DER BÜRGER IM STAAT

56.Jahrgang Heft 1 2006

Fußball und Politik Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT

Redaktion: Siegfried Frech Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 [email protected] 56. Jahrgang Heft 1 2006 [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Fußball und Politik

Dietrich Schulze-Marmeling Uli Jäger Die Geschichte der FIFA-Fußball- Straßenfußball, Fair Play und weltmeisterschaft 4 globales Lernen 63

Christiane Eisenberg Wolfgang Walla Fußball als globales Phänomen 14 Statistisch gesehen 70

Bernd-M. Beyer Walther Bensemann: Kosmopolit Aus unserer Arbeit 73 des Fußballs 20 Buchbesprechungen 76 Verena Scheuble / Michael Wehner Fußball und nationale Identität 26

Dirk Schindelbeck „Nun siegt mal schön!“ 32

Bernd Strauß Das Fußballstadion als Pilgerstätte 38

Gunter A. Pilz „Tatort Stadion“ – Wandlungen der Zuschauergewalt 44

Rainer Koch / Wolfgang Maennig Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball 50 Einzelbestellungen und Abonnements bei der Landeszentrale (bitte schriftlich) Michael Glameyer Impressum: Seite 19 „ballance 2006“ – Integration Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel und Toleranz für eine friedliche mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Fußballweltmeisterschaft 59 Kunden-Nr. an. Fußball und Politik

DER „FUSSBALL-GLOBUS“ AUF DEM OPERNPLATZ IN FRANKFURT/MAIN. DER VOM KÜNSTLER ANDRÉ HELLER GESCHAFFENE GLOBUS IST 15 METER HOCH UND PRÄSENTIERT SICH TAGSÜBER ALS FUSSBALL UND ABENDS ALS BLAU BELEUCHTETE WELTKUGEL. picture alliance / dpa

1 Fußball und Politik

„Die Welt zu Gast bei Freunden“, lautet das Mot- tionale Überschwang erklärte sich nicht zuletzt to der Fußball-WM 2006. Diesem Sportereignis dadurch, dass Deutschland seine Abseitsstel- wird eine Menge aufgebürdet. Die Zeiten sind lung in der Völkergemeinschaft durch das vorbei, in denen einfach das „Runde ins Eckige“ „Wunder von Bern“ relativieren konnte. Verena musste. Fußball bewegt die Massen, die Köpfe Scheuble und Michael Wehner zeigen, wie die und Gemüter. Fußball „bewegt“ aber noch mehr. Konstrukte „Nation“ und „nationale Identität“ Zwischen Fußball, Medien, Ökonomie und Politik als „Seelenkitt“ bei WM-Spielen aktiviert wer- werden unzählige „Doppelpässe“ gespielt. Wenn den. Die kritische Analyse des Zusammenhangs eine Landeszentrale für politische Bildung an- von Fußball und nationaler Identität stellt ne- gesichts der WM nicht im „Abseits“ stehen will, ben all den Ambivalenzen und negativen Be- dann ist nur nahe liegend, das Politische – die gleiterscheinungen auch die positive Funktion historischen, sozialen, symbolischen, kulturellen dieser Symbiose dar. Nichts trägt mehr zur Bil- und ökonomischen Bezüge – der Sportart Fuß- dung einer schichtenübergreifenden Gemein- ball aufzugreifen und zu thematisieren. schaft bei und nichts beeinflusst die (politische) Fußball wird heutzutage in mehr Ländern ge- Stimmungslage mehr als Fußballweltmeister- spielt, als die UNO Mitglieder hat. Die Erfolgs- schaften. Gleichwohl zeigt sich auch, dass das story dieser Sportart begann als „englisches Konstrukt der „Nation“ im deutschen Alltagsle- Spiel“ und erlangte im 20. Jahrhundert auf allen ben zwar eine wichtige, aber schwierige und his- Kontinenten eine herausragende Bedeutung. torisch belastete Bezugsgröße ist. Dietrich Schulze-Marmeling entfaltet die span- Fußball funktioniert nicht losgelöst von öko- nende und ereignisreiche Geschichte der Fuß- nomischen Gesetzmäßigkeiten. Keine andere ballweltmeisterschaft und zeigt, dass in diesem Sportart hat sich in den letzten Jahren in einer weltumspannenden Ereignis stets eine gehörige derart engen Wechselbeziehung mit den Me- Portion Politik steckt. Fußball ist eine wahrhaft dien, mit Kommerz und Werbung entwickelt wie globale Sportart. Christiane Eisenberg geht den der Fußball. Die „Geldmaschine“ Fußball ist Fragen nach, worauf sich die Popularität des ein echter Wirtschaftsfaktor geworden. In den Spiels gründet und welches die sozialen, ökono- Anfangszeiten des bundesdeutschen Fußballs mischen, politischen und kulturellen Rahmen- tummelten sich „ehrliche“ Amateure auf dem bedingungen dieses beispiellosen Erfolges sind. grünen Rasen. Inzwischen haben sich Profifuß- Ausgehend vom „Mutterland England“, in dem baller zu Privatunternehmern mit Managern der Fußball am grünen Tisch auf eine vernünfti- und Beratern entwickelt. Werbebranche, Medien ge organisatorische Basis gestellt und damit für und Wirtschaft nutzen Fußball als Instrument, andere Länder reproduzierbar wurde, beschreibt um Botschaften und Produkte zu vermarkten. Christiane Eisenberg den weltweiten Siegeszug Dirk Schindelbeck schildert in seiner „Kleinen dieser Sportart. Geschichte der Kommerzialisierung“ diese Ent- Bis zum Beginn des Nationalsozialismus symbo- wicklung. lisierte die Person Walther Bensemann unter- Spätestens seit dem 20. Jahrhundert hat es den schiedliche Facetten der deutschen Geschichte. Anschein, dass das Fußballstadion einer der be- Er war nicht nur der wichtigste Fußballpionier in liebtesten Versammlungsorte unserer Zivilisa- Süddeutschland, sondern stand zugleich für ein tion ist. Und dies, obwohl es dort gelegentlich kosmopolitisches Sportverständnis, das zuneh- gar nicht so zivilisiert zugeht. Immer wieder sind mend in Konflikt mit deutsch-nationalen Strö- Stadien Orte der Aggression und Gewalt. Warum mungen geriet und dem die NS-Diktatur ein bru- opfern Menschen einen nicht unerheblichen Teil tales Ende bereitete. Zugleich verweist die jüdi- ihrer Freizeit mit dem Anschauen von Fußball- sche Herkunft Bensemanns auf den gewichtigen spielen und welchen „Kick“ erfahren sie dabei? Beitrag, den Juden bei der Popularisierung des Welche Motive treiben die Fans in Heerscharen Fußballs in Mitteleuropa bis in die 1930er-Jahre in die Fußballstadien? Warum pilgern sie allwö- leisteten. Bernd-M. Beyer erinnert an einen Fuß- chentlich zu Fußballspielen? Die Motive und ballpionier der ersten Stunde, der beinahe in psychologischen Facetten der Zuschauerinnen Vergessenheit geriet und dessen Andenken es zu und Zuschauer, die Bernd Strauß schildert, sind wahren gilt. äußerst vielfältig, spannend und letztlich zu- Fußballspiele sind in nationaler Hinsicht nicht tiefst menschlich. von Politik zu trennen. Welche politische Wir- Warum gibt es bei Fußballspielen immer wieder kung der Fußball hat, zeigte der deutsche Sieg gewaltsame Ausschreitungen? Welche beson- bei der Weltmeisterschaft 1954 in Bern. Der na- dere Faszination übt Gewalt auf jugendliche

2 Fußball und Politik

Fans aus? Gunter A. Pilz geht auf die Fangrup- Wie soll mit gewaltbereiten, zumeist jugend- pen der Hooligans und der Ultras ein. Hooligans lichen Fans umgegangen werden? Das 2001 ins suchen den Nervenkitzel bei der Eroberung Leben gerufene Projekt „ballance 2006“ will in fremden Territoriums, genießen das stete Auslo- und um Hessen auf den friedlichen und fairen ten der Grenzen und gieren förmlich nach dem Charakter der WM hinwirken. Mit vielfältigen „Kick“, den sie bei körperlichen Konfrontationen Aktivitäten wird jungen Menschen die Erfah- finden. Dieses Phänomen ist in jüngster Zeit rung vermittelt, dass Fairness und Toleranz bes- auch bei einem Teil der Ultras zu beobachten. sere Alternativen als Randale, Diskriminierung Wenngleich beide Gruppen eine Minderheit und Gewalt sind. Michael Glameyer schildert die innerhalb der Fangemeinde darstellen, lässt sich Projektziele, beschreibt einzelne Aktivitäten und an ihnen zeigen, dass sie Verhaltensnormen der erbringt den Nachweis, dass sich Integration Moderne radikal ausleben und einen direkten und Toleranz durchaus mit sportlichem Ehrgeiz Weg zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse suchen. verbinden lassen. Vor diesem Hintergrund diskutiert Gunter A. Pilz „Vom Fußball für das Leben lernen“ – so kann ordnungspolitische Maßnahmen, die sich im das Hauptziel des Projektes „WM Schulen: Fair Spannungsfeld von Prävention und Repression Play for Fair Life“ überschrieben werden. In ganz bewegen, die „Räume“ der jugendlichen Fans Deutschland beteiligen sich 204 Schulen an die- einengen, gleichzeitig aber Freiräume lassen sem einzigartigen Projekt. Sie bekamen per Los- und Möglichkeiten der Identitätsvergewisse- entscheid ein FIFA-Land als Patenland zugeteilt. rung erlauben. Schülerinnen und Schüler sind bis zur Fußball- „Verpfiffen!“ – Der Skandal, der die Karriere des weltmeisterschaft Botschafter für ihr Paten- Schiedsrichters Robert Hoyzer jäh beendete, er- land, vertreten es in der Öffentlichkeit und auf schütterte den deutschen Fußball und die Öf- dem grünen Rasen. Gleichzeitig will das Projekt fentlichkeit. Bis zu diesem Vorfall glaubte man, bei den beteiligten Schulen das Interesse an der dass die Mannen in Schwarz unbestechliche Ge- Beschäftigung mit Themen der Entwicklungs- hilfen der Regelkunde sind. Auch die beliebteste zusammenarbeit und weltweiter Verständigung aller Sportarten ist nicht frei von Skandalen und fördern. So lernen die involvierten Schülerinnen Affären. Ob Wettmanipulationen, der Kampf um und Schüler im Unterricht und in Projekten alles bessere Rangplätze, ob beim Sponsoring: Ver- über die Themen „Fair Play“ und „Fair Life“ in der dachtsmomente und Korruptionsvorwürfe wur- Einen Welt. Uli Jäger beschreibt die Konzeption, den schon in der Vergangenheit laut und haben die Methoden des Projektes und vermittelt sich gelegentlich bewahrheitet. Trotz einzelner, Einblicke in die konkrete Arbeit in und an den oft spektakulärer Vorfälle gibt es keine klaren Schulen. empirischen Belege für eine verstärkte Kor- „...das ist nur für die Statistik“, hört man unsere ruption im Fußballsport. Um den sozialen Scha- Sportreporter sagen. Und doch überbrücken sie den von den sportlichen Normen und Werten mehr oder weniger gut dürftige Passagen eines abzuwenden, ist eine deutliche Anti-Korrup- Fußballspieles durch das Zitieren von Daten und tionspolitik im Sport erforderlich. Transparente Zahlen. Der Beitrag von Wolfgang Walla (Statis- Schiedsrichterentscheidungen, die Verwendung tisches Landesamt Baden-Württemberg) zeigt, technischer Kontrollsysteme, angemessene For- dass Zahlen es auch in sich haben können! Zu- men der Bestrafung, die Formulierung von Eh- mal die interessanten Daten belegen, das Ba- ren- und Verhaltenskodizes sowie eine verbes- den-Württemberg in sportlicher Hinsicht eini- serte finanzielle Entschädigung der Schieds- ges zu bieten hat. richter unterer Ligen sind nur einige der Gegen- Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Bei- maßnahmen, die und Wolfgang trägen detaillierte Informationen vermitteln Maennig erörtern und hinsichtlich ihrer präven- und für neue Einblicke in die „Doppelpässe“ zwi- tiven Wirkung abwägen. schen Fußball und Politik sorgen, sei an dieser Zur Fußballweltmeisterschaft werden knapp Stelle gedankt. Dank gebührt weiterhin dem drei Millionen Fans erwartet. Gerade die auslän- Statistischen Landesamt Baden-Württemberg dischen Fans und Besucher werden sich ein Bild für die Rubrik „Statistisch gesehen“ und nicht von Deutschland machen. Welches Bild aber zuletzt dem Schwabenverlag für die stets gute werden sie sich machen können? Schaffen wir und effiziente Zusammenarbeit. es, dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ gerecht zu werden? Bereits im Vorfeld dieses Mega-Events machen sich Sorgenfalten breit: Siegfried Frech

