf und höhnisch und triumphierend verlassen, um bei näch- Entwicklung der Ereignisse waren kaum zu kalkulie- ster Gelegenheit neue rechtsradikale Gewalttaten ren. und Verbrechen zu begehen? (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Schließlich empört mich, meine Damen und Herren, NIS 90/DIE GRÜNEN) daß die angegriffenen Ausländer und diejenigen, die sie gegen die braunen Schläger verteidigt haben, von — Sie sollten sich den Polizeibericht, der ja veröffent- der Polizei nicht nur nicht geschützt, sondern offenbar licht worden ist, zumindest einmal ansehen, bevor Sie noch behindert und drangsaliert wurden. Ich finde, sich so äußern. diese mutigen Türken sollten vom Bundespräsidenten in angemessener Weise ausgezeichnet werden, statt Zweites Beispiel: Bei jedem Polizeieinsatz werden daß sie von der Staatsanwaltschaft gesucht werden. unvermeidbar Fehler gemacht, ganz besonders, wenn Polizeikräfte noch im Aufbau sind. Es fehlte — das ist (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES vorzuwerfen — ein Observationstrupp; die Staatsan- 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ulrich waltschaft war nicht unterrichtet. Eine Berichterstat- Briefs [fraktionslos] — Erwin Marschewski tung aber, die den Eindruck erweckt, die Polizei sei [CDU/CSU]: Sie haben Herrn Herzog doch überhaupt nur unzureichend auf dem Plan erschienen gerade kritisiert!) und habe zudem eher teilnahmslos dabeigestanden, Ich denke, meine Damen und Herren, der Deutsche ist einfach falsch. Bundestag sollte sich bei den Menschen, die in unse- Schon kurz nach Beginn waren die ersten Polizisten rem Land Todesangst erlitten haben, bei den Afrika- nern, die in Magdeburg gejagt wurden, im Namen am Ort des Geschehens und griffen entschieden ein. Die Polizei hat insgesamt, nach und nach, rund aller Deutschen entschuldigen. 100 Beamte dorthin entsandt. Ganz falsch ist also die Ich danke Ihnen. - Behauptung, die Polizei habe der Gewalt und den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krawallen teilnahmslos zugesehen. Daß die Polizei sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke energisch einschritt, zeigt auch die Tatsache der Liste) Festnahme von 46 Personen aus den verschiedensten Gruppierungen: 32 Deutsche und 14 Ausländer. Da ein Observationstrupp fehlte — das habe ich kriti- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat siert —, war es leider unmöglich, konkrete Straftaten Dr. Rolf Olderog das Wort. bestimmten Tätern zuzuordnen. Sie konnten somit nicht in Haft verbleiben. Auch nach Polizeirecht war es nicht zulässig, die Randalierer weiter festzuhalten. (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Dr. Rolf Olderog Nachdem sich die Szene beruhigt hatte, bestand keine Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was an Wiederholungsgefahr. vandalistischer Gewalt und Brutalität am Himmel- fahrtstag in Magdeburg geschah, erfüllt uns mit tiefer (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Sorge. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verurteilt GRÜNEN]: Das ist eine unglaubliche Dumm diese erschreckenden Vorgänge entschieden. Die heit und Naivität!) Ereignisse sind schlimm; gleichwohl muß aber festge- stellt werden, daß die Berichterstattung der Medien Das zeigt auch die tatsächliche Entwicklung. vielfach falsch und übertrieben war. Drittes Beispiel — Herr Weiß, auch Sie haben das Erstes Beispiel: Die Fernsehsendungen vermittel- falsch dargestellt —: Da wird ein weiterer Vorgang ten den Eindruck, ausländerfeindliche Hooligans hät- verfälscht. Angeblich soll der Verfassungsschutz am Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19609

Dr. Rolf Olderog Vorabend der Polizei einen Hinweis auf die bevorste- schiedlichsten Bildungseinrichtungen, von den El- henden Krawalle gegeben haben. ternhäusern bis zu den Schulen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das können Sie im Was die Ursachen angeht, möchte ich vor allem ein Polizeibericht nachlesen!) Thema besonders ansprechen: Was bestimmte Fern- sehsendungen an Gewalt und Brutalität, an negativen — Sie sollten sich ihn einmal genau angucken. — Der Leitbildern und falschen Botschaften, an grober Ver- Verfassungsschutz erwartete Auseinandersetzungen fälschung der Wirklichkeit und insbesondere des zwischen linken und rechten Gruppen an einem Rechtsstaates Tag für Tag auf junge, unerfahrene bestimmten Ort. Menschen niederlassen, führt unvermeidbar zu sol- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Genauso chen bestürzenden und beschämenden Vorgängen war es!) wie in Magdeburg. Die Polizei hat sich darauf eingestellt, hat Streife (Zuruf von der SPD: Wer hat denn das Privat gefahren, war darauf vorbereitet, aber nichts derglei- fernsehen gefordert?) chen ist geschehen. Einen Hinweis auf das, was Dies einfach so weiter laufen zu lassen, halte ich für tatsächlich an anderer Stelle erfolgte, gab es über- unverantwortlich. haupt nicht. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, ich sage ja nur: Das (Beifall bei der CDU/CSU — Günter Graf Geschehene ist doch ernst genug. Es bedarf weder [SPD]: Das ist das Ergebnis der geistig einer journalistischen noch einer politischen Dramati- moralischen Wende! — Weitere Zurufe von sierung. der SPD) (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Aber Sie dürfen es nicht herunterspielen!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht — Ich spiele das nicht herunter, sondern ich versuche, jetzt Dr. Jürgen Schmude. dem Sachverhalt einigermaßen objektiv gerecht zu werden. Dr. Jürgen Schmude (SPD): Frau Präsidentin! Sehr Dieser Vorgang zeigt uns erneut, welch ein hohes geehrte Damen und Herren! Ich würde die Problema- bei vielen jungen Men- Maß an Gewaltbereitschaft tik gerne etwas grundsätzlicher betrachten, als Herr schen vorhanden ist. Olderog das getan hat, und werde dabei ganz von (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE selbst auf einen besonders fatalen Fehlschluß, den er GRÜNEN]: Nehmen Sie doch endlich die uns vorgetragen hat, zu sprechen kommen. Gefahr ernst! Sie bedroht Sie doch auch!) Heute nacht ist ausländischen Menschen in Ham- Schon ein Funke kann eruptive oder gar explosive burg das Haus über dem Kopf angezündet worden. Sie Vorgänge auslösen. Besonders gefährlich wird dies, konnten fliehen, sie konnten sich retten. Aber ich wenn sie sich mit einem Potential an dumpfer Frem- frage uns alle: Kommt uns die Meldung bekannt vor? denfeindlichkeit verbindet. Aber ich halte Ihre Ver- — So oder so ähnlich hören wir es doch seit Jahren mutung, daß das damit zusammenhängt, daß wir das fortlaufend. Erinnern wir uns an die Vielzahl dieser Asylrecht neu geregelt haben, für falsch. Eher umge- Meldungen, die inzwischen zusammengekommen kehrt würde ich die Situation beurteilen. sind? Erinnern wir uns eigentlich noch daran, was in Bielefeld erst vor vier Wochen los war? Erinnern wir (Beifall bei der CDU/CSU) uns, um es positiv zu wenden, eigentlich an einen Meine Damen und Herren, es gibt Grenzen dessen, etwas längeren Zeitraum in den letzten Jahren, wo es was ein Volk an sozialer Integration leisten kann. solche Meldungen nicht gegeben hat? Diese Grenzen waren und sind bei uns überschrit-- Ich fürchte, mehr und mehr nehmen wir es hin, mit ten. solchen Ereignissen zu leben, und sind dann allenfalls (Wolfgang Lüder [F.D.P.]: Nein, noch längst erleichtert, wenn es keine Opfer gegeben hat. Mehr nicht! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Unglaub- und mehr sind wir in der Gefahr der Abstumpfung, lich! — Weitere Zurufe von der SPD) und das sage ich aus meinem ganz eigenen Empfin- den. Auch ich selbst sehe mich in der Gefahr der Deswegen ist es richtig, daß wir den Weg des neuen Abstumpfung. Asylrechts einvernehmlich gegangen sind. Darum glaube ich, daß die Neuregelung des Asylrechts eher Wir schrecken auf, wenn Morde und schwere Ver- zu einer Entschärfung, einer Entspannung der Situa- letzungen geschehen. Wir schrecken mit Recht auf, tion beitragen wird. wenn — wie in Magdeburg vor einigen Tagen — Jagd auf ausländische Menschen mitten in unseren Straßen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Inschutznahme ist gemacht wird, Jagd in lebensgefährlicher Weise. das! Dieser Rede stimme ich nicht zu! — Aber die hektischen Reaktionen, die dann aufkom- Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE men, halten bei uns nicht lange genug an. Wir müssen GRÜNEN]: Merken Sie gar nicht, was Sie da das länger nacharbeiten. Die Hektik der ersten Tage anrichten?!) genügt nicht. Natürlich müssen die Versäumnisse vor Das schließt aber nicht aus, daß es eine Reihe von Ort geklärt werden, schon um der Vorbeugung für die weiteren Ursachen und Gründen für diese Entwick- Zukunft willen. Aber immer wieder das gleiche lung gibt. In Vorgängen wie denen in Magdeburg Rezept herauszuziehen, nämlich Gesetze zu ändern offenbart sich ein bedrückendes Defizit der unter- und zu verschärfen, ist nicht nur im Verfahren proble- 19610 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Jürgen Schmude matisch und falsch, sondern auch in der Sache nutzlos. die Sie aus der Regierungskoalition uns doch zugesagt Denn nicht um die Schärfe der Gesetze geht es hier, hatten, kurzerhand aufzuschieben. sondern um die Ergreifung der Täter und um die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beweisführung, die in Magdeburg nicht zu gelingen der F.D.P. und der Abg. Dr. Ilja Seifert scheint. [PDS/Linke Liste] und Dr. Wolfgang Ullmann (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste] und Ein falsches Signal ist es, das Kommunalwahlrecht für Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE Ausländer abzulehnen und regelrecht niederzu- GRÜNEN]) kämpfen, wie Sie es immer wieder tun. Alles, was wir da zur Kenntnis nehmen müssen, sind (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Richtig!) Bestandteile einer inzwischen schon dauerhaften Ent- Es ist ein falsches Signal, bessere Aufenthaltsrechte wicklung zum Schlechten hin. Ausländerfeindliche für von Deutschen geschiedene Ausländer abzuleh- Brutalität und Gewalttätigkeiten drohen zur Norma- nen. lität zu werden. Unser Land beginnt, sich zu verän- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem dern, ohne daß wir es aufhalten. Deutschl and ist nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausländerfeindlich. Diese Aussage unterstreiche auch ich. Und doch: Sie bekommt mehr und mehr den Es hilft uns wenig, wenn Frau Merkel heute erklärt, Beigeschmack des Pfeifens im Walde. auch sie sei dafür, das zu tun; denn sie muß gleichzei- tig zugeben: Sie hat die Mehrheit in ihrer Fraktion Die Verderbnis bedroht alle hier lebenden Men- gegen sich. schen, nehmen wir doch zur Kenntnis: In Magdeburg (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Denken ist im Zuge der Krawalle ein Behinderter von jungen Sie, damit hätten Sie Magdeburg verhindert, Leuten aus einer Straßenbahn geworfen worden, die Herr Schmude?) dann anschließend noch auf ihn eingetreten haben. Ein falsches Signal und eine verheerende Sache ist es, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: So ist wenn die Aufnahme von Menschen aus Ruanda, die es!) doch von der Abschlachtung bedroht sind, in Deutsch- land abgelehnt wird. Sie haben keine Chance, ein Gelingt es uns nicht, den Anfängen zu wehren, Visum zu bekommen. werden wir unser L and nicht wiedererkennen. Hat die innere Zerstörung erst Breitenwirkung gewonnen, ist Statt dessen gibt es eine aufgeregte Diskussion über es zu spät. Wenn ich sage, „den Anfängen wehren", das Kirchenasyl. Sie wird sehr grundsätzlich und dann meine ich, der Abstumpfung zu wehren. Wir juristisch geführt. Auch ich habe mich in diesem Sinne dürfen diese Einzelfälle nicht auf sich beruhen lassen. daran beteiligt. Aber wir dürfen doch das Entschei- Sie müssen mit größerer Energie nachgearbeitet, dende nicht übersehen: daß sich christliche Bürgerin- aufgeklärt werden. nen und Bürger bedrängter und bedrohter Menschen in ihrer Not und Verzweiflung annehmen, sie Dann meine ich die Kälte, die abweisende Haltung, betreuen und für sie öffentlich eintreten. Das bedeutet die Ausländern in unserem Land im Alltag, in den natürlich Konflikt; aber es schließt auch Hoffnung Ämtern und auch in den privaten Beziehungen ein. begegnet, bis dahin — wie mir eine Besuchergruppe (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und von Schauspielern und Ballettänzern aus dem Ruhr- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gebiet gestern berichtete —, daß sie etwa bei 80 % der deutschen Vermieter auf die Frage nach einer Woh- Deutschland hat nämlich keinen Überschuß an nung die Antwort hören: An Ausländer vermieten wir menschlicher Zuwendung zu Ausländern und Asylsu- nicht. chenden. Deutschland hat einen Überschuß an Kälte und an Härte gegen diese Menschen. Wir müssen den Anfängen wehren, indem wir das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Thema Überfremdungsangst bitte nicht zum Wahl- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der kampfthema machen und, Herr Olderog, hier bitte F.D.P. und der PDS/Linke Liste) nicht behaupten, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht. Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist das Klima für Ausschreitungen, wie wir sie jetzt wieder (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ beklagen. Das müssen wir ändern. Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und riefs [frak- NEN sowie des Abg. Dr. Ulrich B dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei tionslos]) Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Wir haben uns bemüht, diese Grenzen nicht zu Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]) erreichen. Dieses wohlhabende und starke, auch innerlich gefestigte Land darf sich nicht nachsagen lassen, daß durch die im ganzen gesehen kleine Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Gruppe von Ausländern die Grenzen der Belastbar- unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch. keit erreicht oder gar überschritten seien. Das ist das falsche Signal. Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! Ein falsches Signal ist es, Regelungen für die Meine Damen und Herren! Es gab Warnungen. Es erleichterte Staatsbürgerschaft und Einbürgerung, waren nicht Krawalle aus besoffenem Kopf heraus, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19611

Dr. Burkhard Hirsch sondern es gab Warnungen vom Vortage, es war chen Zustimmung vieler Stammtischtäter rechnen, geplant, etwas zu tun — etwas. Die Polizei — Herr wenn wir alles ineinanderrühren: „diese Drogen- Olderog, insoweit haben Sie recht — ist zum Alten händler" , Türken, Kriminelle, „durchraßte, multikri- Markt gefahren, die Krawalle begannen am Breiten minelle Leute ", „Ausländer raus", „Deutschland den Weg. Wenn Sie Magdeburg kennen: So weit ist das Deutschen" oder die moderne Spielart „Wer nicht nicht voneinander weg. Deutscher werden will, muß uns verlassen". Begangen am frühen Nachmittag: eine Hetzjagd Es zieht sich eine Blutspur durch unser Land: durch 50 bis 60 Jugendliche, die sich ausdehnte auf bis Hünxe, Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, zu 150 Teilnehmer. Die Polizei war etwa nach 30 Mi- Lübeck, Magdeburg, Hamburg — eine Blut - und nuten am Ort und bereit einzugreifen. Die Polizei in Brandspur. Wenn der Eindruck entsteht, daß der Staat Magdeburg verfügt über einen Dokumentations- und unsere Gesellschaft mit zweierlei Maß messen, trupp; er war nicht einsatzbereit — es war Vatertag. dann ist es ebenso schlimm, als ob es so wäre. Es hat 49 Festnahmen gegeben. Es wurde kein Was mir Sorgen macht und uns Sorgen macht, ist die Haftbefehl beantragt, die Staatsanwaltschaft nicht Differenz zwischen dem, was wir hier erklären und mal informiert. Die Polizei hat keinen Haftbefehl beschwören, und der Unverbrüchlichkeit dessen, was beantragt, weil sie nicht wußte, ob diejenigen, die sie wir sagen, unserer Rechtsordnung, unserer Werte in aufgegriffen hatte, an den Krawallen beteiligt waren der Wirklichkeit. Da tut sich ein Spalt auf. und, wenn ja, ob sie als Täter oder als Opfer beteiligt Wenn wir sagen, ohne Ächtung durch alle Teile waren. Das Ganze nicht in Kleinkleckersdorf, sondern unserer Gesellschaft, ohne Ächtung solcher primitiver in der Hauptstadt eines Bundeslandes. Ausländerfeindlichkeit werden auch die Polizeien Der Polizeipräsident Antonius Stockmann stellt sich keine Erfolge haben, dann bezieht sich das nicht nur ins Fernsehen und sagt: „Alles in Ordnung. " Es ist auf die Politik und die Politiker, sondern auch auf das, schwer, das nicht als eine Satire zu be trachten. Es ist was wir vermitteln. kabarettreif, wenn es nicht so traurig wäre. Herr Schmude hat auf die Diskussion über das Kirchenasyl hingewiesen. Was für ein Vorgang, daß (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ plötzlich Kirchen und Menschen das Gefühl haben, Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- daß der Staat mit dem, was er tut, seine humanitären NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ Verpflichtungen in einem solchen Maße verletzt, daß CSU) der Bürger zur Selbsthilfe greifen sollte! Das hat es Es ist keine Frage der Gesetzgebung. Der Landfrie- bisher in der Bundesrepublik nicht gegeben. Es sollte densbruch ist in Deutschland seit gut 500 Jahren uns nachdenklich machen, ob auch wir mit dem, was strafbar. Man kann auch in Deutschland bei Verdunk- wir tun und sagen, unsere Pflicht erfüllen. lungsgefahr Haftbefehle erwirken, wenn man nur Ohne unser aller Mitwirkung wird die Erörterung weiß, ob man einen Täter oder ein Opfer vor sich hat. der Polizeitaktik keinen Erfolg haben. Aber ich habe Das muß man natürlich wissen. den Eindruck, daß wir in der Analyse dessen, was wir Ich habe den Eindruck, daß es nicht eine Frage der tun müssen, auch in diesem Haus noch sehr viel zu tun Gesetzgebung ist, sondern zunächst einmal eine haben, Herr Kollege Olderog. Frage der Funktionsfähigkeit der dortigen Polizei; (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ nicht des einzelnen Polizeibeamten, sondern: Was ist Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ mit der Einsatzplanung, mit der Personalführung, mit NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ der präsenten Stärke? Was ist mit dem Selbstvertrauen CSU) der Polizei? Was ist mit ihrer Übung und Schulung? Ich sage noch einmal: Ich meine nicht den einzelnen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Polizeibeamten oder die Polizeibeamtin, die dort ein-- Dr. Gregor Gysi. gesetzt worden ist, sondern ich frage: Was hat eigent- lich das leitende Personal dieser Stadt getan? Ich frage mich, ob der Innenminister nicht prüfen muß, ob Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! dieser Polizeipräsident seiner Aufgabe gewachsen ist, Meine Damen und Herren! Die Situation in Magde- weil sonst der Landtag prüfen wird, ob der Innenmi- burg, wie wir sie erleben mußten, ist einerseits eine nister seiner Aufgabe gewachsen ist. Fortsetzung dessen, was wir nun schon seit geraumer Zeit erleben. Dennoch hat das auch neue Qualität (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ — natürlich negative —, und zwar in dem Sinne, daß Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesmal nicht bei Nacht, nicht heimlich und ohne daß NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ sich die Täterinnen und Täter — meistens ja Täter — CSU) hinterher versteckten, sondern ganz offen in den Wir haben im Fernsehen die Bilder grölender, Straßen einer Stadt Ausländerinnen und Ausländer, pöbelnder Leute mit Hitler-Gruß gesehen. Ich frage vor allem solche mit anderer Hautfarbe, verfolgt und mich wie Herr Schmude: Wie viele Magdeburger geschlagen und ge treten wurden, daß ein Behinderter haben weggesehen? Ich erinnere mich noch daran, aus der Straßenbahn gestoßen und danach ge treten daß wir einmal ein Volk von Wegsehern waren. Wir wurde und daß das alles unter den Augen der Öffent- waren ein Volk von Wegsehern. Hinterher wollte lichkeit und letztlich auch der Polizei geschah. Das keiner etwas bemerkt haben. setzt, glaube ich, neue Signale. Das, was wir in Magdeburg gesehen haben, ist doch Ich denke, wir kommen nicht umhin, Konsequenzen nur möglich, wenn die Täter mit der klammheimli- zu ziehen. Im Unterschied zu BÜNDNIS 90 würde ich 19612 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Gregor Gysi dabei z. B. nicht vom Versagen sprechen. Es geht ja Das Schlimmste ist folgendes. Es gibt bestimmte viel weiter. Müssen wir nicht doch einmal ehrlich Sätze, die ich nicht mehr hören kann. Dazu gehört zugeben, daß Teile der Polizei — ich sage extra: Teile; danach als erstes die Erklärung der Betroffenheit und ich differenziere hier sehr wohl — inzwischen auch als zweites die Sorge um das Ansehen Deutschlands. rassistisch eingestellt sind und ausländerfeindliche Nein, ich sage Ihnen: Mich treibt nicht das Ansehen Einstellungen haben? Deutschlands, sondern mich treibt, daß diese rechts- extremistischen Gewalttaten endlich gestoppt und (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Das müssen konsequent verfolgt werden müssen. Dazu brauchen Sie beweisen!) wir keine Änderung der Strafgesetze und der Straf- prozeßordnung. Ist es denn ein Zufall, daß z. B. dort ein Ausländer unter den Augen der Polizei festgehalten wurde und (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei danach noch getreten werden konnte? Kann die Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS Inkonsequenz im Eingreifen gerade bei solchen Straf- SES 90/DIE GRÜNEN) taten — ich erinnere Sie an Rostock, als die Polizei daneben stand, als das Haus angezündet wurde —, Wir müssen sie nur endlich mal konsequent anwen- kann das alles ohne Folgen bleiben? den, gerade auch in diesem Täterbereich.

Sollten wir nicht über die Art des Dienstes, auch die Und die Täter müssen geächtet werden. Sie müssen Art der Erziehung, die in der Polizei stattfindet, einmal endlich das Gefühl bekommen, daß sie isoliert sind in nachdenken? Denken Sie einmal an die Konsequenz, dieser Gesellschaft, nicht die Ausländerinnen und mit der die Polizei gegen Autonome und andere Ausländer. Das wäre das Entscheidende, und dann vorgeht. Wenn sie gegen sie vorgegangen ist, hat sie würden auch ihre Taten zurückgehen. Denn eine noch nie irgendwelche inneren Beschränkungen solche Einstellung gab es auch schon in früheren gefühlt oder gehabt. Jahren. Aber sie haben sich in früheren Jahren nicht Ich sage Ihnen, Herr Olderog: Was Sie hier geboten getraut, so zu handeln, weil sie glaubten, gesellschaft- haben, ist deshalb so gefährlich, weil Sie ganz indirekt lich geächtet zu werden. Heute glauben sie, nicht wieder die Theorie des Wirtsvolkes aufstellen, das nur mehr gesellschaftlich geächtet zu sein. Das ist das ganz begrenzt in der Lage ist, andere Menschen zu eigentliche Problem, mit dem wir es zu tun haben und integrieren. Schon diesen Ansatz im Denken in einer an dem wir etwas ändern müssen, weshalb Synago- Welt, die immer internationaler und einheitlicher wird gen brennen, weshalb die Wohnungen von Auslände- — Sie wollen die Europäische Union, Sie wollen eine rinnen und Ausländern brennen, weshalb Schwarz- Gesamtverantwortung der UNO —, halte ich für afrikaner verfolgt werden. geradezu verheerend. Ich sage Ihnen noch ein Beispiel. Wenn jemand Und ich sage: Es ging doch nicht nur um die einen Schwarzafrikaner aus einer fahrenden Straßen- Asylrechtsänderung, sondern die Debatte dazu war bahn stößt, dieser dabei zu Tode kommt und derje- doch das Schlimmste. Erinnern Sie sich doch mal an nige, der das gemacht hat, anschließend zu einer die Vokabeln, die in diesem Zusammenhang gefallen Strafe auf Bewährung verurteilt wird, ist das eine sind: „Asylant". Das klang mal in der deutschen Einladung zur Fortsetzung solcher Taten. Der Täter Sprache, als würde damit jemand bezeichnet, der in geht nämlich aus dem Gerichtssaal und feiert mit Not ist und Hilfe braucht. Sie haben dafür gesorgt, daß seinen Gesinnungsfreunden den halben Freispruch, das heute klingt, als würde es einen Kriminellen den er dafür bekommen hat. bezeichnen, der rausgeworfen werden muß. Das ist das Ergebnis des Umgangs mit Sprache. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie Abge ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ So etwas hat Folgen in einer Gesellschaft, bis dahin,- DIE GRÜNEN) daß eben dann die Hemmschwelle für Gewalttäter wesentlich herabgesetzt ist, weil sie sich im Grunde Ich frage Sie genauso offen: Was wäre passiert, genommen von einer stillschweigenden Zustimmung wenn ein Schwarzafrikaner einen Deutschen aus von einem Teil der Behörden und von einem größer einer fahrenden Straßenbahn gestoßen hätte und werdenden Teil der Bevölkerung leiten lassen oder dieser dabei zu Tode gekommen wäre? Er wäre ganz darauf hoffen und deshalb auch glauben, daß ihnen anders bestraft worden; wie ich meine, zu Recht. Aber wenig passiert. es muß eben auch im umgekehrten Fall gelten, daß wir solche Taten verfolgen. Das ist doch bedingter Vor- Ich nenne als ein Beispiel die Festnahme. Da wird satz. Wer jemanden aus einer fahrenden Straßenbahn gesagt: Ja, wir hatten zwar 49 — glaube ich, waren es; stößt, weiß, daß dieser dabei zu Tode kommen kann. oder 47 — festgenommen. Aber da waren erstens viele Das ist Mord und nichts anderes. Opfer dabei, und bei den Tätern wußten wir nicht, ob sie wirklich Täter waren; deshalb mußten wir sie alle (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Das bestrei wieder gehen lassen. Aber auch eine Festnahme darf tet doch niemand! — Erwin Marschewski doch nicht einfach erfolgen, weil jemand die Straße [CDU/CSU]: Was haben Sie dagegen ge entlanggeht. Es muß doch auch für die Festnahme macht?) Gründe gegeben haben. Sie würde ich gerne erfah- ren, wenn man hinterher sagt: M an weiß gar nicht, — Ja, aber er hat Bewährung bekommen. Und was wen man eigentlich festgenommen hatte. Das hat ja haben Sie dagegen unternommen? Wo ist denn der wohl auch etwas mit Gesetzlichkeit zu tun. Aufschrei gewesen? Ich mache dagegen mehr als Sie; Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19613

Dr. Gregor Gysi das steht auf jeden Fall fest. Daß meine Möglichkeiten Diejenigen, die angesichts des 1993 beobachteten beschränkt sind, das wissen auch Sie. Rückgangs der Häufigkeit rechtsextremistisch moti- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das wis- vierter Taten den Schluß gezogen haben, der Höhe- sen wir auch! Sehr!) punkt der Welle des Hasses gegen die als fremd deklassierten Menschen sei überschritten, werden Aber wenigstens aufrütteln müssen wir. Wir müssen immer wieder eines Besseren belehrt. Nur allmählich die Täter anders ächten, als das bisher geschehen kann sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die häufig ist. von jugendlichen Gewalttätern begangenen Strafta- Lassen Sie mich nur noch zwei Dinge sagen — Frau ten nur der sichtbare Ausdruck einer insgesamt noch Präsidentin, ich bin sofort fertig —: Denken Sie bitte sehr viel gefährlicheren Geisteshaltung ist, die in wirklich noch einmal nach — ich meine das ganz nicht mehr zu vernachlässigenden Teilen der Gesell- ehrlich — über die Frage des Ausländerinnen- und schaft anzutreffen ist. Diese Geisteshaltung läßt sich Ausländerwahlrechts. Bitte nicht nur auf kommunaler eben mit dem Strafrecht allein — das habe ich immer Ebene, sage ich an die Damen und Herren der SPD, wieder betont, und man muß es immer wieder sondern auf allen Ebenen. Wissen Sie auch, warum? sagen — nicht mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen. Es geht mir nicht nur um die damit verbundenen Ich wiederhole auch, was ich schon vor vier Wochen politischen Rechte. Sie wissen sehr genau, daß Men- an dieser Stelle gesagt habe: Wir müssen mit allen schen mit geringeren politischen Rechten von ihren verfügbaren Mitteln dafür sorgen, daß die Werte Nachbarinnen und Nachbarn und von ihren Kollegin- unserer Verfassung, der Schutz der Menschenwürde nen und Kollegen auch weniger angesehen werden. und das Verstehen und Tolerieren von Minderheiten Gleiche Rechte führen auch zu einem anderen Anse- in uns allen viel lebendiger ist und daß die Defizite in hen; mindere Rechte führen zu dem Bewußtsein, daß der Vermittlung dieses Verständnisses von uns allen es eben auch Menschen minderer Qualität sind. Hier gemeinsam abgebaut werden müssen. könnten wir wirklich einen Beitrag leisten. Lassen Sie uns ernsthaft über das von uns vorge- Dazu gehört auch ein verantwortungsbewußter schlagene Antirassismusgesetz nachdenken: daß wir Umgang mit unserer Sprache: „Überfremdung", endlich zivilrechtlich mit Schadensersatzansprüchen „Durchrassung", „Ausländer raus", „Das Boot ist und strafrechtlich verfolgen, wenn Menschen — wo voll" sind eben nicht die richtigen Worte in dieser und wie auch immer — aus rassistischen Gründen, ob Situation und in diesem wirklich angespannten im Berufsleben oder sonstwo, benachteiligt werden. Klima. Das wäre ein Zeichen, das dieser Bundestag setzen (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ kann, das wäre ein Zeichen, daß wir endlich die Täter Linke Liste, dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN ächten und ausgrenzen in dieser Gesellschaft und sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ nicht mehr ihre Opfer. CSU]) Danke schön. Es stellt dem deutschen Rechtsstaat kein gutes (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Zeugnis aus, festzustellen, daß er anscheinend nicht in der Lage ist, diese Auswüchse von Gewalt zu verhin- dern. Wie müssen sich andere ausländische Mitbürger Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstes spricht und Angehörige anderer Minderheiten fühlen, die die Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarren- nicht direkt von diesen Ausschreitungen be troffen berger. waren? Viele werden Angst haben, auf die Straße zu gehen, werden Angst haben, Opfer von Gewalttaten zu werden. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- nisterin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr Selbstverständlich ist die entschiedene Reaktion verehrten Damen und Herren! Herr Schmude, ich der dafür aufgerufenen Organe notwendig und erf or- erinnere mich sehr genau und eigentlich täglich an die derlich, um auch den Rechtsfrieden wiederherzustel- vielen Ereignisse aus den letzten Monaten, die zum len. Ich möchte hier nicht zu denjenigen zählen, die Gegenstand hatten: Ausschreitungen, Gewalttaten die Polizei in Magdeburg wegen ihres möglicherweise gegen Ausländer, gegen Schwache, gegen Minder- fehlerhaften und zu nachlässigen Einschreitens mit heiten bei uns in Deutschland. Ich kann nur sagen: massiven Vorwürfen überziehen. Aber, daß Fehler Sich das ständig vor Augen zu führen, ist nicht nur gemacht worden sind, ist nach dem jetzigen Erkennt- Mahnung, sondern gerade auch Aufruf an jeden, das nisstand offensichtlich und wird auch von den Verant- zu tun, was in seinen Möglichkeiten liegt, um hier wortlichen vor Ort inzwischen eingeräumt. einem Klima, das sich droht auszubreiten, Einhalt zu Möglicherweise hätte ein besser vorbereiteter Poli- gebieten. zeieinsatz in einem frühzeitigen Zusammenwirken Es ist erschreckend, daß in Deutschland Ausländer mit der Staatsanwaltschaft die Eskalation der Gewalt auf der Straße gejagt werden und daß Unbeteiligte wenn nicht verhindern, so aber doch begrenzen zuschauen. Ich erinnere: Es ist gerade erst einen können und hätte vielleicht noch andere Verfolgungs- Monat her, daß wir uns hier in einer Aktuellen Stunde maßnahmen früher ermöglicht. Denn wenn sich jetzt mit dem Brandanschlag auf die Synagoge der jüdi- die Staatsanwaltschaft auf Grund von Zeugenaussa- schen Gemeinde in Lübeck beschäftigt haben, daß wir gen in der Lage sieht, Haftbefehle zu beantragen, und hier alle Betroffenheitsbekundungen abgegeben ha- diese dann auch erlassen werden, zeigt, daß sie bereit ben. Aber wir alle sehen, glaube ich, daß das nicht ist, unser geltendes Recht konsequent gegen rechts- ausreicht. radikale Gewalttäter anzuwenden. 19614 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ich darf auch das wiederholen, was alle Vorredner Land durchsetzt, ein Klimawechsel, der Gewalt als gesagt haben: Das geltende Recht reicht grundsätz- Mittel der Auseinandersetzung ausschließt und äch- lich aus, um hier konsequent einschreiten zu können. tet. Wir haben leider vergebens gehofft. Aber das beste Recht nützt nichts, wenn die Beweise nicht am Tatort gesichert werden und damit der Herr Gysi, ich denke, auch für das internationale notwendige, dringende Tatverdacht für den Erlaß Ansehen der Deutschen waren die Ereignisse vom eines Haftbefehls nicht belegt werden kann. Das 12. Mai ein herber Rückschlag. Wir können nicht auf können und wollen wir natürlich auch nicht durch der einen Seite Investoren in die neuen Bundesländer Änderungen unseres geltenden Rechts beseitigen. holen wollen und auf der anderen Seite ein K lima haben, das Gewalt zuläßt. (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Warum legt man das Material der Staatsanwaltschaft Zu Recht haben Öffentlichkeit und Politik die Aus- nicht sofort vor?) schreitungen verurteilt. Zu Recht wird eine genaue Ich glaube, die Erfahrungen, die in den alten Aufklärung der Tatereignisse angemahnt. Zu Recht Bundesländern gerade mit Ausschreitungen von werden aber auch Konsequenzen verlangt. Hooligans gemacht worden sind, zeigen, daß mit Was wir bisher über die Ereignisse von Magdeburg einem besser abgestimmten Zusammenwirken von wissen, zeichnet ein Bild ungezügelter Gewaltbereit- Polizei und Staatsanwaltschaft vor Ort manche Eska- schaft und Militanz. Eindeutig geklärt zu sein scheint, lation und manche Entwicklungen verhindert werden daß Hooligans und Rechtsradikale die Welle der können. Es muß alles getan werden, darauf hinzuwir- Gewaltspirale durch die Anpöbelung und Verfolgung ken, daß das auch in den neuen Ländern zur Selbst- von fünf afrikanischen Asylbewerbern eröffnet haben. verständlichkeit gehört, wenn Polizeikräfte einschrei- Wir wissen aber auch — das gehört ebenfalls zur ten müssen. Wahrheit —, daß das leider nur das Startsignal für eine Ich will den weiteren Untersuchungen und mögli- ganze Kette von gewalttätigen Ereignissen war. chen Folgerungen, die daraus gezogen werden müs- sen, nicht vorgreifen. Aber ich will auch hier sagen: Der Polizeibericht liest sich wie ein Drehbuch für Daraus kann sich für den Bundesgesetzgeber kein einen Horrorfilm: Angetrunkene deutsche Jugendli- Handlungsbedarf ergeben. Was wir für notwendig che bedrohen ein Ausländerehepaar mit Kleinkindern halten, in unserem geltenden Recht zu ändern, haben im Kinderwagen; ein körperbehinderter Deutscher wir schon überlegt und beschlossen, bevor es zu wird von deutschen Jugendlichen aus einer Straßen- diesen Ausschreitungen gekommen ist. Das sind bahn geworfen und getreten. Ein weiterer Mann wird Überlegungen, die schon vor über einem Jahr ange- von 20 Hooligans überfallen und verletzt. Revanche- stellt worden sind und wo wir hoffen, diese Beratun- akte von Ausländergruppen — das gehört auch gen in den nächsten Stunden und Tagen in konstruk- dazu — wurden mit Messern, Stöcken und Steinen tiver Atmosphäre zu einem Abschluß zu bringen. durchgeführt. Dabei wurden ebenfalls mehrere Perso- Mein Appell richtet sich in dieser Aktuellen Stunde nen durch Messerstiche erheblich verletzt. nicht nur an die hier Anwesenden, sondern an alle in Die Polizei hat nach eigener Darstellung durch unserer Gesellschaft, daß wir mehr als bisher dazu präventive Maßnahmen versucht, der besonderen beitragen, daß Integration und friedliches Zusam- Sicherheitssituation am Herrentag gerecht zu werden. menleben gerade mit Bürgerinnen und Bürgern aus- Ich maße mir von dieser Stelle aus nicht an, darüber zu ländischer Herkunft nicht nur verbessert, sondern richten, ob das ausgereicht hat. Wahrscheinlich nicht, auch wieder gesichert werden und daß wir das nicht wie die Daten und Fakten zeigen. Nur sollten wir nur sagen, sondern es tatsächlich auch tun. Denn sonst wissen, daß der Prozeß, eine demokratische und werden wir in den nächsten Wochen und Monaten handlungsfeste Polizei in allen neuen Bundesländern möglicherweise leider noch öfter in Aktuellen Stun- aufzubauen, noch nicht abgeschlossen ist. Dabei sind den andere Anlässe zu beklagen haben. Ich glaube, leider auch Fehler, wie die erst mit eintägiger Verspä- niemand von uns möchte zu denjenigen gehören, die tung vorgenommene Einschaltung der Staatsanwalt- sich dann sagen, sie haben nicht selbst alles getan, um schaft, immer noch möglich. so eine Entwicklung mit ihrem — vielleicht auch nur bescheidenen — Beitrag zu verhindern. Wie mir mitgeteilt wurde und wie ich aus eigener Vielen Dank. Anschauung aus meinem Wahlkreis weiß, wird des- halb das Land Sachsen-Anhalt seine Anstrengungen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- verstärken, um die Ausbildung und die Arbeit der ten der CDU/CSU) Polizei weiter zu verbessern und zusätzliche Beamte einzustellen. Ein Drittel ist doch ständig in Neuausbil- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster folgt dung; das müssen wir sehen. der Kollege Hartmut Büttner. Es wundert dabei aber schon sehr, daß viele von denen, die jahrelang bereits den Polizeistaat auf uns Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Frau zukommen sahen, die z. B. das konsequente Vorge- Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Ich hen der Polizei beim Münchener Weltwirtschaftsgip- stimme all den Vorrednern zu, die betonten, daß die fel wortreich verurteilt haben, nun nach den Magde- gegen Ausländer und Deutsche gerichteten Krawalle burger Ereignissen plötzlich härtere Maßnahmen for- in Magdeburg erneut Besorgnis, Empörung, Trauer dern. und Scham ausgelöst haben. Es ist betont worden, daß wir nach Hoyerswerda, Rostock, Solingen und Lübeck (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — gehofft haben, daß sich ein Klimawechsel in unserem Zuruf des Abg. Uwe Lambinus [SPD]) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19615

Hartmut Büttner (Schönebeck) Noch verwunderlicher ist für mich, lieber Herr Meine Damen und Herren, wenn die Stunde der Lambinus, daß der stellvertretende SPD-Vorsitzende Abstimmung über diese Fragen kommt — wir werden — nach einer Agenturmeldung — in dieser Woche dazu noch einiges zu leisten haben —, beklagt hat, es sei unerträglich, gewalttätige Straftä- werden wir sehen, ob Wolfgang Thierse und andere ter schon nach wenigen Stunden wieder laufen zu bereit sind, den kräftigen Worten auch Taten folgen zu lassen. Das sagt der stellvertretende Vorsitzende einer lassen. Partei, die in Sachsen-Anhalt und im Bund bisher (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich Verbesserungen im Haftrecht verschleppt oder abge--tig!) lehnt hat. Wir bekennen uns aber auch dazu — das will ich an (Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Reden Sie dieser Stelle auch sehr deutlich sagen —, der Erfor- doch nicht so einen Stuß!) schung der Ursachen von Extremismus, Fremden- feindlichkeit und Gewalt mehr Gewicht zu geben. Denn seit anderthalb Jahren hat die CDU im Landtag Dabei ist es für uns völlig unerheblich, ob rechts- oder versucht, den Unterbindungsgewahrsam einzufüh- linksextremistische Motive zu Gewalt und Ausschrei- ren. Dieser Unterbindungsgewahrsam würde es tungen führen. erlauben, Gewalttäter einige Tage festzuhalten (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie sind ein Extre (Günter Graf [SPD]: Was hat das denn mit mist der Dummheit!) diesem Einsatz zu tun? So ein Stuß!) Der Staat muß sein Gewaltmonopol mit gleichen und sie, lieber Herr Graf, eben nicht gleich wieder Maßstäben wahrnehmen und durchsetzen. Unmittel- laufen zu lassen. bare staatliche Reaktion ist das beste Mittel, poten- tielle Gewalttäter von ihrem Tun abzuhalten. (Zuruf von der SPD: So ein Schwachsinn!) Wir sind bereit, meine Herren und Damen von den — Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. Sozialdemokraten, unseren Beitrag zu leisten, damit Nur mit größter politischer Anstrengung ist es der sich ein 12. Mai von Magdeburg nicht wiederholen Union in Magdeburg gelungen, zumindest eine Mini- kann. mallösung von vier Tagen Unterbindungsgewahrsam (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — zu erreichen. Zum Vergleich: Baden-Württemberg Siegfried Vergin [SPD]: Sie sollten sich mehr und Bayern haben 14 Tage. mit den Ursachen befassen!) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Denken Sie erst einmal nach, bevor Sie hier reden!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Dr. Uwe Küster. Und selbst diese vier Tage, lieber Herr Zwischenred- ner, waren dem SPD-Oppositionsführer und Minister- präsidentenkandidaten in spe, Herrn Höppner, zuviel. Dr. Uwe Küster (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr Er hat diese Regelung im Landtag abgelehnt, meine verehrten Damen und Herren! Am hellen Tage wer- Damen und Herren. den in einer Stadt in Deutschl and Ausländer durch die Straßen gehetzt, in meiner Heimatstadt Magdeburg. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Es geht um zwei Bei den Älteren kommen da Erinnerungen auf; Ver- Tage; die hätten gereicht!) gleiche liegen nahe. — Und, lieber Herr Küster, diese Verschleppungstak- Ich möchte daran erinnern, daß es der zweite tik hat auch bewirkt, daß dieses Gesetz für die schwere rechtsextreme Anschlag ist, der schwere Ereignisse am 12. Mai zu spät kam und noch nicht in Folgen gezeitigt hat. Vor zwei Jahren wurde in Kraft gesetzt werden konnte. Magdeburg Torsten Lamprecht von Skinheads erschlagen. Es gab schon damals bei der Strafverfol- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie haben ja keine - Ahnung! —Dr. Uwe Küster [SPD]: Es ist doch gung erhebliche Beweisnot. Quatsch, was Sie erzählen! Das geht doch an Jeder ausländerfeindliche Übergriff, jeder rassisti- der Sache vorbei!) sche Übergriff ist beschämend für uns; für mich besonders, denn es betrifft meine Stadt. Wenn Lieber Herr Küster, meine Nachrichten aus Magde- Jugendliche grölend durch diese Stadt ziehen und den burg zeigen auch, daß sich die SPD im Landtag bei der Hitlergruß zeigen, wenn niemand eingreift, wenn hier geforderten zusätzlichen polizeilichen Beweissi- Gaffer dabeistehen — ich muß sagen, das macht mich cherung durch Videoaufnahmen ebenfalls ungemein sehr betroffen. Erklärungsversuche, die dann von schwer getan hat. Für den Bund — das muß ich leider verschiedenen Seiten gekommen sind, daß Sonne und feststellen — sieht das wohl ähnlich aus. Alkohol schuld seien, Es reicht nicht aus, sich hier zu empören. Die (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Abenteu vorhandenen Rechtsgrundlagen und die häufig nicht erlich! Abenteuerlich!) voll ausgeschöpfte Rechtsanwendung sind für die halte ich nicht nur für abenteuerlich, sondern das ist Freilassung der Randalierer in jedem Falle mitverant- beschönigend. Damit geht es genau in die falsche wortlich. Unzählige Male haben CDU und CSU auf die Richtung. Notwendigkeit hingewiesen, beispielsweise den Straftatbestand des Landfriedensbruchs zu novellie- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) ren, eine Hauptverhandlungshaft einzuführen und Nein, es waren Rechtsextremisten, es waren Rassi- den Strafrahmen für Körperverletzungsdelikte zu sten, es waren Neonazis. Man darf sie auch nicht erhöhen. kleinreden. Es gibt nichts zu entschuldigen. Notwen- 19616 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Uwe Küster dig war die volle Anwendung der polizeilichen und Die SPD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt wird strafrechtlichen Möglichkeiten. Das ist nicht gesche- versuchen, am kommenden Freitag diese Vorgänge hen. im Landtag aufzuklären. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Ein biß Dann müßt ihr nicht jedesmal rumeiern, chen spät!) wenn die Verbesserungen und die zusätzli- Der Innenminister, der Polizeipräsident und der Ver- chen Möglichkeiten im Landtag besprochen fassungsschutzpräsident werden zu hören sein. Nötig werden!) sind eine Übernahme der politischen Verantwortung und die Aufklärung der Vorgänge. Gehen wir einmal der Frage nach: Konnte sich die Polizei in Magdeburg auf diese Situation einstellen? Schon jetzt kann ich sagen: Die Polizeiführung hat Es gab Vorwarnungen durch den Verfassungsschutz in Magdeburg versagt. Es gab eine falsche Lagebe- über das Polizeiführungszentrum, das Innenministe- wertung. Es ist mir auch unerklärlich — lassen Sie rium, an die Polizeidirektion in Magdeburg. Es gab mich das anfügen —, daß die Vorwürfe, die im Vorwarnungen durch ausländische Bürgerinnen und Zusammenhang mit den Ereignissen um den Tod von Bürger Magdeburgs. Warum waren denn die Linken Torsten Lamprecht gegen die Polizei und die Polizei- nicht in Magdeburg, dort, wo sie üblicherweise sind, führung erhoben wurden, zwei Jahre später immer am Breiten Weg, in der Ernst-Reuter-Allee? Warum noch nicht aufgeklärt sind. Das heißt, die Frage, waren sie nicht dort? — Weil sie diese Warnungen welchen Anteil der mangelnde Polizeieinsatz am Tod hatten. Sie hatten sie ebenso wie viele andere Bürge- von Torsten Lamprecht hat, ist bisher unbeantwortet. rinnen und Bürger in Magdeburg. Das ist unerträglich. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro Auf meine telefonische Nachfrage am Samstag nenberg) beim Polizeipräsidenten Antonius Stockmann m Mag- deburg, auf die gezielte Frage: „Hatten Sie Vorwar- Der Unterbindungsgewahrsam, Herr Büttner, nungen? Gab es Hinweise des Verfassungsschutzes? macht in Sachsen-Anhalt zwei Tage aus. Die Geset- Gab es verdeckte Ermittler, die Hinweise gegeben zesänderung, die eine Verlängerung auf vier Tage haben? Gab es Hinweise durch Bürgerinnen und vorsieht, ist verabschiedet. Das wird demnächst Barger?" lautete die Antwort: nein. sicherlich in Kraft gesetzt. Hätte m an diese zwei Tage nur ausgenutzt! Ich habe die Situation in Magdeburg (Siegfried Vergin [SPD]: Was?) vorher erlebt: Alle hatten Angst vor erneuten Ausein- Generell stelle ich fest: Es gibt erhebliche Diskre- andersetzungen, vor erneuten Racheakten, egal von panzen. Im Polizeibericht wird bejaht, daß der Verfas- welcher Seite. Der Unterbindungsgewahrsam war sungsschutz einen Tag vorher Hinweise auf Ausein- angesagt, andersetzungen gegeben hat, (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ja!) (Zuruf von der CDU/CSU: Hinweise wor- auf?) war ganz dringend erforderlich. auf die Absicht, daß rechtsextremistische Skinheads (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wenn die nicht nach Magdeburg kommen wollten. mal wissen, wer Täter und wer Opfer ist, was soll dann der Unterbindungsgewahrsam!) (Zuruf von der SPD: Präzise an den Ort, wo es Es gab keine Zusammenarbeit zwischen Staatsan- stattgefunden hat!) waltschaft und Polizei, obwohl Innenminister und Das heißt, die Polizeiführung hätte sich darauf einstel- Justizminister ein und dieselbe Person sind. Mit ande- len können. ren Worten: Die Koordinierung zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte hätte stattfinden müs- Ich muß sagen: Der Polizeibericht und die Lage, wie- sen. Sie hat offensichtlich unzureichend stattgefun- sie sich durch die Zeugenaussagen und die Berichte den. Unbeteiligter darstellt, sind zwei verschiedene Dinge, von denen man ausgehen muß. Ich meine, der Poli- Es ist höchste Zeit, daß die polizeilichen und die zeibericht beschönigt, er geht nicht auf die Dinge strafrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Ausschöpfen ist wichtig. Es ist höchste Zeit, sich ein. einzumischen, Ausländern, Behinderten, unseren Es bleibt für mich unerklärlich, warum die Video Mitmenschen zu helfen — nicht wegsehen, sondern Einsatzgruppe nicht mindestens zwei Stunden nach Schutz gewähren. dem Beginn der Auseinandersetzungen eingesetzt Ich danke Ihnen. wurde. Das ist mir unverständlich. Ich war am Mitt- woch vor diesem Donnerstag im Lagezentrum des (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Polizeipräsidiums. Ich habe dieses Lagezentrum gese- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei hen, und ich weiß, wie gut man dort arbeiten kann. Es Abgeordneten der F.D.P.) gab keine Beweissicherung, es gab keine Zeugenver- nahme in einem frühen Stadium — und das, ich muß es Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile noch einmal betonen, zwei Jahre nach dem Tod von nunmehr dem Abgeordneten Jörg v an Essen das Torsten Lamprecht. Bereits damals herrschte eine Wort. erhebliche Beweissicherungsnot. (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Und bis Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine heute ist nichts passiert!) Damen und Herren! Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19617

Jörg van Essen Solingen, Magdeburg — diese Namen sind heute offensichtlich nicht einmal den Ansatz für eine solche bereits mehrfach gefallen, und die Liste wird immer Beweissicherung und Dokumentation gegeben. länger. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr bedauerlich!) Von mir als Rechtspolitiker erwarten Sie, daß ich Im übrigen, Herr Büttner: Auch der Unterbindungs- politiküblich nach neuen Gesetzen rufe. Das wird gewahrsam ist nicht möglich, wenn man so schlecht nicht der Fall sein, obwohl es der leichteste Weg ist. Beweise sichert, daß man nicht weiß, ob eine Person (Siegfried Vergin [SPD]: Das hätte ich Ihnen Täter oder Opfer ist. auch nicht unterstellt!) (Beifall bei der F.D.P. und der SPD — Erwin In was für einer Gesellschaft leben wir, in der es schon Marschewski [CDU/CSU]: Beides gehört als Errungenschaft gefeiert wird, daß sich die zusammen, das ist richtig!) zuschauende Bevölkerung bei Ausschreitungen ge- Auch meine damalige zweite Hauptforderung, bei gen Mitmenschen passiv verhält und nicht wie in kritischen Einsatzsituationen einen Angehörigen der Rostock Beifall klatscht? Staatsanwaltschaft in die polizeiliche Einsatzleitung (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem zu nehmen, der dort das Bewußtsein für die Bel ange BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- der Strafverfolgung schärfen kann, ist nicht umgesetzt ordneten der CDU/CSU) worden. Es gibt übrigens einen Bereitschaftsdienst bei Die notwendige Bewußtseinsänderung — die der Staatsanwaltschaft. Justizministerin hat schon darauf hingewiesen — (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eben! Er ist nicht kann nicht das Strafrecht allein erreichen, das nur einmal angefordert worden!) strafwürdige Auswüchse bekämpfen kann. Auch darauf ist hinzuweisen. Die Polizei hat offen- (Siegfried Vergin [SPD]: So ist es!) sichtlich alles das, was wir einmal erreicht haben, Hier sind die Familie, die Schule, alle gesellschaftli- wieder verlernt. Insbesondere diese Versäumnisse chen Institutionen, auch das Fernsehen mit seinen haben zu dem katastrophalen Ergebnis von Magde- überbordenden Gewaltdarstellungen, burg geführt. (Zuruf von der F.D.P.: In ganz besonderer Andere Ereignisse als die in Magdeburg haben Weise!) allerdings auch Mängel im Haftrecht deutlich gemacht, die durch das seit langem eingebrachte und wir alle gefordert. in dieser Woche zu verabschiedende Verbrechensbe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — kämpfungsgesetz beseitigt werden. Bei besonders Zuruf von der CDU/CSU: Und die Kir- schweren Straftaten wie beispielsweise Mord bedarf chen! ) es bereits jetzt nach unserem Haftrecht keiner der Haftgründe der Flucht oder Fluchtgefahr, der Ver- In unserem Land fehlen die ethischen Korsettstan- dunklungs- oder Wiederholungsgefahr. In Zukunft gen. Sie einzuziehen ist unsere vordringliche Auf- werden wir auch bei der beabsichtigten schweren gabe, und sie muß endlich angegangen werden. Ich Körperverletzung und bei der besonders schweren freue mich, daß es, ausgehend vom nordrhein-westfä- Brandstiftung diese Voraussetzung nicht mehr haben. lischen Landtag und initiiert von einer grünen Kolle- Ich denke, daß das ein wichtiger Schritt bei der gin, eine parteienübergreifende Initiative gibt, zu Bekämpfung von fremdenfeindlichen Verbrechen mehr Ethik in der Gesellschaft zu kommen. ist. Trotzdem sind einige fachliche Bemerkungen erfor- Eine weitere Erleichterung gibt es darüber hinaus derlich. In Magdeburg haben sich nicht Mängel des beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Nach der Haftrechts gezeigt. Es haben sich Unterlassungen bei Verabschiedung des Verbrechensbekämpfungsge- der Einsatzbewältigung durch die Polizei wiederholt, setzes ist eine Vorverurteilung nicht mehr erforder- die ich schon seit langem beklage. lich. Wiederholungsgefahr kann sich doch nicht nur in (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem einer Verurteilung, sondern auch darin zeigen, daß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man an jedem Wochenende als reisender Gewalttäter Es ist zehn Jahre her, daß ich als damals in einer bei schweren Straftaten immer wieder auffällig Staatsschutzabteilung tätiger Staatsanwalt durch die wird. Polizeischulen gezogen bin, um bei der Polizei dafür (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und zu werben, beim polizeilichen Einsatz mehr auf die dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Belange der Strafverfolgung zu achten. Der Anlaß waren ähnliche Probleme, wie wir sie jetzt in Magde- Zur leichteren Feststellung dieser Aktivitäten wird das burg zu beklagen haben. bundesweite staatsanwaltliche Verfahrensregister behilflich sein, das wir ebenfalls mit dem Verbre- An der Spitze stand meine Forderung, mit techni- chensbekämpfungsgesetz einführen werden. schen Mitteln wie Videoaufzeichnungen für eine Eine Freilassung der Täter wie jetzt in Magdeburg intensive Beweissicherung und Dokumentation zu sorgen. Das Videoband ist ein besonders schnelles, wird doch von ihnen selbst als Bestätigung ihrer ein besonders objektives Beweismittel und deshalb Einschätzung angesehen, daß der demokratische bei der Vorführung vor den Haftrichter von unschätz- Rechtsstaat ein schwacher Staat ist. Das dürfen wir barem Wert. Dieser kann dann viel leichter die für nicht zulassen. einen Haftbefehl essentielle Voraussetzung des drin- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU genden Tatverdachts feststellen. In Magdeburg hat es sowie bei Abgeordneten der SPD) 19618 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Jörg van Essen Zur Zufriedenheit besteht wahrlich kein Anlaß. Ich — Das wollte ich Ihnen gerade sagen. Die Bundesre- schäme mich. Zu Herrn Schmude, der wirklich eine gierung hat auf Grund der von uns gemeinsam bemerkenswerte Rede gehalten hat, sage ich: Ich beklagten Zustände ja die „Offensive gegen Gewalt nehme nicht hin, daß bei uns erneut so etwas Unge- und Fremdenfeindlichkeit" — auch mit Hilfe der heuerliches geschehen ist. Länder, auch SPD-geführter L ander — betrieben. Ich Vielen Dank. glaube, diese Offensive hat durchaus beachtliche Teilerfolge aufzuweisen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage noch einmal: Es ist dies ein Verdienst nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der L ander. Es ist uns ja immerhin gelungen — obwohl es immer- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hin noch 1 800 Übergriffe auf Asylbewerberheime hat nunmehr der Bundesminister Friedrich Bohl. gab und damit 1 800 zuviel — die Zahl dieser Über- griffe im Vergleich zum Vorjahr um 25 % zu reduzie- ren. Ich glaube, daß wir die Erfolge, die wir haben, Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- nicht herunterreden sollten. gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Herr Präsi- Ich bin der festen Überzeugung, daß wir, Herr dent! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Leut- Kollege Schmude, wenn wir über Gesetzesverschär- heusser-Schnarrenberger hat schon für die Bundesre- fungen reden, sie nicht von vornherein als falsch gierung darauf hingewiesen, daß die Vorgänge in beurteilen sollten. Magdeburg für die Bundesregierung völlig inakzep- tabel sind und daß die Bundesregierung alles unter- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das tun wir auch nehmen wird, daß sich ähnliches nicht wiederholt, nicht!) soweit das in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten — Ich wollte darauf nur hinweisen, damit eben die steht. Gewichte richtig gesetzt werden. Ich möchte auf Grund der Debatte aber auch gleich (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Aber keine hinzufügen, daß wir als Bundesregierung uns nicht in Schnellschüsse!) der Lage sehen, die polizeiliche Lage in Magdeburg zu beurteilen, und daß es auch nicht Aufgabe der Wir sind ja z. B. offensichtlich der gemeinsamen Bundesregierung sein kann, das zu tun. Sicherlich Überzeugung, daß die bisherige Strafandrohung für wird jeder dazu seine eigene Meinung haben, aber Körperverletzung zu gering war, das ist die Zuständigkeit des Landes Sachsen - Anhalt (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) und damit der dortigen Kontrollorgane. Es ist nicht und deshalb wollen wir das korrigieren. Also kann Absicht der Bundesregierung, hierzu weiter etwas zu man nicht a pri ri sagen: Gesetzesänderungen sind sagen. o falsch. Es kommt vielmehr darauf an, welche wir Hinzufügen möchte ich gleich, daß wir ja ähnliches betreiben. auch in anderen Ländern schon erlebt haben, wo sich die Bundesregierung gleichermaßen zurückgehalten (Günter Graf [SPD]: Das hat aber mit Magde hat. Ich finde, es wäre auch nicht gut, wenn wir diese burg nichts zu tun!) Dinge hier parteipolitisch instrumentalisieren wür- Deshalb wäre ich auch insoweit für Klarheit in der den. Die Ehrlichkeit dieser Debatte sollte uns auch Debatte dankbar. dazu führen zu sagen, daß eine Spur davon bisher Ich möchte auch nicht den Eindruck erweckt wis- durchaus sichtbar wurde. sen, daß wir sozusagen rechte Gewalt mehr bekämp- Die Bundesregierung hat die Tatsache, daß in Fulda fen müßten als linke Gewalt — oder einfache Gewalt vor einigen Monaten Neonazis aufmarschieren konn- oder grobe Gewalt oder mittlere Gewalt —, sondern - ten, nicht zum Anlaß genommen, die Landesregie- Gewalt ist Gewalt, und alles muß gleichermaßen rung in Wiesbaden zu kritisieren, sondern war der bekämpft werden. Auffassung, daß es Aufgabe der dortigen Gremien ist, den Dingen nachzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist auch geschehen!) Das ist doch ohne Zweifel richtig. — Und das ist auch geschehen. Zu Recht auch! Das ist An Ihre Adresse, Herr Kollege Hirsch, muß ich, weil völlig in Ordnung. Sie das Stichwort Kirchenasyl angesprochen haben, sagen, daß ich diese Debatte auch nachdenklich (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Es hat auch Kon- führen will. Ich meine, wir sollten darüber wirklich sequenzen gehabt!) noch einmal gemeinsam reflektieren. Wenn Sie Das muß auch geschehen, aber es sollte nicht nach sagen, das sei Ausdruck der Tatsache, daß Bürger dem Motto laufen, das sich hier in der Diskussion wegen staatlicher Willkürmaßnahmen meinten, — vielleicht nicht ausgesprochen, aber doch unausge- (Uwe Lambinus [SPD]: Das hat er nicht sprochen — andeutete. gesagt!) Das zweite, was ich sagen möchte, ist: Die Bundes- zur Selbsthilfe zu greifen, regierung hat — — (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Jedenfalls können (Uwe Lambinus [SPD]: Von Willkür war nicht Sie bei der Bekämpfung des Rechtsradikalis- die Rede!) mus an der Spitze mit dabeisein!) — ich korrigiere mich: zur Selbsthilfe zu greifen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19619

Bundesminister Friedrich Bohl dann halte ich das für eine zumindest sehr bedenkli- Ich bin der festen Überzeugung, daß deshalb das Bild, che Schiene, auf die wir uns begeben. Wenn wir jetzt das Sie malen, so nicht richtig ist. Richtig ist, daß uns einmal bei den rechten Gewalttätern bleiben, wird das das gemeinsam besorgt. nämlich in deren Ideologie damit begründet, daß der (Dr. Jürgen Schmude [SPD): Sie müssen die Staat nicht in der Lage sei, bestimmte Zustände zu andere Seite auch würdigen! Nicht nur die verhindern. Wir können das staatliche Gewaltmono- eine Seite, auch die andere!) pol nicht aufgeben. Es muß gleichermaßen für alle gelten. Deshalb habe ich meine großen Zweifel, Aber wir können darauf setzen, daß in unserem Lande obwohl diejenigen, die sich da bemühen, einen ande- so viele Kräfte da sind, so viel Engagement da ist, diese ren Anspruch haben. Das will ich gerne einräumen. Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, daß wir diese Aber die Instrumente, die wir damit einräumen wür- Kräfte nicht herunterreden sollten, sondern sie mobi- den, sind zumindest sehr, sehr gefährlich. Deshalb lisieren und motivieren sollten und deshalb auch sollten wir, Herr Kollege Hirsch, darüber vielleicht zwischen den Parteien in diesem Hause nicht künstli- noch einmal gemeinsam nachdenken. che Fronten aufrichten sollten, sondern gemeinsam gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit in unserem (Zuruf des Abg. Dr. Burkhard Hirsch Land streiten sollten. [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU) — Ich habe gerade gesagt, die Motive derjenigen, die Eines muß ich ganz zum Schluß noch sagen: Daß Sie so handeln, sind sicherlich ethisch oder moralisch auch Regelungsbedarf gesehen haben, zeigt ja die unterschiedlich zu bewerten, aber der Weg, der Tatsache, daß wir gemeinsam z. B. zum Asylkompro- begangen wird, ist doch gefährlich. miß gekommen sind. Sie sind doch auch zum Asyl- Ich habe mich sehr daran gestört, Herr Kollege kompromiß deshalb gekommen, weil Sie der Ober- Schmude, daß Sie gesagt haben, unser Land beginnt zeugung waren, daß die Empfindungen, die Betrof- sich zu verändern und zeigt mehr Kälte. fenheit, die Haltung der Menschen dazu führen müsse, daß wir Korrekturen der früheren Entwicklung (Zurufe von der SPD: Stimmt! — Leider ist es vornehmen. Deshalb haben Sie doch — und zwar zu so! — Natürlich!) Recht — zugestimmt. Wenn dem aber so ist, dann — Hören Sie mir doch zu. Zeigen Sie doch jetzt auch, kann man doch nicht sagen, die Zahl der Ausländer, daß Sie für Argumente offen sind. Wir wollen jetzt die Betroffenheit der Menschen, die Kapazitäten, die doch auch den Zuschauern zeigen, daß wir über eine Ressourcen in unserem Land seien unbeachtlich. Daß solche Sache gemeinsam reden. wir Ausländer aufnehmen wollen, ist selbstverständ- lich. (Zuruf von der SPD: Nur den Zuschauern?) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Bohl, was hat Ist es nicht doch so, daß wir in Deutschland, Herr das mit unserem Thema zu tun?) Kollege Schmude, 7 Millionen Ausländer haben? Ist — Das hat mit dem Thema zu tun, das Herr Schmude es nicht doch so, daß wir in Deutschland in diesem Jahr angesprochen hat. — Ich bin und bleibe der festen bisher 45 000 Asylbewerber aufgenommen haben, so Meinung, daß wir recht daran tun, wenn wir den viel wie Frankreich im ganzen Jahr? Ist es nicht so, daß Nährboden für die Rechtsradikalen u. a. — neben in Deutschland 500 000 Bürgerkriegsflüchtlinge sind, Lichterketten, neben Veranstaltungen wie dieser, mehr als in der ganzen übrigen Europäischen neben unserer Gemeinsamkeit der Demokraten — Gemeinschaft? auch dadurch austrocknen, daß wir Gesetze beschlie- ßen und administrative Maßnahmen ergreifen, die (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Was folgern Sie dazu führen, daß die Rechtsradikalen keine Chance daraus?) haben. Ist es deshalb richtig zu sagen, daß wir in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) einen Überschuß an Kälte haben? (Zurufe von der SPD: Ja! — Leider!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- Ist das angesichts der Tatsache gerechtfertigt, daß wir desminister, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Lichterketten in Deutschland haben? Ist es angesichts daß Sie gleich die Zehn-Minuten-Grenze überschrei- der Tatsache gerechtfertigt, daß wir bei internationa- ten. Sie müssen sich über die Konsequenzen im klaren len Sportfesten große Begegnungen der Völkerver- sein. ständigung und der Völkerfreundschaft haben? (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Wie bei den Rennrodlern!) Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Selbstver- Ist es vor dem Hintergrund gerechtfertigt ständlich. Einen Satz noch, wenn Sie gestatten, Herr Präsident. (Weitere Zurufe von der SPD) Was uns, ich will nicht sagen: beglückt, aber zumin- — hören Sie mir doch einmal zu —, daß wir in unserem dest ein Zeichen der Hoffnung geben soll, ist doch, daß Lande viele gemeindliche und vereinliche Begegnun- diese Politik Erfolge zeitigt, denn die Republikaner gen zwischen den Völkern und Nationen haben? und Rechtsradikalen sind nicht in die Parlamente (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Ja, das ist alles gekommen. gut!) (Beifall bei der CDU/CSU) 19620 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Bundesminister Friedrich Bohl Die Wahlergebnisse zeigen, daß sie in der Ecke Grenzschutzbeamten bei der Erfüllung seiner Pflich- stehen, und dabei soll es bleiben. ten erschossen hatte. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Zuruf von der CDU/CSU: Da fehlt der Bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fall!) ordneten der F.D.P.) Was sollen wir tun? Erstens. Wir sollten uns weniger entrüsten und weniger appellieren. Wir sollten mehr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile handeln. nunmehr dem Abgeordneten Horst Eylmann das Zweitens. Wir sollten solche Vorfälle nicht partei- Wort. politisch instrumentalisieren. Ich weiß, daß das im Vorfeld einer Wahl ein frommer Wunsch ist. (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Horst Eylmann (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber recht haben sehr verehrten Damen und Herren! Wenn bei uns Ausländer durch die Stadt gejagt werden, muß uns das Sie!) aufs tiefste beunruhigen — das ist wiederholt festge- Aber wenn wir uns darüber einig sind, daß wir jegliche stellt worden —, nicht nur, weil das im Ausland einen Gewalt ablehnen und sie bekämpfen wollen, müßte es verheerenden Eindruck macht; nein, wir müssen ein zumindest annäherungsweise möglich sein. ureigenstes innenpolitisches Interesse daran haben, daß jeder, ob Ausländer oder Deutscher, bei uns frei Drittens. Wir müssen die Polizei in die Lage verset- von Angst vor Gewalt leben kann. zen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Dazu gehört im übrigen auch, daß wir die Motivation der Polizisten nicht (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der mutwillig noch mehr beschädigen, als das bisher SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon der Fall war. Die Menschen bei uns haben einen Anspruch darauf, daß die Politik, daß der Staat ihnen diese Sicherheit Das, was hier heute geschehen ist, auch von Ihnen, gewährt. Herr Weiß, war unverantwortlich. Hier sind wieder einmal aus Bad Kleinen überhaupt keine Lehren Es kommt nicht entscheidend darauf an, von wel- gezogen worden, cher Gruppe Gewalt gegen welche Gruppe ange- wandt wird. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) tig!) Diesmal waren es rechtsextremistisch verführte obwohl — das räume ich ein — es Anzeichen dafür Jugendliche, die teilweise gegen Ausländer aggressiv gibt, daß in Magdeburg Fehler von der Polizei wurden, im übrigen nicht nur gegen Ausländer, auch gemacht worden sind. Aber vor dem endgültigen gegen Deutsche; Herr Schmude hat den wirklich Bericht, vor der endgültigen Klärung, hier so den Stab schlimmen Vorfall mit den behinderten Deutschen über die Polizei zu brechen, erwähnt. Vor einigen Wochen waren es Ausländer, nämlich Kurden, die Gewalt gegen Deutsche sowie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Über die Polizeifüh gegen andere bei uns lebende Ausländer verübt rung! Das ist ein großer Unterschied!) haben. Das muß uns besonders beunruhigen, weil ist eine schlimme Geschichte. diese Taten wiederum Aggressionen gegen Auslän- der zu wecken vermögen, was wir mit allen Mitteln (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. verhindern wollen. Konrad Weiß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]) (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Aber da ist die Regierung sofort aktiv geworden!) - Wir müssen die Polizisten für diesen Staat gewin- Es kommt — es wäre gut, wenn wir uns darüber einig nen. Wir müssen dafür sorgen, daß sie diesen Staat würden — nicht darauf an, aus welchen politischen und die Bürger verteidigen. Dazu paßt es nicht, wenn Motiven Gewalt ausgeübt wird. Gewaltanwendung wir sie in dieser Weise leichtfertig zum Prügelknaben hat in unserer demokratischen Gesellschaft keine machen. Rechtfertigung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Viertens. Meine Damen und Herren, Herr Hirsch hat ein richtiges Wort gesagt: Wir sind in der Gefahr, Es wäre gut, wenn in dieser Gesellschaft, aber auch eine Gesellschaft der Wegseher zu werden. Dazu in diesem Hause das Maß des Abscheus nicht nach gehört aber auch, daß wir nicht durch die Polizei ein Überlegungen parteipolitischer Opportunität, insbe- schlechtes Vorbild liefern. Ich kenne Mitglieder der sondere danach dosiert würde, ob man nun glaubt, Bundestagsverwaltung, die in ihrem Glauben an die- den Zielen der einen Gruppe etwas näher zu stehen sen Rechtsstaat doch sehr erschüttert worden sind, als als denen der anderen. sie bei der Asyldebatte erleben mußten, wie sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. verprügelt wurden sowie bei Abgeordneten der SPD) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr Ich habe nicht vergessen, meine Damen und Herren wahr!) — wir alle sollten das nicht tun —, daß in den Wochen nach Bad Kiemen teilweise überhaupt nicht mehr die und die Polizei wegschaute oder, genauer gesagt: Sie Rede davon war, daß ein mutmaßlicher Mörder einen schaute hin, durfte aber nicht eingreifen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19621