3 VOM REGIONALTURNIER ZUM GLOBALEN EVENT Die Geschichte der FIFA-Fußballweltmeisterschaft

DIETRICH SCHULZE-MARMELING

kontinentalen Fußballs stand in den Genfer In- Auch der deutsche Fußballpionier Walther Fußball wird heutzutage in mehr Län- stituten La Chátelaine und Cháteau, wo das Bensemann besuchte zeitweise eine Schweizer dern gespielt, als die UNO Mitglieder hat. Spiel in den 1860ern von englischen Schülern Privatschule. Im Alter von zehn Jahren hatten Die Erfolgsstory dieser Sportart begann eingeführt wurde. 1879 formierten englische ihn seine Eltern auf eine englische Schule in als „englisches Spiel“, war schon in sei- Studenten den FC St. Gallen, und 1886 wurde Montreux geschickt, wo Bensemann eine Be- nen Anfängen eine „multikulturelle Ver- in Zürich der Klub Grasshoppers gegründet, der geisterung für alles entwickelte, was er für „ty- anstaltung“ und erlangte im 20. Jahrhun- seinen Namen dem englischen Biologiestuden- pisch englisch“ hielt. 1883 wurde Bensemann dert, dem „Jahrhundert des Fußballs“ – ten Tom Griffith zu verdanken hatte. erstmals Zeuge eines Fußballspiels englischer so eine Charakterisierung von Dietrich Aber die mit dem Fußball-Virus infizierten Mitschüler, die allerdings Rugby spielten. Und Schulze-Marmeling – auf allen Konti- Schweizer wurden auch selbst als Vereins- auch , der als Trainer Italien 1934 nenten eine herausragende Bedeutung. gründer aktiv – auch und gerade jenseits ihrer und 1938 zum WM-Titel führte (s. u.), ver- Fußballweltmeisterschaften sind inzwi- Landesgrenzen und hier insbesondere in Kata- brachte lehrreiche Jahre in der Schweiz, wo er schen ein universale, gar ein globale An- lonien, Norditalien und Südfrankreich. So wa- nicht nur einer kaufmännischen und sprach- gelegenheit. Auch die kommende Fuß- ren 15 der 25 Gründer des FC Torino Schwei- lichen Ausbildung nachging. ballweltmeisterschaft wird wiederum zer. In Mailand kam es beim Milan Cricket and Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und im Zuge Millionen Menschen rund um den Glo- Football Club 1908 zu einem Disput zwischen der Popularisierung des Spiels kam es dann zu bus in den Bann ziehen. Und trotzdem Einheimischen und Ausländern. Unter letzte- seiner forcierten Nationalisierung. In der Exis- kommt es im Zeitalter der Globalisierung ren befanden sich auch einige Schweizer wie tenz eines transnationalen Netzwerks einer- einem Anachronismus gleich, wenn man Enrico Hintermann, der nun zum Motor einer seits und in der Nationalisierung des Spiels „seiner“ Nationalmannschaft huldigt und Abspaltung avancierte, die sich bezeichnen- anderseits war letztendlich schon angelegt, nationale Identitäten zelebriert. Dietrich derweise FC Internazionale – kurz: Inter – was sich später zum Fußball-Weltturnier ent- Schulze-Marmeling entfaltet in seinem nannte. Als Inter 1910 die Liga gewann, stan- wickeln sollte. Beitrag die spannende und ereignisrei- den neun Schweizer im Team. Stade Helvéti- che Geschichte der Fußballweltmeister- que Marseille, zwischen 1909 und 1913 drei- schaft und zeigt, dass in diesem weltum- mal Französischer Meister, wurde von einem EUROPA TRIFFT SÜDAMERIKA spannenden Ereignis immer auch eine Kreis Schweizer Geschäftsleute gegründet. gehörige Portion Politik steckt. Der Schweizer Einfluss reichte bis nach Paris, Nicht weniger als 198 Länder wollten beim wo ein Klub mit dem Namen Union Sportive FIFA World Cup 2006 in Deutschland dabei Suisse zu den führenden Adressen zählte. sein. Die regionale Verteilung der Interessen- ten gestaltete sich wie folgt: Europa 52, Afrika 51, Asien 39, Nord-, Mittelamerika und die Ka- BRITANNIENS ERFOLGREICHSTES EIN SCHWEIZER GRÜNDET DEN ribik 34, Ozeanien zwölf und Südamerika zehn. EXPORTPRODUKT FC BARCELONA Als erster Kontinent begann bereits im Oktober 2003 Afrika mit der Qualifikation. Asien folgte Fußball ist heute die globalste aller Sportarten, Von besonderem Interesse ist die Geschichte am 19. November 2003 mit einem Vorqualifi- und auch die frühen Fußball-Netzwerke wa- des FC Barcelona, der 1899 vom Schweizer kationsspiel zwischen Afghanistan und Turk- ren bereits transnationalen Charakters. Viele Hans Kamper ins Leben gerufen wurde. In der menistan, das die Rückkehr des einst von den der Fußballpioniere, -missionare und Vereins- Schweiz war Kamper zunächst für den FC Ex- Taliban beherrschten Landes in die Weltfuß- gründer waren Migranten: Zuvörderst sind celsior am Ball. Anschließend gehörte er zu ball-Familie markierte. Afghanistan unterlag natürlich die englische Studenten, Kaufleute, den Gründungsmitgliedern des FC Zürich. mit 0:11 und 0:2, was auf einen gewissen fuß- Verwaltungsbeamte und Ingenieure zu nen- 1898 zog Kamper ins französische Lyon, wo er ballerischen Nachhol- und Lernbedarf des nen, die sich auf dem Kontinent oder in Süd- für die Crédit Lyonnais arbeitete und für den Landes hindeutete. amerika für das Spiel engagierten. Football Club de Lyon spielte. In die katalani- Die Anfänge des FIFA World Cups hingegen Der englische Arzt James Spensley spielte bei- sche Metropole verschlug ihn der Zufall. Der gestalteten sich deutlich bescheidener. Zu- spielsweise eine bedeutende Rolle für die Ent- Geschäftsmann Kamper befand sich auf dem nächst einmal galt es eine interkontinentale wicklung des Fußballs in Italien. 1892 gründe- Weg in den Westen Afrikas, wo er einige Brücke zwischen Europa und Südamerika zu te Spensley den Genoa Cricket and Football Handelsgesellschaften aufbauen sollte. Doch etablieren, noch heute die beiden Hauptpfeiler Club. Träger des Klubs war die aus Konsularbe- Kamper blieb in Barcelona hängen, wo er des Weltfußballs. Dass Südamerika nach Euro- amten und international tätigen Geschäfts- Chef-Buchhalter der lokalen Straßenbahnge- pa zur zweiten Säule des Weltfußballs avan- leuten bestehende „englische Kolonie“ in der sellschaft wurde. Mittels einer Zeitungsanzei- cierte, war eine Folge der intensiven britischen Hafenstadt. Einheimische wurden zum späte- ge mobilisierte er weitere Fußballenthusiasten Handelsbeziehungen mit diesem Teil der Welt. ren FC Genua erst ab 1897 zugelassen. und gründete den FC Barcelona. Zu den ersten In den 1880er-Jahren betrug Südamerikas An- Fußball war Britanniens erfolgreichstes und Aktivisten gehörten auch sein Landsmann teil an den britischen Auslandsinvestitionen dauerhaftestes Exportprodukt, doch viele der Otto Kunzle, die Engländer Walter Wild sowie stattliche 20 Prozent. Besonders ausgeprägt Klubs, die dank der Initiative von Engländern John und William Parson und die beiden Kata- war der britische Einfluss in Argentinien und ins Leben gerufen wurden, waren multikultu- lanen Lluís d’Osso und Bertoméu Terrades. Die Uruguay. Hier machten die großen britischen relle Veranstaltungen, zu denen sich nicht nur Mehrheit der elf Gründungsmitglieder waren Kolonien die einheimische Bevölkerung mit englische Migranten einfanden. Ausländer. Die Trikotfarben des FC Barcelona den englischen Freizeitbeschäftigungen Cri- sollen auf Kampers Heimatkanton zurückge- cket, Rudern, Polo, Tennis und Fußball ver- hen. Die „Barca“-Mitglieder wählten Kamper traut. In Buenos Aires, der ältesten Fußballka- DIE WIEGE DES KONTINENTALEN bis 1930 fünfmal zu ihrem Präsidenten. pitale des Kontinents, hoben 1867 die engli- FUSSBALLS Zwischenzeitlich war aus Hans Kamper Juan schen Bürger Thomas Hogg, dessen Bruder Ja- Gamper geworden, und im Hause des „Barca“- mes und William Herald mit dem Buenos Aires Eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Gründers wurde katalanisch gesprochen. Auf- FC den ersten Fußballklub Südamerikas aus Spiels auf dem Kontinent spielte die Schweiz, grund seiner Sympathien für die katalanische der Taufe. Bis 1906 war Englisch die offizielle wo zahlreiche Engländer lebten (weshalb das Nationalbewegung musste Kamper alias Gam- Amtssprache der Argentine Football Associa- Land auch als „Little England“ firmierte), die die per Spanien 1925 auf Geheiß der autoritären tion (AFA). Die Hispanisierung des Verbands- viel gepriesenen modernen Bildungseinrich- Regierung von Primo de Rivera für sechs Mo- namens zu Asociación del Fútbol Argentino tungen des Landes besuchten. Die Wiege des nate verlassen. (AFA) erfolgte erst 1912. In Uruguay sorgten

4 BRITANNIENS ERFOLGREICHSTES EXPORTPRODUKT: SPIELSZENE AUS DEM LÄNDERSPIEL ZWISCHEN DEN NATIONALMANNSCHAFTEN SCHOTTLANDS UND ENGLANDS (7:2), DAS 1878 IM GLASGOWER HAMPDEN PARK AUSGETRAGEN WURDE. DIE BEIDEN NATIONALTEAMS HATTEN SICH AUCH IN DEM ERSTEN OFFIZIELLEN LÄNDERSPIEL DER FUSSBALL-GESCHICHTE BEREITS 1872 GEGENÜBERGESTANDEN (0:0). picture alliance / dpa vor allem die in Montevideo angesiedelten bri- erste Südamerikameisterschaft ausgetragen. 23 Städten. Die Spiele wurden von insgesamt tischen Bildungsinstitutionen für die Verbrei- Sieger des weltweit ersten Kontinental-Cham- 700.000 Zuschauern verfolgt. In Deutschland tung des Spiels. Im Mai 1891 gründete William pionats war Uruguay, das den Wettbewerb mit empfing in der Saison 1926/27 der FC Bayern Leslie Pool, Lehrer an der English High School, Argentinien bis 1949 dominierte. Nur dreimal, München das Team von Penarol Montevideo den Albion Cricket Club, der ab 1893 auch eine nämlich 1919, 1922 und 1939 hieß der Sieger im Stadion an der Grünwalder Straße. Der uru- Fußballsektion unterhielt. Viele der ersten weder Uruguay noch Argentinien, sondern guayische Meister mobilisierte die Rekordku- Klubs formierten sich um britische Unterneh- Brasilien (1919; 1922) bzw. Peru (1939). lisse von 30.000 Zuschauern. Auch Boca Ju- men und Fabriken in der Hauptstadt. Schon Eine Schlüsselstellung bezüglich der Errich- niors aus der argentinischen Hauptadt Buenos früh entwickelte sich ein Spielverkehr zwi- tung einer interkontinentalen Fußballbrücke Aires und den brasilianischen AC Paulistano schen den beiden Ländern, deren Hauptstädte zwischen Europa und Amerika kommt den mit dem Starspieler Artur Friedenreich zog es nur 110 Meilen auseinander lagen. Am 16. Mai olympischen Fußballturnieren von 1924 und nach Europa. 1901 bestritten Argentinien und Uruguay das 1928 zu, die beide von Uruguay gewonnen erste Länderspiel gegeneinander, zugleich das wurden. erste Länderspiel außerhalb Großbritanniens, Die „Urus“ waren das erste Nationalteam Süd- VOM OLYMPISCHEN TURNIER wo bereits 1872 auf dem West of Scotland Cri- amerikas überhaupt, das Europa besuchte. Mit ZUR FUSSBALL-WM cket Ground in Glasgow eine schottische und ihrem schwarzen Superstar José Leandro An- eine englische Auswahl aufeinander getroffen drade lehrte die „Celeste“ den Europäern eine Die Idee einer Fußball-Weltmeisterschaft war waren. 1883 trugen die britischen Verbände bis dahin weithin unbekannte Spielweise, die erstmals 1905 vom Niederländer Anton Wil- erstmals die britische Meisterschaft aus, das im Gegensatz zur britischen Schule stand und lem Hirschmann auf der zweiten Versamm- erste Länderturnier überhaupt, die 1984 ein- die von Ballgefühl, Individualismus, Improvi- lung der Fédération Internationale de Foot- gestellt wurde. sationsgeist und Leidenschaft geprägt war. ball Association (FIFA) vorgetragen worden. 1905 wurde zwischen Argentinien und Uru- Aber auch in taktischer Hinsicht wussten die Hirschmann hatte in Bern sogar schon einen guay erstmals ein Pokal ausgespielt, dessen Südamerikaner zu beeindrucken. Das europäi- Spielplan in der Tasche. Zu diesem Zeitpunkt Namensgeber der schottische Philanthrop und sche Publikum war von ihren Darbietungen befanden sich erst zwölf nationale Verbände Tee-Baron Thomas Lipton war. In Brasilien ver- fasziniert. unter dem Dach des 1904 in Paris gegründe- lief die Entwicklung langsamer und kompli- Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren engli- ten Weltverbands. Hirschmanns Enthusiasmus zierter. Hier waren nicht nur die Briten, son- sche, italienische und portugiesische Klubs stieß auf wenig Resonanz. dern auch andere europäische Einwanderer – nach Südamerika aufgebrochen, wo sie in Bra- Bei der Olympiade 1908 in London war erst- wie beispielsweise die Deutschen – für die Ein- silien, Argentinien und Uruguay Eindruck mals auch der Fußball im Programm. Sieger führung des Spiels verantwortlich. hinterließen. Nach der Olympiade 1924 verlief des ersten olympischen Fußballturniers war die Reisetätigkeit in umgekehrter Richtung. eine Auswahl Großbritanniens. Bei den fol- Südamerikanische Fußballer waren nicht mehr genden Spielen 1912 in Stockholm konnten HOHES NIVEAU DER SÜDAMERIKANER nur Exoten, sondern eine sportliche Attraktion. die Briten ihren Titel verteidigen. Der Erste BEEINDRUCKT EUROPA Im Februar 1925 begann Nacional Montevideo Weltkrieg bereitete dann dem Internationa- eine fünfmonatige Europa-Tournee, der sogar lismus der FIFA-Macher ein jähes Ende. Auch In Südamerika erreichte der Fußball sehr früh- die heimische Meisterschaft geopfert wurde. die Olympiade 1916, für die als Austra- zeitig ein sehr hohes Niveau, das auch die Eu- Das mit einigen Olympiasiegern gespickte gungsort vorgesehen war, fiel dem Krieg zum ropäer beeindruckte. Bereits 1916 wurde die Team spielte in 160 Tagen in neun Ländern und Opfer. Zwei Jahre zuvor hatte die FIFA das

5 DIETRICH SCHULZE-MARMELING olympische Fußballturnier als „Amateur-Welt- heim bleiben. Die restlichen neun Teilnehmer wie wirtschaftlich zu einem Erfolg und ani- meisterschaft“ anerkannt. kamen vom amerikanischen Kontinent: zwei mierte zur Fortsetzung des WM-Projekts. Die 1924 in Paris lag die Organisation des olympi- aus Nord- bzw. Mittelamerika, sieben aus Süd- 17 Spiele wurden von immerhin 447.500 Zu- schen Turniers dann erstmals bei der FIFA. Die amerika. schauern besucht, von denen allerdings fast Veranstaltung geriet zu einem großen Erfolg. 93 Prozent auf nur fünf der Begegnungen ent- 22 Nationen nahmen teil, darunter mit Uru- fielen, vier davon bestritt der Gastgeber. In guay auch erstmals ein Team aus Südamerika. EINE PRIMÄR SÜDAMERIKANISCHE Buenos Aires wurde nach dem Abpfiff des Fi- 1928 in Amsterdam waren dann außer dem Ti- VERANSTALTUNG nales das uruguayische Konsulat mit Steinen telverteidiger Uruguay auch noch Argentinien beworfen. Der frustrierte Mob löste sich erst und Chile zugegen. Die erste WM war somit eine primär südame- auf, nachdem die Polizei mehrere Schüsse ab- Die Turniere von 1924 und 1928 dokumentier- rikanische Veranstaltung. Im Finale blieben die gegeben hatte. ten die Möglichkeit einer eigenständigen Fuß- Südamerikaner mit Gastgeber Uruguay und ball-Weltmeisterschaft. Hinzu kam, dass Profis Argentinien unter sich – bis heute das einzige von der olympischen Veranstaltung ausge- rein südamerikanische Finale in der Geschich- SPORTLICHER NATIONALISMUS schlossen waren, wenngleich eine Reihe süd- te des Turniers. WIRD GESTÄRKT amerikanischer Kicker kaum „Amateure“ ge- Vor dem Anpfiff des Finales beschlagnahmten wesen sein dürften. Bereits 1926 hatte der uruguayische Soldaten und Polizisten 1.600 Die WM-Premiere veränderte das Klima im Franzose Henri Delaunay für die FIFA erklärt: Revolver. Der belgische Referee John Langenus Weltfußball. Das Turnier stärkte den sport- „Der internationale Fußball kann nicht länger hatte angeordnet: „Keine Waffen im Stadion.“ lichen Nationalismus, was die Attraktivität des innerhalb der Beschränkung der Olympischen Die Begegnung im Estadio Centenario Monte- Wettbewerbs erhöhte. Die Idee internatio- Spiele existieren; viele Länder, in denen der video wurde von 93.000 Zuschauern verfolgt. nal organisierter Kräftevergleiche hatte sich Professionalismus nun anerkannt und organi- Star der „Urus“ war – wie schon 1928 in Ams- durchgesetzt, wenngleich unter etwas ande- siert ist, können nicht länger durch ihre besten terdam – José Leandro Andrade, der beim 5:1- ren Vorzeichen, als von den internationalis- Spieler repräsentiert werden.“ Ein eigenständi- Sieg über Frankreich ein 75-Meter-Solo hin- tisch gesonnenen FIFA-Pionieren ursprünglich ges Fußball-Weltturnier sollte nun Profis und legte, bei dem er gleich sieben Gegenspieler gedacht. Amateure vereinen und einen Vergleich zwi- aussteigen ließ. Das erste WM-Finale war be- Die WM bewirkte zudem die Ausweitung des schen den tatsächlich stärksten Mannschaften reits die 112. Begegnung zwischen der „Ce- bis dahin weitgehend auf Europa beschränk- ermöglichen. leste“ und der „Albiceleste“. ten internationalen Spielermarktes und for- Die Veranstaltung geriet wider den Erwartun- cierte den Exodus südamerikanischer Akteure gen europäischer Verbände sowohl sportlich in Richtung Europa. Des Weiteren markierte BESCHEIDENER AUFTAKT

Das erste WM-Turnier fand 1930 in Uruguay statt. Die Südamerikaner erhielten den Zu- schlag, weil die europäischen Interessenten mit dem (finanziellen) Engagement des uru- guayischen Staates für das Weltturnier nicht konkurrieren konnten und mochten. Bereits das erste WM-Turnier besaß eine politische Di- mension, korrespondierte es doch mit den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Unab- hängigkeit Uruguays. Eigens für die WM ließ die Regierung in Montevideo das Estadio Cen- tenario bauen. Bei der ersten Austragung waren Afrika und Asien noch nicht dabei, ebenso wenig Ozeanien. Da ohnehin nur 13 Länder teilnahmen, durfte man auf eine Qualifikation verzichten. Von den zwölf Gästen wurden einige mehr oder weniger nach Südamerika getrieben. Zwei Monate vor dem Anpfiff des Turniers war noch kein euro- päisches Land gemeldet. Der Ausrichter sah sich bemüßigt, die Europäer mit der Übernahme von Reise- und Unterbringungskosten zu locken; zu wenig für einige von ihnen. So wurde zusätz- lich ein üppiges Antrittsgeld verlangt. Schließ- lich traten nur Rumänien, Belgien, Jugoslawien und Frankreich die lange Seereise an. Keines dieser Länder zählte zu den europäischen Top- adressen, und viele ihrer Auswahlspieler mus- sten auf Grund beruflicher Verpflichtungen da-

DAS ERSTE WM-TURNIER FAND 1930 IN URUGUAY STATT. STAR DER „URUS“ WAR DER LEGENDÄRE JOSÉ LEANDRO ANDRADE (HINTERE REIHE, ZWEITER VON RECHTS). URUGUAY GING IM FINALE GEGEN ARGENTI- NIEN (4:2) ALS ERSTER FUSSBALLWELTMEISTER IN DIE GESCHICHTE EIN. picture alliance / dpa

6 Die Geschichte der FIFA-Fußballweltmeisterschaft das Turnier den Beginn eines internationalen te. 1925 hatte der AC Turin den Argentinier Ju- An der WM 1930 hatte Deutschland nicht teil- Sporttourismus’. Vor dem Finale kreuzten zirka lio Libonatti verpflichtet, der italienischer Ab- genommen, da auch Profis zugelassen waren. 20.000 Argentinier auf Passagierdampfern stammung war. Libonatti und die Darbietun- Der DFB stand mit dem Professionalismus auf den River Plate. Aber auch die anderen süd- gen Uruguays und Argentiniens beim Olympi- dem Kriegsfuß. Die Nationalsozialisten be- amerikanischen Teams wurden von zahlrei- schen Turnier 1928 hinterließen bei Umberto trachteten den Profi-Sport als „verjudete“ An- chen Fans begleitet. Agnelli, Boss der FIAT-Werke und des Lokal- gelegenheit. Trotzdem wurde zur WM in das rivalen Juventus Turin, einen derart starken befreundete Mussolini-Italien ein Team ent- Eindruck, dass er Argentiniens Star Raimundo sandt, dessen Spieler mitnichten reine Ama- FUSSBALL UND FASCHISMUS Orsi in den Norden Italiens lockte. Orsi ver- teure waren. Offiziell gingen die Nationalspie- diente dort das 15-fache eines italienischen ler einem „ordentlichen Beruf“ nach, de facto Die folgende WM 1934 wurde in Europa bzw. Grundschulllehrers. 1931 wurde auch sein wurden sie von ihren Arbeitgebern für ihr Italien ausgetragen. Gemeldet waren immer- Landsmann Luisitó Monti „Italiener“, nachdem „Hobby“ Fußball freigestellt oder mit „leichter hin schon 32 der mittlerweile 47 FIFA-Mitglie- er ein 150.000-Lire-Angebot von Juventus an- Arbeit“ versorgt. Reichstrainer Dr. der, sodass erstmals eine Qualifikation erfor- genommen hatte. Bei der WM 1934 trat Ita- und sein Team bereiteten sich mit einem aus- derlich war. Mit dem Spiel Italien gegen die lien mit vier Spielern – neben Orsi und Monti gedehnten Trainingslager auf die WM-Pre- Tschechoslowakei kam es zu einem europäi- noch Enrique Guaita und Atilio Demaría – an, miere vor, Testspiele gegen das englische Pro- schen Finale. Im mit 55.000 Zuschauern nicht die zuvor das Trikot der „Albiceleste“ getra- fiteam Derby County eingeschlossen. Wo den ausverkauften Stadio Nazionale del Partido gen hatten. Drei der „Ex-Argentinier“ – Monti, Arbeitgebern Ausfallgelder zu zahlen waren, Fascista in Rom gewann der Gastgeber nach Guaita und Demaría – besaßen nach dem sprang Berlin ein. Die Nerz-Elf erreichte das Verlängerung mit 2:1. WM-Reglement keine Spielberechtigung für „kleine Finale“, wo man das mittlerweile in die So richtig funktionierte die interkontinentale die „Squadra Azzurra“, doch die FIFA drückte Jahre gekommene „Wunderteam“ der Österrei- Brücke zwischen den beiden Pfeilern des Welt- beide Augen zu. Von 1929 bis 1943 verdingten cher mit 3:2 schlug. Spiel und Ergebnis hatten fußballs – Südamerika und Europa – noch sich 118 so genannte „Rimpatriati“ in der ita- auch eine politische Note. In Österreich war der nicht. Weltmeister Uruguay verzichtete auf lienischen Liga. Dabei handelte es sich um Profifußball bereits 1924 legalisiert worden, eine Titelverteidigung, Retourkutsche für das Spieler vom südamerikanischen Subkontinent, und Wien war eine Metropole des so genann- Fernbleiben Italiens 1930. Lediglich Argenti- die auf italienische Wurzeln verweisen und die ten „Donaufußballs“, quasi ein Gegenentwurf nien und Brasilien waren nach Europa gekom- italienische Staatsbürgerschaft beanspruchen zum englischen Spielstil, der dem deutschen men. Argentinien schickte allerdings nur eine konnten, die ihnen von der faschistischen Dik- Gekicke einige Jahre deutlich überlegen war. drittklassige Garnitur, da es die aggressive Re- tatur auch bereitwillig gewährt wurde. 60 der Für die nationalsozialistischen Fußballfunktio- krutierungspolitik italienischer Klubs fürchte- „Rimpatriati“ kamen aus Argentinien, 32 aus näre war der Wiener Fußball das Feindbild Uruguay und 26 aus Brasilien. schlechthin, auch weil sich unter seinen Funk- Mit zwölf europäischen und nur vier außereu- tionären, Managern und Spielern eine Reihe ropäischen Teilnehmern war das Turnier ge- von Juden befand. Nach seiner Rückkehr aus wissermaßen eine Umkehrung der Veranstal- Italien wurde das Team von Reichstrainer Otto tung von 1930, und bereits im Viertelfinale Nerz als „Amateur-Weltmeister“ gefeiert. waren die Europäer unter sich.

ERSTES „JAHRHUNDERTSPIEL“ DIE WM ALS PROPAGANDAINSTRUMENT UND „GROSSDEUTSCHES“ DEBAKEL

Mit Ägypten und einem aus jüdischen Siedlern Auch die WM 1938 in Frankreich war eine pri- bestehenden Team Palästinas hatten erstmals mär europäische Angelegenheit. Zwölf euro- auch Afrika und Asien gemeldet, in der End- päischen Teilnehmern standen jeweils ein Teil- runde waren dann aber nur die Nordafrikaner nehmer aus Südamerika, Nord- und Mittel- dabei. Es sollte allerdings bis 1970 die letzte amerika und erstmals auch Asien gegenüber. Endrundenteilnahme eines afrikanischen Lan- Mit Kuba und Niederländisch Indien konnten des bleiben. sich zwei von den Europäern als „exotisch“ Auf dem Turnier lastete ein politischer Schat- empfundene Länder qualifizieren. ten. Das faschistische Mussolini-Regime er- Im Stade de la Meinau zu Strassburg erlebten kannte den politischen Nutzen des Spiels und 25.000 Zuschauer das erste „Jahrhundertspiel“ internationaler Sportwettkämpfe und inves- in der Geschichte des Weltturniers, bei dem tierte erhebliche Summen in den Bau und die sich Brasilien und Polen gegenüberstanden. Modernisierung von Stadien und Maßnahmen Nach 120 Minuten gewann die südamerikani- zur Verbesserung der Infrastruktur. Die WM sche Mannschaft, für die der schwarze Spieler riss ein tiefes Loch in die Staatskasse, das man Leonidas, den Europäern als „Diamante Negro“ nun u. a. durch Lohnkürzungen zu stopfen (Schwarzer Diamant) angekündigt, vier Tore versuchte. Auch vor einer massiven Beeinflus- erzielte, mit 6:5. Die Begegnung von Straßburg sung der Schiedsrichter schreckten die Aus- ist bis heute die torreichste in der WM-Ge- richter nicht zurück. schichte. Ebenfalls viermal traf der Oberschle- Italien spielte mit einem System, das „il meto- sier Ernest Willimowski, der später auch noch do“ genannt wurde und dem Land erstmals als Ernst Willimowski das Trikot der deutschen das Image eines Horts des Defensivfußballs Nationalmanschaft tragen sollte. verpasste. Für manche Beobachter repräsen- Weltmeister wurde erneut Italien, dieses Mal tierte das System die faschistische Denkweise vollauf verdient. Im Finale wurde Ungarn im Pa- von Fußballern als (unbewaffnete) Krieger der riser Stade des Colombes mit 4:2 besiegt. Die Nation. Italiener erwiesen sich gegenüber den ungari- Der Weltmeister von 1934 ging als „hässlicher schen Ballkünstlern als dynamischer, geradlini- Sieger“ in die Annalen ein. Sowohl aufgrund ger und durchschlagskräftiger. Auch in takti- der politischen Umstände seines Triumphes scher Hinsicht stellten sie das modernere Team. wie seiner häufig überharten Spielweise. Nicht Die deutsche Nationalelf erlebte ein Desaster: wenige Beobachter waren der Auffassung, Nach dem „Anschluss“ Österreichs hatte dass Italien dieses Turnier nur im eigenen Land Reichstrainer die Nationalelf gewinnen konnte. gemäß der 6:5-Formel aufzustellen – sechs

7 DIETRICH SCHULZE-MARMELING

Deutsche, fünf Österreicher oder umgekehrt. dessen wurden sie Zeugen der größten Tragö- Ein Projekt, auf das weder die deutschen noch die in der Fußballgeschichte Brasiliens. Selbst die österreichischen Kicker, die unterschied- fünf WM-Titel bzw. der Status des Rekord- lichen Fußballphilosophien frönten, Lust ver- Weltmeisters konnten die 90 Minuten von Ma- spürten. Herberger später: „Jede einzelne racana bis heute nicht vergessen machen. Mannschaft wäre besser als eine gemischte Dem Gastgeber genügte bereits ein Remis ge- gewesen.“ gen den härtesten Widersacher Uruguay, doch Das „Aus“ kam bereits in Runde eins, nachdem am Ende hatte die „Celeste“ mit 2:1 die Nase man der Schweiz im Wiederholungsspiel mit vorn. Die Brasilianer spielten zwar den schöns- 2:4 unterlegen gewesen war, was im Land der ten Fußball auf dem Subkontinent, aber in tak- Eidgenossen einen nationalen Taumel auslöste. tischer Hinsicht waren ihnen die „europäi- Vittorio Pozzo, Trainer und Architekt der scher“ agierenden Uruguayer überlegen. Mit Squadra Azzurra, prophezeite den dritten und Obdulia Varela nahm erstmals in der Ge- endgültigen Gewinn des Coup de Rimet beim schichte der WM ein farbiger Spielführer die folgenden Turnier 1942. Doch der Zweite Trophäe in Empfang. Weltkrieg torpedierte Pozzos Ambitionen. Die Nach der Pleite im eigenen Land begann in WM wurde abgesagt, das designierte Austra- Brasilien eine heftige Diskussion um das Mit- gungsland Deutschland aus der FIFA ausge- wirken farbiger Spieler. 1888 war Brasilien das schlossen. letzte Land gewesen, das offiziell die Sklaverei abschaffte. Im Sport blieben Schwarze bis in die 1920er-Jahre hinein weitgehend ausge- 1950 – DIE BRÜCKE STEHT schlossen. Einige führende Klubs wie Flumi- nense, Botafago, Gremio und Palmeiras ver- Nach dem Krieg nahm der interkontinentale folgten diese Politik bis in die 1950er-Jahre Charakter des Turniers an Fahrt zu, auch be- hinein. Forciert wurde die Debatte noch durch fördert durch Entwicklungen im Transportwe- das Ausscheiden der Selecao bei der folgenden sen, namentlich der zivilen Luftfahrt. Die WM WM in der Schweiz. Brasiliens Nationaltrainer 1950 in Brasilien geriet zum ersten wirklichen ortete den „Rassenmix“ als Ursache des Schei- „Interkonti-Turnier“. Europa war mit sechs terns: „Die Übel liegen tiefer als nur im takti- Ländern vertreten, darunter nun auch erst- schen Bereich, sie gehen auf die Gene zurück.“ mals das „Fußball-Mutterland" England, das dem Projekt einer WM bis dahin die kalte Schulter gezeigt hatte. Der von England mit DAS „WUNDER VON BERN“ großer Skepsis betrachte Aufbau internationa- ler Strukturen war eine Sache anderer Länder Afrika, Asien und Ozeanien blieben auch bei gewesen, allen voran Frankreichs. den folgenden Turnieren weitgehend unbe- Südamerika stellte in Brasilien fünf Teilneh- rücksichtigt, wenngleich 1954 in der Schweiz mer. Auch die USA waren dabei und sorgten mit Südkorea zum zweiten Male ein asiati- mit einem historischen 1:0-Sieg über England scher Vertreter auftauchte. In der Schweiz ge- für eine handfeste Sensation. Mit seiner Poli- wann mit Deutschland zum ersten und bis tik der „Splendid Isolation“ hatte England, das heute einzigen Male ein Außenseiter das Tur- sich bis dahin als der „wahre Weltmeister“ be- nier. Im Berner Wankdorfstadion, wo das Team trachtet hatte, den Anschluss an die Entwick- von Trainer Sepp Herberger de facto ein Heim- lung des Weltfußballs verloren. 1953 empfing spiel absolvierte, verwandelten England auf dem „heiligen Rasen“ von Wem- und Co. vor 60.000 Zuschauern einen 0:2- bley Olympiasieger Ungarn. Puskas, Hidegkuti, Rückstand gegen die hoch favorisierten Un- Kocsis, Bozsik und Co. gewannen mit 6:3, de- garn in einen 3:2-Sieg. Die staunende Öffent- ENDLICH BRASILIEN montierten den „Lehrmeister“ nach allen Re- lichkeit konstatierte ein „Wunder“. geln der Fußballkunst und zerstörten den Kein anderer sportlicher Triumph der deutschen Seit der Einführung der WM war Brasilien der Glauben an die ewige Überlegenheit des engli- Nationalelf wurde so politisiert wie das „Wun- einzige Dauergast gewesen. In Schweden 1958 schen Fußballs. „Zeigt ihnen wer die Lehrmeis- der von Bern“. Dabei agierte die offizielle Politik durften die Ballkünstler endlich ihren ersten ter sind, Boys“, hatten die englischen Gazetten eher zurückhaltend: Beim Finale waren weder WM-Titel einfahren – nicht zuletzt dank einer noch vor dem Spiel getönt. 1955 veröffent- der Kanzler noch irgendein anderer Bundesmi- für die damaligen Verhältnisse äußerst profes- lichte der aus Wien stammende Journalist Wil- nister zugegen. Auch nach dem Abpfiff begab sionellen Vorbereitung. Im Finale besiegte die ly Meisl sein Buch mit dem Titel „Soccer Revo- sich kein hochrangiger Politiker nach München, Selecao Gastgeber Schweden mit 5:2. Star des lution“ – eine brillante Analyse der Entwick- um die Weltmeister zu empfangen. Die offiziel- Turniers war ein 17-jähriger junger Mann, der lung des englischen Fußballs wie des Spiels le Politik wurde von der öffentlichen Rezeption auf den Namen Pelé hörte. Die „Frankfurt Rund- überhaupt. Meisl diagnostizierte einen Mangel überrascht, die politischen und gesellschaft- schau“ schrieb über die Darbietungen der Bra- an Intelligenz im englischen Spiel. Beim Duell lichen Implikationen wurden vom „offiziellen silianer, eine Schilderung ihrer Ballbehandlung mit Ungarn hätte „Hirn über Muskeln“ trium- Bonn“ nur mit erheblicher Verspätung zur sei „mit europäischen Vokabeln nicht möglich, phiert. Kenntnis genommen und dann offenbar als weil es für die ständigen Tricks und Täuschun- eher unangenehm empfunden. Grund war die gen keine Worte gibt, da sie selbst in Fußball- massive politische Instrumentalisierung des Europa nicht vorkommen.“ BRASILIENS TRAGÖDIE Sports durch die Nationalsozialisten. Beim „Treter-Turnier“ in Chile 1962 konnte IM MARACANA-STADION Mit einem Schnitt von sagenhaften 5,4 Toren Brasilien den WM-Titel verteidigen. Die Tur- pro Spiel war das Turnier das bis heute torreich- niervorbereitung der Selecao verlief erneut Doch zurück zum Turnier von 1950. Die brasi- ste, wozu der neue Weltmeister erheblich bei- sehr professionell. Mittels Höhentraining wur- lianische Regierung und die Stadt Rio de Ja- trug: Gegen die Ungarn unterlag man beim er- den Lungenvolumen und der Anteil roter Blut- neiro hatten für das Turnier das größte Sta- sten Aufeinandertreffen in der Vorrunde zu- körperchen erhöht. Gegenüber 1958 war die dion der Welt bauen lassen. Zum letzten Spiel nächst mit 3:8. Anschließend schlug das DFB- Mannschaft nur auf wenigen Positionen neu der Finalrunde waren 199.854 Zuschauer in Team die Türkei mit 7:2 und Österreich mit 6:1. besetzt und somit bestens eingespielt. das Maracana-Stadion gekommen, um den Mit 25 Treffern in sechs Spielen waren die Deut- Auf dem Spielfeld ging es häufig brutal zu. Das neuen Weltmeister Brasilien zu feiern. Statt- schen der bis heute torhungrigste Weltmeister. schlimmste aller Spiele fand zwischen dem