Horst Eylmann Auch die Deeskalation, die ja immer als großes Christel Hanewinckel (SPD): Herr Präsident! Liebe Mittel propagiert wird, muß dann einmal kritisch von Kollegen, liebe Kolleginnen! Im Mai 1992 wird in uns hinterfragt werden. Magdeburg von rechten Jugendlichen der Punker (Günter Graf [SPD]: Die sich grundsätzlich Torsten Lamprecht erschlagen. Die Polizei ist dabei, bewährt hat!) greift aber nicht ein; es sind zu wenige. Fast zwei Jahre später findet der Prozeß gegen die Täter statt. Man kann nicht auf der einen Seite von der Polizei verlangen, daß sie sofort mit dem großen Knüppel und Im Mai 1994 am „Herrentag" in Magdeburg: Ange- aller Energie eingreift, im übrigen aber bei anderer trunkene Skins und Hoolig ans kommen in die Mag- Gelegenheit vor der Gewalt zurückweicht. Das ist deburger Innenstadt, um die „linken Zecken" aufzu- eine schwierige Frage. Ich habe kein einfaches Rezept mischen. für das Eingreifen der Polizei, aber daß wir uns das (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Aus dem auch einmal überlegen müssen, ist doch klar. „Herrentag" ist ein „Herrenmenschentag" Fünftens. Die Justiz muß ihre Aufgabe erfüllen. geworden!) Herr Schmude, das ist ja leicht gesagt: Die Justiz soll Die Punker sind nicht da; sie wußten vom Vorhaben die Täter mit den Strafverfolgungsorganen fangen der Skins. Die Polizei ist nicht da; sie wußte vom und überführen. Aber Sie wissen doch selbst, daß das Vorhaben der Skins. Schwarzafrikaner sind da; sie mit dem Überführen in angemessener Zeit so eine wußten nichts vom Vorhaben der Skins. Sie werden Sache ist. Woher kommt denn die Frustration unserer von den Rechten durch die Stadt gejagt. Zu wenige Polizisten? Sie brauchen doch nur einmal mit den Polizisten kommen, sie können die Situation nicht Polizisten zu sprechen: Sie fangen die Leute und klären. müssen sie wieder laufen lassen. Was ist das Problem? In den letzten Jahren nehmen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: So ist es!) die Gewaltbereitschaft und die Gewalttätigkeit bei Das liegt nicht nur und nicht immer — in Magdeburg Jugendlichen rapide zu, vor allem bei Jugendlichen, mag das der Fall gewesen sein — die sich dem rechten Spektrum oder der ausländer- feindlichen Seite zuordnen. Opfer sind Ausländerin- (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Da war es der nen und Ausländer, Behinderte, Punker, Linke, Fall!) Andersdenkende, Obdachlose, jüdische Gemein- daran, daß die Polizei Fehler gemacht hat. Es liegt den. auch an manchen Umständlichkeiten unserer Ge- setze. In der „Neuen Zeit" wurde am 14. Mai 1994 eine Zahl veröffentlicht. Ich frage vor allen Dingen Sie, Meine Damen und Herren, dieser Rechtsstaat lebt Herr Bohl — er ist leider nicht mehr da —, wofür diese nicht aus dem Papier; er lebt vom Vertrauen der Zahl wohl steht. 1993 verübten in ganz Deutschl and Bürger. Es ist ein Faktum, daß die Bürger in zuneh- Rechtsextremisten 6 721 Straftaten gegen Ausländer. mendem Maße nicht mehr das Vertrauen dazu haben, Straftaten gegen Behinderte, Linke und jüdische daß Strafverfolgung und Justiz in angemessener Zeit Gemeinden sind in diese Zahl nicht eingerechnet. Straftäter zur Verurteilung bringen. Das steht fest. Was ist zu tun? Gewalt in allen Beziehungen: in der Infolgedessen müssen wir alle versuchen, Gesetzes- Familie, im Staat, zwischen Gruppen, Mensch gegen änderungen dort, wo sie notwendig sind, zustande zu Natur, gegen Asylbewerber, gegen Minderheiten — bringen. Wir haben ja heute im Rechtsausschuß dar- die Gewalt scheint in diesem L and ein gesellschafts- über diskutiert. Da war es für mich schon etwas fähiges Mittel für Auseinandersetzungen geworden überraschend, daß nun wiederum gegen alle Vor- zu sein, obwohl die meisten, wenn sie passiert, schläge, die dort gemacht wurden, rechtsstaatliche erschrocken sind und sich distanzieren. Bedenken vorgebracht wurden. Politisch, polizeilich wird Gewalt unterschiedlich ( [PDS/Linke Liste]: Zu Recht!) befürchtet und bewertet. Wenn sie gegen die vorher — Ja, Sie scheinen ein unterschiedliches Recht haben genannten Gruppen gerichtet ist, wird sie offenbar zu wollen. Wenn es gegen rechtsradikale Gewalttäter anders eingeschätzt, und die Regie von Politikern und geht, dann sollen wir wohl Sondergesetze haben! Das Polizeiführung sieht anders aus. Die Gewalt am „Her- Gesetz gilt für alle. rentag" wurde bagatellisiert als etwas, das jederzeit jedermann überkommen kann, wenn man jugendlich, männlich, alkoholisiert und von der Sonne nur genug Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- beschienen ist. geordneter! Das ist eine makabre Verschätzung der Situation. Politiker und Polizeiführung bringen damit ihre Hilflo- Horst Eylmann (CDU/CSU): Ich komme damit, Herr sigkeit oder ihr Nichtwollen oder Nichtkönnen, die Präsident, auch zum Ende: Leisten wir gemeinsam bei reale Gefahr von rechts wahrzunehmen und als solche den Gesetzesänderungen das, was zu tun ist! einzuschätzen, zum Ausdruck. Die immer wieder Vielen Dank. aufgestellte Forderung nach der Verschärfung von Gesetzen ist ein weiteres Indiz für die Hilflosigkeit der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verantwortlichen, die diese Gefahr nicht wahrneh- men wollen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Kooperation von Polizei und Staatsanwaltschaft, nunmehr der Abgeordneten Frau Ch ristel Hanewink- eine umfassende und bessere Beweissicherung sol- kel das Wort. cher Straftaten, ein entsprechendes Polizeiaufgebot - 19622 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Christel Hanewinckel all das ist in diesem Land gegen die sogenannte über Juden Witze machen, Gefahr von links, wie z. B. beim Weltwirtschaftsgipfel über Menschenrechte lachen, in München, bei der Demonstration gegen die öffent- wenn sie dann in lauten Tönen liche Vereidigung in oder in Quedlinburg, als saufend ihrer Dummheit frönen, linksgerichtete Jugendliche stundenlang mit Kameras denn beim Deutschen hinterm Tresen beobachtet wurden, als sie ein Asylbewerberheim muß nun mal die Welt genesen, schützen wollten, praktiziert worden. dann steh auf und misch dich ein, sage nein. Was wir vor allem brauchen — ich zitiere aus einem Thesenpapier „Innere Sicherheit" der Bezirksgruppe Ob als Penner oder Sanger, der Gewerkschaft der Polizei, Polizeidirektion Bänker oder Müßiggänger, Halle: ob als Schüler oder Lehrer, Hausfrau oder Straßenkehrer, Innere Sicherheit zu erreichen kann und darf ob du 6 bist oder 100, nicht die alleinige Aufgabe der Polizei sein, sei nicht nur erschreckt, verwundert, sondern muß durch eine breite Mitarbeit all jener, tobe, zürne, bring dich ein, die an einer hohen öffentlichen Sicherheit Inter- sage nein. esse haben und Mitverantwortung tragen, erreicht werden. Dazu gehören die Verantwortli- Ich denke, das gilt uns allen, den Bürgerinnen und chen des Bundes, der Länder und der Gemeinden Bürgern dieses Landes, aber auch den Politikerinnen genauso wie die Polizei und nicht zuletzt die und den Politikern. Bürger selbst ... Gleichgültigkeit gegenüber (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ Mitmenschen muß durch Solidarität und Unter- Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ stützung ersetzt werden. Wegsehen und Sich- NEN) vor- der-Verantwortung-drücken darf nicht län- ger toleriert werden. Das staatliche Gewaltmono- pol ist wieder mehr in den Mittelpunkt öffentli- cher Diskussion zu stellen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) hat nunmehr die Abgeordnete Frau Monika Brud- Dieser Feststellung und Forderung der GdP von Halle lewsky. schließe ich mich voll an. Dazu gehören auch besser geschulte und organi- sierte Ordnungshüter, die in der Lage sind, die Situa- tion zu erkennen und angemessen zu agieren und zu Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Herr Präsident! reagieren. Die Verbesserung der Kooperation zwi- Meine Damen und Herren! Was soll der Schauprozeß schen Staatsanwaltschaft und Polizei ist dringend heute? Wir sollten nicht auf Kosten der verletzten notwendig. Nicht die Verschärfung des Strafrechtes, Opfer Wahlkampf machen. Es sind Deutsche und sondern die Anwendung des bisherigen und vor allen Ausländer Opfer. Nach dem Motto „Wer ist der Dingen schnellere Prozesse für die Straftäter sind bessere Demokrat? Wer ist hier betroffener?" sollte notwendig. Dazu gehört auch die zügige Besetzung man nicht vorgehen. von freien Stellen im Polizeidienst und die entspre- (Uwe Lambinus [SPD]: Sie hat die Aktuelle chende Qualifizierung und Ausstattung der Polizei vor Stunde als Schauprozeß bezeichnet! Wo sind allen Dingen in den ostdeutschen Ländern. Das gilt wir denn hier? — Weiterer Zuruf von der SPD: besonders für Sachsen-Anhalt. Unerhört!) Zum Schluß: Verantwortung tragen die Täter; sie- Aber verfallen wir doch bitte nicht in denselben müssen dafür nach geltendem Recht bestraft werden. Fehler — deswegen habe ich dieses Wort benutzt — Verantwortung tragen aber vor allen Dingen der wie damals in Bad Kleinen. Der Ablauf der Gescheh- verantwortliche Politiker Remmers und der Polizei- nisse ist nicht ganz geklärt. Der Abschlußbericht steht präsident in Magdeburg, Stockmann; sie müssen zur noch aus. Aber wir haben eine Aktuelle Stunde, aber Verantwortung gezogen werden. Verantwortung tra- wir haben die Verurteilung der Polizei und schon gen auch die Magdeburger und all diejenigen im Forderungen nach Rücktritt. Land, wo solche Straftaten passieren; ihre Verantwor- tung besteht darin, daß sie hinsehen und sich einmi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schen müssen. Verantwortung tragen aber auch wir, Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos] die Politikerinnen und Politiker; wir haben die Realität — Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht der Poli zu sehen, zu analysieren und Rahmenbedingungen zu zei!) schaffen, vor allen Dingen aber auch unser politisches Ich weiche zwar vom Thema ab; aber das gehört Handeln in Frage zu stellen, damit wir das wirklich doch hierher. Für die Ereignisse in Bad Kleinen trat ein Not-wendende gegen Gewalt tun. Minister zurück — völlig sinnlos, wie wir heute Für uns alle gilt, was Konstantin Wecker singt wissen. Schuld waren fehlerhafte Berichte, mangel- — vielleicht kennen sie das Lied mit der Überschrift hafte Berichte, das Nicht-warten-können auf die sach- „Sage nein" —: liche Darstellung. Wenn sie jetzt ganz unverhohlen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wieder Nazi-Lieder johlen, wahr!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19623

Monika Brudlewsky Falsche Zeugenaussagen — ganz genau gesehen hat Noch heute haben gerade in Wernigerode Polizisten die Dame das alles —, damit verbunden Hysterie: Die Mühe, sich zu verteidigen, weil Randalierer diese Hysterie schadet uns. beschuldigt haben, sie hätten sie tätlich angegrif- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. fen. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie doch los]) einmal zur Sache!) Heute — wir wissen es — kennt kaum noch einer Trotz aller Pannen, trotz aller bedauerlichen Zwi- den Namen des ermordeten Polizisten. Aber der schenfälle, die bei einem solchen Einsatz wie dem in Name des linken Terroristen, der andere Menschen- Magdeburg sicher nicht immer zu vermeiden sind, leben auf dem Gewissen hat, ist in aller Munde. Das ist weil die Situation nicht vorzuplanen ist, trotz aller die eigentliche Misere. Fehler, die gemacht werden, möchte ich mich aus- drücklich vor die Polizei in den neuen Bundesländern Welche Rolle spielt der Polizist bei den Gewaltta- stellen, weil sie es, wie schon erwähnt, viel schwerer ten? Wie soll er sich verhalten? Jeder weiß es ganz genau: Sie hätten ja nicht die Fehler gemacht, die Sie hat als z. B. die Polizei hier in Nordrhein-Westfalen. jetzt anklagen. Die Polizisten sollen zugreifen, sie Ich erinnere auch noch einmal an den 26. Mai, die sollen verhaften, brutale Gewalt aushalten, sofort Asyldebatte. Hier wurde Deeskalation eingeübt. Ich richtig reagieren und furchtlos solchen Gewalttätern kann mich noch an die im Regierungsviertel massen- gegenübertreten. Genau das wird von der Polizei weise gelangweilt herumsitzenden Polizisten erin- verlangt. nern, während die etlichen hundert linksorientierten vermummten Gewaltbereiten im Pulk der Demo Wie ist es aber in den neuen Bundesländern? geborgen waren, die vorher ohne Probleme von der Glauben Sie mir: Es besteht auch bei uns nach vier Polizei durchgelassen wurden, Jahren Demokratie noch immer eine besondere Situa- tion. Alte gingen, wenig Nachwuchs; es ist nicht (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist unglaublich, gerade toll, bei uns Polizist zu sein. Es gibt noch immer was die Dame sagt!) psychologische Probleme, Unsicherheiten. die Abgeordneten und Mitarbeiter sich wehren muß- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr ten, ohne daß die Polizei helfend eingreifen durfte. Es wahr!) gab etliche Verletzte, und es gab keine Aktuelle Stunde. Es gibt in der Ausbildung sehr viel aufzuholen. Aber das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu erzählen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Verniedlichung der rechten Gewalt ist das!) Ich wohne 38 km von Magdeburg entfernt und weiß, daß die Mehrheit der Menschen dort Gewalt verab- Der Polizeipräsident wurde verteidigt. scheut. Natürlich verabscheuen die meisten Gewalt. Ist Gewalt doch nicht gleich Gewalt? Zu meinem Wahlkreis gehört auch Wernigerode, wo (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sich links- und rechtsorientierte gewaltbereite Grup- Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions pen des öfteren schwere Kämpfe lieferten. Nach den los]) Ausschreitungen am 22. Oktober 1993 in Wernige- rode — auch wieder links gegen rechts — wurden Sind vermummte Autonome die besseren Gewalttä- Polizisten verletzt, die, um Eskalationen zu vermei- ter? Wir dürfen Gewalt nicht nach Ideologie sortie- den, zwischen die Kämpfenden gerieten. Sie berich- ren. teten mir, wie schwer es für sie als einzelne sei, ihre Ich danke Ihnen. Arbeit zu tun. Sie forderten ein Gesetz, um die (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster Übeltäter wenigstens einige Tage in Gewahrsam [SPD]: Aber wir danken Ihnen nicht! — lassen zu können. Die Gesetze müssen geändert - Weiterer Zuruf von der SPD: Armes Deutsch werden, wenn sie nicht richtig ziehen; denn sie land!) können unterwandert werden. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kein Mangel dran!) Das Wort Auch das sagten mir die Polizisten. Sie empfinden Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Peter Kemper. immer wieder Frust, wenn sie Gewalttäter entlassen müssen. Die größte Sorge unserer Polizisten beim Einschrei- Hans-Peter Kemper (SPD): Herr Präsident! Meine ten ist es, einen Gewalttäter zu verletzen; denn Damen und Herren! Erneut haben rechtsradikale beherztes Eingreifen wird gewünscht, möglichst Hohlköpfe Menschenleben gefährdet, nur weil diese immer ohne den Gebrauch von Waffen. In den neuen Menschen eine andere Hautfarbe und eine andere Bundesländern sind wir, was den Gebrauch von Herkunft hatten. Erneut laufen in der Bundesrepublik Waffen durch die Polizei betrifft, nämlich besonders Menschen um ihr Leben. Wieder wurde der innere belastet. Wenn aber ein Täter, auch wenn er noch so Frieden, wurde die innere Sicherheit schwer geschä- gewaltbereit ist, verletzt wird, dann wird meist der digt. Von dem erneuten Ansehensverlust in der Welt Polizist angeklagt, und zwar von denselben Leuten, will ich gar nicht sprechen. die jetzt der Polizei Zögerlichkeit vorwerfen. Das alles geschieht unter den Augen der Öffentlich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. keit, geschieht unter den Augen der Polizei. Das ist Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions- meines Erachtens sehr bedenklich. So waren der los]) Polizei im Vorfeld deutliche Hinweise auf die geplan- 19624 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Hans-Peter Kemper ten Aktionen der Rechtsradikalen in Magdeburg Staatsanwaltschaft einbezogen wurde. Ich denke, hier zugegangen, müssen Konsequenzen für die Verantwortlichen ( [CDU/CSU]: Das stimmt gezogen werden. nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der Verfassungsschutzpräsident von Sachsen- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Anhalt hatte dieses mehr als deutlich kundgetan. CDU/CSU und der F.D.P.) Dennoch ist nichts passiert. Aber nicht nur bei der Polizei müssen Konsequen- Herr Olderog, vielleicht hören Sie einmal zu. Wenn zen gezogen werden, sondern auch bei den Politikern. Sie versuchen, diese Geschichte so zu erklären, daß Man kann nicht alles auf die eingesetzten Polizeibe- die Polizei auf die Auseinandersetzung mit Linken amten vor Ort abwälzen, sondern man muß sich auch eingestellt gewesen sei, und sagen, die Polizei konnte mit den Ursachen befassen. Ein Polizeipräsident, der sich nicht mehr so schnell umstellen, weil die Linken glaubt, Sonne und Bier für rechtsradikale Wahnsinns- nicht mehr da waren und dann die anderen auf die taten verantwortlich machen zu können, der muß sich Ausländer einschlugen, kann ich nur feststellen: Das fragen, ob er der richtige Mann am richtigen Ort ist eine unglaubliche Verharmlosung; das kann es ja ist. wohl nicht sein! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Burk- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der hard Hirsch [F.D.P.]) F.D.P.) Die Polizeiführung hat sich hier sehr zögerlich und Wer als Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt streckenweise dilettantisch verhalten. Ihr lagen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit von bereits seit Tagen Erkenntnisse über die geplanten Zufälligkeiten abhängig machen und sie damit erklä- Ausschreitungen vor. Es ist nichts geschehen. Die ren will, der hat, denke ich, den E rnst der Lage nicht Warnungen und Hinweise wurden einfach nicht erkannt. Unser Bundesinnenminister führt seit l an ernstgenommen. Als die geplanten Attacken gegen -gem einen Eiertanz auf; er kann sich nicht entschei- die Linken nicht stattfinden konnten, hat m an sich den: Sind die Reps nun rechtsradikal, sind sie rechts- dann Ausländer gegriffen und diese durch die Stadt extrem, oder sind sie nur rechts? gejagt. Das wurde vom Innenminister als Zufall hin- Ich denke, hier ist etwas Gutes geschehen: Eine gestellt. Auch das ist, so denke ich, eine sehr ungute langjährige Mitarbeiterin in der Spitze der Reps, Verharmlosung. nämlich Frau Rosenberger, hat eine eigene Einschät- Beim Eintreffen der Polizei hatte sich die Lage dann zung und eine eigene Einordnung vorgenommen. verschärft. Die Ausländer haben sich gegen die Skin- Diese Einordnung stellt eine schallende Ohrfeige für heads zur Wehr gesetzt. Die Bilanz: 49 Festnahmen, den Bundesinnenminister dar. davon 14 Ausländer. Nach diesen Ausschreitungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kommt es dann zu einer zweiten Welle von Gewalt. Wir brauchen uns über zögerliches Einschreiten und Die Nazis ziehen mit Hitler-Gruß an der Bevölkerung über falsches Verhalten der Polizei, aber auch über vorbei, ziehen mit Hitler-Gruß an der Polizei vorbei, passives Verhalten der Menschen in unserem L and und nichts geschieht. nicht zu wundern, wenn diese Politiker mit einem Die Polizei läßt es geschehen. solchen Vorbild vorangehen. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Kriminalität und Extremismus fallen nicht vom GRÜNEN]: Das ist ein Skandal!) Himmel. Sie sind Folge des politischen und gesell- Sie befindet es nicht einmal für notwendig, einen schaftlichen Klimas. Armut, Obdachlosigkeit, Ar- Beweissicherungstrupp, einen Dokumentationstrupp beitslosigkeit, eine kalte Ellenbogengesellschaft und einzusetzen. fehlende Perspektiven begünstigen die Ausbreitung des Extremismus. (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: War ja Vater- tag!) (Beifall bei der SPD) Aber auch bei dem leichtsinnigen und dem gewis- Die Folge: Weil die Beweissicherung ganz offensicht- lich vernachlässigt wurde, werden die Rechtsradika- senlosen Umgang mit der Sprache sollten wir ein len aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. bißchen vorsichtiger sein. Mir liegt hier ein Wahl- Lassen Sie mich noch eines zu dieser Freilassung kampfinfo der CSU vor, große Überschrift: „Kampf sagen: Die Polizei hat selbständig entschieden — ob- dem Verbrechen" und darunter „Das neue Asylrecht wohl die Tatbestände des Landfriedensbruchs und der zeigt Erfolg". Ich denke, wenn wir solche Verbindun- Körperverletzung vorlagen —, die Straftäter wieder gen herstellen, brauchen wir uns über rechtsradikale freizulassen, ohne Rücksprache mit der Staatsanwalt- Ausschreitungen nicht zu wundern. schaft aufzunehmen. Das halte ich für eine unverant- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und wortliche Geschichte. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ich bin selbst viele Jahre lang Polizeibeamter gewe- Abgeordneten der F.D.P.) sen. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, daß es Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik. Einsatzsituationen gibt, bei denen die Polizei dann Hier sind in der Vergangenheit sehr viele Todsünden plötzlich nicht mehr Herr der Lage ist. Aber diese begangen worden. Ich denke, darüber sollten Sie Entscheidung ist nach dem Einsatz gefallen, daß die einmal nachdenken; dadurch läßt sich vieles an Kri- Straftäter wieder freigelassen wurden, ohne daß die minalität und an Radikalität verhindern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19625

Hans-Peter Kemper Vielen Dank. Recht und bei der Gewährleistung von Frieden und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sicherheit immer schwächer wird. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Zustimmung bei der CDU/CSU) PDS/Linke Liste) Jahrelang hat der Zeitgeist oder ein übertriebener Liberalismus die Kapitulation des Staates vor dem Unrecht gefördert. Die Folgen sind ein verlorenes Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Gleichgewicht zwischen Anspruch und Verantwor- hat der Abgeordnete Dr. Diet rich Mahlo. tung, ein angeschlagenes Rechtsbewußtsein und eine gewisse geschwundene Rechtstreue. Das ist unser Anteil an der Schuld. Ich beziehe mich durchaus mit Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende einer langen ein. Aktuellen Stunde muß man sagen, daß die Argumente Ich zitiere hier verkürzt aus einem Artikel von eigentlich ausgetauscht sind. Ich finde es nicht ganz Wolfgang Schuller im „Südkurier", in dem es heißt: einfach, hierzu zu sprechen, angesichts der Tatsache, Seit Jahrzehnten hatte sich die Polizei in der Rolle daß es einerseits — soweit sich der Sachverhalt für uns einer Institution sehen müssen, deren Tätigkeit schon bewertend darstellt — nichts zu verharmlosen man nach Kräften behinderte und reglementierte. und zu beschönigen gibt und daß es mir persönlich Im Vordergrund auch des ... gesetzlichen und andererseits doch widerstrebt, mich hier in einen durch die Gerichte weiterentwickelten Regel- Wettbewerb derjenigen, die ihre gute Gesinnung werkes stand immer, was die Polizei nicht dürfe. ausstellen, einzureihen. Meine Aufgabe als Abgeord- Am besten sollte sie sich gar nicht zeigen, um neter ist es doch wohl eher, unabhängig von einer friedliche Demons tranten nicht zu provozieren. bestimmten Atmosphäre — die leicht eine solche Jetzt haben wir es tragischerweise Kahlköpfen zu Diskussion überlagert und beherrscht — den Versuch verdanken, die Brandflaschen auf lebendige Men- zu machen, objektiv zu werten und in einem rationa- schen werfen und Farbige durch Magdeburg hetzen, len Erfassungsversuch auch zu gewichten. daß die Polizei wieder in der gewandelten Rolle einer Ich bin Westberliner Abgeordneter. Ich habe Aus- Institution erscheint, einandersetzungen in Westberlin lange vor der Ver- einigung mit den neuen Bundesländern erlebt, die in kontrollierter Weise hart und schnell zuzu- gegenüber denen diese Auseinandersetzungen ver- packen habe. gleichsweise harmlos sind. Ich habe Auseinanderset- Es ist betrüblich, daß es erst wieder einer rechtsex- zungen erlebt, bei denen m an bestimmte Stadtviertel tremen oder allgemeinkriminellen Mordlust bedurfte, 24 Stunden lang nicht be treten konnte, auch nicht die um diese Selbstverständlichkeit in unser Bewußtsein Polizei. zu rufen, auch in das Bewußtsein derer, die gestern Die Frage ist eben, ob wir wirklich am Rande eines noch die Polizeien als „Bullen" titulierten. neuen Nationalsozialismus stehen, wie hier immer Ich bin am Ende meiner Zeit. Die Hauptschuld an wieder in Anspielungen gesagt worden ist. den Verhältnissen, die wir heute erörtert haben, fasse (Günter Graf [SPD]: Wir haben gesagt, die ich in einem Wort zusammen. Es lautet: Nachgiebig- Landschaft hat sich verändert!) keit. — Sie, Herr Kollege Graf, haben das nicht gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber „Neonazis" ist von Herrn Kemper gesagt wor- den, und Herr Gysi hat gesagt, er hätte sich an Der Abge- Vorgänge der 30er Jahre in Magdeburg erinnert Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: ordnete Ortwin Lowack hat nunmehr das Wort. gefühlt. (Zuruf von der SPD: Das ist doch auch so! Hören Sie den Leuten doch einmal zu!) Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Das heißt doch, daß wir kurz davorstehen, in Tota- Meine Damen und Herren! Der Widerspruch im litarismus zurückzufallen. Ich glaube, daß diese Ver- Beitrag von Konrad Weiß ist unübersehbar: Auf der gleiche, ohne irgend etwas verharmlosen, ohne einen Seite ist es die Gesellschaft der Gewalt, die irgend etwas entschuldigen zu wollen, nicht den Verantwortung trägt, auf der anderen Seite wird die Realitäten entsprechen. Ich könnte Ihnen das analy- große Keule, eine Verschärfung des Haftrechts und tisch darlegen, aber ein solcher Fünfminutenbeitrag des Strafrechts, aus der Tasche gezogen. Das heißt ist dafür nicht geeignet. zuschlagen, den einzelnen Menschen zu schabloni- sieren und ihn in eine Ecke zu drängen, aus der er Ich gebe Herrn Kemper recht, daß das möglicher- möglicherweise lebenslang keine Ch ance mehr hat, weise auch etwas mit Armut, Wirtschaft und sozialen wieder herauszukommen. Defiziten zu tun hat. Aber es ist auch Ausdruck eines Wertedefizits. Straßenvandalismus und notorisches Dabei sind die Ausschreitungen, um die es heute Rowdytum, Gewaltbereitschaft und Kleinkriminalität hier geht, doch vielmehr ein Zeichen psychischer sind eben nicht das unausweichliche Schicksal jeder Fehlentwicklungen, oft eines Minderwertigkeitsbe- freien Gesellschaft, sondern sie haben etwas damit zu wußtseins, vor allem der Hilfslosigkeit und der Mas- tun, daß unser Staat, der in seinen Rändern als sensuggestion. Leistungsträger und Daseinsvorsorger, Verteiler und Lieber Kollege Weiß, wenn Sie erlebt hätten, wie in Subventionierer immer weiter wächst, in seinem der 68er-Bewegung Hunderte von Studenten auf das Kernbereich bei der Durchsetzung von Ordnung und Wort „Drauf!" ihres Führers losgelaufen sind, egal, 19626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Ortwin Lowack worum es überhaupt ging, dann wissen Sie, was hier — Ja, ich weiß, was ich damit sage. Aber ich glaube: teilweise eine Rolle spielt. Der Punkt ist wirklich klar. Und wo kommt denn das insgesamt her? Das ist Von dem Pogrom in Magdeburg habe ich in Paris doch auch das Ergebnis einer geradezu hysterischen erfahren. Die „Le Monde" brachte einen Artikel mit Hetze gegen das, was Gemeinschaft und Gesellschaft dem Titel „Scènes de chasse aux étrangers à Magde- in Deutschland bedeutet. Diese jungen Menschen bourg", Jagdszenen auf Ausländer in Magdeburg. haben kein Ziel vor Augen, für das es sich offenbar Der Artikel erschien in einer Rubrik mit Nachrichten lohnt zu arbeiten. Ich frage: Wo kommt das her? Und über Morde und Kämpfe in Algerien, Hai ti, Nigeria, wir können es nur beantworten, wenn hier die Fehler dem Jemen. Die „Libération" zitierte Stimmen aus der Politik anerkannt werden. Paris, nach denen sich unter den gejagten Ausländern (Zuruf von der SPD: Herr Lowack, Sie reden auch farbige Franzosen und Leute aus Perpignan, also über Dinge, die Sie nicht verstehen!) EU-Bürger wie wir, befunden haben sollen. Wir belasten junge Menschen unnö tigerweise mit Wer Pogromtaten wie die von Hoyerswerda, einem persönlichen Schuldvorwurf aus der Vergan- Rostock, Quedlinburg, Mölln, Solingen und jetzt in genheit der deutschen Geschichte, den sie nicht Magdeburg und in dieser Nacht in Hamburg mit eher verdient haben. Es hat keinen Sinn, Minderwertigkeit geringfügigen Gefängnisstrafen bedroht, wer die Tat- in ihr Bewußtsein einzupflanzen und dann zu erwar- verdächtigen entweder überhaupt nicht festnimmt ten, daß sie sich jederzeit richtig verhalten. In der oder verdächtig schnell freiläßt, wer Vorbeugemaß- Geschichte der Deutschen war die Gastfreundschaft nahmen trotz kompetenter Warnungen unterläßt, wer immer ein herausragendes Recht. Wer souverän ist, angegriffene Ausländer und Ausländerinnen oftmals wer selbstbewußt ist und wer weiß, wofür er zu leben eher belangt als die potentiellen Totschläger und und zu arbeiten hat, der wird auch gegenüber Frem- Mörder, der braucht sich nicht zu wundern, daß es so den freundlich und zuvorkommend sein. weitergeht, der braucht sich nicht zu wundern, daß der Aber lernen Sie in der Politik doch erst mal, den Haß auf und die Aggression gegenüber Menschen Begriff „Deutschland" positiv zu besetzen. Jeden Tag anderer Herkunft, anderer Sprache und anderer wird hier der Freiheitsraum begrenzt, beschränkt. Mit Hautfarbe in diesem Land wachsen und sich weiter Gesetzen, mit Verordnungen, mit allem Möglichen ausbreiten. Wer Ausländer als verbrechensanfälliger hinterlassen Sie nicht nur menschliche Ruinen, son- und damit als potentiell und tendenziell Kriminelle dern vor allen Dingen auch in ihrer seelischen Exi- generell verdächtigt — wie mehrfach hier in diesem stenz ruinierte Menschen. Wer hier beginnt, auf Haus geschehen —, der leistet der latenten und andere zu schimpfen und Empörung zu zeigen, der wachsenden Pogromhaltung in großen Teilen der soll sich wahrlich erst einmal an seine eigene Brust deutschen Bevölkerung — das ist das wirkliche Pro- klopfen. blem — Vorschub. (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Es scheint irgendwie geradezu zum Nationalcha- [Bonese] [fraktionslos]) rakter der Deutschen zu gehören — um Willi Helpach zu zitieren —, Lust daraus zu ziehen, daß Menschen gejagt werden, daß Menschen durch Gewalt und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort durch Gewaltausübung geradezu in Todesangst ver- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich B riefs. setzt werden. Der Flächenbrand ist bereits da, der Brand, der die eh gering entwickelte politische Ver- nunft in dieser Gesellschaft womöglich völlig zerstört. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Das Spiel mit dem Feuer hat bereits stattgefunden, Meine Damen und Herren! Da wir ja bei des Deut- auch in diesem Haus, z. B. in der Asyldebatte. Die schen liebstem Kind, der Polizei, sind, vorweg eine Folge ist ein Brand, der weiter züngeln wird, bis er Bemerkung, die ich eigentlich zum Schluß machen womöglich wieder einmal das ganze Land erfaßt. wollte: Was das Verhalten der Polizei und der Polizei- Verbieten Sie vor allem und endlich die einschlägi- führung in Magdeburg betrifft, denke ich, sieht es gen und offen zu Rassenhaß, zu Pogromen, zu antise- ungefähr so aus: Glauben wir ihr, daß ihr das einfach mitischen Aktionen aufrufenden und aufstachelnden so passiert ist, dann sind es schlicht und einfach Organisationen und ihre Wort- und Tatführer. unfähige Trottel. Gehen wir aber davon aus, daß dahinter irgendwie ein bewußtes, ein motiviertes, ein (V o r sitz : Vizepräsident H ans Klein) zweckgerichtetes Handeln wirklich stand, — Und verhindern Sie — das an die Adresse beispiels- (Zuruf von der CDU/CSU: Von wem?) weise der PDS; das muß ich mal ganz offen sagen — — bei der Polizei und Polizeiführung — dann muß Kontakte, die diese Tat- und Wortführer auch noch zumindest die Frage auftauchen, ob es nicht in dieser irgendwie legitimieren. In einigen Jahren, wenn sich Polizei bestimmte Kräfte gibt, die bereit sind, die die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Vor- demokratische Ordnung dieses Landes zu sabotieren. gehens durchgesetzt hat, ist es womöglich zu spät. Ich glaube, das ist eine der Fragen, die da auftau- Das Beispiel Italiens mag warnen. Wenn in diesem chen. Land, in Deutschland, der Faschismus soweit kommt (Zuruf von der F.D.P.: Ein unerhörter Vor- wie in Italien, dann ist hier viel mehr Blut geflossen, wurf! — Zuruf von der CDU/CSU: Das müs- dann sind unendlich viel größere Verbrechen began- sen Sie einmal belegen! Das ist ja unglaub- gen worden, dann sind die daraus entstehenden lich!) politischen Verhältnisse auch noch viel brutaler, viel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19627

Dr. Ulrich Briefs gewaltträchtiger und unmenschlicher als selbst in kammer für den Bezirk des Oberlandesgerichts Nürn- Italien. berg geprüft und akzeptiert wurde. Weitere Aus- Herr Präsident, ich danke Ihnen. künfte über die Frage der Honorierung der Tätigkeit danach kann ich nicht geben. Aber Sie können davon Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- ausgehen, daß Minister Spranger keine vertragliche ren, wir kommen jetzt zur Fragestunde. Ich möchte Verpflichtung in bezug auf eine nachträgliche Hono- Ihnen aber gleich sagen, daß es nur wenige Fragen rierung eingegangen ist. Ob Bundesminister Spranger sind. Falls die Serie der Zusatzfragen nicht zu groß ist, irgendwann später in die Anwaltskanzlei zurück- können sich die Kolleginnen und Kollegen, die an der kehrt, bleibt seiner Entscheidung anheimgestellt. Aktuellen Stunde teilnehmen wollen, schon darauf einrichten. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Urbaniak hat eine weitere Zusatzfrage. Ich rufe auf: 1. Fragestunde Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Staatssekre- tär, wir haben 1972 mit großer Mehrheit das Betriebs- — Drucksache 12/7527 — verfassungsgesetz verabschiedet. Soweit ich mich Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bun- erinnern kann, ist es ein einmaliger Vorgang, daß sich desministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur ein Minister offiziell dazu bekennt, eine Kanzlei zu Beantwortung der Fragen steht uns Staatssekretär betreiben, um einen wichtigen Bestandteil des gesell- Wighard Härdtl zur Verfügung. schaftlichen Konsenses, nämlich Be triebsräte zu bil- Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans Büttner den, zu verhindern. Ist das eigentlich akzeptabel für auf: die gegenwärtige Bundesregierung? Hält es die Bundesregierung mit § 5 des Bundesministergeset- zes far vereinbar, daß der Bundesminister Carl - Dieter Spranger Wighard Härdtl, Staatssekretär: Entschuldigung, auf dem Briefkopf einer Ansbacher Anwaltskanzlei firmiert, die sich darauf spezialisiert hat, die Errichtung von Betriebsräten zu Herr Abgeordneter, es liegt im Ermessen jeder Kanz- verhindern? lei, die Mandanten zu nehmen, die ihr genehm sind. Herr Staatssekretär, ich bitte Sie um Beantwor- Dazu leben wir in einem Rechtsstaat. Sicherlich würde tung. die Kanzlei auch Sie vertreten, nur leider derzeit nicht Minister Spranger. Darauf müssen Sie noch einige Wighard Härdtl, Staatssekretär im Bundesministe- Zeit warten. rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung: Vielen Dank, Herr Präsident. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lambi- Nach Auffassung der Bundesregierung ist das Bun- nus. desministergesetz nicht berührt, denn § 5 des Bundes- (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich ministergesetzes untersagt lediglich, den Anwaltsbe- Uwe Lambinus ruf weiter auszuüben. Die Bundesregierung nimmt noch einmal nachfragen? Ist es nach der Bundes- grundsätzlich nicht Stellung zum Tätigkeitsbereich rechtsanwaltsordnung zulässig, daß ein zur Zeit nicht einer Anwaltskanzlei. Dies kann auch nicht Gegen- zur Ausübung des Anwaltsberufs Befähigter — das ist stand einer rechtlichen Bewertung sein. er ja nicht nach dem Bundesministergesetz — in einer Anwaltskanzlei firmiert? Vizepräsident Hans Klein: Erste Zusatzfrage. Wighard Härdtl, Staatssekretär: Dies ist zulässig. Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Ist der Bundesre- Denn § 5 des Bundesministergesetzes untersagt ledig- gierung bekannt, ob der Bundesminister nach wie vor lich die Ausübung, aber nicht eine ruhende Mitglied- an der Kanzlei beteiligt ist, die seinen Namen im schaft in dieser Anwaltskanzlei. Die Frage nach dem Briefkopf führt? Briefkopf ist durch die zuständige Rechtsanwaltskam- mer beantwortet worden. Wighard Härdtl, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Bundesminister Spranger ist seit 1982, seit er nämlich Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hampel. Parlamentarischer Staatssekretär wurde, nicht mehr für die Kanzlei tätig gewesen und hat auch keine Manfred Hampel (SPD): Herr Staatssekretär, ist aus Honorare und weiteren Einkommen bezogen. der Antwort an den Kollegen Urbaniak zu schließen, daß es die Billigung der Bundesregierung findet, Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatz- wenn die Bildung von Be triebsräten massiv behindert frage. und damit das Kernelement der betrieblichen Mitbe- stimmung in der Sozialen Marktwirtschaft ausgehe- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Geht die Bundes- belt wird? regierung der Frage nach, ob Bundesminister Spran- ger für die Zurverfügungstellung seines Namens im Wighard Härdtl, Staatssekretär: Ich muß Sie noch Briefkopf dieser Kanzlei eventuell nach Ablauf seines einmal darauf hinweisen, daß wir keine Bewertung Ministeramts nachträglich eine Entschädigung für die der Tätigkeiten von Rechtsanwaltskanzleien vorneh- Zurverfügungstellung eines Mandantenstammes er- men. Sonst müßten wir auch unser Befremden äußern, hält? wenn beispielsweise Betrüger, Mörder oder andere Straftäter verteidigt werden. Die Ausübung des Wighard Härdtl, Staatssekretär: Ich darf Ihnen mit- Anwaltsberufs ist grundsätzlich so weit möglich, wie teilen, daß der Briefkopf durch die Rechtsanwalts- es der Rahmen unserer Rechtsordnung zuläßt. Irgend- 19628 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Staatssekretär Wighard Härdtl eine Eingrenzung auf einen Bereich oder damit ver- die Folgen und Konsequenzen aus der Gesundheits- bunden bei einer rechtlichen Vertretung auf eine strukturreform für zahllose Praxen mit der Tendenz, persönliche Einflußnahme oder persönliche Einstel- die ich in der Frage angesprochen hatte, überhaupt lung ist nicht gegeben, ganz zu schweigen davon, daß analysiert und überprüft? die Bundesregierung natürlich nicht dafür in Anspruch genommen werden kann, welche Anwalts- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: kanzlei mit welchen Mitgliedern welche Mandanten Herr Lowack, ich habe Ihnen mitgeteilt, daß uns keine vertritt. fundierten Kenntnisse darüber vorliegen. Wenn Sie (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Hat Herr uns eine Praxis benennen können, die auf Grund des Spranger einen Betriebsrat in der Anwalts- Gesundheitsstrukturgesetzes „pleite" gegangen ist, kanzlei?) dann bitte ich Sie, mir diesen Arzt mitzuteilen. Er möchte mir unter Offenlegung seiner Einnahmen und Ausgaben nachweisen, daß diese Praxis infolge des Vizepräsident Hans Klein: Gibt es weitere Zusatz- fragen? — Das ist nicht der Fall. Herr Staatssekretär, Gesundheitsstrukturgesetzes nicht mehr existenzfä- ich bedanke mich für die Beantwortung. hig ist. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri- Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. ums für Gesundheit auf. Die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl wird die Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatssekretä- Frage 35 beantworten, die der Kollege Lowack rin, sind Sie bereit, insoweit zur Kenntnis zu nehmen, gestellt hat: daß diese Fragestellung in Übereinstimmung mit Hat die Bundesregierung die große Gefahr erkannt, die daraus Vorstandsmitgliedern des Hartmannbundes in Bayern resultiert, daß die flächendeckende ärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet ist, weil auf Grund des „Gesund- vorgetragen wurde? heitsstrukturgesetzes" ca. 30 % der ärztlichen Fachpraxen betriebswirtschaftlich Konkurs erleiden und ein hoher Anteil der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: bislang ambulant erbrachten fachärztlichen Leistungen in Herr Lowack, ich nehme das zur Kenntnis. Allerdings Zukunft stationär in Krankenhäusern erbracht werden muß? hat der Hartmannbund in Bayern auch die Möglich- Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin. keit, sich direkt an mich zu wenden und mir seine Kenntnisse zu übermitteln. Ich bin gesprächsbereit Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin und werde gern auf diese Fakten eingehen. beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Kollege Lowack, Ihrer Behauptung, „daß die flächendek- Vizepräsident Hans Klein: Werden dazu aus dem kende ärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr Kreis der Kolleginnen und Kollegen weitere Zusatz- gewährleistet ist", steht die Tatsache entgegen, daß in fragen gestellt? — Das ist nicht der Fall. der Bundesrepublik zur Zeit ca. 60 % aller Planungs- Dann darf ich an die Adresse der Stenographen bereiche überversorgt und für Neuzulassungen sagen, daß die Frage 8 aus dem Geschäftsbereich des gesperrt sind. Die Bundesregierung sieht keine Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung Gefahr, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen sowie die Frage 36 aus dem Geschäftsbereich des ihrem gesetzlich zugewiesenen Sicherstellungsauf- Bundesministeriums für Gesundheit zurückgezogen trag nicht nachkommen und eine flächendeckende worden sind. Alle anderen Fragen — mit Ausnahme Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Kran- der jetzt noch folgenden beiden Fragen der Kollegin kenversicherung nicht gewährleisten können. Funke-Schmitt-Rink — sollen schriftlich beantwortet Der Bundesregierung liegen auch keine fundierten werden. Das betrifft die Fragen aus den Geschäftsbe- Hinweise darauf vor, daß es auf Grund des Gesund- reichen der Bundesministerien des Innern, der Justiz, heitsstrukturgesetzes zu zahlreichen Schließungen für Verkehr, für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- ärztlicher Praxen gekommen ist oder künftig kommen cherheit, für Forschung und Technologie sowie für wird. Allerdings ist die Zahl der zugelassenen Ärzte in Gesundheit. die Antworten werden als Anlagen abge- den letzten Jahren stets gestiegen. Grundsätzlich ist druckt. darauf hinzuweisen, daß ein Anstieg der Zahl der Ich rufe nun die Frage 40 der Kollegin Dr. Margret Leistungserbringer, ohne daß gleichzeitig die Zahl der Funke-Schmitt-Rink auf: Versicherten und damit der Versorgungsbedarf steigt, zu entsprechenden Umsatz- und Einkommensrück- Wie bewertet die Bundesregierung das jüngste Urteil des BVG vom 28. April 1994 zu Besitz, Erwerb und Einfuhr von Haschisch gängen bei einzelnen Leistungserbringern in unse- in geringen Mengen zum Eigenverbrauch, und welche gesetz- rem Gesundheitssystem führen kann. Die niederge- lichen Konsequenzen zieht sie ggf. daraus? lassenen Ärzte unterliegen hier den gleichen Bedin- Ich bitte Sie, Frau Parlamentarische Staatssekretä- gungen wie andere freie Berufe. Eine ähnliche Ent- rin, um Beantwortung. wicklung hat es z. B. auch bei den Rechtsanwälten gegeben. Die gesetzliche Krankenversicherung kann Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: bei einer steigenden Zahl der Ärzte den einzelnen Frau Kollegin, in seinem am 28. April veröffentlichten Ärzten nicht ein bestimmtes Umsatz- und Einkom- Beschluß vom 9. März 1994 hat das Bundesverfas- mensniveau garantieren. sungsgericht festgestellt, daß die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie den Er- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. werb, Besitz und Handel mit sowie die Einfuhr von Cannabisprodukten betreffen, mit dem Grundgesetz Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatssekretä- vereinbar sind, und zwar auch insoweit, als sie den rin, in welcher Weise hat denn die Bundesregierung Erwerb und Besitz von Haschisch in geringen Mengen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19629

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zum ausschließlichen Eigenkonsum betreffen. Ein aber ungeheure Mengen an Rauschgift herauskom- sogenanntes Recht auf Rausch hat das Ge richt abge- men? lehnt. Es hat ferner auf die Verpflichtung der Länder hingewiesen, für eine im wesentlichen einheitliche Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Pari. Staatssekretärin: Einstellungspraxis nach § 31 a des Betäubungsmittel- Herr Lowack, ich habe, glaube ich, in meiner Antwort gesetzes zu sorgen. deutlich gemacht, daß weiterhin der Erwerb, Besitz Diese Entscheidung bestätigt uneingeschränkt die und Vertrieb von Rauschgift unter Strafe steht. Ich langjährige Drogenpolitik der Bundesregierung, und meine also, daß das Urteil solchen Praktiken nicht zwar auch im Detail. Die Bundesregierung hat bisher Vorschub leistet. Forderungen und Gesetzesinitiativen zur Aufhebung Weitere Zusatzfragen der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes Vizepräsident Hans Klein: für Cannabisprodukte abgelehnt. Sie hat vielmehr auf dazu? — Das ist nicht der Fall. die Einstellungsvorschriften des Betäubungsmittelge- Dann rufe ich die Frage 41 der Kollegin Dr. Funke setzes verwiesen und an die Länder appelliert, diese Schmitt-Rink auf: Vorschriften bundeseinheitlich auszuschöpfen und Wann und in welcher Form wird der Nationale Drogenrat den damit insbesondere für jugendliche Gelegenheitstäter Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan fortschreiben, vor al- lem vor dem Hintergrund des jüngsten Bundesverfassungsge- das Prinzip „Hilfe vor Bestrafung" anzuwenden. richtsurteils vom 28. April 1994 zu Besitz, Erwerb und Einfuhr Gesetzgeberische Konsequenzen hat das Bundes- von Haschisch in geringen Mengen zum Eigenverbrauch und verfassungsgericht ausdrücklich nicht verlangt, son- der neueren Entwicklung in anderen europäischen Ländern, dern festgestellt: „Der Gesetzgeber darf abwarten", z. B. den Niederlanden und der Schweiz? ob wegen einer dauerhaft unterschiedlichen Handha- Ich bitte Sie, Frau Parlamentarische Staatssekretä- bung insbesondere des § 31 a des Betäubungsmittel- rin, um Beantwortung. gesetzes zu einem späteren Zeitpunkt weitere gesetz- liche Konkretisierungen der Einstellungsvorausset- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: zungen erforderlich sind. Frau Kollegin, es ist nicht die Aufgabe des Nationalen Drogenrates, den Nationalen Rauschgiftbekämp- Die Bundesregierung wird daher zunächst und fungsplan fortzuschreiben. Der Nationale Rauschgift- gemeinsam mit den Ländern die Prüfung fortsetzen, bekämpfungsplan wurde vielmehr von Bund, Län- wie durch eine einheitliche Richtlinie der Beschluß dern, Gemeinden, Verbänden und allen wesentlichen des Bundesverfassungsgerichts möglichst schnell in Gruppen gemeinsam entwickelt und im Konsens auf die Praxis umgesetzt werden kann. der Nationalen Drogenkonferenz im Juni 1990 verab- schiedet. Die Bundesregierung hat die in ihre Verant- Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Frau wortung fallenden Aufgaben in diesem Plan kontinu- Kollegin. ierlich umgesetzt und auch darüber berichtet. Wäh- rend der Beratung über den Be richt zu den Maßnah- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Ist durch men des Bundes zur Umsetzung des Nationalen dieses Urteil ausgeschlossen, daß in Deutschland Rauschgiftbekämpfungsplanes vom Juni 1992 hat das Coffeeshops nach niederländischem Vorbild einge- Bundeskabinett ergänzend die Einsetzung des Natio- richtet werden können? nalen Drogenrates beschlossen, damit er die Bundes- regierung in Fragen der Drogenpolitik auch unter Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen und Ich gehe davon aus. Erfordernisse berät. Der Nationale Drogenrat hat deshalb auf seiner Sitzung am 16. Dezember 1993 die Vizepräsident Hans Klein: Die zweite Zusatzfrage. Weiterentwicklung der Drogenpolitik in Deutschl and diskutiert und sein Votum zu Fragen des Umgangs mit (F.D.P.): Ist die Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink - illegalen Drogen abgegeben, das mit dem Beschluß Initiative des nordrhein-westfälischen Justizministers, des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmt. auch Heroin in einer bestimmten Menge freizugeben, Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts und durch das Verfassungsgerichtsurteil gedeckt? die Entwicklung in anderen europäischen Ländern haben die Bundesregierung darin bestärkt, daß die Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Verbote und die Strafvorschriften des Betäubungsmit- Ja, wobei es, wie Sie wissen, in der Diskussion sehr telgesetzes für den Umgang mit illegalen Drogen, und unterschiedliche Meinungen zur Frage der Menge zwar nicht nur mit Cannabisprodukten, geeignet und gibt. notwendig sind, um die Verbreitung illegaler Drogen in der Gesellschaft einzuschränken und die von ihnen Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen aus ausgehenden Gefahren im ganzen zu verringern. Die dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen? — Kollege Bundesregierung wird diese Erkenntnisse auch bei Lowack. der weiteren Umsetzung des Nationalen Rauschgift- bekämpfungsplanes berücksichtigen. Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatssekretä- rin, welche Konsequenzen wird die Bundesregierung Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Frau Kolle- aus den neuesten Erkenntnissen ziehen, daß man auf gin. Grund der Bestimmung des § 31 a des Betäubungsmit- telgesetzes neue Vertriebswege, den sogenannten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Frau Ameisenweg, entwickelt hat, auf dem immer nur Staatssekretärin, wie kommen Sie zu der Auffassung, kleine Mengen transportiert werden, in der Summe daß die Initiative des nordrhein-westfälischen Justiz- 19630 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink ministers gedeckt sei, wenn das Urteil des Bundesver- -den dort befindlichen Arbeitsplätzen in das EKO fassungsgerichts nur von weichen Drogen spricht und Konzept auf eine ungenügende Abstimmung mit dem nicht von harten? betroffenen Betriebsrat und der zuständigen Gewerk- schaft IG Metall schließen lassen. Parl. Staatssekretärin: Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion haben Frau Kollegin, nach dem Betäubungsmittelgesetz ist immer wieder gefordert, daß die Bet riebsräte und nicht ausgeschlossen, daß auch bei Rauschgift- und Gewerkschaften von Anfang an umfassend und kon- Heroinabhängigen das Prinzip Hilfe vor Strafe zutref- tinuierlich in den Privatisierungsprozeß einzubezie- fen kann. hen sind. Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Kollege Die Entwicklung des Privatisierungskonzepts der Lowack. EKO-Stahl AG und dessen Scheitern ist wiederum ein Beispiel dafür, daß nur durch die aktive Einbindung Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatssekretä- der Arbeitnehmervertreter die sozialen Anpassungs- rin, welchen Sinn gibt eigentlich die besondere Straf- prozesse besser begleitet werden können und ein verschärfungsvorschrift bei der Einfuhr von Betäu- notwendiger Arbeitsplatzabbau zu realisieren ist. bungsmitteln beispielsweise aus den Niederlanden, Meine Kritik in diesem Zusammenhang: Die Treu- wenn in der Zwischenzeit über den europäischen handanstalt hat es nicht nur versäumt, Herrn Riva die Binnenmarkt die eigentlichen Gründe für die Straf- ihm in seinem Land unbekannten Mitbestimmungs- verschärfung weggefallen sind? rechte der Betriebsräte und Gewerkschaften zu ver- deutlichen. Sie hat es auch versäumt, den Betriebsrat Parl. Staatssekretärin: Dr. Sabine Bergmann-Pohl, der EKO und die IG Metall rechtzeitig in eine ange- Mir ist nicht bekannt, daß die eigentlichen Gründe für messene Position als Partner bei den Verhandlungen die Strafverschärfung entfallen sind. Sie wissen, daß einzubeziehen. wir als Bundesregierung gemeinsam mit den anderen Regierungen alles tun wollen, um den illegalen Völlig unverständlich ist für mich noch ein weiterer

Rauschgifthandel zu unterdrücken bzw. nicht zuzu- Punkt: Warum bleibt der Riva - Rückzug ohne jede lassen. Konsequenz für den ausgestiegenen Investor? Warum hat die Treuhandanstalt keinen Vorvertrag abge- Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere schlossen, der beim Scheitern der Übernahme auch zu Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Konsequenzen für Herrn Riva geführt hätte? Der jetzt Fragestunde beendet, entstandene Schaden wird ausschließlich dem Be- schäftigten und dem Steuerzahler aufgebürdet. Dies Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: hätte die Treuhandanstalt, dies hätte die Bundesre- Aktuelle Stunde gierung vermeiden müssen. auf Verlangen der Fraktion der SPD Nun zu der für mich viel wichtigeren, entscheiden- Haltung der Bundesregierung zur Zukunft von deren Frage: Was wird aus EKO? Unsere Position ist EKO-Stahl und von Eisenhüttenstadt im Rah- eindeutig: Dieser Standort muß erhalten bleiben. Am men eines stahlpolitischen Gesamtkonzepts 15. Mai haben sich auf Einladung der Präsidentin der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Treuhandanstalt, Frau Breuel, alle Verantwortlichen Kollegen Manfred Hampel. zu einer gemeinsamen Beratung zusammengefun- den. Im Kern bestand Einvernehmen darüber, daß Manfred Hampel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr eine sichere Zukunft mit einem starken industriellen verehrten Damen und Herren! Ein fast dreijähriger Partner möglich ist, der die notwendigen Investitio- Verhandlungsmarathon, der mit der Ausschreibung nen im Rahmen der Regeln der Europäischen Union der EKO-Stahl AG im Dezember 1991 durch die mitträgt und sein Potential für die Vermarktung der Treuhand begonnen hat, sollte nun mit der Über- Produkte einbringt. nahme des Unternehmens durch den italienischen Wenn es jedoch der Treuhandanstalt nicht möglich Investor Riva abgeschlossen sein. Dem ostdeutschen sein sollte, dieses Unternehmen kurzfristig zu privati- Stahlstandort Eisenhüttenstadt sollte eine Zukunft sieren, so muß sie für die Übergangszeit ein tragfähi- bevorstehen, die nicht nur die Produktionsstätte, son- ges Konzept erarbeiten, das die laufende Produktion dern auch 2 300 Arbeitsplätze sichert. und die Geschäfte der EKO-Stahl AG unter Verant- Diese Privatisierung ist am 12. Mai endgültig wortung der Treuhandanstalt und somit das Fortbe- gescheitert, damit auch letztlich die vom Wirtschafts- stehen des Stahlstandortes sichert. Um die Chancen minister und von der Bundesregierung gefahrene einer längerfristigen Privatisierung zu verbessern, Stahlpolitik. Die Treuhandanstalt steht mit diesem muß die Treuhandanstalt dann auch weitere notwen- Unternehmen wieder da, wo sie angefangen hat. dige Investitionen vornehmen, um die technische Man muß sich nun die Frage stellen: Warum hat sich Lücke zwischen Stahlerzeugung und Kaltwalzwerk Riva zurückgezogen? Man muß sich auch die viel zu schließen. entscheidendere Frage stellen: Was wird aus EKO- Es ist bekannt, daß EKO ein unliebsamer Konkur- Stahl nun werden? rent der internationalen Stahlindustrie ist. Eine Stand- Zur ersten Frage möchte ich ausführen, daß die ortsicherung darf sich deshalb nicht zu der Schaffung offenen, nicht zu klärenden Punkte wie die Umset- einer verlängerten Werkbank degradieren. Ziel muß zung des Personalanpassungskonzepts sowie die Ein- es sein, in Ostdeutschland soviel an Stahlproduktion beziehung von ausgegliederten Unternehmen und zu erhalten, wie auf längere Sicht für diesen Teil Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19631

Manfred Hampel Deutschlands an Verbrauch und an Exportanteil zu es eigentlich jetzt darauf ankommt, schnell weiter zu erwarten ist. handeln — nur insofern interessant, wie sie hilft, Meine Damen und Herren, diesem Ziel sind wir alle Fehler, die bis dato gemacht worden sind, nicht verpflichtet. Auch wir Politiker tragen hier ein hohes wieder zu machen. So einfach, wie mein Vorredner Maß an Verantwortung. Lassen Sie uns diesem sich das gemacht hat mit der Schuldzuweisung für die gemeinsam gerecht werden. Treuhand und der Nichtinformation gegenüber Riva, Vielen Dank. kann es gar nicht sein; denn wir haben in Branden- burg andere Stahlstandorte, an denen Riva nachvoll- (Beifall bei der SPD) ziehbar erfolgreich arbeitet. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: So ist Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege es!) Ulrich Junghanns. Viel wichtiger ist deshalb auch für mich: Wir haben von Brüssel einen Beschlußrahmen, der klug und Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Herr Präsident! ohne Zeitverzug von der Treuhand mit dem Land und Meine sehr verehrten Damen und Herren! EKO-Stahl dem Unternehmen und mit der Unterstützung der AG in Eisenhüttenstadt — das scheint sich zur unend- Bundesregierung jetzt gefüllt werden muß. Grund- lichen Geschichte auszuwachsen. In der Tat: Im Auf lage und Maßstab ist dabei das von Brüssel geneh- und Ab und Hin und Her um dieses wichtige Unter- migte Unternehmenskonzept mit der Schließung der nehmen in den letzten drei Jahren haben wir wohl alle Warmbandlücke. Ich darf in Erinnerung rufen: Die schmerzlichen Probleme der notwendigen Umstruk- vom europäischen Stahlministerrat beauftragten bri- turierung ostdeutscher Stahlindustrie für ihre Inte- tischen Gutachter kamen im Juni vergangenen Jahres gration in den Wirtschaftsraum Europas durchleben zu dem Schluß — ich zitiere —: können und durchleben müssen. Dieses Konzept repräsentiert den einzigen Ich kann nachvollziehen, wenn sich auf diesem Weg lebensfähigen Weg, die Stahlindustrie in Eisen- der Wechselbäder zwischen Hoffnungen und Enttäu- hüttenstadt aufrechtzuerhalten. schungen die Stimmen unter den Stahlkochern und insbesondere unter den Eisenhüttenstädtern mehren, Um die Chancen für eine Zukunft der Stahlproduk- die von Resignation und auch von Kritik gezeichnet tion an der Oder zu wahren oder zu verbessern in sind. Man braucht da schon ein dickes Fell. dieser schwierigen Situation, ist jetzt aber zweierlei Völlig unverständlich ist für mich aber, daß der ausschlaggebend: Zum einen kann angesichts der Rückzug von Riva, wie übrigens schon der Rückzug hohen Verlustzahlen nicht einfach wie bisher weiter- von Krupp oder jeweils auch die Verhandlungsrück- gemacht werden. Es muß sofort und wirksam weiter- schläge in Brüssel, auf dem schweren Gang bis zum gehend die Kostensenkung bei EKO in Angriff heutigen Tag jedesmal von der Opposition zum Anlaß genommen werden. Damit natürlich verknüpft müs- genommen werden, um ein Scheitern der Stahlpolitik sen weitere konzertierte Hilfen für den jungen örtli- der Bundesregierung auszumachen oder anprangern chen Mittelstand und Neuansiedlungen auf den Weg zu wollen. Wenn es Ihnen hilft — na gut. In Eisenhüt- gebracht werden. Zum zweiten gilt es, für die unum- tenstadt und im Unternehmen selbst hilft es nieman- gängliche Privatisierung schnell einen soliden Part- dem, so mit dem Problem umzugehen. ner zu finden. Auch Sie kommen nicht an der Tatsache vorbei, daß Herr Vondran, ich habe, wie Sie wissen, auch in der die Bundesregierung, daß der Bundeswirtschaftsmi- vergangenen Zeit überhaupt keinen Hehl daraus nister in schweren Brüsseler Verhandlungsgängen gemacht, daß ein Einstieg der deutschen Stahlindu- und gegen alle Widerstände — selbst der deutschen strie ins EKO-Unternehmenskonzept, wie es von Stahlindustrie — in einer Stahlkrisensituation Krupp schon einmal als einzig richtig befunden (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Wir haben wurde, das Beste wäre. Für mich ist es nach wie vor ihn unterstützt in Brüssel!) keine vermessene, sondern eine berechtigte Erwar- tung, daß es doch einen Weg geben muß, angesichts -den europäischen Beistand für den Sonderfall EKO des drastischen Kapazitätsabbaus der Stahlindustrie Eisenhüttenstadt ausgehandelt hat. in den neuen Bundesländern und unter den jetzt eben (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Wir haben gegebenen europäischen Beistandsleistungen für ihn doch unterstützt!) EKO 900 000 Jahrestonnen Warmband mit ins Boot Immer, wenn es darauf ankam, haben die politisch der nationalen Stahlproduktion zu nehmen. Verantwortlichen in Bund, Land und Kommune — las- Diesen Appell, richte ich sowohl an die Unterneh- sen Sie mich doch ausreden — zusammengestanden. mer als auch an die Arbeitnehmervertreter und die Das Unternehmen in seiner ausschlaggebenden wirt- IG Metall in den Unternehmen der alten Bundeslän- schaftlichen und sozialen Bedeutung für unsere der. Die Situation gebietet jetzt einen neuen Anlauf. Grenzregion kann nicht schlechthin durch konkurrie- Wenn der Wille dazu da ist, gibt es auch Möglichkei- rende Interessenlagen an Rhein und Ruhr zur Dispo- ten, alle bisherigen Vorbehalte nochmals zu überden- sition gestellt werden, und es wird auch zukünftig ken. Sollte dieser Weg jedoch nicht wahr werden nicht zur Disposition gestellt werden. können, dann müssen vorbehaltlos und intelligent alle Meine Auffassung ist: Mit dem Ausstieg von Riva ist andersgearteten Privatisierungsmodelle — etwa ban- nicht zugleich das EKO-Konzept gescheitert. Die kengeführte Investorengruppen oder auch internatio- Suche nach Ursachen und Schuldigen für diesen nale Partnerschaften — wieder in Angriff genommen Bruch ist — weil jeder wohl einen Anteil daran hat und und zu einem Ergebnis geführt werden. 19632 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Rede- nicht an der Zeit, den Eisenhüttenstädtern Dinge zeit ist abgelaufen. wieder zu versprechen, die man nicht halten kann. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das ist Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Ich bin beim letzten wahr!) Satz. Ich meine, EKO verdient — wie „Die unendliche Es spricht sich nämlich herum, wie in Eisenhüttenstadt Geschichte" ihr Happy-End — unser gemeinsames mit Investoren umgegangen wird, ob sie willkommen Engagement für eine tragfähige Unternehmenszu- sind oder ob sie bekämpft werden. kunft. Sie fordern jetzt die Solidarität der deutschen Danke. Stahlindustrie. Was soll das? Ich erinnere mich, im (Beifall bei der CDU/CSU) November des vorigen Jahres hat der nordrhein- westfälische Landeswirtschaftsminister einen sehr Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem harschen Brief an den Bundeswirtschaftsminister Kollegen Jörg Ganschow. geschrieben, in dem steht, er solle das in Brüssel sein lassen, denn das gefährde die Arbeitsplätze in Nord- Jörg Ganschow (F.D.P.): Herr Präsident! Meine rhein-Westfalen. Also, wenn Sie nicht einmal inner- Damen und Herren! Vorweg: Ich wohne seit 1982 in halb ihrer Partei die Solidarität für Eisenhüttenstadt Eisenhüttenstadt und habe mehrere Jahre selbst bei haben, dann frage ich mich, wie das in der deutschen EKO gearbeitet. Ich weiß also auch, wovon ich da Stahlindustrie funktionieren soll. rede. Der Wunsch nach einem integrierten Stahlwerk ist Es geht nicht in erster Linie um die Frage: Was wird richtig, aber man muß auch die Frage nach der mit EKO? Es geht vielmehr um die Frage: Was wird mit Machbarkeit stellen. Der Wunsch darf nicht außer Eisenhüttenstadt? Denn diese Privatisierung ist jetzt acht lassen, daß besonders außerhalb von EKO und zum zweitenmal gescheitert. Es war die aufwendigste außerhalb vom Stahl endlich einmal etwas geschehen Privatisierung. muß. Mir will nicht in den Kopf, daß ein Arbeitsloser Eines muß ich zurückweisen, eines stimmt nicht, von EKO ein wertvollerer Arbeitsloser ist als einer aus nämlich daß dort Geheimverhandlungen stattgefun- dem Plattenwerk, aus dem Betonwerk oder anderswo- den haben und keiner informiert war. Ich war zwar her. Auch die Nicht-Stahlwerker wollen wieder Arbeit nicht in die Verhandlungen einbezogen, aber ich haben. Deswegen müssen wir vom Image Stahlkrisen- konnte jeden Tag jeder brandenburgischen Zeitung region hin zur Chancenregion kommen. Deshalb alles entnehmen. müssen wir vom Stahlstandort zum Wirtschaftsstand- ort hinkommen. Dabei scheint mir, daß es endlich an Schuldzuweisungen an Riva sind völlig fehl am der Zeit ist, daß Sie einige Dinge, die dort schon lange Platz. Es war ein langer Weg zu einem tragfähigen in Vorbereitung sind, wirklich einmal zu einer Chef- Konzept, und zwar durch die Zustimmung der EU. sache erklären, daß nicht Ihr Verkehrsminister in der Danach kamen ständig Querschüsse. Danach wurde Frage des Industrieparks Oderbrücke, in der Frage von der IG Metall verbreitet, Riva hätte das Geld gar der Straßenanbindung ständig gegenholzt und neue nicht. Dann stellte sich vor zwei Wochen auf der Gutachten braucht, obwohl bewiesen ist — durch außerordentlichen Betriebsversammlung der Arbeits- viele Gutachten, durch eine lange Studie der USW direktor hin und sagte: Riva hat das fachliche Know- und ähnliches —, daß es ohne diese Verkehrsanbin- how überhaupt nicht, um solch ein Werk zu führen. dung nicht geht. Der Hang des Vorstandes zur Privatisierung war von Anfang an äußerst gering, was vorrangig mit der Die Frage des Recyclingparks ist in der Priorität Person des stellvertretenden DDR-Ministers, ZK-Mit- umgedreht: Nicht der Recyclingpark ist Zulieferer für glieds usw. Dr. Döring zu tun hat. In Eisenhüttenstadt EKO, sondern EKO kann einer der Abnehmer des wurde nämlich alles nur noch darauf geprüft, ob es Recylingparks sein; dann würden nämlich viel mehr EKO nutzt und nicht mehr, ob es der Region oder der Leute dort auch Arbeit finden. Stadt nutzt. Man gefiel sich mit der Bezeichnung Nicht zuletzt die Fachhochschule! Wir müssen ver- „Stahlkrisenregion" statt einmal nachzudenken, wie hindern, daß die ganze Region intellektuell ausblutet, man daraus eine „Chancenregion" machen kann. daß alle jungen Leute losgehen. Aber es kann nicht 1990 sagten alle zur Wahl antretenden Parteien, die sein, daß ewig darüber gegrübelt wird, ob in dieser Monostruktur in der Wirtschaft do rt muß aufgebro- Gegend eine Fachhochschule sinnvoll wäre oder chen werden. Aber wer die Überlegung laut äußerte, nicht. Ich sage: Nicht versprechen, sondern endlich daß Eisenhüttenstadt mehr sein muß als EKO und handeln! Stahl, wurde niedergeschrien, beschimpft und be- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) droht. Herr Stolpe, Sie haben am 23. August des vorigen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Dagmar Jahres verkündet: Der Stahlstandort ist endgültig Enkelmann, Sie haben das Wort. gesichert. Ich habe daraufhin meine Zweifel angemel- det. Das war nämlich noch vor Brüssel. Da hatte ich Schreiben von Jacques Delors, , Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr von Karel Van Miert. Ich habe dann nachgefragt. Präsident! Meine Damen und Herren! Alle guten Reaktion war, daß ich durch den stellvertretenden Dinge sind drei. Wer aber wird in Eisenhüttenstadt der Regierungssprecher als Amokläufer beschimpft dritte sein? Ist die Bundesregierung überhaupt noch wurde. Jetzt geht es weiter. Es heißt, sofort einen ernsthaft am Erhalt der EKO interessiert? Minister Investor finden für Gesamt-EKO. Ich denke, es ist Rexrodt hat ein integriertes Hüttenwerk inzwischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19633