8 Die Geschichte der FIFA-Fußballweltmeisterschaft

nehmen, wurde aber aufgrund seiner Politik DEUTSCHE SPORTDIPLOMATIE der Apartheid von der FIFA ignoriert. ERZIELT DURCHBRUCH Bei den vorausgegangenen vier Turnierteil- nahmen hatten die Engländer wenig bewegen Beim WM-Turnier 1970 waren sogar sowohl können. 1950 und 1958 schied das „Mutter- Asien wie Afrika dabei, allerdings jeweils nur mit land“ bereits in der Vorrunde aus, 1954 und einem Land (Israel bzw. Marokko). In der Höhen- 1962 jeweils im Viertelfinale. Doch im eigenen luft von Mexiko – erstmals wurde ein WM-Tur- Land sah dies nun anders aus. nier nicht in Südamerika oder Europa angepfif- Im Finale kam es zum „Klassiker“ England gegen fen – feierte Brasilien seinen dritten WM-Tri- Deutschland, das vor 96.924 Zuschauern im umph und durfte den Coup de Rimet behalten. Wembleystadion – unter ihnen die Queen – Im Finale deklassierte die Selecao Italien vor durch das berühmteste und umstrittenste „Tor“ 107.000 Zuschauern im Estadio Azteca von Me- BRASILIENS FUSS- der WM-Geschichte entschieden wurde. Sein xiko City mit 4:1. Für Pelé war es sein letzter BALL-LEGENDE PELÉ Schütze hieß Geoffrey Hurst, der noch zwei WM-Auftritt. Das Turnier wurde anschließend POSIERT BEI DER weitere Treffer zum 4:2-Sieg der Engländer bei- als Triumph des Offensivfußballs gefeiert. Bra- ERÖFFNUNG DER steuerte. Es bleibt der Spekulation überlassen, silien erzielte in sechs Begegnungen 19 Treffer. AUSSTELLUNG „100 ob Schiedsrichter Gottfried Dienst aus der Mexiko 1970 gilt noch heute als das spielerisch JAHRE PLANET FUSS- Schweiz das „dritte Tor“ auch in einer anderen beste WM-Turnier. Anstatt kraftvollen körper- BALL“ IN Arena gegeben hätte. In Deutschland haderte lichen Einsatzes dominierte die Technik. Die NEBEN EINEM FOTO, man vor allem mit dem russischen Linienrich- Schiedsrichter mussten nicht einen Platzver- DAS IHN ALS AKTEUR ter Bachmarov. So schrieb Robert Becker im „Ki- weis aussprechen. IN SEINER AKTIVEN cker“ nicht ohne politischen Unterton: „Ein rus- Wäre es nach dem Willen von Jules Rimet ge- LAUFBAHN ZEIGT. sischer Linienrichter schenkte England die Fuß- gangen, FIFA-Präsident von 1921 bis 1954 und DER AUFSTIEG ball-Weltmeisterschaft (...). Die Hauptschuld an gewissermaßen „Vater des World Cups“, hätte DIESER IKONE DES diesem traurigen Ende, an diesem Skandal, den die erste WM nicht in Südamerika bzw. Uruguay FUSSBALLS BEGANN das Spiel nicht verdient hatte, trägt der Fußball- stattgefunden, sondern im Herzen Europas – ALS 17-JÄHRIGER Weltverband FIFA. Sie hat bei der Ansetzung der genauer: Deutschland. Doch Deutschlands BEI DER WM IN Schieds- und Linienrichter ohne jedes Finger- Fußballfunktionäre lehnten ab, weil beim Tur- SCHWEDEN 1958. spitzengefühl reagiert, schlimmer noch: ohne nier auch Profis zugelassen waren. Für 1938 picture alliance / dpa Sachverstand (...). Ausgerechnet ein Russe! ging dann tatsächlich eine Bewerbung ein, Nachdem wir die UdSSR im Halbfinale elimi- doch auf Wunsch des Franzosen Rimet verzich- niert und sie dabei einen Spieler durch Platzver- teten die Deutschen zu Gunsten von Frankreich. weis verloren hatten.“ Das offizielle Bonn rea- Die WM 1942 fiel – wie erwähnt – der national- gierte angesichts der sich anbahnenden Ost- sozialistischen Eroberungs- und Vernichtungs- West-Entspannungspolitik gelassen. Bundes- politik zum Opfer. Nach dem Zusammenbruch präsident Heinrich Lübke überraschte die Na- galt es zunächst, die schwer beschädigte inter- tionalspieler bei einem Empfang sogar mit ei- nationale Reputation zu rekonstruieren. Die ner Version des Geschehens, die nicht einmal in Turniere 1954 und 1958 kamen für die 1950 England Zustimmung fand und für die es auch wieder in die FIFA aufgenommene junge filmdokumentarisch keinerlei Beleg gibt: „Der Bundesrepublik zu früh. Ball war drin! Ich habe den Ball im deutschen Der DFB begann nun FIFA-intern an die Abma- Tor liegen gesehen.“ chung bezüglich 1942 zu erinnern. 1958 for- Erbost waren aber nicht nur einige deutsche derte DFB-Präsident Dr. vom Medien („Bild“: „Schiedsrichter Dienst soll sich FIFA-Kongress, die Austragung des Turniers sein Leben lang vor ganz Deutschland schä- 1966 an die Bundesrepublik zu vergeben. Doch men!“), sondern auch die Südamerikaner. Ar- das Rennen machte nach einer Kampfabstim- Gastgeber und Italien statt. Statistiker errech- gentinien und Uruguay waren im Viertelfinale mung auf dem FIFA-Kongress 1960 England. neten, dass von den ersten 20 Minuten nur an England bzw. Deutschland gescheitert. Am 8. Juli 1966 war es dann endlich soweit: Die fünf dem Ball gewidmet waren. Hinzu kam Während bei Argentinien gegen England ein Bundesrepublik wurde seitens der FIFA offiziell eine starke Defensivorientierung vieler Teams. deutscher Schiedsrichter das Spiel leitete, mit der Ausrichtung des WM-Turniers 1974 be- Mit lediglich 2,78 Toren im Schnitt pro Spiel übernahm diese Aufgabe bei Uruguay gegen auftragt. Das Votum fiel einstimmig aus. Nur wurde ein neuer Minusrekord aufgestellt. Der Deutschland ein Engländer. Bei den beiden wenige Monate zuvor – genauer: am 16. April Zuschauerschnitt war mit 24.250 der bis heu- Begegnungen wurden gegen die Südame- 1966 – hatte das IOC der bayerischen Landes- te magerste in der WM-Geschichte. rikaner insgesamt drei Platzverweise aus- hauptstadt München den Zuschlag für die Bei der Selecao schied Pelé bereits nach dem gesprochen; und Englands Siegtreffer zum Olympischen Sommerspiele 1972 erteilt. Das zweiten Gruppenspiel verletzt aus, aber dafür 1:0 fiel aus abseitsverdächtiger Position. Die Jahr 1966 bedeutete somit für die bundesdeut- hatten die Brasilianer noch ihren Flügelstür- Südamerikaner vermuteten ein europäisches sche Sportdiplomatie den Durchbruch. 21 Jah- mer und Dribbelkönig Garrincha. Im Finale be- Komplott. Argentiniens Elf wurde bei ihrer re nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und siegten sie die Tschechoslowakei vor 68.679 Rückkehr in die Heimat demonstrativ vom der nationalsozialistischen Herrschaft wurde Zuschauern im Estadio Nacional in Santiago Junta-General Juan Carlos Ongania empfan- Deutschland für würdig befunden, die beiden mit 3:1. gen. Die Tageszeitung „Crónica“ titelte: „Zu- bedeutendsten internationalen Sportveran- nächst stahlen uns die Engländer die Mal- staltungen auszutragen. winen, und nun auch noch den World Cup.“ IM „MUTTERLAND DES FUSSBALLS“ FIFA-Präsident Stanley Rous wurde sogar als „zweiter Hitler“ denunziert. RIVALITÄT MIT POLITISCHER 1966 war endlich das „Mutterland des Fuß- 1966 deutete sich erstmals an, dass die „Exo- BEGLEITMUSIK balls“ Austragungsort. Für die Engländer war ten“ aus den „Entwicklungszonen“ Asien und es erst die vierte Endrundenteilnahme. Die Afrika eines Tages zu einer ernsthaften sport- Das von Spielern des FC Bayern München do- Qualifikation fand ohne Afrika statt. Da die lichen Herausforderung für Europäer und minierte DFB-Team zählte zu den Favoriten FIFA-Führung Afrika und Asien nur einen ge- Südamerikaner avancieren könnten. So be- auf den Titel und wusste den Heimvorteil zu meinsamen Platz zugestand, boykottieren 15 siegte der krasse Außenseiter Nordkorea den nutzen. Im Finale wurden die Niederlande vor zunächst gemeldete afrikanische Länder die zweifachen Weltmeister Italien mit 1:0, was 77.833 Zuschauern im Münchener Olympia- Veranstaltung. Südafrika mochte wohl teil- für diesen die vorzeitige Heimreise bedeutete. stadion mit 2:1 besiegt. Die Begegnung geriet

9 DIETRICH SCHULZE-MARMELING zum Auftakt einer intensiven und auch mit ße Fußball-Establishment Südafrikas einen gabe eines Kredits erkauft haben. Einige Stun- politischer Begleitmusik ausgestatteten Fuß- schweren Stand. Der afrikanische Regionalver- den zuvor hatte Brasilien gegen Polen mit 3:1 ballrivalität zwischen den Nachbarländern. band CAF hatte die Football Association of gewonnen. Um noch das Finale zu erreichen, In spielerischer Hinsicht stellte der „totaal voet- South Afrika (FASA), die den Fußball des Landes musste das Menotti-Team Peru mit einer Dif- bal“ praktizierende Vize-Weltmeister das beste nach den Vorgaben des Apartheid-Systems or- ferenz von mindestens vier Toren besiegen. Team des Turniers. Die Begegnung zwischen ganisierte, 1958 ausgeschlossen, nachdem die Die Experten konstatierten gegenüber den den Niederlanden und Brasilien (2:0) ging als FASA sich geweigert hatte, beim Africa Cup ein Turnieren von 1970 und 1974 einen Rück- weiteres „Jahrhundertspiel“ in die WM-Anna- gemischtrassiges Team aufzubieten. Rous ver- schritt. Taktik und Kampfkraft schienen Tech- len ein. Die WM von 1974 wäre deshalb sicher- trat indes die Auffassung, dass sich die FASA le- nik und Spielfreude endgültig den Rang abge- lich in nachhaltigerer Erinnerung geblieben, diglich nach den Sitten und Gesetzen Südafri- laufen zu haben. wären die Niederländer als Sieger vom Platz ge- kas richte und die FIFA sich nicht in die inneren gangen. Angelegenheiten des Landes einmischen dürfe. 1974 wurde Afrika durch Zaire vertreten, Asien Havelange versprach, dass die FASA ihre Apart- AUF DEM WEG ZUM GLOBALEN EVENT musste sich um einen Platz mit Ozeanien bal- heidpolitik beenden müsse. Auf dem FIFA-Kon- gen, das sich mit Australien durchsetzte. Drit- gress 1976 in Montreal erfolgte dann tatsäch- Für das WM-Turnier 1982 wurden erstmals 24 ter im Bunde der Kleinen war Haiti, das sich in lich der Ausschluss Südafrikas. Auch mit dem anstatt 16 Endrundenplätze vergeben, für die der Nord- und Mittelamerika und Karibik- „Ostblock“ hatte es sich Rous verdorben. Grund sich 105 Länder bewarben. Die Ausweitung er- Zone qualifiziert hatte. Die Bilanz der drei Un- war ein für Ende September 1973 anberaumtes folgte, um Asien und Afrika feste Plätze zu ga- derdogs: ein Remis, acht Niederlagen, 2:33 WM-Qualifikationsspiel zwischen Chile und der rantieren – allerdings nicht auf Kosten der eu- Tore. Die „Kleinen“ waren 1974 noch wirklich UdSSR im chilenischen Nationalstadion zu ropäischen und südamerikanischen Präsenz. „klein“, die „Großen“ noch tatsächlich „groß“. Santiago, in dem die chilenische Militärjunta Afrika erhielt zwei Plätze, für die sich Algerien nach dem Sturz der demokratisch gewählten und Kamerun qualifizierten. Asien und Ozea- Regierung Allende Tausende von „Verdächti- nien wurden zusammen ebenfalls zwei Teil- HAVELANGE CONTRA ROUS gen“ gefangen gehalten und gefoltert hatte. nehmer gestattet, wobei einer dieser Plätze an Die UdSSR verweigerte sich dem Spielort und Neuseeland ging – bis 2006 Ozeaniens letzte Trotz der unveränderten Dominanz von Euro- bat um eine Verlegung der Begegnung in eine Endrundenteilnahme. päern und Südamerikanern markierte das Tur- andere Arena, doch die FIFA beschied dieses Italien wurde zum dritten Male Weltmeister nier in Deutschland einen Wendepunkt in der Ansinnen abschlägig. Am 21. November 1973 und zog mit Brasilien gleich. Im Finale besieg- Geschichte der FIFA und des Weltturniers. Denn wurde das Spiel tatsächlich angepfiffen, aller- te die Squadra Azzurra das Team des DFB vor im Vorfeld der Veranstaltung wählte der in dings ohne sowjetische Beteiligung. Die Chile- 90.000 Zuschauern im Bernabeu-Stadion zu Frankfurt am Main tagende FIFA-Kongress mit nen schoben den Ball in das leere gegnerische Madrid mit 3:1. Mann des Spiels war Paolo dem Brasilianer Joao Havelange erstmals einen Tor. Da kein Gegner auf dem Feld stand, der den Rossi („Rossi Grandioso“), mit sechs Treffern Nicht-Europäer an die Spitze des Weltverbands. Toranstoß hätte ausführen können, wurde das auch Torschützenkönig des Turniers. Gegenkandidat war der amtierende Präsident „Spiel“ abgebrochen und mit 2:0 für die Süd- Gastgeber Spanien erlebte ein Fiasko. In der Sir Stanley Rous. Verkörperte der Engländer aus amerikaner gewertet, die dann nach Deutsch- 1. Finalrunde unterlag man Nordirland mit 0:1, dem öffentlichen Dienst noch den klassischen land fahren durften. in der 2. Finalrunde trennte man sich von Eng- Fußballfunktionär, dem es nicht zuletzt um die Derweil hatte die Zahl der FIFA-Mitglieder land torlos und verlor gegen Deutschland mit Bewahrung des englischen Einflusses im Welt- drastisch zugenommen, eine Entwicklung, der 1:2. In die spanische Fußballgeschichte ging fußball ging, so gerierte sich Havelange als dy- auch das WM-Turnier Rechnung tragen mus- die WM im eigenen Land als „El gran fracaso“ namischer, global denkender und agierender ste. Zum Zeitpunkt der WM 1974 bildeten die (Das große Versagen) ein. Spaniens Scheitern Fußball-Unternehmer. Havelanges Wahlkampf Länder außerhalb der traditionellen WM-Säu- wurde auch auf „ethnische Rivalitäten“ zu- führte ihn durch 86 Länder, wobei er nicht nur len Europa und Lateinamerika bereits die rückgeführt. Basken und Katalanen wurde ein die Stimmen Südamerikas, sondern auch Afri- Mehrheit der FIFA-Mitglieder – Folge der De- Mangel an Identifikation mit der Selección kas und Asiens einheimste. Der Brasilianer, der kolonisierung der Dritten Welt bzw. der Ent- vorgehalten. Zum Sündenbock schlechthin sich und sein Heimatland als Vermittler zwi- stehung neuer souveräner Staaten. geriet der baskische Keeper Arconada, der sich schen den verschiedenen Welten der einen Welt beim Turnier außer Form präsentierte. Ei- pries, versprach den „Fußball-Entwicklungs- nige Journalisten hinterfragten Arconadas Lo- ländern“ eine Verdoppelung der nicht-amerika- TAKTIK UND KAMPFKRAFT GEWINNEN yalität. Zur spanischen Spielkluft gehörten nischen und nicht-europäischen Präsenz beim DIE OBERHAND schwarze Socken, doch Arconada zog die wei- Weltturnier, Hilfe beim Bau und der Moderni- ße Bekleidung seines baskischen Klubs Real sierung von Stadien, technische und medizini- 1978 fand die WM zum zweiten Mal nach Ita- Sociedad vor. Real Sociedad war im WM-Jahr sche Unterstützung sowie Maßnahmen zur lien 1934 in einem diktatorisch regierten Land Landesmeister geworden und hatte fast die Verbesserung der Qualität des dortigen Fuß- statt. Im Austragungsland Argentinien hatte Hälfte seiner Spieler für die Selección abge- balls. Realisieren ließen sich diese Versprechen im März 1976 eine Militärjunta die Macht stellt. nur mit Hilfe von internationalen Konzernen übernommen, die ihre Gegner verschleppte, wie Coca Cola, die nun im Windschatten der von folterte und ermordete. Die FIFA hatte den Havelange betriebenen FIFA-Expansion neue Machtwechsel mit Wohlwollen quittiert, da sie DER „BÖSEWICHT“ DES WELTFUSSBALLS Märkte durchdrangen und Imageverbesserung die Organisation und Durchführung des Tur- betrieben. Unter Havelange steuerte der Welt- niers bei der Junta in besseren Händen wähn- Spanien 1982 war auch die Geburtsstunde des verband in die moderne Welt des Sponsoren- te als bei einer demokratisch gewählten Regie- hässlichen Fußball-Deutschen: Zunächst gab tums. John Sugden und Alan Tomlinson vom rung. Im Juni 1976 erklärten die Militärs die es eine peinliche Auftaktniederlage gegen Al- Department of Sport and Leisure Culture der WM zu einer Angelegenheit nationalen Inter- gerien, der ein deutsch-österreichischer Pakt University of Brighton merken hierzu an: „Ha- esses. In die Modernisierung der Arenen wur- gegen das Dritte-Welt-Land folgte. In Gijon velanges Programm funktionierte traumhaft. den zehn Prozent des nationalen Budgets in- war die DFB-Elf bereits nach elf Minuten in Der Fußball weitete seine Spielbasis aus, Coca vestiert. Führung gegangen. Die verbleibenden 79 Mi- Cola dehnte seine Marktdurchdringung aus Im Finale besiegt der vom Regimegegner Luis nuten verbrachten beide Teams damit, den Ball und die FIFA wurde reicher und reicher.“ Cesar Menotti trainierte Gastgeber die Nieder- hin- und herzuschieben, denn mit diesem lande im Estadio Monumental River Plate in Spielstand waren sowohl Deutsche wie Öster- Buenos Aires nach Verlängerung mit 3:1. reicher – auf Kosten Algeriens – in der 2. Final- POLITISCHE QUERELEN Das Turnier wurde von Manipulationsgerüch- runde. Der Imageschaden war riesig. „Le Figa- ten begleitet. So soll sich Argentinien seinen ro“ sprach von „Lumpen und Idioten“, und „Li- Bei den afrikanischen FIFA-Mitgliedern hatte 6:0-Sieg gegen die müden Peruaner durch Ge- bération“ schrieb: „Wenn die Algerier heute Rous auf Grund seiner Anlehnung an das wei- treide- und Waffenlieferungen sowie die Frei- Rassismus rufen, haben sie nicht ganz un-