Dr. Dagmar Enkelmann abgeschrieben und Graf Lambsdorff sieht die EKO- deutsche Verantwortung nicht erwartet werden darf. Stahl AG den Bach hinuntergehen. Herr Graf, ich höre Bezeichnend nur, daß die Treuhandanstalt danach jetzt schon Ihre Vorwürfe gegen mich: 40 Jahre, und wie nach dem rettenden Strohhalm greift. Sie haben das doch alles hinterlassen. Aber warum müssen Stahlwerker dafür bluten, daß es in der DDR Lassen Sie mich auf einige gravierende Defizite des chronischen Devisenmangel gegeben hat und des- Umstrukturierungsprozesses hinweisen. Sollen die halb ein halbfertiges Werk blieb und deswegen heute Ziele des Weißbuchs der Europäischen Kommission Investitionen für eine Warmwalzstraße notwendig zu Beschäftigung und Wachstum ernsthaft umgesetzt sind? werden, ist eine Veränderung des ordnungspoliti- schen Rahmens, insbesondere der Rolle der öffentli- Seit fast vier Jahren findet ein Eiertanz um die chen Hand, zwingend erforderlich. Wir sind uns Zukunft des EKO statt und das auf dem Rücken der allerdings darüber im klaren, daß die gegenwärtige Beschäftigten. Regie führt die Treuhand. Beschlußlage der EU eine zeitweilige Führung der Meine Damen und Herren, die gescheiterte Privati- EKO-Stahl AG als Staatsunternehmen nahezu aus- sierung der EKO-Stahl AG macht aber auch schlagar- schließt. Eine Chance, wie sie z. B. Salzgitter bekom- tig die Komplexität und Kompliziertheit des Umstruk- men hat, das fast 40 Jahre als Staatsbetrieb existierte turierungsprozesses nicht nur in Brandenburg deut- und erst 1989 und immerhin mit einem Gewinn für den lich. Die Gruppe PDS/Linke Liste ist sicherlich vom Bundeshaushalt von 2,5 Milliarden DM für den Bund Verdacht frei, ein glühender Bewunderer der gegen- privatisiert wurde, ist heute unter den genannten wärtigen Regierungspolitik zu sein. Vielleicht können Rahmenbedingungen der EU nicht möglich. wir gerade deshalb eine Reihe von Sachverhalten (Zuruf des Abg. Dr. Otto Graf Lambsdorff vorurteilsfrei akzeptieren. [F.D.P.]) - Erstens. Der politische Wille zum Erhalt des EKO — Das müßte man sicherlich gegeneinander abwä- Standorts reichte und reicht quer durch alle politi- gen, aber ein Gewinn ist trotzdem noch herausgekom- schen Parteien und Organisationen des Landes Bran- men. denburg. Gleiches gilt aber offenkundig nicht für den Bund. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Nein! Ein Zweitens. Mit der bisherigen Entwicklung der EKO- Trauerspiel!) Stahl AG ist in Ostdeutschland eine der wenigen, Gerade deshalb liegt hier die große Verantwortung vielleicht die einzige standortbezogene Entwicklung der Bundesregierung, sich nachdrücklich für eine und Umstrukturierung einer Region eingeleitet wor- Änderung einzusetzen. den. Immerhin ist es hier gelungen, am industriellen Kern ein Verflechtungsnetz von mittelständischen Erneut erweist sich aber auch am Beispiel EKO, daß Unternehmen — Ausbau von bestehenden und Neu- eine alleinige Orientierung des Treuhandauftrags auf gründungen — mit ca. 2 000 Arbeitsplätzen zu gestal- Privatisierung sowie die Unterstellung unter das ten. Finanzministerium sanierungsbezogenen und regio- nal abgestimmten Entwicklungskonzeptionen wenig Drittens. Die Ostbeziehungen der EKO-Stahl AG Raum läßt. stellen eine positive Ausnahme im Rahmen der Wirt- schafts- und Sozialkontakte Ost-West, und das an der Wo liegen nach Auffassung der PDS/Linke Liste geographischen Grenze zwischen EU und Osteuropa, mögliche Lösungsvarianten? Wir fordern Sie auf, dar. diese ideologiefrei und im Interesse der Betroffenen gründlich zu prüfen. Erstens. Wir stimmen mit Ihnen Viertens. Die Bundesregierung hat — auch das wird darin überein, daß es um Neuverhandlung und wie- von uns durchaus anerkannt — im Rahmen der derholte Prüfung der Angebote und Absichten aller Brüsseler Verhandlungen darauf Einfluß genommen, ehemaligen potentiellen Interessenten an der EKO- daß öffentliche Subventionen für die Umstrukturie- Stahl AG ohne Reduzierung auf einen Partner geht. rung des Standorts genehmigt wurden. Wir hoffen, daß es gelingt, diese zu halten. Zweitens. Eine Beschränkung auf ernsthafte und potente Partner aus dem industriellen Bereich würde Meine Damen und Herren, der gesamte bisherige allerdings möglichen Optionen zur Entwicklung des Umstrukturierungsprozeß — ich denke, das muß hier Standorts zuwiderlaufen. Es ist dringend zu prüfen, ob deutlich gesagt werden — hat von Anfang an unter nicht beispielsweise Banken und Versicherungen im den Bedingungen eines sich ständig verschärfenden Rahmen ihrer definierten sozialen Verantwortlichkeit Konkurrenzkampfs der deutschen Stahlindustrie eine maßgebliche Rolle im Privatisierungs- und gegen diesen Standort gestanden. Die Vereinigung Umstrukturierungsprozeß spielen könnten. Das auch beider deutscher Staaten wurde offensichtlich im vor dem Hintergrund, daß im Gegensatz zur Metall- Rahmen der Entwicklung der deutschen Stahlindu- handelsgesellschaft oder dem Schneider-Impe rium strie durch den einseitigen Kapazitätsabbau Ost zu vor Ort in Eisenhüttenstadt die notwendige Kompe- einem Krisenmanagement für die Stahlindustrie West tenz zur Unternehmensführung gegeben ist. genutzt. Solidarität zwischen Ost und West auf einem der am härtesten umkämpfen Märkte ist nach wie vor Drittens. In der Entscheidungsfindung ist ebenso zu eine Illusion. Das unseriöse Angebot von Thyssen, überlegen, ob am Standort ansässige Unternehmen unter Beibehaltung der technologischen Lücke am den Kernbereich eines möglichen Übernahmekon- Standort und bei massivem Arbeitsplatzabbau die sortiums darstellen könnten. Nach unserer Kenntnis Produktion weiterzuführen, belegt nachdrücklich, spielten derartige Überlegungen, die, nebenbei daß von der deutschen Stahlindustrie eine gesamt- bemerkt, auch ein Bestandteil der oft postulierten 19634 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Dagmar Enkelmann Mittelstandspolitik wären, im unmittelbaren Vorfeld verwirklichen, zumal die Treuhand bisher MBO- der Entscheidung für Riva eine Rolle. Unternehmen nicht sonderlich unterstützt hat und Die PDS/Linke Liste ist sich sehr wohl darüber im viele ostdeutsche Existenzgründer momentan vor klaren, daß der Erhalt des Standorts eine parteiüber- dem Aus stehen. greifende Willensbildung erfordert. Aber EKO zeigt auch ein anderes trauriges Kapitel, das ich hier nicht verschweigen möchte: Ein Minister- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin — — präsident, der ständig um seinen eigenen Arbeitsplatz kämpfen muß, ist offensichtlich überfordert, auch noch für Arbeitsplätze im L and zu kämpfen. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Mein letzter Satz. — Trotz Wahlkampf 1994 sollten die (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Der kämpft Interessen und Belange der Menschen im Vorder- schon gut!) grund stehen. Daran ist die PDS/Linke Liste im Auch das kommt dabei heraus, wenn eine Staatskanz- Bundestag und im Landtag Brandenburg interes- lei, wenn die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mehr siert. mit der Imagepflege des Ministerpräsidenten be- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. schäftigt sind als mit der Standortwerbung des L an -des, Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ordnete Werner Schulz. NEN) wenn ein Ministerpräsident mehr an der Legendenbil- Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung arbeitet, als in die Geschichte einzugreifen. Ich NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir glaube, Herr Stolpe, die Stahlwerker von EKO werden könnten uns die Sache leichtmachen, wenn die Lage Ihnen dafür keinen Orden an die Brust heften. Die nicht so ernst wäre. Schließlich haben wir seit langem Zeiten sind wohl vorbei! davor gewarnt, unter allen Umständen zu privatisie- ren und andere Möglichkeiten der Sanierung schon Ich bin ganz gespannt auf die Protokolle des Ver- im voraus zu verwerfen. Schließlich haben wir vor waltungsrates, die vielleicht einmal das ans Licht dem nicht gerade seriösen Investor Riva bereits am bringen, was Sie als Ministerpräsident wirklich gelei- 6. Dezember 1991 gewarnt, als mein Kollege Weiß in stet haben, wenn Sie immer betonen, daß Sie die einer Aktuellen Stunde zum Standort Henningsdorf Interessen der Ostdeutschen so sehr vertreten. Sie geredet hat. stehen damit bei vielen im Wort, denen Sie Verspre- chen gegeben haben. Das, was wir bisher wissen, ist, (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Wollen daß der Verwaltungsrat die Tischvorlagen des Vor- Sie den auch noch hinausreden oder was?) standes sang- und klanglos passieren lassen und — Sie hätten lieber die Bonität prüfen sollen, Graf abgesegnet hat. Auch das werden wir uns noch zu Lambsdorff, als hier Zwischenrufe zu machen. Dann Gemüte führen dürfen. hätten wir uns bestimmt manches ersparen können. Aber interessant ist auch die Arbeitsteilung in der (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Nein!) SPD. Wir hätten hier eher Herrn Clement von der Schließlich haben wir von Anfang an gesagt, daß die Düsseldorfer Staatskanzlei hören sollen. Er nörgelt Fortsetzung der Monostruktur Stahl in der Region nämlich an dem ganzen Sanierungskonzept mit dem Eisenhüttenstadt der falsche Weg ist, daß ökologi- Argument herum, an der Ruhr gäbe es demnächst scher Strukturwandel auch hier und sofort in Angriff weitaus fortschrittlichere Technologien. genommen werden muß; aber wir haben auch den Willen der Region, den Willen der Belegschaft zur Was will er uns damit sagen? Daß es im Westen besser und moderner zugeht, daß die Ostbetriebe Erhaltung des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt zur- Kenntnis genommen, akzeptiert und dann auch mit- nicht gegen Westunternehmen konkurrieren können, EKO-Stahl besser gleich fallenlassen sollte getragen. daß man oder daß diese moderne Technologie besser in Eisen- Es reicht jetzt nicht aus, auf alten Fehlern herumzu- hüttenstadt eingeführt werden sollte? reiten. Jetzt muß es darum gehen, den 3 000 Stahlwer- kern eine neue Perspektive zu schaffen. Jetzt ist die Wenn man das generelle Treuhand-Konzept der Treuhand wieder in der Pflicht, ihren Worten Taten schnellen Hauruck-Privatisierung anschaut, dann folgen zu lassen. Ein neuer Investor muß gefunden wird klar, daß die Erfolgsaussichten im Stahlsektor werden, der das Werk in einen sinnvollen Zusammen- dabei äußerst gering sind. Was wäre wohl aus der hang einbinden kann. Bis dahin ist es an der Treu- westdeutschen Stahlindustrie, was wäre wohl aus hand, alles zu tun, um die angelaufene Sanierung Arbed Saarstahl geworden, wenn man mit ihnen so energisch voranzubringen. Ein scheibchenweises umgesprungen wäre wie jetzt mit Henningsdorf, Riesa Abwickeln von EKO-Stahl dürfen wir nicht zulas- und Eisenhüttenstadt? In Deutschland wird man nach sen. wie vor mit zweierlei Maß gemessen. Teilen ist in Deutschland eine unverbindliche Absichtserklä- Das Angebot der Belegschaft, das Stahlwerk in rung. eigener Regie weiterzuführen, mag auf den ersten Blick als Ausweg erscheinen; aber es ist wohl mehr ein Meine Damen und Herren! Es ist auch ein schlech- Akt der Verzweiflung. Ob es uns paßt oder nicht: Ohne ter Witz, daß Minister Rexrodt rund 10 Milliarden einen starken Investor, der Marktnähe, Kapital und Stahlsubventionen für Spanien und Italien zuge- einen leistungsstarken Konzernverbund mitbringt, ist stimmt hat und die vergleichsweise geringfügigen ein dauerhaft tragfähiges Konzept für EKO nicht zu 800 Millionen für EKO jetzt in den Sternen stehen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19635

Werner Schulz (Berlin) sollen. Jetzt zeigen plötzlich alle Be troffenen außer schon sagen dürfen. Es gibt da eine Gemengelage; das Emilio Riva große Einigkeit, und vor allem die Treu- gebe ich zu. Ich gebe auch zu — ich habe das sehr hand demonstriert Zuversicht, sieht jetzt wieder alle genau beobachtet —, daß Herr Riva sicherlich eine Optionen offen. Reihe von Ungeschicklichkeiten begangen hat und Wir werden Sie nicht an Ihren Hoffnungen messen, daß er möglicherweise — ich weiß es nicht, aber es sondern an Ihren Taten. Vor allem die Bundesregie- spricht einiges dafür — andere betriebliche Prioritäten rung und die Treuhand stehen jetzt in der Pflicht. in Italien gesehen hat. Faktum aber ist auch — das ist Bisher war der Erhalt industrieller Kerne nur Gerede. nicht etwas, was mir von Dritten vermittelt worden ist, Jetzt gilt es tatsächlich einmal, einen industriellen sondern was ich in Eisenhüttenstadt selbst habe Kern zu erhalten. Ich bin gespannt, wie Sie sich dafür glaubhaft studieren können und im Gespräch mit den einsetzen. Rivas gemerkt habe —: Die Atmosphäre der Feind- schaft und Aggression, die ihm von maßgeblichen (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Leuten in Eisenhüttenstadt entgegengebracht worden NEN) ist, war maßgeblich mit dafür verantwortlich, daß Riva aus dem Vertrag ausgestiegen ist, daß er das H and- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- tuch geschmissen hat. Das dürfen wir nicht vergessen minister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das machen, meine Damen und Herren. Wort. Wer hat in Eisenhüttenstadt mitgespielt? Das sind Teile des Vorstands — vornehmlich ein ganz bewuß- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: ter Herr —, Teile des Aufsichtsrats und Teile des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sind Betriebsrats — das Ganze —ich habe es selbst gespürt die Fakten? Da wird ein Vorzeige- und Prestigebetrieb — in mehreren Veranstaltungen. Es war eine Atmo- der ehemaligen DDR, in wesentlichen Teilen unvoll- sphäre von Ablehnung, von Skepsis und von Desavou- endet, als industrieller Kern mit Steuermitteln über ierung. Daß es der Mann hingeschmissen hat, ist für mehr als vier Jahre am Leben gehalten. Da wird mich kein Wunder, aber ein Unglück. intensiv nach Privatisierungslösungen gesucht, in Deutschland und weltweit. Da wird klug und zäh Meine Damen und Herren, mit Riva wäre ein verhandelt. Dann wird letztlich ein Investor gefunden Konzept eines integrierten Stahlwerkes mit Eisen und und ein Vertrag gemacht. Dann wird in Brüssel, gegen Stahl, mit einer neuen Warmwalzstufe und dem Kalt- Widerstände aus Deutschl and, Dänemark, Großbri- walzwerk verwirklicht worden. Riva als Investor tannien und anderswoher, über Monate in Nachtsit- — das wird uns in der Zukunft noch beschäftigen — zungen um Fördermodelle gerungen. Dann haben wir wäre in der Lage gewesen, die Stillegung zu erbrin- eine Lösung und glauben, das Problem sei damit gen, die notwendig ist, um den Segen von Brüssel für beseitigt. Dann springt der Investor ab — aus verschie- die vielen Millionen Subventionen zu bekommen. denen Gründen, maßgeblich aber aus solchen, die aus Ich möchte von hier aus, meine Damen und Herren, dem Widerstand gegen sein Konzept, das auch von mit allem Nachdruck für die Bundesregierung erklä- der Bundesregierung getragen wurde, resultieren. ren, daß wir weiter im Interesse der Region und der Dann stellt man sich hin, stempelt die Bundesregie- Menschen an Lösungen arbeiten und daß unsere rung ab und sagt, daß sie die Schuld für das Scheitern allererste Priorität nach wie vor ein integriertes Stahl- der Privatisierung von EKO trage. Dies wird, wie ich werk mit Warmwalzwerk und mit Kaltwalzwerk ist. meine, in dem Wissen getan, daß es anders war. Den Das hat unsere Priorität. Ich sage das ohne Wenn und Menschen in der Region und der Bundesregierung ist Aber. Wir wünschen uns und suchen einen solchen gleichermaßen ein Tort angetan worden, und zwar, Investor. wie ich sagte, aus den verschiedensten Gründen. Ich Wenn ich in einem Nebensatz hinzufüge, daß werde das noch erläutern. unsere Karten nicht gut sind und die Ausgangslage Da werden Dolchstoßlegenden geschmiedet: Herr schlechter geworden ist, dann stellt das in keiner Clement gibt sich dafür her, Riva einen Masterplan zu Weise die Ernsthaftigkeit, mit der wir an dem interes- unterstellen, nach dem er EKO vernichten und die siert sind, was ich soeben geschildert habe, in Abrede. Stahlindustrie in Deutschland, gerade in dieser Ich habe Zweifel, daß uns das gelingt. Aber wir Region, besonders schädigen wollte. Wie soll man das werden mit Nachdruck daran arbeiten, und es hat Verhalten der nordrhein-westfälischen Landesregie- unsere Priorität. rung begreifen, die sich in ihrer Position, was EKO angeht, immer in der Nähe der nordrhein-westfäli- Da es schwer wird und da auch andere das wissen, schen Stahlindustrie bewegt hat. Und die hat aus aber nicht zugeben, werden schon wieder die Stim- Gründen, die wir alle nachvollziehen können, gar men laut, die am liebsten den Traum des Herrn nichts davon gehalten, daß in Eisenhüttenstadt ein Dr. Döring verwirklichen würden, nämlich ein Stahl- integrierter Stahlstandort entsteht oder erhalten wird. werk in Staatsbesitz möglichst auf Dauer, ein Platz für Ich verstehe das nicht. Ich halte das für unfair. Ich halte ihn und seine Mannen und die Warmwalzstufe mit das für Polemik, die den Menschen in der Region Steuermitteln finanziert. So denkt m an sich das. So schadet und ihre Hoffnungen zunichte macht. glaubt man etwas für die Menschen und die Region zu tun. Ich frage mich, für wen man da etwas tut. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Hört! Es hat im übrigen keinen Zweck, die Ursachen im Hört!) Detail aufzubereiten, die dazu geführt haben, daß Ich erkläre für die Bundesregierung, daß wir von Riva abgesprungen ist. Die Wahrheit aber wird man staatlicher Seite bereit sind, Übergangslösungen und 19636 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Mischformen zu finden und uns Zeit zu nehmen, um Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Mi- eine sinnvolle Lösung im Interesse der Menschen zu nisterpräsident des Landes Brandenburg, Dr. Manfred ermöglichen. Aber ich erkläre genauso, daß ein Stolpe. Staatsbetrieb auf Dauer, der im übrigen von nur wenigen gewollt wird, jeden Tag Verluste machend, Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe (Branden- nicht in Betracht kommen kann. Das wäre ein Verzicht burg): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! auf die Umstrukturierung der Region. Das wäre für die 700 km von hier, im äußersten Osten Deutschlands, Menschen, die dort leben, mittel- und langfristig muß sich jetzt deutsche Einheit bewähren. Die Hoffnungslosigkeit. Zukunft einer ganzen Region ist in Gefahr. Ost- Wir brauchen einen Investor. Das Herangehen an deutschland schaut auf das EKO, schaut auch auf die Suche des Investors soll von der Bundesregierung dieses Haus, schaut auf die Bundesrepublik Deutsch- sehr flexibel und sehr modifiziert begleitet werden. land. Werden wir in der Lage sein, den wirtschaftli- Das ist unsere Position. Wer irgendwelche Pamphlete chen Systemwechsel vom Plan zum Markt an dem vorliest und der Bundesregierung unterstellen wi ll, sie klassischen Exempel Eisenhüttenstadt zu bewälti- habe nie ernsthaft Interesse an EKO-Stahl gehabt, der gen? sagt wissentlich die Wahrheit. Denn EKO Eisenhüttenstadt ist eine Retortenstadt, (Lachen bei der SPD) nur für ein Werk gebaut. Gigantomanie und Mono- struktur sind hier in krassester Form anzutreffen — — Die Unwahrheit. — Daran können Sie sich aufhän- eine extrem schwere Umgestaltungsaufgabe, die den- gen! noch seit fast vier Jahren von allen Beteiligten ent- Das ist ein solcher Quatsch und ein solcher schlossen angegangen wird. Belegschaft, Betriebsrat Unsinn. und Gewerkschaften haben im Interesse der Wettbe- werbsfähigkeit einen Personalabbau von 11 000 auf (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 3 000 Mitarbeiter mitgetragen. Ihre Verbundenheit Die Bundesregierung hat mit der Treuhandanstalt in mit dem Werk, ihre Geduld und ihre Belastbarkeit Brüssel und anderswo mit Nachdruck für das Konzept sind bewundernswürdig und verdienen unsere Aner- gekämpft. Das Konzept ist kaputtgemacht worden, zu kennung. einem Gutteil von jenen, die gegen die Bundesregie- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der rung und ihre Konzeption waren. Deshalb darf die PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der Schuld nicht bei uns, sondern sie muß da abgegeben CDU/CSU) rt. Aber es kommt auf die werden, wo sie hingehö Diese Menschen sind bereit, zur Erhaltung des Stand- Zukunft an; das ist das Entscheidende. ortes weiter Opfer zu bringen. Wenn dann noch gesagt wird, die Bundesregierung Die Landesregierung hat die Region Eisenhütten- habe versagt, als es darum ging, ein stahlpolitisches stadt zum Entwicklungsschwerpunkt gemacht. Viele Konzept vorzulegen, dann sage ich Ihnen: Das stahl- Maßnahmen sind nötig, viele auch schon eingeleitet. politische Konzept kann begleitet werden und wird Die ganze Region muß umstrukturiert werden. EKO begleitet von der Bundesregierung; es muß aber von muß als industrieller Mittelpunkt erhalten bleiben. der Industrie erarbeitet werden. Ausgliederungen werden gefördert, Existenzgründer (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Richtig!) aus der Region werden umfassend unterstützt. Mit Arbeitsförderungsprojekten wird Arbeit statt Arbeits- Sie ist dafür verantwortlich, daß dieses Konzept bis losigkeit finanziert. Wir träumen nicht von Unerreich- heute noch nicht vorliegt. Sie muß an diesem Konzept barem, sondern betreiben das Machbare. ganz konsequent arbeiten. Wenn wir es begleiten wollen, dann in dem Sinne, daß wir uns dafür einset- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zen, daß die Maßnahmen zugunsten der deutschen Mittlerweile sind im direkten Umfeld schon 1 700 Industrie in Brüssel nachhaltig unterstützt werden. Arbeitsplätze entstanden — nicht geplant, entstan- EKO hätte aus Sicht der Bundesregierung in diesem den! Doch alles, meine Damen und Herren, hängt am Konzept einen guten Platz gehabt — mit Riva. EKO Kern, nämlich am Stahlwerk. Deshalb gilt heute und wird einen Platz auch mit einem anderen Investor für mindestens die nächsten zehn Jahre: Stirbt der haben. Dafür treten wir ein, und ich sage Ihnen: wenn Stahl, stirbt die Stadt. Wir wollen für die ganze mittlere es ein sinnvolles Konzept ist, mit großem Nach- Oder-Region ein zukunftssicheres Stahlwerk, ein integriertes Stahlwerk mit Warmwalzstufe. Alle Hoff- druck. nungen hängen daran. Wir stehen zu den Menschen, und wir stehen zu Wir haben es als aktive Aufbauhilfe Ost empfunden, dieser Region. Wir haben das in der Vergangenheit daß dieses Vorhaben auch von der Bundesregierung getan und werden das auch in der Zukunft tun. Sie, und der Europäischen Kommission unterstützt wurde. meine Damen und Herren, die Sie mit schnellen In Eisenhüttenstadt ist nicht vergessen, daß sich Schuldzuweisungen an die Adresse der Bundesregie- Kanzler Kohl, Bundesminister Rexrodt, Präsident rung kommen, sollten diese Schuldzuweisungen bei Delors und Kommissar van Miert zur Zukunftssiche- Leuten abgeben, die Ihnen viel näher stehen, und rung des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt bekannt nicht bei denen, die für die Menschen in dieser Region haben. Jetzt wird dort Glaubwürdigkeit geprüft. Mit gekämpft haben. Entsetzen erleben unsere Menschen, wie schnell (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — mancher die Flinte ins Korn wirft, von kleinsten Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Bei den Lösungen redet und schon das Ende einer ganzen Betriebsräten, Herr Rexrodt?) Region prophezeit. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19637

Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe (Brandenburg) Ich appelliere eindringlich an die Bundesregierung, Nachdem sich Riva überraschend und endgültig ihre Bemühungen fortzusetzen, und bin dankbar für zurückgezogen hat, ist eine der größten Privatisierun- die zwei Sätze, die Sie zum Schluß sagten, Herr gen der Treuhandanstalt gescheitert. Die Treuhand- Minister: Der Bund ist über die Treuhandanstalt anstalt hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren Eigentümer des Stahlwerks Eisenhüttenstadt, rund 2 Milliarden DM für EKO-Stahl aufgewendet. (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Darin enthalten sind Eigenkapitalhilfen, Entschul- dungen von Altkrediten, Verlustausgleich und Mittel und der Eigentümer steht in der Pflicht. Von der für Investitionen. Treuhandanstalt erwarten wir, daß die Sicherung und Sanierung des industriellen Kerns EKO fortgesetzt Schuldzuweisungen über den derzeitigen Zustand wird. bewirken nun nichts mehr. Die Suche nach den Wir unterstützen die Privatisierungsbemühungen; Gründen für das Scheitern der Privatisierung bleibt denn Privatisierung ist in der Regel der beste Weg zur letztendlich Spekulation. Entscheidend ist allein der Wettbewerbsfähigkeit. Doch die Frage darf nicht Blick in die Zukunft, der Blick nach vorn. Der vor uns heißen: Privatisierung oder Abwicklung? Selbst wenn liegende Scherbenhaufen muß geräumt werden. sich kein Erwerber finden sollte, bleibt der Bund in Allein das Prinzip Hoffnung genügt nicht; dies wissen seiner Eigentümerverantwortung. Wir haben kein alle Beteiligten. Verständnis dafür, daß das Staatseigentum an EKO in Es gilt, Eisenhüttenstadt als exponierten Stahl- manchen Äußerungen der letzten Tage weit zurück- standort in Deutschland zu erhalten. Eine industrielle gewiesen wurde. EKO ist Bundeseigentum und muß Alternativlösung kommt angesichts der Monostruktur es bis zu einer besseren Lösung bleiben. in Eisenhüttenstadt nicht in Betracht. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag- Die Chancen, die durch das Unternehmenskonzept, mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) die Finanzierung und das Investitionskonzept sowie Meine Damen und Herren, Riva hat sich anders die Bewilligung der Mittel von Brüssel gegeben sind, entschieden. Das hat Ursachen, die in Italien liegen, müssen genutzt werden. Auch die deutsche Stahlwirt- und Anlässe, die in Deutschl and lagen. Doch auch schaft ist jetzt aufgefordert, ihrer gesamtdeutschen ohne Riva muß und wird EKO weiterleben. Wir stehen Verpflichtung endlich nachzukommen. Angestrebt vor der nationalen Herausforderung, EKO nicht zu werden muß, daß nicht nur die Fortführung des einem Schrotthaufen zu zerreden, sondern es zu EKO-Stahlwalzwerks Gegenstand der Priviatisierung einem wettbewerbsfähigen industriellen Ke rn zu wird. Angestrebt werden muß weiterhin, ein integrier- gestalten. Der Italiener hat sich für Italien entschie- tes Stahlkonzept zu realisieren. In Betracht kommt den. Wir erwarten die Entscheidung der Deutschen für nicht, EKO als Staatsbetrieb zu erhalten. Ich glaube, die deutsche Region Eisenhüttenstadt. Wir appellie- dies wäre für die neuen Bundesländer wirtschaftspo- ren an die deutsche Stahlindustrie, EKO nicht als litisch das falsche Signal. Störer, sondern als Partner der deutschen Stahlfamilie zu behandeln. Die Menschen am Stahlstandort Eisen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hüttenstadt müssen erfahren, daß sie in Deutschland Wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß Platz und Perspektive haben. die Zeit drängt. Die Europäische Union wird den Die brandenburgische Landesregierung wird alles Status quo in Eisenhüttenstadt nicht unbef ristet lange in ihren Kräften Stehende tun. Aber wir brauchen die hinnehmen. Auch für die Menschen in der Region, die Hilfe der deutschen Politiker und der deutschen nun um ihren Arbeitsplatz bangen, deren Zukunft Stahlindustrie für Eisenhüttenstadt. Machen Sie mit ungewiß ist, müssen alle Kräfte mobilisiert werden, EKO eine wirklich gesamtdeutsche Stahlpolitik! Prü- möglichst bald einen neuen Investor zu finden. fen Sie die Möglichkeit eines Konsortiums der deut- schen Stahlindustrie mit Eisenhüttenstadt! Nutzen Sie EKO-Stahl hat durchaus eine Zukunft. Noch mehr die besonderen Chancen einer gewachsenen und als zuvor sind jedoch massiver Einsatz, wirtschaftli- erhalten gebliebenen Zusammenarbeit mit Osteuropa cher Sachverstand, aber auch Kreativität und die in Eisenhüttenstadt. Wir müssen gemeinsam gerade Bereitschaft, neue Wege zu gehen, das Gebot der an diesem Standort ein überzeugendes Modell des Stunde. Systemwechsels vom Plan zum Markt schaffen. Wir Ein letztes Wort sei mir noch an die Mitglieder der müssen ein Signal gelungener Einheit geben. SPD-Fraktion gestattet. Es ist nicht die Aufgabe von (Beifall bei der SPD) Bundesregierung oder Parlament, ein stahlpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Marktwirtschaft heißt, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Her- daß solche Konzepte von Unternehmen zu gestalten mann Pohler, Sie haben das Wort. sind. Aufgabe der Politik ist es, den gesamtwirtschaft- lichen Rahmen hierfür zu schaffen. Einen solchen, im europäischen Konsens gestalteten Rahmen gibt es. Dr. Hermann Pohler (CDU/CSU): Herr Präsident! Der Bundesregierung und der Treuhandanstalt ist für Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über die die bisherigen Bemühungen zur Privatisierung von Zukunft der EKO-Stahl AG in Eisenhüttenstadt debat- EKO-Stahl durchaus Respekt zu zollen. tieren, sprechen wir über ein Unternehmen, das zu dem Bereich des sogenannten industriellen Kerns Es ist gut, daß Einvernehmen darüber besteht, eine zählt. Eisenhüttenstadt sollte als Stahlstandort nicht sichere Zukunft für EKO-Stahl nur mit einem starken nur erhalten, sondern modernisiert und ausgebaut industriellen Partner ermöglichen zu können. Dieser werden. Mit dem Konzept der Riva-Gruppe wäre dies muß die notwendigen Investitionen im Rahmen der ohne Zweifel gelungen. Regeln der Europäischen Union mittragén und sein 19638 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Hermann Pohler Potential für die Vermarktung der Produkte einbrin- Ihr Wirtschaftsminister in Düsseldorf war derjenige, gen. der Herrn Rexrodt kritisiert hat und ihm Schwierigkei- Das Ziel ist hochgesteckt. Wünschen wir uns ten gemacht hat. Also, spielen Sie nicht mit gezinkten gemeinsam, daß alle Beteiligten recht rasch zu einem Karten. Die eine spielen Sie in Eisenhüttenstadt und guten Erfolg kommen. die andere in Düsseldorf aus. So geht es nicht. Danke schön. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Wolfgang Weiermann [SPD]: Herr Lambs (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dorff, wir sprechen immer offen!) Ich halte es auch für falsch, daß wir Herrn Riva als nicht seriös bezeichnen. Herr Schulz, wollen Sie ihn Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff. auch in Henningsdorf noch aus dem Lande jagen? Was denken Sie überhaupt, wie wir mit Investoren umzu- gehen haben, die in die fünf neuen Bundesländer kommen, wenn sie so behandelt werden, wie das hier Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! geschehen ist? Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist offenbar üblich, zu sagen: M an darf nicht nach den Die Frage „Was wird aus EKO?" ist wohl sehr Verantwortlichen suchen. Ich meine, daß zwei Sätze berechtigt. Das betrifft aber bitte nicht nur Stahl; das dazu sehr wohl notwendig sind. Sonst passiert nämlich ist hier auch erwähnt worden. Herr Ganschow hat es genau dasselbe noch einmal, was mit EKO-Stahl in erwähnt, und er hat völlig recht. Auch Sie, Herr Stolpe, Eisenhüttenstadt geschehen ist. haben von 1 700 neuen Arbeitsplätzen gesprochen; das stimmt. Aber wir wissen doch wohl alle: Wenn es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) um die Zusammenarbeit in einem anderen Bereich als Die Feindseligkeiten, die es mit dem Investor Riva, einem integrierten Hüttenwerk geht, können Sie nie der in Henningsdorf ein erfolgreicher und mit Ihnen im Leben mehr die 2 300 Arbeitsplätze erhalten, die es gut zusammenarbeitender Investor geworden ist, jetzt noch gibt. Dann sind es bestenfalls noch 1 000 bis gegeben hat, sind dort vom Bet riebsrat, von der IG 1 300. Metall Aber man darf seine berechtigten Zweifel ja nicht (Wolfgang Weiermann [SPD]: Das ist doch aussprechen. Man muß den Leuten vormachen, am nicht wahr!) Horizont sei alles wunderschön und rosarot. Spricht und von dem Vorstandssprecher, der der frühere man seine Zweifel aus, Herr Ministerpräsident — da Kombinatsdirektor war, ausgelöst worden. Daß der sitzt Ihr verehrter Pressesprecher; er war eben weg; er gerne eine staatliche Lösung weiterhin haben will, mußte Ihre Erklärung verbreiten; aber er ist wieder- Herr Thierse, braucht einen nicht zu wundern. gekommen —, (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ablösen!) (Heiterkeit) — Herr Vogel, das erinnert mich alles lebhaft an die dann heißt es, man äußere sich unverantwortlich. Situation der AEG, als sich 1980 ein großer englischer Nein, unverantwortlich haben sich die verhalten, die Konzern zur Zusammenarbeit mit der AEG in Frank- Riva weggejagt haben, und unverantwortlich verhal- furt zusammenfinden wollte und nach einem ten sich die, die immer noch Illusionen erwecken und Gespräch mit den zuständigen Herren der IG Metall die Realitäten nicht auf den Tisch legen. erklärte: So nicht; wir fahren nach Hause; unsere Was heißt es denn, wir sollten die Genehmigungen, Zusammenarbeitsabsichten sind beendet. die in Brüssel gegeben worden sind, nutzen? Die sind Offensichtlich hat m an in Eisenhüttenstadt nicht verfallen, die sind für das Riva-Projekt gegeben wor- den. Für neue Subventionen brauchen Sie eine neue gesehen, daß dieses für längere Zeit, wenn nicht für- lange Zeit, die letzte Chance war, dort ein integriertes Genehmigung, und Sie müssen jemanden finden, der Stahlwerk auf die Beine zu bringen. Ich finde das alles eine Kapazität von 900 000 t Stahl stillegt. Wollen Sie sehr schön, daß wir uns bemühen wollen. Wir unter- einmal sagen, wo Sie den auftreiben? stützen die Bemühungen und die Anstrengungen der Ich sage noch einmal: Wir unterstützen alles. Hans Bundesregierung und der Treuhandanstalt. Apel ist ein tüchtiger Mann, und ich hätte ihn sofort als Aber, Herr Ministerpräsident, auch Ihre Rede hat 21. Mann akzeptiert, weil ich ihn lange genug kenne. doch wieder nicht die berechtigten Zweifel, die wir Aber kann man nicht verstehen, daß ein ausländischer alle haben und die wir nicht aussprechen, zum Aus- Investor beim 21. Mann, einem Deutschen, einem druck gebracht: Dies wird so bald nicht gelingen. Wer, Sozialdemokraten, der den Gewerkschaften nahe- glauben Sie, wird denn ein Warmwalzwerk dort steht, Probleme sieht und sagt, da holen wir jemanden bauen? Wer soll denn ein Interesse daran haben? aus einem anderen Land — nicht einen Italiener; er hat Sie fordern die westdeutsche Stahlindustrie auf. von Belgien oder Luxemburg gesprochen —, um Hans Verehrte Kollegen von der SPD, Herrn Rexrodt haben Apel zu ersetzen? wir in seinem Kampf nicht nur in Brüssel, sondern Als das losging, Herr Stolpe, habe ich vermißt, daß auch gegen die NRW-Landesregierung unterstützt, Sie aktiv geworden sind. Denn da zeichnete sich ab, die der westdeutschen Stahlindustrie dabei half, was am Ende passieren würde. nichts für EKO-Stahl zu tun und alles zu verhin- Sie haben gesagt: Wir wollen vom Plan zum Markt; dern. aber auch EKO muß Staatseigentum bleiben. Meine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Damen und Herren, EKO kann nur so lange Staatsei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19639

Dr. Otto Graf Lambsdorff gentum bleiben, bis die Untersagungsverfügung aus Besonders möchte ich mich in diesem Fall an Herrn Brüssel auf den Tisch des Bundeswirtschaftsministers Ganschow wenden. Er ist ja Eisenhüttenstädter. Was kommt, weil jeden Monat Verlustübernahmen ge- hat er denn getan, um diese Seilschaften zu entfernen? zahlt werden müssen. Das wissen wir doch. Wir Was hat Herr Rexrodt getan, als er damals noch bei der hängen in bezug auf Brüssel an einem seidenen Treuhandanstalt war? Das ist hier doch die Frage. Faden, auch beim bisherigen und gegenwärtigen (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Zustand. Eingestellt und bezahlt!) Wollen Sie eine zweite Auflage Salzgitter haben? Das ist eine Milchmädchenrechnung! Frau Enkel- Die Antwort, wer hier die Schuld trägt, müssen sich die mann, wenn Sie glauben, daß das 2,5 Milliarden für Bürgerinnen und Bürger selbst geben. den Bund erbracht hätte: Die zweite Auflage jenes Aber zurück zum Vertrag: War dieser Vertrag das Trauerdramas, das wir, Herr Urbaniak, mit Salzgitter Papier wert, auf dem er geschrieben wurde? Diese erlebt haben, will ja doch wohl keiner haben. Frage müssen wir uns stellen, wenn fünf Minuten nach Seien wir bitte realistisch; bemühen wir uns, aber zwölf der potentielle und von der Treuhandanstalt und machen wir den Menschen nicht vor, wir hätten die allen anderen Beteiligten vorgesehene Investor aus Patentrezepte in der Tasche, mit denen wir das seiner bisherigen Zustimmung eine Ablehnung Stahlproblem Eisenhüttenstadt, möglichst auch noch macht. über Nacht und ohne Subventionen und alles mit Ich erinnere daran, daß ich mich von dieser Stelle Schlagworten wie „vom Plan zum Markt" lösen könn- beim Wirtschaftsminister Rexrodt für seinen Einsatz ten. um den Standort Eisenhüttenstadt bei den Verhand- Ich bin für „vom Plan zum Markt", Herr Minister- lungen in Brüssel bedankt habe. Dies gilt auch heute präsident — das wissen Sie ganz genau —, aber ich bin noch. Doch jetzt wird klar, daß der besondere nicht dafür, den Menschen dort irgend etwas vorzu- Zuschnitt der ausgehandelten Quoten und Investi- machen. Ich habe am Hochofen bei EKO-Stahl gestan- tionsbeihilfen nur auf einen Investor die nicht richtige den und habe mir die Situation angesehen. Es ist Vorgehensweise war. Im weiteren möchte ich hier an verheerend, wenn dieses Unternehmen nicht weiter- die von der SPD geforderte Stahlkonferenz erinnern. arbeiten kann. Es ist für die ganze Region verhee- Sie scheint mir wichtiger denn je. Wir müssen uns rend. endlich Klarheit verschaffen, mit welchen Prioritäten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wir diesbezüglich vorgehen wollen. An dieser Stelle möchte ich auf die prekäre Arbeits- marktsituation in Ostdeutschland hinweisen. Die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Herbert Meißner, Sie haben das Wort. Nettoarbeitslosigkeit von über 30 % spricht Bände. Von ehemals 12 000 Mitarbeitern bei EKO sollen 2 300 zunächst erhalten bleiben, dies aber nur, wenn Herbert Meißner (SPD): Herr Präsident! Meine lie- bei EKO ein Warmwalzverfahren oder, noch besser, ben Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten das neueste Dünnbrammverfahren installiert wird. Male diskutieren wir hier über die ostdeutsche Proble- Doch sollte in Eisenhüttenstadt nur die Minimallö- matik, die im Zusammenhang mit der Treuhandan- sung mit dem Erhalt des gerade mit Steuergeldern stalt steht. Die Bundesregierung hat es mit ihrer modernisierten Kaltwalzwerks möglich sein, dann Treuhandpolitik wieder einmal verstanden, in Nega- bleiben von den 12 000 doch nur noch 900 Arbeits- tivschlagzeilen zu kommen, und das Fiasko, das wir plätze übrig. heute bezüglich des Investors Riva bei EKO behan- deln, belegt es ein erneutes Mal. Die Kommentatoren (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: So ist haben ein ergiebiges Thema gefunden; gleichfalls es!) werden Wertungen und Schuldzuweisungen ausge- — Ja, so ist es. Das ist besonders bedauerlich für die sprochen, Schuldzuweisungen einer besonderen Betroffenen, Herr Graf Lambsdorff. Art. Nationalistische Tendenzen der Bürgerinnen und hat keine leichte Aufgabe übernommen. Bürger von Eisenhüttenstadt oder die ablehnende Es müssen alle Möglichkeiten zur Rettung der ost- Haltung des Betriebsrates und der Belegschaft der deutschen Produktionsbereiche ausgelotet werden. EKO gegen die ausländischen Investoren sind schuld Wenn ich hier und heute an die Entwicklungsge- daran, daß Emilio Riva den besonders auf ihn zuge- schichte der Bundesrepublik Deutschland erinnere, schnittenen Vertrag nicht unterschrieben hat. Diese denke ich nur an Salzgitter — wir haben soeben davon eigentlich ungeheuerlichen Vorgänge sind keine Ein- gesprochen — und an Saarstahl. Diese Gedanken zelfälle. Wir haben gerade vor einer guten Stunde hier müssen in dieser schweren Zeit ganz einfach möglich im Hause ähnliches behandelt. sein. Eine Konsortiallösung und ein weiterhin Neueste Meldungen zu alten Seilschaften aus den gesamtstaatliches Sanierungskonzept für eine nach staatstragenden Personenkreisen der SED in der Vor- oben möglicherweise offene Übergangszeit sind standsriege bei EKO können nur im Zusammenhang Überlegungen we rt . mit alten und neuen Seilschaften gesehen werden. Ich werde als ostdeutscher Abgeordneter nicht Aber ich frage: Wer hat bis hier und heute den müde werden, den Gedanken der Solidarität im angeblichen Seilschaften zugearbeitet oder mit ihnen Nachwendedeutschland einzufordern. Liebe Kolle- zusammengearbeitet? ginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern, es (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) muß ganz einfach möglich sein, daß nicht nur an Ruhr 19640 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Herbert Meißner und Saar, sondern auch an der Oder Stahl gekocht diese Entscheidung vor seiner Belegschaft begründet wird. und nachvollziehbar darstellen könnte. Ich sehe eine Danke schön. solche Möglichkeit nicht. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste Deshalb ist auch die Frage zu beantworten, ob denn sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht das, was im Ruhrgebiet an Erfahrungen da ist, an Abläufen nachvollziehbar ist, was auch an Negativ- beispielen dort aufgeführt werden kann, hier erstmal Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege studiert werden muß. Denn ein großer Problembe- Erich Fritz. reich der Umstrukturierung im westdeutschen Stahl war doch, daß zu häufig die Politik Strukturverände- Erich G. Fritz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine rungen behindert hat verehrten Damen und Herren! Wir haben in unter- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das stimmt schiedlichen Debatten die Zukunft von EKO disku- nicht!) tiert. Wir haben an verschiedenen Stellen auch die — natürlich, Herr Urbaniak, das ist die Geschichte Widersprüchlichkeit, die in dieser Politik von Anfang Ihrer Politik in Nordrhein-Westfalen —, an steckte, klargemacht. Der Spagat, den der Wirt- schaftsminister in der Auseinandersetzung in der (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Hör westdeutschen Stahlindustrie und in Brüssel hat voll- doch auf mit dem Quatsch!) ziehen müssen, war nicht einfach. Um so wich tiger ist weil man sich nicht ge traut hat, Umstrukturierung zu es, noch einmal festzuhalten, daß das Konzept, das betreiben, und weil man es in Kauf genommen hat, die schließlich gefunden worden ist, bei allem Zähneknir- Folgen unterbliebenen Strukturwandels hinterher um schen der Stahlindustrie im Westen ein tragfähiges so teurer zu bezahlen, auch mit noch höheren sozialen Konzept hätte werden können. Folgelasten. Es hilft jetzt den Betroffenen und der Standortdis- Deshalb ist das erste Gebot jetzt, daß das, was kussion bei EKO nichts, wenn wir das Schwarze- private Investoren anbieten, auch an Teillösungen, Peter-Spiel machen. Und sicher, Herr Lambsdorff, ernstgenommen wird und daß dann das Land im kann man es auch nicht auf die Arbeitnehmerseite Zusammenwirken mit der Bundesrepublik und mit allein projizieren, daß dieses Konzept gescheitert ist. Europa alles tut, um eine aktive Strukturpolitik zu Denn solche Diskussionen werden dann auf den machen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt Rücken der Beschäftigten ausgetragen und schaffen keine tragfähige Lösung außerhalb der Möglichkeit, keinen einzigen Arbeitsplatz. alle Impulse, die jetzt angeboten werden, für einen Richtig bleibt aber, daß nicht alles von den Verant- neuen Ansatzpunkt fruchtbar zu machen. wortlichen get an worden ist, um erfolgsorientiert an Danke schön. die Verhandlungen über die Umsetzung des Konzep- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tes zu gehen. Vielmehr ist der Eindruck entstanden, daß es dort viele gibt, die gern weiter einen Zustand gehabt hätten, den sie gewohnt waren, und daß das Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wolfg ang Kombinatsdenken in den Köpfen so stark war, daß Weiermann, Sie haben das Wort. man sich davon nicht verabschieden wollte, vielleicht auch deshalb, weil das allmähliche Zugrundegehen (SPD): Herr Präsident! Meine eines Standortes für diese Personen immer noch Wolfgang Weiermann interessanter war, als in ein neues Konzept einzutre- sehr geehrten Damen und Herren! Herr Rexrodt, ten. wenn es denn wahr ist, daß einige Leute im Manage- ment des Unternehmens aus dem Bereich der alten Wenn in der SPD vorhin immer gesagt wurde: Ja, Seilschaften verhindert hätten, daß es zu einem wer hält den denn im Amt?, dann muß ich bei dieser- Zusammenschluß mit Riva gekommen wäre: Warum Gelegenheit sagen: Es gibt Bundesländer, in denen habt ihr sie aus dem Bereich der Verantwortung nicht einem eine bestimmte Art der Vergangenheitsbewäl- rausgeschmissen, verdammt noch mal? tigung vorgemacht wird. Dann entstehen solche restaurativen Strukturen leichter als woanders. (Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer ist denn der Eigentü (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mer? — Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: der F.D.P.) Wir haben Mitbestimmung!) EKO hat nur mit privaten Investoren eine Zukunft. — Ich will Ihnen etwas sagen: Es ist schon eine Weder das Land, auch wenn es in der Gefahr ist, noch Frechheit, zu sagen, daß die Mitbestimmung, etwa die die Bundesrepublik insgesamt hat die Chance und Montan-Mitbestimmung, einen Zusammenschluß hätte nur den geringsten Anlaß, aus EKO einen verhindert hätte. Andersherum wird ein Schuh dar- Staatsbetrieb zu machen. Wir wissen aus leidgeprüfter aus, meine Damen und Herren. Es ist stets und ständig Erfahrung, daß dies zu nichts führt. Das heißt aller- durch die Treuhand und durch Vertraute von Riva an dings gleichzeitig, daß es ein solches Gesamtkonzept, der Montan-Mitbestimmung vorbeigearbeitet wor- wie es eingefordert wird, nicht geben kann. den. Denn dieses Konzept hieße schlicht und einfach, (Beifall bei der SPD) daß das, was jetzt nicht mehr vorhanden ist, nämlich Kapazität zum Abbau innerhalb eines Konzepts, auf Das ist die Tatsache in den letzten Jahren. irgendeinem Weg herbeigeführt werden müßte. Nen- Ich habe erst heute morgen noch ein Gespräch mit nen Sie mir den Betrieb, der dazu bereit wäre und dem Betriebsratsvorsitzenden gehabt. Auf der T ri- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19641

Wolfgang Weiermann büne sitzen eine Reihe von Menschen, die heute ex tra meine Damen und Herren, sollte diese Politik für die dafür angereist sind, mit denen ich auch heute noch deutsche Indus trie, für den deutschen Stahl so weiter- ein Gespräch geführt habe. Es ist in der Tat nicht wahr, gehen, wie sie bisher betrieben wurde. daß der Betriebsrat nicht zu Gesprächen bereit gewe- (Beifall bei der SPD) sen wäre. Der Betriebsrat hat nie von sich aus die Was machen wir eigentlich im Wirtschaftsausschuß Forderung gestellt, mit Riva nicht zusammenarbeiten des Bundestages? Wie oft haben wir auf unsere zu wollen. Es ist nicht wahr, daß die IG Metall nicht gemeinsamen — ich betone es noch einmal —, auf bereit gewesen wäre, in dem Falle des neutralen unsere gemeinsamen Beschlüsse und Empfehlungen Mannes weiter zu überlegen. an dieser Stelle hingewiesen! Sie wissen es, Herr Ich wehre mich dagegen, wenn die, die heute davon Rexrodt. Wir haben gesagt: Warum stimmen wir zu? betroffen sind, Arbeitsplätze zu verlieren, zu ihren Können wir nicht einmal in der Europapolitik, in der eigenen Tätern gestempelt werden. Das kann doch in Politik des Ministerrates deutlich machen, daß wir der Tat nicht wahr sein. Subventionen in anderen Bereichen dann nicht (Beifall bei der SPD) zustimmen, wenn die Belange der deutschen Stahlin- dustrie nicht genügend Berücksichtigung finden? Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle Warum machen wir das denn nicht einmal? deutlich machen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat seit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jahren eine längerfristige Rahmenplanung angefor- dert, eine längerfristige Perspektive für die deutsche Warum machen wir nicht deutlich, daß auch bei uns Stahlindustrie insgesamt. Wir leben nicht einzeln, Arbeitsplätze erheblich in Gefahr geraten sind? jeder für sich, sondern wir brauchen eine Stahlkon- zeption der Bundesregierung, mit der eine Rahmen- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- planung geschaffen wird, damit es für die Stahlindu- zeit ist schon ein gutes Stück überschritten. strie in Deutschl and wieder eine Zukunft gibt, in der sie arbeiten kann. Wolfgang Weiermann (SPD): Ich komme zum (Beifall bei der SPD) Schluß, Herr Präsident. Das ist das, was wir gegenwärtig einklagen. Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Wir brauchen eine Konzeption, und ich hoffe, Hätte man nicht in bezug auf EKO drei bis vier Jahre daß wir, wenn es denn nicht anders geht, zusammen vertan und EKO in solch eine Stahlkonzeption einge- mit gutwilligen Kolleginnen und Kollegen aus den plant, dann stünden wir heute nicht vor dem Scher- anderen Fraktionen, fraktionsübergreifend, hier ei- benhaufen Ihrer Politik. nen Antrag auf den Tisch legen, damit es mit der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke deutschen Stahlindustrie wieder aufwärtsgeht. Liste) Ich sage ein herzliches „Glückauf" ! Lassen Sie mich noch eines hinzufügen. Ich mache (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das heute noch einmal, aber nicht, um Streit mit Ihnen der PDS/Linke Liste) zu bekommen, sondern um deutlich zu machen, daß in den letzten Jahren, ohne daß die Bundesregierung Vizepräsident Hans Klein: Ich muß zwei geschäfts- eingeschritten ist — sie hat immer zugestimmt —, leitende Bemerkungen machen. 135 Milliarden DM an Subventionen in Form geneh- Erstens. Bei den Aktuellen Stunden, in denen wir migter nationaler Hilfen in andere Bereiche der Euro- nur fünf Minuten Redezeit haben, ist eine Minute päischen Gemeinschaft geflossen sind. Das ist natür- Überziehung natürlich schon eine Menge, auch im lich mit Zustimmung des jeweiligen deutschen Bun- Blick auf die anderen Kollegen. deswirtschaftsministers geschehen, zuletzt auch mit Zustimmung des Herrn Rexrodt. Das ist doch die Zweitens. Unsere neue Sitzanordnung ist etwas Wahrheit. Hat es denn nicht mit Substanzverlust, mit verführerisch. Deshalb darf ich sehr indirekt formulie- finanziellem Substanzverlust der deutschen Stahlin- ren und die Kolleginnen und Kollegen, die am Red- dustrie zu tun, wenn sie in diesem Wettbewerb, der nerpult stehen, bitten, die Anrede sowohl in Richtung keiner ist, an den Rand des Geschehens gedrückt wird des Bundesrates als auch in Richtung der Regierung und den Wettbewerb nicht mehr aushalten kann? vielleicht in einer Form zu wählen, daß weder auf der Bundesratsbank noch auf der Regierungsbank der (Beifall bei der SPD) Versuchung unterlegen wird, von dort aus per Zuruf Hat eine mangelnde finanzielle Grundlage, haben zu antworten. fehlende finanzielle Rücklagen nicht auch damit zu (Heiterkeit bei der CDU/CSU) tun, wie es mit der Stahlindustrie — auch und beson- Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Ruprecht ders mit der in Ostdeutschland — weitergeht? In den Vondran. letzten Jahren sind allein an Ilva in Italien mehr als 40 Milliarden DM geflossen! Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Herr Präsident! (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonesej [fraktions- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich rate zur los]: Hört! Hört!) Nüchternheit. Das vor wenigen Tagen gescheiterte Und hier in der deutschen Stahlindustrie hat man EKO-Konzept hatte von Anfang an drei Schwachstel- keine finanziellen Rücklagen, um neue Technologie len. ohne weiteres anpacken zu können. Wenn ich mir den Der Standort Eisenhüttenstadt an der deutsch- Kreislauf zu Ende denke, wird mir angst und bange, polnischen Grenze, fernab von nennenswerten schiff- 19642 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 Dr. Ruprecht Vondran baren Wasserwegen und weit abgelegen von den auch schon danach verhalten —, daß ihre Verantwor- großen Verarbeitungszentren, stellte Bet riebswirte tung nicht am eigenen Hüttenzaun endet, sondern daß und Techniker vor die schwere, ja, fast unlösbare sie untereinander und mit der Politik zusammenwir- Aufgabe, dort kostendeckend Stahl zu produzieren. ken müssen, wenn für die Branche Lösungen gefun- Weiter: Parallel zu Planungen in Eisenhüttenstadt den werden sollen. — auf Steuerzahlerkosten waren Breitbandkapazitä- Die Gewerkschaften sehen klarer als noch vor ten neu aufzubauen — laufen andernorts, wie wir Monaten, welche Anstrengungen notwendig sind, gehört haben, quälende Bemühungen, solche Anla- damit die Unternehmen international wettbewerbsfä- gen stillzulegen und zu verschrotten. hig bleiben oder es wieder werden. Schließlich führen seit langem vor allem verstaat- Und die Politik? — Die in der Exekutive Verant- lichte europäische Unternehmen mit öffentlichem wortlichen haben wohl gelernt, daß die p rivaten Geld einen Verdrängungswettbewerb gegen die pri- deutschen Unternehmen, die ohnehin unter schwieri- vaten deutschen Werke. Der Fall EKO war ihnen gen, Herr Minister, politisch zu verantwortenden hochwillkommen, um gegen das Subventionsverbot Rahmenbedingungen arbeiten, nicht über die Gren- des Montanvertrags weitere 12 Milliarden an Beihil- zen des Zumutbaren hinaus belastet werden dürfen. fen durchzusetzen. Wie könnte eine Lösung konkret aussehen? Ganz auf eigenes Risiko, ohne jemanden sonst in Anspruch Des einen Freud, des anderen Leid. Gegen diese zu nehmen, gebe ich folgendes zu überlegen. Fakten stehen die Notwendigkeiten vor Ort in Ost- deutschland, die ich ebenfalls nicht übersehen Erstens. Wir sollten darin einig sein, daß es keine möchte. EKO ist der wirtschaftliche Kern einer Region Lösung ist, Eko auf Dauer als Staatsunternehmen zu an der Oder. Die Arbeitslosigkeit ist bereits heute führen. Es wäre ein Fremdkörper in unserer Wirt- erschreckend hoch — 30 % sind genannt worden —, schaftsordnung. und Eisenhüttenstadt ist ein sozialpolitisches Span- Zweitens. Die Unternehmensteile, die eine Chance nungsfeld. im Markt haben, sollten möglichst bald privatisiert werden. Ich denke beispielsweise an das zu moderni- Was tun? Ich plädiere erneut dafür, die Probleme zu sierende Kaltwalzwerk in Eisenhüttenstadt. trennen. Wir müssen den Stahlkern von EKO sanie- ren, so gut es nur irgend geht, und wir müssen die Drittens. Die Vormaterialstufe, die in ihrer gegen- Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich im Raum wärtigen technischen Auslegung auf Dauer nicht Eisenhüttenstadt, also der Region zugewandt, neues lebensfähig ist, sollte für einen gesicherten Zeitraum wirtschaftliches Leben jenseits von Stahl entwickeln weitergeführt werden. Sie müßte zunächst im öffent- kann. lichen Eigentum bleiben. Die Geschäftsbesorgung sollte aber einem privaten Betreiber anvertraut wer- So schmählich und wohl auch dürftig bemäntelt den. — Graf Lambsdorff, ich bin da anderer Meinung als Viertens. Dies wäre nur der erste Schritt der Priva- Sie; Sie haben die Ehrenrettung für Herrn Riva ver- tisierung. Die Treuhand sollte dem Betreiber aufge- sucht — der Abgang von Riva war, ergibt sich doch ben, innerhalb eines festen Zeitraums — sagen wir: auch eine neue Chance. Auch das muß man in diesem innerhalb eines halben Jahres — auf Grund seines Kreis betonen. Etwas Optimismus gehört ja wohl auch Know-hows Vorschläge für die bestmögliche Lösung zur Politik. zu machen. Mitten in der Misere sehe ich an einigen Stellen sogar etwas mehr Licht als noch vor Monaten. Die Vizepräsident Hans Klein: Bitte keine weiteren Stahlkonjunktur hat angezogen. Das könnte jeden- Nummern. Sie sind schon ein großes Stück über die falls etwas mehr Luft für neue Lösungen geben. Zwar Redezeit hinaus. dauern die Verteilungskämpfe an, aber sie haben nicht mehr ganz so schlimme Wirkungen. Und weiter: Die Zahl der Schultern, die mittragen, könnte sich Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Ich bin auf null, vergrößern. ich sehe das. Als die letzte Entscheidungsrunde „Riva oder Alter- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Man kann native" lief, mußten sich mehrere große Stahlunter- eine Ausnahme machen!) nehmen aus der Diskussion schlichtweg abmelden. Ich darf abschließen. Es spricht viel dafür, liebe Zwei hatten unter schwierigsten Bedingungen gerade Kollegen, alle Initiativen, die ich genannt habe, und fusioniert und waren vor allem mit eigenen Sorgen auch diejenigen, die ich leider auf Grund der Inter- beschäftigt. Ein anderes Unternehmen kämpfte gegen vention des Herrn Präsidenten nicht mehr nennen den Konkurs. Am Ende waren nur zwei Firmen konnte, die Privatisierung, die Geschäftsbesorgung — Preussag und Thyssen — in der Lage, an einem und die Schaffung alternativer Arbeitsplätze, in die Konzept zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen mit- Hand eines Konsortiums zu legen. zuwirken. In der Stahlindustrie sind noch längst nicht alle Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege! Probleme bereinigt, aber es besteht doch etwas grö- ßere Klarheit über künftige Strukturen. Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Die Partner Schließlich: Wir kommen alle vom Rathaus, wir sind dafür sollten nicht nur innerhalb der deutschen Gren- alle klüger geworden. Alle Unternehmen wissen zen, Herr Präsident, sondern auch in der Europäischen — ich meine, sie haben sich in der Vergangenheit Union gesucht werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19643

Dr. Ruprecht Vondran Ich bedanke mich sehr herzlich. Nun ist der Ausländer draußen, und die Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sind wieder unter sich. Ob das gut ist, wird sich zeigen. ordneten der SPD) Der Durchbruch zu einem integrierten Stahlwerk in Eisenhüttenstadt ist jedenfalls nicht leichter gewor- den. Die Fortführung unter staatlicher Leitung ist Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- durch europäisches Recht ausgeschlossen. Das ist gut ren, wir haben eine Geschäftsordnung. Wenn der so; denn, Frau Abgeordnete Enkelmann, wenn es eine Präsident auf das Ende der Redezeit hinweist, dann Ursache dafür gibt, daß EKO in dieser Misere ist, dann bitte noch einen Satz und nicht eine Minute. Das ist ist das letztendlich sein Charakter als Staatsbetrieb in gegenüber den anderen Kollegen einfach nicht fair. einem sozialistischen Rahmen. Wir wären miserabel Ich sitze ja nicht hier, um den einzelnen in seinen beraten, hier durch die Fortführung als Staatsbetrieb Äußerungen zu beschränken. Es muß dann eben die den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Numerierung der wichtigen Appelle an den Anfang der Rede; sie kann jedenfalls nicht nach dem Ende der (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Sehr Redezeit erfolgen. wahr!) Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Warnke. Das Zeichen, das wir hier und heute setzen können, ist folgendes: Bund und Europäische Union sollten zu ihren Beihilfezusagen in der Größenordnung von Dr. Jürgen Warnke (CDU/CSU): Herr Präsident! 800 Millionen DM stehen. Da kommt Riva übrigens Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In — hierauf hat ein Mitglied Ihrer Landesregierung dem Drama Eisenhüttenstadt ist die Liste der Rollen aufmerksam gemacht, Herr Ministerpräsident — lang, aber sie ist von unterschiedlicher Gewichtigkeit. möglicherweise erneut ins Spiel. Sie sollten für die Auf zwei Beteiligte kommt es vor allem an: zum einen Erhaltung oder für die Neuschaffung einer entspre- auf die Menschen in Eisenhüttenstadt und Ostbran- chenden Zahl von Arbeitsplätzen die Mittel bereitstel- denburg, die Anspruch auf einen gerechten Anteil am len. Ich sage hier ganz bewußt als jemand, der auch gesamtdeutschen Wirtschaftspotential und auf Aus- aus einer monostrukturierten oder mit Struktur- sichten für ihre Zukunft haben; zum anderen — der ist schwierigkeiten behafteten Region kommt: In dieser mir hier heute eigentlich etwas zuwenig zur Sprache Strukturkrise steckt auch eine Chance. Die Lösung gekommen — auf den deutschen Steuerzahler, der mit muß auch einen zukunftweisenden Ansatz für die mehr als zweieinhalb Milliarden DM für Eigenkapi- Auflockerung der Struktur enthalten. talhilfen, Entschuldung von Altkrediten, Verlustaus- gleich und Investitionen bereits einen Kraftakt son- Ich wünsche jedenfalls Hans Apel, dem über Frak- dergleichen geleistet hat. Beide, die Stahlarbeiter wie tionsgrenzen hinaus geachteten langjährigen Kolle- der Steuerzahler, erwarten zu Recht einen zukunft- gen, der die Aufgabe übernommen hat, Wege auszu- weisenden Abschluß von fünf Jahren Umstrukturie- loten, die zu einer Lösung führen, eine glückliche rung. Hand: im Interesse der Stahlarbeiter und ihrer Fami- Ich gebe Graf Lambsdorff recht: Da müssen Lehren lien, aber auch im Interesse der gesamten Bevölke- aus den Erfahrungen der letzten Wochen gezogen rung von Eisenhüttenstadt und Ostbrandenburg. werden. Die paritätische Mitbestimmung in der Mon- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. tanindustrie ist eine einzigartige Organisationsform sowie bei Abgeordneten der SPD) innerhalb der Europäischen Union. Daß sie in den letzten Monaten bei der Lösung der Krise von Eisen- hüttenstadt hilfreich gewesen ist, hat niemand behauptet und kann auch niemand behaupten. (Zurufe von der SPD: Was?) - Das Instrument der Montanmitbestimmung, Herr Kol- Vizepräsident Hans Klein: Erlauben Sie mir noch lege Weiermann, steht hier nicht zur Disposition. Aber einen Halbsatz an die Adresse des Kollegen Vondran, was wir aus diesem Instrument machen, wenn wir mit damit das nicht so stehenbleibt, als sei er hier der ausländischen Investoren über die Sicherung einer einzige große Sünder. Nur, meine Damen und Herren, optimalen Zahl von Arbeitsplätzen verhandeln, das man traut sich ja nicht, eine weitere technische müssen sich allerdings sämtliche Beteiligten nach der Verbesserung in diesem System zu proklamieren. Erfahrung der letzten Wochen neu überlegen. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Drük Es war sicher auch nicht gut, daß Nachrichtenma- ken Sie nicht auf die Knöpfe!) gazine in Deutschland in den letzten Monaten unwi- dersprochen behaupten konnten, daß aus der Mitte Wir haben hier oben am Präsidiumstisch jeder — die des Aufsichtsrats von EKO an Bonität und Solidität des Schriftführer und der Präsident — eine Uhr, die die ins Auge gefaßten neuen Eigentümers Zweifel geäu- Sekunden anzeigt. Da unten werden nur die Minuten ßert wurden. Mir sind Bilanzen und Eigentumsver- angezeigt. Deshalb ist es oft sehr viel schwieriger, mit hältnisse von Riva genausowenig bekannt wie ande- dem Gelb und Rot zurechtzukommen. Aber ich traue ren. Nur, die Entscheidung für Riva als der optimale mich nicht, anzuregen, auch am Rednerpult eine Uhr Weg zur Verwirklichung eines integrierten Stahl- zu installieren, die die Sekunden anzeigt, weil das werks war mm einmal gefallen. Durch die Art und System dann vielleicht wieder — — Weise, wie daran herumgenörgelt worden ist, ist ein (Heiterkeit) entscheidender Beitrag zu diesem bedauerlichen Ergebnis geleistet worden. Die Aktuelle Stunde ist beendet. 19644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Vizepräsident Hans Klein Ich rufe Punkt 2 a bis e der Tagesordnung auf: e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- richtung durch die Bundesregierung regierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 31 04 Berufsbildungsbericht 1994 Titel 685 03 — Beteiligung des Europäischen — Drucksache 12/7344 Sozialfonds am Sonderprogramm zur Schaf- —Überweisungsvorschlag: fung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) neuen Ländern und Berlin (Ost) Ausschuß für Wirtschaft — Drucksachen 12/6984, 12/7370 — Ausschuß für Frauen und Jugend Haushaltsausschuß Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Carl-Ludwig Thiele ordneten Eckart Kuhlwein, Do ris Odendahl, Manfred Hampel Hans Gottfried Bernrath, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der SPD eingebrachten Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — des Hochschulrahmengesetzes Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. — Drucksache 12/2125 — Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Erste Beratung 88. Sitzung) Kollegen Dr. Rainer Jork. aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung und Wissenschaft Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident! (21. Ausschuß) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der — Drucksache 12/7272 — Vorlage des Berufsbildungsberichtes im Plenum des Berichterstattung: Bundestages über Bilanz, abzuleitende Maßnahmen, Abgeordnete Engelbert Nelle auch über die Relation zur akademischen Bildung Eckart Kuhlwein nachzudenken, halte ich für förderlich und notwen- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink dig, für existentiell wesentlich aber vor allem bezüg- lich der Dynamik in den neuen Bundesländern. Trotz bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- eines höheren Lehrstellenangebotes in den neuen schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Bundesländern ist der Bedarf infolge einer stärker — Drucksache 12/7273 — wachsenden Bewerberzahl gestiegen. Die Situation Berichterstattung: hat sich also gegenüber dem Vorjahr verschärft. Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Um es vorwegzunehmen: Ich bin froh, daß sich die Carl-Ludwig Thiele Bundesregierung mit dem 1. Juli selbst in die Pflicht Manfred Hampel nimmt und die erforderliche Hilfe zu Beginn der c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Sommerzeit, also etwa zwei Monate eher als im Berichts des Ausschusses für Bildung und Wis- Vorjahr, zugesagt hat. So wie die Schulen die Brücke senschaft (21. Ausschuß) zu dem Antrag der zum Arbeitsmarkt sein müssen, erwarte ich von den Abgeordneten Stephan Hilsberg, Evelin Fi- Partnern bei der Berufsausbildung und bei der akade- scher (Gräfenhainichen), , weite- mischen Bildung, daß sie die eigenen Ziele mit den rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Möglichkeiten des Arbeitsmarktes abgleichen. Sicherung eines auswahlfähigen, qualifizier- Der Präsident des Deutschen Industrie- und H an ten Ausbildungsplatzangebotes für alle Ju- -delstages, Stihl, sagte am 4. Mai in Frankfurt mit Blick gendlichen in den neuen Ländern auf die großen Unternehmen zu Recht: — Drucksachen 12/5495, 12/7086 — Wer heute nicht ausbildet, schadet sich morgen Berichterstattung: auf dem Markt. Abgeordnete Dr.-Ing. Rainer Jork Eine Kernaussage des Verbandes der Chemischen Stephan Hilsberg Industrie lautet: Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Ein Nachlassen der Ausbildungsleistungen wird d) Beratung der Beschlußempfehlung und des sich in sinkender Wettbewerbsfähigkeit, geringe- Berichts des Ausschusses für Bildung und Wis- rem Angebot an Arbeitsplätzen und fallendem senschaft (21. Ausschuß) zu dem Antrag der Lebensstandard bemerkbar machen. Abgeordneten Do ris Odendahl, Günter Rixe, Noch ein Zitat: Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter Am gravierendsten und der Fraktion der SPD Bericht über die Erfahrungen mit dem Zweiten — so prognostiziert der DGB — Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsför- stellt sich die Unterversorgung mit betrieblichen derungsgesetzes Ausbildungsplätzen für die Schulabgänger im — Drucksachen 12/5783, 12/7275 — Bundesland Sachsen dar. Berichterstattung: Dies sei mir Anlaß, auf die Situation im Freistaat Abgeordnete Engelbert Nelle Sachsen näher einzugehen. 1994 werden dort etwa Günter Rixe 7 000 Schüler mehr als im Vorjahr eine Schule verlas- Dirk Hansen sen. Es ist mit 48 700 Bewerbern um Ausbildungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19645

Dr.-Ing. Rainer Jork plätte zu rechnen. Mindestens 8 400 Stellen mehr als sondere der berufsbildenden Schulen für erforderlich. im Ausbildungsjahr 1993/94 werden benötigt, aber Die berufliche Ausbildung wird durch die Qualität nur relativ wenige Lehrstellen stehen zusätzlich zur auch des schulischen Teils attraktiv und standortbe- Verfügung. Im März stand, gemäß Statistik, nur jedem stimmend. Das bedeutet für mich, daß Berufsschulleh- zweiten Bewerber ein Ausbildungsplatz gegenüber. rer in den neuen Bundesländern tariflich genauso Als besonders problematisch erweist sich die Vermitt- einzugruppieren sind wie ihre entsprechend qualifi- lung der 5 700 Mittelschüler mit Hauptschulabschluß. zierten Kollegen in den alten Bundesländern. Diese hier gekürzt dargestellte Zustandsanalyse Die Bundesregierung muß nicht zur Hilfe aufgefor- dert werden. Sie tat es mit rund einer halben Milliarde war Hintergrund für den Start der Lehrstellenoffen- sive und Aktionen des entsprechenden Beirates im seit 1991 allein für den Bau und die Ausstattung von Freistaat Sachsen. Eine Auswertung der Ausbildungs- überbetrieblichen Berufsbildungsstätten in den platzförderungsprogramme des Vorjahres ergab, daß neuen Bundesländern. Ich begrüße, daß das BMF diese in Kleinunternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten 85 Millionen DM vorschießt, um eine rechtzeitige mit 10 800 zusätzlichen Berufsausbildungsplätzen Beteiligung des Europäischen Sozialfonds am Sonder- überdurchschnittlich in Anspruch genommen wur- programm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungs- den. Probleme, die z. B. durch Bearbeitungsfristen, plätze zu unterstützen. Wer angesichts dieser Zahlen Diskrepanzen durch Bemessungsgrundsätze und un- der tätigen Hilfe der Bundesregierung sagt, daß bisher terdurchschnittliche Besetzung durch Mädchen in nichts getan wurde und weiterhin nichts getan wird, allen Industriebereichen sowie im Handwerk auf tra- hat entweder ein gestörtes Verhältnis zu Steuergel dern oder zur Wahrheit — oder zu beidem. ten, werden im kommenden Förderprogramm durch Korrekturen bzw. die Einrichtung zusätzlicher Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge dungsplätze für Mädchen berücksichtigt. ordneten der F.D.P.) Die Hilfe der Bundesregierung ist zugesagt. Die Auch im kommenden Ausbildungsjahr werden z. B. aktuelle Lage Ende 1994 wird den Handlungsumfang zusätzlich geschaffene Lehrstellen in Kleinunterneh- bestimmen. Daß dieser Zeitpunkt angemessen ist, men mit bis zu 50 Beschäftigten, die die 10-%-Grenze, bestätigten mehrheitlich die Fachexperten in den gemessen an der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer, Anhörungen des Ausschusses für Bildung und Wis- übersteigen, mit 4 000 DM gefördert. Bei Mädchen senschaft am 27. April in Bonn. erhöht sich der Betrag auf 6 000 DM. In Unternehmen mit bis zu drei Beschäftigten wird der erste Lehrling Ich danke. unterstützt. Insgesamt werden so ca. 12 000 Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dungsplätze gefördert, und ein Teil der Lehrgangsko- sten in überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Günter des Handwerks wird weiterhin durch den Freistaat Rixe, Sie haben das Wort. Sachsen übernommen. In einer ,.Aktion Maikäfer" haben im Raum Dresden Indust rie- und Handelskam- Günter Rixe (SPD): Herr Präsident! Meine sehr mer, Arbeitsamt sowie Handwerkskammer ca. 500 Aus- verehrten Kolleginnen und Kollegen! In einer großen bildungsplätze durch persönliche Ansprache in Hand- süddeutschen Zeitung war am 6. Mai unter der werksbetrieben gewinnen können. Unabhängig davon Überschrift „Kohl gibt Lehrstellengarantie" zu lesen, wird offensichtlicher, dringender Bedarf an einer erneu- daß der Kanzler wieder einmal Ausbildungsplätze ten „Gemeinschaftsinitiative Ost" zur Schaffung von versprochen hat: für jeden einen Platz, der kann und außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen festgestellt. will. Die Betonung liegt auf: der kann und will. Ich Interessant ist der Hinweis der AEG in Dresden, daß befürchte, daß sich hier etwas wiederholt, was wir zusätzlich bereitgestellte Plätze nicht besetzt werden, schon mehrfach in der Regierungszeit des Bundes- weil außerbetriebliche Bildungsträger bereits die kanzlers erlebt haben: Versprechungen über Verspre- potentiellen Bewerber unter Vertrag hatten. Beson-- chungen. Dieser Kanzler wird noch, wenn es so weiter ders für den handwerklichen Bereich besteht die geht, vor lauter Versprechungen, die nicht gehalten Gefahr, daß außerbetriebliche Ausbildungsplätze den worden sind, in die Geschichtsbücher eingehen. Mitte betrieblichen die Nachfrage wegnehmen könnten. der 80er Jahre hat er auch diese Versprechungen abgegeben, und das Ergebnis war, daß Ende der 80er Der Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Bun- Jahre 1,5 Millionen junge Leute nicht ausgebildet desländern ist sowohl regional als auch berufsfachlich worden sind und die Qualifizierung bis heute fehlt. sehr unterschiedlich. Im gewerblich-technischen Be- Die Situation in der Berufsausbildung läßt aber reich ist Bewerbermangel festzustellen — im Unter- keinen Raum für bloße Versprechungen. Die Situation schied zu kaufmännischen und Dienstleistungsberu- ist viel zu ernst: 18 000 Jugendliche konnten 1993 fen. Für Zerspanungsmechaniker gibt es beispiels- nicht auf einem Ausbildungsplatz untergebracht wer- weise 5,14 Plätze je Bewerber, aber etwa 10 Bewerber den. Das sind nicht nur alles Jugendliche, die nicht für eine Hotelfachstelle. In Potsdam liegt das Verhält- wollen oder können. Die jungen Menschen wissen nis der gemeldeten Stellen zur Bewerberzahl bei 0,81, nämlich ganz genau, daß eine Ausbildung die Grund- in Bautzen aber bei 0,29. Hier hilft also nicht ein lage für ihre persönliche Zukunft ist. Gießkannenprinzip bei der Förderung. Regionenspe- zifische Maßnahmen sind gefragt. Wer aber so redet wie der Bundeskanzler — von jungen Menschen, die nicht wollen und nicht können Zur Stabilisierung der dualen Berufsausbildung und für die es deshalb keinen Ausbildungsplatz geben halte ich eine verstärkte Unterstützung der betriebli- soll —, macht sich mitschuldig an der zunehmenden chen und überbetrieblichen Ausbildung und insbe- Politikverdrossenheit der jungen Menschen und 19646 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Günter Rixe schuldig an deren Hinwendung zu rechtsextremer sen, daß es eine Gemeinschaftsinitiative gibt, an der Agitation und Verbrechen. Hat sich diese Regierungs- die Telekom beteiligt ist. Wenn man dann sieht, daß koalition eigentlich einmal die Frage gestellt, ob die sie ihre Ausbildung zurückfährt, paßt das überhaupt ausländerfeindlichen Gewaltaktionen der jungen nicht zusammen. Ich habe Sie, Herr Staatssekretär, Menschen — wir haben vorhin darüber diskutiert — deswegen angesprochen, weil der Minister dort eine nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Per- große Rede gehalten hat. spektivlosigkeit der jungen Leute in den fünf neuen Es hilft kein Appellieren mehr, es müssen Ländern und auch in der alten Bundesrepublik ste- Maßnah- men eingeleitet werden. Der Beschluß des Kabinetts hen? Wenn nein, dann sollten Sie darüber schnellstens zum Berufsbildungsbericht 1994 enthält angesichts nachdenken und nicht immer nur nach Strafgesetzen dieser benannten Tatsachen lediglich die Forderung rufen. nach erheblichen Anstrengungen der Beteiligten. Das Es ist außerdem auch nicht richtig, so zu reden, wie reicht aber nicht aus. Den Beteiligten muß deutlich das der Bundeskanzler tut, weil die Zahlen andere gesagt werden, wie sie ihre Ausbildung organisieren Entwicklungen belegen. Allein in den neuen Bundes- und vor allem, wie sie diese finanzieren können. ländern standen Ende März 1994 für über 98 000 In der auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion Jugendliche nur rund 34 000 Ausbildungsplätze zur durchgeführten Anhörung des Bildungsausschusses Verfügung. Vor einem Jahr waren es mit rund 85 000 zur Situation der außerbetrieblichen Ausbildung in noch wesentlich weniger Jugendliche, für die es den neuen Ländern wurde von der großen Mehrheit damals 35 000 Ausbildungsplätze gab. Im Saldo der Sachverständigen und Be troffenen ganz deutlich bedeutet dies eine Zunahme an unvermittelten gesagt, daß Förderungen des Bundes zur Finanzie- Bewerbern um 28 % gegenüber dem Vergleichsmonat rung von zusätzlichen außerbetrieblichen Ausbil- 1993. Ganz besonders trifft es die jungen Mädchen dungsplätzen frühzeitig benannt werden und begin- und Frauen, die in den neuen Bundesländern einen nen müssen. Das 10 000-Plätze-Programm vom vori- immer größer werdenden Anteil an den Unvermittel- gen Jahr kam viel zu spät. Das Ergebnis war ja, daß die ten ausmachen. Die Steigerung beträgt 14,8 %. 10 000 Plätze nicht einmal ausgenutzt wurden. Es Nahezu 53 000 Mädchen und Frauen sind heute noch konnten nur 8 500 Plätze vermittelt werden. Für 1994 ohne Lehrstellenvertrag. Die Tendenz ist weiter stei- muß das Programm noch in diesem Monat beginnen, gend. es muß jetzt ausgelegt werden und auf 25 000 Plätze Auch in den alten Bundesländern geben die vorlie- ausgeweitet werden, um den Nachfrageüberhang genden Zahlen für große Versprechungen keinen abzubauen. Dies war das einstimmige Votum der Grund. Schon 1993 waren rund 30 000 Ausbildungs- Anhörungsteilnehmer. Wenn m an drüben nachfragt: verträge weniger abgeschlossen worden als im Vor- Es ist überall so. Neben den außerbetrieblichen Ein- jahr, und für 1994 sind die bisherigen Tendenzen richtungen brauchen auch die Betriebe und Unter- weiter rückläufig. Von freier Wahl des Ausbildungs- nehmen und auch die jungen Menschen frühzeitige platzes kann nur noch in den Statistiken die Rede sein. Planungssicherheit. In der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ist Ich bin der Auffassung, daß es zu den Aufgaben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die einer Bundesregierung gehört, rechtzeitig gegenzu- Zahl der Jugendlichen mit einer Lehrstelle im Jahr steuern, wenn sich der Trend verfestigt, aus Kosten- 1993 urn 2,4 % gegenüber 1992 zurückgegangen. gründen aus der Berufsausbildung auszusteigen. Das Wir müssen nicht feststellen, ob es willige und ist so bei der westdeutschen Indust rie. Eine Möglich- unwillige Jugendliche gibt, sondern wir müssen fest- keit der Gegensteuerung könnte eine Umlagefinan- stellen, daß sich Teile der Wirtschaft allmählich aus zierung für Betriebe und Verwaltungen sein, die sich der Berufsausbildung verabschieden. Das Bundesver- immer mehr ihrer Ausbildungsverpflichtung entzie- fassungsgericht hat aber im Dezember 1980 die Wirt- hen; sogar ganz bekannte westdeutsche Firmen ent- schaft verpflichtet, für Ausbildungsplätze zu sorgen. ziehen sich ihr. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anstatt von einer Verbilligung der betrieblichen Ausbildung zu reden, müssen die Kosten gerechter Wenn jetzt aus Kostengründen ein Teil der Wirtschaft verteilt werden. Es kann doch nicht angehen, daß sich aus der beruflichen Bildung aussteigt, dann verstoßen große Teile der Indus trie ihren Nachwuchs nur fertig diese Unternehmen und Be triebe gegen geltendes ausgebildet beim Handwerk oder von der Hochschule Recht. Sie gefährden zudem den Qualifikationsstand- abholen! ort Deutschland und bringen das duale Ausbildungs- system überhaupt in Gefahr. (Beifall bei der SPD) Es ist in der Tat so, daß die Indus (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trie nicht ausbildet, das Handwerk überproportional ausbildet. Nach der Ich halte es für einen Skandal, daß z. B. die Telekom in Lehrzeit werden die Ausgebildeten von der Indust rie diesem Jahr lediglich 700 Auszubildende aufnehmen abgeholt, ihnen wird mehr Geld geboten, sie werden will, und das auch nur in den fünf neuen Ländern. ein bißchen weitergebildet, und die Hochqualifizier- Über die Signalwirkung eines solchen Verhaltens ten holt sich die Indus trie von den staatlich finanzier- eines großen Bundesunternehmens auf die Wirtschaft ten Fachschulen. Da müssen wir gegensteuern. Das muß einmal geredet werden. müssen wir der Industrie nun endlich einmal sagen, Der Minister ist nicht da, aber der Herr Staatssekre- oder wir müssen das duale System in dieser Bundes- republik in Frage stellen. tär. Ich habe heute im „General-Anzeiger" unter der Überschrift „Frauenmangel in Technikberufen" gele- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19647

Günter Rixe Ich will an dieser Stelle dem deutschen Handwerk Das Auseinanderklaffen von Ausbildung und dafür danken, daß es immer noch sehr stark ausbil- Beschäftigung, der Strukturwandel und der Arbeits- det. platzabbau sind Ursachen dafür, daß in vielen Berei- chen nicht mehr genügend Angebote für ausrei- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der chende Qualifikationen gemacht werden. Hier an sind F.D.P.) Sie von der Regierungskoalition ein gutes Stück mit Der heute in die parlamentarische Beratung einge- schuld, weil Sie nicht oder nur zaghaft gehandelt brachte Berufsbildungsbericht 1994 ist angesichts der haben. Wir wollen einmal sehen, wie wir das in den Probleme auf dem Ausbildungsmarkt nur bedingt nächsten Wochen für die jungen Leute in den neuen tauglich. Wir werden in den kommenden Beratungen Ländern noch gemeinsam hinbekommen. versuchen, die mangelhaften Positionen ins Gespräch Danke schön. zu bringen, sie in Anträge zu formulieren, und wir werden Sie bitten, mit uns gemeinsam nach Lösungen (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: zu suchen. Die letzten drei Jahre haben Sie wider -legt!) Neben der bereits benannten Aufgabe, der Diskus- sion über die Kostenbelastung der ausbildenden Unternehmen ein Ende zu bereiten, muß nach wie vor Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege die Ausbildungssituation in den neuen Bundeslän- Dr. Karlheinz Guttmacher. dern an oberster Stelle stehen. Angesichts der erwar- teten 135 000 Jugendlichen und mehr in den neuen Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Herr Präsident! Ländern müßte über steuerliche Möglichkeiten für Meine Damen und Herren! Herr Rixe, Sie haben diejenigen Unternehmen nachgedacht werden, die natürlich uneingeschränkt recht, daß der Kanzler ihren Ausbildungsverpflichtungen nachkommen. Versprechungen macht. Auf die öffentlichen Verwaltungen, die weit hinter (Günter Rixe [SPD]: Ja!) den Ausbildungsquoten der westlichen Verwaltun- gen zurückbleiben, muß endlich direkt eingewirkt Da Sie, wie ich Sie kenne, ein sachlich argumentie- werden. render Kollege sind, haben Sie sich sicherlich verspro- chen, wenn Sie gesagt haben: nur Versprechungen. Schließlich muß ergänzend die außerbetriebliche Denn, meine Damen und Herren, das Programm, das Ausbildung, ohne die der ostdeutsche Lehrstellen- noch zum Schluß der Lehrlingsplatzsituation aufge- markt längst zusammengebrochen wäre, gezielt und legt worden ist, die wir im Sommer vergangenen frühzeitig gefördert werden. Das habe ich soeben Jahres ten, hat doch gezeigt, daß das Versprechen schon gesagt. Auch in den neuen Bundesländern sehe der Bundesregierung eingehalten worden ist. ich eine Gefahr für das duale System, wenn nicht bald (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — der Anteil der betrieblichen Ausbildung ausgeweitet Zuruf von der SPD: Das war im Herbst und werden kann. nicht im Sommer!) Das Problem der Nichtübernahme der Ausgebilde- Ich würde Sie an dieser Stelle auch gleich beim Wort ten in die Berufstätigkeit ist auch von zentraler Bedeu- nehmen. tung für die Lebensperspektiven junger Menschen. ( V o r s i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cro Hier muß über Beschäftigungsinitiativen und zweiten nenberg) Arbeitsmarkt nachgedacht werden. Wenn Sie sagen, daß in der öffentlichen Anhörung das Auch die zunehmende Zahl von jungen Erwachse- Plädoyer dafür abgegeben worden ist, ein Sonderpro- nen ohne Berufsabschluß wird immer problemati- gramm bereits jetzt im Mai aufzulegen, dann muß ich scher. Allerdings ist der Weg über die Differenzie- - Ihnen insofern widersprechen, als sich die Wirtschaft rung, für schwächere Jugendliche einfachere und geschlossen dafür ausgesprochen hat, ein solches kürzere Ausbildungen zu schaffen, der falsche Weg. Sonderprogramm dann aufzulegen, wenn der Bun- Aber dazu habe ich ja im CDU-Papier gelesen, daß die desminister am 1. Juli im Kabinett seinen Bericht CDU und auch die F.D.P. langsam davon wieder abgegeben hat, abrücken. (Günter Rixe [SPD]: Ist ja nicht richtig!) (Zuruf von der CDU/CSU) in dem festgestellt wird: Jawohl, jetzt ist es notwendig, — Ihr seid ein bißchen schneller? — Nein, das haben daß wir ein Sonderprogramm auflegen. wir schon lange gesagt. (Günter Rixe [SPD]: Ist doch nicht richtig!) Hinsichtlich der Gleichwertigkeit von beruflicher Die Industrie hat davor gewarnt und gesagt, es und allgemeiner Bildung müssen wir endlich über das bestehe die Gefahr, daß junge Menschen schon jetzt Diskussionsstadium hinauskommen. Hier ist die Ver- einen Vertrag für eine außerbetriebliche Ausbildung mittlung von Fremdsprachen, und zwar nicht nur abschließen würden und keinen mit der Industrie, mit berufsbezogen, wie es die Arbeitgeber möchten, ein den Kammern. Das müssen wir vermeiden, meine wesentlicher Punkt. Nur bei allgemeinen Fremdspra- Damen und Herren. chenkenntnissen sind ein europäischer Austausch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und eine berufstypische Fortentwicklung möglich. Seit Jahr und Tag hat die SPD-Bundestagsfraktion bei den Debatten zum Berufsbildungsbericht darauf hin- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- gewiesen. geordneter Guttmacher, die Abgeordnete Frau Oden- 19648 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg dahl möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. orientieren. Wie bewerten Sie denn diese Äußerung, Sind Sie bereit, sie zu beantworten? die von den unterschiedlichsten Gesprächspartnern immer wieder aufgestellt wurde? Der 1. Juli ist für die Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Ja, selbstver- Praktiker vor Ort zu spät. ständlich. (Dirk Hansen [F.D.P.]: Frage!) — Ich habe gefragt, wie er beurteilt, was mir dort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte gesagt wurde. schön.

Doris Odendahl (SPD): Herr Kollege, sind Sie bereit, Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Herr Vergin, Sie noch einmal zu bestätigen, daß der Herr Bildungsmi- hätten aufmerksam zuhören sollen. Ich habe gerade nister anläßlich einer Befragung hier im Plenum diese Frage partiell beantwortet, weil sie sich fast mit erklärt hat, daß er es für erforderlich hält, angesichts der deckte, die Frau Odendahl gestellt hat. Ich greife der bekannten Situation nicht zu spät mit einem daher den zweiten Teil Ihrer Frage auf, wie ich solchen Programm herauszukommen, und dabei den bewerte, daß viele junge Menschen dann gedenken, 1. Juli genannt hat? Nur für den Fall, daß Sie wieder in den anderen Teil Deutschlands, in die alten Bun- den Herbst mit dem Sommer verwechseln. desländer, zu gehen, damit sie dort eine ordentliche (Dirk Hansen [F.D.P.]: Also rechtzeitig!) Ausbildung bekommen. In den grenznahen Gebieten der neuen Bundeslän- Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Liebe Frau Kol- der werden Sie dieses Problem ständig haben. Ich muß legin, Sie hätten mir gerade zuhören sollen. Ich habe Ihnen aber sagen: Es ist für unsere jungen Menschen zu diesem Stichtag, dem 1. Ju li, gesagt: Wenn der gut, wenn sie eine berufliche Bildung dort, wo sie gut Minister seinen Kabinettsbericht abgibt, dann wird ist, bekommen. festgelegt, daß dieses Sonderprogramm auf den Weg Ich muß Ihnen auch mitteilen, daß das Problem, wie kommt. Sie es eben beschrieben haben, möglicherweise daher (Dirk Hansen [F.D.P.]: Ja!) rührt, daß die Kammern strukturschwach angesiedelt sind. Es ist richtig — das haben wir auch in Thüringen; Damit haben sich auch die Vertreter der Industrie bei ich hätte ein paar Zahlen nennen können, die ich der öffentlichen Anhörung zufrieden gegeben, auch heute weglasse --, daß das Handwerk leicht gesättigt die Bildungsträger. Ich halte es für sehr wesentlich, ist und wir den leider noch den Zeitpunkt zu kennen, damit sie sich entsprechend industriellen Mittelstand nicht so aufgebaut haben, daß Lehrstellenplätze zur auf die sie zu erwartende Ausbildung vorbereiten Verfügung stehen. Das ist ein Problem, vor dem aber können. nicht nur Riesa steht, sondern vor dem alle Städte und (Dirk Hansen [F.D.P.]: Gute Beantwor- Gemeinden in den neuen Bundesländern stehen. tung!) Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Ausbildung in den Meine Damen und Herren, meine Fraktion stimmt alten Bundesländern in einem Handwerksbetrieb dem Bundesbildungsbericht auch deshalb zu, weil er durchzuführen ist besser als eine außerbetriebliche, kritisch ist und sagt: Wir haben in diesem Jahr mehr von uns künstlich eingerichtete Ausbildung. Probleme zu erwarten als in den letzten Jahren. Davon müssen wir ausgehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Günter Rixe [SPD]: Da stimmen wir wirklich Eine gewisse Mobilität steht unseren jungen Men- überein!) schen von ihrer gesamten Selbständigkeit her gar nicht schlecht zu Gesicht. Wenn sie es denn wollen — Herr Rixe, da sind wir uns alle so etwas wie — ich sage: wenn sie es denn wirklich wollen —, dann einig. kommen sie eines Tages auch zurück. Das Heimatge- fühl unserer jungen Menschen unterschätzen Sie bitte Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr nicht. Dr. Guttmacher, ich muß noch einmal stören. Es besteht ein weiterer Wunsch, eine Frage zu stellen. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Aber wichtig und prioritär ist ihre Ausbildung. Das hilft auch den Firmen, die in den neuen Bundeslän- Siegfried Vergin (SPD): Ich war Montag und Diens- tag im Wahlkreis Großenhain-Riesa und habe dort mit dern einen industriellen Mittelstand gründen, von Vertetern der drei beruflichen Schulen gesprochen: dem ich sprach. mit der Handwerkskammer, mit den Gewerkschaften (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und dem Arbeitsamt Riesa. Alle haben mir mit auf den Weg gegeben (Zuruf von der CDU/CSU: Frage!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine — die Frage kommt gleich —, die Entscheidung über Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte einmal. die Zusatzprogramme nicht wieder, wie bisher Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen noch geschehen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschie- einmal in Erinnerung zu rufen, daß es in der Ge- ben. Die Planungssicherheit müsse hergestellt wer- schäftsordnung präzise heißt, Zwischenfragen sollen den. Insbesondere müßten bei dem Verhältnis 1 Lehr- kurz sein und die Antworten natürlich ebenso. stelle zu 2,5 Jugendlichen Ausbildungsplatzsuchende (Heiterkeit — Günter Rixe [SPD]: Aber jeder davor bewahrt werden, sich zum Westen hin zu darf fragen nach der Geschäftsordnung!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19649

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Es ist, mit Verlaub, schon ein wenig mißbräuchlich, Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- wenn zum Schluß die Summe aller Antworten länger dent! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein ist als die gesamte Redezeit. Ich möchte mit aller interessantes Ritual geworden: Die Mitglieder des Zurückhaltung einmal auf diesen Sachverhalt auf- Ausschusses für Bildung und Wissenschaft sowie merksam machen und Sie bitten, entsprechend darauf befreundete Kolleginnen und Kollegen des Hohen Rücksicht zu nehmen. Das wäre sehr, sehr nett. Hauses treffen sich regelmäßig hier. (Zuruf von der SPD: Leider nicht so oft! — Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind Ihre Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Insofern bin ich Herrn Vergin für seine Frage sehr dankbar; ich habe Freunde?) hier leider nur vier Minuten Redezeit zur Verfügung — Ach, wissen Sie, ich möchte Sie jetzt nicht in die gestellt bekommen. Verlegenheit bringen, daß ich in eine Richtung zeige, Meine Damen und Herren, ich möchte auf ein wo Sie sagen, das wußten Sie noch gar nicht. Problem aufmerksam machen, bei dem uns gesetzli- Ich wollte damit eigentlich nur andeuten: Wir könn- che Regelungen mitunter im Wege stehen, wenn wir ten ja alle unsere Manuskripte weglegen; denn wir Lehrlingsstellen suchen und Verträge abschließen sagen sowieso alle das gleiche. Die neuen Zahlen wollen. In Altenburg, einer Stadt in Thüringen, ist ein haben wir im Kopf, geändert hat sich nichts. Nun wäre Krankenhaus existent und ein weiteres wird gebaut. das etwas makaber, weil hinter der Tatsache, daß die Man hat 25 junge Menschen, die man in der berufli- Koalition zwar immer sagt, sie löse immer mehr chen Erstausbildung zur Krankenpflege ausbilden Probleme, und die Opposition sagt, sie sehe immer möchte. Die praktische Ausbildung können diese weniger gelöste Probleme, Krankenhäuser selbst übernehmen. Die theoretische (Dirk Hansen [F.D.P.]: Da hat sie unrecht! — Ausbildung hat eine Lehranstalt vor Ort übernommen Gegenruf der Abg. Gerlinde Hämmerle und auch durch das dortige Kultusministerium für drei [SPD]: Die Opposition hat immer recht, das Jahre bewilligt bekommen. werden Sie das nächste Mal noch merken!) Nun sträubt sich das Gesundheitsministerium, die letztendlich — egal, wie das Wortduell zwischen Finanzierung der Ausbildung dieser jungen Men- beiden Seiten ausgeht — das Problem steht, daß die schen zu übernehmen, weil die Bildungseinrichtung Anzahl junger Menschen im Osten Deutschlands, die nicht in der Trägerschaft des Krankenhauses liegt. keine Berufsausbildung haben und die in das Heer Das sind Probleme, denen wir uns zuwenden müssen, der Arbeitslosen stoßen, von Jahr zu Jahr größer wird. damit es gelingt, gerade auch für die Krankenpflege Nun können wir alle Parteipolitik beiseite lassen: und später für die Altenpflege eine Ausbildung durch- Wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen zuführen. Hier hätten wir, so meine ich, große Reser- — ich wiederhole, was ich auch hier gesagt habe —, ven, um Ausbildungsstellen gerade unseren weibli- sind existentielle Fragen junger Menschen nicht chen Auszubildenden zur Verfügung zu stellen. gelöst und damit auch nicht gesellschaftliche und Es ist für mich unerträglich, wenn — darauf komme politische Probleme. ich jetzt noch einmal zurück — von Ihnen, meine Ich frage mich selbst: Wo würde ich landen, wie Damen und Herren der SPD, und den Gewerkschaften würde es mir ergehen, wenn ich in einem ausbil- — der Korrektheit halber sage ich aber auch: und von dungsfähigen Alter wäre und keinen Ausbildungs- der Bundesanstalt für Arbeit — immer wieder die platz bekommen könnte? Wäre vielleicht auch ich Forderung gestellt wird, im Mai das Sonderprogramm verführbar? Würde ich vielleicht auch zu denen gehö- aufzulegen. ren, die uns heute in der Bundesrepublik Deutschl and Meine Damen und Herren, freuen wir uns erst Sorge bereiten? Ich glaube zwar, daß die Bundesre- einmal darüber, daß der Finanzminister einstweilig gierung viele Anstrengungen unternimmt. Das erfolgt verfügt hat, daß jene 85 Millionen DM, die wir später aber mit einem Gießkannenprinzip, das das eigentli- einmal über den Europäischen Sozialfonds zurückbe- che Problem nicht löst. kommen, der Bundesanstalt für Arbeit zur Verfügung Der Bundesminister hat auf meine Frage, ob im gestellt werden. Damit ist für die Bildungsträger Bildungsbericht nun einmal die Gesamtzahlen für Planungsfreiheit gegeben, Ostdeutschland nach der Wende enthalten sind, (Günter Rixe [SPD]: Das war auch so ein geantwortet, ich solle mich in den Bericht vertiefen. Finanzierungstrick! Daran müssen wir uns Ich habe es gemacht — das war sehr anstrengend —, noch gewöhnen!) ich habe die Zahl nicht gefunden. Nun kann es sein, und wir können uns darauf vorbereiten, daß wir uns daß die Bundesregierung die Zahl nicht hat. Das möglicherweise auf eine etwas größere Anzahl von in glaube ich nicht. Es kann sein, daß die Zahlen so gut der außerbetrieblichen Ausbildung befindlichen Aus- sind, daß sie sie nicht veröffentlicht. Auch das glaube zubildenden einzurichten haben. ich nicht. Es kann aber auch sein, daß die Zahlen so problematisch sind, In dieser Form werden wir dem Bundesbildungsbe- richt unsere Zustimmung geben. (Dirk Hansen [F.D.P.]: Das glaube ich auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht!) daß sie sie nicht veröffentlicht. Das würde ich verste- hen, wenn ich an der Stelle der Regierung wäre. Aber Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile wenn sie die Zahlen hat, kann es doch nur eine nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dietmar Keller das Konsequenz geben: nicht jedes Jahr ein klein bißchen Wort. zu klotzen, sondern langfristig eine Grundsatzent- 19650 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Dietmar Keller scheidung herbeizuführen, die das Problem der Aus- nisse, die in der Diskussion auch angesprochen wor- bildung von jungen Menschen, insbesondere im den sind. Osten Deutschlands, löst. Natürlich bleibt die Situation in den neuen Ländern Ich kann natürlich von Heimatliebe, Heimatverbun- bis auf weiteres besonders kompliziert und schwierig. denheit und ähnlichem sprechen — auch ich liebe Aber gerade deswegen sollte man dann auch festhal- mein Sachsen —, aber wenn ich ein Grenzgänger bin, ten, daß wir in den neuen Ländern in 1993 eine in meiner Heimat keinen Ausbildungsplatz bekomme insgesamt ausgeglichene Bilanz erreicht haben, und mich nach drei, vier Jahren dort wohl fühle und wobei zu dieser ausgeglichenen Bilanz eine Vielzahl dort Arbeit bekomme, ist doch klar, wie ich mich von Entwicklungen und Bewegungen beigetragen entscheide. Die Anzahl der jungen Menschen, die hat, natürlich auch die Einstellung von jungen Leuten Ostdeutschland verlassen, wird immer größer. auf die Situation mit den damit verbundenen Ent- Wahr ist, daß heute nur jeder zweite Bewerber eine scheidungen, sich für eine weitere schulische Ausbil- Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, davon nur dung in dieser oder jener Va riante zu entscheiden. jeder zweite Bewerber die Chance hat, einen Ausbil- Dies alles trägt im übrigen auch zu dem etwas dungsplatz im Rahmen seiner Wünsche zu bekom- komplizierten Zahlenbild bei, auf das Sie, Herr Kol- men, und davon wiederum nur jeder zweite die lege Keller, gerade noch einmal Bezug genommen Chance hat, nach der Ausbildung einen Arbeitsplatz haben. zu bekommen. Das heißt, im Prinzip bekommt nur Daß im vergangenen Jahr gut 99 000 Jugendliche in jeder achte Ostdeutsche nach der Ausbildung, die er den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz erhalten sich gewünscht hat, einen Arbeitsplatz. Konkret heißt haben, ist jedenfalls ein Erfolg, der vor einem Jahr in das: jeder sechste Junge, jedes zehnte Mädchen. den einschlägigen vergleichbaren Debatten, Herr Ich denke, diese Zahlen, die uns allen bekannt sind, Kollege Rixe, auch von Ihnen und manchen Kollegen wären Anlaß, über die Konzeptionen zur Verände- noch gar nicht für möglich gehalten wurde. rung des Lehrstellenangebots zu sprechen. Ich achte — ich sage das hier ausdrücklich —, daß das Hand- (Günter Rixe [SPD]: Aber es fehlen noch werk vieles geleistet hat und in eine Lücke gestoßen welche! -- Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ist, die noch viel größer wäre, wenn das Handwerk jedes Jahr so!) und die Freiberuflichen das nicht gemacht hätten. Dieser Teil der Debatte hat inzwischen fast rituelle Aber dieser Bereich kann das Problem für die Bundes- Züge, was ich jetzt gar nicht vertiefen will. Aber ich republik Deutschland nicht lösen. Die Bundesregie- denke, wir dürfen festhalten: Dies ist ein gemeinsamer rung ist am Zuge. Sie muß Entscheidungen treffen, Erfolg von Wirtschaft, Bund und neuen Ländern. und das so schnell wie möglich. Daran haben viele mitgewirkt. Zu den besonders zutreffenden Bemerkungen, Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Kollege Rixe, gehörte Ihre und auch die des Kollegen hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Keller, nämlich die Bemerkung, daß sich da insbeson- Lammert das Wort. dere das Handwerk in besonders dankenswerter Weise engagiert hat.

Parl. Staatssekretär beim Wahr ist auch, daß wir eine noch vorhandene Dr. Norbert Lammert, nach dem September, also Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr Ausbildungsplatzlücke nach dem Beginn des Ausbildungsjahres, nur durch Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die eine des Bundes, der neuen Debatte über den Berufsbildungsbericht bietet tradi- Gemeinschaftsinitiative tionell Gelegenheit, sowohl eine Bilanz des abge- Länder und Berlins schließen konnten, mitfinanziert schlossenen Berufsbildungsjahres vorzunehmen, als aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Aber diese auch sich perspektivisch mit den absehbaren Konstel-- Initiative hat es auch gegeben. Wir reden hier nicht lationen im bevorstehenden Ausbildungsjahr ausein- über ein Phantomprogramm, über dessen Notwendig- keit pausenlos geredet worden wäre, ohne daß es anderzusetzen. gekommen wäre. Es ist gekommen, und es hat genau Ich will mich an dieser Debatte, die wir nicht nur die Lücke geschlossen, die damals tatsächlich noch hier, sondern auch in den Auschüssen fortsetzen bestanden hat. werden, gern beteiligen, zumal in der bisherigen Aussprache neben manchen zutreffenden Feststellun- Dieser Be richt unterschlägt auch nicht — das ist gen auch manche nicht ganz so zutreffenden Anmer- auch angemerkt worden —, daß wir nach Einschät- kungen gemacht worden sind. zung der Bundesregierung und aller Fachleute im Jahr 1994 mit einer mindestens ebenso schwierigen Wenn wir mit der Situation beginnen, die dieser Situation rechnen müssen, was für alle Beteiligten Berufsbildungsbericht für das abgeschlossene Ausbil- wiederum bedeutet, daß sie sich für dieses Jahr auf dungsjahr dokumentiert, dann können wir zunächst weitere intensive Anstrengungen einrichten müs- einmal feststellen, daß im vergangenen Jahr mehr als sen. 570 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen worden sind und daß wir insgesamt gesehen in den alten und Die Bundesregierung hat fest vereinbart, daß sie auf den neuen Ländern eine im ganzen ausgeglichene der Basis eines Berichts des Bundesministers für Ausbildungsplatzbilanz haben. Dies ist, wie jeder- Bildung und Wissenschaft zum 1. Juli dieses Jahres mann weiß, nicht das ganze Bild, sondern hinter über die dann überschaubare Ausbildungssituation in diesen globalen Zahlen verbergen sich sehr differen- den neuen Ländern reden und, wenn erforderlich, zierte und zum Teil auch sehr komplizierte Verhält auch Maßnahmen beschließen wird. Wirtschaft, Län- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19651

Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert der und Bund stehen hier in einer gemeinsamen einen Trend erkennen läßt, der uns gemeinsam Anlaß Verantwortung. Ich glaube auch nicht, daß wir uns zum Nachdenken und auch zur Sorge bietet. hier wechselseitig in dem Versuch überbieten sollten, (Günter Rixe [SPD]: Aber die warten nicht auf wer an welcher Stelle welche alleinige oder vorran- Geld, sondern die wollen nicht mehr!) gige Verantwortung hat. Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, wird sich am Ende weder die Politik noch — So treuherzig wie Ihr Zwischenruf sind Sie ganz die Wirtschaft mit dem Hinweis auf den jeweils gewiß nicht. Spätestens in dem Augenblick, wo wir anderen Partner herausreden können. genau die Art von allgemeiner Garantieerklärung für einen Teil eines inzwischen vereinten Landes machen Genau dies hat der Bundeskanzler völlig zu Recht würden, müßte die gleiche Politik, die gleiche Bun- immer wieder hervorgehoben: daß wir durch gemein- desregierung, das gleiche Parlament selbstverständ- same Anstrengungen sicherstellen müssen, daß jeder lich für jeden möglicherweise betroffenen jungen am Ende einen Ausbildungsplatz hat, der einen Aus- Mann oder jedes junge Mädchen in den alten Ländern bildungsplatz braucht und einen Ausbildungsplatz der Bundesrepublik die gleiche Bereitschaft hier zu will. Das, was wir in den vergangenen Jahren erreicht Protokoll geben. haben — verehrter Kollege Rixe, das wissen Sie (Günter Rixe [SPD]: Nein!) besser, als Sie es vorgetragen haben —, hängt nicht ganz unwesentlich auch mit dem persönlichen Enga- — Natürlich! — Ich sage noch einmal: Dies wäre der gement des Kanzlers wie des Bundesbildungsmini- Anfang vom Ende eines leistungsfähigen, funktions- sters in dieser Frage zusammen. fähigen Systems dualer Berufsausbildung. Auch deswegen muß es bei dieser Vorgehensweise Nun führen wir auch nicht zum erstenmal die bleiben. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß der Diskussion darüber, wann man ein solches Programm Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung mit welcher Dimensionierung und welchen Konditio- einvernehmlich, die Auffassung vertritt, daß die deut- nen ankündigen, beschließen und umsetzen muß. Wir schen Unternehmen falsch beraten sind, wenn sie sagen in diesem wie im vergangenen Jahr: Ein solches allein aus einzelbetrieblichen und kurzfristigen Programm, wenn es denn notwendig ist, muß recht- Kosten-Nutzen-Erwägungen derzeit darauf verzich- zeitig beschlossen werden. Rechtzeitig heißt: nicht zu ten, durch Berufsausbildung auf breiter Basis die zur spät, aber eben auch nicht zu früh. Erhaltung ihrer Produktivität und Wettbewerbsfähig- keit notwendige Personalvorsorge zu treffen. Dem ist Herr Kollege Rixe, da ich vermute, daß Sie von dem aus der Sicht der Bundesregierung überhaupt nichts Thema, über das heute hier geredet wird, noch mehr hinzuzufügen. verstehen, als aus Ihrem Beitrag deutlich wurde, Lassen Sie mich zum Schluß, weil der Kollege (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Günter Rixe Kuhlwein — — [SPD]: Dann müßte ich etwas mehr Zeit kriegen!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr bin ich fast sicher, daß Sie dann, wenn Sie jetzt für die Staatssekretär, Sie reden inzwischen auf Kosten Ihrer Bundesregierung die Fragen beantworten müßten, Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Frak- die Sie ihr gestellt haben, ziemlich präzise das sagen tion. Sie haben die Redezeit überschritten. würden, was ich jetzt vortrage, daß man nämlich die Wirtschaft auch nicht durch voreilige Ankündigungen der Politik aus ihrer ureigenen Verantwortung entlas- Dr. Norbert Lamme rt, Parl. Staatssekretär beim sen darf. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Dann lasse ich das bleiben und behalte mir vor, gegebenen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) falls in Gestalt einer geeigneten Zwischenfrage bei - dem Beitrag des Kollegen Kuhlwein das geradezustel- Ich bitte Sie ohne jeden Anflug von Polemik, einfach len, was er sonst möglicherweise als Einschätzung auch zu bedenken, welches vielleicht gutgemeinte, mangelnder Innovationsbereitschaft der Koalition aber fatale Signal wir für ein dauerhaft leistungs- und oder der Bundesregierung zum Thema Hochschulzu- funktionsfähiges System dualer Berufsausbildung in gang für beruflich Qualifizierte hier nachher vortra- den neuen Ländern und über die neuen Länder hinaus gen könnte. vermitteln würden, wenn wir mit einer unkonditio- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nierten Garantieerklärung der Politik für den Fall einer Ausbildungsplatzlücke hier aufmarschieren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — würden. Ich sage Ihnen — das meine ich ganz ernst —: Eckart Kuhlwein [SPD]: Dann müssen Sie Das wäre der Anfang vom Ende eines Systems dualer sich auch auf den Abgeordnetenplatz setzen! Berufsausbildung in der hauptsächlichen Verantwor- Auf der Regierungsbank säße dann gar kei tung der deutschen Wirtschaft. ner mehr!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Auch das Ich sage das auch deswegen mit besonderem Ernst, war kein Beitrag zur Verkürzung der Debattenzeit. weil wir, wie Sie wissen, wie es auch in dem Bericht niedergelegt ist, inzwischen auch in den alten Län- (Heiterkeit) dern mit einer Entwicklung zu tun haben, die, was die Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ma ria Eich- Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze angeht, horn. 19652 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Begabte junge Berufstätige, die eine anerkannte Damen und Herren! Die Zahl der abgeschlossenen Berufsausbildung abgeschlossen haben, werden Ausbildungsverträge war auch 1993, wie wir gehört durch das 1991 gestartete Programm „Begabtenförde- haben, rückläufig. Der Trend zu Abitur und Studium rung berufliche Bildung" in der Weiterbildung unter- scheint trotz wachsender Arbeitslosigkeit von Hoch- stützt. 1993 haben sich nahezu alle zuständigen Stel- schulabsolventen ungebrochen zu sein. len in den Bereichen Industrie und Handel sowie im Seit vielen Jahren wird der Gedanke der Gleichwer- Handwerk daran beteiligt. Gefördert werden Weiter- tigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung bildungsaktivitäten, die besondere Ansprüche stellen. betont. Wirtschaft und Politik haben Vorschläge Berufs- oder betriebsübliche Weiterbildung ist nicht gemacht, um diese bildungspolitische Forderung zu förderfähig. Seit Mitte 1993 sind auch Vorbereitungs- realisieren. Ein möglichst ausgewogenes Verhältnis lehrgänge auf berufliche Aufstiegsvorbildung, wie der verschiedenen Ausbildungswege und Bildungs- z. B. zum Meister oder Techniker, förderfähig. bereiche ist notwendig. Der einseitige Trend zu Für 1994 stehen 28 Millionen DM zur Verfügung, Abitur und Studium führt dazu, daß sich die Bildungs- 2 Millionen mehr als 1993. Damit können 3 200 nachfrage von den Anforderungen des Beschäfti- Stipendiaten neu in die Förderung aufgenommen gungssystems entfernt. Ein immer größer werdendes werden zu den 8 100, die derzeit gefördert werden. Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte Viertens. Das Bildungssystem muß insgesamt und zunehmende Arbeitslosigkeit der Akademiker durchlässiger werden. Es ist der richtige Weg, quali- sind die Folge. fizierte Hauptschüler mit abgeschlossener dualer Eine Ursache dieses Trends ist, daß viele Eltern eine Berufsausbildung Realschülern uneingeschränkt berufliche Ausbildung immer noch für eine Sackgasse gleichzustellen. Zur Verwirklichung der Gleichwer- halten. Im Zweifelsfalle schicken sie ihre Kinder lieber tigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist es auf das Gymnasium. Denn ein erfolgreiches Hoch- auch notwendig, die Zugangsmöglichkeiten von schulstudium verspricht nach wie vor ein höheres Absolventen der beruflichen Bildung zum Studium Einkommen und Sozialprestige als das Absolvieren zu verbessern. Es ist zu begrüßen, daß bereits in allen einer Berufsausbildung. Damit sich wieder mehr Bundesländern für beruflich qualifizierte Bewerber junge Menschen und deren Eltern für einen berufli- Möglichkeiten des Zugangs bestehen. chen Ausbildungsweg entscheiden, muß die Attrakti- Die von den Ländern geschaffenen Möglichkeiten vität der Berufsbildung weiter erhöht werden. sind jedoch sehr unterschiedlich und offenbaren (Günter Rixe [SPD]: Das haben wir doch unterschiedliche Meinungen. Die einen gehen selbst- versucht! Das haben Sie doch im Ausschuß verständlich von Eignungsprüfungen oder Auswahl- abgelehnt!) gesprächen aus und überlassen die Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg den einzelnen. Dabei bleibt Es gilt, Karriere und Aufstiegschancen für Absol- aber völlig außer Betracht, daß die Erfolgschancen venten des beruflichen Bildungswegs weiter zu ver- nicht nur vom persönlichen Einsatz, sondern auch von bessern. der Qualität der Aus- und Weiterbildung abhängen. (Doris Odendahl [SPD]: Warum haben Sie es Auf der anderen Seite hingegen wird schon ein denn abgelehnt?) Probestudium als Zumutung empfunden. Förmliche — Ich komme darauf gleich noch zu sprechen, Frau Auswahlprozeduren werden völlig abgelehnt, weil sie Odendahl. — dem Gleichwertigkeitsgedanken widersprechen. Dazu ist notwendig: Es ist eine schwierige Aufgabe für die Länder, auf Grund der gewonnenen praktischen Erfahrungen Erstens. Die berufliche Erstausbildung muß durch eine einheitliche Regelung zu finden, die beiden anspruchsvolle Weiterqualifizierungsmaßnahmen er- Ansprüchen gerecht wird. Meiner Meinung nach muß gänzt werden, damit die Fähigkeiten und das Lei- dabei vor allem das Anforderungsprofil für das Stu- stungsvermögen der Auszubildenden entwickelt wer- dium im Mittelpunkt stehen. Sachlich nicht gerecht- den können. fertigte Hürden sind abzubauen. Allerdings müssen Zweitens. Die Einkommens- und Laufbahnchancen die Verantwortlichen auch dafür Sorge tragen, daß für junge Menschen, die eine Berufsausbildung abge- qualifizierten Berufstätigen Enttäuschungen an der schlossen und sich im Be trieb bewährt haben, müssen Hochschule erspart werden. verbessert werden. Der Meister muß endlich die Dies durch ein Probestudium zu erkunden — wie gleichen Chancen haben wie der Akademiker. die SPD es will — ist nach Meinung der Koalition nicht (Beifall bei der CDU/CSU — Günter Rixe der richtige Weg. Durch ein Probestudium wird die [SPD]: Da klatschen Sie! Wir stellen vor Entscheidung über eine Studienberechtigung beruf- 14 Tagen den Antrag, und Sie lehnen ihn lich Qualifizierter unnötig hinausgeschoben. Es ist ab!) besser, die Eignung des Bewerbers für das gewählte Studienfach frühzeitig zu erkunden. Nicht zuletzt Hier sind Wirtschaft und öffentlicher Dienst gleicher- deshalb lehnen wir den von der SPD eingebrachten maßen gefordert. Tarifrecht und Laufbahnverordnun- Entwurf einer Novelle des Hochschulrahmengesetzes gen müssen geändert werden. ab. Drittens. Die Begabtenförderung in der beruflichen Unser Ziel ist, die Attraktivität der beruflichen Bildung hat sich bewährt und muß weiter ausgebaut Bildung zu steigern und die Gleichwertigkeit von werden. allgemeiner und beruflicher Bildung zu verwirkli- (Beifall bei der CDU/CSU) chen. Das ist dann gelungen, wenn Eltern und junge Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19653

Maria Eichhorn Menschen erkennen: Mit einer guten beruflichen Gewerkschaften und vielen Arbeitgebern an Aus- Ausbildung sind alle Lebenschancen und Entfaltungs- und Weiterbildung. Die Bundesregierungen unter möglichkeiten offen. haben am allerwenigsten dazu beigetra- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen. Zweitens. Unser Bildungssystem muß ständig wei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr terentwickelt werden, wenn es zukunftsfähig bleiben spricht der Abgeordnete Eckart Kuhlwein. oder wieder werden soll. Wer vom Standort Deutsch- land redet, darf Bildung und Wissenschaft nicht so Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Präsident! Meine sehr vernachlässigen, wie es diese Bundesregierung getan verehrten Damen und Herren! Wenn ich so auf die hat. Die Binsenweisheit, daß ein rohstoffarmes L and Regierungsbank sehe und weiß, daß der Kollege wie die Bundesrepublik Deutschland nur dann wett- Lammert gleich eine Frage an mich stellen will, dann bewerbsfähig bleiben kann, wenn es in die Kenntnisse habe ich den Eindruck, die Regierung ist heute in und Fähigkeiten seiner Menschen investiert, ist von Vorwegnahme des Wahlergebnisses vom 16. Oktober der Bundesregierung nicht ernsthaft zur Kenntnis schon völlig untergetaucht. genommen worden. (Zuruf von der SPD: So ist es! — Zuruf von der Drittens. Es ist richtig, daß die wesentlichen Zustän- CDU/CSU: Aber die Länder auch!) digkeiten im Bildungsbereich bei den Ländern liegen. Ich wollte auch eine Vermißtenmeldung aufgeben, Frau Kollegin Eichhorn, ein paar Länder werden auch weil ich den Bundesminister für Bildung und Wissen- noch von der Union regiert; sie sind auch nicht schaft bei der ersten bildungspolitischen Debatte nach vertreten. In einem regiert sogar Ihre Partei noch. seinem Amtsantritt hier heute gerne auf der Regie- Davon ist auch niemand da. Das heißt, sie interessie- rungsbank gesehen hätte, damit auch er sich etwas ren sich ohnehin sehr selten für unsere bildungspoli- hätte bilden können. tischen Debatten. Das ist ein Problem, das wir gemein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sam mit den Ländern haben, egal welcher Couleur Seines Amtes wäre es auch, sich dem Bundestag zu dort die Regierungen sind. stellen. Seine Abwesenheit können wir nur so erklä- Richtig ist aber auch, daß der Bund eine Anstoß- ren, daß auch er bereits amtsmüde geworden ist, was funktion hätte und gleichzeitig gleichwertige Lebens- mir in dieser Regierung nicht als Besonderheit auf- verhältnisse sicherstellen müßte. Wenn der Bund fällt. nicht ausreichend Mittel für den Hochschulbau zur (Zuruf von der F.D.P.: Irrtum!) Verfügung stellt, muß er sich nicht wundern, wenn in einigen Ländern trotz steigender Nachfrage Studien- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- plätze abgebaut werden. geordneter Kuhlwein, sind Sie bereit, eine Zwischen- Wenn sich der Bund, Herr Lammert, bei Bahn und frage der Abgeordneten Eichhorn zu beantworten? Telekom aus der Ausbildung zurückzieht, braucht er sich nicht zu wundern, wenn Großunternehmen mit (SPD): Selbstverständlich. Eckart Kuhlwein derselben betriebswirtschaftlichen Begründung ebenso verfahren, was wir gemeinsam ausdrücklich Bitte sehr, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: verurteilen. Frau Abgeordnete. Wenn der Bund die Aufstiegsfortbildung im Arbeits- Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege Kuhl- förderungsgesetz streicht, darf er damit rechnen, daß wein, was schließen Sie dann aus der Tatsache, daß auch Arbeitgeber diesen Bereich vernachlässigen auf der Länderbank keiner anwesend ist? werden. Wenn der Bund den Hochschulausbau in den - neuen Bundesländern auf Sparflamme fährt, überbe- Eckart Kuhlwein (SPD): Wir reden heute über Bun- triebliche Ausbildungsstätten nicht ausreichend för- desbildungspolitik, Frau Kollegin. Ich habe mir auch dert und kein auswahlfähiges Angebot an Ausbil- die Liste der Entschuldigungen angesehen. Der Bun- dungsplätzen rechtzeitig sichert, macht er das mit der deskanzler hat sich ordentlich entschuldigt, ebenso deutschen Einheit übernommene soziale Gefälle zum wie Frau Staatsministerin Seiler-Albring und der Dauerzustand. Bundesminister Töpfer. Der Bundesbildungsminister, Viertens. Der Bund hat viele Möglichkeiten ver- dessen Themen hier verhandelt werden, hat sich nicht säumt, Bildung und Wissenschaft wieder zu einer einmal entschuldigt. Ich finde es einigermaßen politischen und gesellschaftlichen Priorität zu ma- bemerkenswert, wie hier mit dem Parlament umge- chen. Er hat die Chance versäumt, das Berufsbil- gangen wird, übrigens auch mit Ihnen, nicht nur mit dungsgesetz zu modernisieren. Er hat die Bund- der Opposition. Länder-Kommission für Bildungsplanung und For- Ich will das Ritual der Berufsbildungsdebatten schungsförderung nicht genutzt, um die Weiterbil- etwas durchkreuzen und einige grundsätzliche dung, wie seit 1973 gefordert, aufzuwerten und zu Bemerkungen zum Stand und zur Entwicklung unse- ordnen und damit zur vierten Säule des Bildungssy- res Bildungswesens machen: stems zu machen. Er hat weder im Hochschulrahmen Erstens. Unser Bildungssystem ist alles in allem recht noch im Beamtenrecht Konsequenzen aus der besser als der Ruf, in den es gelegentlich gebracht Erkenntnis gezogen, daß unsere Hochschulen effekti- wird. Das hat mit dem anhaltenden Engagement trotz ver gemacht und besser mit den übrigen Bereichen immer knapperer Kassen in vielen Ländern zu tun, des Bildungssystems, auch mit der beruflichen Bil- aber auch mit dem ausgeprägten Interesse von dung, verzahnt werden müssen. 19654 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Eckart Kuhlwein Fünftens. Der Bund hat statt dessen eine Kampagne Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- zur Abschreckung vom Hochschulstudium gestartet, geordneter Kuhlwein, sind Sie bereit, eine Frage des ohne auch mir ansatzweise die bet riebliche Berufs- Abgeordneten Lammert zu beantworten? ausbildung im dualen System attraktiver zu machen, als ob wir es uns leisten könnten, die Wünsche vieler Eckart Kuhlwein (SPD): Ich habe diese Frage aus- junger Menschen nach einer guten und weiterführen- drücklich an dieser Stelle erwartet. Bitte sehr, gerne. den Bildung zu vernachlässigen, und das, obwohl Ich finde es nur traurig, daß jetzt die Regierung völlig diese Bundesregierung genau weiß, daß die Bildungs- verschwunden ist. expansion auch ökonomisch richtig und notwendig ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abgeordneter Lamme rt. (Beifall bei der SPD) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Ich wollte Ihnen Was sich um unseren Entwurf einer 4. HRG - Novelle abgespielt hat, die heute hier zur Abstimmung steht, doch Gelegenheit geben, Ihre vorbereitete Antwort ist ein Musterbeispiel dafür, wie weit eigene Erkennt- vorzutragen, Herr Kollege Kuhlwein. nisse und politische Umsetzung auseinanderklaffen. Stimmen Sie mir zu, daß es bei der von uns allen Da haben wir von der SPD eine Regelung vorgeschla- gemeinsam für wünschenswert gehaltenen einheitli- gen, die Berufserfahrenen auch ohne Abitur grund- chen Regelung eines fairen Hochschulzugangs auch sätzlich den Zugang zum Studium ermöglichen soll, aus der beruflichen Bildung heraus nicht darum geht, wie das viele Länder in sehr unterschiedlichen Vari- irgendeine Regelung zu finden, sondern darum, eine anten bereits in ihre Hochschulgesetze geschrieben solche Regelung zu finden, die erstens sachlich ver- haben. Es ging uns um das notwendige Maß an nünftig und zweitens sowohl im Bundestag als auch im Bundeseinheitlichkeit. Wir haben geglaubt, wir wür- Bundesrat mehrheitsfähig ist, und können Sie bestäti- den damit offene Türen einrennen, weil auch die gen, daß der von Ihnen vorgeschlagene Gesetzent- Bundesregierung in ihren Sonntagsreden die Gleich- wurf neben den Zweifeln an der sachlichen Vernünf- wertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung tigkeit ganz ohne jeden Zweifel im Bundesrat nicht beschwört und die Durchlässigkeit zwischen den mehrheitsfähig ist? verschiedenen Bereichen des Bildungssystems ver- (Dirk Hansen [F.D.P.]: Also war das ein bessern will. Scheinantrag?) Wir haben die Beratungen über unseren Entwurf (SPD): Meine Antwort auf die erste mit der ausdrücklichen Bereitschaft eingeleitet, im Eckart Kuhlwein Frage, Herr Lammert: Die Koalition hat zwei Jahre Ausschuß nach Kompromissen zu suchen. Wir haben Zeit gehabt, sich eine auch von ihr für vertretbar auch entsprechende Angebote gemacht, die Einwen- gehaltene vernünftige Lösung für dieses Problem dungen aus den Reihen der Koalition entgegenge- kommen sind. Frau Kollegin Eichhorn, wir haben als einfallen zu lassen. Angebot im Ausschuß auch ausdrücklich hineinge- (Dirk Hansen [F.D.P.]: Das ist jetzt eine schrieben, daß es auch Eingangsprüfungen sein könn- Wiederholung!) ten und nicht nur ein Probestudium. Sie kommen heute mit einem Null-Angebot in diese zweite und dritte Lesung. Die Bundesregierung und die Fraktionen von CDU/ CSU und F.D.P. hatten zwei Jahre Zeit, eine abge- (Doris Odendahl [SPD]: Wie immer! — Gün stimmte Position zu erarbeiten. Daß die noch Regie- ter Rixe [SPD]: Das hätten Sie gemeinsam renden heute unseren Gesetzentwurf ablehnen, zeigt, machen können, Herr Lammert!) daß sie nicht mehr fähig sind, Politik zu gestalten. Die Antwort auf die zweite Frage: Es wäre nicht das Offenbar sind der Koalition die Rücksichtnahme auf erste Mal, daß dieses Hohe Haus etwas beschließt, konservative Standesorganisationen und ihre Abitur-- manchmal sogar auf Vorschlag Ihrer Regierung, was ideologie im Bundesrat keine Mehrheit findet und im Vermitt- lungsausschuß nachher überprüft und aufgearbeitet (Beifall bei der SPD) wird, bevor es seine endgültige Form findet. oder auf den bayerischen Koalitionspartner wichtiger (Beifall bei der SPD) als die guten Argumente, Das ver- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das ist ein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: anlaßt den Abgeordneten Lammert, noch einmal wichtiger Partner!) nachzufragen. die gemeinsam von Gewerkschaften und Arbeitge- bern vorgetragen werden. Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Lammert, wenn es denn sein muß. Wir bleiben dabei: Das Hochschulrahmenrecht ist einer der wenigen Hebel des Bundes, um die Gleich- Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Könnten Sie, wertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung Herr Kollege Kuhlwein, wie ich einen Zusammenhang praktisch werden zu lassen und gleichzeitig die zwischen diesem Gesetzentwurf und der gleichzeiti- Gefahr zu reduzieren, daß berufliche Bildung nach gen Debatte über Verfassungsänderungen entdek- der Sekundarstufe I zur Sackgasse wird. Deshalb muß ken, jedenfalls insoweit, als die Länder, nicht zuletzt dieser bundespolitische Hebel auch genutzt werden, die von der SPD geführten, mit Nachdruck in genau Herr Kollege Lammert. diesen Monaten eine Änderung des Grundgesetzes (Beifall bei der SPD) betreiben, nach der der Bund gar keine Kompetenz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19655

Dr. Norbert Lammert mehr hätte, den Sachverhalt zu regeln, den Sie mit Wir sollten aufhören, uns gegenseitig mit dem oder diesem Gesetzentwurf gerne regeln möchten? jenem Land vorzuführen, in dem wir mehr oder (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) weniger Verantwortung tragen, sondern sollten hier festhalten, was unsere eigene bildungspolitische Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Lammert, in Absicht ist. Wir müßten von der Regierung erwarten den Gesprächen, die ich mit sozialdemokratischen dürfen, daß sie, wenn sie es sonntags immer erklärt, Bildungs- und Wissenschaftsministerinnen und -mi- auch montags einmal einen in den Ressorts abge- nistern geführt habe, ist mir niemals widersprochen stimmten Gesetzentwurf auf den Tisch legt, damit worden, wenn ich gesagt habe, daß auch in Zukunft deutlich wird, was sie denn eigentlich wi ll. der Hochschulzugang bundeseinheitlich über das Jetzt bieten Sie uns an Stelle eines Gesetzes nach Hochschulrahmengesetz geregelt werden können zwei Jahren einen Entschließungstext an, der alle sollte. Argumente wiederholt, die wir seit langem kennen. (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Warum Wir sollen heute beschließen, daß der Bundestag das schreiben Sie dann das Gegenteil in Ihre HRG ändern möchte, aber so nicht und jetzt nicht. Das Verfassungsänderungsanträge? — Heiter- ist uns nach diesem langen Vorlauf und bei der verbal keit bei der CDU/CSU) immer wieder bekundeten Gemeinsamkeit in der — Die Verfassungsdiskussion führen wir Ende Juni Sache erheblich zu wenig. Wir werden deshalb die- weiter, und wir sind uns auch im Ausschuß alle einig sem Entschließungsantrag nicht zustimmen. gewesen, wie wir damit umgehen sollen. Deswegen Ich sage es einmal etwas spitz an die Adresse der ist dieses Scheingefecht, das überdecken soll, daß die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Als Bundesregierung aus ihren erklärten Absichten bis selbstbewußter Abgeordneter hätte ich mich nicht in heute keine gesetzgeberische Konsequenz zieht, dieser Weise von der Bundesregierung gängeln las- ziemlich sinnlos. sen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Kuhlwein, der Abgeordnete Hansen Karl Valentin hat, Frau Kollegin Eichhorn, Ihr möchte auch gern eine Zwischenfrage beantwortet Dilemma vorausgeahnt und Ihnen ins Stammbuch haben. geschrieben: „Wollen hätten wir schon mögen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut." Eckart Kuhlwein (SPD): Fragt er jetzt etwas Intelli- (Zuruf von der SPD: So war das! — Gegenruf genteres? Dann darf er. von der CDU/CSU: Das haben wir schon ein (Heiterkeit bei der SPD) paarmal gehört!) Meine Damen und Herren, meine Fraktion hält eine Dirk Hansen (F.D.P.): Herr Präsident, ich weiß ja neue Phase der Bildungsreform für notwendig, wenn nicht, ob dem Redner die Qualifikation der Kollegen wir dauerhaft Arbeitsplätze sichern und den Struktur- so unbenommen bleibt. wandel bewältigen wollen. Dazu gehört auch, daß wir die berufliche Bildung aufwerten und Bildungs- Eckart Kuhlwein (SPD): Das muß der Präsident schranken weiter abbauen. beurteilen. Wir könnten heute dafür ein Signal geben. Die Koalition mauert. Sie wird sich von der Wirtschaft Dirk Hansen (F.D.P.): Ich wende mich ja damit auch fragen lassen müssen, wie lange sie noch Worte an den Präsidenten, und ich frage erst jetzt den wechseln will, bevor wir endlich Taten sehen. Abgeordneten Kuhlwein: Haben denn die Gespräche, Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Sie mit Ihren sozialdemokratischen Kollegen in letzter Zeit geführt haben und die Sie gerade ange- (Beifall bei der SPD) führt haben, auch bei Ihnen den Erkenntnisprozeß befördert, daß sich offensichtlich auf seiten der SPD- Ländervertreter zunehmend mehr ein Abrücken von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile unserer, im hiesigen Bundestagsausschuß gemein- nunmehr dem Abgeordneten Dirk Hansen das sam, also auch von Ihnen getragenen Position Wort. abzeichnet, und zwar hinsichtlich der Verfassungsän- (Zuruf von der SPD: Wehe, Sie hauen wieder derung, und ist nicht damit indirekt oder sogar direkt auf die niedersächsische Landesregierung der Zusammenhang zum HRG hergestellt? ein!)

Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Kollege Hansen, in einigen der Lander, die Sie gerade zitieren, ist Ihre Dirk Hansen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen Partei sogar an der Regierung beteiligt. Und es gibt ein und Herren! Erste Bemerkung. Ich finde es ein biß- anderes Land, das auch mehr Föderalismus und chen vordergründig, Herr Kuhlwein, wenn Sie hier die Selbstbestimmung gegen den „bösen Bund" mit sei- Abwesenheit der Bundesregierung bzw. des Bundes- nen „zentralistischen Tendenzen" bei der Hochschul- bildungsministers monieren. rahmenrechtsausfüllung haben möchte, und das ist (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wo ist er denn?) das Land, in dem noch die Parteifreunde — kaum — Sie wissen ganz genau, daß die jetzige Debatte auf Parteifreundinnen — von Frau Eichhorn regieren. Grund des SPD-Antrags, zusätzlich eine Aktuelle (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Werden sie Stunde anzuberaumen, verschoben worden ist. Der auch weiterhin!) Bundesbildungsminister wäre zum ursprünglichen 19656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dirk Hansen Termin hier gewesen; er muß aber jetzt einen ande- bereit sind, hier zu bestätigen, daß die Arbeitsgruppe ren, auswärtigen Termin wahrnehmen. Bildung und Wissenschaft im Ausschuß für Bildung (Eckart Kuhlwein [SPD]: Hier ist der Platz für und Wissenschaft zu den Gesetzgebungskompeten- die Regierung, wenn wir sie fordern!) zen genauso wie Sie votiert hat? Zudem sehen Sie bitte das Problem auch darin, daß der Parlamentarische Staatssekretär soeben vor den Dirk Hansen (F.D.P.): Das Gedächtnis reicht voll- Haushaltsausschuß zitiert worden ist, weil dort derzeit kommen aus. Ich habe Ihnen in der Sache ja bestätigt, über Bildungsdinge beraten wird und der Haushalts- daß durchaus Einvernehmen besteht. Über Einzelhei- ausschuß einen Anspruch darauf hat, daß die Regie- ten bei „und/oder" kann man durchaus diskutieren. rung dort vertreten ist. Andererseits ist vollkommen klar — da fordere ich Zum anderen frage ich den ehemaligen Parlamen- Ihr Gedächtnis, Frau Kollegin —, daß bei der Anhö- tarischen Staatssekretär Kuhlwein, ob nicht auch er in rung, die wir dazu durchgeführt haben, von seiten der seiner immerhin weit zurückliegenden Amtszeit bei Wirtschaft ebenso wie von seiten der Hochschulen verschiedenen Gelegenheiten seinen Minister vertre- selber klar gesagt wurde, daß ein Modell nach dem ten durfte und vertreten konnte. Beispiel Niedersachsens vorgezogen würde, bei dem (Zuruf von der CDU/CSU: Er durfte nicht! — nicht etwa Schnupperstudien, wie Sie es ursprünglich Eckart Kuhlwein [SPD]: Niemals! — Lachen in Ihren Antrag geschrieben hatten, zugelassen bei der CDU/CSU) wären, sondern klare Leistungsprinzipien gelten wür- Nun zum Berufsbildungsbericht und zur Änderung den, etwa eine Eingangsprüfung. Insofern geht es des Hochschulrahmengesetzes. Zum Hochschulrah- nicht um das „oder", wie es immer noch in Ihrem mengesetz folgende Bemerkung, Herr Kuhlwein. Sie Antrag steht, sondern um die Eindeutigkeit des Falles machen es sich — wenn auch verständlicherweise — selber. zu einfach, wenn Sie sagen, seit zwei Jahren würden (Eckart Kuhlwein [SPD]: Das sollte doch die Lippen gespitzt, auch von seiten der Koalition, Spielraum für die Ländergesetzgebung er aber es werde heute nicht entsprechend gepfiffen. öffnen!) Vordergründig gesehen haben Sie recht, aber eben Da meine Redezeit abläuft, ein letztes Wort zum bloß vordergründig. Der Staatssekretär und ich haben Ich glaube, es ist richtig, daß schon mit unseren Zwischenfragen versucht, Sie dar- Berufsbildungsbericht. von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen wurde, auf hinzuweisen, daß die Gefechtslage leider eine daß es sich hier um eine grundsätzliche Problematik sehr viel kompliziertere ist, als es die isolierte Betrach- handelt. Es geht auch keineswegs nur um die Frage tung eines einzelnen Sachverhalts deutlich macht. Sie des Lehrstellenprogramms ad hoc und zu welchem wissen genau — Sie kennen den Hintergrund der Zeitpunkt, ja oder nein. Es geht vielmehr um die Verfassungsdebatte und argumentieren ja im Grunde grundsätzliche Fragestellung: Ist das duale System, nur aus politisch-taktischen Erwägungen so —, daß es das, wie ich mehrfach gesagt habe, im Grunde an sehr schwierig ist, im Verhältnis zwischen Bund und Auszehrung leidet, wirklich noch das Modell für uns in Ländern — diese wiederum bekanntermaßen aufge- Deutschland? Das Ausland bezeichnet es zunehmend teilt in A- und B-Länder — die Bundeskompetenzen als Modell und will es, um es einmal so auszudrücken, für die Bildung zu bewahren. Ich fordere gerade die kopieren. Sozialdemokraten in diesem Hause sowie in den Landtagen und den Landesregierungen auf, hinsicht- Herr Rixe, an Sie gerichtet: Ich habe Hoffnung, daß lich der bewährten Regelung bei den Bildungskompe- das berühmte Stichwort von der Gleichwertigkeit der tenzen bei der Stange zu bleiben und nicht, wie es beruflichen Bildung stärker in den Vordergrund durchaus befürchtet werden muß, gegenüber Politi- gestellt wird. kern in allen Fraktionen, die nicht unmittelbar mit den (Günter Rixe [SPD]: Okay!) Bildungsfragen befaßt sind, nachzugeben. Vor diesem - Sie haben recht: Hier ist die Wi rtschaft gefordert. Hintergrund muß eindeutig gesehen werden, daß das Hochschulrahmengesetz, wäre es mit der einen oder (Günter Rixe [SPD]: Natürlich!) anderen Variante novelliert worden — da mag es Es ist eine langfristig wirkende Negativmaßnahme, immer noch Diskussionsstoff geben —, den Bach bei schwieriger Wirtschaftslage unter kurzfristigen heruntergegangen wäre und daß aus den, wie ich Kostenbetrachtungen aus der Ausbildung herauszu- glaube, 16 Regelungen in den Ländern keine vernünf- gehen. tige einheitliche Regelung geworden wäre. (Günter Rixe [SPD]: Richtig!) Insofern sollten wir dankbar dafür sein, daß — das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der ist mehrfach gesagt worden — im Mittelstand, bei den Abgeordneten Frau Odendahl zu beantworten? freien Berufen immer noch verstärkt ausgebildet wird und Lehrstellen angeboten werden. In Großbetrieben aber ist beim Lehrstellenangebot ein Rückgang von Dirk Hansen (F.D.P.): Gerne. 10 % zu verzeichnen. Das ist das eigentliche Warnsi- gnal neben — das wird in der Debatte vielfach Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte vergessen — dem anderen Warnsignal, vor dem wir schön. mindestens seit dem letzten Jahr stehen, nämlich daß die Zahl Studierender und die Zahl Auszubildender Doris Odendahl (SPD): Lieber Herr Kollege Hansen, nicht mehr in einem Verhältnis steht, das als gesund reicht Ihr Gedächtnis noch soweit zurück, daß Sie betrachtet werden kann. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19657

Dirk Hansen Auch die Politik ist gefordert — nicht nur die bißchen viel. Deswegen will ich Ihnen einmal helfen Wirtschaft —, insbesondere auch der öffentliche — denn mit Optimismus kann man Wahlen gewinnen Dienst. Das A-13-Syndrom muß weg. und nicht mit Miesmachen — und einmal einige (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der optimistische Zahlen nennen. SPD — Günter Rixe [SPD]: Richtig!) Wenn ich die drei, vier Jahre, die wir hier über die In unserer Zertifikatsgesellschaft darf nicht der Bil- Entwicklung in den neuen Bundesländern reden, dungsabschluß gewissermaßen als Einstieg gelten, Revue passieren lasse, dann ist für mich eines völlig sondern Tätigkeit und Qualität derselben müssen klar: Wir haben es wirklich geschafft, in jedem Jahr Kriterien sein. Leistung — ein Stichwort, das Sie genügend Ausbildungsstellen zur Verfügung zu bestimmt sehr gerne hören — muß sich wieder lohnen. haben. Darüber hinaus haben wir vor allem folgendes Gerade das könnte die Wirtschaft in ihren eigenen geschafft — es ist wirklich wichtig, das in der Perspek- Bereichen möglich machen, indem sie Karrierechan- tive zu sehen, Herr Rixe —: Wir haben immer mehr cen eröffnet und in den beruflichen Zweigen eine betriebliche Stellen geschaffen. Ich nenne Ihnen noch stärkere Differenziertheit anbietet. Wenn der öffentli- einmal die Zahlen: 1990/91 waren es 62 000, im che Dienst da als Vorbild voranginge, dann wäre das darauffolgenden Jahr 75 000 und im Jahre 1992/93 großartig. 84 000. Wir haben also einen Trend zu mehr betrieb- licher Bildung. Das ist doch eigentlich genau das, was Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- wir wollen. Wir wollen doch nicht zurück in den alten geordneter Hansen — — Sozialismus mit vielen Staatsprogrammen. Ich sage ganz ehrlich: Ich glaube, daß das nur Dirk Hansen (F.D.P.): Ich komme zum Schluß. — Ich möglich war, weil wir Ihren Verführungen nicht frage mich selber, ob bei uns in den Parteien, und zwar erlegen sind, im März und April jeweils schon Pro- in allen Parteien, diejenigen, die Dienstrecht und gramme aufzulegen und zu verkünden, und weil wir Beamtenrecht zu vertreten haben, auch auf der Seite Druck gemacht der Bildungspolitiker sind. Da liegen doch die eigent- lichen Konfliktthemen und die Hürden, die beseitigt (Günter Rixe [SPD]: Auf dem Rücken der werden müssen. jungen Leute!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — und gesagt haben: Wir brauchen vorrangig betriebli- Günter Rixe [SPD]: Das Problem ist, daß hier che Ausbildungsstellen für junge Leute in den neuen mehr mit dem A-13-Syndrom sitzen! Deswe- Bundesländern. Dies ist gelungen. gen kriegen wir es nicht weg! — Do ris Odendahl [SPD]: In 12 Jahren haben Sie es (Weiterer Zuruf des Abg. Günter Rixe nicht geschafft!) [SPD]) — Nein, wir sind doch dabei, vom Sozialismus und von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Staatsprogrammen wegzukommen und soziale hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Meckel- Marktwirtschaft einzuführen. burg. (Beifall bei der CDU/CSU)

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Herr Präsident! Ein Zweites ist gelungen: Bei den außerbetriebli- Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in der chen Ausbildungsstellen haben wir einen Rückgang. jährlich stattfindenden Debatte über den Berufsbil- Das heißt, das, was die große Ausnahme ist, ist auch dungsbericht muß man besonders flexibel sein, als solche erkennbar. Wir haben auch erreicht, daß die erstens weil die Redezeit gering geworden ist und Bundesregierung in jedem Jahr reagiert hat. Sie hat zweitens weil man ohnehin versucht ist, die eine oder 1991 mit einem Zuschußprogramm des Bundes für die andere Redeversion des Vorjahres wieder herauszu- Bereitstellung von zusätzlichen Lehrstellen in kleine- holen. ren Betrieben reagiert. 1991/92 gab es eine staatliche (Zuruf von der SPD: Jetzt schon?) Förderung für außerbetriebliche Ausbildungsplätze nach dem alten § 41 AFG. Im letzten Jahr gab es die Ich bin fast versucht, das zu tun, Herr Rixe, nachdem Gemeinschaftsinitiative Ost mit einem 500-Millionen- Sie das Ritual und die alte Leier, wie schlimm das ist, Programm. Da kann man nicht sagen, die Bundesre- wiederholt haben. In diesem Jahr unterscheidet sich gierung verspiele die Zukunft der Jugend. Das ist das dadurch, Herr Rixe, daß Sie im Mai die Zahlen von einfach daneben, denn da ist eine Menge gemacht März vortragen, wo das auseinandergeht. worden. (Günter Rixe [SPD]: Im April sind sie noch schlimmer als im März!) (Beifall bei der CDU/CSU — Dirk Hansen [F.D.P.]: Voll daneben! — Günter Rixe [SPD]: — Okay, dann haben Sie das eben falsch gemacht. Sie Wir brauchen uns nur die Jugendlichen dramatisieren das doch immer gerne. anzusehen, die auf der Straße liegen! Die (Günter Rixe [SPD]: Ich hätte auch die April- seht ihr ja nicht mehr!) Zahlen nehmen können!) Lassen Sie mich einen kurzen Blick auch noch auf Sie haben im April, als die Zahlen kamen, schon die alten Länder werfen. Da sind zwei Trends erkenn- gesagt, die Bundesregierung habe in der Berufsbil- bar: dungspolitik versagt und verspiele die Zukunftschan- cen der jungen Generation. Ich muß ehrlich sagen, Erstens. Es gibt zwar nach wie vor mehr Lehrstellen selbst in einem Wahlkampfjahr halte ich das für ein als Nachfrager, aber es ist in bestimmten Bereichen 19658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Wolfgang Meckelburg rückläufig und regional sehr unterschiedlich ver- das Wort von ihnen, sich einzusetzen. Der Minister für teilt. Bildung und Wissenschaft Zweitens. Es gibt einen Rückgang der Zahl der (Doris Odendahl [SPD]: Der nicht da ist!) abgeschlossenen Ausbildungsverträge. Hier müssen ist bei Verbänden und Organisationen dabei, mitzu- wir aufpassen. Darin steckt die Gefahr, daß insbeson- machen. dere — es ist angesprochen worden — Großunterneh- men und kleinere Industrieunternehmen Ausbildung (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wo ist der denn?) zu einem Kostenfaktor machen und die langfristige — Vielleicht ist er gerade dabei, Mut zu machen, und Wirkung nicht sehen. Daraus könnte ein Facharbei- hat vielleicht einen größeren Beitrag geleistet als wir termangel, ein Fachkräftemangel werden. Wir müs- hier. sen aufpassen, daß das nicht passiert. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr erfolgreich!) Meine Damen und Herren, ich will auch festhalten, Der DIHT wird mitmachen und Mut machen. Er hat daß es Daten und ein paar Schritte gibt, wo wir eine Kampagne angekündigt. konkreter geworden sind. Das eine Datum ist der 1. Juli — ich will darauf noch einmal hinweisen —, wo (Günter Rixe [SPD]: Mir geht es um die im Kabinett darüber geredet wird, was notwendig ist jungen Leute!) zu tun. Aber jetzt muß erst einmal der Druck gemacht — Entschuldigung, Herr Rixe, all das hat im letzten werden, daß in den Bet rieben etwas passiert. Jahr geholfen. Hätten wir im letzten Jahr zu dem (Günter Rixe [SPD]: Es ist Ihr gesetzlicher Zeitpunkt, als Sie gesagt haben, wir sollen hier Auftrag, daß das erfüllt wird!) Programme machen, dies getan, hätten wir in der Tat — Ja, natürlich, der wird ja auch erfüllt. Der ist jedes Jahr erfüllt worden, Herr Rixe. Worüber reden wir (Günter Rixe [SPD]: 30 000 mehr als im eigentlich die ganze Zeit? letzten Jahr!) (Günter Rixe [SPD]: Das ist nicht wahr! Der ist die hohe Zahl von betrieblichen Ausbildungsstellen nicht erfüllt!) nicht bekommen, die wir am Ende hatten und die wir dringend gebraucht haben. Das ist ein Faktum. Das — Ja, natürlich ist der erfüllt worden. können wir hier auch nicht wegdiskutieren. (Günter Rixe [SPD]: Der ist nicht erfüllt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es gibt zweitens ein Ergebnis: Die eingesetzte Deswegen bitte ich Sie auch herzlich in einem Arbeitsgruppe „Berufliche Bildung" der Regierungs- Wahljahr, nicht mieszumachen, meine Damen und chefs von Bund und Ländern hat ja ein Maßnahmen- Herren, sondern schließen Sie sich den Mimachern paket vorgelegt, eine ausreichende Zahl qualifizier- und Mutmachern an. Gehen Sie raus! Machen Sie den ter betrieblicher Ausbildungsplätze zu schaffen. Das jungen Leuten Mut, und reden Sie nicht nur immer die ist ein Punkt, der darin enthalten ist. auch vorhandenen negativen Zahlen hoch. Zweiter Punkt: attraktive berufliche Aus- und Wei- (Dirk Hansen [F.D.P.]: Sonst bleiben Sie in terbildung. Das ist auch schon angesprochen worden. der Opposition!) Es wird hier konkretisiert. Es ist ein Programm da, wo Herzlichen Dank. man erkennen kann, wann und mit wem welche Aufgaben gelöst werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dritter Punkt: das Ansehen der Berufsbildung in der Arbeitswelt zu verbessern — ein ganz wesentlicher Punkt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen Vierter Punkt: die Gleichwertigkeit der Berufsaus- mir zu dem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich kann bildungsabschlüsse beim Zugang zu weiteren Bil- also die Aussprache schließen. dungswegen anzuerkennen. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Fünfter Punkt: den Anteil von Jugendlichen und über den Tagesordnungspunkt 2 a. Der Ältestenrat jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung weiter schlägt die Überweisung des Berufsbildungsberichts zu verringern. Die vergessen wir vielfältig. 1994, der Ihnen auf der Drucksache 12/7344 vorliegt, Deswegen, meine Damen und Herren — das muß an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse ich einfach sagen, nachdem ich das jetzt über die vor. Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der ganze Legislaturperiode hier mitdiskutiert habe, mit- Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. gestalten konnte und auch feststellen konnte, was Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 b. Wir wirklich erreicht worden ist —, kann die Devise auch stimmen über den Gesetzentwurf der Fraktion der in einem Wahljahr nicht heißen: miesmachen, son- SPD zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ab. dern die Devise kann nur heißen: mitmachen und Mut Das liegt Ihnen vor auf der Drucksache 12/2125. Der machen. Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt auf (Doris Odendahl [SPD]: Den werden Sie der Drucksache 12/7272 unter Nr. 1, den Gesetzent- brauchen!) wurf abzulehnen. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler wird (Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!) mitmachen und Mut machen. Er ist bei den Repräsen- Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf tanten der Wirtschaftsverbände im Wort und nimmt Drucksache 12/2125 abstimmen. Diejenigen, die dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19659