10 Die Geschichte der FIFA-Fußballweltmeisterschaft recht.“ Die spanische Zeitung „El Commercio“ DAS WELTTURNIER ALS BUNTES FESTIVAL lerischer Armseligkeit in einer schweren Krise. behandelte das Spiel als Betrug und platzierte Kritiker prognostiziertem dem Fußball gar sein den Spielbericht folgerichtig im Polizeibericht Obwohl die spielerische Qualität eher mager Ende. Doch die WM 1990 wurde zum Auftakt ihrer Ausgabe. Dort ging es in dieser Rubrik ausfiel, avancierte das WM-Turnier 1990 in Ita- einer umfassenden Modernisierung und eines mit einem Fahrraddiebstahl weiter. lien zu einem Markstein in der Geschichte des bemerkenswerten Imagewandels dieses Spiels. Und es sollte noch schlimmer kommen: Im Fußballs. Europas Land des Sports schlechthin, Deutschland holte seinen dritten WM-Titel Halbfinale traf Deutschland auf Frankreich. Die in dem der Fußball zu keinem Zeitpunkt primär und schloss damit zu Italien und Brasilien auf. Elf von Bundestrainer zeigte das ein Arbeitersport gewesen war und das Spiel Im Finale traf die Mannschaft von Teamchef einzig richtig gute Spiel bei dieser WM und ge- schon frühzeitig das Interesse von Kulturschaf- auf einen arg ersatzge- wann schließlich im Elfmeterschießen. Trotz- fenden und Industriekapitänen mobilisiert hat- schwächten Gegner. Das DFB-Team um Kapi- dem verband sich mit diesem Auftritt ein wei- te, präsentierte die WM in einer Form, die für tän Lothar Matthäus besiegte Titelverteidiger terer, nachhaltiger Verlust an Reputation – ver- jeden zugänglich war – ungeachtet der Ge- Argentinien vor 73.603 Zuschauern im Stadio ursacht durch das brutale Foul von Torwart Toni schlechtszugehörigkeit und sozialen Herkunft. Olimpico zu Rom mit 1:0. Der Siegtreffer wur- Schumacher am Franzosen Battiston, die fol- Das Weltturnier entwickelte sich nun vom blo- de vom Elfmeterpunkt erzielt, was symptoma- gende Reaktion des Übeltäters („Unter Profis ßen Sportereignis zum bunten Fußball-Festi- tisch für das Turnier war. Das Finale hatten gibt es kein Mitgefühl. Sagt ihm, ich zahle ihm val, für das sich weit mehr Menschen interes- beide Teams über den Weg des Elfmeterschie- die Jacketkronen.“) und die Nicht-Reaktion des sierten, als nur jene, die sich normalerweise ßens erreicht. DFB. zum Fußball bekannten. Die Stadien waren Mit 2,21 Toren pro Spiel verzeichnete das Tur- Den Titel „Bösewichte der Weltgeschichte“ be- modern und komfortabel, für das kulturelle nier einen neuen Minusrekord. Die FIFA reagier- saßen die Deutschen bereits dank des Zweiten Begleitprogramm sorgten keine Blaskapellen, te und modifizierte einige Regeln: Der Rückpass Weltkrieges und des Holocausts. An diesem sondern Pavarotti und Co. In den Jahren vor zum Torwart durfte nun von diesem nicht mehr Abend in Sevilla erwarben sie auch noch den dem Turnier befand sich der europäische Fuß- mit den Händen aufgenommen werden; und Ruf eines „Bösewichts des Weltfußballs“. Vor ball vor allem aufgrund der Katastrophen von bei „gleicher Höhe“ wurde nicht mehr „Abseits“ dem WM-Finale, dass Deutschland mit 1:3 Brüssel (1985; 39 Tote), Bradford (1985; 56 gepfiffen. Außerdem gab es fortan für einen verlor, veröffentlichte „El Pais“ ein Foto von Tote) und Sheffield (1989; 96 Tote) sowie spie- Sieg drei anstatt nur zwei Zähler. Paul Breitner, der nur noch als „Banditenfüh- rer“ tituliert wurde, und Uli Stielicke mit der Bildzeile: „Zwei hässliche Deutsche“.

MARADONAS BERÜHMTES HANDSPIEL

1986 hieß das Austragungsland erneut Mexi- ko, das damit als erstes Land zum zweiten Mal den Zuschlag erhielt. Eigentlich war Kolum- bien als Gastgeber auserkoren, doch musste das Land die Austragung aus politischen und organisatorischen Gründen zurückgeben. Das Turnier geriet zur Gala des kleinen Argen- tiniers Diego Maradona. Im Viertelfinale gegen England, politisch belastet durch den voraus- gegangen Krieg um die Malwinen- bzw. Falk- land-Inseln, beging Maradona zunächst das berühmteste Handspiel der WM-Geschichte. Der Schiedsrichter entschied auf Tor, und Ma- radona schob die Verantwortung dem All- mächtigen zu, dessen Hand den Ball ins Tor gelenkt habe. Anschließend gelang ihm noch ein Treffer der Marke „Traumtor“, als er aus der eigenen Hälfte startend drei englische Feld- spieler und den Keeper umspielte. Im Finale besiegten Maradona und Co. Deutschland vor 114.590 Zuschauern im Estadio Azteca mit 3:2. Als bestes Spiel des Turniers gilt indes die Vier- telfinalbegegnung zwischen Brasilien und Frankreich, das „Les Bleus“ mit 4:3 gewannen.

EINE BERÜHMTE UND VIEL DISKUTIERTE SZENE DER WM-GESCHICHTE VOM 22.6.1986 MIT TATORT AZTEKENSTADION IN MEXIKO-STADT: DIE ARGENTINISCHE FUSSBALL-LEGENDE DIEGO MARADONA BOXT IN DER 51. MINUTE DES VIERTELFINALSPIELS GEGEN ENGLAND DEN BALL INS NETZ. MARADONA BEGRÜNDETE SEINEN IRREGULÄREN 1:0-TREFFER MIT DER „HAND GOTTES“, DIE DAS TOR ZUSTANDE GEBRACHT HABE. picture alliance / dpa

11 DIETRICH SCHULZE-MARMELING

IM „LAND DER UNBEGRENZTEN hatte „Frankreich seine Seele wieder gefun- potenzial wusste das Problem der Überbelas- MÖGLICHKEITEN“ den.“ Der Schriftsteller Jean d’Ormesson von tung und kurzen Vorbereitungszeit zu kom- der Académie francaise konstatierte, Fußball pensieren. Ansonsten befanden sich unter den 1994 war mit den USA erstmals ein so genann- sei das „konstitutive Element – vielleicht das „letzten Vier“ mit Deutschland, Südkorea und tes „Fußball-Entwicklungsland“ Austragungs- einzige – eines neuen Gesellschaftsvertrags.“ der Türkei nur Teams, die man diesbezüglich ort einer WM. Die Populärkultur des 20. Jahr- Trotz der negativen Schlagzeilen, für die deut- nicht auf der Rechnung hatte. hundert war amerikanisch, oder sie blieb pro- sche Hooligans zu Beginn des Turniers sorgten, Im Finale trafen mit Brasilien und Deutschland vinziell - mit der großen Ausnahme des Fuß- repräsentierte die WM 1998 eher einen Trend die beiden Länder mit den meisten WM-End- balls. Der Profifußball konnte sich nur dort eta- „hin zu einem Familienereignis und weg von runden (17 bzw. 15) und WM-Finalteilnahmen blieren, wo er die Herzen der Industriearbeiter kriegerischen Männlichkeitsritualen“, wie die (jeweils 7) aufeinander. Es war die erste WM- eroberte. In den USA war dies aber nicht der Fall „Frankfurter Rundschau“ schrieb. Das Turnier Begegnung zwischen diesen beiden über- gewesen. Nicht Fußball, sondern Baseball stieg wurde auch als „Vollversammlung der Mensch- haupt. Die Deutschen lieferten ihr bestes Spiel hier zum nationalen Zeitvertreib auf. Baseball heit“ charakterisiert. Statistisch besehen hatte bei diesem Turnier ab, unterlagen aber Rivaldo, besaß den Vorteil einer amerikanischen Erfin- sich jeder der 5,7 Mrd. Erdenbewohner sechs- Ronaldo und Co. vor 72.370 Zuschauern im dung, während Soccer als Spiel der verhassten mal in die TV-Berichterstattung eingeschaltet. Yokohama International Stadium mit 0:2. Das Kolonialherren galt. Das Wohl und Wehe des In spielerischer Hinsicht verzeichnete das Tur- Turnier erlebte die „Wiederauferstehung“ des Fußballs entschied sich im Jahre 1873, als die nier erstmals seit 1974 wieder einen Aufwärts- lange verletzten Ronaldo, der mit acht Toren Studenten der Harvard-Universität Soccer als trend. Die Experten registrierten die internatio- auch Torschützenkönig wurde. „weichlich“ und „unamerikanisch“ verwarfen nale Ausbreitung des Kurzpassspiels und eine und sich für Rugby entschieden. Andere Uni- Verbesserung hinsichtlich Athletik und Technik. versitäten folgten dem Beispiel. In anderen Län- „GLOBALISIERUNG“ ALS STRAPAZIERTES dern wäre dies kein Hindernis für die Ausbrei- SCHLAGWORT tung von Soccer gewesen, doch in den USA bil- 2002 – EIN ZWEIFACHES NOVUM deten (und bilden) die Schulen und Universitä- „Globalisierung“ war eines der am häufigsten ten die Basis für den Profisport. Die WM 2002 bedeutete gleich in zweifacher strapazierten Schlagwörter bei dieser WM Entgegen europäischer Skepsis geriet die WM Hinsicht ein Novum. Erstmals wurde das Tur- 2002. 361 der 736 für das Turnier gemeldeten im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zu nier in zwei Ländern ausgetragen; und erstmals Kicker verdienten ihr Geld bei ausländischen einem Erfolg. Im Schnitt pilgerten 68.991 Bür- wurde weder in Amerika noch in Europa gekickt, Arbeitgebern, die in der Regel in Europa behei- ger in die riesigen Arenen, der mit Abstand sondern in Asien, genauer: Südkorea und Japan. matet waren. Von 32 teilnehmenden Teams höchste Zuschauerzuspruch in der Geschichte In Sachen Spielkultur bedeutete das Turnier kamen zwar nur 15 aus Europa, aber 31 von des Turniers. In spielerischer Hinsicht war das gegenüber Frankreich 1998 eher einen Rück- ihnen hatten in Europa kickende Nationalspie- Turnier zumindest nicht schlechter als Italien schritt. Es dominierte „Teamgeist“. Fast alle Trai- ler an Bord. Das ökonomische Zentrum des 1990, wenngleich erstmals ein Finale torlos ner predigten die Bedeutung des Kollektivs, In- Weltfußballs liegt unverändert in Europa. endete, so dass der Weltmeister per Elfmeter- dividualisten hatten einen schweren Stand. Die Länder Asiens und Afrikas sind längst kei- schießen ermittelt werden musste. In diesem Zugleich gestaltete sich das Turnier so span- ne Prügelknaben mehr. Die globale Professio- behielt Brasilien gegen Italien vor 94.949 Zu- nend wie keine WM zuvor, auch bedingt durch nalisierung hat das Leistungsgefälle verrin- schauern im Rose Bowl zu Pasadena die Ober- das Versagen vieler „Großer“, deren für Cham- gert. „Kleine“ Länder verbesserten ihre Infra- hand und ist seither alleiniger Rekord-Welt- pions League-Vereine kickende Stars nach ei- struktur, und ihre besten Spieler verdingen meister. ner langen und intensiven Saison müde wirk- sich in den Ligen der europäischen Fußball- ten. WM-Beobachter Pelé: „Hier hat es fast je- Hochburgen. Italiens Trainer Marcello Lippi den Tag einen neuen Titelanwärter gegeben, macht noch eine weitere Beobachtung: In sei- AUS 24 WERDEN 32 und 14 Stunden danach ist er ausgeschieden.“ nem Land wachse eine Generation heran, „für Lediglich Brasilien mit seinem riesigen Spieler- die Fußball nicht mehr Nationalsport ist. Die Von einem Weltturnier lässt sich eigentlich mit Kinder interessieren sich doch mehr für Com- Fug und Recht erst seit Frankreich 1998 spre- puterspiele. (...) Die ärmsten Länder, in denen chen. Die Zahl der Endrundenteilnehmer wur- Fußball nach wie vor ein Volkssport ist, holen de weiter erhöht, von 24 auf 32. Neun der End- UNSER AUTOR auf. Die Länder können unter zahllosen jungen rundenteilnehmer kamen aus Afrika (5) und Spielern wählen, die keine Play Station und Asien (4). Dietrich Schulze- keinen Computer haben und deswegen mehr Brasilien ging als Favorit in das Turnier, unter- Marmeling (Jg. Freizeit draußen verbringen.“ lag aber im Finale dem Gastgeber vor 80.000 1956) wohnt in Doch der große sportliche Durchbruch lässt Zuschauern im Pariser Stade de France klar mit Altenberge bei noch auf sich warten, wofür im Falle Afrikas 0:3. Brasiliens Trainer Zagallo ließ einen sicht- Münster und ar- insbesondere organisatorische und finanzielle lich unfitten Ronaldo auflaufen. Es wurde ge- beitet als Autor Gründe ausschlaggebend sind. Bis unter die munkelt, auf Geheiß von Selecao-Sponsor und Lektor. In sei- „letzten Vier“ schaffte es von den asiatischen Nike. Der Weltstar spielte apathisch. Die Ange- ner Freizeit trai- und afrikanischen Teilnehmern bislang nur legenheit sollte später noch eine Untersu- niert er eine (recht Südkorea anlässlich der WM 2002, wobei die chungskommission des brasilianischen Parla- erfolgreiche) Ju- Bedingungen, unter denen dies dem WM- ments beschäftigen. gendmannschaft. Gastgeber gelang, kaum wiederholbar sind. Das Finale wurde so zur großen Show eines Er ist Autor einer Aufgrund der Regenzeit wurde das Turnier anderen Spielers: des Franzosen Zinedine Zi- Reihe von fußballhistorischen Büchern: „Die sehr früh angepfiffen. Den Stars der europäi- dane, der zwei der drei Tore erzielte. Die Fran- Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft“ schen Champions League-Klubs blieb somit zosen konnten noch einen weiteren Titel ver- (4. Auflage 2006), „Die Geschichte der deut- kaum Zeit zur Regeneration. Entsprechend buchen, denn die Équipe tricolore war wohl schen Nationalmannschaft“ (2. Auflage müde trafen sie in Asien ein. In Südkorea hat- der „multikulturellste“ Sieger der WM-Ge- 2001), „FC Bayern – Geschichte eines Re- te man indes die Saison bereits vier Monate schichte. Aus den Nationalfarben „bleu-blanc- kordmeisters“ (3. Auflage Herbst 2006), vor Beginn des Turniers beendet, so dass der rouge“ wurde über Nacht und für einen kurzen „Der Ruhm, der Traum und das Geld – Die niederländische Trainer Guus Hiddink sein Moment „black-blanc-beur“ – schwarz, weiß Geschichte von Borussia Dortmund“ (5. Auf- Team wie eine Vereinsmannschaft betreuen und die dunkle Tönung der maghrebinischen lage 2005), „Davidstern und Lederball – die konnte. Beim Start des Turniers war sein Team Einwanderer. Die siegreiche Équipe tricolore Geschichte der Juden im deutschen und körperlich topfit. Mittels Fitness und Team- wurde zum Symbol eines neuen Republika- internationalen Fußball“ (2004, Herausge- geist wusste Hiddink die technische und takti- nismus und der Überlegenheit republikani- ber) und „Strategen des Spiels – Große Fuß- sche Überlegenheit gegnerischer Mannschaf- scher Werte gekürt. Für Staatspräsident Chirac balltrainer“ (2005, Herausgeber). ten zu kompensieren. Den Heimvorteil nut-