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, bitte ich um Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthal- Meine Damen und Herren! Die zwei größten Verbre- tungen? — Dann ist der Gesetzentwurf der SPD mit chen, die die Nazidiktatur begangen hat, sind auf der den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung einen Seite der Beginn und der Ausbruch des Zweiten der PDS/Linke Liste abgelehnt worden, und eine Weltkrieges, der die Menschheit nahe an den dritte Lesung erübrigt sich. Abgrund ihrer Existenz geführt hat, und es ist auf der Wir stimmen weiter über den Tagesordnungspunkt anderen Seite ein bis dahin in der Geschichte einma- 2 b ab. Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft liger Massenmord an etwa 6 Millionen Jüdinnen und empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung, Juden aus einem einzigen Grunde, eben weil sie ebenfalls auf der Drucksache 12/7272, die Annahme jüdisch waren. Es gab keine politische Motivation, es einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluß- hat sie nicht interessiert, ob es sich um Gegnerinnen empfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist und Gegner ihres Regimes handelte oder nicht. Es hat diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der sie auch nicht die soziale Struktur interessiert, sondern Koalitionsfraktionen angenommen. allein ihre jüdische Herkunft. Nicht einmal der Glaube hat sie interessiert, denn auch der war völlig unrele- Wir stimmen über Tagesordnungspunkt 2 c ab: vant. Es sind 6 Millionen Menschen ermordet worden Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung auf viehischste und industrielle Art und Weise. und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Sicherung des Ausbildungsplatzangebots in den Ich weiß sehr wohl, daß die Nazidiktatur auch viele neuen Ländern. Dies liegt Ihnen auf Drucksache andere Menschen ermordet hat. Heute früh haben wir 12/7086 vor. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache der Sinti und Roma gedacht. Ich weiß, daß Homo- 12/5495, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt der sexuelle ermordet wurden. Ich weiß, daß Kommuni- Beschlußempfehlung, den Antrag abzulehnen, zu? — stinnen und Kommunisten ermordet wurden. Ich weiß, Dagegen? — Dann ist die Beschlußempfehlung mit daß Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenom- ermordet wurden. Ich weiß, daß aufrechte Katholiken men. ermordet wurden, daß evangelische Pfarrer und Gläu- bige ermordet wurden, die sich z. B. zur Bekennenden Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 2 d ab: Kirche bekannt haben. Das alles ist mir bekannt. Es Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung gibt auch immer wieder Gelegenheit, all dieser Opfer und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu gedenken, z. B. am 8. Mai oder auch am 1. Sep- zu einem Be richt über die Erfahrungen mit dem tember, oder am Tage der sogenannten „Machtüber- Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsför- nahme durch die Nazis" am 30. Januar. Es sind derungsgesetzes. Dies liegt Ihnen auf Drucksache verschiedene Möglichkeiten. Dennoch sage ich, der 12/7275 vor. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache Genozid am jüdischen Volk, das Ziel, eine Gruppe 12/5783, den Antrag abzulehnen. Wer der Beschluß- von Menschen, die vor über 2 000 Jahren — aus empfehlung, den Antrag abzulehnen, zuzustimmen welchen Gründen auch immer — ihre Heimat verloren wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer haben und dennoch 2 000 Jahre in der Diaspora in den stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist verschiedensten Ländern dieser Welt überlebten und die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koali- in den verschiedensten Ländern dieser Welt auch tionsfraktionen angenommen. immer auf unterschiedliche Art verfolgt waren, im Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 2 e ab: Mittelalter aus religiösen Gründen, später aus ganz Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu anderen Gründen — wir hatten Pogrome in Rußland, überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1993 wir hatten Pogrome in Polen, wir hatten Pogrome in zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den Deutschland, all diese Entwicklungen des Antisemi- neuen Ländern. Das sind die Drucksachen 12/6984 tismus, der auch immer in der Literatur nicht nur in und 12/7370. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Europa, aber gerade auch in Europa eine ganz große lung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Rolle spielte —, fand seinen entsetzlichen Höhepunkt Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Es war übrigens der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD- ein Prozeß. Es war ein Prozeß der Entrechtung. Es fing Fraktion und der Gruppe PDS/Linke Liste angenom- an mit der Beschränkung der Rentenansprüche. Es men. ging weiter über das Verbot der Benutzung öffentli- cher Verkehrsmittel, es ging weiter über die berühmte sogenannte Reichskristallnacht und das Brennen von Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Synagogen und das Plündern von Geschäften. Es ging Erste Beratung des von dem Abgeordneten um Enteignung. Den Juden wurde dann verboten, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Haustiere zu besitzen, sie durften bestimmte Ärzte Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nicht mehr aufsuchen, sie durften ihrem Glauben über den Tag der Mahnung und Erinnerung an nicht nachgehen, sie wurden plötzlich verpflichtet, die jüdischen Opfer des Massenmordes wäh- gelbe Binden mit einem entsprechenden Davidstern rend der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 zu tragen, bis sie dann in die Lager kamen und bis in Deutschland dann der Massenmord an ihnen beschlossen wurde, — Drucksache 12/5781 — mit dem klaren und eindeutigen Ziel, daß es nach diesem tausendjährigen Reich auf der ganzen Welt Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von und schon gar nicht in Europa keine Juden mehr einer halben Stunde vor, wobei die PDS/Linke Liste geben soll. eine Redezeit von 10 Minuten hat. Diese Verbrechen sind so einmalig, daß es in vielen Herr Dr. Gysi, Sie haben das Wort. Ländern dieser Welt einen Tag gibt, an dem m an 19660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Gregor Gysi speziell dieser Opfer gedenkt und den man auch nicht — ich habe schon Schwierigkeiten mit dem Namen —, mit anderen Ereignissen mischt. Jeder Tag in der ernsthaft wagt, Herrn Bubis einen Volksverhetzer zu Geschichte hat natürlich verschiedene Bedeutungen. nennen, wo das durchgeht, wo wir dagegen praktisch Der Kalender hat nur 365 Tage, und es gibt kein keine rechtlichen Möglichkeiten haben und wo es uns einziges Datum, an dem nicht verschiedene auch völlig unzureichend gelingt — und hier müssen wir bedeutende historische Ereignisse zugleich liegen. alle selbstkritisch sein —, das so zu ächten, wie es Hier z. B. die Ausrufung der Republik durch Scheide- eigentlich geächtet werden müßte, kann dieser Bun- mann, die Ausrufung auch der sozialistischen Repu- destag ein Signal setzen, indem er sagt: Wir führen blik durch Liebknecht, der Fall der Mauer. Alles sind einen offiziellen Gedenktag für die Opfer des Holo- völlig unbestritten ganz wichtige Daten. caust ein und damit einen Gedenktag für eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Dennoch sage ich Ihnen, daß der 9. November des Menschheit überhaupt, ausgelöst durch dieses Jahres 1938 eine ganz besonders tiefe Symbolik hat. Deutschland und seine Menschen — das ist ja das Wir als Deutsche müssen zu dieser eigenen verbre- Problem! — und zugelassen von ihnen, die weggese- cherischen Geschichte stehen. Wir brauchen einen hen haben. Viel davon hatten Nachbarinnen und Tag, der endlich auch einmal festgelegt ist, wo wir Nachbarn und haben gesehen, daß sie nicht mehr da nicht jedes Jahr wieder von vorne anfangen, darüber waren und wie sie weggeführt wurden. nachzudenken, ob und wie wir ihn begehen, ob und was wir im Bundestag machen, welche anderen Reak- Wissen Sie: Es geht hierbei um Menschen, die tionen in gesellschaftlichen und staatlichen Kreisen es überhaupt keine Chance hatten. Der entscheidende gibt. Wir müssen uns, finde ich, zu einem Tag beken- Unterschied zu den verfolgten Kommunistinnen und nen — das kann nur der 9. November sein —, von dem Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialde- wir sagen: Es ist der offizielle Tag der Mahnung und mokraten und vielen anderen politischen Gegnerin- Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmords nen und Gegnern des Nazi-Regimes bestand ja darin: während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Die hatten theoretisch noch eine Wahl; sie konnten Deutschland. Es geht hier nicht um arbeitsrechtliche sich politisch entscheiden. Wir gedenken dieser Opfer Probleme. Wir fordern keinen gesetzlichen Feiertag. ganz genau so; aber es ist schon etwas anderes, einer Es soll sozusagen kein arbeitsfreier Tag sein; das wäre Gruppe zu sagen: Wie du dich auch immer entschei- auch durch nichts gerechtfertigt, das will ich ganz dest, wie du dich auch immer verhältst, du wirst von deutlich sagen. Es soll ein Tag der Mahnung und uns liquidiert! Es gibt überhaupt keine Chance für Erinnerung sein. Das heißt, wir legen gesetzlich nur dich, nicht einmal, indem du dich opportunis tisch fest, daß eigentlich der Staat an diesem Tag in verhältst — nichts, keine Gnade, gar nichts, keine besonderer Weise verpflichtet ist, dieser Opfer zu Rechtsgrundlage! Kein einziges Konzentrationslager gedenken. Ich glaube, daß Bürgerinnen und Bürger in hatte eine Rechtsgrundlage. Nicht einmal die Nazis großem Umfang nachziehen werden. Wir werden haben sich gewagt, dafür eine Rechtsgrundlage zu dann jedes Jahr einen Tag haben, anläßlich dessen schaffen. Sie haben den Massenmord einfach betrie- wir uns besinnen müssen und auch darüber nachden- ben und geleugnet, wie wir das heute auch erleben ken, wie so etwas oder auch nur irgend etwas ähnli- und worüber wir diskutieren. ches für die Zukunft für immer ausgeschlossen wer- den kann. Zu diesem Leugnen werde ich nachher noch etwas sagen. Ich habe noch mehr Angst vor dem Tag, an dem In einer Zeit, in der die rechtsextremistische Gewalt Leute mit Stolz an diese Verbrechen erinnern und sie in der Bundesrepublik Deutschland so unerträglich nicht mehr leugnen. zunimmt, in einer Zeit, in der auch Antisemitismus wieder Blüten schlägt, in einer Zeit, in der, worüber (Zuruf von der CDU/CSU: Alles Phantasie! — wir heute mittag diskutiert haben, in Magdeburg Widerspruch bei der SPD) Schwarzafrikaner auf offener Straße verfolgt, gejagt, — Ich weise nur darauf hin, daß auch das kommen geschlagen und getreten werden, wo Menschen mit könnte. Behinderungen, die im Rahmen der Euthanasie übri- gens auch Opfer der Nazidiktatur geworden sind, aus Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen einen solchen Straßenbahnen gestoßen und danach auch noch Tag. Ich bitte Sie, dem in Anbetracht der Ereignisse getreten werden, in einer Zeit, wo all das plötzlich der letzten Jahre, der letzten Monate, der letzten relativiert wird, wo wir plötzlich auch rechtsgerichtete Tage, unserer Diskussion von heute zuzustimmen, Intellektuelle haben — ich denke an Botho Strauß und auch wenn ich weiß, daß er den Nachteil hat, ein andere, die in Beiträgen im „Spiegel" und sonstwo Antrag von uns zu sein. Setzen Sie sich einfach versuchen, die nationale Frage in eine ganz darüber hinweg! Stimmen Sie dem zu! Setzen wir ein bestimmte Richtung zu drängen —, wo wir eben heute Signal! Führen wir einen offiziellen Tag der Mahnung — von einem Vertreter der CDU, muß ich sagen — und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust gehört haben, daß die Integrationsfähigkeit des Vol- ein und sagen damit allen Deutschen in diesem Lande kes begrenzt war — ich erinnere Sie an alle Theorien und allen Nachbarinnen und Nachbarn, die sich für in der Nazizeit über das „Wirtsvolk" und wie sich die Entwicklung in Deutschland interessieren: Dieser „Gäste" wie die Juden im Vergleich zum „Wirtsvolk" Bundestag entscheidet, daß es einen solchen Tag der zu benehmen hätten —, wo wir es erleben, daß Mahnung und Erinnerung offiziell in dieser Bundes- ernsthaft Herr Bubis in Rostock gefragt wird, ob er republik Deutschl and gibt, dem sich niemand in nicht eigentlich nach Israel und nicht nach Deutsch- dieser Bundesrepublik Deutschland entziehen darf. land gehörte, wo wir es erleben, daß sich ein Mitglied Das ist unser Anliegen. Ich kann Sie nur bitten: des Europäischen Parlaments, der Herr Schönhuber Stimmen Sie zu; machen Sie es nicht von formalen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19661

Dr. Gregor Gysi Mehrheitsverhältnissen abhängig! Hierin sollten wir Aber, der 9. November wurde auch ein Tag der eigentlich aller einer Meinung sein. Wiederkehr der Freiheit für den Teil Deutschlands, in Danke schön. dem nach 1945 die zweite Diktatur dieses Jahrhun- derts in Deutschland errichtet worden war. Am 9. No- (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und vember 1989 fiel die Mauer, der sogenannte antifa- der F.D.P.) schistische Schutzwall; so wurde er von den Machtha- bern des SED-Regimes genannt. In einer f riedlichen Revolution wurde der SED-Unrechtsstaat beseitigt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Professor Dr. Ros- Wer die historischen Ereignisse der jüngsten deut- witha Wisniewski das Wort. schen Vergangenheit in wacher Anteilnahme wahr- nimmt, wird an jedem 9. November aller dieser Ereignisse gedenken. Das sollte natürlich auch in öffentlichen Veranstaltungen und im Schulunterricht Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Sie sind geschehen. Ist es aber wirklich erlaubt und sinnvoll, wahrscheinlich noch nicht so ganz in dem Leben der nur eines dieser Ereignisse zum Inhalt offiziellen Bundesrepublik geübt; denn natürlich gedenken wir Gedenkens im Deutschen Bundestag zu machen? jedes Jahr der Dinge, die Sie eben erwähnt haben, Es gab Anregungen, den 9. November zur Erinne- wenn auch nicht hier im Bundestag und offiziell, so rung an den Fall der Mauer zum Tag der deutschen doch überall in der Bundesrepublik. Einheit zu erklären. Aber wie hätte das ein Tag der Freude und der Befreiung sein können vor dem (Günter Rixe [SPD]: Wo denn!) Hintergrund düsterster Ereignisse, die ebenfalls am Die Anregung der PDS/Linke Liste, den 9. Novem- 9. November geschahen? Oder will die PDS gar das ber zu einem Tag der Mahnung und Erinnerung an die Andenken an den Fall der Mauer verdrängen? Ich jüdischen Opfer des Massenmordes während der kann mir dies nicht vorstellen. nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zu In den Beratungen, die wir jetzt beginnen, sollte der machen, stimmt nachdenklich, und — ich muß es Antrag der PDS in den größeren Zusammenhang leider gestehen — sie hat mich auch peinlich berührt. gestellt werden, in dem der Deutsche Bundestag Es steht, glaube ich, einer Partei, die aus der Nach- gegenwärtig über die angemessene Form des Geden- folge der SED kommt, nicht gut an, sich zum Wortfüh- kens an die Unrechtstaten der nationalsozialistischen rer der Mahnung zum Gedenken an die Greuel der Diktatur wie auch der SED-Diktatur berät. Nationalsozialisten zu machen, nachdem die SED unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Kol- eine gerechte Würdigung ihrer Leiden jahrzehntelang legin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abge- vorenthalten hat ordneten Dr. Gysi zu beantworten? (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) und nachdem seit der Wende immer mehr eigene Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Gern. Unrechtstaten des SED-Regimes auch gegen Jüdin- nen und Juden offenbar werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte In der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts sehr. — das wurde schon gesagt — spielt der 9. November eine bemerkenswerte und durchaus ambivalente Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Kollegin, Rolle. mal abgesehen von Ihren Wertungen, die Sie zum Teil vorgenommen haben, und den Gleichsetzungen und Nachdem das deutsche Kaiserreich in der Novem- Vergleichen, die ich so nicht akzeptieren kann, inter- berrevolution verschwunden war, verließ am 9. bzw. essiert mich an Ihren letzten Überlegungen nur eines: 10. November 1918 der deutsche Kaiser Deutschland; Der 9. November war der Tag des Politbürobeschlus- die Abdankung folgte wenige Tage später. In der ses über den Fall der Mauer und der Bekanntgabe Forschung gibt es Überlegungen, ob die deutsche dieses Beschlusses durch Herrn Schabowski, durch Geschichte anders verlaufen wäre, wenn es gelungen die Presse; im Grunde genommen wäre das die wäre, rechtzeitig eine stabile parlamentarische Mon- Würdigung einer Politbüroentscheidung. Glauben Sie archie — nach dem damaligen Zeitverständnis — nicht im Ernst, daß nicht der 4. November, der Tag der aufzubauen. größten Massendemonstration in der DDR, der letzt- Wenige Jahre später, am 9. November 1923, führte lich seinen Beitrag dazu geleistet hat, oder der 18. Ok- Hitler seinen Marsch auf die Feldherrenhalle durch. tober, der Tag der größten Demons tration in Leipzig, Dieser 9. November wurde zum nationalistischen viel geeigneter wären, um dieser Art von Befreiung, Gedenktag erhoben, zum — Sie entsinnen sich sicher- an die Sie denken, zu gedenken, als gerade der Tag lich — Tag der Gefallenen der Bewegung; so hieß er eines Politbürobeschlusses? damals. Ich glaube, daß es für Ihr Anliegen — ich will das Sicherlich nicht ohne Bezug darauf wurde der durchaus respektieren — günstigere Tage in der 9. November 1938 zum unübersehbaren Zeichen der Geschichte des Herbstes 1989 gibt, insbesondere der sich anbahnenden Vernichtung der Juden. Synago- 4. November oder der 18. Oktober. Dann müßten wir gen brannten, Geschäfte und andere Einrichtungen diesen Tag, der eine solch andere historische Bedeu- von Jüdinnen und Juden wurden zerstört. Die Schrek- tung hat, nicht unzulässig vermischen; denn die Ver- ken und die Verbrechen dieser Nacht sind unverges- brechen an den Juden waren so einzigartig, daß sie sen und dürfen nie vergessen werden. sich meiner Meinung nach durch kein anderes histo- 19662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Gregor Gysi risches Ereignis relativieren lassen. Würden Sie dem Gedenktag an die jüdischen Opfer des Völkermordes zustimmen? während der Nazidiktatur gibt. Michel Friedmann, Mitglied des Zentralrats der Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Herr Gysi, Juden in Deutschland, stellte im November 1992 mit ich war am 9. und 10. November 1989 zufällig in Bedauern fest, daß für die „furchtbarste und einmalige Berlin. Ich habe die Menschen gesehen, die auf der Zerstörung menschlichen Wertes" kein solcher Tag Mauer gestanden haben — für mich ein unvergeßli- eingeführt worden sei. Er führte aus — ich zitiere —: ches Bild und ein völlig unvergeßlicher Vorgang. Ich Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, wie glaube, der Politbürobeschluß und die Verwirrung, schnell Menschen ihre Menschlichkeit vergessen die im Hintergrund vielleicht bestand, tritt hinter diese und zu welchem Unglück es führt, wenn Gewalt Dinge zurück. Aber wir können uns darüber gern in einer Gesellschaft herrscht. auseinandersetzen und darüber sprechen. Auf jeden Fall geht es uns zur Zeit darum — ich In Anlehnung an Martin Niemöller schloß er mit den sagte: es ist wichtig, daß wir Ihren Vorschlag in einen Worten: größeren Zusammenhang stellen —, in welcher Form Erst trifft es die Minderheiten, letztlich trifft es alle wir das Gedenken an die beiden Diktaturen in Menschen in einem Staat. Deutschland in Zukunft gestalten, daß wir also dies mit einbeziehen. Dabei geht es vor allem um die Kolleginnen und Kollegen, ein Gedenken in einer Frage, auf welche Weise dies geschieht, weil es jährlichen Gedenkveranstaltung des Deutschen Bun- tatsächlich unerläßlich ist, daß wir zur Überwindung destages gäbe die Möglichkeit, gegen das Vergessen totalitaristischer Ideologien, Systeme und politischer und für die Demokratie zu werben. Sie gäbe aber vor Praktiken durch solche Gedenkstätten und Gedenk- allem die Möglichkeit zu reflektieren, wie wir unsere formen der verschiedensten Art beitragen. Denn dies Demokratie sehen. Die jüngsten Ereignisse, aber auch — ich glaube doch, darin sind wir uns einig — ist die die vielen Schändungen jüdischer Friedhöfe, der Botschaft, die von dem Gedenken an die beiden sicher Anschlag auf die jüdische Baracke in der KZ-Gedenk- nicht gleichen, aber doch vergleichbaren Diktaturen stätte Sachsenhausen und der Synagogenbrand in ausgehen muß, die in diesem Jahrhundert in Deutsch- Lübeck unterstreichen dies. land errichtet wurden. Das Datum des 9. November als Tag der Mahnung Zu dieser Aufgabe gehört übrigens auch die Über- und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massen- windung jenes trügerischen Antifaschismusbegriffs, mordes halte ich aber für problematisch. Der 9. No- der — leider, muß ich sagen — zur Zeit allzu unkritisch vember trägt viele Ereignisse deutscher Geschichte in wieder verwendet wird, auch hier bei uns in dem sich, positive wie negative. Mit der Ausrufung der westlichen Teil der Bundesrepublik, eines Antifa- Republik 1918 und der Maueröffnung 1989 steht er für schismusbegriffs, mit dem die SED die Menschen in Freiheit und Demokratie. Der Hitler-Putsch 1923, die der ehemaligen DDR zu täuschen und zu gängeln Gründung der SS durch Adolf Hitler 1925, die 1933 wußte. Distanziert sich eigentlich die PDS davon? Ich erfolgte Vereidigung der berüchtigten „Leibstandarte hoffe dies sehr. Oder muß man etwa befürchten, daß Adolf Hitler", insbesondere aber die Reichspogrom der von ihr propagierte Gedanke an einen Gedenktag nacht vom November 1938 stehen dagegen für staat- zur Wiederbelebung von antifaschistischer SED-Pra- lich legitimierte Brutalität gegen Andersdenkende xis beitragen soll? Ich nehme dies nicht an. und letztlich für Mord. Auch darüber aber müssen wir bei den Beratungen Nicht zuletzt wegen der Widersprüchlichkeit dieses im Innenausschuß sprechen; denn auch dies gehört zu Datums scheiterten zu Recht Versuche, nach der den wichtigen Zielen der Aufarbeitung des Unheils Einigung Deutschlands diesen Tag zum deutschen deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert. Dazu Nationalfeiertag zu erklären. Der 9. November als kann eine Partei, die in der Nachfolge der SED steht,- Gedenktag wäre widersprüchlich und damit mißdeu- natürlich viel beitragen. Die CDU/CSU ist jedenfalls tig. Daran würde auch eine durch Gesetz bestimmte zu einer intensiven Diskussion über diese Fragen gern inhaltliche Füllung nichts ändern. bereit. Ignaz Bubis hat sich im April 1993 aus Anlaß des Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 50. Jahrestages des Warschauer-Ghetto-Aufstandes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für die Einführung eines offiziellen Gedenktages zur Erinnerung an die nationalsozialistische Judenver- folgung ausgesprochen. Damals wäre der Deutsche Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Bundestag gut beraten gewesen, diesen Vorschlag hat nunmehr der Abgeordnete Siegfried Vergin. aufzunehmen. (Günter Rixe [SPD]: Ja!) Siegfried Vergin (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese erste Anläßlich dieses Aufstandes wird in Israel auf Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes über den Beschluß der Knesseth vom 12. April 1959 des Holo- Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen caust, der Shoa, aber auch des jüdischen Heldentums Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur gedacht — für Israel ein wichtiger nationaler Gedenk- zwischen 1933 und 1945 in Deutschland sollte uns tag. Veranlassung sein —jedenfalls für mich war es das —, Ich bin durch den Vorsitzenden des Zentralrats der darüber nachzudenken, warum es angesichts so vieler Juden in Deutschland, mit dem ich vor drei Tagen Gedenktage in unserer Republik bis heute keinen über diesen Antrag eingehend gesprochen habe, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19663

Siegfried Vergin autorisiert, vor dem Deutschen Bundestag zu erklä- kommen hat. Daß die Essener Synagoge beschädigt ren, daß er den 9. November als Gedenktag ablehne. wurde, war eine kleine Meldung, die groß nur aus dem Statt dessen schlage er den 8 . Mai als offiziellen Ausland mit Recht mahnend auf uns zurückkam. Der Gedenktag an die Judenverfolgung und -vernichtung Anschlag auf die Lübecker Synagoge, dieses feurige vor. Es ist der Tag der Befreiung, der Tag, an dem sich Fanal, das hier geschehen ist, ist uns allen noch den geschundenen und gequälten Überlebenden der erschreckend vor Augen. Wir können nur hoffen, daß Konzentrations- und Vernichtungslager endlich die die Täter wirklich auch gefunden sind und nicht nur Tore zur Freiheit öffneten. vorläufige Festnahmen erfolgt sind. (Günter Rixe [SPD]: Ja!) Ich sage dies bewußt vorweg, weil ich eines unter- Und es ist der Tag, an dem es dem deutschen Volke streichen möchte, Herr Kollege Gysi: die Einmaligkeit insgesamt ermöglicht wurde, den Weg in die Demo- des Holocaust. Wir machen uns etwas vor, wenn wir kratie zu gehen. davon Abstriche machen wollen. Die Einmaligkeit des Holocaust — Sie haben auf die Unmöglichkeit zu (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) entrinnen, die Unmöglichkeit, Widerstand zu leisten, Ich meine, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hingewiesen, auch auf die Unmöglichkeit, daß sich damit würden auch wir Deutschen keinen Zweifel das frisch geborene Kind, in der Wiege sich noch von daran lassen, daß dieser Tag für uns alle ein Tag der der Muttermilch nährend, überhaupt als Persönlich- Befreiung von der Nazibarbarei war, den auch Deut- keit entfalten konnte, als es schon mit dem Völker- sche im Widerstand mit herbeigeführt haben. Viel zu mord konfrontiert war und ins KZ kam — ist dann noch lange ist man bei uns daran gewöhnt, von der deut- mit einer deutschen Gründlichkeit gepaart. schen „Niederlage" und vom deutschen „Zusammen- bruch" zu reden, obwohl doch erst dieser den demo- Wer je in Auschwitz gesehen hat, wie im „Stamm- kratischen Neuanfang ermöglicht hat. lager Auschwitz" — wie das, glaube ich, so schön hieß — das Standesamt geführt wurde und die Ster- (Wolfgang Lüder [F.D.P.]: Richtig!) beurkunden einzeln ausgefüllt wurden — nachher Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, ein beim Massenmord in Birkenau war es nicht mehr Tag der Mahnung und Erinnerung an die Opfer des möglich —, wer diese deutsche Perfektion erlebt hat, Massenmordes während der Nazidiktatur sollte die der sieht sich schon veranlaßt, einen Punkt des Nach- Unterstützung des Deutschen Bundestages finden. denkens zu finden. Wir stimmen der Überweisung des Antrages an den Ich unterstreiche das, was der Kollege Vergin Innenausschuß zu. Dort sollte jedoch nicht nur über gesagt hat; ich habe es in der Geschäftsordnungsde- den 9. November diskutiert werden, sondern auch batte damals auch schon gesagt. Dieses Datum ist über den Vorschlag des Herrn Bubis. Zu überlegen ist nicht geeignet. Die Form eines Gedenktages macht auch, wie dieser Tag begangen werden soll, d. h. ob jedenfalls uns aus der alten Bundesrepublik in Anbe- eine Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundesta- tracht des erschreckenden Abstumpfens des Geden- ges wirklich ausreicht. kens an den 17. Juni nachdenklich. Beides ist nicht Im Innenausschuß sollte der Vorschlag des Präsi- vergleichbar. Aber die Warnung vor Gedenktagen denten der Israelischen Lehrergewerkschaft, Dr. dieser Art möchte ich doch geben. Schalom Lewin, der vor zwei Jahren auch der deut- schen Öffentlichkeit vorgelegt wurde, bedacht wer- Was mir vorschwebt — und darauf werde ich in den den, im Rahmen eines offiziellen Gedenkens an die Beratungen des Innenausschusses, die wir hoffentlich Shoah in Deutschland auch in Klassen, Arbeitsge- bald durchführen können, eingehen —, ist, daß wir die meinschaften, in Projekten und Schulversammlun- verschiedenen Facetten und die verschiedenen gen, wie er sagt, besonders intensiv über die dunkel- Ansatzpositionen des Nationalsozialismus gegen die sten Kapitel deutscher Geschichte zu unterrichten. Juden auch wirklich beleuchten. Das war ja leider nicht nur an einem Tag. Das begann schon, als unsere Meine Damen und Herren, ich glaube, der Anstoß- Leute — Herr Dr. Hirsch hat heute morgen von denen zum Nachdenken darüber, wie wir mit unserer Ver- gesprochen, die weggesehen haben — weggesehen gangenheit im Blick auf die Zukunft umgehen wollen, haben, als die Beamten aus dem öffentlichen Dienst ist, glaube ich, dem Deutschen Bundestag gut ange- entfernt wurden, als sie weggesehen haben, als die standen. Ich hoffe, daß wir in den Beratungen zu Empfehlung kam: „Kauft nicht bei Juden. " Das endet einem Ergebnis kommen können. nicht damit, daß wir heute manchmal noch immer von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschen und Juden — von Halbjuden spricht man der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) heute nicht mehr, von Halbchristen hat niemand gesprochen, von Viertelkatholiken oder Dreiviertel protestanten schon gar nicht — hören. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Lüder. Wir müssen meines Erachtens darüber nachdenken, wie wir eine geeignete, vielfältige Form des Geden- kens erreichen können und wie wir uns hier in diesem Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Bundestag darstellen, damit es nicht so ist wie früher sehr geehrten Damen und Herren! Zwischen der am 17. Juni, wo wir immer schön Reden gehalten Geschäftsordnungsdebatte, die wir schon am 21. Ok- haben, Reden gehört haben, pflichtschuldig gekom- tober zu dem Thema hatten, und der heutigen Debatte men sind, Reisekosten ersetzt bekommen haben und hat es zwei Anschläge auf Synagogen in der Bundes- dann wieder weitergefahren sind. Das geht mir nicht republik Deutschland gegeben, von denen nur der tief genug. Es muß tiefer gehen in das eigene Erleben, eine wirklich öffentlichen Aufmerksamkeitswert be- in das eigene Wissen. 19664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Wolfgang Lüder Wir müssen über diese Form nachdenken. Das ist, Die Deutschen hatten die Möglichkeit, ein ganz glaube ich, unsere Aufgabe, ebenso wie das, was wir anderes, aus der Negation der nationalen Barbarei der in der nächsten Woche im Innenausschuß zum Thema Zeit von 1933 bis 1945 gewonnenes Staats- und Gedenkstätten und was wir zum Thema Deserteure Gesellschaftsverhältnis zu entwickeln. Sie haben und Kriegsdienstverweigerer tun müssen. diese Chance nicht genutzt, nicht im Westen, nicht im Wir müssen uns auch mit der Frage befassen: Wie Osten und schon gar nicht nach der Wiedervereini- stehen wir zu der Geschichte, was haben wir eigent- gung 1989. lich gelernt, wie sehen wir das an? Das war nicht nur Um so wichtiger wird es, an diesem Tag, dem eine Diktatur, das war schlimmer, das war mehr, das 9. November, nicht nur der Ausrufung der ersten war einmalig. Diese Einmaligkeit mit der Brutalität deutschen Republik 1918 und der Wiedervereinigung und Vielseitigkeit des Terrors gehört wachgehalten. 1989 zu gedenken, sondern auch und insbesondere Danke. der Reichspogromnacht und der Genozide an Juden und an Sinti und Roma. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/ Nun muß ich doch noch etwas zur realen politischen Linke Liste]) Situation sagen, weil da vieles auch Angst macht, und das an die Adresse der PDS: Gespräche mit Neonazi Rädelsführern, das Feststellen von partiellen Überein- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abge- stimmungen mit ihnen, wie vor einiger Zeit von der ordnete Dr. Ulrich Briefs ist der nächste Redner. damals stellvertretenden PDS-Vorsitzenden prakti- ziert, oder Inte rviews von PDS-Landtagsfraktionsvor- sitzenden in Mecklenburg-Vorpommern mit ausge- (fraktionslos): Herr Präsident! Dr. Ulrich Briefs rechnet dem führenden Neonazi-Organ, der „Jungen Meine Damen und Herren! Wir Deutsche tun uns Freiheit", bedeuten nicht, daß man sich aus dem schwer mit unserer Geschichte. Deshalb tun wir uns völkischen Dunst heraushält, sondern im Gegenteil: auch schwer mit nationalen Gedenktagen und natio- Linker Populismus schlägt um in gefährliche Rede- nalem Bewußtsein überhaupt. und Argumentationsgemeinsamkeiten mit den neofa- Deutschland und die Deutschen haben in ihrer schistischen Kräften. jüngeren Geschichte zwei Genozide und zahlreiche, zum Teil unvorstellbar grausame Verbrechen gegen Dem Grundanliegen des PDS-Antrags, einen wür- die Menschlichkeit zu verantworten. Eben deshalb digen Gedenktag zu schaffen, der den furchtbaren kann dieses Land und kann diese Bevölkerung sich Verbrechen insbesondere an der jüdischen Bevölke- rung Rechnung trägt, ist jedoch voll zuzustimmen. einen neuen Nationalismus, sei er auch geläutert und aufgeklärt, nicht erlauben, nicht aus moralischen Herr Präsident, ich danke Ihnen. Gründen und auch nicht aus faktisch-politischen Gründen. Meine Wird denn nicht jede Berufung auf deutsche natio- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damen und Herren, wir sind damit am Ende der nale Tradition, auf Leistung, auf Kultur oder auch auf Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des die nationale Wiedervereinigung 1989 sofort zwangs- Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/5781 an den läufig die Erinnerung an die furchtbaren Verbrechen Innenausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? des dritten Deutschen Reiches mit sich bringen müs- — Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. sen? Muß nicht jede deutsche nationale Referenz und Dann ist das so beschlossen. Regung bei unseren Nachbarvölkern, aber z. B. auch in den USA oder in ganz fernen Ländern wie Austra- lien und Neuseeland, die an der alliierten Befreiungs- Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den aktion im Juni 1944 in der Normandie teilgenommen - Tagesordnungspunkt 4 auf: haben, sofort entgegenwirkende Gefühle und Argu- mente hervorrufen? Sollten wir uns nicht eher auch Erste Beratung des von den Abgeordneten vor den Opfern dieser Völker verneigen, statt krampf- Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin) haft neue nationale Feiertage einrichten zu wollen? und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Es gibt keinen gesunden deutschen Nationalismus; Änderung des Strafgesetzbuches — Strafbar- es kann ihn nicht geben. Es gibt übrigens auch in keit der Leugnung des nationalsozialistischen anderen europäischen Ländern nicht diesen gesun- Völkermordes den Nationalismus, bzw. dort wird er schlicht und einfach schnell lächerlich. Hier wirkt er jedoch maka- — Drucksache 12/7421 ber und einfach schrecklich. Denn in Deutschland ist —Überweisungsvorschlag: er verbunden mit den Erinnerungen an die deutsche Rechtsausschuß (federführend) Barbarei, auch an die hochgradige Zustimmung der Innenausschuß deutschen Bevölkerung zum NS-Regime. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Wir sind aber dazu verpflichtet, die Erinnerung und 30 Minuten vor, wobei das BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Gedächtnis an die Opfer dieser Barbarei wachzu- NEN als einbringende Gruppe eine Redezeit von halten, an die jüdischen Opfer — insbesondere an 10 Minuten erhalten soll. Ist das Haus damit einver- diese —, an die Sinti und Roma — auch an diese —, an standen? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es die unvorstellbar vielen, die aus allen möglichen so beschlossen. Gründen zu Opfern der deutschen Barbarei geworden Dann kann ich Herrn Dr. Wolfgang Ullmann das sind. Wort erteilen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19665

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können und damit eine der Grundvoraussetzungen NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! unserer Demokratie zerstört werden kann. „Auschwitz-Lüge" sagen die einen. Sie halten soge- nannte wissenschaftliche Konferenzen mit Hinrich- Die Würdigung dieses Sachverhaltes war es auch, tungsexperten, um ganz unvoreingenommen im die zu der vom Koalitionsentwurf abweichenden For- Sinne dessen, was sie sich unter wissenschaftlicher mulierung geführt hat. War es doch genau das Fehlen Objektivität vorstellen, mit einer befremdlichen dieses Tatbestandes „Leugnung des NS-Völkermor- Unschuldsmiene zu erörtern, ob der Massenmord an des", der zu dem in der Öffentlichkeit mit Recht den Juden, der Versuch, ein ganzes Volk aus der kritisierten Bundesgerichtshofurteil vom 15. März Menschheit auszurotten, wirklich stattgefunden hat. 1994 geführt hat, in dem jener Satz steht, der Gegen- stand der mit berechtigter Leidenschaft geführten Wieder andere sind geschäftig, die Namen derer, Debatte wurde: die gegen den Nationalsozialismus gekämpft und dabei ihr Leben verloren haben, aus der deutschen Daraus ergibt sich zugleich, daß das bloße Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Bestreiten der Gaskammermorde den Tatbestand Da gibt es alte Herren, die unter voller Angabe ihres der Volksverhetzung nicht erfüllt. Namens, ihrer Adresse und unter Berufung auf ihre in der Hitler-Armee erlangten Orden denen mit der Wer kann das in unserem Land ruhigen Blutes Hinrichtung durch ein Kriegsgericht drohen, die den anhören: „das bloße Bestreiten der Gaskammer Dienst in einer durch schwere Völkerrechtsverstöße morde"? Aber zu solch hochbedenklichen Formulie- und grauenhafte Unmenschlichkeiten befleckten rungen kommt es, wenn das Reden von „Auschwitz Armee verweigert und sie verlassen haben. Lüge" irgendwie den Tatbeständen Volksverhetzung (§ 130 StGB), Aufstachelung zum Rassenhaß (§ 131 Es gibt Leute in unserem L and, die auf Zustimmung StGB) oder Belohnung und Billigung von Straftaten der öffentlichen Meinung rechnen können, wenn sie (§ 140 StGB) subsumiert werden soll. mit einem Aufkleber auf der Rückwand ihres Pkw herumfahren, auf dem steht: Eure Armut kotzt mich Ich freue mich, mit dem Koalitionsentwurf darin an. übereinstimmen zu können, daß auch das hochbe- Es begegnet einem beim Straßenwahlkampf, daß deutsame Grundsatzurteil des Bundesverfassungsge- von ganz harmlosen Mitbürgern und Mitbürgerinnen richtes vom 13. Ap ril 1994 die vorgesehene Straf- der gute Rat gegeben wird: Wenn die Politiker Stim- rechtsänderung nicht überflüssig macht. Zwar wird in men sammeln wollen, sollten sie sich doch endlich zu diesem Urteil in Formulierungen von denkwürdiger der Losung „Unser Volk zuerst" bekennen, und zwar Präzision klargestellt, inwiefern das Recht der freien zur prinzipiellen Antastbarkeit der Menschenwürde Meinungsäußerung begrenzt ist durch die Rücksicht derer, die diesem Volk nicht angehören, zur Veräu- auf etwa berührte Persönlichkeitsrechte einerseits ßerlichkeit von Menschenrechten, wenn die selbst- und den Zwang zur objektivierbaren Verifikation im verständlichen Vorrechte des eigenen Volkes das Falle von Tatsachenbehauptungen andererseits. An- erfordern. sonsten bewegt sich auch das Bundesverfassungsge- richtsurteil auf dem Boden der bisherigen Gesetzes- Diejenigen, die mich auf dem Berliner Alex ander- lage und Rechtsprechung. platz als „Jude" titulieren, weil ich für die Solidarisie- rung mit den mißhandelten Bosniern öffentlich ein- Ich teile mit dem Koalitionsentwurf das Interesse trete, können sich darauf verlassen, daß das nicht als daran, diesen Boden nicht unnötig zu verlassen und eine, freilich irrige, Ehrung, sondern als Anpöbelung damit zu verunsichern. Aber, meine Damen und verstanden wird. Herren Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Es ist die Tatsächlichkeit dieses Zustandes unserer ist das in Ihrem Entwurf völlig überzeugend gelun- Öffentlichkeit, meine Damen und Herren Kolleginnen - gen? Ich finde, die Zuordnung zum § 130 StGB könnte und Kollegen, auf die die Gesetzesinitiative von die Rechtsprechung abermals in die Falle jenes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reagiert. Sie tut es mit der Beweisnotstandes führen, dessen Dokument das Bun- Konstatierung eines neuen Strafrechtstatbestandes. desgerichtshofurteil wurde. Denn es gilt, das Täuschungsmanöver zu unterbin- den, das in der Inanspruchnahme des Rechtes der Andererseits macht das Wort „billigen" eine freien Meinungsäußerung etwas ganz anderes Anleihe beim § 140 StGB, was einesteils nicht ganz bezweckt als die Förderung unseres geschichtlichen systemkonform, andererseits tatbestandsverunklä- Wissens und die unbestochene Konfrontation mit rend ist. unserer eigenen deutschen Geschichte. Es bleibt mir nur, am Schluß die Genugtuung Ralph Giordano hat recht, wenn er sagt: Die von der darüber auszudrücken, daß die Initiative von BÜND- „Auschwitz-Lüge" sprechen, drohen selbst mit NIS 90/DIE GRÜNEN zu einem in dieser Sache Auschwitz. Mit ihren Aktivitäten betreiben sie nicht besonders wichtigen Konsens der Demokraten und wissenschaftliche Meinungsbildung unter dem Demokratinnen geführt hat, und zu hoffen, daß die Schutz des Art. 5 des Grundgesetzes. Vielmehr betrei- Gesetzesänderung, auch wenn sie in der Form des ben sie aktiv die nachträgliche Legitimation des Koalitionsantrags beschlossen wird, unsere Recht- NS-Völkermordes. Durch seine aktive Rechtfertigung sprechung endlich in den Stand setzt klarzustellen, suchen sie diejenige politische Macht zu mobilisieren, daß der demokratische Rechtsstaat durchaus in der mittels derer früher oder später einmal die Urteile über Lage ist, die tückischen Versuche derer zu durchkreu- die deutschen Verbrechen gegen den Frieden und zen, die ihn verächtlich machen und untergraben gegen die Menschlichkeit außer Kraft gesetzt werden wollen. 19666 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Wolfgang Ullmann Ich danke Ihnen. Es gibt heute einen Artikel in der FAZ zu diesem (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der Thema. In dem heißt es zu Beginn richtigerweise PDS/Linke Liste) — vieles andere habe ich nicht verstanden —: Auschwitz ist eine offene Wunde. Wer Auschwitz leugnet, der bewirkt, daß diese Wunde noch offener Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile klafft. nunmehr dem Abgeordneten Dr. Die trich Mahlo das Das finde ich richtig. Aber ich bin der Auffassung, es Wort. ist in erster Linie eine Wunde am deutschen Volk und erst in zweiter Linie eine Wunde am jüdischen Men- schen. Das einzige, was wir als Volk — für ein Volk Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! gibt es eben nicht die Gnade der späten Geburt — tun Meine verehrten Damen und Herren! Herr Ullmann, können, um mit diesen Verbrechen irgendwie umzu- obwohl ich im Ergebnis dem Strafrechtsänderungs- gehen, ist doch, uns ihrer zu erinnern. vorschlag des Verbrechensbekämpfungsgesetzes der Koalitionsfraktionen zustimme und nicht dem Antrag Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, begrüße ich Dr. Mahlo, ich habe drei Wünsche vorliegen, Zwi- doch deren Gesetzesvorlage und teile ihr Anliegen. schenfragen beantwortet zu bekommen: von Herrn In der Sache sind sich offenbar alle Fraktionen Ullmann, vom Kollegen Schmude und von Herrn darüber einig, daß die Leugnung des nationalsoziali- Dr. Seifert. Sind Sie prinzipiell bereit, sie zu beantwor- stischen Völkermords — ich ziehe diese Formulie- ten? rung dem Ausdruck „Auschwitz-Lüge" vor —, j eden- falls wenn sie in Deutschland und von Deutschen Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Ich bin bereit, sie zu geschieht, eine strafwürdige Handlung darstellt. beantworten. Ich will hier jedoch diesen Gedanken Nach der Rechtsprechung war das bekanntlich bisher noch abschließen. nicht der Fall, solange nicht zusätzlich die Menschen- Wie gesagt, das einzige, was uns bleibt, um als Volk würde verletzt wurde. Zwar wurde von der deutschen damit umzugehen, ist in erster Linie, uns dieser Sache Rechtsprechung eine Kollektivbeleidigungsfähigkeit zu erinnern. Wer diese Untaten abstreitet, der nimmt der in Deutschland lebenden Juden bejaht. Dieser uns die Möglichkeit, sich ihrer zu erinnern, und sei es Tatbestand galt aber als durch die sogenannte bloße nur, um damit unsere Zukunft zu meistern. Leugnung der ihnen widerfahrenen Verfolgung nicht Ich bin hier mit einem Gedanken zu Ende. als erfüllt. Daher ist gesetzgeberisches Handeln gebo- ten. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zunächst Trotz der Übereinstimmung ist allerdings an dieser einmal Herr Dr. Ullmann. Stelle die Frage zu stellen: Was ist eigentlich der präzise Grund für eine Strafverfolgung? In dem mir Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vorliegenden relativ kurzen Formulierungsvorschlag NEN): Vielen Dank, Herr Präsident. — Herr Kollege des Bundesministeriums der Justiz steht nur sehr Mahlo, vielleicht können wir uns darüber verständi- allgemein als Grund: Vergiftung des politischen Kli- gen, daß unser Gesetzentwurf nicht so sehr, wie Sie mas. Das scheint mir nicht sehr präzise zu sein. Denn vermuten, einen Angriff auf die Würde der jüdischen es gibt natürlich sehr viele Vergiftungen des politi- Menschen beinhaltet, sondern daß er weitergeht und schen Klimas durch andere Methoden, die wir nicht in dem Holocaust die Bestreitung des Lebensrechts unter Strafe stellen. zur Voraussetzung hat. Ist es nicht so, Herr Kollege Mahlo — das ist meine Frage —, daß derjenige, der die Der Antrag vom BÜNDNIS 90 ist meiner Ansicht Tatsächlichkeit des Holocaust bestreitet, damit nach sehr viel interessanter in seiner Begründung, — mindestens implizit — die Bestreitung des Lebens- sehr viel tiefergehend und in gewissem Umfang auch rechts der Juden bejaht? anspruchsvoller. Allerdings beschränkt er sich in der entscheidenden Frage, was der Grund für die Bestra- Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Wahrscheinlich fung ist, darauf, den BGH zu zitieren. Wenn ich es haben Sie in der Wirkung und in der Tendenz desje- richtig verstanden habe, sagt der BGH in einer Ent- nigen, der dieses Bestreiten vornimmt, recht. Trotz- scheidung von 1980, die Anerkennung des Holocaust dem kann ich das logische Band zwischen der Aus- jedenfalls für die in Deutschland lebenden Juden sei sage, die ich bestrafen will, und der Folgerung, die Sie Teil ihrer Würde und die Leugnung des Holocaust daraus ziehen, nicht nachvollziehen. eine Form ihrer Diskriminierung. Ich gestehe, daß ich auch Schwierigkeiten habe, die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Auffassung nachzuvollziehen, daß es die Identität Dr. Schmude. oder die Würde des jüdischen Menschen als solche verlangten, das NS-Massenverbrechen an ihnen Dr. Jürgen Schmude (SPD): Herr Mahlo, ich versu- anzuerkennen. Ich kann nicht ganz begreifen, daß che es einfacher zu machen, indem ich Sie frage: den jüdischen Menschen mindestens ein Teil ihrer Können Sie sich vorstellen, daß Sie, wenn Sie das Würde sozusagen durch die Untaten des Herrn Hitler Opfer eines Raubüberfalls und einer Mißhandlung verschafft sein sollen. Aber wie dem auch sei: Ich wären, begangen durch Personen der Gesellschaft, in neige persönlich dazu, gerade auch als ein nichtjüdi- der Sie leben, sich dann in Ihrer Menschenwürde scher Deutscher, zu finden, daß die Leugnung des verletzt fühlen würden, wenn man anschließend nur nationalsozialistischen Verbrechens an den Juden sagte, Sie hätten Verluste erlitten, Sie hätten einen insbesondere das deutsche Volk verletzt. Unfall erlebt oder dergleichen mehr, aber nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19667

Dr. Jürgen Schmude benennt, was Ihnen wirklich an Schändlichem pas- Das ist ein Gesichtspunkt, der mich besonders siert ist? empört, ganz abgesehen davon, daß der Leugner der nationalsozialistischen Verbrechen natürlich den Versuch unternimmt, die Ideenwelt und die politische Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Ja, ich glaube, daß Bewegung, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, ich das nachvollziehen kann, obwohl ich wahrschein- schönzureden und damit den ersten Schritt zu unter- lich, jedenfalls gegenüber den Räubern, keinen gro- nehmen, sie wieder gesellschaftsfähig zu machen. ßen Wert mehr darauf legen würde, daß sie hinterher Wer das tut, stellt sich nach unserer übereinstimmen- anerkennen, daß sie mich beraubt haben. Aber es ist den Überzeugung außerhalb aller Gesittung. einfach so, daß ich gewissermaßen ein Anrecht auf Wahrheit habe, und insofern will ich mich demgegen- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann über nicht grundsätzlich sträuben. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Erlauben Sie mir noch eine Schlußbemerkung, die möglicherweise nicht auf viel Zustimmung stoßen Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: wird. Dr. Seifert. (V o r s i tz : Vizepräsident Helmuth Becker) Die Unterstrafestellung der Auschwitz-Leugnung ist Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Herr Dr. Mahlo, ich habe jetzt einige Probleme mit Ihren Antworten, in meinen Augen eine etwas verspätete Selbstver- insbesondere mit der auf Herrn Ullmanns Frage. ständlichkeit. Sie entlastet niemanden. Wenn wir die Lektion von Auschwitz als Volk ernst nehmen, kann es Erlauben Sie mir, die Frage so zu stellen: Sie haben eben nicht genügen, daß wir den Nationalsozialismus gerade ausdrücklich gesagt, daß Auschwitz eigentlich eine offene Wunde für das deutsche Volk ist und daß ein halbes Jahrhundert nach seinem Untergang hier einverständlich bekämpfen. Da muß man sich gewis- man sich als Volk nicht aus seiner Geschichte heraus- sermaßen zu einem umgekehrten Auschwitz aufraf- stehlen kann, daß man sozusagen als Volk nicht die Gnade der späten Geburt hat. fen: Da muß man sich meiner Ansicht nach in Aner- kennung einer besonderen Verantwortung im Einzel- Können Sie mir dann darin folgen — ich denke, das fall einmal vor die hinstellen, mit denen heute Geno- ist auch die Intention des Antrags —, daß die jüdischen zid passiert, wenn vielleicht auch in anderen Formen Menschen sich ebenfalls nicht aus ihrer Geschichte und ohne Vergleichbarkeit im einzelnen. herausstehlen können oder wollen und daß demzu- folge die Leugnung des Tatbestandes des Genozids, Ich werde daher nie verstehen, warum gerade die Leugnung des Tatbestandes, daß man ihnen das diejenigen, die Auschwitz ständig auch dazu benut- zen, eine negative Einzigartigkeit der Deutschen zu Lebensrecht bestritt und praktisch zu Taten schritt, das auch zu vollziehen, so tief in jedem einzelnen begründen und die auch heute in der Aktuellen Mitglied dieses Volkes steckt, daß es mehr als einen Stunde wieder davon Gebrauch gemacht haben, die gewöhnlichen Straftatbestand darstellt und so tief ist, natürlich in vielen Formen ihre gute Gesinnung her- ausstellen, Lichterketten, Menschenketten usw. bil- daß man es wirklich nicht mit irgend etwas anderem vergleichen kann und hier nicht durchgehen lassen den, dann, wenn es darum geht, nach Somalia zu kann? Hier geht es nicht um irgend etwas, sondern um gehen, Leute vor dem Verhungern zu retten, dann, etwas ganz Prinzipielles. wenn es um ein paar Awacs-Soldaten geht, die einen minimalen Beitrag dazu leisten sollen, daß einige Leute weniger umgebracht werden, dafür nicht zu Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Kollege Sei- sprechen sind. Dann laufen sie zum Bundesverfas- fert, Sie haben die Frage von Herrn Schmude noch sungsgericht, um dagegen zu klagen. Es tut mir leid, einmal anders formuliert. Im Ergebnis bestreite ich es ich kann diesen Zusammenhang nicht leugnen. Er nicht. Ich kann die Forderung nach Strafwürdigkeit liegt auf der Hand. oder Unterstrafestellung sehr gut nachvollziehen. (Uwe Lambinus [SPD]: Das stimmt doch gar Letztlich habe ich gleichwohl Schwierigkeiten mit nicht, was Sie sagen!) der logischen Verknüpfung, daß das Verletztsein im Wenn wir irgend etwas tun wollen, um von dieser Zusammenhang mit einer offensichtlichen Tatsache, Schuld im Zusammenhang mit Auschwitz loszukom- die meine eigenen Leiden betrifft, gleichzeitig auch men, müssen wir etwas in dieser Richtung tun, — meine Ehre verletzen soll. sozusagen das Gegenteil von Auschwitz. Ich finde, Es ist letztlich nicht ganz sicher, ob Sie nicht daß Sie dem mehr Verständnis entgegenbringen soll- möglicherweise doch auch recht haben. Offenbar ten, als Sie es bisher getan haben. werden die jüdischen Menschen das so empfinden. Vielen Dank. Wer sich als Deutscher oder auch als Nichtdeutscher in Deutschland nach allem, was geschehen ist, hin- stellt und die Frage stellt: „War was?", beleidigt für Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile als nächstem Redner unserem meine Begriffe nicht nur die Toten und die heute lebenden Angehörigen der Personengruppe, der die Kollegen Dr. Hans de With das Wort. Toten zuzurechnen waren, sondern beleidigt noch- mals die Würde auch unseres Volkes, indem er unsere Dr. Hans de With (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Unfähigkeit, mit dieser Vergangenheit angemessen verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Mahlo, umzugehen, dokumentiert und unser Volk damit ich habe Ihre Argumentation nicht ganz verstanden. gewissermaßnen nochmals als ohne Anstand seiend Ich denke, wir müssen, wenn wir über die Strafbarkeit verächtlich macht. der Auschwitz-Lüge reden, den neonazistischen Hin- 19668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Hans de With tergrund in unserer Zeit sehen, vor allem aber auch pellos ins Werk gesetzten Mechanismus zur Ausrot- das damalige unendliche Leid. tung ganzer Völker rechtfertigt eine besondere Straf- vorschrift vor allem in unserer Zeit. (Beifall bei der SPD, der F.D.P., dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem Seifert [PDS/Linke Liste]) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Rechtsextremismus, gewiß, zeigt viele in den Wir Deutschen tragen den Makel, und wir haben einzelnen Ländern unterschiedliche Formen. Aber alles zu tun, damit 50 Jahre nach Hitler und seinem nirgendwo zeigt er seit Jahren sein Gesicht deutlicher Genozid nicht neues Böses gezeugt und geboren und mit gravierenderen Folgen als in Deutschland, mit wird. demütigenden Parolen, Hetzjagden auf Ausländer, brennenden Asylheimen, einem Brandanschlag auf Die hier zur Debatte stehende Vorlage des BÜND- eine Synagoge und sogar mit Morden. NISSES 90/DIE GRÜNEN ist nicht der erste Vorschlag Dabei hat kein Land eine furchtbarere rechtsradi- — Herr Ullmann, das sei erlaubt zu sagen — und kale Vergangenheit als Deutschland. Angekündigt, gesetzestechnisch auch nicht akzeptabel. geplant, mit fabrikmäßiger Systematik verfolgt und Ich darf demgegenüber auf den alten Vorschlag der hingemordet wurden unter Hitler allein aus rassisti- SPD aus dem Jahre 1982 verweisen, den wir am schen Gründen Juden, Sinti und Roma, wie es bis 12. April als Ergänzung zum bestehenden § 130 des dahin auf der Welt ohne Beispiel war. Das ist die Strafgesetzbuchs, also des Straftatbestands der Volks- Einmaligkeit, Herr Mahlo. verhetzung, wieder eingebracht haben. Unser Vor- Zunächst diffamiert, dann gezeichnet, aus dem schlag vermeidet die Schwierigkeiten, die der Bun- öffentlichen Leben verbannt, dann auf der Rampe desgerichtshof aufgezeichnet hat, indem er auf die selektiert und zu Millionen vergast. Herr Mahlo, auch zusätzliche Voraussetzung des Angriffs auf die Men- dieses unendliche Leid müssen wir sehen. Übrigens schenwürde verzichtet. Er hat außerdem die Zustim- sind auch die Zeugnisse hierüber ohne Beispiel. Sie mung des Deutschen Richterbundes gefunden. sind gerichtsnotorisch wie keine anderen. Ich freue mich, daß sich die CDU/CSU mit der F.D.P. Dennoch wurde und wird Auschwitz geleugnet und nun endlich, offenbar allerdings erst am letzten Frei- verharmlost. Diejenigen, die das tun, können und tag, zu einer fast wortgleichen Vorschrift aufgerafft dürfen nicht als querulatorische Einzelgänger abge- hat — bis auf ein Wort ist sie gleich —; denn die tan werden. Wer Auschwitz leugnet oder verharmlost, bisherigen Vorschläge der Regierungskoalition im denkt an Hitler, bereitet Rassismus den Boden, setzt Verbrechensbekämpfungsgesetz — das haben Sie Bausteine zu neuem Rechtsradikalismus und mißach- heute in der Beratung hier eingeräumt — reichen tet und verletzt in unerträglicher Weise die Gefühle einfach nicht aus. der Betroffenen, vor allem jener, die — das ist nicht überzogen — durch die Hölle gegangen sind und sie Ich füge hinzu — das ist eine brandneue Nach- überlebt haben. richt —: Ich freue mich auch, daß wir heute im Rechtsausschuß einstimmig eine entsprechende Straf- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der rechtsregelung verabschiedet haben, die endlich die F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bisherigen Schwierigkeiten ausräumt. Ich muß aller- NEN) dings hinzufügen: Das hätten Sie sich ersparen kön- Dem immer und immer wieder entgegenzutreten ist nen, hätten Sie schon damals, vor mehr als zwölf Aufgabe aller Demokraten. Wenn wir erkennen, daß Jahren, der erwähnten Vorlage zugestimmt. Aber unsere derzeitigen Gesetze — aus welchen Gründen immerhin: Wir haben es heute getan. Damit ist endlich auch immer — nicht ausreichen, dann müssen sie ein Stein des leidvollen Anstoßes ausgeräumt. eben geändert werden. Die Zeit ist überreif. (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ Die Debatten im Bundestag um die Einführung Linke Liste sowie des Abg. Dr. Diet rich einer von der SPD vorgelegten Strafvorschrift in den Mahlo [CDU/CSU]) Jahren 1982/83, also vor mehr als zwölf Jahren, sind mir noch in frischer Erinnerung. Die freie Meinungs- Ich verzichte hier deshalb auf eine weitere Erörte- äußerung dürfe nicht eingeschränkt und die Vertrei- rung tatbestandsmäßiger Details — ich sage auch, bungsverbrechen an Deutschen könnten nicht außer warum —, weil damit eigentlich nur der Eindruck der Betracht gelassen werden, hieß es damals. Ergebnis Beckmesserei und das beklemmende Gefühl entste- war letztlich nur eine von beinahe allen Kommentato- hen könnten, jetzt, wo die Geschichte eigentlich schon ren als verunglückt bezeichnete Vorschrift im Strafge- erledigt ist, streiten die rückwirkend noch um Punkt setzbuch bei den Beleidigungsdelikten. In der Sache und Komma. Das wollen wir nicht. Wir haben heute wurde damit nichts bewegt. etwas Vernünftiges beschlossen, und ich gehe davon aus, daß dies am Freitag in zweiter und dritter Lesung Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs, das hier ebenso einstimmig die Zustimmung des ganzen Hau- schon herangezogen wurde, im Fall des NPD-Vorsit- ses findet. zenden Deckert belegt das eindrucksvoll. Natürlich wollen und dürfen wir nicht die Meinungsfreiheit Ich kann, meine sehr verehrten Damen und Herren, angreifen. Natürlich dürfen auch die unsäglichen den Deutschen Bundestag nur aufrufen, und zwar Verbrechen bei der Vertreibung nicht verkleinert nicht nur in bezug auf den derzeitigen Gegenstand oder gar auf die Seite geschoben werden. Nur, die der Debatte, alle Maßnahmen zur Bekämpfung des Einmaligkeit des von den Nazis geplanten und skru- Neonazismus und des Rechtsradikalismus nicht im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19669

Dr. Hans de With Wahlkampfgetöse zu zerreden. Dabei würde keine Mark. Das kann ich sehr gut begreifen, Herr Kol- Partei gewinnen. lege. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Im Gegensatz zu dem Vorschlag vom BÜNDNIS 90/ F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN sehen wir einen engen Sachzusam- NEN) menhang zur Volksverhetzung und werden die Straf- barkeit deshalb in § 130 StGB einstellen. Das ist keine Auschwitz ist und bleibt unser Menetekel. Ich sage Falle, Herr Kollege Dr. Ullmann, sondern klar und ganz einfach: Wer den nationalsozialistischen Mas- senmord, also den Holocaust, verharmlost oder leug- abgewogen formuliert. net, muß wissen, daß er an demokratischen Grundfe- Der entscheidende Fortschritt gegenüber der jetzi- sten rührt. gen Rechtslage ist, daß schon das einfache Leugnen der Massentötungen aus der niedrigeren strafrechtli- Vielen Dank. chen Ebene der Privatklagedelikte, hier der Beleidi- (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ gungsvorschriften, herausgehoben wird, auch wenn Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der § 194 Abs. 2 StGB jetzt schon eine Verfolgung NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ ohne gesonderten Strafantrag zuläßt. CDU) Bei unserem Koalitionspartner, aber auch da und dort in der eigenen Partei hat es Vorbehalte gegeben, ob nicht das Grundrecht auf Meinungsäußerung zu Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und stark eingeschränkt werden könnte, was aus grund- Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Jörg van sätzlichen, verfassungspolitischen Erwägungen kriti- Essen. siert wird. Aber auch hier hat das Bundesverfassungs- gericht in seiner bereits zitierten Entscheidung deut- lich gemacht, daß die Schutzwürdigkeit von Mei- Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine nungsäußerungen vom Wahrheitsgehalt der Ihnen zu Damen und Herren! In Wahlkampfzeiten mag es Grunde liegenden tatsächlichen Annahmen abhängt. unüblich sein, einem politischen Konkurrenten Lob zu Sind diese, wie bei der Auschwitz-Lüge, erwiesen zollen, aber ich habe mich über die parlamentarische unwahr, tritt die Meinungsfreiheit angesichts des Initiative, die Gegenstand der heutigen Debatte ist, Gewichts der Ehrverletzung hinter den Persönlich- sehr gefreut. keitsschutz zurück. Bereits in der Anhörung zum Verbrechensbekämp- Ich habe vor einigen Wochen in Fulda an einer fungsgesetz haben der Kollege Burkhard Hirsch und Diskussion teilgenommen, in der Teilnehmer aus der ich uns darauf verständigt, im gleichen Sinne tätig zu rechten Ecke nach einer wissenschaftlichen Untersu- werden. Die Bundesjustizministerin hat uns sofort ihre chung verlangten, ob tatsächlich so viele Menschen Unterstützung signalisiert, und auf Grund Ihres Vor- hätten vergast werden können. Ein einfacher Bürger schlags hat eine Koalitionsrunde am vergangenen meldete sich und sagte: Ihm sei es völlig gleich, ob Freitag beschlossen, eine dem Petitum dieses Antrags eine genaue Zahl ermittelt werde. Jeder vergaste gerecht werdende Strafvorschrift in das Verbrechens- Mensch sei einer zuviel. Ich möchte ihm heute an bekämpfungsgesetz aufzunehmen. dieser Stelle für seine Äußerung ausdrücklich dan- Der Kollege de With hat es ja schon mitgeteilt: Wir ken. haben heute im Rechtsausschuß einstimmig — und (Beifall bei der F.D.P.) das ist sehr erfreulich — entsprechend beschlossen. In der letzten Woche bin ich in Buchenwald gewe- Ich möchte der Bundesjustizministerin dafür aus- sen und stehe immer noch unter dem Eindruck dieses drücklich danken. Besuchs. Es kann nicht zugelassen werden, daß ver- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sucht wird, uns die notwendige Scham angesichts der ten der CDU/CSU) tiefen Schatten unserer Vergangenheit zu nehmen. Sosehr der Bundesgerichtshof für Verwirrung Die besondere Strafvorschrift, auch für die einfache gesorgt haben mag, so sehr ist dem Bundesverfas- Auschwitz-Lüge, ist gerade in diesen Zeiten ein bitter sungsgericht für seine klaren Worte zu danken. In notwendiges politisches Signal. seiner Entscheidung vom 13. April 1994 auf eine Vielen Dank. Verfassungsbeschwerde der NPD führt es aus, daß die (Beifall bei der F.D.P., der PDS/Linke Liste, Behauptung, es habe im Dritten Reich keine Juden- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei verfolgung gegeben, nach ungezählten Augenzeu- Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) genberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und unwahr ist. Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort. Alle untauglichen Versuche aus der rechten Ecke, Zweifel an den schlimmen Tatsachen zu wecken, sind ein schwerer Angriff auf die Angehörigen aller Opfer, Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! der nicht hingenommen werden kann. Der Grund für Meine Damen und Herren! Dieses Thema beschäftigt die Bestrafung — Sie haben ja die Frage gestellt, Herr uns heute in verschiedenen Va rianten schon den Kollege Dr. Mahlo — ist für mich klar: Sie werden als ganzen Tag. Ich möchte deshalb nur zu drei Aspekten Lügner, als Simulanten dargestellt, und die Leugnung etwas sagen. Ich will heute zur gesetzestechnischen trifft sie angesichts des unendlichen Leids bis ins Frage und auch zur Einordnung nicht sprechen. Ich 19670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Gregor Gysi finde allerdings, die Einordnung bei Volksverhetzung sie denken, zur Rehabilitierung des Nationalsozialis- auch günstiger als bei Beleidigung, weil diese doch mus und zur Möglichmachung von Rechtsextremis- einen ganz anderen Charakter hat. mus die Verbrechen nicht mehr leugnen zu müssen, sondern mit Stolz auf sie verweisen zu können. Das Herr Schmude hat hier den Kollegen von der haben wir noch nicht. Aber sollten wir warten, bis es CDU/CSU-Fraktion nach Raub gefragt. Es gibt natür- passiert, oder sollten wir — das wäre mein Vor- lich überhaupt keinen Vergleich mit dem Holocaust schlag — prophylaktisch in das Strafgesetzbuch nicht am jüdischen Volk. Aber wenn, um die Gefühlslage zu auch die gegenteilige Variante aufnehmen? Ich meine verstehen, dann ist ein anderes Beispiel angebrachter, natürlich nicht die Bestätigung, sondern sozusagen um das nachzuvollziehen. Stellen Sie sich eine Frau, das Feiern, das Beschönigen, das Stolz-darauf-Sein. die brutal vergewaltigt wird, vor. Dann soll es zum Gebiet der Meinungsfreiheit gehören, daß alle ihr (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Steht doch immer sagen dürfen: Du hast es doch im Grunde schon drin!) genommen gewollt und mitgemacht. Verstehen Sie, Ich habe jetzt noch nicht eine Formulierung dafür. das ist dann keine Meinungsfreiheit mehr, sondern es (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Ist Volks muß diese Frau zutiefst verletzen, nicht nur, daß ein verhetzung!) übliches Gewaltverbrechen an ihr begangen wurde, Aber es wird meines Erachtens auch nicht so genau sondern dann auch noch der ganze Rest der Bevölke- getroffen, so daß wir in einem solchen Fall auch dort rung sie verhöhnen und ihr sozusagen Dinge unter- noch mit einem Freispruch beim Bundesgerichtshof stellen darf, die völlig absurd sind. Ich glaube, auch rechnen müßten. wenn man das natürlich nicht vergleichen kann, hier wird ein bißchen deutlich, worin diese tiefe Ehrverlet- Ich bitte nur, darüber nachzudenken, ob wir das zung — und das ist eine tiefe Ehrverletzung — und nicht noch genauer fassen könnten. Dies einfach nur Demütigung bestehen. als Anregung für die Beratung in den Ausschüssen. (Dr. Hans de With [SPD]: „leugnet, billigt Wenn man versucht hat, ein ganzes Volk auszurot- oder verharmlost" ! ) ten, aus der Geschichte der Menschheit zu tilgen, und dann auch noch Angehörige des Volkes, das dafür die Das Stolz-darauf-Sein — ich weiß noch nicht, ob ich Verantwortung trägt, im Rahmen von Meinungsfrei- ganz deutlich gemacht habe, was ich meine — ver- heit das Recht haben sollen, zu sagen, diesen Versuch harmlost ja nicht unbedingt. Sie können es in der hat es nie gegeben, dieses Verbrechen hat es nie ganzen Schärfe sagen und sagen: Es war richtig, und gegeben, dann ist eine Grenze überschritten, eine es war notwendig. Was machen wir dann? Einer, der Grenze, wo auch das Strafrecht greifen muß. leugnet, der verharmlost auch nicht. Der sagt: Nein, so war es. Das war auch genau richtig und notwendig. Im übrigen geht es gar nicht um Meinungen. Es ist Diesen Fall meine ich. Wir haben ihn eigentlich noch doch gar keine Meinung. Was da wirklich geäußert nicht erfaßt. wird, ist doch die Verhöhnung der Opfer des Holo- (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Das ist caust. Das ist auch die Absicht derjenigen, die so etwas Volksverhetzung!) sagen. Es gibt keinen von denen, der es in Wirklich- Wir sollten darüber nachdenken, ob wir ihn nicht keit nicht besser weiß, es sei denn vielleicht ein ganz prophylaktisch erfassen sollten. Dieser Fall wäre noch naiver Jugendlicher, der irgendwelchen Einflüsterun- ein Schritt weiter, das wäre noch ein Schritt schlim- gen glaubt. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß mer. Auch hier geht es nicht nur um das Ansehen. Das irgendwer an den Quatsch glaubt, den er erzählt. Der Schlimme ist, daß der Deckert mit einem Freispruch weiß doch ganz genau, daß es diese Verbrechen davongekommen ist und alle Neonazis dieses L andes gegeben hat. Sein Ziel ist doch ein anderes. Um den wissen, sie dürfen das jetzt sagen. Das ist das eigent- Nationalsozialismus zu rehabilitieren und den Rechts- liche Gift, das müssen wir so schnell wie möglich extremismus hoffähig zu machen, glaubt er, sei es - unterbinden. Deshalb hoffe ich, daß wir uns so schnell Voraussetzung, diese Verbrechen zu leugnen. Diese wie möglich in den Ausschüssen verständigen. und keine andere Absicht kann m an bei all diesem Gebaren unterstellen. Danke. (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.) Deshalb ist es dringend erforderlich, es strafrechtlich zu fassen, wobei ich jetzt sage, besser zu fassen als Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und bisher. Wie und in welchen Paragraphen, darüber Herren, jetzt hat unser Kollege Dr. Ulrich Briefs das können wir uns in den Ausschüssen unterhalten. Ich Wort. denke, wir werden uns da auch verständigen.

Ich will noch eine Sache erwähnen. Sollten wir Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! nicht, richtig vorbeugend, über eine Ergänzung nach- Meine Damen und Herren! Das Gesetzesvorhaben zur denken? Ich sage nicht, daß das jetzt aktuell ist. Aber Strafbarmachung der Auschwitz - Lüge ist seit langem sollten wir nicht doch darüber nachdenken, ob wir überfällig. Ich erinnere mich daran, daß bereits vor nicht schon jetzt unter Strafe stellen wollen, falls die etwa 20 Jahren bei einer Veranstaltung am Rande des Irvings meinen, die Situation hat sich so geändert, daß Ruhrgebiets ein älterer Herr Pamphlete verteilte, in man sich der Verbrechen brüsten kann? Es ist nämlich denen die Existenz der Konzentrationslager und die ein ganz gefährlicher Punkt, wo es weitergehen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung bestritten könnte, wo eine andere Schiene erreicht wird, wenn wurde. In den inzwischen mehr als sieben Jahren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19671

Dr. Ulrich Briefs Parlamentszugehörigkeit habe ich, wie andere Abge- Herren! Die Ermordung von Millionen vor allem ordnete auch, eine ganze Reihe von Zuschriften, die jüdischer Menschen in den nationalsozialistischen die Auschwitz-Lüge oder ähnliches beinhalteten, Vernichtungslagern ist eine geschichtliche und offen erhalten. -kundige Tatsache. Es gibt daher nichts zu diskutieren, Diese widerlichste Form deutscher Geschichts- und ob sie stattgefunden hat oder nicht. Wer sie der Realitätsverleugnung hat also zumindest in West- Wahrheit zuwider in Abrede stellt, kann sich, wie das deutschland eine lange Tradition. Sie fügt sich ein, sie Bundesverfassungsgericht im April dieses Jahres in ist eine Konsequenz der fehlenden Auseinanderset- dankenswerter Weise klargestellt hat, nicht auf den zung mit der NS-Zeit überhaupt. Sie entspricht einem Schutz der Meinungsfreiheit berufen. langsamen Prozeß der Restauration, von dem auch die Ich glaube, diese klare Aussage des Bundesverfas- politisch Interessierten immer nur die Spitze der sungsgerichts hat auch die Beratungen zu diesem den Spitze des Eisbergs — die Fälle wie Globke, Bütefisch, Bundestag jetzt ja schon seit über zehn Jahren Hanns-Martin Schleyer, Reinhard Höhn, um willkür- beschäftigenden Thema erheblich erleichtert. lich nur einige Namen zu nennen — zur Kenntnis Rechtsextremisten, die versuchen, die schreckliche nahmen. Bürde des nationalsozialistischen Völkermordes ab- In der Praxis der Auschwitz-Lüge quillt etwas aus zuschütteln, um dann um so ungehinderter für ihre dem braun-nationalen Untergrund der deutschen Ideen werben zu können, muß Einhalt geboten wer- Gesellschaft, insbesondere auch aus einem bestimm- den. Wir sind es dem Respekt vor den Opfern und ten Teil des deutschen Bildungsbürgertums an die unserer geschichtlichen Verantwortung schuldig, daß Oberfläche. In der sowjetischen Besatzungszone und, solche Geschichtsfälschungen nicht ungestraft ver- in den ersten Monaten zumindest — das habe ich breitet werden können. selbst erlebt —, in der früheren DDR wurde die Bevölkerung systematisch und breit, z. B. über Doku- Der vorliegende Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE mentarfilme, die in jeder Vorstellung, in jedem Kino GRÜNEN will eine Strafvorschrift einführen, die aus- vor dem Spielfilm zu sehen waren, über die NS-Lager, drücklich das Leugnen unter S trafe stellt. Er knüpft über die Verbrechen, über die Opfer, über die ver- damit an das Urteil des Bundesgerichtshofs vom hängnisvolle Mittäterschaft auch z. B. der Wehr- 15. März dieses Jahres an, das in der Öffentlichkeit macht, aufgeklärt. 1950, nach der Rückkehr nach teilweise so verstanden worden ist, als wäre das Düsseldorf, habe ich solche Dinge nicht mehr erlebt. Verbreiten des Leugnens des Holocaust in der Bun- Die gab es in Westdeutschland einfach nicht. Da gab desrepublik gar nicht oder nur unter besonderen es nur die seltenen Ereignisse wie die Filme von Erwin Voraussetzungen strafbar. Leiser und Alain Resnais, aber das waren dann So ist das nicht richtig. Aber es hat Irritationen und cineastische Ereignisse, die am Sonntagmorgen um 11 Unverständnis über diese Entscheidung des Bundes- Uhr in der Matineevorstellung präsentiert wurden. gerichtshofs gegeben. Ich bin froh, daß wir alle Jetzt aber noch ein anderes Wort dazu. Die jüngst gemeinsam einer Meinung sind, daß wir hier nicht aufgetauchten Informationen, daß auch in der DDR Grauzonen und Bereiche lassen wollen, in denen eben Naziverbrecher von den Behörden gedeckt wurden, diese Behauptungen ungestraft geäußert werden kön- hebt diese verdienstvolle Praxis der breiten öffentli- nen, chen Aufklärung der Bevölkerung nicht auf. (Beifall bei der F.D.P.) (Zuruf der Abg. Vera Wollenberger [BÜND- und zwar natürlich gerade mit bestimmtem politi- NIS 90/DIE GRÜNEN]) schem Hintergrund ungestraft geäußert werden kön- — Nein, das wird dadurch, so denke ich, nicht nen. aufgehoben. — Sie zeigen aber vielleicht eher, wie Die Bekämpfung des Rechtsextremismus in allen gefährlich auch in der DDR Kompromisse und Relati- seinen Formen ist eine der zentralen Herausforderun- vierungsansätze in bezug auf die Haltung zum Natio- gen, denen wir uns gegenwärtig mehr als zuvor stellen nalsozialismus, zum Faschismus, zum Rassismus, zum müssen. Rechtsextremistischer Propaganda und ihren Antisemitismus waren und sein mußten. Sie werden unsäglichen Parolen müssen eindeutige — auch ein- das auch in Zukunft sein. deutige strafrechtliche — Grenzen gezogen werden. Aus diesem Grund und auch aus anderen Gründen: Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein eigener Tatbestand gegen das Verbreiten des ist überfällig. Er ist voll zu unterstützen. Das sich Leugnens des Holocaust hebt die Strafbarkeit im dahinter verbergende und darunterliegende gesell- Vergleich zum geltenden Recht besonders hervor und schaftliche Problem ist damit leider nicht gelöst und bringt damit in besonderer Weise zum Ausdruck, daß auch nicht zu lösen. solche Lügen nicht nur die Ehre der Ermordeten, der Überlebenden und ihrer Nachkommen angreifen, Herr Präsident, ich danke Ihnen. sondern auch das f riedliche Zusammenleben zwi- schen deutschen und jüdischen Bürgern und damit die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Völkerverständigung belasten. Damit ist das Schaffen Herren, ich erteile nun der Frau Bundesminister für eines eigenen Tatbestandes auch ein wichtiges politi- Justiz, unserer Kollegin Sabine Leutheusser-Schnar- sches Signal, wie Herr v an Essen in seinen Ausfüh- renberger, das Wort. rungen schon deutlich gemacht hat. (Beifall bei der F.D.P.) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Dabei muß aber sichergestellt sein, daß ein solcher nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Tatbestand auch umfassenden Schutz bietet und 19672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gerade nicht die große Gefahr in sich birgt, durch Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die geschickte Formulierungen umgangen werden zu Debatte eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen können. Deshalb habe ich gegen die Formulierung, Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wie sie vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegt Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem worden ist, etwas Bedenken; denn hierin wird nur das unserem Kollegen Klaus Lennartz das Wo rt. Leugnen des Holocaust unter S trafe gestellt. Herr Gysi, wir haben heute im Rechtsausschuß im Rahmen der Beratungen zum Verbrechensbekämp- Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr fungsgesetz eine von mir vorgelegte Formulierung verehrten Damen und Herren! Als wir im Mai vergan- beschlossen, wonach eben gerade auch das Billigen genen Jahres im Bundestag die Große Anfrage der und das Verharmlosen der millionenfachen Morde in SPD zu Kindergesundheit und Umweltbelastungen den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in debattierten, gab es in den Beiträgen der Fraktionen jedem Falle als Volksverhetzung bestraft werden keine unterschiedlichen Auffassungen darüber, daß können. Das macht deutlich, daß nicht nur das Leug- umweltschädliche Stoffe die Körper unserer Kinder nen, sondern auch das Billigen, also auch das Sich- mehr belasten als die der Erwachsenen. Es gab keinen Dahinterstellen, vielleicht auch einmal der Fall, daß Dissens in der Frage, daß die Anhäufung von Schad- sich jemand damit brüstet, mit dieser jetzt in § 130 stoffen für unsere Kinder bedrohlich ist und daß es Abs. 3 neuzuschaffenden Strafnorm unter S trafe konkrete Zusammenhänge zwischen Umweltbela- gestellt werden. Ich meine, daß das der richtige Weg stung und Kindererkrankungen gibt. ist. Immer mehr Kinder leiden unter umweltbedingten Es ist ein ermutigendes Zeichen, daß alle Fraktionen Krankheiten wie Allergien, Atemwegserkrankungen und Gruppen gemeinsam diesem Vorschlag zuge- und Immundefekten. Auch bei Krebs und Fehlbildun- stimmt haben; denn dies ist kein Thema, mit dem gen ist ein Zusammenhang zwischen steigender Wahlkampf und parteipolitische Auseinandersetzung Umweltbelastung einerseits und Krankheitsentste- betrieben werden sollte. Es muß vielmehr zum Aus- hung andererseits zu befürchten. druck kommen, daß wir mit der Schaffung dieser Hinter den Statistiken verbergen sich tragische Strafbestimmung wirklich ein gemeinsames Ziel ver- Einzelschicksale. Kinder werden durch diese Erkran- folgen. Ich hoffe, daß die Einstimmigkeit und Überein- kungen isoliert, verlieren einen Teil oder gar ihre stimmung bei diesem Thema bei den gemeinsamen gesamte Lebensqualität und können nicht mehr unbe- Bemühungen und Auseinandersetzungen, national- schwert aufwachsen. Die Zusammenhänge sind auch sozialistischen und rechtsextremistischen Entwick- durch Erhebungen in der zum Teil hochbelasteten lungen und Tendenzen in Teilen unserer Gesellschaft Tschechischen Republik statistisch erwiesen. und ebensolchem Gedankengut entgegenzutreten, Es gab auch keine unterschiedlichen Auffassungen eine Hilfe ist. darüber, daß die Wirkungszusammenhänge zwischen Ich meine, daß wir ein positives Signal dadurch Umweltbelastungen und Kindergesundheit weitge- setzen, daß wir heute hier in großer Einmütigkeit hend nicht erforscht sind und als offene Felder vor uns darüber debattieren und dies auch am Freitag, bei der liegen, die es wahrlich zu bestellen gilt. zweiten und dritten Lesung des Verbrechensbekämp- (Monika Ganseforth [SPDI: Leider!) fungsgesetzes, bestimmt wieder tun werden. Auch die Zunahme psychosomatischer Erkrankun- Vielen Dank. gen durch — weit zu fassende — Umwelteinwirkun- (Beifall im ganzen Hause) gen auf unsere Kinder war vor einem Jahr in diesem Hause unstrittig. — Soweit, kann man festhalten, die Gemeinsamkeiten. Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Aber die schon damals weitgehend von Ignoranz Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des gekennzeichneten Zwischenrufe aus der CDU/CSU- Fraktion machen das Dilemma der Regierungskoali- Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/7421 an die in der tion in Sachen Kindergesundheit deutlich. Das Thema Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" findet der Fall. Darm ist die Überweisung so beschlossen. nicht die Hinwendung der Regierungskoalition, die es verdient hätte. Die Koalition flüchtet sich in Hilfsargu- mentationen, die ihre Untätigkeit abstützen sollen, so Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungs- z. B. das angeblich auf der Welt einzigartig hohe punkt 5 auf: Umweltniveau der Bundesrepublik Deutschland, die Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus niedrige Säuglingssterblichkeit in der Bundesrepu- Lennartz, Michael Müller (Düsseldorf), Wil- blik und die Initiativen von Umweltminister Töpfer auf helm Schmidt (Salzgitter), weiterer Abgeord- dem Weltumweltgipfel in Rio. neter und der Fraktion der SPD Zu konkretem Handeln oder auch nur zu den Kindergesundheit und Umweltbelastungen erforderlichen Untersuchungen ist die Regierungs- koalition allerdings nicht bereit. — Drucksache 12/6833 Forschungsdefizite werden beklagt; aber ein umfassendes Forschungs- —Überweisungsvorschlag: programm zum Thema „Kindergesundheit und Um- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit weltbelastungen" ist nach wie vor nicht in Sicht. So ist (federführend) Ausschuß für Frauen und Jugend leider nicht absehbar, wann konkrete Schritte unter- Ausschuß für Gesundheit nommen werden — ein Makel — das ist Ihnen von der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19673

Klaus Lennartz Regierungskoalition nichts Neues —, der Sie auf Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute vielen Politikfeldern plagt, insbesondere wenn es den die Bundesregierung auf, ein umfassendes For- gesamten Bereich der Umweltpolitik angeht. schungsprogramm „Kind, Gesundheit und Umwelt" aufzulegen, um die ökologischen Kinderrechte auf ein (Zuruf von der SPD: Das ist in der Interessen- gesundes Leben und eine intakte Umwelt zu verwirk- struktur nicht vorgesehen! — Weiterer Zuruf lichen. Zu den vielen konkreten Maßnahmen, die von der SPD: Seit zehn Jahren!) schnell eingeleitet werden und Kindergesundheit Wenn aber einer von Ihnen auf die Idee kommen erheblich verbessern helfen können, gehören: eine sollte, die Frage zu stellen: „Wo sind denn die Ozonverordnung, die die Immissionen drastisch Daten?", dann darf ich Sie nur bitten: Sehen Sie sich senkt, und zwar nach dem Maßstab des Kinderschut- das von Ihrer Bundesregierung in Auftrag gegebene zes. Umweltgutachten des Jahres 1987 an und lesen Sie bitte nach, was dort zu dem Punkt Kindererkrankun- (Zuruf des Abg. Gerha rt Rudolf Baum gen steht, nämlich welche Umwelteinwirkungen vor- [F.D.P.]) handen sind, die diese Erkrankungen auslösen. — Also, damit können Sie sich nicht exkulpieren. — Lieber Herr Kollege Baum, wenn die Ozonverord- nung erledigt wäre, dann würde ich das hier bestimmt Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt heute ihre nicht vortragen. Ich würde Sie bitten, daß Sie sich bei Forderungen nach mehr Aktion und H andeln auf dem dem Kollegen Staatssekretär, der dort hinten sitzt, Feld der Kindergesundheit. Das Leiden der Kinder einmal Nachhilfeunterricht geben lassen, daß die und ihrer Eltern sowie die gesellschaftlichen Folgen Ozonverordnung nicht erledigt ist. Wir warten ja der umweltbedingten Krankheiten sind in ihrer Tra- schon einige Zeit darauf. Da haben Sie recht. gik, meine Damen und Herren, kaum zu beschreiben, in statistischen Zahlen nur schwer zu erfassen und mit Weitere Maßnahmen sind: das generelle Verbot von unserem überwiegend reaktiven — ich betone aus- Benzol als Beimischung im Benzin drücklich: reaktiven — Gesundheitssystem nicht zu beseitigen. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das ist rich Wir sind davon überzeugt, daß ein Generationen- tig! Da haben Sie recht!) vertrag über eine gesunde Umwelt mit unseren Kin- — nicht nur dort, lieber Herr Kollege, nicht nur dort —, dern heute mehr denn je erforderlich ist, die Absenkung der Grenzwerte für Schadstoffbela- (Beifall der Abg. Gudrun Weyel [SPD]) stungen in Luft, Boden und Wasser gemäß der höhe- ren Empfindlichkeit des kindlichen Organismus, Qua- wenn die übrigen Generationenverträge morgen von litätsziele für das Grundwasser, die sich an der Kin- denen, die morgen erwachsen sein werden, noch dergesundheit orientieren und Ni trat, Pestizide und akzeptiert werden sollen. organische Chlorverbindungen im Trinkwasser redu- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Wer ist denn zieren, eine bessere Vorsorge und Informa tion der dagegen?) Familien über gesundheitsgefährdende Umweltbela- — Wenn Sie nicht dagegen sind, Herr Kollege Baum, stungen, ein bundesweites Lebensmittel- und Gewäs- dann darf ich Sie einmal fragen: Wo ist Ihr Handeln als sermonitoring, eine verschärfte Deklarationspflicht verantwortlicher Politiker in den letzten Jahren auf für Produkte mit flüchtigen Chemikalien, eine voll- ständige Aufzählung der Bestandteile von Babynah- diesem Felde gewesen? Ich habe soeben ausdrücklich darauf hingewiesen. Vom Jahre 1987 an liegen Ihnen rung in der Produktbeschriftung, Tempo 30 als gene- alle Daten vor. Es lag an Ihnen zu handeln. Sie haben relle Regelgeschwindigkeit in Wohngebieten zur Ver- es nicht getan. Sie haben sich versündigt, versündigt ringerung der Lärmemissionen, wirksame Maßnah- men gegen die ständig zunehmende Reizüberflutung an der Zukunft unserer Kinder. Sie haben sich auch an - der Akzeptanz der Technologie versündigt. Das ist Ihr und die damit verbundenen psychischen Störungen bei Kindern, eine wirksame Verbesserung der Problem. Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltaufklärung (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sind wir in in der Schulausbildung — um nur einige Forderungen der Kirche? Sie reden wie der Pfarrer in der aus unserem Antrag zu benennen. Kirche!) Meine Damen und Herren, wir von seiten der — Nein, nein. Weisen Sie bitte nach, in welchen SPD-Bundestagsfraktion hatten heute nachmittag Politikfeldern Sie hier gehandelt haben. eine Anhörung mit Kinderärzten, Ärzten der Allge- Wir sind der Auffassung, meine Damen und Herren, meinmedizin aus der Bundesrepublik Deutschl and daß sich eine positive Zukunftshaltung unserer Kin- mit dem Schwerpunktthema „Kindergesundheit und der und eine positive Grundhaltung zur Technik nur Umwelt". Ich hätte mir wirklich nicht vorgestellt, daß fördern lassen, wenn die konkrete Umwelt unsere unser Handlungsbedarf so groß ist. Bei all dem, was Kinder nicht krank macht. Deshalb sagen wir: Die dort an Informationen übergekommen ist, bedauere Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt ganz ich, daß wir einen Fehler gemacht haben: bestimmte wesentlich davon ab, ob wir heute in der Lage sind, Ignoranten, die ich in diesem Deutschen Bundestag ökologisch umzusteuern und unseren Kindern bald sehe, zu dieser Informationsveranstaltung nicht ein- Luft, Wasser und Nahrung zu bieten, die nicht krank geladen zu haben. Wenn Sie die Ergebnisse der machen. Der Wohlstand der Zukunft muß ein Wohl- Fachleute mitbekommen hätten, wären dem einen stand des Vermeidens von Umweltschäden und von oder anderen vielleicht Augen und Ohren übergegan- Krankheit sein. gen, und wir hätten diese Reden hier nicht zu halten 19674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Klaus Lennartz brauchen, hätten alle im Interesse unserer Kinder deren schier unendlichen Interaktionsmöglichkeiten unserem Antrag hier zugestimmt. in vielen Fällen verläßliche Daten nicht vorliegen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das richtig!) haben Sie doch versäumt! — Klaus Lennartz Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen aus [SPD]: Sie bemühen sich noch nicht einmal, der CDU/CSU-Fraktion, die das eventuell wieder für die Daten zu besorgen!) übertriebenen Ökoquatsch halten, mit einem Zitat aus — Lassen Sie mich das doch bitte einmal weiter einem Text mahnen, zu dem Sie sich sicher hingezo- ausführen. — gen fühlen: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." So steht es in der Verfassung des (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das müssen Freistaates Baye rn. Danach sollten Sie handeln, meine die Länder mitbesorgen!) Damen und Herren! Die Forschungsergebnisse sind nicht selten lücken- Ich bedanke mich bei Ihnen. haft und widersprechend. Auf Grund der sehr gerin- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und gen Schadstoffkonzentrationen und wegen der damit dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verbundenen Schwankungsbreite der Meßergebnisse sind diese oft nur spekulativ interpretierbar. Panikmache, die sich lediglich auf Verdacht und auf Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und wissenschaftlich nicht belegte Einzelfälle bezieht, ist Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Harald wenig hilfreich und trägt eher zur Verunsicherung der Kahl das Wort. Bevölkerung als zur Lösung des Problems bei. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine SPD: Wirklich unglaublich!) Damen und Herren! Ohne Zweifel ist die Gesundheit Deshalb muß es vorrangiges präventives Ziel sein, das höchste Gut des Menschen, sind die Kinder der die Forschungen auf diesem Gebiet weiter zu intensi- Lebensquell einer Gesellschaft. Kinder brauchen für vieren. Schon jetzt unterstützt die Bundesregierung ihre Entwicklung Liebe, Zuwendung, Hilfe und zahlreiche Maßnahmen in den Bereichen Prävention Unterstützung, eine intakte Familie, aber auch ein und Forschung. Seit 1987 hat sie die Allergiefor- intaktes Umfeld, eine gesunde Umwelt. schung mit über 60 Millionen DM gefördert. In zahl- Aufgabe des Staates ist es dabei, Rahmenbedingun- reichen Modellvorhaben läßt sie praktische Wege zur gen zu schaffen, die eine solche Entwicklung fördern Vorsorge und Früherkennung erproben. Des weiteren und begleiten. Aufgabe des Staates ist es nicht, mit wird durch die Förderung der Dokumentations- und immer mehr Gesetzen, Verordnungen und Verboten Informationsstelle für Umweltfragen bei der Akade- — also mit einem Übermaß an Reglementierungen — mie für Kinderheilkunde in Osnabrück ein umfangrei- die Freiräume seiner Bürger einzuengen und in ches umweltmedizinisches Netzwerk erstellt, das uns zunehmender Weise in die Kompetenzen und Pflich- wichtige Basisdaten zur Verfügung stellt. ten der Erziehungsträger einzugreifen. Es ist vielmehr Insbesondere in den neuen Bundesländern, in ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, alles für das denen die Umweltbelastungen ungleich höher sind, Wohl und die Gesundheit ihrer Kinder zu tun. wurde mit dem Soforthilfeprogramm „Trinkwasser" (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eine wichtige Gefahrenquelle, insbesondere durch ordneten der F.D.P.) die teilweise hohen Nitratgehalte verursacht, schnell Und es ist angesichts der länderübergreifenden und unkompliziert angegangen. Gesundheitsgefährdung durch Umweltbelastungen Im Herbst 1990 initiierte das BMU ein Forschungs- letztlich auch ein globales Problem. - vorhaben zum Gesundheitszustand der Bevölkerung Im Rahmen ihrer Zuständigkeit hat die Bundesre- in Bitterfeld im Zusammenhang mit den Umweltbela- gierung in den letzten Jahren wichtige Leistungen für stungen zur Prävalenz von Atemwegserkrankungen, Familien und Kinder durchgesetzt und eine Reihe von die gegenwärtig noch ausgewertet werden. Bei einem Präventionsangeboten unter dem Dach der gesetzli- weiteren Forschungsvorhaben „human-biologische chen Krankenversicherung geschaffen. Untersuchungen auf Hexachlorocyklohexan und Di- oxinkontamination" von Einwohnern des Landkreises (Widerspruch bei der SPD) Bitterfeld wurden Muttermilchproben diesbezüglich Unbestritten stellen zunehmende Atemwegserkran- untersucht. kungen durch Einwirkungen von Schadstoffen bei Im Frühjahr 1991 wurde in Sachsen und in Sachsen Kindern, verbunden mit dem Ansteigen allergischer Anhalt eine Studie über die Auswirkungen der Luft- Erkrankungen wie Asthma, allergischer Rhinitis, aber verschmutzung auf die auch Exzemen, einen ganz besonderen Problemkreis Gesundheit von Schulanfän- gern dar. durchgeführt. Gegenwärtig werden in einer umweltepidemiologischen Studie Lernanfänger im Emissionen durch Industrie, Straßenlärm und Stra- Mansfelder Land auf mögliche Belastungen des kind- ßenverkehr spielen dabei eine dominierende Rolle. lichen Organismus durch Schwermetalle untersucht. Die Schwierigkeit, einen Zusammenhang zwischen den emittierten Schadstoffen und der Erkrankungs- (Zuruf von der SPD: Das sind doch alles nur häufigkeit bei bestimmten Erkrankungen herzuleiten, Pflästerchen!) liegt jedoch darin, daß auf Grund der Vielzahl mögli- Mit einer Reihe von Maßnahmen hat die Bundesre- cher gesundheitsgefährdender Umwelteinflüsse und gierung entscheidend dazu beigetragen, daß es eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19675

Dr. Harald Kahl deutliche Verringerung der Dioxineinträge zu ver- alles in Ordnung, und die Probleme liegen nur darin zeichnen gibt. Dazu zählen die 17. und 19. BImSchV, begründet, daß die Bundesregierung Defizite ihrer die Pentachlorphenolverbotsverordnung sowie die Politik aufzuweisen hat", also die SPD als Anwalt der Novelle zur Klärschlammverordnung und die Verord- Kinder, das ist zu einfach. nung zum Verbot von polychlorierten Biphenylen und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zur Beschränkung von Vinylchlorid. Wenn in dem Antrag der SPD u. a. eine Ozon- Ich möchte überhaupt nichts verharmlosen. Ich Verordnung mit einem Grenzwert von 120 Mikro- habe sehr eingehend Ihren Antrag gelesen. Die Pro- gramm pro Kubikmeter gefordert wird, ist hierzu zu blemskizze ist in Ordnung, und vieles ist so, auch sagen, daß es sich beim Ozon um einen Sekundärstoff wenn wir genaue Ursachenzusammenhänge leider aus Stickoxiden und flüchtigen Kohlenwasserstoffen nicht kennen. handelt, der unter Sonneneinwirkung meist weit ent- (Klaus Lennartz [SPD]: Deswegen wollen wir fernt von den Schadstoffquellen entsteht. Deshalb sie untersuchen!) favorisiert die Bundesregierung einen anderen Weg, nämlich den der Senkung der Vorläufersubstanzen — — Es gibt Untersuchungen; es gibt eine Fülle von und das mit erheblichem Erfolg. So konnte die jährli- Untersuchungen. Es gibt auch Universitäten in unse- che NOX-Emission um 600 000 Tonnen und die Emis- rem Land, es gibt Wissenschaftler, es gibt Aufträge, sion der flüchtigen Kohlenwasserstoffe um 200 000 die die Bundesregierung erteilt hat. — Solche einfa- Tonnen gesenkt werden. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt chen Ursachenzusammenhänge, hier das mögliche ein Ergebnis der Einführung des Dreiwegekatalysa- Versagen der Bundesregierung und dort die Erkran- tors bei Kraftfahrzeugen. kung, so etwas gibt es nicht. Unbestritten gehen besondere Gefahren für Kinder Ihr Antrag ist auch ziemlich hilflos. Er ist so allge- sowohl vom Alkohol als auch vom Rauchen aus. Mehr mein. Da steht: als die Hälfte aller Kinder in Deutschland sind Passiv- Die spezifischen Belange der Kinder müssen im raucher. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen erleidet medizinischen Bereich besser berücksichtigt irreversible Gesundheitschäden durch Alkohol- oder werden. Nikotingenuß der Mutter während der Schwanger- schaft. Okay, jeder ist dafür. Aber es stellt sich doch die Frage: Wie? Wo? Was macht man im einzelnen? (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür geben wir Haschisch frei!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zunehmende Gefahr droht unseren Kindern leider Weiter heißt es: mehr und mehr auch aus der Drogenszene. Der Versuch jedoch, den Besitz von kleinen Drogenmen- Die Darstellung von Gewalt in Film und Fernse- gen zu legalisieren, ist meiner Ansicht nach ein Schritt hen ist zügig abzubauen. in die falsche Richtung. Da stellt sich die Frage: Was ist Gewalt? Welche (Beifall bei der CDU/CSU) Wirkungen hat Gewalt auf Kinder? Wer baut das zügig Ich meine, neben einer nötigen schärferen EG- ab? Wir haben Art. 5 des Grundgesetzes, Meinungs- harmonisierten Gesetzgebung und einer stärker zu freiheit. fördernden Aufklärung zu diesem Thema muß in Zu diesem Antrag kann man sagen: Na gut, vielem zunehmendem Maße an die Eigenverantwortlichkeit stimme ich zu. Aber was soll praktisch, konkret an und das solidarische Verhalten eines jeden einzelnen Politik daraus gerinnen? appelliert werden. Der passive oder aktive Konsum Es kommt noch hinzu: Das ist ein Querschnitts von Alkohol, Nikotin und Drogen durch Kinder kann Sie sprechen im Grunde alle Bereiche des wirkungsvoll allein nicht durch noch so strenge thema. Umweltschutzes an, die natürlich Einwirkungen auf Gesetze und Verordnungen eingeschränkt werden,- Kinder wie auch auf Erwachsene haben, auf Kinder in wenn nicht dazu begleitend, insbesondere in Eltern- besonderer Weise. Ich finde, das sind an manchen haus und Schule, durch gelebtes Vorbild Motivatio- Stellen allgemeine Zielvorstellungen. Irgendein Assi- nen zu umwelt- und damit gesundheitsbewußtem stent der Fraktion hat eine Fleißarbeit geleistet, und Verhalten erzeugt werden. das wird nun hier vorgelegt. Ich danke Ihnen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich (Beifall bei der CDU/CSU) bitte, dies doch nicht zu diskriminieren!) — Ich möchte nicht mißverstanden werden: Es ist ein Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: wichtiges Thema. Aber tun Sie nicht so, als hätten Sie Herren, nächster Redner ist unser Kollege Gerhart den Schlüssel für die Lösung der Probleme in der Baum. Hand! Den haben Sie ebensowenig wie andere. (Klaus Lennartz [SPD]: Wir haben doch den (F.D.P.): Herr Präsident! Gerhart Rudolf Baum ganzen Nachmittag Wissenschaftler dazu Meine Damen und Herren! Ich halte das Thema, über gehört! — Weiterer Zuruf von der SPD: Das das wir diskutieren, für ein wichtiges Thema, Herr nehmen Sie überhaupt nicht zur Kenntnis!) Kollege Lennartz — damit wir uns darüber nicht streiten. Aber es hier zum Gegenstand eines politi- — Ich lese doch Ihren Antrag. Damit können Sie doch schen Schlagabtausches zu machen, nach der primiti- keine Politik machen. Das können Sie doch nicht ven Formel: „Wenn wir h andeln würden, wäre das einmal in eine Regierungserklärung hineinschreiben, 19676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Gerhart Rudolf Baum wenn Sie in die Verlegenheit kommen sollten, eine eine Einwirkung, auf die wir selbst Einfluß haben. Wir abgeben zu müssen. brauchen nicht bei allem nach dem Staat zu rufen. ( [Fürth] [F.D.P.]: Zuerst haben Dringend ist auch die Reduzierung des Benzolge- sie den Antrag geschrieben und dann die halts im Benzin. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Len- Wissenschaftler gehört!) nartz, da schon zugestimmt. Hier hat Herr Töpfer unsere volle Unterstützung, eine EG-weite Regelung, Ich finde, daß die Sorge über zunehmende umwelt- die überfällig ist, zu erreichen. bedingte Erkrankungen der Atemwege — das hat der Der Forderung nach einer Ozonverordnung habe Vorredner ja gesagt — berechtigt ist, daß es eine ich schon in einem Zwischenruf widersprochen. Sie ist ganze Reihe von Stoffen gibt, die sehr negative aus unserer Sicht durch die Verordnung über Immis- Wirkungen haben. sionswerte erledigt. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß sich im Ihre Forderung nach Absenkung der Grenzwerte ist Laufe der Jahre, auch wenn wir die Umwelteinflüsse, mir zu pauschal. Das ist eines der schwierigsten die Umweltschädigungen abgebaut haben, im Kör- Themen im Umweltschutz: Wo sind die Grenzwerte perimmunsystem Wirkungen zeigen, die sich auch anzusiedeln? Es ist seit Jahren unsere Philosophie, im auf nächste Generationen fortsetzen werden. Es Umweltschutz Grenzwerte nach dem Vorsorgeprinzip kommt an einigen Stellen jetzt zum Ausdruck, daß festzulegen. Wir werden das tun. Es gibt Ang riffe auf sich durch die Belastungen der früheren Jahre etwas das Ordnungsrecht, auf die Grenzwertpolitik. Ich verändert hat, daß sich jetzt in unserer Gesundheits- habe heute eine Rede von Herrn Rexrodt bei der struktur, in der Struktur des Körpers — ich kann das Eröffnung der Entsorga in Köln gehört. Er hat sich nicht medizinisch fassen — etwas verändert. Diese ausdrücklich zu der Politik bekannt, gerade im Befürchtungen konkretisieren sich an einigen Stellen. Bereich der Gesundheitsgefährdung an vorsorgenden Beispielsweise erweitert sich das Wissen über das Grenzwerten festzuhalten. Wenn wir das tun, liegen Immunsystem, über Schädigungen des Immunsy- wir unterhalb der Grenzen, ab denen Gefahren denk- stems. Die Schulmedizin ist oft hilflos und wird ange- bar sind. Aber wir wissen eben nicht alles. Es bleiben feindet. große Unsicherheiten. Deshalb finde ich beispielsweise das, was Sie hier in Es kommt darauf an, dieses Schutzniveau zu erhal- Ziffer 20 sagen, wichtig: ten. Es gibt einige aktuelle Probleme, bei denen ich die Bundesregierung auffordere, einer Abschwä- Die vertragsärztlichen Leistungen der Kassen für chung zu widerstehen. Es geht beispielsweise um die den vorsorgenden Gesundheitsschutz für Kinder Grenzwerte für Pflanzenschutzmittel im Trinkwasser müssen so geregelt werden, daß eine Abdeckung bei der EG. Hier sind gefährliche Abschwächungsten- der Behandlungskosten chronischer Krankheiten denzen sichtbar. Ich kann die Bundesregierung nur und der Stärkung des Immunsystems gewährlei- auffordern, hier nicht mitzumachen, und will sie in stet wird. ihrer Position bestärken. Auch bei der Zulassung von Das ist eine Forderung, mit der ich etwas anfangen Pflanzenschutzmitteln dürfen keine Abstriche am gel- kann. tenden deutschen Schutzniveau gemacht werden. Ich bedauere, daß wir in dieser Legislaturperiode (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Und kein Bodenschutzgesetz auf den Tisch bekommen unterstützen Sie das?) haben. Hier hätten wir Kriterien festlegen können, die — Ja, natürlich, wenn ich damit etwas anfangen kann, einen wesentlichen Einfluß auch auf die Umweltein- unterstütze ich das auch. Ich stehe mit dem Kollegen wirkung gehabt hätten. Müller aus der SPD-Fraktion in enger Verbindung, um Aber alles in allem, meine Damen und Herren: Wir in einer bestimmten Sphäre etwas zu tun, wo die verharmlosen nichts; wir vernachlässigen das Thema Schulmedizin neue Therapien bekämpft. — Wir- nicht. Wir lassen uns von Ihnen nicht vorwerfen, daß haben eine starke Zunahme allergischer Krankhei- wir nicht ähnlich sorgenvoll wie Sie die Situation ten; das ist besorgniserregend. sehen. Wir tun das, was in unseren Kräften steht. Wir Also, daß die Gesamtsituation, auch wenn ich sie werden über den Antrag miteinander reden, aber, nicht dramatisieren möchte, doch ein ernstes Problem Herr Kollege Lennartz, nicht in dieser einfachen ist, daran besteht unsererseits kein Zweifel. Polemik, die Sie hier eingeführt haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir haben wirksamen Umweltschutz zu betreiben. ten der CDU/CSU — Wilhelm Schmidt [Salz Da ist vieles geschehen. Vieles ist zu spät gemacht gitter] [SPD]: Wer regiert denn eigentlich? worden. Der Kollege hat schon aufgeführt, was wir Das ist die große Frage!) hier in den letzten Jahren geleistet haben. Es gibt aber auch Defizite im Vollzug, um das Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und deutlich zu sagen. Hier sind die Länder angesprochen. Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Ich will hier kein Schwarzer-Peter-Spiel betreiben, Dr. Barbara Höll. aber: Verantwortlich sind alle. Verantwortlich ist der Bund, sind die Länder und nicht zuletzt auch wir selber, die Familien, durch die A rt, wie wir auf unsere Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Kinder einwirken, wie wir sie erziehen, welche Meine Damen und Herren! Der vorliegende SPD- Umweltgefahren wir selbst ihnen bereiten, indem wir Antrag greift ein äußerst wichtiges Thema auf, das in arglos mit Alkohol, mit Nikotin umgehen. All dies ist diesem Hause schon mehrfach beraten wurde. Ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19677

Dr. Barbara Höll glaube, es gehört in die Reihe der Probleme, an denen In den neuen Bundesländern hat eine kurzsichtige sich die Politiker und Politikerinnen messen lassen und gelegentlich geradezu blindwütige Anpassungs- müssen, inwieweit sie tatsächlich für die Zukunft politik an die Wissenschafts- und Hochschulstruktu- Sorge tragen. Ich muß sagen: Ich bin absolut erstaunt ren der alten Länder dazu geführt, daß viele einschlä- darüber, wie die Herren von der Regierungskoalition gige, seit langem etablierte selbständige Ins titute hier auftreten. Bereits vor einem Jahr haben wir über entweder vollständig aufgelöst, abgewickelt oder große Anfragen diskutiert. Sie haben zur Zeit die unter Verlust ihrer Eigenständigkeit zumindest dra- Regierungsmacht. Dann werfen Sie doch jetzt auch stisch verkleinert wurden. Daß ein spezielles Ins titut nicht dem Antrag vor, er sei zu allgemein. Sie haben für die Hygiene des Kindes- und Jugendalters als eine nichts vorgelegt, überhaupt nichts! nachgeordnete Einrichtung des Gesundheitsministe- riums der DDR nicht überlebt hat, versteht sich da (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Wir haben schon fast am Rande. etwas gemacht!) Und dann kommen wieder solche allgemeinen Sprü- Auch vor diesem Hintergrund begrüße ich es aus- che über das Rauchen und ähnliche Sachen. Außer- drücklich, daß mit dem vorliegenden Antrag nicht nur dem heben Sie auch noch auf Drogen ab. Bei 40 000 Normen, Gesetze, Verbote und Genehmigungsvorbe- Alkoholtoten im Jahr frage ich mich, warum es immer halte oder Auflagen gefordert werden, sondern daß es noch — auch während Kindersendungen — Werbung ganz vorrangig auch um verstärkte Vorbeugung und für Alkohol gibt, warum es immer noch — auch im Entwicklung von Forschung, Forschungsprogrammen Kino — Werbung für das Rauchen gibt. und Forschungskapazitäten geht. Kinder reagieren nun einmal nicht nur empfindlicher auf Umweltfakto- Ich muß sagen: Ich finde es entsetzlich. Sie appel- ren, sie sind ihnen zugleich anders und vor allem lieren hier, und dabei stehen überall Zigarettenauto- tendenziell stärker exponiert ausgesetzt. Das begrün- maten herum. Ich glaube, unsere Aufgabe ist, zu det den Bedarf an einer speziell auf ihre Probleme entscheiden, was wir als Politikerinnen und Politiker ausgerichteten Forschung. leisten können, und nicht immer nur Appelle an den privaten Bereich zu richten und damit die Verantwor- Hierzu sollten — ich nenne nur einige Beispiele — tung abzuschieben. gehören: epidemiologische Querschnitts- und Längs- Wenn man sich die Entwicklung der Diskussion schnittsuntersuchungen zur Aufklärung des Verhält- dieses Themas hier im Hause vergegenwärtigt, wird nisses zwischen Umweltfaktoren und Krankheitshäu- man finden, daß es erschreckend ist, wie wenig figkeiten, die Dosis-Wirkungs-Beziehungen von Aufmerksamkeit es in politisch-praktischem H andeln Schadstoffen speziell im Hinblick auf den kindlichen von Ihrer Seite her tatsächlich gefunden hat. Es sind Organismus und sein Immunsystem, aber auch der genügend Anträge eingebracht worden, mit denen Einfluß der Umweltsituation auf Psyche und Verhal- man hätte handeln können. Zwar mag der einfache tensweisen der Kinder. Hinweis darauf, daß es Zusammenhänge gibt, die nicht einfach nur monokausal zu erklären sind, und Andererseits steht natürlich im Vordergrund, schon daß deshalb alles sehr schwer nachzuweisen ist, heute praktisch all das zu tun, was in bezug auf richtig sein. Aber erstens sollten wir prinzipiell in emissions- und abfallärmere Verfahren und Erzeug- dieser Beziehung lieber übervorsichtig sein; denn wir nisse möglich ist. Dazu gehören bekanntlich Einspa- erleben Prozesse, die eine andere Sprache sprechen, rungen von Energie, rationellere Energieerzeugung, nämlich daß die Gefährdungen sehr hoch sind. Verkehrsgestaltung, Gewässerschutz , Trinkwasser- qualität, aktive Lärmvermeidung, aber auch passiver Zweitens meine ich, gerade dieser Zustand sollte Lärmschutz, qualitativ hochwertige und nicht oder die Regierung und die Koalition veranlassen, tatsäch- gering belastete Nahrungsmittel bis hin zur Mutter- lich auf dem Forschungsgebiet wesentlich mehr zu milch. tun als das, was Sie hier aufgezählt haben, Herr Dr. Kahl. Für besonders wichtig halte ich es auch — und ich Ich muß sagen: Be trachtet man die Situation der habe mich gefreut, daß das in dem Antrag Berücksich- Disziplin Umwelthygiene und Umweltmedizin tigung gefunden hat —, die Rolle der Kinderärzte, — zwei Bereiche, die wirklich in Forschung und Lehre aber auch das Gewicht und die Stellung der Kinder- an den Hochschulen und an den außeruniversitären heilkunde als wissenschaftlicher und praktischer Dis- Einrichtungen eine Rolle spielen —, so ist der Zustand ziplin zu stärken. Gerade die Kinderärzte können und einfach äußerst unbefriedigend. müssen bei der Erkennung, Bewertung und Vermei- dung von Umweltbelastungen für Kinder ein zuneh- Vor diesem Hintergrund frage ich mich, was die mend gewichtiges, erfahrungsmäßig und wissen- Entscheidung des Gesundheitsministers Seehofer, schaftlich untermauertes Wort mitreden. das Wasser-, Boden- und Lufthygiene-Institut vom Bundesgesundheitsamt und damit auch aus einem Wenn heute verantwortungsbewußt entschieden Bereich, der unmittelbar auf den Gesundheitsschutz werden soll — und dies ist dringend geboten, denke orientiert ist, in die Zuständigkeit des Umweltministe- ich —, dann muß der Bundestag im Sinne des Antrages riums zu verlagern, bringen soll. Ich persönlich halte der SPD die Bundesregierung verpflichten, die das für eine wissenschafts- und gesundheitspolitisch genannten Maßnahmen tatsächlich auch gesetzgebe- äußerst kenntnislose und unsensible Entscheidung. risch zu untermauern. Aus diesem Grunde findet der (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Antrag der SPD die volle Unterstützung der PDS/ Abgeordneten der SPD) Linke Liste. 19678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Barbara Höll Ich danke Ihnen. schlüsse von Rio hat, täte gut daran, auf die Stimme (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei der Kinder zu hören, wenn Sie das schon nicht tun Abgeordneten der SPD — Dr. Ilja Seifert wollen. In kaum einem Bereich zeigt die Umweltver- [PDS/Linke Liste]: Geben Sie die Zustim- schmutzung und -zerstörung derart katastrophale und mung, dann haben wir die Mehrheit!) dramatische Folgen wie bei der Entwicklung der Gesundheit unserer Kinder. Die Wohlstandsgesell- schaft zerstört nicht allein die Lebensgrundlagen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und zukünftiger Generationen. Unsere demokratische Herren, jetzt hat das Wort unsere Kollegin Vera Gesellschaft, die sich auf Menschenrechte und Huma- Wollenberger. nität beruft, vergiftet, verstümmelt und tötet bereits heute ihre eigenen Kinder. Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es sind nicht nur die spektakulären Katastrophen Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wie Tschernobyl, Hoechst, Pflanzenschutzgifte in gen! Auch ich war einigermaßen erstaunt über die Babynahrung oder Kinder ohne Hände, die uns zum Redebeiträge der Herren aus der Regierungskoali- Handeln zwingen. Weitaus dramatischer ist die alltäg- tion. Ich möchte nicht wiederholen, was meine Kolle- liche Vergiftung der Kinder durch eine nicht mehr gin Frau Höll schon sehr richtig gesagt hat. Aber eines, überschaubare Anzahl von Schadstoffen. Der ökolo- Herr Baum, möchte ich doch noch anmerken. gische Ausnahmezustand ist für unsere Kinder in Wenn man wie ich in einer kleinen Gruppe die diesem Land längst Normalzustand geworden. Ich verschiedensten Debattenbeiträge in diesem Saal an denke, wir sollten uns damit nicht abfinden. einem Tag verfolgt, dann wundert es mich schon, daß Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, daß bereits heute während der Debatte um die Ereignisse in alle Neugeborenen in unserem L and schadstoffbela- Magdeburg ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion in stet auf die Welt kommen, daß über eine Million lautstarker Weise und sehr nachdrücklich die Kinder von Neurodermitis gequält werden, daß Mil- Abschaffung und das Verbot der Gewalt im Fernsehen lionen Kinder unter Bronchi tis, Pseudokrupp oder fordert und Sie hier der SPD vorwerfen, daß sie in Asthma leiden und daß Leukämie und andere durch ihrem Antrag das Verbot von Gewalt fordert, um dann Umweltgifte hervorgerufene bösartige Krebsarten zu fragen: Ja, welche Gewalt eigentlich und wie? mittlerweile zu den häufigsten Todesursachen der Dann frage ich mich: Wie einheitlich ist denn die Kinder in Deutschland gehören. Politik dieser Koalition, und was geht da schief? Die Verletzung ökologischer Kinderrechte ist eine Ich finde, es ist wirklich an der Zeit, daß Sie sich über neue Form weltweiter Menschenrechtsverletzungen. die Grundsätze der Politik, die Sie verfolgen wollen, Für mich ist dieses unverantwortliche Handeln gegen einig werden. Aber wahrscheinlich ist das gar nicht die eigenen Kinder eine der größten Tragödien dieses mehr nötig, weil wir es im Herbst — hoffentlich — mit Jahrhunderts. Die Untätigkeit und das verharmlo- einer anderen Koalition zu tun haben. sende Gerede dazu, wie wir es auch heute wieder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehört haben, ist unerträglich. Es muß sofort gehan- Wenn den geschätzten Kollegen der Regierungs- delt werden, um unsere Kinder vor weit schlimmeren koalition die Situation schon so unklar ist, möchte ich Belastungen und Gefahren zu schützen. die Gelegenheit nutzen, Ihnen einmal zu Gehör zu Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte bringen, was unsere Kinder zu dieser Situation zu bereits vor genau einem Jahr einen Entschließungs- sagen haben: Wir wollen sehr strenge Gesetze gegen antrag zur Notwendigkeit von ökologischen Kinder- die Zerstörung der Natur. Jeder, der die Umwelt rechten im Bundestag eingebracht, verbunden mit verschmutzt, sollte hohe Strafen zahlen müssen. Wir einem ganzen Katalog von konkreten Vorschlägen wollen, daß Atomkraftwerke gestoppt werden. Wir und Forderungen zur Eindämmung der aktuellen wollen nicht durch Abgase krank werden. Gefährdungen und Schädigungen der Kinder. Seit- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Aber Auto dem haben die politisch Verantwortlichen — das sind fahren wollen sie! — Monika Ganseforth immer noch Sie von der Regierungskoalition — nicht [SPD]: Kinder aber doch nicht!) reagiert. Die Bundesregierung ignoriert die Vor- Wir wollen nicht, daß unsere Welt im Müll ertrinkt. schläge und dramatischen Appelle aus Medizin, Wis- Das sind die Worte aus dem Appell für eine gesunde senschaft und auch hier im Bundestag auf fahrlässige Weise. Umwelt von über 600 000 Kindern des Kindergipfels 1992 in Rio. Ich finde, man sollte die Worte dieser Angesichts von jährlich 50 000 neu produzierten Kinder einmal ernst nehmen und sich nicht darüber Chemikalien in der Bundesrepublik ist die Flut der mokieren, Herr Kollege Baum. Das finde ich völlig chemischen Substanzen durch eine drastische Ver- unangebracht. schärfung der Zulassungsbestimmungen und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Verbot der Produktion von krebserregenden Stoffen der SPD und der PDS/Linke Liste — Gerhart unverzüglich einzudämmen. Die Grenzwerte von Rudolf Baum [F.D.P.]: Fahren Sie mit dem Schadstoffhöchstmengen sind drastisch zu reduzie- Fahrdienst nach Hause? Was machen die ren. Die Festsetzung der zumutbaren Höchstmengen Kinder am Wochenende? Die fahren mit dem muß sich strikt am kindlichen, noch wachsendem Auto mit!) Organismus orientieren. Bundesumweltminister Töpfer, der seit Montag den Es sind flächendeckende Emissions- und Immis- Vorsitz der UN-Kommission zur Umsetzung der Be- sionskataster einzurichten und freier Zugang für Bür- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19679

Vera Wollenberger gerinnen und Bürger zu allen relevanten Meßdaten hang mit Umweltbelastungen stehenden Angaben von Behörden und Industrie zu gewährleisten. Drin- über Krankheiten. gend geboten sind Maßnahmen zur Förderung der umweltmedizinischen Forschung und Lehre. Aber Das ist überhaupt ein Punkt, den wir den Kollegen wann wird endlich das seit langem geforderte For- der SPD einmal klarmachen müßten: den Unterschied schungsprogramm Kind, Gesundheit und Umwelt zwischen Seuchen, Hygiene und dementsprechenden aufgelegt? Krankheiten.

Zu alldem und vielen anderen Punkten haben wir (Beifall bei der CDU/CSU) zahlreiche konkrete und realisierbare Vorschläge gemacht. Auch der heute vorliegende Antrag hat Wir alle wollen gesunde Kinder und wünschen, daß unsere Forderung zur Durchsetzung ökologischer die Gesundheit unserer Kinder ihrer Definition als Kinderrechte aufgegriffen und um einige wichtige „Zustand eines vollständigen körperlichen, seeli- Punkte ergänzt. Darum kann BÜNDNIS 90/DIE schen und sozialen Wohlbefindens und Freiseins von GRÜNEN mit vollem Herzen diesen Antrag unterstüt- Krankheit" entspricht. Für die Verwirklichung der zen. Rechte der Kinder und für ihre Gesundheit sind wir Ich kann allerdings nicht umhin, daran zu zweifeln, alle verantwortlich und gefordert. Die Hauptverant- ob die SPD im Falle eines Regierungswechsels tat- wortung liegt jedoch bei den Eltern, den Ärzten und sächlich für die Umsetzung der gestellten Forderun- den Lehrern. gen sorgen würde. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei den (Zuruf von der SPD: Mehr Zutrauen!) Verursachern liegt die Hauptverantwortung! Die Diskussion um den Ökologieteil ihres Regierungs- Unglaublich!) programms läßt vielmehr vermuten, daß auch die SPD nicht wirklich zu einem konsequenten Umdenken und Auch die Mitwirkung aller Jugendlichen und zu tiefgreifenden, unbequemen und einschränkenden Erwachsenen beim Umweltschutz und die Verwirkli- Veränderungen zugunsten der Umwelt und der chung und Einhaltung der bereits vorhandenen Gesundheit der Kinder bereit ist. Umweltschutzgesetze und -verordnnugen — hören (Widerspruch bei der SPD) Sie gut zu! — sind Voraussetzung einer besseren Lebensbasis für die Zukunft unserer Kinder. In der Verkehrs-, Energie- und Industriepolitik ist keine Abkehr vom alten, umweltzerstörenden Den- (Beifall bei der CDU/CSU) ken zu erkennen. Wie ernst es den Sozialdemokraten ist, können Sie am Freitag dieser Woche zeigen, wenn Der Kollege von der SPD hat gerade von einem es darum geht, daß die A-Länder zum Kreislaufwirt- Gutachten aus dem Jahr 1987 gesprochen. Ich habe an schaftsgesetz und zur Atomgesetznovelle Stellung meinem Sitzplatz einige Unterlagen von 1990, 1991, nehmen müssen. 1992 und 1993 liegen. Es sind viele Untersuchungen Im Sinne der Kinder wünsche ich den Umweltpoli- mit Werten und Daten, die ich Ihnen gern zur Verfü- tikern der Sozialdemokraten hier im Bundestag, daß gung stellen kann. sie die heute geäußerten Positionen in ihrer eigenen Partei durchsetzen. Ich schließe mich dem Appell (Klaus Lennartz [SPD]: Entweder hören Sie eines Mädchens aus Deutschland an, das in Rio sagte: nicht zu, oder Sie verstehen es nicht! Zu Ihrer Ehrenrettung nehme ich das erste Wenn ihr es unterlaßt, die richtigen Entscheidungen an!) zu treffen, sind wir alle in Gefahr. — Vielleicht lassen Sie mich jetzt einmal bitte ausre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den; wir können das hinterher noch vervollständi- sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke gen. Liste]) Täglich melden die Medien — hören Sie gut zu — Verseuchungen unserer Umwelt. Was ist damit Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und eigentlich gemeint? Nach medizinischer Sichtweise Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin ist eine Seuche ein gehäuftes Auftreten von Krankhei- Dorothea Szwed. ten, verursacht durch krankmachende Keime wie Bakterien und Viren, die von Mensch zu Mensch übertragen werden. Für viele dieser Krankheiten, Dorothea Szwed (CDU/CSU): Herr Präsident! beispielsweise Tuberkulose oder Typhus, besteht Meine Damen und Herren! Nachdem von meiner nach dem Bundesseuchengesetz Meldepflicht bei den Vorrednerin ein negatives Bild gezeichnet worden ist, zuständigen Gesundheitsämtern. Diese ermitteln und muß man dieses, glaube ich, dringend etwas aufhel- treffen entsprechende Entscheidungen zur Eindäm- len. Auch das, was man hier an Zahlenmaterial von mung der Infektionskrankheiten. sich gegeben hat, widerspricht wirklich der Realität. Durch wesentlich bessere Allgemeinhygiene sowie Ich kann darüber berichten, daß wir im Kreis intensive Lebensmittelkontrolle konnte die Anzahl Neuwied, wo ich herkomme — ich bin erst seit kurzer dieser schweren Infektionskrankheiten, der Seuchen, Zeit im Bundestag —, im letzten Monat eine Untersu- deutlich vermindert werden. chung von 2 000 Schulneulingen abgeschlossen haben, die dieses Jahr eingeschult werden. Da gab es (Zuruf von der SPD: Darüber reden wir doch so gut wie keine in irgendeiner Form im Zusammen- gar nicht!) 19680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dorothea Szwed — Darüber müssen Sie reden, wenn Sie über Kinder- wird, diese umweltschädigenden Einflüsse in den krankheiten reden. Das ist nämlich der Punkt. Da Griff zu bekommen. haben Sie dringenden Aufklärungsbedarf. (Klaus Lennartz [SPD]: Wie äußert sich (Beifall bei der CDU/CSU — Klaus Lennartz das?) [SPD]: Keine Ahnung!) Nicht zuletzt ist dies jedoch auch eine Frage des Diese Seuchen haben wir jedoch in der Bundesre- Standes der jeweiligen wissenschaftlichen Erkennt- publik Deutschland praktisch fest im G riff. nisse. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Was verstehen wir unter dem Schlagwort Verseu- (Beifall bei der CDU/CSU) chung unserer Umwelt, das durch die Medien geht, Aber auch der einzelne Bürger ist gefragt. Der insbesondere unter Verseuchung der Spielplätze und Gesundheitsschutz und die Verantwortung für unsere unserer nächsten Umgebung wie Kindergärten und Kinder beginnen bei der Schwangerschaft. Auch das Wohnungen? Der Begriff Seuche wird von vielen müssen Sie sich anhören. Die werdende Mutter sollte fälschlicherweise auf die mögliche Schädigung der durch eine ärztlich festgelegte Vorsorgeuntersu- Gesundheit durch verschiedene Umweltfaktoren der chung, durch die im Mutterschutzgesetz vorgesehe- Luft, des Wassers, der Nahrung, der Wohnung, des nen Maßnahmen und ihr persönliches Verhalten für Arbeitsplatzes übertragen, die auf uns einwirken. Es einen möglichst guten Schwangerschaftsverlauf sor- sind Einflüsse, denen wir, ohne uns ausreichend gen. Auch hier hat der Gesetzgeber Vorsorge getrof- schützen zu können, praktisch zwangsweise ausge- fen. Rauchen, Alkohol oder Medikamenteneinnahme setzt sind. obliegen jedoch ihrer persönlichen Verantwortung. Bei den Schadstoffen handelt es sich um Chemika- Praktisch alle Ärzte, besonders die Kinderärzte, sind lien, wie z. B. Formaldehyd, die bei der Herstellung seit Jahren bemüht — da gibt es Gespräche, vor allem von Möbeln, Holzprodukten, Textilien und in der auf kommunaler Ebene und auf Länderebene; denn Medizin seit Jahrzehnten in großem Umfang aus dort muß etwas passieren —, Unwissenheit verwendet wurden. Bleirohre, seit 100 Jahren für Wasserleitungen verwendet, sind (Beifall bei der CDU/CSU) heute noch in Großstädten in alten Hausleitungen Erkrankungen, die durch Schadstoffeinwirkungen vorhanden. Mit Blei und Cadmium verarbeitete Auto- verursacht sind, zu erkennen. batterien und Batterien finden im Haushalt tagtäglich Verwendung. Der Nitratanstieg im Trinkwasser durch Das Bundesgesundheitsamt — damit komme ich zu Überdüngung der Felder in den Wasserschutzgebie- dem, was ich eben bereits erwähnte — unterrichtet ten betrifft jeden von uns; das ist klar. seit vielen Jahren Weiter sind zu nennen der Schadstoffausstoß der (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Gibt es das über Autos, das Ausgasen von Lösemitteln aus Innenraum- haupt noch?) farbanstrichen usw. Diese Aufzählung kann noch — Sie müßten das mal lesen — wöchentlich durch durch ein Vielfaches verlängert werden. seinen Pressedienst die Bevölkerung und ist bemüht, besonders allen Ärzten Zweifellos wissen wir inzwischen seit Jahrzehnten Informationen über Medika- zukommen zu lassen. Dar- von der schädigenden Wirkung dieser Stoffe auf uns mentennebenwirkungen über hinaus ist jeder Arzt aufgerufen, patientenano- Menschen und vor allen Dingen auf unsere Kinder. nym Arzneimittelnebenwirkungen zu melden. Je- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt weils jährlich werden die Informationsschriften noch- kommen Sie der Sache schon etwas mals gesammelt veröffentlicht. näher!) In der Monatszeitschrift des öffentlichen Gesund- — Ich mußte Sie ja erst einmal aufklären. — Die- heitswesens finden wir praktisch in jedem Heft min- Bundesregierung hat dies erkannt und versucht, destens eine wissenschaftliche Arbeit, durch die durch eine Unzahl von Vorschriften und Empfehlun- Erkenntnisse über mögliche schädigende Umweltein- gen eine Minimierung der schädigenden Wirkung flüsse, besonders auf den kindlichen Organismus, dieser Stoffe zu erreichen. Das müssen Sie zur Kennt- veröffentlicht werden. nis nehmen. Darüber hinaus veröffentlicht das Bundesgesund- (Beifall bei der CDU/CSU) heitsamt im umweltmedizinischen Informationsdienst Beiträge des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthy- Eine allgemeine Meldepflicht für Schadstoffein- giene, zunächst seiner Mitarbeiter und in der Folge- wirkungen im privaten Bereich für Kinder und zeit auch aus dem allgemein klinisch-diagnostischen Erwachsene existiert nicht. Eine Differenzierung Bereich. scheint mir in der Praxis auch sehr schwierig zu sein. Ihre in den 18 Punkten geforderten Maßnahmen Wir wissen, daß es inzwischen in unserer Umwelt entsprechen den bereits laufenden Maßnahmen, die unzählige Umweltfaktoren gibt, die mindestens für die einzelnen Bundesländer, auch in gemeinsamer einen Teil unserer Bevölkerung gesundheitliche Absprache, schon durchführen. Schädigungen bewirken können. Die steigende Zahl der Allergien zeigt dies. Ich denke, wir alle wissen, Der jüngste Babykost-Skandal ist meines Erachtens daß die „Empfindlichkeit" individuell sehr unter- ein Beweis dafür, daß unsere von der Bundesregie- schiedlich ist. Dennoch bin ich mir sicher, daß die rung eingeführten Kontrollmechanismen funktionie- Bundesregierung auch in Zukunft alles daransetzen ren, wenn auch die Verwaltungswege sicherlich in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19681

Dorothea Szwed vielen Bereichen verkürzt werden sollten, damit ein Auseinandersetzung, die der Ernsthaftigkeit dieses schnelleres Eingreifen möglich ist. Themas angemessen ist. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Liste) Herr Dr. Kahl, ich an Ihrer Stelle hätte mich wirklich kritisch mit der Zerschlagung des Bundesgesund- Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und heitsamtes auseinandergesetzt. Herren, die Frau Kollegin Szwed ist erst seit acht Wochen im Bundestag. Das war ihre erste Rede. Wir (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das haben können sie hier nicht für alles verantwortlich machen, wir doch schon abgehandelt!) was wir versäumt haben. Ich möchte hier jetzt nicht eine neue Diskussion Zu der Rede will ich meinen Glückwunsch ausspre- darüber führen, daß hier eine falsche Richtungsent- chen, zumal Frau Kollegin Szwed auch noch eine scheidung getroffen worden ist. Aber ich möchte noch gelernte Personalrätin ist. einmal in Erinnerung rufen, daß die CDU die einzige Nun hat das Wort unser Herr Kollege Horst Peter. gewesen ist, die meinte, das Institut für Wasser-, Boden und Lufthygiene gehöre in die Zuständigkeit des Bundesumweltministeriums. Alle Wissenschaft- ler, vor allem diejenigen, die in diesem Institut die Horst Peter (Kassel) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, Herr Dr. Menzel, Arbeit gemacht haben und machen, beklagen, daß ein daß nicht Sie gesprochen haben, sondern daß Herr wesentlicher Teil ihrer Forschungsarbeit, die auf die Baum als renommierter Umweltpolitiker hier eine enge Beziehung zwischen Umweltbelastungen und Stippvisite gegeben und im Vorbeigehen gesagt hat, gesundheitlichen Auswirkungen in den drei Medien die SPD habe einen flüchtigen Antrag vorgelegt. Auf Wasser, Boden, Luft ausgerichtet ist, durch die Umor- diese Weise durfte derjenige, der von der Mate rie ganisation in unverantwortlicher Weise organisato- Ahnung hat, nicht sprechen. Das finde ich nicht risch behindert worden ist und daß es für die Kunden gut. auf Länder- und kommunaler Ebene, die diese Infor- mationen, diese Forschungsergebnisse benötigen, Daß hier einfach im Vorbeigehen unvorbereitet sehr viel schwieriger geworden ist, hier in einer etwas abgetan wird, wird daran deutlich, daß all sinnvollen Form Umwelterkrankungen und Umwelt- diejenigen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, belastungen, auch mit dem Ansatz des öffentlichen wissen, daß unser heutiger Antrag eine Vorge- Gesundheitsdienstes, tatsächlich in Beziehung setzen schichte hat. Am Anfang stand eine sehr ausführliche zu können. Petition von Eltern, deren Kinder umweltgeschädigt sind und die vergeblich versuchen, diese Schädigun- Sie sollten, wenn Sie in dieser Frage engagiert sind, gen in unserem Gesundheitssystem sozusagen an die Bundesminister Seehofer nicht bei dieser falschen zuständige Stelle zu bringen. Das war die Vorge- Richtungsentscheidung unterstützen, sondern sie soll- schichte. ten versuchen, bei dieser Umorganisation der gesund- heitspolitischen Vernunft nachträglich doch noch zum Auf Grund dieser Vorgeschichte hat die SPD- Durchbruch zu verhelfen. Bundestagsfraktion in Kooperation mit den Betroffe- nen, u. a. auch diesen Petenten, mit den Kinderärzten Es ist richtig, daß es in dem Bereich der Gesund- — und dabei, Herr Kollege Kahl, durchaus auch mit heitspolitik neue Krankheitsspektren gibt. Dabei den Kinderärzten, die an dem kinder- und umweltme- reden Sie meistens von den Multimorbiditäten im dizinischen Netzwerk in Osnabrück arbeiten, was ich Alter. Das Problem, daß die chronischen Erkrankun- als eine vernünftige Sache ansehe und wo auch gen, vor allen Dingen der Atemwege, der Haut, Steuermittel des Bundes in vernünftiger Form einge- Allergien — etwa Neurodermitis —, zunehmend Kin- setzt werden — eine Große Anfrage eingebracht, um der und Jugendliche betreffen, macht deutlich, daß überhaupt einmal etwas Licht in das Dunkel zu wir bei den chronischen Erkankungen wahrscheinlich bringen und etwas über die tatsächliche Situation der erst die Spitze eines Eisberges haben. Umweltauswirkungen auf den kindlichen Organis- mus zu erfahren. Das war der Ansatz. In dem Zusammenhang bereitet es tatsächlich große Sorge, daß dieser Anstieg von Kinderkrankhei- Nach einjähriger Arbeit haben wir die Antwort auf ten festzustellen ist. Dabei — und da besteht ja diese Anfrage bekommen. Diese einjährige Arbeit Übereinstimmung — gilt es, Defizite zunächst einmal war sinnvoll; das Bundesgesundheitsministerium hat zu benennen und dann nach einer S trategie zu Ihnen, Herr Dr. Kahl, den vermeintlichen Erfolgskata- suchen, wie solche Defizite in eine geschlossene log aufgeschrieben. Ich gehe einmal davon aus: Eine Konzeption eingebaut werden, wie wir es mit dem ganze Menge der Dinge, die Sie genannt haben, ist umfassenden Forschungsprogramm „Kind, Gesund- eine unmittelbare Auswirkung der langst überfälligen heit, Umwelt" vorhaben, das übrigens, Frau Kollegin Großen Anfrage, die wir eingebracht haben. Es gab Wollenberger — wo ist sie denn? —, im Regierungs- zum gleichen Thema ja auch eine Anfrage vom programm der Sozialdemokratischen Partei festge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Das sei einmal zum schrieben ist. Sie wollen ja irgendwann einmal als Rahmen gesagt. Koalitionspartner zur Verfügung stehen. Da würde ich Wenn man dann sagt — wie es der Kollege Baum Ihnen empfehlen, zunächst einmal unsere Program- getan hat —, das sei ein allgemein dahinformulierter matik zu lesen, an der man sich erfolgreich abarbeiten Antrag, so kann ich nur sagen: Das ist nicht die könnte, ehe da Papiertiger aufgebaut werden. 19682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Horst Peter (Kassel) Die Defizite, die Zusammenhänge sind bis heute zu besonderen Krankheiten und Gefährdungen für Kin- wenig erforscht. Die Bundesregierung hat diese der ausweiten könnte. Das würde ich übrigens für eine Erkenntnis schon eine ganze Zeit. Aber es ist offen- sinnvollere GKV-Anpassung halten als das, was Sie sichtlich nicht das interessenbesetzte Gebiet, auf dem jetzt gemacht haben, wo Sie die durcheinanderge- bisher große gesundheitspolitische Aktivitäten ausge- brachten Interessenstrukturen der vielen Nutznießer löst worden sind. An dieser Stelle pflegt der Kollege des Gesundheitssystems wieder in Ordnung bringen Hoffacker nach den Ländern zu fragen. Ich muß wollen. sagen, daß da das Land Nordrhein-Westfalen eine Es ist also keineswegs so, daß dieser Antrag so aus ganze Menge an Vorreiterarbeit geleistet hat und daß der Hüfte geschossen wäre wie die Auflösung des das Institut für Umwelthygiene in Düsseldorf eben Bundesgesundheitsamtes. Da ist eine vernünftige eine vorbildliche Rolle in diesem Zusammenhang Vorbereitung gelaufen. Deshalb bitte ich Sie, diesen spielt. Antrag im Rahmen der weiteren Beratungen zu unter- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr stützen. richtig!) Danke schön. Da könnte sich die Bundesregierung an der einen oder (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke anderen Stelle etwas abgucken. Liste) Daß das System der Grenzwerte nicht mehr stimmt, das hat ja auch der Umweltpolitiker Baum erkannt. Aber wenn er das jetzt auf die gesundheitspolitische Situation bezieht und sich vor Augen hält, daß sich Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und diese Grenzwerte an einem 30jährigen, 1,75 m gro- Herren, als letzter Rednerin zu diesem Tagesord- ßen, 70 kg schweren und gesunden Arbeitnehmer nungspunkt erteile ich der Parlamentarischen Staats- orientieren, dann sollte er einmal darüber nachden- sekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, Frau ken, ob der viel empfindlichere kindliche Organismus Dr. Sabine Bergmann-Pohl, das Wort. nicht tatsächlich anderer Grenzwerte bedarf. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort ja völlig richtig gesagt, daß das bisherige Konzept angesichts der Belastungen des kindlichen Organismus letztlich Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin nicht aufrechtzuerhalten ist. beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich in das eigentliche (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das gilt für Thema einsteige, bleibt mir doch nichts anderes übrig, den Abgeordneten Peter sicherlich nicht!) als nach den teilweise polemischen Ausführungen — Ich hätte da Übertoleranzen, Herr Kollege Urba- von Herrn Peter etwas sachlich richtigzustellen. Herr niak, anzubieten. Peter, wir haben im Ausschuß doch wohl ausführlich darüber diskutiert, daß es wenig Sinn macht, wenn Vor allen Dingen die immer häufiger auftretenden das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Immundefekte — das Alarmsignal dafür, daß der welches zu 80 % reine Umweltfragen bearbeitet, menschliche Organismus aus dem Gleichgewicht praktisch unter unserer Dienstaufsicht bleibt. geraten ist, daß der Schutz vor äußeren Eingriffen, vor Viren, Allergien und Bakterien, nicht mehr funktio- (Widerspruch des Abg. Horst Peter [Kassel] niert — und die Tatsache, daß das neue Krankheits- [SPD]) spektrum immer mehr Komplexerkrankungen ent- Die Fragen, die den Gesundheitsbereich be treffen, hält, machen es in der Tat erforderlich, Ernst zu werden — das haben wir Ihnen oft genug gesagt — machen mit präventiver Gesundheitspolitik, und auch weiterhin von unserem Gesundheitsministerium zwar nicht nur im Bereich des Verhaltens — das ist im Rahmen der Fachaufsicht bearbeitet werden. auch wichtig —, sondern auch in der Arbeitswelt und in der Lebenswelt. Wir sind ja diejenigen, die auch Meine Damen und Herren, wir hatten in den letzten den Arbeitsschutz besser geregelt haben wollen, wäh- Monaten mehrfach die Gelegenheit, über ein Thema rend Sie wahrscheinlich ein Arbeitsschutzgesetz noch zu sprechen, das im wahrsten Sinne des Wortes nicht einmal über die Runden bringen. Das muß in lebensnotwendig ist. Es geht um eine saubere und dem Zusammenhang ja auch einmal gesagt wer- gesunde Umwelt als eine der wichtigsten Vorausset- den. zungen für die Lebens- und Entwicklungsmöglichkei- ten von Kindern. Wie sensibel die Öffentlichkeit (Beifall bei der SPD) reagiert, wenn der Eindruck entstanden ist, daß diese Herr Dr. Kahl hat dann ja noch gesagt, wir müßten Schutzpflicht vernachlässigt wird, haben wir vor eini- loben, was die Bundesregierung im Bereich des Sozi- gen Wochen im Zusammenhang mit den Babynah- algesetzbuchs V gemacht hat. Also, so viel ist das rungsmitteln noch einmal deutlich erfahren. Nicht nur nicht. Wir haben gemeinsam § 20 des SGB V mit dem für die Politik heißt das: Auch in Zukunft kann es keine präventiven Ansatz verbessert. Aber ich kann jetzt Abstriche vom Schutz dieser Lebensvoraussetzungen schon, wo man sieht, was denn tatsächlich in präven- geben. Diese Aufgabe darf auch dann nicht vernach- tive Leistungen der Krankenkassen geflossen ist, lässigt werden, wenn andere Probleme scheinbar sagen: Da muß eine schnelle Novelle her, damit größer sind. Wer diese Aufgabe nur als eine lästige tatsächlich auch die Krankenkassen verpflichtet sind, Pflicht versteht, die viel Geld kostet, darf sich nicht mehr für Prävention auszugeben. Ich würde in dem wundern, wenn er sehr schnell im Kreuzfeuer der Zusammenhang auch darüber nachdenken, ob die Kritik steht. Und nicht nur das: Wer sich hier seiner Erprobungsregeln für Prävention gegenüber diesen Verantwortung entzieht, verliert auch das Recht, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19683

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl andere an ihre Verantwortung in diesem Bereich zu Portemonnaie zu befördern, wenn das notwendig erinnern. ist. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zum (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Es müs Beispiel die Bundesregierung!) sen bloß alle etwas drin haben in ihrem — Es ist immer ganz interessant, daß man sich immer Portemonnaie!) dann unterhält, wenn man nicht hören will, was man — Vielleicht hören Sie erst einmal bis zum Ende zu! — nicht wissen will, und dann, wenn man denkt, m an hat Es ist jetzt eine Aufgabe aller Beteiligten im Gesund- etwas zu sagen, dazwischenspricht, Herr Schmidt. heitswesen, sich Gedanken darüber zu machen, wie Meine Damen und Herren, die Bundesregierung dieses Ziel am besten erreicht werden kann. geht in ihrer Gesundheitspolitik von einem Umwelt- Meine Damen und Herren, die Stärkung des Prä- begriff aus, der die gesamte Lebenswelt des Men- ventionsgedankens in der Gesundheitspolitik ist die schen betrifft. Es geht nicht nur darum, physikalisch- eine Aufgabe. Die andere Aufgabe besteht da rin, die chemische Umwelteinflüsse soweit wie möglich zu Menschen vor schädlichen Umwelteinflüssen zu reduzieren. schützen. Natürlich ist das nicht leicht, denn es ist (Klaus Lennartz [SPD]: Wer hat das denn nach wie vor umstritten, wie groß die Zahl von gesagt?) Erkrankungen ist, die direkt oder indirekt auf Umweltbeeinflussungen zurückzuführen sind. Es ist Es geht genauso um die sozialen Lebensbedingungen bedauerlich, daß diese Tatsache manchmal dazu und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Es geht führt, Probleme entweder zu verharmlosen oder selbstverständlich auch um die Eigenverantwortung genau das Gegenteil davon zu machen, nämlich das des Menschen für seine Gesundheit. Ich kann mir Schreckgespenst einer unaufhaltsamen Vergiftung vorstellen, daß es jetzt auf den Oppostionsbänken unserer Bevölkerung an die Wand zu malen. Beides ist etwas unruhig wird, weil ich das gesagt habe, denn verantwortungslos. Weder eine Politik der Verniedli- wenn wir von Eigenverantwortung der Bürger spre- chung von Problemen noch apokalyptische Endzeit- chen, wird uns nicht selten unterstellt, die Verantwor- stimmungen nutzen den Menschen. tung für die Gesundheit privatisieren zu wollen. (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Sind die Papier (Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD]) tiger bald alle tot?) — Davon kann gar keine Rede sein, lieber Herr Lennartz. Aber niemand kann die Augen davor ver- Es kommt vielmehr darauf an, rechtzeitig zu h andeln, schließen, daß es Lebensgewohnheiten gibt, die alles um mögliche Gefahrenquellen so schnell wie möglich andere als gesundheitsfördernd sind. Wir haben es zu schließen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. heute mehrfach gehört. Es ist eine Tatsache, daß Das heißt, präventive Maßnahmen müssen bereits Rauchen erhebliche Gesundheitsschäden hervorru- dann in Angriff genommen werden, wenn der begrün- fen kann. Dafür brauchen wir keine neuen Untersu- dete Verdacht auf einen ursächlichen Zusammen- chungen. Wer schützt denn die Kinder, die zu Hause hang zwischen Umweltbeeinflussung und Gesund- bei den Eltern vom Passivrauchen betroffen sind und heitsgefährdung besteht. Sie müssen schon zugeben, jetzt nicht geschützt werden? Herr Lennartz, man kann nicht dort Einfluß nehmen, wo man die Ursachen praktisch überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kennt.