12 NICHT NUR DER BALL IST RUND: DIE HÄNDE BRASILIANISCHER SPIELER HALTEN DEN WM-POKAL HOCH: BRASILIEN GEWANN AM 30.6.2002 DAS ENDSPIEL DER 17. WM GEGEN DEUTSCHLAND MIT 2:0. DIE SÜDAMERIKANER SICHERTEN SICH DAMIT ALS REKORD-WELTMEISTER IHREN FÜNFTEN TITEL. picture alliance / dpa zend bzw. angepeitscht von einem fanatischen nicht vom austragenden Kontinent. Mit Süd- besten Kicker versammelt ist. Doch als media- Publikum und begünstigt durch einige frag- korea/Japan war die Angelegenheit 2002 ge- les Event und globales Fußballfest bleibt der würdige Schiedsrichterentscheidungen fielen wissermaßen offen – es gewann Brasilien, das World Cup unverändert die Nummer eins des die Südkoreaner über ihre (müden) Gegner wie wohl auch zu den großen Favoriten des WM- Fußballs. Wohl nicht nur in Deutschland ist ein wild gewordener Wespenschwarm her – Turniers 2006 zählt. dabei ein interessanter Trend zu beobachten: bis sie im Halbfinale selbst die Kräfte verließen. Obwohl die Nationalmannschaft bei der WM 1998 und den EM-Turnieren 2002 und 2004 DIE ZUKUNFT DES TURNIERS vorzeitig die Segel streichen musste, erlebten LEISTUNGSGEFÄLLE HAT SICH VERRINGERT die Einschaltquoten anschließend keinen dra- Bei der Europameisterschaft 2004 gab es bei matischen Einbruch. Im Viertelfinale gab es bislang vier Teilnah- einer geringeren Anzahl von Spielen weitaus men: Nordkorea 1966, Kamerun 1990, Senegal mehr „erstklassige“ Spiele zu sehen als bei der 2002 und Südkorea 2002. Aber auch Nord- WM 2002, was in der größeren Leistungsdich- und Mittelamerika und die Karibik können, ob- te bzw. der gegenüber Weltturnieren deutlich wohl seit 1930 dabei, nicht mehr als ein Halb- geringeren Zahl krasser Außenseiter begrün- LITERATUR finale (USA 1930) und vier Viertelfinals (Kuba det liegt. Die Ausweitung der WM-Teilnehmer- 1938, Mexiko 1970 und 1986, USA 2002) auf- zahl auf 32 bzw. die Entwicklung des Turniers Eisenberg, C. (Hrsg.): Fußball, soccer, calcio. Ein engli- scher Sport auf seinem Weg um die Welt. München 1997 weisen. zu einer „wahrhaftig globalen Veranstaltung“ FIFA 1904 – 2004: 100 Jahre Weltfußball. Göttingen 2004 Von den 34 Mannschaften, die ein WM-Finale brachte zwangsläufig einen gewissen sport- Fischer, G./Roth, H.: Ballhunger. Vom Mythos des brasili- erreichten, kamen 21 aus Europa und 13 aus lichen Niveauverlust. Selbst der „Confedera- anischen Fußballs. Göttingen 2005 Südamerika. Aus Europa waren dies Deutsch- tions-Cup“ 2005 wusste mehr zu bieten, si- Havekos, F./Stahl, V.: Fußballweltmeisterschaft 1930 Uru- guay. Kassel 2004 land (7), Italien (5), Niederlande (2), Tschecho- cherlich auch bedingt durch den im Vergleich Giulianotti, R.: Football. A Sociology of the Global Game. slowakei (2), Ungarn (2), Schweden (1), Frank- zu einer WM geringeren Druck, unter dem die Cambridge/Oxford 1999 reich (1) und England (1), aus Südamerika Bra- Teams operierten. In 16 Spielen fielen 56 Tore. Glanville, B.: The Story of the World Cup. London 2001 silien (7), Argentinien (4) und Uruguay (2). Die Mehrzahl der Teams bevorzugte das Spiel Grüne, H.: WM-Enzyklopädie 1930-2006. Kassel 2006 Lanfranchi, P./Taylor, M.: Moving with the Ball. The Mi- Neunmal kam der Weltmeister aus Südamerika „nach vorne“. Holger Osieck, Leiter der techni- gration of Professional Footballers. Oxford/New York 2001 (Brasilien 5, Argentinien 2, Uruguay 2), achtmal schen Kommission der FIFA: „Der Confed-Cup Markovits, A. S./Hellermann. S. L.: Im Abseits. Fußball in aus Europa (Deutschland 3, Italien 3, Frankreich hat ein sehr hohes Niveau gehabt. Bei der WM der amerikanischen Sportkultur. Hamburg 2002 1, England 1). Kam es zum direkten Duell zwi- werden nicht alle Teams die Standards erfül- Mason, T.: Passion of the People? Football in South Ame- rica. London 1995 schen Europa und Südamerika, was erstmals len.“ Mit Angola, Togo, Elfenbeinküste, Ghana, Meisl, W.: Soccer Revolution. London 1955 beim sechsten Turnier 1958 in Schweden der Trinidad und Tobago, Ukraine und Serbien- Sugden, J./Tomlinson, A.: Great Ball Of Fire. How Big Fall war, so ging der Titel siebenmal in den Sü- Montenegro (die beiden letztgenannten Län- Money is Hijacking World Football. Edinburgh/London 1999 den und nur zweimal in den Norden. Brasilien dern waren allerdings bereits zuvor im Ge- Schulze-Marmeling, D./Dahlkamp, H.: Die Geschichte der errang seine fünf Titel samt und sonders gegen wand der UdSSR bzw. Jugoslawiens bei WM- Fußball-Weltmeisterschaft 1930- 2006. Göttingen, 4. europäische Herausforderer. Turnieren vertreten) werden sieben Neulinge überarbeitete und ergänzte Auflage 2006 Schulze-Marmeling, D. (Hrsg.): Die Geschichte der Fuß- Nur einmal gewann ein Land ein Finale auf des zum Turnier nach Deutschland reisen. ball-Nationalmannschaft. Göttingen 2001 Gegners Kontinent. 1958 besiegte Brasilien Der „beste Fußball“ wird heute ohnehin in der Schulze-Marmeling, D.: Fußball. Zur Geschichte eines Gastgeber Schweden in Stockholm mit 5:2. Le- global vermarkteten europäischen Champions globalen Sports. Göttingen 2000 diglich bei einer weiteren WM kam der Sieger League gespielt, wo ein Großteil der weltweit

13 EIN ENGLISCHER SPORT AUF SEINEM WEG UM DIE WELT Fußball als globales Phänomen

CHRISTIANE EISENBERG

dass das Spiel so alt wie die Menschheit sei, re Variante: jene mit einem kugelrunden und verweisen auf die zahlreichen Vorläufer in Ball, den die Feldspieler nur mit den Füßen Fußball ist eine wahrhaft globale Sport- der vorindustriellen Volkskultur: auf das Cal- weitergeben durften. Diese Spielweise war art und verlangt als ein solches Mas- cio-Spiel des florentinischen Adels zur Zeit der weniger verletzungsträchtig und auch für senphänomen nach einer Erklärung. Renaissance, das Kalagut-Spiel der Eskimos, Berufstätige geeignet. Sie ließ Raum für Christiane Eisenberg geht in ihrem Bei- das russische Lapta, das japanische Kemari Kraft und Artistik, Kalkül und Spontaneität. trag den Fragen nach, worauf sich die und das schweizerische Hornussen. Auch in Und da die Athleten bestimmte Rollen, Popularität des Spiels gründet und wel- England, dem Geburtsland des modernen etwa die des Stürmers, Verteidigers oder ches die sozialen, ökonomischen, politi- Spiels, wurde Fußball schon in vorindustrieller Tormanns, übernehmen mussten, konnten schen und auch kulturellen Rahmenbe- Zeit gespielt. Ob es konkrete Verbindungen sich wie in einem Drama Individualität und dingungen dieses beispiellosen Erfolges zwischen diesen traditionellen Ballspielen und Gemeinschaftsgeist, Egozentrik und Opfer- sind. Ausgehend vom „Mutterland Eng- dem modernen Fußball gibt – das ist indes eine mut, Starallüren und Heldentum entfalten. land“, in dem der Fußball gleichsam am ganz andere Frage, die nach einer differen- ■ Zweitens beanspruchte die Football Asso- grünen Tisch auf eine vernünftige orga- zierten Antwort verlangt. ciation uneingeschränkte Autorität über ihr nisatorische Basis gestellt und damit So waren einerseits die meisten der genannten Spiel. Sie veranlasste nicht nur die Publika- für andere Länder reproduzierbar wur- Spiele längst ausgestorben, als das moderne tion der verabredeten Regeln, sondern traf de, beschreibt Christiane Eisenberg den Fußballspiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- durch die Lizensierung von Schiedsrichtern weltweiten Siegeszug dieser Sportart hunderts Gestalt annahm. Andererseits hatte und sonstigem Fachpersonal auch Vor- und die wesentlichen Entwicklungsim- gerade in England die frühe, schon in vor- kehrungen zu ihrer Durchsetzung. Diese pulse, die dieses Spiel – kurz „Soccer“ industrieller Zeit einsetzende Urbanisierung Maßnahmen verhinderten Streitigkeiten genannt – aus der Geschichte des 20. dazu beigetragen, dass bestimmte Elemente unter den Athleten. Sie bewirkten zugleich, Jahrhunderts erhielt. der „popular culture“ und darunter auch diver- dass eine Grenze zwischen dem abstrakten se Ballspiele in die Alltagskultur der wachsen- Spiel und seiner konkreten Umwelt gezogen den Städte überführt wurden.2 Dennoch muss und Interventionen Außenstehender in das man die Kontinuitätsthese auch für England Wettkampfgeschehen abgewehrt wurden. einschränken. Denn das moderne Fußballspiel So blieb das Fußballspiel auf sich selbst be- EIN WAHRHAFT GLOBALES PHÄNOMEN entstand gar nicht auf dem grünen Rasen, zogen und konnte Eigenweltcharakter ent- sondern am grünen Tisch. falten. Fußball ist heute ein wahrhaft globales Spiel. ■ Drittens stimulierte die Football Association 28,8 Milliarden Zuschaltungen haben die Ex- den Spielverkehr. Die entscheidenden Maß- perten während der letzten Weltmeisterschaft DIE GEBURTSSTUNDE DES MODERNEN nahmen dazu waren die Organisierung eines in Japan und Korea 2002 gezählt, d. h. jeder der FUSSBALLS Ligasystems bis hinunter auf die lokale 6,2 Milliarden Erdenbewohner hat sich, statis- Ebene und die Stiftung einer Trophäe, des tisch gesehen, mehr als vier Mal in die Endrun- Am 23. Oktober 1863 fanden sich Vertreter seit 1871 ausgespielten „FA-Cup“. Auf diese de des Turniers eingeschaltet. Die Sache redu- von Fußballmannschaften der vornehmen Weise konnten auch indirekte Leistungsver- ziert sich jedoch nicht auf ein Medienereignis, Public Schools und der Universitäten Oxford gleiche zwischen den Mannschaften gezo- sondern veranlasst Menschen überall auf der und Cambridge im Freemasons’ Tavern in Lon- gen werden. Zugleich wurden die Spiele, die Welt zu sportlichen Aktivitäten. Nach dem „Big don ein, um die höchst unterschiedlichen für sich gesehen diskrete Ereignisse waren, Count“, einer statistischen Erhebung der Fédé- Spielregeln der einzelnen Bildungsinstitutio- in eine Kontinuität gebracht und bekamen ration Internationale de Football Association nen zu vereinheitlichen. Sie wollten die Vor- eine „Geschichte“ („legendäre Matches“, die (FIFA) aus dem Jahr 2000, beläuft sich die Ge- aussetzungen dafür schaffen, dass ihre Mann- „Ära“ bestimmter Klubs, Spieler usw.). Fuß- samtzahl der Spielerinnen und Spieler auf der schaften untereinander Matches austragen ball wurde so zu einem Element der „Kultur Welt auf 242 Millionen, das entspräche 4,1 Pro- konnten, ohne die Regeln jedes Mal von neu- der Moderne“, die sich nach einer gängigen zent der Weltbevölkerung. Die FIFA zählt 204 em verabreden und sich hinterher über deren Definition dadurch auszeichnet, dass sie Mitgliedsverbände und ist damit auf der Erde Auslegung streiten zu müssen. Im Ergebnis das „Vorübergehende“, „Zufällige“ mit dem flächendeckender verbreitet als die UNO. dieses Gentlemen-Treffens erfolgte daher „Ewigen“ zu verbinden vermag.3 Und: Auf- Ein solches weltweites Massenphänomen ist nicht nur die Festlegung verbindlicher Spielre- grund der Periodizität der Matches konnte erklärungsbedürftig. Seit wann ist Fußball der- geln, sondern auch die Gründung einer Foot- das Fußballspiel die für seine weitere Ent- artig beliebt? Worauf gründet sich die Popu- ball Association (FA), die als Aufsichtsbehörde wicklung so wichtige Symbiose mit Presse larität des Spiels? Welches sind die sozialen, fungieren und in Zweifelsfällen das Interpre- und Kommerz eingehen. ökonomischen, politischen und kulturellen tationsmonopol ausüben sollte. Das war, so ■ Viertens verzichtete die Football Associa- Rahmenbedingungen seines Verbreitungser- lässt sich argumentieren, die Geburtsstunde tion auf die Festlegung sozialer Teilnahme- folges? Dieser Beitrag entwickelt zwei histori- des modernen Fußballs, denn diese beiden kriterien. Im Unterschied zu den vergleich- sche Antworten auf diese Fragen. Zum einen Maßnahmen zusammen schufen die Voraus- baren Organisationen für Leichtathletik, zeigt er, wie das Fußballspiel in seinem Mut- setzung für die erfolgreiche Institutiona- Rudern und Schwimmen, die nur wenige terland England auf eine rationale organisato- lisierung und zugleich Reproduzierung des Jahre später gegründet wurden, führte die rische Basis gestellt wurde, die überall auf der Fußballspiels. für Fußball nicht einmal das Wort „Ama- Welt reproduzierbar war. Zum anderen zeich- teur“ im Namen. Offenbar hatten die Gent- net er nach, welche Entwicklungsimpulse der lemen nicht vorhergesehen, dass das Spiel moderne Fußball aus der wechselvollen Ge- ZUKUNFTSWEISENDE REGELN jemals etwas anderes als ein geselliges Ver- schichte des 20. Jahrhunderts erhielt und wel- gnügen für ihresgleichen sein könnte. Doch che Eigendynamiken des Spiels daraus er- Auch die konkrete Ausgestaltung der Spiel- blieb die soziale Offenheit auch dann noch wuchsen.1 regeln und des Spiels war zukunftweisend: erhalten, als Anfang der achtziger Jahre des ■ Erstens entschieden sich die Gründer bei 19. Jahrhunderts ein Teil der Mitglieder ver- ihren Beratungen gegen eine an der Rugby- suchte, bestimmte Klubs, die Spielern aus IST DAS SPIEL SO ALT WIE DIE MENSCHHEIT? Schule beliebte Spielweise mit einem eiför- der Arbeiterschaft mehr als die Spesen er- migen Ball, bei der das Handspiel und das statteten, von der Teilnahme an den Liga- Die Autoren vieler älterer und mancher neue- Treten des Gegners („hacking“) erlaubt wa- und Pokalspielen auszuschließen. Stattdes- rer Fußballbücher versichern ihrer Leserschaft, ren, und verständigten sich auf eine ande- sen führte die Football Association den Sta-

14 Fußball als globales Phänomen

tus des Berufsspielers ein, und 1888 eröff- den-Baden, stellten sich innerhalb weniger ziale Nähe zum politischen Establishment und nete sie eine Profiliga. Jahre auf die sportlichen Neigungen der zu dessen Fördermitteln einherging. Auf die Diese Regulierung und Organisierung machte zahlungskräftigen Gäste ein. Zu den Multipli- eine oder andere Weise wurde der Fußball in das Associations-Spiel, kurz „Soccer“, zu ei- katoren des Fußballspiels zählten des Weiteren vielen Ländern von den Dynastien und vom Mi- nem Vergnügen, das im Prinzip überall gespielt Geschäftsleute, Bankiers sowie Industrielle litär, von der Politik und den Behörden unter- werden konnte, wo ein den Normen entspre- mit ihren Managern, die im europäischen Aus- stützt. chender Platz vorhanden war. Und daran land und in Übersee Filialen eröffneten, um konnte sich jedermann beteiligen: als aktiver mit billigen Arbeitskräften zu produzieren. Spieler, Zuschauer, Zeitungsleser oder Teilneh- Auch britische Ingenieure und Techniker, die in DIE VERKÖRPERUNG DES MODERNEN mer am sportlich-geselligen „Smalltalk“. den europäischen Metropolen Gas-, Wasser- LEBENSGEFÜHLS leitungen und andere Infrastruktureinrich- tungen bauten, und Studenten, die sich an den In diesem sozialen Rahmen verkörperte das EIN ELEMENT DER ENGLISCHEN Technischen Hochschulen in Deutschland und Fußballspiel das spezifisch moderne Lebens- ARBEITERKULTUR der Schweiz ausbilden ließen, spielten für die gefühl der Jahrhundertwende, insbesondere Verbreitung des Fußballs außerhalb der briti- der Aufsteiger und „Selfmademen“, die offen In England, wo sich „Soccer-Fußball“ bald gro- schen Inseln eine wichtige Rolle. Wo ihr An- für alles Neue waren und sich um Konventio- ßer Popularität erfreute, trat dieser universale schlussbedürfnis zu Klubgründungen und zur nen wenig scherten. Für viele von ihnen waren Charakter u. a. darin hervor, dass sich das zu- Entstehung eines Wettkampfbetriebs führte, der Gebrauch der englischen Sprache und die nächst von bürgerlichen Gentlemen regulierte traten bald ökonomische Interessenten auf Imitation des „English way of life“ auch der und beaufsichtigte Spiel innerhalb weniger den Plan, um den Markt für Sportartikel und Versuch, sich von bestimmten überkommenen Jahre zu einem charakteristischen Element der Sportzeitungen zu erschließen. Und auch Ein- Mustern der eigenen Kultur wie z. B. der Turn- Arbeiterkultur entwickelte. Zwar bildeten Ar- heimische begannen, sich für Fußball zu inter- bewegung mit ihrer Neigung zum Kollekti- beiter unter den Klubmitgliedern und erst essieren. Verschiedentlich wurden sie von den vismus und zur Korrektheit zu distanzieren. recht unter den Funktionären nur eine kleine Briten auch zum Mitmachen aufgefordert, Für die Akzeptanz und den Verbreitungserfolg Minderheit. Vor dem Hintergrund der engli- weil die Gegner fehlten oder die Mannschaft des Importartikels Fußball war die Modernität schen Hochindustrialisierung waren es den- unvollständig war. der Anhänger jedoch nur eine notwendige, noch sie, die der entstehenden Fußballkultur nicht schon eine hinreichende Voraussetzung. ihren Stempel aufdrückten. Dies nicht nur, weil Denn Wurzeln schlug dieser Sport in seinen sich die besten und bekanntesten Profis und EIN SPIEL DER MITTEL- UND neuen Wirtsgesellschaften nur dann, wenn es Halbprofis aus ihren Reihen rekrutierten, son- OBERSCHICHTEN ihnen gelang, die abstrakte soziale Form des dern auch, weil die seit den siebziger und Spiels mit konkreten, auf die jeweilige Gesell- achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erheb- Die neuen Mit- bzw. Gegenspieler rekrutierten schaft zugeschnittenen Sinninhalten zu fül- lich gestiegenen Reallöhne und der von den sich zunächst aus den unmittelbaren Kon- len. Wo das nicht gelang, wie z. B. in Japan, er- Gewerkschaften erkämpfte freie Samstag- taktpersonen der Briten. Es handelte sich also kannten die Zeitgenossen auf dem Fußballfeld nachmittag es ihnen ermöglichten, regelmä- um Geschäftspartner, Manager und Techniker, nicht mehr als zwölf Figuren in kurzen Hosen, ßig zum Fußball zu gehen und den Ligabetrieb in West- und Osteuropa darüber hinaus auch die hinter einem Ball herliefen. zu verfolgen. Um 1910 beliefen sich die Besu- um die Sprösslinge aristokratischer Familien cherzahlen in den Spitzenspielen von Aston bzw. – in Südamerika – um die Söhne der tradi- Villa, Preston North End und Blackburn Rovers tionellen Eliten, die in den von den Briten dort „SINNGEBUNGEN“ DURCH ETHNIE auf durchschnittlich 10.000, und in der Saison errichteten Colleges erzogen wurden. Nicht UND NATIONALISMUS 1913/14 wurden die Spiele der English Foot- wenige der neuen Fußballjünger waren selbst ball League von durchschnittlich 23.000 Men- Immigranten, und ein vergleichsweise hoher Ein Vehikel, solchen „Sinn“ zu erzeugen, waren schen besucht.4 Das Pokalfinale dieses Jahres Anteil rekrutierte sich aus Juden, Studenten die vielfältigen ethnischen Subkulturen, wie erreichte den Vorkriegsrekord von 120.000 Zu- und dem wachsenden Heer der Angestellten, sie z. B. in der österreichischen K.u.K.-Dop- schauern. einer gewissermaßen traditionslosen, erst pelmonarchie und den überseeischen Einwan- mit der Hochindustrialisierung entstehenden derstaaten bestanden. Die Existenz dieser Sub- Schicht. Gemeinsam war allen diesen Gruppen, kulturen führte zu gewissermaßen „natürli- VON ENGLAND IN DIE WELT dass sie am Rand der bürgerlichen Gesellschaft chen“ Mannschaftsbildungen und Spielpaa- angesiedelt waren und nach sozialer Integra- rungen, etwa Böhmen gegen Kroaten oder Die universale Qualität des von der FA tion strebten. Arbeiter hielten sich von dem Italiener gegen Griechen. Dieser Effekt ging je- beaufsichtigten englischen Fußballspiels kam Spiel hingegen weitgehend fern: weil sie kein doch verloren, wenn die Immigranten – wie darüber hinaus darin zum Ausdruck, dass es Geld und keine Zeit dazu hatten, weil sie ande- z. B. in den USA – erfolgreich in den Schmelz- auch außerhalb seines „Mutterlandes“ Anhän- re Freizeitbeschäftigungen wie das Turnen und tiegel der Nationalkulturen absorbiert wurden. ger fand. Dieser Kulturtransfer setzte aller- die Angebote der organisierten Arbeiterbewe- Nachhaltiger wirkte daher die „Sinngebung“ dings eine technische Neuerung des Industrie- gung vorzogen oder weil es – wie in Brasilien aus dem übersteigerten Nationalismus und zeitalters voraus: das moderne Dampfschiff. und anderen südamerikanischen Ländern – den Großmachtphantasien der Jahrhundert- Dieses Verkehrsmittel trug seit dem ausgehen- wegen der Rückständigkeit der Industrialisie- wende, zumal sie die Rivalität mit den briti- den 19. Jahrhundert dazu bei, dass die europä- rung überhaupt erst wenige von ihnen gab. schen Lehrmeistern stimulierte. Im politisch ische Überseewanderung nie gekannte Aus- Es war dieser Mittel-, teilweise sogar Ober- aufgeheizten und aggressiven Klima der letz- maße erreichte und sich auch der allgemeine schichtencharakter, der den Fußballsport in ten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg führte die- Verkehr zwischen England und dem europäi- den europäischen, aber auch den südamerika- se Entwicklung zu einer Emanzipation von den schen Kontinent intensivierte.5 nischen Importländern vom englischen Pro- britischen Lehrmeistern und zur Zurückdrän- Nicht wenige jener Briten, die sich auf die totyp unterschied. Während der englische gung des unbefangenen Kosmopolitismus der Dampfschiffe begaben, hatten einen Fußball Fußball seit den achtziger Jahres des 19. Jahr- Zeit vor 1900. Das äußere Zeichen dafür war im Gepäck.6 An erster Stelle sind wohlhabende hunderts seinen Charakter als Gentlemanver- die Abkehr von der englischen Sportsprache. Touristen aus „aristocracy“ und „upper middle gnügen zunehmend einbüßte und bald als ge- Die Fachverbände, die – mit Ausnahme des class“ zu nennen, die sich den Begleiterschei- nuines Element der Arbeiterkultur galt, behielt „Deutschen Fußball-Bundes“ – zunächst wie in nungen des beginnenden Massentourismus das Spiel außerhalb Englands den in der Entste- England „Football Association“ genannt worden auf der Insel zu entziehen versuchten und auf hungsphase erworbenen Elite- und Mittel- waren, bekamen nun neue Namen in der jeweili- den europäischen Kontinent auswichen. Orte schichtencharakter teilweise bis weit ins 20. gen Landessprache, und aus „football“ wurde wie Nizza und Cannes, Alassio, Portofino und Jahrhundert hinein bei. Für die Institutionali- „Fußball“ oder „voetbal“; die Italiener wählten San Remo, aber auch z. B. die deutschen Mo- sierung des Fußballs in den betreffenden Län- „calcio“, den Namen eines alten florentinischen debäder Bad Homburg, Wiesbaden und Ba- dern war das insofern von Vorteil, als damit so- Spiels aus der Zeit der Renaissance.

15 CHRISTIANE EISENBERG

VOM ELITEN- ZUM MASSENSPORT auf die entsprechenden Subkulturen be- 1920 um einen Pokal und seit 1922 um die schränkt hätte. Nicht selten war es vielmehr Südamerikanische Meisterschaft. Und in Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich so, dass solche symbolischen Konflikte erst Europa organisierten einige Verliererstaa- das Spiel in den meisten Ländern, in denen es durch das Spiel selbst geschürt, ja künstlich ten des Weltkriegs, die von den Sieger- vor 1914 erfolgreich etabliert worden war, zu erzeugt wurden. mächten boykottiert wurden und von den einem Massenphänomen. In Südamerika wur- ■ Zweitens fand Fußball nun das Interesse Olympischen Spielen ausgeschlossen wa- de dieser Aufschwung vom Durchbruch der auch jener Zeitgenossen, die selber niemals ren, internationale Fußballturniere der Ver- Industrialisierung bewirkt, in Russland darü- aktiv gespielt hatten. Die Zuschauerzahlen einsmannschaften: seit 1927 um den Mitro- ber hinaus durch die Oktoberrevolution, die gingen in die Tausende und Zehntausende, pa-Cup, seit 1929 um den Balkan- und Bal- eine Erweiterung der sozialen Basis erzwang. und erstmals erzielten auch Klubs außerhalb tic-Cup. In West- und Mitteleuropa war es der Erste Englands regelmäßige Einnahmen aus Ein- Weltkrieg, der dem Spiel die entscheidenden trittsgeldern. Die meisten berühmten Fuß- Impulse gab. ballstadien Südamerikas und Europas (in- DER DURCHBRUCH DES Wohl alle beteiligten Armeen führten späte- klusive des Londoner Wembley-Stadions) BERUFSFUSSBALLS stens mit dem Übergang zum Stellungskrieg entstanden in dieser Boomphase nach dem 1916/17 sportliche Wettkämpfe durch und Ersten Weltkrieg. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass etwa bauten einen geregelten Trainingsbetrieb auf, ■ Drittens intensivierte sich in Kontinental- seit Mitte der zwanziger Jahre das Thema um so die Truppenmoral aufrechtzuerhalten. europa und in Südamerika der internationa- Berufsfußball diskutiert wurde. Die Spitzen- Fußball (und das diesem Spiel nachempfunde- le Spielverkehr. Um die neuen großen Sta- spieler sahen sich von den Vereinen immer ne Handballspiel) waren die beliebtesten Dis- dien zu füllen, luden die Klubs ausländische stärker beansprucht und verlangten ihren An- ziplinen, die, wie ein preußischer General Teams ein, und um die Hypotheken bezahlen teil an den Einnahmen. Die Klub- und Ver- missbilligend feststellte, „das militärische Le- zu können, gingen ihre Mannschaften auf bandsoffiziellen, im Allgemeinen Angehörige ben bei einzelnen Truppen (bald) mehr be- Auslandstournee. Darüber hinaus wurden der Gründergeneration, beharrten hingegen herrschten als der nüchterne Dienst mit der internationale Turniere ins Leben gerufen. auf dem Amateurprinzip – teils aus Rücksicht Waffe.“7 Vor allem in der Generation der in den Die südamerikanischen Fußballländer, die auf die Finanzen, teils aus politischen Motiven: neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Gebo- sich bereits 1916 in einer Confederación Fußballspieler sollten heldenhafte Vorbilder renen, aber auch bei vielen Älteren wirkte der Sudamericana de Fútbol (CONMEBOL) zu- sein und daher zumindest pro forma Idealisten Weltkrieg so als eine „Werbeveranstaltung“ für sammengeschlossen hatten, spielten seit bleiben. Das Thema Professionalismus wurde den Fußball – mit weit reichenden Konsequen- zen für die Zeit nach 1918. Zum einen sprengte die große Zahl sportfreu- diger Kriegsheimkehrer, die nun in die Klubs, Vereine und auf die Zuschauertribünen dräng- ten, die vorhandenen Kapazitäten, und die Wettkämpfe verloren den vor 1914 entwickel- ten elitären Charakter. Zum anderen konnten viele derjenigen Fußballspieler, die im Krieg sportlich sozialisiert worden waren, das einmal angeeignete Sportverständnis nicht einfach ablegen wie ihre Uniform. Diese Entwicklung wurde in den mittel- und osteuropäischen Ver- liererstaaten noch dadurch gefördert, dass sich die militärischen Kommandobehörden un- ter dem Eindruck der Niederlage und – so in Deutschland – der revolutionären Ereignisse bemühten, die Heimkehrerströme durch ent- sprechende Angebote zu bremsen und zu kanalisieren.8 Die im Krieg erfolgte Vermi- schung sportlicher und soldatischer Verhal- tensweisen wurde daher nur unvollständig rückgängig gemacht, und in den Fußballstadien war ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Fouls und Ruppigkeiten zu beobachten. In der Öffentlichkeit wurde das als Folge einer Prole- tarisierung missverstanden, die indes auch jetzt nur sehr zögerlich erfolgte.

FUSSBALL ALS ELEMENT DER MASSENKULTUR

Ob der Massencharakter des Spiels nun durch den Weltkrieg oder durch andere Faktoren ge- fördert wurde – seine Begleiterscheinungen waren überall in der Welt die gleichen:

■ Erstens kam es zur Ausdifferenzierung ver- schiedener Leistungsniveaus, und in den Metropolen bildeten sich rivalisierende Spit- zenmannschaften. Diese wurden vom Publi- kum mit bestimmten ethnischen, konfessio- nellen und sozialen Kulturen identifiziert, FUSSBALL UND POLITIK IN DIKTATUREN: DIE REPRODUKTION AUS EINEM 2005 VERÖFFENTLICHTEN BUCH ZEIGT DIE SCHALKE-MANNSCH ohne dass sich ihre soziale Basis unbedingt AUTOREN STEFAN GOCH UND NORBERT SILBERMACH DIE VEREINSGESCHICHTE UND INSTRUMENTALISIERUNG DES FUSSBALLSPORTS IN DE

16 Fußball als globales Phänomen

international auch deshalb so heiß diskutiert, tet wurde, schlug auf die „Fußballnationen“ Protest gegen die zunehmende Politisierung weil sich generelle Aussagen über die Natur durch, und zwar unabhängig davon, ob sie des Fußballs (wie auch gegen die lockere der Sache nicht treffen ließen. In einigen Fäl- eine Mannschaft entsandt hatten oder nicht. Handhabung der Amateurregeln) sogar aus len – z. B. in Brasilien – war das Scheinama- dem Weltfußballverband FIFA aus, so dass das teurprinzip die Grundlage für Ausbeutungs- „Mutterland“ des modernen Fußballs, interna- verhältnisse. In anderen – so in der Sowjet- SPIELERTRANSFERS UND SPIELWEISEN tional gesehen, in die Isolation geriet. union und in Deutschland – bot der vertrags- lose Zustand den Spielern die Möglichkeit, ihre Zunächst einmal erweiterte die Weltmeister- Marktchancen optimal auszunutzen. schaft den bis dahin auf Europa beschränkten EUROPÄISCHE UND AUSSEREUROPÄISCHE Der Durchbruch des Berufsfußballs, sei es auf internationalen Spielermarkt, so dass – insbe- INTERESSENKONFLIKTE einer offen kommerziellen Basis, sei es ver- sondere in den kapitalschwachen südamerika- brämt als Staatsamateurismus wie in der nischen Ländern – ein Exodus von Spitzen- Die Instanz, die den internationalen Spielver- Sowjetunion, erfolgte in den meisten europä- spielern einsetzte. Die Einführung des bezahl- kehr und die Spielertransfers regulierte und ischen Ländern (mit Ausnahme Deutschlands)9 ten Fußballs war dort nicht zuletzt eine Maß- überwachte, war die im Jahr 1904 gegründete Anfang der dreißiger Jahre – also rund 40 Jah- nahme, die Stars im Lande zu halten.10 FIFA, die seit 1930 im Vierjahresrhythmus re später als im „Mutterland“ England. Ein Im- Diese Spielertransfers wiederum bewirkten auch die Fußball-Weltmeisterschaft veran- puls ging dabei von der Weltwirtschaftskrise eine gegenseitige Beeinflussung der Spielwei- staltete. Die FIFA beanspruchte von Anfang an und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit sen, wobei sich die den Ozean überspannende ein Weltmonopol, blieb jedoch hinsichtlich der aus, durch die viele europäische Spieler in die argentinisch-italienische „connection“ als be- Zusammensetzung ihrer Führungsspitze und Situation kamen, dass sie ihre Existenz voll- sonders fruchtbar erwies. Juventus Turin z. B. ihrer Politik zunächst eine von Europäern do- ständig aus dem „illegalen“ Fußballeinkom- verschaffte sich über diese „connection“ eine minierte Organisation. men bestreiten mussten. Ein zweiter Impuls legendäre Mannschaft von offensiven Angrei- Das sollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg war ein nach Differenzen mit dem IOC über fern und Ballkünstlern, von denen hier nur der ändern. Denn in Europa war der Spielbetrieb den Amateurstatus gefasster Beschluss der argentinische Star Raymundo „Comet“ Orsi zwischen 1939 und 1945 zunehmend einge- FIFA aus dem Jahr 1930, kurzfristig eine Fuß- genannt werden soll. Der österreichische „Do- schränkt worden und dann ganz zum Erliegen ball-Weltmeisterschaft zu veranstalten. Be- naufußball“ blieb hingegen an seinen mittel- gekommen. Demgegenüber war die Entwick- reits das erste Turnier, das noch im selben Jahr europäischen Entstehungskontext gebunden lung in vielen außereuropäischen Ländern mit großem Aufwand von Uruguay ausgerich- – ein Beleg dafür, dass der globale Austausch kontinuierlich verlaufen, weil diese Länder in dieser Zeit wichtiger war als der europäi- entweder gar nicht am Weltkrieg teilgenom- sche. men hatten oder zumindest von Kampfhand- Schließlich stimulierte die Weltmeisterschaft lungen zu Hause verschont geblieben waren. erneut den sportlichen Nationalismus. Ähnlich Dadurch gewann zunächst der südamerika- wie in den Städten scheint es dabei auch auf nische Fußball an Gewicht – eine Entwicklung, dieser internationalen Ebene vergleichsweise die sich nicht nur auf dem Spielfeld zeigte, wo unerheblich gewesen zu sein, ob den Rivalitä- sich im Endspiel der WM 1950 Uruguay und ten reale politische Konflikte zugrunde lagen Brasilien gegenüberstanden, sondern auch in oder nicht. Allein der Wunsch, in der interna- der Sportpolitik: Der Anteil der europäischen tionalen Konkurrenz zu bestehen, reichte aus, Fußballverbände an der Gesamtmitgliedschaft um das Interesse der Öffentlichkeit in den ein- der FIFA war nämlich zwischen 1945 und 1955 zelnen Ländern zu wecken. von 54 auf 42 Prozent gesunken.12 Für die süd- amerikanischen Delegierten bei den General- versammlungen war es daher ein Leichtes, die FUSSBALL UND POLITIK europäischen Delegierten zu majorisieren, zu- mal die CONMEBOL Blockabstimmungen or- Aus dieser Diagnose, dass das Spiel seit den ganisierte. Nicht zuletzt aufgrund dieser Er- zwanziger und dreißiger Jahren eine Eigendy- fahrung sahen sich führende europäische namik entwickelte und ein Faktor sui generis Fußballfunktionäre in der FIFA seit Anfang der wurde, erklären sich die differenzierten Urtei- fünfziger Jahre veranlasst, die Gründung einer le in der Literatur über das Verhältnis von Fuß- eigenständigen Konföderation zur besseren ball und Politik in den Diktaturen und auto- Vertretung der europäischen Interessen in Er- ritären Regimes Europas und Südamerikas. wägung zu ziehen. Daraus entstand im Jahr Auf der einen Seite lassen sich etwa für die 1955 die Union Européenne de Football Asso- Sowjetunion unter Stalin und für Österreich in ciation (UEFA). der Zeit des „Anschlusses“ an das national- sozialistische Deutschland Willkürakte, Depor- tationen und sogar Morde nachweisen. Auf FUSSBALL IM KALTEN KRIEG der anderen Seite florierte der Spielbetrieb dort, aber auch z. B. im faschistischen Italien, Der europäische Fußball wurde nach 1945 dar- nicht nur trotz, sondern auch und gerade über hinaus durch den Kalten Krieg beeinträch- wegen der Interventionen „von oben“: Denn tigt. Während dieser Konflikt auf viele andere die Diktatoren ließen Stadien bauen, stellten Sportarten durchaus positive Effekte hatte, öffentliche Mittel für Trainingslager bereit und weil nun erneut staatliche Subventionen in den sorgten mithilfe ihrer politischen Massenor- Sport flossen, war das im Fußball nicht in dem ganisationen für große Zuschauerzahlen.11 Das Maße der Fall. Denn im Ostblock realisierte man mag mit erklären, warum jene Länder, die in recht schnell, dass die Konkurrenz gegen die der Zwischenkriegszeit Demokratien geblieben westlichen Profis mit Staatsamateuren nicht zu waren und Sport als Privatsache betrachteten, bestehen war. Deshalb wurden die Talente eher nämlich Frankreich, die Schweiz, die USA, Aus- in andere Sportarten als in den Fußball ge- tralien und nicht zuletzt auch Großbritannien, schickt. Zu den Leidtragenden gehörte auch der im Weltfußball nun an den Rand bzw. – dies bis dahin so erfolgreiche mitteleuropäische gilt für die sich dem Fußball von vornherein Fußball. Den Wiener Klubs kamen die Gegner in NNSCHAFT VON 1939. IM AUFTRAG DES VEREINS RECHERCHIERTEN DIE verweigernden Nationen – weiter an den Rand Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawi- IN DER ZEIT DES DRITTEN REICHES. picture alliance / dpa rückten. Die englische FA trat im Jahr 1928 aus en abhanden, und alle Versuche einer Wieder-