Es ist eben auch eine Tatsache, daß sich manche (Klaus Lennartz [SPD]: Dann nehmen Sie den Ernährungsgewohnheiten später bitter rächen kön- Einfluß dort, wo Sie es können!) nen. Das bestätigt Ihnen jeder Arzt, der die Folgen eines ungesunden Ernährungsverhaltens behandelt. - Zu den Präventionsaufgaben gehört auch die Unter- Jeder weiß, daß es eine ganze Reihe von täglichen stützung der Forschung — sehen Sie einmal, bei den Lebensgewohnheiten gibt, die der Gesundheit keinen entscheidenden Sätzen hören Sie gar nicht zu! — bei guten Dienst erweisen. ihrer Suche nach den Zusammenhängen. Die Bundes- regierung fördert z. B. seit Jahren zahlreiche For- Auch deshalb ist es ein Ziel unserer Gesundheits- schungsvorhaben, um allergische Erkrankungen bes- politik, noch mehr als in der Vergangenheit präventiv ser in den Griff zu bekommen. Seit 1987 — das scheint tätig zu werden. Wir brauchen eine stärkere Ausrich- Ihnen offensichtlich entgangen zu sein — sind über tung unseres Gesundheitswesens auf den vorbeugen- 60 Millionen DM allein für diesen Bereich zur Verfü- den Gesundheitsschutz. Es ist eine Selbstverständ- gung gestellt worden. Einen wichtigen Schwerpunkt lichkeit, daß die Menschen daran eben aus Überzeu- bildet dabei die Verbesserung der Gesundheitsvor- gung mitarbeiten müssen, sonst gehen alle Bemühun- sorge und Früherkennung für allergie- und asthma- gen ins Leere. kranke Kinder und Jugendliche. (Klaus Lennartz [SPD]: Sagen Sie einmal etwas Konkretes!) Meine Damen und Herren, selbstverständlich gibt es auch in anderen Bereichen noch Wissensdefizite, Ich bin nicht so pessimistisch wie viele andere, die die so rasch wie möglich beseitigt werden müssen, um glauben, daß man die Lebensgewohnheiten der Men- zu weiteren Fortschritten zu kommen. Gerade in den schen nicht verändern kann. Ich setze dabei auf letzten Monaten und Wochen haben Schlagzeilen Aufklärung, Bildung und Erziehung. Es ist ein legiti- z. B. über Fehlbildungen bei Kindern für viel Unruhe mes Mittel der Politik, Einsichten auch z. B. über das gesorgt. Das lag auch daran, daß solche Fehlbildun- 19684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl gen nicht nach verbindlichen Maßstäben registriert Entscheidend ist aber nach meiner Auffassung, daß werden. wir den eingeschlagenen Weg einer präventiven Gesundheits- und Umweltpolitik gemeinsam konse- (Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD]) quent weiterverfolgen und daß alle Beteiligten — ich — Das ist eben Aufgabe der Länder, Herr Lennartz, sage noch einmal: alle Beteiligten, Herr Peter, auch das dürfen Sie nicht immer verschweigen. Sie sind die Länder — dazu ihren Beitrag leisten: der Staat, dafür zuständig, Umweltregister einzurichten, die indem er die richtigen Rahmenbedingungen setzt, eine wertvolle Hilfe für eine umweltmedizinische und jeder einzelne durch seine verantwortungsbe- Forschung sein können. wußte Mitarbeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wenn wir auf diesem Weg fortfahren, ist eine der F.D.P.) saubere und gesunde Umwelt für unsere Kinder keine Utopie, sondern ein realistisches Ziel. Jetzt komme ich auf ein ganz wich tiges Thema, Herr Lennartz. Sie wollen komischerweise immer nur das Vielen Dank. hören, was Sie bei Ihren SPD-Kollegen selbst prak- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tisch vertreten können. Ich nenne das Krebsregister. Die Länder können auch auf diesem Gebiet beweisen, Vizepräsident Helmuth Becker: Weitere Wortmel- wie ernst sie es mit dem vorbeugenden Gesundheits- dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Ausspra- schutz eigentlich meinen. che. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/6833 an die in der Tagesordnung Dabei meine ich das Krebsregistergesetz. Es gibt doch aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Feder- keinen vernünftigen Grund dafür, diesem Gesetz führung dabei soll jedoch entgegen dem Überweis- weitere Stolpersteine in den Weg zu legen. Wer jetzt ungsvorschlag in der Tagesordnung beim Auschuß für diese Blockadepolitik fortsetzt, muß sich vor den Gesundheit liegen. Sind Sie damit einverstanden? — Menschen verantworten, für die das Krebsregisterge- Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die setz nämlich wichtig ist. Überweisung so beschlossen. (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Jetzt regen Sie sich doch einmal ab!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: — Ich rege mich gar nicht auf, Herr Peter. — Sie wissen, daß mit diesem Gesetz eine so vollständige Beratung des Berichts des Petitionsausschusses Erfassung der Erkrankungsfälle erreicht werden (2. Ausschuß) kann, daß Auffälligkeiten in der regionalen Vertei- Bitten und Beschwerden an den Deutschen lung schnell erkannt, Hypothesen über die Ursachen Bundestag entwickelt und die epidemiologischen Forschungen Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des mit besseren Erfolgsaussichten durchgeführt werden Deutschen Bundestages im Jahr 1993 können. — Drucksache 12/7396 — Herr Lennartz, ich akzeptiere ja Ihren Ruf nach Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die mehr Forschungsmitteln. Aber genauso verlange ich Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich von Ihnen, daß Sie zu Ihren SPD-Kollegen in den sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Ländern gehen und sagen: Stimmt dem Krebsregister- sen. gesetz zu, und stellt die erforderlichen Mittel bereit! Ich möchte noch darauf hinweisen, daß ich es sehr Wir sind auch bereit, unseren Teil dazuzutun. gut finde, daß die Regierungsbank zu dieser Stunde (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und zu diesem Tagesordnungspunkt so dicht besetzt ist. Es kommt nicht immer vor, daß die Politik den Erkenntnisgewinn der Wissenschaft fördert. Hier, (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der meine Damen und Herren, haben Sie einmal die SPD: Die wissen auch, warum!) Chance, genau das zu tun. Deshalb appelliere ich Nunmehr eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat auch heute noch einmal an Sie, großen Worten auch der Kollege Dr. Gero Pfennig. große Taten folgen zu lassen, denn je länger die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Grundlagen Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Herr Präsident! verhindert wird, desto schwerer wird es, denen zu Meine Damen und Herren! Meine lieben Zuhörer von helfen, für die wir ein hohes Maß an Verantwortung der Bundeswehr auf der Tribüne! Ich nehme an, Herr tragen. Präsident, die Regierung weiß schon, warum die Die Bundesregierung hat zu den zahlreichen weite- Regierungsbank so gut besetzt ist; denn jedes der ren Fragen im Zusammenhang mit dem Thema „Kin- Häuser, die dort vertreten sind, ist ja in den letzten vier dergesundheit und Umwelt" in ihrer Antwort auf die Jahren — notgedrungen oder auch nicht — im Peti- Große Anfrage der Fraktion der SPD ausführlich tionsausschuß mehrfach aufgetreten. Stellung genommen. Sie hat den aktuellen Sachstand Ich möchte als erstes, bevor ich etwas über die erschöpfend dargestellt. Wir haben auch sehr deutlich Grundlinien und Schwerpunkte der Arbeit im Jahre gesagt, wo es Probleme gibt, für die noch keine 1993 sage, aus einer Eingabe eines Bürgers zitieren, geeigneten Lösungen vorhanden sind. Deshalb ist es der sich durch Bestimmungen des Rentenreformge- selbstverständlich, den Dialog über die richtigen setzes 1992 benachteiligt gefühlt hat. Er schrieb an Schritte weiterzuführen. den Petitionsausschuß: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19685

Dr. Gero Pfennig Ich habe meine Ersatzzeiten als Kriegsgefange- geforderte Verschiebung des Stichtages werden die ner in der UdSSR verbracht. Ich bin von den vom BMA nicht vorhergesehenen Einzelfallhärten Sowjets viermal zum Tode verurteilt worden. Ich insgesamt vermieden, ohne daß in anderen Fällen bin nach elf Jahren als invalider Krüppel nach Härten auftreten. Dies war also der klassische Fa ll, wo Hause gekommen! Ich habe elf Jahre meines man durch eine Pe tition helfen konnte. Lebens opfern müssen! Und dafür bestraft mich Der Fall zeigt auch, daß sich der Ausschuß nicht mit der Deutsche Bundestag mit einem monatlichen einer Prüfung begnügt, ob geltendes Recht korrekt Rentenabzug von fast 1 000 DM! Darüber müssen angewandt wurde; dies war hier zweifellos der Fall. Sie reden! Der Ausschuß hat vielmehr als Anwalt des Bürgers bei Ich habe mich sehr eingehend mit dieser Peti tion Beschwerden stets auch im Blickfeld, ob geltendes beschäftigt. Tatsächlich hätte der zitierte Rentner sage Recht sinnvollerweise geändert werden sollte, ob der und schreibe monatlich 953,95 Mark mehr Rente Gesetzgeber vielleicht einen Fehler gemacht hat. Ich erhalten, wenn er 1991 — und nicht erst im Jahre habe schon in früheren Zeiten gesagt: Auch wir sind, 1992 — das 65. Lebensjahr und damit das Rentenalter genausowenig wie die Exekutive, vor Fehlern erreicht hätte. gefeit. Wie ist es dazu gekommen? Der Schreiber gehörte Die Haltung des BMA in diesem Fall steht exempla- zur letzten Genera tion von Kriegsteilnehmern, die risch für eine gelegentlich sichtbar werdende Ten- zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr zum Ende des denz innerhalb einzelner Bundesministerien, sich Zweiten Weltkrieges noch eingesetzt wurden, nach- ausschließlich an formalen Kriterien und Grundsätzen folgend langjährig in Kriegsgefangenschaft gerieten zu orientieren. Solchen Tendenzen müssen wir auch und anschließend wegen Krankheit längere Zeiten in Zukunft energisch entgegentreten. Bislang — ich der Arbeitsunfähigkeit hatten. Es leben noch einige hoffe, das bleibt auch so — haben gerade in solchen Bürger, die dieses Schicksal erlitten haben, ohne Fällen unterschiedliche politische Auffassungen im schon seit 1991 im Rentenalter zu sein. Ausschuß nahezu keine Rolle gespielt. Nach dem Rentenreformgesetz 1992 gilt das Prinzip Schließlich zeigt der Fall, daß der Ausschuß trotz der Gesamtleistungsbewertung, mit dem die beitrags- insgesamt gestiegener Arbeitsbelastung nach wie vor bezogene Rentenleistung wieder in den Vordergrund in der Lage ist, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen gestellt wird, und das ist vom Grundsatz her richtig. und verhältnismäßig schnell Lösungsansätze zu ent- Wendet man aber die Neuregelung auf Bürger an, von wickeln. Ich bin überzeugt, daß der Ausschuß dies denen man glaubt, daß die Neuregelung sie gar nicht auch in Zukunft kann. Schwerpunktsetzen heißt mehr treffen kann, weil sie entweder verstorben oder natürlich nicht, daß wir uns mit den an uns herange- schon in Rente sind, dann führt dies zu groben tragenen Einzelproblemen nicht mehr zurechtfinden. Ungerechtigkeiten. Hier ist bei der Gesetzgebung Wir befassen uns sehr gründlich mit ihnen, ohne uns ganz eindeutig ein Fehler unterlaufen: Die Fallgruppe dabei etwa als allerletzte Gerichtsinstanz zu verste- ist schlichtweg übersehen worden. hen. Der Petitionsausschuß prüft in jedem einzelnen Leider wollte das Bundesministerium für Arbeit und Fall, ob das Anliegen von der Sache her berechtigt Sozialordnung diesen Fehler nicht eingestehen und ist. sperrte sich gegen die notwendige Korrektur, als die Im Jahre 1993 haben wir den Bürgerinnen und Petitionen der Bundesregierung zur Berücksichtigung Bürgern in 20 % der Fälle definitiv mitteilen müssen, überwiesen wurden. Deshalb mußte die Korrektur daß ihrem Anliegen nicht entsprochen werden kann. gegen den Widerstand der Ministerialbürokratie par- Umgekehrt haben sich übrigens 10 % aller Fälle lamentarisch durchgesetzt werden. Der Stichtag für einfach dadurch erledigt, daß ein Petitionsverfahren diesen Personenkreis der Kriegsteilnehmer soll jetzt stattfand und die Exekutive von sich selbst aus ihre auf den 31. Dezember 1996 verlegt werden. Dem hat Entscheidung revidierte. das Ministerium nunmehr im Prinzip zugestimmt. Seit Jahren hat der Ausschuß ein besonderes Der Petitionsausschuß wird in diesem Fall nicht Augenmerk auf die Frage gelegt, in welchem Umfang lockerlassen, bis die Sache noch in dieser Legislatur- Berücksichtigungs - und Erwägungsbeschlüsse des periode gesetzlich positiv geregelt ist. Parlaments von der Regierung befolgt werden. Im (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der vergangenen Jahr habe ich harte Kritik an der Regie- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung geübt, weil über 50 Erwägungsbeschlüsse noch nicht erledigt waren. Das ist inzwischen besser gewor- Liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesem Fall den: Im Jahre 1993 waren es insgesamt nur noch werden die Grundlinien der Arbeit des Ausschusses 25 Fälle. Berücksichtigungsbeschlüsse wurden 1993 deutlich, die sich durch langjährige Praxis herausge- in insgesamt sechs Fällen nicht befolgt. Überwiegend bildet haben. Der Fall bestätigt, wenn es auch auf den war feststellbar, daß die Bundesregierung die Mög- ersten Blick nicht so einsichtig sein mag, die Haltung lichkeiten einer Abhilfe meist sorgfältig und intensiv des Ausschusses zu Stichtagsregelungen. Wir haben geprüft hat. Der Ausschuß darf diesen Bereich in stets die Auffassung vertreten: Stichtagsregelungen Zukunft trotz dieser positiven Anzeichen keinesfalls müssen sein. Sie bringen zwangsläufig gewisse Här- vernachlässigen. Es geht darum, dem Willen des ten mit sich. Diese werden durch Verschiebung des Parlaments Geltung zu verschaffen. Stichtages in der Regel nicht besser, weil dann anderswo Härten auftreten. Auch im genannten Fall Lassen sie mich etwas zu der Zahl der Eingaben haben wir nichts gegen das Vorhandensein einer sagen. Wir hatten 1993 20 000 Eingaben, Massenpe- Stichtagsregelung gehabt. Nur, durch die von uns titionen eingerechnet, von fast 200 000 Bürgerinnen 19686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Dr. Gero Pfennig und Bürgern. Einen Schwerpunkt bildeten die Petitio- Meinungsverschiedenheiten von dem Bestreben nach nen zur Überleitung der Renten und Anwartschaften Kooperation geprägt. Danken möchte ich auch den im Gebiet der neuen Bundesländer. Hier hat der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ausschuß Ausschuß seinen Einfluß auch gegenüber anderen dienst, die durch ihre Einsatzbereitschaft zur Erfül- Ausschüssen des Parlaments geltend gemacht. Das in lung unserer Aufgaben wesentlich beigetragen Kraft ge tretene Rentenüberleitungs-Ergänzungsge- haben. setz hat in vielen Fällen den Wünschen des Petitions- Ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern, daß ausschusses Rechnung ge tragen. Ich nenne beispiel- sich der Ausschuß auch in Zukunft mit großer Sorgfalt haft die Anhebung der Zahlbetragsgrenze bei soge- um ihre Anliegen kümmern wird. nannten früheren Intelligenzrenten auf 2 700 DM. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Vereinigungsbedingtes Dauerthema im Ausschuß SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) waren auch Eingaben zu Vermögensfragen und For- derungen nach strafrechtlicher, beruflicher und ver- waltungsrechtlicher Rehabilitierung. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Insgesamt kann man sagen, daß wir seit der Wie- Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst dervereinigung permanent Eingabezahlen von über Peter. 20 000 pro Jahr hatten. Einschließlich 1994 werden (Zuruf von der CDU/CSU: Der war doch wir damit in dieser Wahlperiode wohl auf 80 000 bis gerade dran!) 100 000 Petitionen kommen. Das Petitionsrecht hat im — Aber zu einem anderen Thema. vereinten Deutschland offensichtlich eine noch wich- tigere Rolle bekommen. Der Ausschuß ist ständig bemüht, die Erwartungen der Bürgerinnen und Bür- (Kassel) (SPD): Herr Präsident! Meine ger nicht zu enttäuschen. Horst Peter Damen und Herren! Ich beginne ebenfalls mit einem Neben den vereinigungsbedingten Themen stan- Zitat, allerdings mit einem anderen. Ich zitiere einen den 1993 Beschwerden über überhöhte Fernmelde- Änderungsantrag der SPD zur Verfassungsdebatte, rechnungen, über die Schließung von Postämtern und zwar zu Art. 45 c, mit dem wir den Bestimmungen sowie Forderungen zur Pflegeversicherung und zur fiber den Petitionsausschuß einen Absatz 2 hinzufü- Sparpolitik der Bundesregierung im Vordergrund. gen möchten. Dieser Absatz 2 soll lauten: Dazu gingen zahlreiche Massen- und Sammelpetitio- Der Petitionsausschuß hat bei Masseneingaben, nen ein, auch zu Fragen des Asylrechts. die von mindestens 50 000 Stimmberechtigten Der Ausschuß hat sich wiederholt und nachdrück- unterzeichnet sind, die Pflicht, Petenten oder ihre lich für die Fälle behinderter Menschen und für deren Vertreter anzuhören. Masseneingaben werden Belange eingesetzt. Der Jahresbericht 1993 enthält gemeinsam mit dem Be richt des Petitionsaus- mehrere Beispiele aus verschiedenen Rechtsgebieten, schusses im Bundestag und in seinen Ausschüs- u. a. zu dem berühmt-berüchtigten Flensburger sen beraten. Urteil, wo die Kürzung eines Reisepreises verlangt Bei Aufnahme dieser Bestimmung in das Grundge- werden konnte, weil eine Gruppe Schwer- und setz wäre eine wichtige Etappe zur Weiterentwick- Schwerstbehinderter während der Mahlzeiten im lung des Petitionsrechts erfolgreich beschritten. Seit Hotel zu sehen war. Wir haben als Ausschuß auf eine der Debatte um den Jahresbericht des Petitionsaus- Änderung der Rechtslage gedrängt, damit solche schusses 1982 ist die politische Kontroverse, ob das Urteile in Zukunft nicht mehr möglich sind, und haben Petitionsrecht im Kern das Recht auf Vortragen eines heute mit der Bundesjustizministerin erörtert, ob mög- persönlichen Beschwers an die Volksvertretung oder licherweise eine Novellierung des Reisevertrags- auch Mittel direktdemokratischer Meinungsbekun- rechts dafür der richtige Weg ist. dung mit dem Ziel, auf die politische Willensbildung - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Staates unmittelbar einzuwirken, ist auf der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tagesordnung des Bundestages. Viele Bürgerinnen und Bürger wandten sich auch Ich habe damals zum Jahresbericht 1982 gesagt mit Vorschlägen zur Verfassungsreform an den Aus- — gestatten Sie mir, daß ich mich selbst zitiere; es ist schuß. Solange die Gemeinsame Verfassungskom- das letzte Mal, daß ich zu einem Jahresbericht spre- mission bestand, hat der Petitionsausschuß die Ver- che —: fahren in aller Regel an das Plenum abgegeben mit Der Bericht schlägt vor zu prüfen, ob eine Ände- der Empfehlung, die Petitionen der Kommission zuzu- rung der Geschäftsordnung angeregt werden leiten. Er hat alle an ihn selbst gerichteten Eingaben soll. Ich meine, daß in eine solche Diskussion auch inzwischen ausnahmslos entschieden. Die unmittel- die Frage einbezogen werden müßte, welche bar an die Gemeinsame Verfassungskommission geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten be- gerichteten Eingaben wurden von dieser in eigener stehen oder geschaffen werden müßten, wichtige Zuständigkeit behandelt. Fragen, die in Massenpetitionen angesprochen Meine Damen und Herren, ich danke den Kollegin- werden, auch im Bundestag direkt diskutieren zu nen und Kollegen im Petitionsausschuß sehr herzlich lassen. für die in den fast vier Jahren dieser Wahlperiode Seit 1983 haben die Bürgerinnen und Bürger immer zugunsten der Bürgerinnen und Bürger geleistete bewußter dem individuellen Grundrecht des Art. 17 Arbeit. Wir hatten aus meiner Sicht eine sehr ange- des Grundgesetzes durch den Grundrechtsgebrauch nehme Zusammenarbeit. Sie war bei allen politischen eine kollektive Dimension hinzugefügt. In gleichem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19687

Horst Peter (Kassel) Maße nahm auch die Bereitschaft des Ausschusses zu, Ich nenne ein Beispiel, den gesundheitlichen die Politisierung des Petitionsrechtes zu akzeptieren. Arbeits - und Umweltschutz. Auch im Berichtsjahr gab Das kommt in den Grundsätzen des Petitionsaus- es wieder zahlreiche Peti tionen zu den gesundheitli- schusses über die Behandlung von Bitten und chen Folgen von Schadstoffbelastungen im Arbeits- Beschwerden zum Ausdruck, insbesondere auch in prozeß und zu ihrer sozialversicherungsrechtlichen dem Vorschlag zur abschließenden Erledigung, „die Anerkennung sowie zu Belastungen durch Schad- Petition den Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis stoffe in der Lebenswelt und zu ihrem entschädi- zu geben, weil sie als Anregung für eine parlamenta- gungsrechtlichen Ausgleich. rische Initiative geeignet erscheint" . Hier wird eine All diesen Petitionen ist gemeinsam: die Langwie- Brücke zum parlamentarischen Willensbildungspro- rigkeit des Verfahrens — die Anliegen erstrecken sich zeß geschlagen, dessen Träger die Fraktionen sind. Es auch im Petitionsausschuß manchmal über Jahre, ist Sache der Fraktionen selbst, ob sie den Dialog mit kommen dann allerdings manchmal auch zu Erfolgen, dem Petenten aufgreifen und in eigene politische wenn wir an einem Strick in eine Richtung ziehen —; Initiativen umsetzen. die Schwierigkeiten der Beweislast, wer denn der Leider macht der Petitionsausschuß, durch die Bin- Verursacher von Schädigungen ist; die unbefriedi- dung an einen Mehrheitsbeschluß des Ausschusses gende Gutachterpraxis in a11 den Bereichen, wo medi- begründet, von dem ihm zustehenden Recht, Petenten zinische Gutachter eingesetzt sind; schließlich die oder Sachverständige anzuhören, praktisch keinen Unterlegenheit des einzelnen Petenten, wenn er den Gebrauch. Eine an bestimmte Bedingungen ge- Rechtsweg beschreitet. Das ist eine echte David- knüpfte Anhörungspflicht kann ein wichtiger Schritt Goliath-Situation: Wer kann sich schon gegen BASF des Parlaments in Richtung auf einen direkteren und Hoechst vor Ge richt durchsetzen? Zugang zu den Bürgern darstellen. Die SPD-Arbeitsgruppe Peti tionen hat im Verfolg Die Entscheidung zur Anhörung wird mit dem des Votums „Fraktionen zur Kenntnis" eine Anhö- Antrag zur Ergänzung des Grundgesetzes auf eine rung von Petenten und Sachverständigen, sowohl rechtlich sichere Basis gestellt. Den Unterzeichnerin- Toxikologen als auch Epidemiologen sowie Fachan-

nen und Unterzeichnern einer Sammel - oder Massen- wälten und Vertretern der Sozialversicherung, durch- petition wird bewußt gemacht, daß ihr Begehren in geführt. Die Ergebnisse der Anhörung sind dann einer der kollektiven Form entsprechenden Weise eingebracht worden in die Diskussion der SPD-Frak- behandelt wird. Ich bin der Überzeugung — oder hoffe tion zur Reform des Arbeitsschutzes, zur Reform des zumindest —, daß die Mitglieder des Petitionsaus- Berufskrankheitenrechts mit Beweislasterleichterung schusses in ihren Fraktionen für die Annahme der für Geschädigte und zu unseren Absichten, den Verfassungsänderung eintreten. Zugang von Geschädigten zum Recht zu verbessern und die Stellung im Verfahren zu stärken. Unterhalb der Verfassungsergänzung wäre eine Änderung des Befugnisgesetzes angezeigt, die ( V o r s i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Anwendung der Instrumente des Befugnisgesetzes, Cronenberg) zumindest das Recht, Petenten und Sachverständige Ganz aktuell diskutieren wir in diesem Zusammen- anzuhören, zu einem Minderheitenrecht auszugestal- Sozialversicherungsträger, ten. Beide Veränderungsvorschläge sind auch Bei- hang die Frage, wie die die nach § 116 SGB X Ansprüche von Geschädigten träge zur Parlamentsreform. Über ein weiterentwik- auf sich überleiten können und nach § 76 SGB IV den keltes Petitionsrecht und den parlamentarischen durchsetzen müssen, zur konsequenteren Umgang damit kann das Parlament ein Zeichen für RegreB Wahrnehmung dieser Aufgaben gebracht werden mehr Bürgerbeteiligung und gegen Politikverdros- können. Wir sind der Meinung, diese Einbeziehung senheit setzen. der Betroffenen in den Willensbildungsprozeß lohnt Zum parlamentarischen Umgang mit dem Peti tions- sich, gibt das Gefühl, ernst genommen zu werden, ist recht: Zunächst schließe ich mich dem Dank des demokratische Vertrauensarbeit. Vorsitzenden an den Ausschußdienst an. Ich danke Der Ausschuß hätte die Chance, vergleichbare ebenfalls allen Mitgliedern des Ausschusses, die als Erfahrungen zu machen, wenn die Mehrheit die Berichterstatter jeweils von dem Grundverständnis Schwelle zu Anhörungen von Petenten und Sachver- ausgehen, sich des Anliegens der Petenten anzuneh- ständigen überschreiten würde. Beispiel: Sachver- men. Es gibt viele Beispiele, daß — bis hin zu haltsfeststellungen bei der Beurteilung von Men- Gesetzesänderungen — parteiübergreifend votiert Ich behaupte, die Einschät- wird. Ein Beispiel hat der Vorsitzende genannt. schenrechtsverletzungen. zungen des Auswärtigen Amtes zur Beurteilung der Zu bedauern ist, daß dann auf der nächsten Stufe oft Menschenrechtssituation in anderen Ländern sind die Mechanismen der Koalitionsvereinbarung oder nicht immer ausreichend. Das ist ganz zurückhaltend das Prinzip der Exekutive — „da könnte ja jeder formuliert. Deshalb wäre die Anhörung von Men- kommen, das haben wir schon immer anders schenrechtsorganisationen zur Sachverhaltsermitt- gemacht" — manchen Berücksichtigungs- oder Erwä- lung nach meiner Auffassung auch im Ausschuß gungsbeschluß nicht erfüllen und manche Hoffnung unerläßlich, um die Grundlage dafür zu haben, Peti- von Petenten in Enttäuschung, Resignation oder auch tionen von Menschen, die in Not sind, besser beurtei- Aggression umschlagen lassen. Hier bietet das Votum len zu können. Das gilt für die Beurteilung der „den Fraktionen zur Kenntnis" die Chance für die Menschenrechtssituation nach vorliegenden Petitio- einzelnen Fraktionen, den Dialog weiterzuführen und nen für Indonesien, insbesondere Osttimor, auch im berechtigte Vorschläge von Petenten aufzugreifen. Zusammenhang mit Rüstungsexporten; für Pakistan 19688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Horst Peter (Kassel) wegen der Verfolgungssituation der Ahmadiyya- Folge gehabt, die sich mit der Wahrnehmung ihrer Glaubensgemeinschaft. Interessen allein gelassen fühlen. Sie hätten die Eine Anhörung von Amnesty International hätte Chance gehabt, ihre Sache öffentlich zu machen. möglicherweise dazu geführt, das Begehren des Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger Petenten, den Bundesbeauftragten für Asylangele- öffentlich machen, das ist nach meiner Auffassung ein genheiten beim Bundesministerium des Innern zur wesentlicher Bestandteil des Art. 17 des Grundgeset- Rücknahme seiner Klage gegen einen positiven Aner- zes: kennungsbescheid des Bundesamtes für die Anerken- Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in nung ausländischer Flüchtlinge zu veranlassen, Gemeinschaft mit anderen ... an die zuständigen durchzusetzen. Diese Einschätzung beruht auch dar- Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. auf, daß die Entscheidungspraxis des Bundesverfas- sungsgerichts, zuletzt im September 1993, die Verfah- Die Bürger erhalten durch die Möglichkeit, sich an die ren an die Verwaltungsgerichte zurückweist, bei Volksvertretung zu wenden, die Chance der Öffent- denen nicht alle Quellen zur Sachverhaltsfeststellung lichkeit. Für das Volk ist die Chance der Öffentlichkeit ausgeschöpft worden sind. die Durchsetzungsvoraussetzung für seine Interessen. Da ist das anders als bei denen, die sich hinter Das sollten auch wir uns im Ausschuß bei der versteckten Türen auch mit Geld die Durchsetzung Beurteilung von Verfolgungssituationen nach meiner ihrer Interessen sichern können. Auffassung zu eigen machen. Öffentlich heißt: sichtbar werden. Öffentlich heißt: Das gilt auch für die Beurteilung der Menschen- Druck organisieren und sich mit dem eigenen Anlie- rechtssituation in der Türkei wegen der angeblichen gen auf die politische Tagesordnung setzen. Fluchtalternative im Land, bei Kurden oder auch Jeziden, die abgeschoben werden sollen, aber auch Öffentlichkeit fehlt häufig, da Pe titionen und Peti- wegen der Frage des Rüstungsexports in die Tür- tionsrecht in den Medien oft über Kuriositäten trans- kei. portiert werden. Ich sage ehrlich: Es hat mich geär- gert, daß die überwiegende Schlagzeile bei der Was hätte die vorgeschlagene Verfassungsände- Debatte des letzten Jahresberichts die Pe tition, den rung zu Massenpetitionen für Auswirkungen im ver- achten Wochentag einzuführen, war. Jou rnalisten gangenen Jahr gehabt? Wir hätten uns im vorgeschla- hätten viele Möglichkeiten gehabt, Dinge, die die genen Verfahren mit einer Beschwerde gegen die Menschen in diesem Lande bewegen, in anderer Form Verschärfung des Asylrechts beschäftigen müssen, an die Öffentlichkeit zu bringen. und zwar hätten wir die Petenten zu Wort kommen lassen, ihrem Begehren Stimme geben müssen. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und waren 106 668 Bürgerinnen und Bürger, die gegen die der F.D.P.) Verschärfung des Asylrechts waren. Öffentlichkeit wird uns oft auch schwergemacht, Wir hätten uns mit der Forderung nach Aufrecht- und zwar durch Abdrängen der Beratungen des erhaltung des Walfangverbotes auseinandersetzen Jahresberichts an den Rand der Plenarsitzungen des müssen. Hier waren es über 60 000 Bürgerinnen und Bundestages. Es ist jedes Jahr dasselbe. Bürger. (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Es ist jedes Wir hätten uns mit dem Protest gegen die Kürzung Jahr dasselbe, sehr richtig, jawohl!) von Kündigungsfristen für Angestellte auf Grund des Wir müssen erleben, daß wir zu einer guten Zeit Kündigungsfristengesetzes befassen müssen. Hier angesetzt sind und daß es die Geschäftsführer unserer waren es über 100 000 Bürgerinnen und Bürger, die Fraktionen immer wieder hinkriegen, daß wir am gemeint haben: Ein Abbau des Kündigungsschutz- Rande der Plenumszeit landen. Ich finde das nicht gut. rechts ist mit den Prinzipien des Sozialstaates nicht Ich finde das auch nicht der Bedeutung dieses Peti- vereinbar. tionsrechts angemessen. Im Augenblick laufen verschiedene Petitionen mit (Beifall im ganzen Hause) Vorschlägen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, die durchaus die Ch ance hätten, das Quorum von Deshalb möchte ich zum Abschluß einen Vorschlag 50 000 Unterschriften ebenfalls zu erfüllen und damit zur Herstellung der Öffentlichkeit von Bürgereinga- die Bürgerinnen und Bürger in den politischen Dialog ben hier dem Hause unterbreiten, in der Hoffnung, mit den politischen Entscheidungsträgern zu bringen daß diesmal mehr daraus wird als aus der Anregung und nicht ohnmächtig erleben zu müssen, was manch- der Abgeordneten Christa Nickels aus dem Jahre mal von der Regierung und den Regierungsfraktionen 1990, die folgenlos geblieben war und in ähnliche hier im Hause im Zusammenhang mit der Verschlech- Richtung zielte. Inzwischen hat sich allerdings der terung der sozialen Situation beschlossen wird. Problemdruck verstärkt und wird die Notwendigkeit der Parlamentsreform immer drängender, weil die Hier ist beispielsweise die Initiative „Aktions- Menschen am Parlamentarismus und Parlament Kritik gruppe Baunatal" zu nennen. Sie möchte „Arbeits- üben. plätze im Einklang mit Mensch und Natur" in einem Mein Vorschlag ist: Der Deutsche Bundestag sollte Beschäftigungs- und Strukturförderungsprogramm vom Parlament durchgesetzt haben. einmal im Jahr einen Tag der Bürgereingaben ein- richten, an dem — einmal im Jahr — die Berichte der Die Anhörungspflicht des Petitionsausschusses in verschiedenen Parlamentsinstitutionen diskutiert diesen Fälle hätte integrierende Wirkung und eine werden, die sich mit Bürgereingaben beschäftigen, Chance zum Dialog mit Bevölkerungsgruppen zur die Adressaten von Bürger- und Bürgerinneneinga- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19689

Horst Peter (Kassel) ben sind. Damit werden die Anliegen sichtbar werden und Bürger mit der Verfassungswirklichkeit ihres und eine Stimme erhalten. Landes auseinandersetzen und ihre Vorschläge eben Ich könnte mir vorstellen, daß an diesem Tag der nicht nur an die gemeinsame Verfassungskommis- Bericht des Petitionsausschusses, der Bericht des sion, sondern auch an den Petitionsausschuß des Datenschutzbeauftragten, der Bericht des Wehrbe- Bundestages gerichtet haben. auftragten, der Be richt der Ausländerbeauftragten Freilich mag die Qualität der Eingaben recht unter- und auch der Be richt der Kinderkommission auf die schiedlich sein. Aber allein die Tatsache, daß sich Tagesordnung gesetzt werden. Ich würde es begrü- jemand die Mühe macht, sich mit diesen schwierigen ßen, wenn der neue Bundestag in dieser Richtung ein Fragen auseinanderzusetzen und eine Eingabe zu Zeichen setzen könnte. formulieren, zeigt doch aus meiner Sicht, daß die (Beifall im ganzen Hause) vielbeklagte Politikverdrossenheit zu einem Teil her- beigeredet worden ist.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Verehrte (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Trudi Schmidt SPD) hat mich gebeten, das Haus zu fragen, ob es damit Nicht etwa Rückzug und Lethargie sind gefragt, einverstanden ist, daß die Rede von ihr zu Protokoll sondern eben Initia tive und Ideen, um Mängel und genommen wird.' ) — Da sich kein Widerspruch Mißstände zu beheben. Ich denke, letzteres ist es, was erhebt, darf ich das als beschlossen feststellen und die die Petenten aufbringen. Abgeordnete Birgit Homburger bitten, an das Redner- pult zu kommen. Wie wir uns damit auseinandersetzen, scheint mir nicht unwichtig zu sein. Wenn der Petitionsausschuß in seinem Jahresbericht kritisch anmerkt, daß sich Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Ministerien bei der Auseinandersetzung mit Petitio- Damen und Herren! Zahlen und Statistiken bedürfen nen gelegentlich allein an formaljuristischen Kriterien ja stets der Interpretation und Bewertung. Es müssen orientieren, dann ist dies nach meiner Meinung eben Entwicklungen abgelesen werden können, Schlußfol- der falsche Weg, und der Vorsitzende hat das vorhin gerungen für die politische Arbeit daraus gezogen schon angesprochen. Unerfreulicherweise ist es daher werden. Der Jahresbericht 1993 des Petitionsaus- nötig, daß der Petitionsausschuß in seiner täglichen schusses liefert für dieses Unterfangen detaillie rte Arbeit immer wieder Ministerien und ihrem Apparat Daten. Auf den ersten Blick scheint im dritten Jahr ins Gedächtnis rufen muß, daß sie es bei Petitionen nach der Wiedervereinigung allmählich Normalität nicht mit einem abstrakten, anonymen Fall oder einzukehren. Die Zahl der Eingaben ist im vergange- Vorgang zu tun haben, sondern mit Bürgern, mit nen Jahr erstmals wieder deutlich gesunken, nach- Menschen und ihren ganz persönlichen Problemen dem 1991 und 1992 ein deutlicher Anstieg zu ver- und Anliegen. zeichnen war. Auch die Zahl der Eingaben aus den neuen Bundesländern ist deutlich rückläufig. Den- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der noch ist die Arbeit des Petitionsausschusses nach wie SPD) vor sehr stark beeinflußt von speziellen Problemen aus Ich denke, auch der sorgfältige Umgang damit gehört den neuen Bundesländern. Rentenberechnungen, zur politischen Kultur in diesem Land. offene Vermögensfragen sowie auch individuelle For- derungen nach strafrechtlicher, beruflicher oder ver- Wie steht es um das politische Gewicht des Peti- waltungsrechtlicher Rehabilitation sind thematische tionsausschusses? Hier — auch das hat der Herr Schwerpunkte von Eingaben aus den neuen Bundes- Vorsitzende unseres Ausschusses bereits angeführt — ländern. gibt es eine erfreuliche Entwicklung. Während beim Jahresbericht 1992 die Bundesregierung noch in Dies macht meines Erachtens deutlich, daß wir nicht 50 Fällen nicht dem Erwägungsbeschluß des Peti- allein auf die zahlenmäßige Entwicklung der Einga- tionsausschusses bzw. des Parlaments gefolgt war, ben schauen dürfen, sondern vielmehr auch waren es im Jahre 1993 gerade noch 25 Fälle, die aus anschauen müssen, welche Themen und Inhalte diese unserer Sicht unbefriedigend ausgegangen sind, weil Petitionen haben. Es ist ein ausgesprochen hilf- und sie eben trotz Erwägungsbeschluß keine Berücksich- lehrreiches Unternehmen, sich diese Themen einmal tigung fanden. Ohne Zweifel also eine positive Ten- anzuschauen, weil, so gesehen, der Jahresbericht des denz, wenngleich ich auch ausdrücklich betonen will, Petitionsausschusses auch ein Spiegelbild politischer daß jede zur Erwägung überwiesene Pe ti und gesellschaftlicher Probleme in diesem Land ist. tion, die unberücksichtigt bleibt, eine zuviel ist. Offensichtlich Hinter den allermeisten Pe titionen — so meine Erfah- müssen wir hier nicht nur Öffentlichkeitsarbeit, son- rung aus der Ausschußarbeit — stecken eben ganz dern vor allem auch Überzeugungsarbeit leisten. Ich persönliche, individuelle Schicksale. Dies beginnt bei denke, schließlich überweist der Deutsche Bundestag scheinbar banalen Fällen wie offensichtlich überhöh- der Bundesregierung Eingaben nicht, weil m an ihr ten Telefonrechnungen und reicht über praktische Ärger oder Arbeit verursachen will, sondern weil er Probleme wie die Schließung von Postämtern bis hin Abhilfe für notwendig hält. zu dickeren Brettern, die hier in Bonn gebohrt werden, z. B. die vielfältigen Auswirkungen der Sparpolitik Aus der Fülle der Eingaben will ich jetzt also einige oder auch das Grundrecht auf politisches Asyl. Positiv Fälle herausgreifen. Mit das größte Echo — auch das stimmt mich die Tatsache, daß sich viele Bürgerinnen ist heute abend schon angesprochen worden — fand in der Öffentlichkeit das sogenannte Flensburger Urteil. ') Anlage 2 Stein des Anstoßes war ein Urteil des Amtsgerichtes, 19690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Birgit Homburger wonach der Anblick Schwerstbehinderter während Was mir persönlich große Sorgen bereitet, sind die der Mahlzeiten in einem Hotel zur Minderung des Eingaben zum Ausländer - und Asylrecht, speziell im Reisepreises berechtigt. Behinderte hatten daraufhin Hinblick auf den geänderten Art. 16a des Grundge- berechtigterweise die Befürchtung geäußert, daß setzes. Mit den Zuständigkeiten im Asylrecht, die ihnen zukünftig zunehmend der Zugang zu Hotels bislang den Ländern oblagen und nun auf den Bund und Gaststätten oder anderen Erholungsstätten ver- übergegangen sind, gehen die entsprechenden Peti- wehrt werde, weil die Inhaber Regreßansprüchen tionen nun zunehmend auch beim Petitionsausschuß anderer Reisender aus dem Weg gehen wollen. des Deutschen Bundestages ein. Der Ausschuß und der Deutsche Bundestag insge- Ich bedaure in dem Zusammenhang vor allem, daß samt haben im Sinne der Behinderten entschieden, der Ausschuß auf Grund geltenden Rechts nur ver- die Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu gleichsweise geringe Möglichkeiten hat, be troffenen überweisen mit dem Ziel, daß das Reisevertragsrecht Petenten zu helfen. Es gibt fast keine Möglichkeiten, geändert wird. Außerdem wurde die Eingabe auch Härtefallregelungen zu erreichen. In manchen Fällen allen Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis gege- kann man immerhin schon als Erfolg verbuchen, daß ben. Asylbewerber nicht schon abgeschoben worden sind, bevor über ihre Petition überhaupt entschieden wor- Weil das Bundesministerium der Justiz unsere den ist. Ansicht zwar teilt, allerdings den Lösungsansatz für undurchführbar hält, kommt es nun darauf an, die Ich denke, daß diese Entwicklung Anlaß geben Petition nicht aus den Augen zu verlieren und die sollte, sich zu überlegen, wie man — weil es zukünftig Bundesregierung bei der Suche nach einer Lösung in verstärkt auch auf den Petitionsausschuß zukommen die Pflicht zu nehmen. Denn Beschlüsse allein sind wird — mit diesen Petitionen umgehen will und wenig wert, wenn sie nicht in die Tat umgesetzt welche Möglichkeiten man hat, entweder das Verfah- werden. ren beim Petitionsausschuß zu beschleunigen oder aber zu erreichen, daß nicht vorher abgeschoben wird, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sondern daß man diese Petition wirklich vernünftig ten der CDU/CSU und der SPD) behandeln kann. Ich persönlich empfinde es nämlich Recht langwierig war auch der Fall eines Diplom- als unbefriedigend, wenn man in Kürze versuchen betriebswirts. Anhand seines individuellen Anliegens muß, eine sehr schwer zu begutachtende Situation zu konnte die Handwerksordnung von Ballast befreit erfassen, und schließlich auch zu entscheiden. werden, was nunmehr allen Diplombetriebswirten zugute kommt, die eine Meisterprüfung im Handwerk (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ablegen wollen. Sie können sich nämlich künftig Zum Schluß möchte ich mich bei allen Kolleginnen ebenso wie staatlich geprüfte Techniker oder Diplom- und Kollegen im Ausschuß für eine — wie ich finde — ingenieure auf Antrag von der Prüfung der wirtschaft- ausgesprochen kollegiale und gute Zusammenarbeit lichen und rechtlichen Kenntnisse befreien lassen, bedanken, die auch der Ausschußvorsitzende bereits womit bewiesen wäre, daß sich auch im Petitionsaus- hervorgehoben hat. Ich denke, diese Art der Zusam- schuß eine erfolgreiche Politik für den Mittelstand menarbeit ist besonders erfreulich, weil es bei diesen machen läßt, vorausgesetzt, m an hat genügend Aus- Petitionen vielfach um persönliche Schicksale geht, dauer. bei denen man wirklich versuchen sollte, über Par- (Beifall bei der F.D.P.) teigrenzen hinweg zu helfen. Das gelingt auf Grund dieser Zusammenarbeit. Gelegentlich ist aber nicht nur Ausdauer vonnöten, sondern auch Schnelligkeit. Ich erinnere mich an eine Mein Dank geht auch an die Mitarbeiter des Sekre- Petition einer Bürgerinitiative aus Baden-Württem- tariats des Petitionsausschusses, die sich wirklich in berg, die sich vor kurzem aus Gründen des Natur- sehr eindrucksvoller Weise immer wieder für die schutzes gegen den Bau einer Autobahnraststätte einzelnen Petitionen einsetzen und sie uns mit wahn- gewandt hatte. sinnigem Arbeitsaufwand aufbereiten. Ohne sie könnten wir unsere Arbeit überhaupt nicht leisten. Wirklich ärgerlich an diesem Fall war, daß kurz vor Auch die gute Vorarbeit der Mitarbeiter des Petitions- einer Entscheidung des Ausschusses vollendete Tat- ausschusses trägt dazu bei, daß der Petitionsausschuß sachen geschaffen wurden. Nachforschungen der die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger im wesent- Berichterstatter dieser Petition hatten nämlich erge- lichen sorgfältig prüft und auch mit gutem Gewissen ben, daß die Straßenbauverwaltung kurz vor der sagen kann, daß man sich diesen Dingen annimmt. Beratung im Petitionsausschuß das fragliche Wald- stück schlicht abholzen ließ, somit blieb nichts ande- Ich denke, das ist ein wichtiges Zeichen, das wir als res übrig, als das Verfahren abzuschließen. Parlament nach draußen geben müssen, daß die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, Mehrere Petitionen, darunter eine Massenpetition die an dieses Parlament gehen, nicht auf taube Ohren mit 60 000 Unterschriften, hatten das Ziel, das Verbot stoßen, sondern daß man sich hier wirklich sorgfältig des kommerziellen Walfangs aufrechtzuerhalten. damit beschäftigt. Auch das kann ein Stück Motiva- Diese Petition ist nicht nur der Bundesregierung als tion an die Menschen in unserem Land sein, sich Material in Verbindung mit einer Berichtspflicht über- wieder mehr an Politik zu beteiligen. wiesen worden, sondern wegen ihres grundsätzlichen Anliegens auch dem Europäischen Parlament zuge- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der leitet worden. SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19691

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Verfassungsrang ist und seine Funktion in einem gut nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das laufenden Räderwerk erfüllt, das sich selbst genügt. Wort. Ärger und Kritik, Ideen und Engagement der Bürger werden zu selten in politische und parlamentarische Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kraft und Energie umgewandelt. Zu oft verpuffen sie Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- ungenutzt als heiße Luft oder versickern zwischen gen! Dies wird wahrscheinlich das letzte Mal sein sorgfältig aufgetürmten Aktenbergen. Denn das Par- — ähnlich wie beim Kollegen Peter —, daß ich als lament und erst recht die Regierung ziehen zu selten Abgeordneter den jährlichen Be richt des Petitionsaus- Konsequenzen aus den oft berechtigten Empörungen schusses zu kommentieren habe. Bitte erlauben Sie und klugen Hinweisen der Bürgerinnen und Bürger, mir deshalb auch, eine persönliche Bilanz zu zie- den wertvollsten Ressourcen der Demokratie. Die Lust hen. und der Wille der Bürgerinnen und Bürger, ihr Zunächst aber folge ich gern dem schon von meinen Gemeinwesen aktiv mitzugestalten, wird fahrlässig Vorrednern praktizierten Ritual, unseren fairen Aus- verschwendet. schußvorsitzenden zu loben, die gute Zusammenar- Es ist daher unerläßlich, die Bürgerinnen und Bür- beit mit den Kolleginnen und Kollegen zu würdigen ger unmittelbar in den Prozeß der Ausschußarbeit und vor allem auch den Mitarbeiterinnen und Mitar- einzubinden. Der Ausschuß sollte mehr Mut aufbrin- beitern des Ausschußdienstes zu danken. gen, sich direkt und, wenn nötig, auch persönlich, d. h. Bei allen Unzulänglichkeiten hat mir die Arbeit im durch Anhörungen, mit den Petenten auseinanderzu- Petitionsausschuß wertvolle Erfahrungen gebracht, setzen. Das wird sicherlich nicht immer erquicklich die ich nicht missen möchte. Im Ausschuß wie in vielen und häufig auch zeitraubend sein. Aber man sollte Gesprächen in meiner Bürgersprechstunde in Pots- dies nicht dem ohnehin schon überlasteten Ausschuß dam oder auch aus zahllosen Briefen habe ich viel dienst allein überlassen. über die drängenden Sorgen und Probleme der Ungehört blieb bisher auch der Vorschlag eines Bürgerinnen und Bürger erfahren. Ich bin auf viele Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund Dinge gestoßen worden, die mir sonst verborgen deutscher Länder. Danach sollte die Einbringung von geblieben wären. Ich bin dankbar für das Vertrauen Gesetzesinitiativen durch die Bürgerinnen und Bür- der vielen, vielen Menschen, die mir geschrieben ger selbst ermöglicht werden. Der Petitionsausschuß haben und die mir oft ihre privatesten und persönlich- wäre nach diesem Vorschlag verpflichtet, bei Einga- sten Wünsche, ihre Hoffnungen und Ängste anver- ben, die von mehr als 30 000 Stimmberechtigten traut haben. Ich bedaure nur, daß meine Zeit nicht unterzeichnet sind, die Petenten oder ihre Vertreter ausgereicht hat, um ihnen allen angemessen und anzuhören. ausführlich zu antworten. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe Darüber hinaus möchte ich erneut für die Einrich- und die mir geschrieben haben, sehen sich in unserem tung des Amtes eines starken, weisungsunabhängi- Land einer schlimmen Kälte, Brutalität, Erniedrigung gen Bürgerbeauftragten beim Deutschen Bundestag und Willkür ausgesetzt. Auch in vielen Petitionen werben. Ein solcher Beauftragter, ausgestattet mit wurde wieder deutlich, daß in nicht wenigen Kompetenz und ausreichendem Apparat, könnte die deutschen Amtsstuben offenbar noch immer der Effizienz des Petitionswesens steigern, die parlamen- bürgerferne Geist gnadenloser Gesetzesinterpreten tarische Kontrolle verbessern und dem Bürgerwillen herrscht. Es bedurfte in einigen Fällen jahrelanger besser gerecht werden. Vor allem aber wäre er dem Hartnäckigkeit des Petitionsausschusses — Sie alle Zwang von Fraktionen enthoben. erinnern sich an solche Fälle —, um Fairneß und Die mangelnde Wirkung des Petitionsausschusses Gerechtigkeit gegen selbstgerechte Vorgesetzte oder ist aber nicht nur eine Folge der verkrusteten Struk- Amtsleiter durchzusetzen. - turen. Gefragt sind im Ausschuß vor allem starke Im Vergleich zu den letzten Jahren haben sich Persönlichkeiten, die auch den Mut haben, gegen die weniger Menschen aus den ostdeutschen Bundeslän- Mehrheit der eigenen Fraktion zu entscheiden. dern an den Ausschuß gewandt. Manche Probleme scheinen in der Zwischenzeit gelöst. Viele Menschen Der Ausschuß gilt bisweilen als Übungsfeld für haben sich in der neuen Ordnung eingerichtet. Bundestagsneulinge, auf dem sie sich mit den Gepflo- Andere aber haben resigniert. Viele meiner ostdeut- genheiten der Ausschußarbeit dieses Parlaments ver- schen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind enttäuscht traut machen können. von der demokratischen Struktur, so wie sie sie (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das etwas vorgefunden haben. Auch das mag dazu beigetragen Schlechtes?) haben, daß sie sich nicht mehr an den Petitionsaus- schuß wenden. Ich habe viele ermutigt, sich mit ihren Ich würde mir wünschen, daß das, was im Petitions- Sorgen und Nöten an den Ausschuß zu wenden, und ausschuß wenigstens in Ansätzen passiert, nämlich, ich werde das auch weiterhin tun. fraktionsübergreifende Lösungen zu suchen, insge- samt im Bundestag Schule machte und daß die jungen Aber ich will nicht verschweigen, daß ich erhebliche und neuen Abgeordneten dies als positive Erfahrung habe. Zweifel an der Wirksamkeit des Petitionsrechts in ihre Parlamentsarbeit einbringen könnten. Leider Die Mängel scheinen mir vor allem strukturell aber waren solche fraktionsübergreifenden Problem- bedingt. Ich kann dem Petitionsausschuß bei allem lösungen die Ausnahme. guten Willen der dort engagierten Abgeordneten und Mitarbeiter nicht den Vorwurf ersparen, daß er in Als einziger Abgeordneter einer kleinen Opposi- seiner jetzigen Form nur ein Überdruckventil mit tionsgruppe mußte ich die ernüchternde Erfahrung 19692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Konrad Weiß (Berlin) machen, daß bei politisch brisanten Entscheidungen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile letztlich auch im Petitionsausschuß die betonierten nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Ruth Fuchs das Fraktionsstrukturen wirksam sind. Ich habe deshalb Wort. — nicht ganz ernst — vorgeschlagen, künftig im Petitionsausschuß der Opposi tion die Mehrheit zu (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! geben. Dr. Ruth Fuchs Meine Damen und Herren! Im Berichtszeitraum lei- Jahr für Jahr, meine lieben Kolleginnen und Kolle- stete der Petitionsausschuß zweifellos eine sehr große gen, beklagen wir uns zu Recht, daß die Bundesregie- Arbeit. Dabei war die sachkompetente, zuverlässige rung in vielen Fällen nur unzureichend oder gar nicht und fleißige Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitar- auf die Hinweise und Vorschläge des Petitionsaus- beiter die Grundvoraussetzung für die Arbeit der schusses reagiert. Aber machen wir uns nichts vor: Mit Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich möchte mich dem Parlament selbst steht es nicht viel besser. Viele deshalb für die erwiesene Hilfe herzlich bedanken. unserer Kollegen nehmen die Anliegen, die Bürgerin- Aus dem Bericht wird deutlich, daß die Entschei- nen und Bürger über uns an das Parlament heranbrin- dungen des Petitionsausschusses vielen Menschen gen, entweder überhaupt nicht wahr oder zuwenig geholfen haben, ihre persönlichen Probleme positiv ernst. zu lösen. Eine Vielzahl von Empfehlungen wird künf- tig Entscheidungen der Regierung und des Parla- Bei vielen gilt der Ausschuß als Strafbattaillon, das ments im Sinne der Petenten beeinflussen. nur viel Arbeit und Ärger macht, in dem aber kein parlamentarischer Lorbeer zu ernten ist. Ich wünschte Trotz dieser insgesamt guten Bilanz gibt es eine mir, daß es in Zukunft als Ehrentitel gilt, von der Reihe ungelöster, gesellschaftspolitisch relevanter Fraktion als Bürgerbeauftragter in den Petitionsaus- Probleme, die genügend Anlaß zum Nachdenken und schuß entsandt zu werden. auch zur Kritik geben. Die vom Petitionsausschuß auf Grund ganz unterschiedlicher Ursachen nicht gelö- Den Stellenwert des Ausschusses im Parlament sten Fragen haben meines Erachtens deshalb eine aufzuwerten kann aber nur gelingen, wenn der Peti- besondere Bedeutung, weil es der letzte Jahresbericht tionsausschuß bissiger wird und auch nach außen hin dieser Legislaturperiode ist. ausstrahlt. Dazu gehört eine regelmäßige Öffentlich- Im Bericht wird hervorgehoben, daß auch im dritten keitsarbeit. Vielleicht sollte der Ausschuß einmal im Jahr nach der Herstellung der Einheit die Arbeit des Vierteljahr den Kolleginnen und Kollegen im Plenum Ausschusses ganz wesentlich von deren Auswirkun- zu einer fernsehwirksamen Zeit über die aktuelle gen geprägt war. Be trachtet man den Inhalt der nicht Arbeit berichten, nicht nur einmal im Jahr. befriedigend gelösten Eingaben, so wird deutlich, daß Eine andere Möglichkeit wäre, bei Einwilligung der sich an dieser Schwerpunktbildung auch im weiteren betroffenen Bürgerinnen und Bürger interessante, kaum etwas ändern wird. vom Ausschuß bearbeitete Fälle in den Medien dar- Eine methodische Frage liegt mir in diesem Zusam- zustellen. Ich stelle mir gewissermaßen eine Fernseh- menhang besonders am Herzen. Die im Be richt ent- sendung nach dem Motto „Talk im Hochhaus" oder haltene Statistik zeigt eine stetig steigende Zahl von „Mittwoch früh bei Dr. Pfennig" vor. Massen- und Sammelpetitionen. Diese Tatsache, aber vor allem auch die dort angesprochenen Inhalte Es ist erfreulich, daß die Bundesregierung im erfordern ein neues Nachdenken zu dieser Petitions- Berichtszeitraum den Voten des Parlaments schneller form. In der Broschüre des Bundestages zum Pe titions- und intensiver gefolgt ist als in den Jahren zuvor. recht wird festgestellt, daß die Pe tition eines einzelnen Immer noch aber werden zu viele Fälle, die der nur ein individuelles Begehren beinhaltet, die Mas- Bundestag zur Berücksichtigung übersandt hat, zu sen- und Sammelpetitionen dagegen Themen zum schleppend oder ablehnend bearbeitet. Daß das eine Inhalt haben, die die Öffentlichkeit erregen und die grobe Mißachtung des Parlaments ist, sagen wir Jahr — meistens organisierte — Gruppen von Bürgern zum für Jahr. Gegenstand öffentlicher Diskussion machen wollen. Damit sich das ändert, sollte der Deutsche Bundes- Das stimmte für eine Vielzahl von Massen- und tag in seiner nächsten Legislaturperiode Instrumente Sammelpetitionen vor allem in der Vergangenheit. erarbeiten, um durch geeignete Sanktionsmittel sei- Seit der Vereinigung gibt es aber einen neuen Trend, nen Willen durchsetzen zu können. Dies gilt auch im und die aus der Broschüre zitierte Feststellung verliert Verhältnis zu den Fraktionen. immer mehr ihren Anspruch auf Allgemeingültig- keit. Auf den Punkt gebracht, meine Damen und Herren, Das Besondere an den Massen- und Sammelpetitio- lautet mein Fazit: Der Petitionsausschuß ist zwar im nen aus den neuen Bundesländern besteht vor allem Einzelfall hilfreich, bei politischen Entscheidungen darin, daß es sich hierbei meistens um Anliegen mit aber macht- und daher bedeutungslos. Dennoch ist arbeits- und sozialpolitischem Charakter handelt, die der Petitionsausschuß unverzichtbar. Ebenso unver- spürbar die Qualität des Lebensalltags sowie die zichtbar aber ist eine tiefgreifende Reform des Peti- Gestaltung der Lebenszukunft der einzelnen Bürger tionswesens, die weit über das hinausgehen muß, was direkt berühren. Das heißt, Einzelbegehren treten in auch in dieser Legislaturperiode wieder an kleinen diesen Fällen in 'einer solchen Häufigkeit auf, daß sie Fortschritten erzielt werden konnte. Formen von Massen- und Sammelpetitionen anneh- Ich danke Ihnen. men. Folglich geht es hier nicht so sehr um den Wunsch, öffentlich wichtige und interessante Themen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) in die politische Diskussion zu bringen, sondern um Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19693

Dr. Ruth Fuchs brennende soziale und arbeitspolitische Fragen, die Ich will in diesem Zusammenhang nicht über die im Interesse zu vieler Einzelpersonen einer dringen- juristischen Feinheiten sprechen, mir aber eine grund- den Lösung bedürfen. Dies sind Themen wie Renten, sätzliche Feststellung erlauben. Der zu DDR-Zeiten Mieten, Eigentum, soziale Grundsicherung sowie Pro- erfolgte massenhafte Erwerb von Grundstücken oder blemfelder, die mit der steigenden Arbeitslosigkeit der Wechsel von Besitzverhältnissen war nicht das aufs engste verknüpft sind. Ergebnis finsterer Machenschaften des einzelnen. Der überwiegende Teil der DDR-Bürger hat seinen Klein- So gesehen stimmt meiner Meinung nach die Fest- garten, sein Grundstück oder das Häuschen in Treu stellung nicht ganz, die Zahl der Peti tionen aus den und Glauben erworben oder von den Kommunen neuen Bundesländern sei zurückgegangen, sondern zugewiesen bekommen. Sie haben über Jahrzehnte unter diesem Aspekt ist sie meiner Meinung nach investiert, sich mit viel Fleiß, Entbehrungen und gestiegen. finanziellen Aufwendungen, ja auch mit Liebe einen Drei Problemfelder möchte ich herausgreifen, die ganz wesentlichen Lebensbereich geschaffen. Nun vom Petitionsausschuß nicht restlos geklärt werden kann ihnen das direkt, über den Eigenbedarf der konnten, obwohl die ersten Eingänge dazu schon vor Alteigentümer oder über eine nicht mehr bezahlbare mehreren Jahren erfolgten. Pacht, verlorengehen. Anstatt zu schlichten und nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen, bestraft der Das erste Problem ist das Problem der Überleitung Gesetzgeber den kleinen Mann für die nun einmal so der Renten und Anwartschaften in den neuen Bundes- und nicht anders abgelaufene deutsche Nachkriegs- ländern. Wie im Bericht festgestellt wird, konnte den geschichte. Das ist der wesentliche Kern dieses Pro- hierzu vorliegenden Beschwerden durch das Renten- blems. überleitungs-Ergänzungsgesetz nur teilweise ent- Die beim Petitionsausschuß eingehenden Bürger- sprochen werden. Wir verschließen keinesfalls die begehren werden zu Recht mit einem Seismographen Augen vor bereits vorhandenen positiven Rentenre- für politische und soziale Befindlichkeiten der Bürger gelungen. Aber: Die von uns wiederholt angesproche- verglichen. nen halbherzigen, zum Teil unbef riedigenden, ja für zu viele Betroffene untragbaren Festlegungen bleiben Aus dieser Sicht abschließend folgende Bemer- als gesellschaftlich relevantes Problem bestehen. Die kung: Es liegen eine große Zahl von Massen- und dazu in großer Zahl vorliegenden Peti tionen können Sammelpetitionen vor, die zum Handeln und Wider- wir nicht vom Tisch wischen, und weitere werden stand gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeind- folgen, denn sie betreffen die soziale Befindlichkeit lichkeit auffordern, sowie solche, die sich gegen Tausender Bürgerinnen und Bürger in den neuen jegliche Form der Diskriminierung behinderter Men- Bundesländern. schen wenden. In beiden Fällen geht es um Grund- werte einer demokratischen Gesellschaft, um (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Menschlichkeit, Toleranz, Solidarität, ja auch um Nächstenliebe. Mögen diese Werte der Ausgangs- Das zweite Problem sind die vielschichtigen Eigen- punkt für all unsere Überlegungen und Entscheidun- tumsfragen in den neuen Bundesländern. Ein gen zu den laufenden und kommenden Eingaben der Abschnitt des Berichts befaßt sich mit der De-facto- Bürger sein. Bestätigung der in den ostdeutschen Ländern nach dem Krieg durchgeführten Bodenreform, eine zu- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. nächst erfreuliche Tatsache. In diesem Zusammen- (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der CDU/ hang möchte ich nachdrücklich betonen: Es war nicht CSU, der F.D.P. und der SPD) eine „sogenannte Bodenreform", wie es im Bericht leider formuliert wird, sondern es war eine rechtsgül- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile tige Bodenreform im Interesse landarmer Bauern und nunmehr dem Abgeordneten Mar tin Göttsching das Tausender Umsiedlerfamilien. Wort. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Martin Göttsching (CDU/CSU): Herr Präsident! Mit der gestern in der Regierungskoalition erreich- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der großen Zahl ten Einigung über einen möglichen Rückkauf von von Einzelfällen und Sammeleingaben kann natürlich einst enteignetem Land zu Billigpreisen werden die dieser Bericht, über den wir heute „vor vollem Haus" Ergebnisse der Nachkriegs-Bodenreform jedoch aus- diskutieren, nur exemplarische Fälle behandeln und gehebelt. Die ersten Proteste aus allen politischen auch manche Schwerpunkte aufzeigen. Er macht Parteien liegen bereits vor, Massenpetitionen gegen natürlich deutlich, wo den Bürger der Schuh drückt das geplante Gesetz sind vorprogrammiert. und wo Hilfe verlangt wird. Ein weiteres, zum Teil noch offenes und sozial Kein Ausschuß in diesem Hohen Hause ist daher brisantes Themenfeld ist das Eigentum bzw. Nut- mehr geeignet, uns unmittelbar zu zeigen, wo wir, der zungsrecht an Häusern, Grundstücken und Kleingär- Gesetzgeber also, im Regelwerk, beim Erstellen der ten. Das geltende Prinzip „Rückgabe vor Entschädi- Gesetze Fehler gemacht und Lücken gelassen gung" schafft hier weiterhin neue menschliche Tragö- haben. dien. Auch dort, wo die Eigentumsfrage so nicht steht, Vor diesem Hintergrund bedauere ich natürlich ein bleibt trotz der Verabschiedung einiger neuer gesetz- wenig, daß die Medien nur durch einen klickenden licher Regelungen für viele ostdeutsche Familien die Fotografen vertreten sind und daß der Petitionsaus- bange Frage nach der Bezahlbarkeit ihrer Grund- schuß auch ansonsten sehr wenig Interesse in der stücke und Kleingärten. Öffentlichkeit findet, obwohl wir uns gerade im ver- 19694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Martin Göttsching gangenen Jahr bemüht haben, öffentlichkeitswirksa- mit mehreren tausend Mark verschuldet, und es drohe mer zu arbeiten. So wurde ein neues Faltblatt erstellt, ihr, zum Sozialfall zu werden. auf dem der hohe Vorsitzende gut ge troffen ist. In Der Petitionsausschuß war der Auffassung, daß diesem Zusammenhang sage ich ihm Dank für seine Fälle dieser Art geeignet seien, entsprechende Vor- geschickte Führung des Ausschusses. schriften zu überdenken; wissend, daß grundsätzlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — familiäre Unterhaltspflicht nicht ersatzlos wegfallen Zuruf von der CDU/CSU: Das habe ich schon kann. Wir haben dies der Bundesregierung zur Erwä- lange bei mir im Wahlkreis gemacht!) gung überwiesen, nicht wissend, wie die Bundesre- gierung nun auf diesen Erwägungsbeschluß rea- — Sehr gut. — Aber auch bei Messen und anderen giert. Anlässen war der Petitionsausschuß durch Mitarbeiter Ein Letztes möchte ich sagen, obwohl ich gerne die des Ausschußdienstes sowie durch eine ganze Anzahl eine Minute meines hohen Vorsitzenden, Gero Pf en- von Kolleginnen und Kollegen, die in sitzungsfreien nig, übernommen hätte, aber das hat das Präsidium Wochen bei den entsprechenden Messen gewesen nicht gewollt: Es gibt neben den vielen ernsten sind, vertreten. Dingen auch manches Erheiternde und Kuriose im Wir befassen uns im Ausschuß ganz einfach, Briefkasten des Petitionsausschusses. Wenn z. B. ein schlicht und ergreifend mit den großen und kleinen Bürger eine Petition schickt und Überlegungen Sorgen der Hilfesuchenden in unserem Land. Das tun anstellt, den 2 700 m hohen Watzmann in die Sahara wir in 85 % der Fälle einvernehmlich zwischen den zu verlagern, und das damit begründet, daß in der Fraktionen. Sahara dadurch saftige Wiesen entstehen könnten, und wenn dieser Petent gleichzeitig hin und her Der vorliegende Be richt zeigt, daß der Ausschuß überlegt, ob er sein Anliegen als Bitte oder nicht immer helfen konnte. Mancher Petent mußte Beschwerde formulieren soll, dann nehmen wir dies enttäuscht werden. Oft hat sich aber auch ein guter zur Kenntnis, und die Mitarbeiter des Ausschußdien- Rat oder das richtige Verständnis für ein vorgebrach- stes reagieren im gleichen Duktus, nämlich daß sie es tes Anliegen als brauchbare Hilfe erwiesen. Insge- zwar auch gerne sähen, daß in der Sahara blühende samt, meine ich, kann der Ausschuß eine positive Wiesen seien, böten aber eher einen der herrenlosen Bilanz ziehen. In mehr als der Hälfte aller Fälle konnte Eisberge im Nordatlantik an, um dort blühende Wie- im vergangenen Jahr den Petenten durch Rat oder sen zu erhalten. einen Hinweis geholfen werden. In nahezu 10 % der Ein Letztes: Sie wissen, meine Damen und Herren, Fälle ist dem Anliegen der Petenten entsprochen der Dank ist dünn gesät. Friedrich Schiller läßt seinen worden. Don Carlos nicht ohne Grund sagen: Was ist vergeß- Auf einige Einzelprobleme möchte ich hinweisen. licher als Dankbarkeit? Dessen eingedenk möchte ich Da ist nach wie vor das, was im Zusammenhang mit den Mitarbeitern des Ausschußdienstes auch namens der deutschen Einheit unter dem Stichwort „offene meiner Fraktion ganz herzlich danken, ganz beson- Vermögensfragen" an uns herangetragen wird, ders denjenigen, die in stiller Kleinarbeit, kontinuier- wobei ich jetzt im besonderen auf die Zeit zwischen lich und ohne sich in den Vordergrund zu stellen, 1945 und 1949 hinweise, für die die Rückübertragung Hervorragendes geleistet haben. Das wird von uns ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Eine Viel- allen viel zu oft vergessen und verdient deshalb um so zahl von Petenten hat bei uns an dieser Stelle um Hilfe mehr, heute gewürdigt zu werden. nachgesucht. Tatsächlich war der Fortbestand der von Ich denke, daß auch gerade durch diese oft mühe- der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführten volle Kleinarbeit der Ausschuß dazu beigetragen hat, Bodenreform nach den Verlautbarungen der Bundes- Staatsverdrossenheit abzubauen und das Vertrauen regierung eine unumstößliche Bedingung der Sowjet- der Bürgerinnen und Bürger zum Staat und zu seinen union für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit. Sie Institutionen zu festigen. wollte die unter ihrer Oberhoheit durchgeführten (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Maßnahmen nicht nachträglich wieder zur Disposi- SPD) tion gestellt wissen.

Die Eingaben, die wir in dieser Sache erhielten, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- befaßten sich natürlich damit, daß sie der Bundesre- lege Göttsching, wenn Sie gleich Ihr Protokoll zur gierung vorwarfen, sie, die Bundesregierung, hätte Korrektur erhalten, dann überlegen Sie einmal, ob Sie dem Bundestag und auch dem Bundesverfassungsge- die Worte „volles Haus" durch die Worte „volle richt, das angerufen worden ist, nicht wahrheitsgetreu Regierungsbank " ersetzen, denn das ist ausnahms- berichtet. Wir waren einer anderen Meinung und weise der Fall. haben empfohlen, das Petitionsverfahren abzuschlie- ßen. (Heiterkeit) Ich möchte nunmehr die Abgeordnete B rigitte Ein Zweites aus dem Bereich des Sozialen, wo wir Lange bitten, das Wort zu ergreifen. eine Eingabe erhielten, daß eine Petentin für ihre Mutter und ihren Vater monatlich mehrere hundert Mark an das Sozialamt zahlen müsse. Sie selbst habe Brigitte Lange (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, sei mit 17 aus ginnen und Kollegen! Meinen Beitrag beginne ich mit dem Haus ausgeschlossen worden, und ihre Eltern der Darstellung des Ablaufs unserer Petitionsaus- hätten ihr Vermögen in Spielbanken verloren und schußsitzung heute morgen, die mir immer noch in seien nun Sozialhilfeempfänger. Sie selbst habe sich den Gliedern steckt. Was wir da erlebten, ist nicht die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19695

Brigitte Lange Regel, sondern die Ausnahme — Gott sei Dank —, ein Petitionsausschuß als Anwalt des Volkes versteht. Lehrstück dafür, wie man weder mit einer Peti tion Anwalt des Volkes zu sein eint uns über alle Fraktions- noch den Petenten — immerhin haben 11 000 unter- grenzen hinweg, wenn es um Verstöße gegen gelten- schrieben —, noch dem Thema und auch nicht mit des Recht, um starre oder sture Auslegung oder dem Ausschuß umgehen sollte. Handhabung geht. Die wegen einer unzureichenden Antwort ihres Hauses geladene Ministerin hatte offensichtlich nicht Froh war ich über eine gemeinsam beschlossene die Bedeutung des Begriffes „Erwägung" und den Empfehlung für eine Novellierung des Personen- Auftrag, der damit verbunden ist, realisiert, nämlich standsrechts, die ermöglicht, totgeborene Kinder mit nicht zu sagen, was nicht geht, sondern zu sagen, was Namen in das Sterbebuch einzutragen und damit den geht, eine Lösung vorzuschlagen. So wiederholte sie trauernden Eltern zu helfen. Eine weitere Bitte dieser vor unseren ungläubigen Augen und sich sträuben- Eltern konnte bereits umgesetzt werden. Die seit April den Ohren in wortreichen Pirouetten, immer um den dieses Jahres gültige Fassung der Personenstandsver- Kern des Problems herum, den bereits abgelehnten ordnung ermöglicht Eltern durch eine Änderung der Tenor Ihrer Stellungnahme, frei nach der Maxime: Abgrenzungsdefinition zwischen Fehlgeburt und Tot- Das Problem ist zwar erkannt, aber nicht vorhanden, geburt einen erweiterten Anspruch auf Bestattung denn erstens ist es gesetzlich geregelt, und zweitens, ihrer totgeborenen Kinder. wenn Richter andere Auslegungen treffen, dann kann nicht sein, was nicht sein darf, weil es ja — siehe Die Einmütigkeit anwaltlicher Tätigkeit zerbricht Satz 1 — gesetzlich geregelt ist. Im übrigen wurde begreiflicherweise bei unterschiedlichen Auffassun- dem Ausschuß schriftlich wie auch mündlich klarge- gen von Regierungskoalition und Opposition über macht, daß sein Lösungsvorschlag nichts tauge. Forderungen der Petenten. Wenn aber Peti tionen Das zornige Murren des Ausschusses und seines Gradmesser für gesellschaftliche Entwicklungen, vor Vorsitzenden war, wenn auch höflich gebremst, allen Dingen auch für Fehlentwicklungen sind, unüberhörbar. Wir waren weder mit der formalen müßte, denke ich, die Mehrheit des Parlaments und Behandlung noch mit dem Sachverhalt zufrieden, die Bundesregierung nicht nur in der Frage des ging es doch um das sogenannte Flensburger Urteil, Behindertenrechts, sondern auch auf die offensichtli- das Frau Homburger hier bereits erläutert hat, ein chen Mißstände im Sozialbereich anders reagieren. Urteil, was zu Recht breite Empörung auslöste und Dazu gab es mit Abstand die meisten Eingaben. Über zum Gegenstand dieser Sammelpetition mit den rund 37 000 Petenten beschwerten sich in Sammelpetitio- 11 000 Unterschriften wurde. Der Ausschuß stellte nen über Einsparung, Kürzung, Verschlechterung bei eindeutig klar, daß die verfassungsrechtliche Garan- Kündigungsschutz, BSHG, bei ABM, Fortbildung und tie der Menschenwürde uneingeschränkt auch für Umschulung, bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe. behinderte Mitbürgerinnen und Mitbürger gelte, und Auch über Pe titionen können Familien im internatio- verlangt Abhilfe. Die Ministerin wird noch einmal nalen Jahr der Familie weder Gerechtigkeit, schon gar nachdenken müssen. nicht Förderung erwarten, weder beim Kindergeld noch beim Erziehungsgeld, weder beim BAföG noch Die SPD-Fraktion sieht sich hingegen in ihrer Auf- bei der Alterssicherung für Frauen. Die anschaulich fassung bestätigt, daß hier Regelungen in einzelnen geschilderten beklemmenden Lebenswirklichkeiten Gesetzen nicht ausreichen. Die Ausführungen heute in diesen Petitionen wurden sicher von allen Mitglie- morgen waren ein einziges Plädoyer, wenn auch ein dern des Petitionsausschusses aufmerksam gelesen, ungewolltes, für die Forderung unserer Fraktion nach aber die Bitten wurden gegen unser Votum mehrheit- einer Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes, wie sie lich abgelehnt. Hier zeigt sich die Grenze der Mitwir- in der Gemeinsamen Verfassungskommission einge- kungsmöglichkeit von Bürgerinnen und Bürgern über bracht wurde: Niemand darf wegen seiner Behinde- Petitionen. Der oftmals von allen Mitgliedern gelei- rung benachteiligt werden. stete Brückenschlag zwischen Recht und Gerechtig- So möchte ich diese Ausschußsitzung heute morgen keit ist hier nicht mehr leistbar. noch einmal zum Anlaß nehmen, wie auch die Aktu- elle Stunde, die wir heute erlebt haben, an die Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Arbeit im Koalitionsfraktionen eindringlich zu appellieren, die- Petitionsausschuß hinaus, denke ich, sind wir alle, ser Grundgesetzänderung endlich zuzustimmen Regierungsfraktionen, auch die Regierung und die Opposition, gut beraten, wenn wir die in den Petitio- (Beifall bei der SPD) nen gespiegelte Wirklichkeit beachten und in unsere und damit ein Zeichen der Solidarität zu setzen, des Entscheidungen ernsthaft prüfend einbeziehen. Miteinanders und Füreinanders, wie es uns die Behin- dertenverbände anbieten, gerade in dieser Zeit. Zum Schluß schließe ich mich wie alle meine Petitionen sind für uns Bitten oder Beschwerden, Vorrednerinnen — nicht weil es ein Ritual ist, sondern sind Hilferufe gegen vermeintliche oder tatsächliche weil es mir wich tig ist — der Beurteilung unserer Übermacht von Behörden, geben Hinweise auf reali- guten Zusammenarbeit im Ausschuß an. Sie ist kolle- tätsfremde Verordnungen oder Gesetze, kritisieren gial. Ich denke, das hängt nicht zuletzt von der Mißstände, vermitteln uns Denkanstöße. Das grund- souveränen und fairen Verhandlungsführung von gesetzlich verbriefte Recht auf Petitionen ist für Bür- Dr. Pfennig ab, dem ich ebenso wie meinen Kollegin- gerinnen und Bürger ein wichtiges Element demokra- nen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit und tischer Einmischung und Beteiligung, ein mittelbares dem Ausschußdienst für seine Hilfe und Unterstüt- freilich. Das wird auch daran deutlich, daß sich der zung danke. 19696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Brigitte Lange Danke. Das Ergebnis der parlamentarischen Prüfung ergab: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Nach § 18 des BAföG wird einem Darlehensnehmer F.D.P. und der PDS/Linke Liste) auf Antrag das BAföG-Darlehen in Höhe der monatli- chen Rückzahlungsrate erlassen, wenn dieser ein Kind bis zu 10 Jahren pflegt und erzieht und er nicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort oder nur unwesentlich erwerbstätig ist. hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttma- cher. Sinn des Kinderteilerlasses nach dieser Regelung des BAföG ist es, einem Elternteil die Rückzahlung des BAföG-Darlehens für den Fall zu erleichtern, in Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Sehr geehrter dem er sich der Erziehung und Betreuung eines Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Kindes widmet und dafür die Erwerbstätigkeit aufgibt Herren! In der Regionalpresse bei uns hieß es: Peti- oder zumindest ganz erheblich einschränkt. tionsausschuß, der Kummerkasten der Nation. Ich glaube, für die Kollegen, aber auch für die Mitarbeiter Die Regelung des BAföG über den Teilerlaß wegen des Petitionsausschusses, die sich täglich mit kleinen Kinderbetreuung wurde durch das 6. BAföG-Ände- Problemen unserer Menschen zu beschäftigen haben, rungsgesetz auf Vorschlag des Bundesrates in das ist da etwas dran. Auch ich sage ihnen hier im voraus Gesetz eingefügt. Dabei vermag die Regelung des den allerherzlichsten Dank für diese außerordentlich Kinderteilerlasses weder die wirtschaftlichen Folgen konstruktive Zusammenarbeit. eines Verzichtes auf die Erwerbstätigkeit noch die Beeinträchtigung von beruflichen Chancen durch Nach den Verfahrensgrundsätzen des Petitionsaus- eine längere Erwerbstätigkeitspause auszugleichen. schusses wurden im Jahr 1993 der Bundesregierung Vielmehr sollte diese Norm dem Darlehensnehmer 19 Petitionen zur Berücksichtigung und 207 Petitionen nur Anreiz sein, sich vorübergehend aus dem -zur Erwägung übergeben. Die Berücksichtigungs Erwerbsleben zurückzuziehen, um sich in verstärk- und Erwägungsbeschlüsse haben eine ganz beson- tem Maße der Kindererziehung zu widmen. Das heißt: dere Bedeutung. Ein Beschluß, die Petition der Bun- Nach dem Zweck der Regelung kommt es für die desregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, ist Inanspruchnahme des Kinderteilerlasses wesentlich ein Ersuchen des Deutschen Bundestages an die auf den geringeren Umfang der Erwerbstätigkeit Bundesregierung, dem Anliegen des Petenten zu an. entsprechen. Lautet der Beschluß, die Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen, so Diese Regelung führte jedoch zu einer erheblichen handelt es sich dabei um ein Ersuchen des Deutschen Benachteiligung von alleinstehenden Frauen, die Bundestages an die Bundesregierung, das Anliegen zusätzlich zur Kindererziehung durch Erwerbstätig- des Petenten noch einmal zu überprüfen und nach keit den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen. Auf diesen sichern müssen. Eine solche Frau wird gegenüber der zweiten Fall möchte ich mich mit einer Petition verheirateten Mutter, deren Lebensunterhalt durch beziehen. den Ehemann gesichert wird, deutlich benachtei- Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für ligt. Bildung und Wissenschaft be trafen die im Berichts- § 18 des BAföG führt dazu, daß im wesentlichen zeitraum eingegangenen 212 Eingaben besonders die ungleiche Sachverhalte ohne eine notwendige Diffe- Ablehnung von Förderungsleistungen sowie die renzierung gleichbehandelt werden. Das ist darauf Rückzahlung von Darlehen nach dem Bundesausbil- zurückzuführen, daß bei der Einführung des eben dungsförderungsgesetz. genannten § 18 des BAföG die Rolle der Ehefrau Mehrere Petitionen hatten die Frage der Einkom- traditionell überbewertet wurde, die neben ihrer Kin- -mensfreigrenzen bei der Rückzahlung von BAföG derbetreuung lediglich „unwesentlich erwerbstätig" Darlehen zum Inhalt. Alleinerziehende beklagten in sein durfte. diesem Zusammenhang die fehlende Berücksichti- Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, daß die gung von Kinderbetreuungskosten bei der Berech- besonders schwierige Situation der alleinerziehenden nung der Einkommensgrenzen. Frau nicht berücksichtigt wurde. Obwohl alleinerzie- Eine sehr beeindruckende Petition, die sich gegen hende Mütter und Väter in der Gegenwart zum die Regelung des Darlehensteilerlasses wegen Kin- normalen Erscheinungsbild unserer Gesellschaft ge- dererziehung bei der BAföG-Rückzahlung richtet, hören, läßt das BAföG diese Elternteile, die es doppelt hielt der Petitionsausschuß für besonders geeignet, sie so schwer haben, unberücksichtigt. der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Der Hinweis des Bundesministeriums für Bildung Die Petentin, alleinstehende Mutter mit drei Kindern, erhielt in der Vergangenheit ein Darlehen nach dem und Wissenschaft, daß das Bundesausbildungsförde- BAföG und anschließend einen Bescheid für die rungsgesetz ein Massenleistungsgesetz darstelle, das Rückzahlung dieses Darlehens. Hiergegen legte sie notwendigerweise auf pauschalierte Regelungen wie z. B. eine einheitlich festgesetzte Rückzahlungsmin- Widerspruch mit der Begründung ein, ihr Verdienst sei rund 1 500 DM netto, und sie sei nicht in der Lage, destrate angewiesen sei, ist demgegenüber nicht mit drei Kindern 200 DM im Monat für die BAföG- überzeugend. Es widerspricht sowohl dem Rechts- staatsprinzip als auch dem Sozialstaatsprinzip, nicht Rückzahlung abzuzweigen. Es sei nicht einzusehen, auf die wirtschaft so meinte sie, weshalb eine Frau, die kinderlos sei, liche Situation des einzelnen Darle- ihren Universitätsabschluß gemacht hat und ungefähr hensnehmers Rücksicht zu nehmen. 8 000 DM verdient, ebenfalls nur 200 DM zurückzah- Daher hielt der Petitionsausschuß diese Eingabe für len müsse. geeignet, sie der Bundesregierung, dem Bundesmini- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19697

Dr. Karlheinz Guttmacher sterium für Bildung und Wissenschaft, zur Erwägung Allerdings konnte es nicht Aufgabe des Petitions- zu überweisen. ausschusses sein, die Forderungen des Petenten nach An dieser Stelle wäre es für die Mitglieder des Erlaß der Nachzahlung zu unterstützen. Hier gab es Petitionsausschusses von Interesse zu wissen, daß die klare rechtliche Vorgaben, die zu erfüllen waren. der Bundesregierung zur Erwägung übergebenen Überhaupt ist die strikte Beachtung rechtlicher Petitionen zu einer Veränderung des Gesetzes und Vorschriften auch in menschlichen Notlagen der damit zur Berücksichtigung des Anliegens des Peten- schwierigste Teil der Arbeit des Petitionsausschusses. ten führen. Manchmal sieht man, daß Menschen auf Grund beste- Auf die Zeit, die die Ministerien derzeit benötigen, hender Stichtagsregelungen oder wegen Ausschluß um die Petitionen, die als Erwägung bzw. zur Berück- gründen einen Nachteil erleiden. Aber der Petitions- sichtigung überwiesen worden sind, zu bearbeiten, ausschuß kann hier keine Verschiebung befürworten, hat der Vorsitzende unseres Ausschusses hingewie- weil dies nur neue Problemgruppen schafft. Aller- sen. dings kann der Ausschuß manchmal besser als die Ich danke Ihnen. vielbeschäftigten Behörden menschliche Aspekte und soziale Zwangslagen einbeziehen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Dies gelang z. B. bei einer Petition, die sich auf die Regelung bezog, dritte Söhne nicht zum Bund einzu- ziehen. Hier war die Anwendbarkeit der Regelung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort scheinbar nicht möglich, da der erste der drei Söhne hat nunmehr der Abgeordnete Franz Romer. nur etwas über ein Jahr Dienst getan hatte — es fehlten nur wenige Wochen bis zur Beendigung des Wehrdienstes —, bevor er anschließend in ein Prie- Franz Romer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der vorliegende Jahresbe- sterseminar wechselte. Die Wehrdienstzeit betrug richt „Petitionen 1993" ist ein erneuter Beweis dafür, damals 15 Monate; deshalb wurde die Wehrdienstzeit wie sehr der Einigungsprozeß die Lebensbedingun- nicht angerechnet. Dieser Sohn aber hätte als zukünf- gen der Menschen in ganz Deutschland beeinflußt. tiger Priester den Wehrdienst gar nicht ableisten müssen. Zwar hat die Gesamtzahl nachgelassen, dennoch sind es im Verhältnis wesentlich mehr Eingaben aus Hier konnte der Ausschuß zum einen das Ministe- den neuen Ländern, die den Ausschuß beschäftigen. rium überzeugen, die Einziehung des dritten Sohnes Fast ein Viertel aller Petitionen aus ganz Deutschland bis zu dessen Ausbildungsende auszusetzen. Zum gehörte 1993 zum Geschäftsbereich des Bundesmini- anderen führte die Petition zu einer noch engeren sters für Arbeit und Sozialordnung, der auch einen Zusammenarbeit zwischen Kreiswehrersatzämtern Großteil meiner Berichterstattungen ausmachte. und Bundeswehreinheiten, um auf die Bel ange der Wehrdienstpflichtigen besser eingehen zu können. So manches notwendig gewordene Gesetz hat Här- Die Arbeit des Ausschusses ermöglicht es also, nicht mit sich gebracht, die bei der Abfassung des ten nur einen Ausgleich zwischen den Interessen des Gesetzes oft nicht erkennbar waren: Stichtagsrege- Petenten und den Ansprüchen des Staates herzustel- lungen, Ausschlußfristen und andere komplizierte len, sondern auch hier wieder eine Verbesserung der Bestimmungen sind für den einzelnen schwer durch- Dienstleistungen anzuregen. schaubar. Dann wird die unterschiedliche Behand- lung von Fällen, die äußerlich gleich zu sein scheinen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ich schon nicht verstanden. erwähnte, kann die Aufgabe des Ausschusses nicht darin bestehen, durch Aussetzen oder Verlagerung Hier ist es wichtig, daß die Bürger die Möglichkeit von Ausschlußregelungen neue Unsicherheiten und haben, eine scheinbare Ungerechtigkeit durch den Problemgruppen zu schaffen. Das führt bei den Betrof- Petitionsausschuß prüfen zu lassen. Das heißt nicht, - fenen manchmal zur Enttäuschung, ist aber nicht zu daß sich der Ausschuß als Einrichtung zur Kritik und vermeiden. Kontrolle der Behördenarbeit versteht. Die Überprü- fung eines Vorgangs durch den Petitionsausschuß Doch es gibt auch Petitionen, in denen der Ausschuß hilft aber den Petenten, auch rechtliche Vorschriften guten Gewissens trotz Rechtsvorgaben im Einzelfall zu akzeptieren. Außerdem bietet sich tatsächlich die ein anderes Vorgehen anregen kann. So hat ein Möglichkeit, Lücken und Fehlerquellen an Hand Kraftfahrzeugmechaniker, der aus gesundheitlichen eines konkreten Beispiels zu entdecken. Gründen umschulen wollte, den Petitionsausschuß So forderte z. B. eine Petition die bessere Informa- angerufen. Das Arbeitsamt hatte die Umschulung tion bei der Gründung von Unternehmen über deren nicht finanziert, weil er nach dem ärztlichen Untersu- Beitragspflicht gegenüber den Sozialkassen. Bei der chungsergebnis auch in seinem alten Beruf hätte Prüfung stellte sich heraus, daß einige Jungunterneh- weiterarbeiten können. Dies war korrekt und wurde mer sehr schlechte Erfahrungen mit plötzlichen Nach- vom Ausschuß nicht beanstandet. forderungen gemacht hatten. Die Petition wurde dem Aber man hat ihm das Arbeitslosengeld für die Zeit Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung als der Umschulungsmaßnahme verweigert, da er dem Material überwiesen, um bei der Ausarbeitung eines Arbeitsmarkt ja nicht zur Verfügung stand. Auch dies besseren Informationsverfahrens zu helfen. Der Peti- war formal korrekt, wurde aber vom Petitionsaus- tionsausschuß, das Bundesministerium und die Bun- schuß nicht akzeptiert. Schließlich sollte der Petent desanstalt für Arbeit arbeiteten also zusammen, um nicht auch noch dafür bestraft werden, daß er in einen verbesserten Se rvice für den Bürger zu schaf- eigener Initiative eine Umschulung begonnen hatte. fen. Auf Grund der besonderen Umstände wurde die 19698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Franz Romer Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung Jetzt bin ich so weit, mich an den Petitionsausschuß des Arbeitslosengeldes überwiesen. des Deutschen Bundestages zu wenden, um mir wie in Meine Damen und Herren, wir wollen nicht Behör- den Fällen, die wir in den Jahresbericht aufgenom- den kritisieren oder geltendes Recht übergehen. Wir men haben, helfen zu lassen. können aber das tun, was die Behörden auf Grund (Heiterkeit — Beifall bei der SPD, der CDU/ ihrer Arbeitsüberlastung gar nicht selbst erfüllen CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste — können: alle persönlichen Rahmenbedingungen ge- Zuruf von der PDS/Linke Liste: Das kann genüber den gesetzlichen Vorschriften abwägen. nicht wahr sein!) Daher trägt der Petitionsausschuß auch dazu bei, daß die Demokratie in unserem Land lebendig bleibt. Das ist eine der Auswirkungen in den neuen Län- dern — etwas kurios, aber für m anche Betroffene Die Bürger wenden sich mit ihren Bitten und ziemlich massiv. Wir haben jetzt end lich mehr Tele- Beschwerden an uns. Sie vertrauen darauf, daß ihnen fone, aber damit auch die entsprechenden Pro- der Ausschuß unvoreingenommen hilft. Das beweist, bleme. daß die Bürger mehr Vertrauen in die demokratischen Einrichtungen haben, als manche Kritiker glauben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Auswirkun- Auch wenn wir nicht immer helfen können: Die Arbeit gen der deutschen Einheit prägten auch in diesem des Petitionsausschusses trägt dazu bei, Politikver- Jahr ganz wesentlich die Arbeit des Petitionsaus- drossenheit wirkungsvoll zu bekämpfen. schusses. Die Anzahl der Petitionen aus den neuen Ländern liegt mit 367 pro einer Million Einwohner im Ich bin froh, daß alle Kollegen im Ausschuß die Vergleich zu 213 pro einer Million Einwohner in den konkrete Problemlösung in den Vordergrund stellen alten Bundesländern wesentlich höher. Diese Zahl und die parteipolitischen Hintergründe so weit wie macht deutlich, daß noch viel Arbeit in die deutsche möglich außen vor lassen. Ich bedanke mich dafür bei Einheit investiert werden muß. allen Ausschußmitgliedern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ein Hauptthema aus den neuen Ländern ist die Umbewertung der Renten bzw. die Rentenneube- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der rechnung seit dem 1. Januar 1992. Zu diesem Zeit- SPD) punkt sollten die Renten neu berechnet werden. Aber noch heute gibt es Rentnerinnen und Rentner, die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr keinen gültigen Rentenbescheid haben und von hat die Abgeordnete Ch ristel Hanewinckel das einem Vorschuß leben. Denen, die den Petitionsaus- Wort. schuß eingeschaltet haben, konnte geholfen wer- den. Stellvertretend für die vielen ein Beispiel. Eine Christel Hanewinckel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich werde jetzt den Bürgerin in Brandenburg bekommt statt der ihr zuste- Reigen beschließen. Im Jahresbericht des Peti tions- henden Rente nur einen Vorschuß, weil sie noch nicht ausschusses ist ein Thema überraschend breit vertre- endgültig errechnet ist. Aber die BfA forde rt von den gezahlten Vorschüssen nach vier Monaten Vorschuß- ten: überhöhte Fernmeldegebühren und, damit gekoppelt, bei Beschwerden ein ziemlich eigenartiges zahlungen 6 300 DM als überbezahlte Rente zurück Reagieren der Telekom. Ich rede heute hier zu Ihnen und bucht das gleich von ihrem Konto ab. Die Petentin als Mehrfachbetroffene: als Mitglied des Petitionsaus- beschwert sich. Trotz mündlicher Nachfragen bei der schusses, wohnhaft in den neuen Ländern, als stolze BfA und zweier Schreiben Anfang 1993 mit der Bitte, Besitzerin eines Telefon- und Telefaxanschlusses und schneller zu reagieren, bekommt sie keine Antwort. als Telekom-Geschädigte. Sie wendet sich an den Petitionsausschuß. Nach Installation eines Faxgeräts vom Deutschen Der Petitionsausschuß veranlaßte eine Überprü- Bundestag im Bürgerbüro 1991 zog die Telekom per fung durch das Bundesversicherungsamt. Etwa einen Lastschrift, der ich nie zugestimmt hatte, von meinem Monat später berichtete das BVA, daß die Rentenbe- Konto für vier Wochen Nutzung einen Be trag von rechnung zwischenzeitlich veranlaßt worden ist und 10 999 DM ein. Nach vielen Mühen, Telefonieren und die Petentin ab Mai 1993 monatlich 1 160 DM, also fast Schreiben wurde endlich geklärt, daß das wohl nicht das Doppelte von dem, was sie als Vorschuß hatte, ganz stimmen könne, und die Summe kam zurück, bis bekomme. Das, was ihr zwischenzeitlich abgezogen auf 400 DM. Auch die habe ich inzwischen wieder. wurde, hat sie zurückbekommen. In diesem Fa ll konnte, nach einem Jahr und fünf Monaten, dem Für das Bürgerbüro hatte ich einen Telefonanschluß Anliegen der Petentin also voll entsprochen wer- beantragt; zwei wurden gelegt. Ich reklamierte sofort. den. Ich bekam trotzdem Rechnungen für die Grundge- bühr und Gebühren für Gespräche, die nie geführt In einem anderen Fall bekam ein Petent, der seine worden sind. Seit April 1992 habe ich es schriftlich, Rente ordnungsgemäß für Dezember 1992 beantragt daß ich mit dem Anschluß nichts mehr zu tun habe, hatte, nicht einmal eine Vorschußzahlung. Durch das bekam aber weiterhin die Rechnung. Eingreifen des Petitionsausschusses konnte auch die- Telefonisch teilte ich mit, daß ich die Rechnungen ser Fall im Juli 1993 zur Zufriedenheit des Petenten nicht bezahle, zumal der Anschluß inzwischen abge- gelöst werden. klemmt worden ist. Das Ganze ist nun zwei Jahre her. Darüber hinaus gibt es im Rentenrecht Regelungs- Vor einigen Wochen flatterte die Pfändungsandro- bedarf bei Geschiedenenwitwenrenten und der Über- hung für den inzwischen aufgelaufenen Be trag ins leitung der Zusatz- und Versorgungssysteme derer, Haus. die vorschnell als staatsnahe oder leitende system- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19699

Christel Hanewinckel nahe Personen eingestuft worden sind. Der Deutsche der SPD hat diese Petition mit der Forderung unter- Bundestag wird hier noch einiges tun müssen, um das stützt, Menschenrechtskriterien bei Regierungsver- Strafrecht aus dem Sozialrecht zu verbannen, vor handlungen über Entwicklungsprojekte Indonesien allen Dingen in den Fällen, wo das gar nicht angemes- gegenüber anzuwenden. Dem konnten sich die ande- sen ist. ren Fraktionen im Deutschen Bundestag leider nicht anschließen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) Ein anderer Petent fordert die Beibehaltung der Handelsbeschränkung gegen China. Die Fraktion der Offen ist außerdem die Frage, wie politische Haft- SPD forderte im Sinne des Petenten, an den einstim- zeiten in der DDR für die Rente anrechnungsfähig mig gefaßten Entschließungen des Deutschen Bun- gemacht werden können. Hier steht der Gesetzgeber destages zu China im Juni 1989 festzuhalten. Mit den in der Schuld der Opfer der SED-Herrschaft. Stimmen der Koalition wurde dieser Antrag abge- lehnt. Nach wie vor ein Dauerthema — das wird es mindestens für die nächsten zehn Jahre bleiben — Zum Schluß ein herzliches Dankeschön a ll denen, sind die offenen Vermögensfragen. Die Entscheidung die im Ausschußdienst mit uns, den Ausschußmitglie- der Regierung, Rückgabe vor Entschädigung, be- dern, arbeiten und uns zuarbeiten. Zwei Dankeschön schert nicht nur den Rechtsanwälten viele Mandate, den Herren Ausschußvorsitzenden, dem Vorsitzen- sondern wird auch den Petitionsausschuß immer wie- den und dem Stellvertretenden Vorsitzenden, die der betreffen. beide die Sitzungen mit ihrem je eigenen abgrundtie- fen und erfrischenden Humor würzen. Tatsächlich betroffen aber sind die, die in der Zeit Einen besonderen Dank all denen vom Ausschuß zwischen dem Herbst 1989 und Sommer 1990 ein dienst, die landesweit die Arbeit des Petitionsaus- Haus gekauft haben, meist das, was sie schon vorher schusses und damit auch das demokratische Recht Jahrzehnte bewohnt, bewirtschaftet und erhalten hat- aller Bürgerinnen und Bürger in den St anden des ten. Sie werden durch die Stichtagsregelung, den Deutschen Bundestages, auf Messen und Marktplät- 18. Oktober 1989, in den Verdacht gesetzt, unredliche zen bekannt und begreifbar machen. Käufer zu sein. In den meisten noch offenen Fä llen sind sie nicht nur redlich, sondern haben einen ordent- Vielen Dank. lichen Kaufvertrag, das Grundstück ist bezahlt, aber (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der sie haben keine Eintragung im Grundbuch. Bekann- PDS/Linke Liste) termaßen haben die Grundbuchämter im Sommer 1990 entweder nicht gearbeitet, oder sie waren total überfordert, so daß die Eintragungen nicht fristge- recht erfolgen konnten. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, bevor ich die Sitzung schließe, Für die, die heute um ihr Haus, das sie wie Adoptiv- muß ich noch einer etwas unangenehmen Pflicht eltern gepflegt und gehegt haben, bangen, stellt sich nachkommen. Ausweislich des Protokolls hat die massiv die Frage der Gerechtigkeit im Rechtsstaat, Abgeordnete Monika Brudlewsky in der Aktuellen vor allem dann, wenn der sogenannte Alteigentümer Stunde, die sich mit den Ausschreitungen von Mag- gar keiner ist, sondern seinen Anspruch längst bei deburg beschäftigt hat, die Aktuelle Stunde als einen einem Immobilienvermittler zu Geld gemacht hat. „Schauprozeß" bezeichnet. Ich muß das als unparla- mentarisch zurückweisen. Die Frage von Recht und Gerechtigkeit stellt sich nicht nur in der vereinigten Bundesrepublik Deutsch- Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tages- land. Sie stellt sich auch da, wo deutsche Bürger ordnung. fordern, daß die Bundesregierung Menschenrechts-- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- kriterien in ihre Außenpolitik einbeziehen soll. Dazu destag auf morgen, Donnerstag, den 19. Mai 1994, zwei Beispiele. 9 Uhr, ein. Ein Bürger forderte, die Bundesregierung solle aktiv Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Restabend und mit Sanktionen für den Schutz der Menschen- und stelle fest: Die Sitzung ist geschlossen. rechte in Indonesien, Osttimor, eintreten. Die Fraktion (Schluß der Sitzung: 21.17 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19701*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 6 entschuldigt bis (Bericht des Petitionsausschusses) Abgeordnete(r) einschließlich Trudi Schmidt (Spiesen) (CDU/CSU): Wie heute hier Antretter, Robe rt SPD 18. 5. 94 * schon erwähnt, geht aus dem Jahresbericht des Peti- Beckmann, Klaus F.D.P. 18. 5. 94 tionsausschusses hervor, daß sich 1993 20 098 Bürger Bindig, Rudolf SPD 18. 5. 94 * mit ihrem Anliegen an den Kummerkasten der Nation Blunck (Uetersen), SPD 18. 5. 94 ** wandten. Ein Großteil davon - wenn auch bedeutend Lieselott weniger als 1992 -, nämlich 5 760 Petitionen, entfie- Böhm (Melsungen), CDU/CSU 18. 5. 94 * len auf die neuen Bundesländer. Interessant ist dabei Wilfried die Feststellung, daß in den neuen Bundesländern Büchler (Hof), Hans SPD 18. 5. 94 * 367 Eingaben auf 1 Million Einwohner entfallen, in den alten Bundesländern sind dies 267 Eingaben. Ich Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 18. 5. 94 * denke, daß die beständig hohe Zahl der Eingaben zu Clemens, Joachim CDU/CSU 18. 5. 94 den vereinigungsbedingten Problemfeldern konzen- Ehrbar, Udo CDU/CSU 18. 5. 94 triertes und konzertiertes Handeln aller in diesem Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 18. 5. 94 * Hause vertretenen Parteien und Gruppen erfordert. Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 18. 5. 94 * Eine spürbare Hilfe im Bereich Vermögensfragen Friedhoff, Paul K. F.D.P. 18. 5. 94 kann das am Freitag hier zu verabschiedende Ent- Fuchs (Verl), Katrin SPD 18. 5. 94 schädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz brin- Hackel, Heinz-Dieter fraktionslos 18. 5. 94 gen. Hedrich, Klaus-Jürgen CDU/CSU 18. 5. 94 Wie notwendig die Einführung der Pflegeversiche- Henn, Bernd PDS/Linke 18. 5. 94 rung war, können die Mitglieder des Petitionsaus- Liste schusses ermessen, die sich mit den zahlreichen Petitionen zu diesem Thema befaßten, u. a. mit den Dr. Herr, Norbe rt CDU/CSU 18. 5. 94 Klagen wegen Nichtgewährung von Pflegegeld. Huonker, Gunter SPD 18. 5. 94 Eine Problematik, mit der sich der Petitionsaus- Jaunich, Horst SPD 18. 5. 94 schuß schon mehrmals befaßte, ist die Forderung auf Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 18. 5. 94 Zahlung von Erziehungsgeld an im Ausland lebende Kolbow, Walter SPD 18. 5. 94 Deutsche, ebenso die Anerkennung von Erziehungs- Kretkowski, Volkmar SPD 18. 5. 94 zeiten für im Ausland geborene Kinder. Hier könnte Dr. Matterne, Dietmar SPD 18. 5. 94 aber nur eine einheitliche Gesetzgebung innerhalb Meckel, Markus SPD 18. 5. 94 * der EU für eine befriedigende Lösung sorgen. Dr. Müller, Günther CDU/CSU 18. 5. 94 * Die Eingaben an den Petitionsausschuß zeigen die Müller (Wadern), CDU/CSU 18. 5. 94 Probleme so, wie sie von den Menschen in unserem Hans-Werner Lande empfunden werden sehr deutlich auf und stellen eine klare Aufforderung an uns, die gewählten Neumann (Gotha), SPD 18. 5. 94 Vertreter des Volkes, dar, uns ihnen sachlich und Gerhard lösungsorientiert zu stellen. Niggemeier, Horst SPD 18. 5. 94 Es zeugt doch von hohem Demokratieverständnis, Dr. Probst, Albert CDU/CSU 18. 5. 94 * daß der Petitionsausschuß in einem solchen Maße als Rauen, Peter Harald CDU/CSU 18. 5. 94 „Anwalt des Bürgers" in Anspruch genommen wird Rennebach, Renate SPD 18. 5. 94 und Bürgerinnen und Bürger ihre Probleme den Dr. Scheer, Hermann SPD 18. 5. 94 * Politikern direkt vortragen. Scheffler, Siegfried SPD 18. 5. 94 Lassen Sie mich noch auf einen Bereich hinweisen, Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 18. 5. 94 der immer wieder Thema von Petitionen ist, mit dem Seiler-Albring, Ursula F.D.P. 18. 5. 94 ich auch sehr oft in meinem Wahlkreis in Berührung Dr. Soell, Hartmut SPD 18. 5. 94 * komme: Eingaben von Bundesgrenzschutzbeamten, Steiner, Heinz-Alfred SPD 18. 5. 94 * die entweder Versetzungen, dienstrechtliche Schwie- rigkeiten oder soziale Probleme betreffen. Ich würde Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 18. 5. 94 mir wünschen, daß es auch weiterhin gelingt, in Toetemeyer, SPD 18.5.94 begründeten Einzelfällen seitens des Ausschusses Hans-Günther helfend einzugreifen und die persönlichen Probleme Dr. Wieczorek, Norbert SPD 18. 5. 94 der Petenten entsprechend zu beachten. Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 18. 5. 94 Konfrontiert war ich als Berichterstatterin auch mit Wolfgramm (Göttingen), F.D.P. 18. 5. 94 * Klagen und Beschwerden gegen Rentenversiche- Torsten rungsträger. Dabei handelte es sich in der Mehrzahl um die Nichtanerkennung einer körperlichen Schädi- * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates gung als Berufskrankheit. Herr Peter sprach es eben- ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union falls an. Dies ist ein Feld, in dem noch erheblicher 19702* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994

Forschungsbedarf besteht, da mit den heutigen Unter- Anlage 3 suchungsmethoden nur sehr schwer nachweisbar ist, Antwort ob eine Erkrankung auf Grund von Umwelteinflüssen oder des Umgangs mit gesundheitsschädigenden des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra- Substanzen am Arbeitsplatz entstanden ist. Um so gen des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer (CDU/ mehr bedauere ich als Mitglied des Ausschusses für CSU) (Drucksache 12/7527 Fragen 2 und 3): Forschung und Technologie die Mittelkürzung im Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung fiber die Ver- Haushalt des BMFT, was sich natürlich auch auf die wicklung in Deutschland lebender Serben, Kroaten und Mos- Ansätze für die Programme „Arbeit und Technik" und lems in Kriegshandlungen und insbesondere Kriegsverbrechen Gesundheitsforschung auswirkt. Ich hoffe sehr, daß in Bosnien-Herzegowina? die Bemühung des Forschungsministers um Aufstok- Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber kung der Mittel erfolgreich sein wird. vor, daß die Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien ihre Waffenkäufe durch zum Teil illegale Geschäfte von in Deutsch- Die 19 Eingaben, die das Forschungsministerium land lebenden Serben, Kroaten und Moslems finanzieren? betrafen, hatten im wesentlichen die Förderung alter- nativer Energien zum Inhalt. Auch hier muß, wenn wir Zu Frage 2: das vorgesehene CO2-Einsparpotential bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, noch mehr getan werden, Der Generalbundesanwalt führt gegenwärtig im insbesondere in Form von Markteinführungspro- Hinblick auf die Vorkommnisse in Bosnien-Herzego- grammen von Bund und Ländern. wina Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Völ- kermordes bzw. der Beihilfe zum Völkermord der Freude macht die Arbeit im Petitionsausschuß doch Serben an den Moslems gegen 45 namentlich immer wieder, z. B. wenn der Petentin nach längerem bekannte Beschuldigte in der Bundesrepublik Bemühen die erst abgelehnte große Witwenrente Deutschland sowie gegen zur Zeit noch unbekannte doch gezahlt wird oder mit Hilfe der Kolleginnen und Beschuldigte. Kollegen die Petition einer Bürgerin erfolgreich abge- schlossen werden kann, indem deren Gesundheits- Nach Feststellung der UN-Menschenrechtskom- schaden infolge eines Autounfalles auf dem Weg zur mission und nach Angaben von Flüchtlingen besteht Arbeit doch als Wegunfall anerkannt und eine Rente der Verdacht, daß die Serben an der muslimischen gezahlt wird. Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina Völkermord durch eine Vielzahl von Einzeltaten begehen, weil sie Bei den zahlreichen Vorschlägen in Form von Peti- in der Absicht handeln, die bosnischen Moslems als tionen zur Verfassungsreform ist die Eingabe eines Gruppe zumindest teilweise zu zerstören. Ehepaares bemerkenswert, das aus Gründen der Vor diesem Hintergrund wird den in der Bundesre- Gleichberechtigung eine paritätische Besetzung des publik Deutschland lebenden Beschuldigten vorge- Deutschen Bundestages mit Frauen und Männern worfen, durch unterschiedliche Handlungen den Völ- forderte. Diese Petition wurde den Fraktionen des kermord der Serben an der muslimischen Bevölke- Bundestages zur Kenntnis gebracht. Ich habe die rung in Bosnien-Herzegowina unterstützt zu haben. Hoffnung, daß sich auch meine Partei zu einer Quo- Gegenstand der Ermittlungen sind u. a. die Teil- tenregelung entschließt, die Parlamente in absehba- nahme von Beschuldigten an Tötungen und Körper- rer Zeit tatsächlich ein Spiegelbild unserer Gesell- verletzungen in serbischen Gefangenenlagern, Über- schaft werden und die einzelnen Bevölkerungsgrup- fälle auf muslimische Dörfer sowie die finanzielle und pen nach ihrem Anteil dort vertreten sind. propagandistische Unterstützung für serbische Mili- täreinheiten in Bosnien-Herzegowina. Die im großen und ganzen interessante Arbeit im Petitionsausschuß wird aber dann frustrierend, wenn Im Hinblick auf die noch laufenden Ermittlungen ein parteiübergreifendes Votum „zur Berücksichti- sind nähere Angaben über die Tatvorwürfe nicht gung" vom zuständigen Ministerium nicht aufgegrif- möglich. fen wird, wie im Falle einer Ärztin, die mit dem Ziel, eine Höhergruppierung zu erreichen, um Anerken- Über die Staatsangehörigkeit oder die Volkszuge- nung ihrer 1973 in der DDR erhaltenen Approbation hörigkeit der namentlich bekannten Beschuldigten bittet. Der ganze Vorgang muß nun von neuem können noch keine verläßlichen Angaben gemacht aufgerollt werden. So ist es nicht verwunderlich, daß werden. Nach bisherigen Erkenntnissen handelt es auch in diesem Jahresbericht die Umsetzung von sich überwiegend um bosnische Serben. Bislang Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüssen des haben die Ermittlungen noch keine konkreten Petitionsausschusses durch die Bundesregierung kri- Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Kroaten und tisch betrachtet wird. Auch in haushaltspolitisch Moslems an den anderen in Bosnien-Herzegowina schwierigen Zeiten sollten die entsprechenden Mini- lebenden Volksgruppen Völkermord begangen ha- sterien dem Votum des Petitionsausschusses entspre- ben oder begehen. chen. Zu Frage 3: Ich möchte aber nicht schließen, ohne den insge- samt 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Peti- Der Bundesregierung liegen hierzu derzeit keine tionsausschusses für ihre Arbeit zu danken. Für uns konkreten Erkenntnisse vor. Hinweise des Geschäfts- Abgeordnete ist eine schnelle und kompetente Bera- trägers der Botschaft von Bosnien-Herzegowina in der tung durch das Ausschußbüro sehr hilfreich und oft Bundesrepublik Deutschland konnten durch Ermitt- unabdingbar. lungen bisher nicht erhärtet werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19703*

Anlage 4 der Frage angesprochenen Reglementierungen des Antwort Geschäftsraummietrechts ab. des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Fragen Derartige Reglementierungen wirken sich mittelfri- der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD) stig zu Lasten der Geschäftsraummieter aus. Über (Drucksache 12/7527 Fragen 4 und 5): kurz oder lang wäre mit einem Rückgang der Bautä- Welche Haltung vertritt die Bundesregierung in bezug auf die tigkeit und Vermietungen auf diesem Sektor zu rech- Gesetzesinitiative des Landes Ber lin zur Begrenzung der Gewer- nen. Die damit eintretende Verknappung von Gewer- beraummieten für Altbauten? bemietraum würde ihrerseits wiederum preistreibend Welche Pläne bestehen von seiten der Bundesregierung, wirken. durch gesetzliche Regelungen zu einer Begrenzung der Gewer- beraummieten für Altbauten zu gelangen? Eine solche Verknappung wäre auch zu befürchten, wenn die Regelung auf „Altbauten", also den Gebäu- Zu Frage 4: debestand, beschränkt würde. Investoren, die noch im Der vom Bundesrat eingebrachte Berliner Entwurf Jahre 1993 Gewerberäume geschaffen haben, wür- sieht vor, daß dem Mieter von Geschäftsraum nur den von künftigen Investitionen abgeschreckt, wenn gekündigt werden kann, wenn der Vermieter ein im Jahre 1994 für diese Räume Preisbindungen ein- berechtigtes Interesse an der Beendigung des Miet- geführt werden. Sie müßten nämlich damit rechnen, verhältnisses hat. Mieterhöhungen kann der Vermie- daß auch ihre künftigen Neubauten eines Tages vom ter bis zur Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete Gesetzgeber als „Altbauten" angesehen und einer verlangen. Bei Neuvermietungen muß der Vermieter Preisreglementierung unterworfen würden. eine Kappungsgrenze von 30 % einhalten. Bei neuge- Städtebaulichen Problemen — ich denke da an die schaffenem und umfassend modernisiertem Ge- sicherlich unschöne Anhäufung von Spielhallen — schäftsraum kann der Mietzins frei vereinbart wer- muß mit städtebaulichen oder gewerberechtlichen den. Instrumentarien begegnet werden, nicht mit dem Die Bundesregierung hat zu diesem Vorschlag Mietrecht. ablehnend Stellung genommen. Die Stellungnahme Problemen auf Seiten der Mieter kann durch die der Bundesregierung liegt in der Drucksache 12/6677 Gestaltung des Mietvertrages entgegengewirkt wer- vor. den. Es ist möglich, einen festen Anfangsmietzins und Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Gründe für eine Gleitklausel zu vereinbaren. Die Gleitklausel die Ablehnung aufführen: knüpft die weitere Mietzinsentwicklung an einen 1. Das Geschäftsraummietrecht, das seit mehreren bestimmten Index (z. B. Lebenshaltungskosten, Jahrzehnten auf den Grundsätzen der Vertragsfrei- Preise). Es ist möglich, den Vertrag auf bestimmte Zeit heit und der freien Preisbildung beruht, hat sich abzuschließen und sich eine Option zur Verlängerung bewährt. des Mietvertrages einräumen zu lassen. 2. Die Verbände der Gewerberaummieter, die Der Gewerberaummieter benötigt nicht den Schutz, durch die Initiative des Bundesrates geschützt werden wie er für den Wohnungsmieter notwendig ist. Anders sollen, wie z. B. der Zentralverband des Deutschen als den Mietern von Wohnraum muß im Geschäftsle- Handwerks und der Hauptverband des Deutschen ben stehenden Gewerbetreibenden zugemutet wer- Einzelhandels, haben sich bei einer Anhörung im den können, daß sie in der Lage sind, ihre wirtschaft- Bauausschuß dieses Hauses im Zusammenhang mit lichen Interessen selbständig wahrzunehmen. der Verlängerung der Kündigungsfrist seinerzeit nahezu einmütig gegen weitere Reglementierungen in diesem Bereich ausgesprochen. 3. Die Bundesregierung hält es auch nicht für praktikabel, das Vergleichsmietensystem des Wohn- Anlage 5 raummietrechts auf Gewerberäume zu übertragen. Antwort Geschäftsraumlagen können von Straße zu Straße des Parl. Staatssekretärs Wolfg ang Gröbl auf die unterschiedlich sein. Fragen des Abgeordneten Reinhard Freiherr von 4. Schlechthin inakzeptabel ist der Vorschlag, den Schorlemer (CDU/CSU) (Drucksache 12/7527 Fra- Mietzins bei Wiedervermietung von Geschäftsraum gen 6 und 7): auf bestimmte Prozentsätze des bisherigen Mietzinses Ist der Bundesregierung eine Entscheidung der niedersächsi- zu begrenzen, ohne Rücksicht darauf, wie hoch der schen Landesregierung bekannt, nach der Landwirte, die bisherige Mietzins war. Schweine im Rahmen der schweinepestbedingten Bekämp- 5. Nahezu ausgeschlossen wäre es, Umgehungen fungsmaßnahmen abgegeben haben, von einer wiederholten Inanspruchnahme der Beihilfen ausgeschlossen werden sol- der Mietzinsregelungen sowie einen grauen Ge- len? schäftsraummarkt zu unterbinden. Ist dieses niedersächsische Vorgehen mit dem EU-Recht Vor allem aber zeigt die Entwicklung seit der vereinbar? Einbringung des Entwurfs, daß sich die Situation auf dem Gewerberaummarkt weiter entspannt. Regle- Zu Frage 6: mentierungen sind daher überflüssig. Die genannte Entscheidung ist der Bundesregie- Zu Frage 5: rung bekannt. Die Bundesregierung lehnt — wie alle anderen Nach der niedersächsischen Schweinepestverord- Bundesregierungen in den letzten 20 Jahren — die in nung bedarf die Wiedereinstallung in Betrieben, 19704* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 deren Schweine wegen des Ausbruchs oder wegen Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, in dieser des Verdachts von Schweinepest getötet worden sind, Frage initiativ zu werden, weil die Festsetzung der der Genehmigung des Veterinäramtes. Zu dieser Arbeitsentgelte zum Kernbereich der durch Artikel 9 Vorschrift hat die niedersächsische Landesregierung Abs. 3 Grundgesetz geschützten Tarifautonomie entschieden, daß Schweinehalter, die bereits einmal gehört. an seuchenbedingten Beihilfenmaßnahmen in Nie- dersachsen teilgenommen haben, im Falle einer erneuten seuchenrechtlichen Be troffenheit des Be- triebes (z. B. durch Verbringungsverbote aufgrund Anlage 7 Einbeziehung in ein neuerlich festgesetztes Sperr- und Beobachtungsgebiet) keine weitere Beihilfe Antwort bekommen sollen. Der Genehmigungsbescheid über des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Frage die Wiederaufstallung soll mit einem entsprechenden des Abgeordneten Benno Zierer (CDU/CSU) (Druck- Hinweis versehen werden. sache 12/7527 Frage 10): Auf welche Weise gedenkt die Bundesregierung dafür Sorge Zu Frage 7: zu tragen, daß die neugegründete Deutsche Bahn AG nicht erneut von Überschuldung bedroht wird, die riesigen erforder- Die niedersächsische Landesregierung wurde lichen Modernisierungsinvestitionen bewältigen kann und der schriftlich darauf hingewiesen, daß ein derartiges Verkehr auf der Schiene, insbesondere der Güterverkehr, eine Verringerung seines Wettbewerbsnachteils gegenüber dem Vorgehen nicht durch das Gemeinschaftsrecht über Straßenverkehr erfährt? die Gewährung einer seuchenbedingten Beihilfe gedeckt und infolgedessen rechtswidrig ist. Die Bundesregierung hat durch die im Zuge der Bahnstrukturreform eingeleiteten umfassenden Sa- nierungs- und Entlastungsmaßnahmen bei der Deut- schen Bahn Aktiengesellschaft, vor allem aber durch Schaffung von Rahmenbedingungen, die die Lei- Anlage 6 stungs- und Konkurrenzfähigkeit der Deutschen Bahn Antwort Aktiengesellschaft beträchtlich erhöhen, dafür Sorge des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Frage getragen, daß das neugegründete Unternehmen nicht von Überschuldung bedroht wird. Durch ein umfas- des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Druck- sendes Sanierungskonzept ist der Deutschen Bahn sache 12/7527 Frage 9): Aktiengesellschaft ein von Schulden und Altlasten Wie beurteilt die Bundesregierung die Praxis einiger Indu- befreiter Start ermöglicht worden. So ist das Unter- striebetriebe, Absolventen und Absolventinnen von ingenieur- wissenschaftlichen Studiengängen ein sehr niedriges Anfangs- nehmen z. B. in Höhe von rund 70 Milliarden DM von gehalt zu zahlen, das manchmal dem Gehalt von Auszubilden- den Altschulden entlastet worden. Durch diese und den im letzten Lehrjahr entspricht, und beabsichtigt die Bundes- weitere entlastende Maßnahmen wurde die Kosten- regierung hier initiativ zu werden? struktur der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft erheblich verbessert. Hinzu kommt, daß die Führung Die Bundesregierung hat keine Erkenntnisse dar- der Eisenbahn in Form eines privatwirtschaftlichen über, daß die Absolventen und Absolventinnen von Unternehmens gegenüber der früheren Unterneh- ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen in eini- mensverfassung erhebliche Vorteile bietet. gen Industriebetrieben ein sehr niedriges, manchmal Durch die neue Unternehmensform ist die Bahn nur dem Ausbildungsgehalt des letzten Lehrjahres auch zu einer flexibleren Investitionspolitik in der entsprechendes Anfangsgehalt erhalten. Die Bundes- Lage. Liegen darüber hinaus Investitionsvorhaben regierung macht darauf aufmerksam, daß für alle nicht oder nur zum Teil im unternehmerischen Inter- Industriezweige Tarifverträge gelten, die zum Teil esse, ist die Finanzierung durch Zuschüsse des Bundes auch Vergütungsgruppen für die Eingangsgehälter im Rahmen des Bundesschienenwegeausbaugesetzes von Fachhochschul- oder Hochschulabsolventen ent- vorgesehen. Außerdem hat der Bund den investiven halten. Nach dem Tarifvertragsgesetz besteht ein Nachholbedarf im Bereich der ehemaligen Deutschen gesetzlicher Anspruch auf die tarifvertragliche Vergü- Reichsbahn mit bis zu 33 Milliarden DM in den Jahren tung, wenn 1994-2002 übernommen. Allein in den Jahren — sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer 1994-2002 sind insgesamt rund 42 Milliarden DM Mitglied der den Tarifvertrag schließenden Ver- Investitionsmittel für die Deutsche Bahn Aktiengesell- bände (Arbeitgeberverband, Gewerkschaft) sind schaft vorgesehen, davon zur Deckung des Nachhol- — falls nicht bei einem sog. Firmentarifvertrag der bedarfs im Bereich der ehemaligen Deutschen Reichs- Arbeitgeber selbst Tarifvertragspartei ist — bahn rund 12 Milliarden DM. oder Die Situation des Unternehmens im Verkehrsmarkt wird durch die mit der Bahnreform geschaffene Flexi- — wenn der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich bilität und die Kostenentlastung verbessert. Im übri- erklärt worden ist. gen wird die Bundesregierung weiterhin auf sachge- Darüber hinaus wenden die tarifgebundenen rechte Anlastung der von den einzelnen Verkehrsträ- Arbeitgeber die in ihrem Unternehmen maßgebenden gern verursachten Kosten drängen. Die im Sommer Tarifverträge erfahrungsgemäß auch auf Arbeitneh- 1993 im europäischen Ministerrat durchgesetzte Stra- mer an, die nicht Mitglied der tarifabschließenden ßenbenutzungsgebühr für Lkw ist hierfür ein Bei- Gewerkschaft sind. spiel. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19705*

Anlage 8 Zu Frage 17: Antwort In dem vom Bund und den Ländern 1991 vereinbar- ten Erneuerungsprogrammen für Hochschule und des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Frage Forschung in den neuen Ländern (HEP) war auf des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) (Drucksa- che 12/7527 Frage 11): Empfehlung des Wissenschaftsrats vorgesehen, daß die Eingliederung von rund 2 000 Wissenschaftlern Warm plant die Bundesregierung die Einführung von Maut- bzw. wissenschaftlich-technischen Mitarbeitern aus Gebühren? ehemaligen Einrichtungen der Akademie der Wissen- schaften (AdW) der DDR in die Hochschulen der Seit Anfang Mai 1994 läuft auf der A 555 zwischen neuen Länder in einem Übergangszeitraum von 2 Jah- Köln und Bonn ein Versuch über Autobahntechnolo- ren mit jeweils 200 Millionen DM pro Jahr finanziell gien, mit dem verschiedenste elektronische Systeme unterstützt wird. (u. a. auch Satellitensysteme) getestet werden. Der Versuch dauert bis Sommer 1995. Ziel dieses Versuchs Mit der Revision des HEP im Jahre 1992 wurde das ist es darzustellen, ob und welche der unterschiedlich- WIP mit maßgeblicher Unterstützung des Bundes sten Systeme von der Technik her machbar und vom aufgrund seiner Bedeutung für die Erhaltung wertvol- Kosten-Nutzen-Verhältnis sowie von der Daten- len Forschungspotentials in einer Übergangsphase schutzproblematik her verantwortbar sind. Erst nach urn 200 Millionen DM auf 600 Millionen DM aufge- Abschluß dieser Untersuchung kann überhaupt stockt, der Zeitraum der Integration um 1 Jahr auf den geklärt werden, ob die Voraussetzung für die politi- 31. Dezember 1993 verschoben und die Laufzeit des sche Entscheidung über die mögliche Einführung Programms bis Ende 1996 verlängert. Damit läuft das eines „road-pricing"-Systems ab 1998/99 gefällt wer- Programm insgesamt 5 Jahre mit einem Finanzansatz den kann. von 600 Millionen DM, Bund 444 Millionen DM (75 %). Mit gemeinsamen Anstrengungen des Bundes und der neuen Länder, unterstützt durch die Koordinie- Anlage 9 rungs- und Aufbauinitiative für die Forschung in den neuen Ländern (KAI e. V.), ist es gelungen, den Antwort Beginn der Integration im WIP im Jahre 1993 erfolg- des Parl. Staatssekretärs Ulrich Klinkert auf die Frage reich abzuschließen. Von den 1 797 Personen, die des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksa- Ende 1993 noch in der Förderung waren, haben über che 12/7527 Frage 12): 93 % einen Arbeitsvertrag erhalten. Damit sind Kann die Bundesregierung die Ergebnisse des amerikani- 1 460 Wissenschaftler oder Mitarbeiter wissenschaftli- schen Atomingenieurs Alexander Sich bestätigen, daß bei der cher Arbeitsgruppen ehemaliger Forschungseinrich- Atomkatastrophe in Tschernobyl vier- bis fünfmal soviel Radio- tungen der AdW der DDR ein Arbeitsverhältnis mit aktivität freigesetzt worden ist (185 bis 250 Millionen Cu rie) als bisher angenommen? einer Universität oder Fachschule in einem der neuen Länder eingegangen; 202 Geförderte haben einen Arbeitsplatz in einer hochschulnahen außeruniversi- Der Bericht von Herrn Alexander Sich hat mit tären Forschungseinrichtung gefunden, davon 152 am außerordentlicher Sorgfalt die Emissionsdaten des neugegründeten Institut für angewandte Chemie in Unfallreaktors von Tschernobyl ermittelt und dabei Berlin-Adlershof. Aufgrund ihrer Spezialisierung in als unteren wahrscheinlichen Wert 185 Millionen einem Fachgebiet, das in den neuen Ländern nicht Curie geschätzt. Bisher wurde von etwa 50 Millionen vertreten ist, wurden 13 Personen in ein Arbeitsver- Curie ausgegangen. hältnis an eine westdeutsche Hochschule übernom- Dies bedeutet jedoch nicht, daß die bekannten men. Umgebungsbelastungswerte korrigiert werden müß- Die Länder hatten sich verpflichtet, hierfür die ten, die aus einer Vielzahl von Umgebungsmessun- stellenplanmäßigen Voraussetzungen — z. B. eine gen ermittelt wurden. ausreichende Anzahl von zusätzlichen Planstellen in einem Stellenpool für befristete und unbefristete Dienstverhältnisse, KW-Stellen usw. (Beschäftigungs- positionen) — zu schaffen, damit die Integration Anlage 10 erfolgen konnte, ohne daß die Hochschulen besetzte Antwort Stellen für diese Personen frei machen brauchten und Personal zusätzlich entlassen werden mußte. des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen des Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/ Damit ist ein wesentlicher Schritt des WIP's, die CSU) (Drucksache 12/7527 Fragen 17 und 18): Stärkung der universitären Forschung und Lehre durch exzellente Forscher aus den ehemaligen Aka- Welche Maßnahmen zur Zukunft der mit dem Wissenschaft- ler-Integrations-Programm (WIP) in den neuen Bundesländern demien der DDR, gemacht. Für die Hochschulen zweifach positiv evaluierten, jedoch angesichts der begrenzten ergibt sich die Möglichkeit, sich für ihren Neubeginn Stellenplananzahl und eingeschränkten finanziellen Mittel an die Mitarbeit der mehrfach positiv evaluierten Wis- den nach dem Hochschul-Erneuerungs-Programm (HEP) aktua- senschaftler und wissenschaftlichen Arbeitsgruppen lisierten Hochschulen nur befristet bis 1996 integrierten Wissen- schaftlern sieht die Bundesregierung allein oder gegebenenfalls dauerhaft zu sichern. Dafür bleibt mit der Restlaufzeit gemeinsam mit den Ländern vor? bis 1996 den Hochschulen und den Hochschulverwal- Erwägt die Bundesregierung als Zwischenlösung eine Weiter- tungen der Länder eine entsprechende Zeit der führung des WIP auch über den 31. Dezember 1996 hinaus? Gestaltung ihrer Personalplanungen. Diese Verant- 19706* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 wortung liegt außerhalb der Zuständigkeit des Bun- Länder-Kommission für Bildungsplanung und For- des. schungsförderung (BLK) und des BMFT haben sich Mit der finanziellen Aufstockung auf 600 Millionen das Bundesministerium des Innern und die Tarifge- DM und der Verlängerung des Programms auf 5 Jahre meinschaft deutscher Länder inzwischen damit ein- sowie eines Finanzierungsanteils von 75 % hat der verstanden erklärt, daß bei einer privatrechtlich ver- Bund die vom Wissenschaftsrat für notwendig erach- faßten Forschungseinrichtung und bei KAI e. V. ver- teten Übergangsanstrengungen für dieses For- brachte Zeiten bei einem Wechsel zu anderen For- schungspotential erbracht. schungseinrichtungen und Hochschulen in gleicher Weise wie Zeiten im öffentlichen Dienst anerkannt werden. Zu Frage 18: Bei einem Wechsel in Forschungseinrichtungen, die Eine nochmalige Verlängerung des WIP ist nicht unter Federführung des Bundes gemeinsam gefördert vorgesehen und würde auch jenseits der Empfehlun- werden, bleiben auch Vordienstzeiten bei der AdW gen des Wissenschaftsrates liegen. erhalten, die von der bisherigen Forschungseinrich- Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung tung bzw. KAI e. V. bereits anerkannt waren. Für die und Forschungsförderung hat in ihrer Sitzung am Hochschulen entscheidet hierüber jedes Land in eige- 11. April dieses Jahres den positiven Abschluß der ner Zuständigkeit. Das BMFT hat die für Wissenschaft Integrationsphase im WIP mit Bef riedigung zur Kennt- und Forschung zuständigen Länderministerien auf die nis genommen und nochmals auf die Verantwortung Praxis des Bundes hingewiesen und empfohlen, ähn- der Hochschulen und der Länder für die langfristige lich zu verfahren. Darüber hinausgehende rechtliche Eingliederung nach dem Ende des Förderzeitraums Möglichkeiten hat die Bundesregierung nicht. Wie- hingewiesen. weit die einzelnen Lander der Empfehlung gefolgt sind, ist dem BMFT nicht bekannt und kann auch nicht kurzfristig festgestellt werden.

Anlage 11 Zu Frage 20: Antwort Die Bundesregierung hat die im Rahmen ihrer Zuständigkeit möglichen Initiativen bereits ergriffen. des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Sie wird auch weiterhin um ein möglichst einheitli- Fragen des Abgeordneten Holger Bartsch (SPD) ches Verfahren von Bund und Ländern in dieser mit (Drucksache 12/7527 Fragen 19 und 20): der Neuordnung der Forschung im Beitrittsgebiet eng Wie ist die Anerkennung der Vordienstzeiten für Beschäftigte zusammenhängenden Frage bemüht bleiben. des Wissenschaftler-Integrations-Programms (WIP) und des Hochschul-Erneuerungs-Programms (HEP) in den einzelnen Bundesländern geregelt? Sieht die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Län- dern Handlungsbedarf aus Gründen der Gerechtigkeit zur Anlage 12 generellen- Anerkennung von Vordienstzeiten bei WIP-/HEP Beschäftigten? Antwort des Parl. Staatssekretärs Be rnd Neumann auf die Zu Frage 19: Frage des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) Die Anerkennung von Vordienstzeiten für die im (Drucksache 12/7527 Frage 21): Rahmen des Wissenschaftler-Integrations-Pro- Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Ver- gramms (WIP — dieses ist Teil des Hochschulerneue- luste von Plutonium in Plutonium-Brennelementenfabriken, Wiederaufarbeitungsanlagen und Plutonium-Lagern vor, und rungsprogramms) geförderten Wissenschaftler durch welche Initiativen wird sie ergreifen, um dieses schon länger die Länder richtet sich grundsätzlich nach den Vor- bekannte Problem des „Verschwindens" von Plutonium in schriften des BAT-O in der Fassung des Änderungs- Anlagen zu klären? tarifvertrags Nr. 2 vom 12. November 1991, der u. a. Übergangsvorschriften für die Berücksichtigung von Zeiten vor dem 1. Januar 1991 enthält. Die IAEO führt regelmäßig bei den von Ihnen Probleme haben sich in der Vergangenheit daraus angesprochenen Anlagen Überprüfungen durch für ergeben, daß nach den einschlägigen Bestimmungen bestimmte Anlagenteile (Materialbilanzzonen) und bei einem Mitarbeiterwechsel zwischen privatrecht- für bestimmte zeitliche Pe rioden, je nach strategi- lich verfaßten Forschungseinrichtungen und dem schem Wert des Materials. Auf diesem Wege erfolgt öffentlichen Dienst im engeren Sinn — also insbeson- eine ständige Kontrolle des Brennstoffkreislaufs. Bei dere den Hochschulen — teilweise Zeiten nicht aner- dieser physischen Inventur entstehen regelmäßig kannt wurden, die in der bisherigen Forschungsein- rechnerische Differenzen zwischen dem Buchinventar richtung oder zuvor in einem Institut der ehemaligen und dem tatsächlich vorhandenen Inventar (sog. Akademie der Wissenschaften (AdW) zurückgelegt MUF-Material Unaccounted For). Eine der wesentli- wurden. Dies betraf auch WIP-geförderte Personen, chen Aufgaben bei der physischen Inventur ist die mit denen die von den Ländern gegründete KAI e. V. Bewertung des MUF-Wertes. Je nach Ergebnis der nach der Auflösung der Institute der früheren Akade- Bewertung veranlassen die Inspektorate dann die mie der Wissenschaften der DDR Arbeitsverträge notwendigen Maßnahmen. abgeschlossen hatte und die anschließend zu einer Informationen über die einzelnen MUF-Werte lie- Hochschule wechselten. Nach Initiativen der Bund- gen der Bundesregierung nicht vor. Die Beurteilung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 19707* dieser Werte fällt in die Zuständigkeit der internatio- neuen Bundesländern mit z. B. Vergütungen der nalen Inspektorate von IAEO und — im Bereich der Ersatzkassen in den alten Bundesländern bis zu 40 % Europäischen Union — von EURATOM, nicht jedoch betragen. Andererseits gibt es Leistungspositionen in in die der Bundesregierung. den neuen Bundesländern, die nur um 8 % unter der Sollte sich Ihre Frage auf das jüngst in der Presse Leistungsposition eines alten Bundeslandes liegen. gemeldete „Verschwinden" von 70 kg Plutonium in Da es seit langem nichts Ungewöhnliches ist, daß der japanischen Wiederaufarbeitungsanlage Tokai die durchschnittlichen Preisniveaus für Heilmittel Mura beziehen, so ergab eine Nachfrage bei der bzw. zahntechnische Leistungen durchaus um 15 bis IAEO, daß diese davon ausgeht, daß das Plutonium 20 % auseinander liegen können und die Preise aus- nicht verschwunden ist, sondern als Prozeßinventar in schließlich von den Ergotherapeuten bzw. anderen der Anlage vorhanden ist, aber wegen hoher Strah- Heilmittelerbringern mit den Krankenkassen vertrag- lendosis derzeit nicht zugänglich ist. Die IAEO führt lich ausgehandelt werden, besteht kein Anlaß, an derzeit in der Anlage Untersuchungen durch, um die diesen Unterschieden Anstoß zu nehmen. Wenn diese Angelegenheit, die ihr schon länger bekannt ist, Unterschiede von den vertragschließenden Parteien aufzuklären. als zu groß angesehen werden, ist zu erwarten, daß Da die Inspektionsintensität durch die IAEO in dies bei den nächsten Vertragsverhandlungen ent- Japan ähnlich hoch ist wie in Deutschland und die sprechend berücksichtigt wird. Kreislaufanlagen in Tokai Mura praktisch perm anent überwacht werden, geht auch die Bundesregierung nicht von einem Verschwinden aus. Anlage 15 Antwort

Anlage 13 der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Fragen des Abgeordneten Albrecht Müller Antwort (Pleisweiler) (SPD) (Drucksache 12/7257 Fragen 38 des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die und 39): Fragen des Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen Welche Gründe sieht die Bundesregierung für die m an (SPD) (Drucksache 12/7527 Fragen 22 und 23) -gelhafte flächendeckende Versorgung mit dem Heilmittel „Ergotherapie", die schon daran sichtbar ist, daß es in ganz Ist die Bundesregierung an Gesprächen mit russischen Stellen Deutschland nur 650, in den neuen Bundesländern sogar nur über die Lieferung von hochangereichertem Uran für den zehn niedergelassene Ergotherapeuten gibt? geplanten Forschungsreaktor München II beteiligt gewesen, oder hat sie solche Kontakte in die Wege geleitet oder unter- Sieht die Bundesregierung einen Handlungsbedarf im Rah- stützt? men ihrer gesetzlichen Möglichkeiten, hier unterstützend und ausgleichend einzugreifen, um für die im Vergleich zu anderen Heilmitteln erheblich benachteiligten Ergotherapeuten und ihre Wie beurteilt die Bundesregierung solche Gespräche mit Blick Patienten Anreize zu schaffen, und wie könnte eine Verbesse- auf ihre Bemühungen um die Nichtverbreitung von Kernwaf- rung der Situation aussehen? fen? Zu Frage 38: Über die Lieferung hoch angereicherten Urans für den Forschungsreaktor München II hat es seitens der Nach Angaben des Deutschen Verbandes der Bundesregierung weder Gespräche mit russischen Ergotherapeuten, Karlsbad-Ittersbach, gab es 1993 rd. Stellen gegeben, noch sind solche Gesprächskontakte 650 zugelassene Ergotherapeuten in den alten und von ihr unterstützt oder in die Wege geleitet wor- neuen Bundesländern. Diese arbeiteten in ca. 550 den. niedergelassenen ergotherapeutischen Praxen, d. h. im Durchschnitt gab es 1,2 Praxisinhaber je ergothe- In den entsprechenden Presseberichten vom rapeutische Praxis. 11. Mai 1994 wurde die Anwort eines BMFT-Mitarbei- ters auf Fragen von Journalisten nicht richtig wieder- Die meisten ausgebildeten Ergotherapeuten sind in gegeben. Krankenhäusern angestellt. Ihre Zahl schätzt der Verband auf rd. 4 350, das entspricht rd. 87 % aller Ergotherapeuten. Bei einer Bewertung der flächendeckenden Versor- Anlage 14 gung mit Ergotherapeuten müssen deshalb die in Antwort Krankenhäusern angestellten Ergotherapeuten und die niedergelassenen Ergotherapeuten zusammenge- der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zählt werden. Geschieht dies, so kann nicht von einer auf die Frage des Abgeordneten Peter Büchner mangelhaften flächendeckenden Versorgung mit (Speyer) (SPD) (Drucksache 12/7527 Frage 37) Ergotherapeuten in der Bundesrepublik Deutschl and Hält die Bundesregierung die großen Unterschiede in den die Rede sein. Vergütungen für Ergotherapeuten von Bundesland zu Bundes- land — die bis zu 40 % ausmachen — für tragbar? Zu Frage 39: Es trifft zu, daß die Vergütungen für Ergotherapeu- Nach Ansicht der Bundesregierung kann nicht ten in einzelnen Positionen von Bundesland zu Bun- davon die Rede sein, daß die Ergotherapeuten im desland teilweise größere Unterschiede aufweisen. Vergleich zu anderen Heilmittelerbringern benach- Diese können bei einem Vergleich unter den alten teiligt sind. Dies ergibt sich allein aus der Tatsache, Bundesländern rd. 30 % und bei einem Vergleich der daß die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversiche- 19708* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. Mai 1994 rung für sonstige Heilpersonen, wozu insbesondere Woran es liegt, daß die große Masse der Ergothera- die Logopäden und Beschäftigungstherapeuten zäh- peuten eine Anstellung in Krankenhäusern offen- len, langfristig deutlich überproportionale Steigerun- sichtlich einer freien Niederlassung vorzieht, vermag gen (seit 1984 jährlich rd. 13-14 %) im Vergleich zum ich nicht zu sagen. Möglicherweise hängt dies damit Anstieg der Einnahmen der gesetzlichen Krankenver- zusammen, daß der Frauenanteil in diesem Beruf mit sicherung aufweisen. Besonders aussagefähig ist in 85 % besonders hoch ist und daß Ergotherapeuten diesem Zusammenhang das Jahr 1993, da in diesem häufig halbtags tätig sind. Da die geringe Niederlas- Jahr ein Heilmittelbudget für die niedergelassenen sungsbereitschaft von Ergotherapeuten nicht nur in Ärzte eingeführt wurde. Nach einem Jahr Erfahrung den neuen Bundesländern sondern auch in den alten mit dem Heilmittelbudget ist festzustellen, daß die Bundesländern seit langem anzutreffen ist, sehe ich Ärzte offensichtlich logopädischen und beschäfti- hierin einen Beleg, daß die Höhe der Vergütung als gungstherapeutischen Maßnahmen eine besonders Erklärung für diese Situation nicht in Frage kommt. hohe therapeutische Wertigkeit zuerkennen, da diese Außerdem werden die Vergütungen für die Heilmit- Leistungen 1993 um 17,1 % gestiegen sind, während telpreise zwischen den Landesverbänden der Kran- die physiotherapeutischen Leistungen, also Leistun- kenkassen und den Landesverbänden der Heilmittel- gen, die von medizinischen Bademeistern, Masseuren erbringer frei ausgehandelt. Die Bundesregierung und Krankengymnasten abgegeben werden, um beabsichtigt nicht, an dieser Kompetenzverteilung 8,5 % zurückgegangen sind. etwas zu ändern.