17 CHRISTIANE EISENBERG belebung des einst so populären Mitropa-Cups REFORM DER FIFA manchen FIFA-Kongress der letzten Jahre ge- (1927-1939) scheiterten.13 Erst unter der Ägide prägt haben, sind daher nach ihrer Struktur der UEFA nahm ein neues, diesmal allerdings Mit Havelange begannen moderne Zeiten in der Konflikte zwischen europäischen und außer- eher nach Westeuropa orientiertes Turnier- FIFA. Der neue Präsident verfolgte nicht nur europäischen Interessen. Die afrikanischen system Gestalt an. Seit 1955/56 wurde der „Po- eine konsequente Politik der Kommerzialisie- Länder, deren Gunst sich Blatter immer wieder kal der Europäischen Meistervereine“ ausge- rung des World Cup und erschloss der FIFA ganz neu versichert hat, spielen hier mittlerweile spielt und seit 1960 der „Pokalsieger-Pokal“, der neue Einkommensquellen aus Sponsoring, das Zünglein an der Waage?17 Es ist daher kei- 1971/72 in den „UEFA-Pokal“ überführt wurde. Werbung und dem Verkauf von Fernsehrechten. neswegs sicher, dass diese Entwicklungs- Für die Ländermannschaften wird seit 1968 im Er sorgte auch dafür, dass ein Großteil der so hilfepolitik auf Dauer fortgesetzt wird. Vierjahresrhythmus die Europameisterschaft gewonnenen Millionen in Entwicklungshilfe- veranstaltet. Dazu kamen Turniere für Jugend- programme für den Fußball in der Dritten Welt mannschaften. floss. Hatte die FIFA außerhalb Europas bis da- MODERNISIERUNG DES FUSSBALLS hin allenfalls Schiedsrichterkurse veranstaltet, so wurden jetzt für bedürftige Mitgliedslän- Auch in den klassischen „Fußballnationen” DEKOLONISIERUNG UND FUSSBALL der Trainerakademien, sportmedizinische Kurse Europas und Südamerikas wurde das Spiel seit und administrative Unterstützung organisiert. den sechziger und siebziger Jahren gründlich Auch mittel- und längerfristig sah sich der Auch die mit Hilfe von Sponsoren wie Coca Cola verändert. Insbesondere die Medienpräsenz europäische Fußball durch die wachsende und Adidas durchgeführten Weltmeisterschaf- seit Mitte der achtziger Jahre und die damit außereuropäische Konkurrenz immer wieder ten für Jugendmannschaften der unter 21- einhergehende Kommerzialisierung des Spiel- herausgefordert. In der Sportpolitik machte in bzw. unter 17-Jährigen, deren Ausrichtung ge- betriebs zeitigten rasch Wirkung. den späten fünfziger und sechziger Jahren ins- zielt an afrikanische, asiatische, karibische und Die wichtigste Neuerung gegenüber den voran- besondere die Dekolonisierung Afrikas und südamerikanische Länder vergeben wurde, wa- gehenden Jahrzehnten war die Umstrukturie- Asiens den Europäern zu schaffen. Denn infol- ren Teil dieser Fußball-Entwicklungshilfe. Auf rung der Finanzierungsbasis des Spitzenfuß- ge dieser Entwicklung entstand eine Viel- den internationalen Fußballbetrieb schlug die- balls. Die großen Klubs beziehen heute nur noch zahl neuer Staaten, die alle in die FIFA dräng- se Politik insofern durch, als im Jahr 1982 die den kleineren Teil ihrer Einnahmen aus dem ten, um sich auf der Fußballbühne der Weltöf- Teilnehmerzahl bei der Endrunde des World Cup Verkauf von Eintrittskarten und sichern ihre fentlichkeit bekannt zu machen. Die meisten von 16 auf 24 erhöht worden war, so dass die Existenz zunehmend durch den Verkauf von dieser Newcomer waren in Afrika beheimatet. Afrikaner und Asiaten erstmals feste Kontin- Fernsehrechten sowie durch „Merchandising“, Allein 31 von 43 neuen FIFA-Mitgliedern, die gente bekamen. Bis dahin hatte jedes Mal ein d. h. die Vergabe von Logos gegen Lizenzgebühr. dem Weltfußballverband im Jahrzehnt 1957- Play-off zwischen den Siegern der beiden Kon- Infolge des Eindringens von Marktprinzipien 1967 beitraten, repräsentierten diesen Konti- tinente darüber entscheiden müssen, wer teil- sind Höchstgehälter und Transferregelungen nent.14 nehmen durfte und von der Umverteilung der gestrichen worden, der Kartellcharakter der Li- Doch hinter den wenigsten Mitgliedsverbän- World Cup-Einnahmen durch die FIFA profitie- gen ist weitgehend verloren gegangen, und den standen „Fußballnationen“. In den größe- ren würde. auch der Beruf des Fußballspielers hat eine ren Städten Asiens und Afrikas hatten zwar Von Havelanges Nachfolger, Joseph S. Blatter, neue Qualität erhalten. Die Profis sind nach wie bereits die britischen, französischen und bel- wird die Entwicklungshilfepolitik der FIFA seit vor abhängig beschäftigt, doch zumindest die gischen Kolonialherren Klubs und Turniere ins 1998 in noch größerem Maßstab fortgeführt; Spitzenstars sind zugleich Unternehmer in ei- Leben gerufen, so dass die Aktivisten nicht bei denn die Einnahmen aus dem Verkauf von gener Sache. Zusammen mit den Klubs verkau- null anfangen mussten. Die übergroße Armut, Fernsehrechten wuchsen in neuerer Zeit in die fen sie „Erlebnisse“ und werden zu Akteuren des die unzureichende Infrastruktur und die insta- Milliarden. Blatter war als Technischer Direktor Showbusiness. bilen politischen Verhältnisse bedeuteten je- und Generalsekretär der FIFA bereits zwanzig Darüber hat sich auch das Publikum des Fuß- doch in vielen Fällen unüberwindliche Hin- Jahre lang mit der Implementierung der Ent- balls verändert. Statt der „local club suppor- dernisse für einen geregelten Spielbetrieb.15 wicklungshilfeprogramme befasst gewesen, ters“, wie die sozialwissenschaftliche Sport- Als die FIFA 1970 eine Erhebung unter ihren bevor er zum FIFA-Präsidenten gewählt wur- forschung die traditionellen, üblicherweise Mitgliedern durchführte, ergab sich ein er- de, und stand von Anfang an für eine dezidiert dem männlichen Geschlecht angehörenden nüchterndes Bild: Obwohl die 1957 gegründe- globale Politik. Dadurch machte er sich auch Fans nennt, dominieren mittlerweile die „soc- te Confederation Africaine de Football (CAF) Feinde, insbesondere in der UEFA. Die sich cer interested consumers“, und unter diesen mittlerweile 28 Prozent aller registrierten an seiner Person entzündenden Konflikte, die ist ein hoher Frauenanteil zu verzeichnen. Be- Fußballverbände umfasste, entfielen auf sie sonders die Medienpräsenz des Fußballs hat nur 3 Prozent der Teams und Spieler. Ein ähn- die weibliche Hälfte der Bevölkerung für das licher Befund ergab sich für die Asian Foot- Spiel eingenommen. ball Confederation (AFC). Und auch die Sta- UNSERE AUTORIN Diese Modernisierungseffekte wurden teils tistiken der karibischen und der ozeanischen durch den „push“ der Ausrichtung von Welt- Konföderationen vermittelten den Eindruck, Prof. Dr. Christiane meisterschaften in den europäischen Ländern dass die Repräsentanten des Fußballs aus die- Eisenberg, Jahr- flankiert, teils durch den „pull“, der von der sen Regionen der Welt zwar über Enthusias- gang 1956, stu- Auflösung der konfessionellen, klassenspezifi- mus, nicht jedoch über eine solide Basis ver- dierte Geschichts- schen und ethnischen Subkulturen ausging. In fügten.16 und Sozialwissen- England, das nach der selbst gewählten Isolie- Da in der FIFA nach dem Prinzip „one country schaften an der rung in der Zwischenkriegszeit im Jahr 1946 – one vote“ abgestimmt wird, führte die Deko- Universität Biele- wieder in den Klub der Großen zurückgekehrt lonisierung zu erneuten politischen Kräfte- feld; danach von war, kamen die Renovierungsbedürftigkeit der verschiebungen bei den Generalversammlun- 1986-1987 wis- im 19. Jahrhundert entstandenen Stadien und gen und zu Konflikten; denn die Einnahmen senschaftliche die Gewalttätigkeiten der „Hooligans“ als wei- der FIFA stammten überwiegend aus Europa. Mitarbeiterin am tere Faktoren hinzu. Ein wichtiges Motiv der Schließlich wurde 1974 ein Nichteuropäer, der Zentrum für Inter- Modernisierung nicht nur der englischen, son- brasilianische Unternehmer Joao Havelange, disziplinäre Forschung (Bielefeld); 1987- dern auch anderer europäischer Klubs war der zum FIFA-Präsidenten gewählt – mit den 1988 Fellow am Institute for Advanced Stu- Wunsch, dem Trend zur Dienstleistungsge- Stimmen der Dritten Welt. Er löste den gelern- dy (Princeton/N. J.); 1988-1996 Hochschul- sellschaft und den dadurch bewirkten Verände- ten Schulmeister Sir Stanley Rous aus Groß- assistentin am Fachbereich Geschichtswis- rungen in der Beschäftigtenstruktur Rechnung britannien ab, der für die Probleme dieser Län- senschaft der Universität Hamburg. Seit zu tragen. Die Tendenz zum Fußball-Entertain- der kein besonderes Verständnis aufgebracht 1988 ist Christiane Eisenberg Professorin für ment reagiert auch auf die speziellen Bedürf- und manchmal sogar eine Kolonialherren-At- Britische Geschichte am Großbritannien- nisse dieser vergleichsweise wohlhabenden titüde an den Tag gelegt hatte. Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Klientel.

18 Fußball als globales Phänomen

DIE ZUKUNFT DES FUSSBALLS weil er für seine Anhänger selbst einen Sinn- 6 Zum Folgenden ausführlich Tony Mason: Some Eng- lishmen und Scotsmen abroad: the spread of world foot- zusammenhang darstellt. ball. In: Alan Tomlinson/Garry Whannel (Hrsg.): Off the In der Fußballöffentlichkeit wird es verschie- So gesehen, hängt die Zukunft des Fußballs im Ball. The Football World Cup. London 1986, S. 68f. so- dentlich mit Befremden, zum Teil auch mit Be- Wesentlichen davon ab, ob und wie sich der wie die in Fußnote 1 genannten Werke. 7 Georg Maercker: Vom Kaiserheer zur Reichswehr. Ein sorgnis zur Kenntnis genommen, dass die um- Unterhaltungswert des Spiels weiterentwi- Beitrag zur Geschichte der deutschen Revolution. fassende Kommerzialisierung dieses Sports ckeln wird. Viele Faktoren, die hier eine Rolle 1921, S. 309. 8 Für Deutschland vgl. Christiane Eisenberg: „English heute mit einer außerordentlichen Beliebigkeit spielen, so die wirtschaftliche Entwicklung sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschich- und Unverbindlichkeit der Aneignungen und und die allgemeine Sicherheit der Veranstal- te 1800-1939. Paderborn 1999. Kap. 5. Sinnstiftungen einhergeht. Die Bindungen des tungen (Stichwort Terrorismus), können die 9 Dort kam eine 1932 beschlossene Reichsliga wegen der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht zustande. neuen Publikums an die Klubs seien locker, es Verantwortlichen dabei selbst nur in engen Erst die Gründung der im Jahr 1963 holte den sei einseitig erfolgsorientiert und tendiere Grenzen beeinflussen. Wohl aber können sie Schritt nach. dazu, seine Präferenzen für bestimmte Mann- die Qualität der sportlichen Konkurrenz und 10 Vgl. Pierre Lanfranchi/Matthew Taylor: Moving with the Ball. The Migration of Professional Footballers. Ox- schaften „wie die Hemden“ zu wechseln. Infol- damit den Zuschauergenuss erhöhen. Der ford 2001, S. 3. gedessen könne der Fußball nicht mehr auf eine skizzierten Entwicklungspolitik der FIFA und 11 Vgl. die Beiträge von Riordan und Archetti in: Eisen- in konkreten sozialen Zusammenhängen ver- der generellen Bereitschaft der Europäer zur berg (vgl. Anm. 1); ferner Richard Giulianott/G. S. T. Finn: Epilogue: Old Visions, Old Issues – New Horizons, New wurzelte soziale Basis rechnen, sondern müsse Umverteilung der beträchtlichen Einnahmen Openings? Change, Continuity and other Contradictions abstrakt „von der Historie zehren“, so z. B. Dirk aus dem Fußballbusiness kommt auch unter in World Football. In: dies. (Hrsg.): Football Culture. Lo- cal Contests, Global visions. London 2000, S. 258f.; Mat- Schümer, ein scharfsinniger Beobachter der diesem Aspekt strategische Bedeutung zu. thias Marschik: Between Manipulation and Resistance: deutschen Bundesliga.18 Viennese Football in the Nazi Era. In: Journal of Contem- Nach dem in diesem Beitrag vorgenommenen porary History, 34/1999, S. 215-229. ANMERKUNGEN 12 Eigene Berechnungen auf der Basis einer von Heidrun Parforceritt durch die Fußballgeschichte des Homburg für das FIFA-Projekt in Anm. 1 erstellten Über- 20. Jahrhunderts erscheinen solche Befürch- 1 Der erste Teil dieses Beitrags fußt auf Christiane Eisen- sicht: FIFA: Affiliated National Associations (Year of Affi- tungen unbegründet. Zum einen war der mo- berg (Hrsg.): Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport liation). auf seinem Weg um die Welt. München 1997 und den 13 Vgl. Matthias Marschik/Doris Sottopietra: Erbfeinde derne Fußball von vornherein ein Spiel für In- darin abgedruckten Länderstudien. Der zweite Teil fasst und Hasslieben. Konzept und Realität Mitteleuropas im dividuen, die keinen rechten Anschluss an ge- Ergebnisse einer unlängst abgeschlossenen Studie zu- Sport. Münster 2000, S. 319ff. sammen: Christiane Eisenberg/Pierre Lanfranchi/Tony 14 wachsene Gemeinschaften fanden; ja man Vgl. Anm. 12. Mason/Alfred Wahl: FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfuß- 15 Vgl. z.B. Terence Monnington: Crisis Management in kann sagen, er war ein Nutznießer der Indivi- ball. Göttingen 2004. Der Beitrag geht in wesentlichen Black African Sport. In: J. C. Binfield/J. Stevenson (Hrsg.): dualisierungstendenzen des 20. Jahrhunderts Teilen auf eine Veröffentlichung in der Beilage zur Wo- Sport, Culture and Politics. Sheffield 1993, S. 123; Paul chenzeitung „Das Parlament“ zurück; vgl. Aus Politik und Dietschy: Sport and Decolonisation: the French and Bel- und kompensierte sie auf unterschiedliche Zeitgeschichte, B 26/2004, S. 7-15. gian Examples. Unveröffentlichtes Manuskript, Besancon Weisen. Nicht zuletzt deshalb bezog der 2 Vgl. John Goulstone: Football’s Secret History. London 2000. Fußballsport seine Gemeinschaftsideologien 2001. 16 Vgl. Fédération Internationale de Football Association: 3 Baudelaire, Charles: Zur Ästhetik der Malerei und der Report Covering the Period from June 1970 till June von vornherein aus vorgestellten Gemein- bildenden Kunst (= Werke, Band 4). Minden 1906, S. 286. 1972. presented to the FIFA General Congress in Paris. schaften, insbesondere der Nation. Zum ande- 4 Zahlen nach Wray Vamplew: Pay up and Play the 22./23. August 1972. ren hat sich der moderne Fußball im Verlauf Game. Professional Sport in Britain 1987-1914. Cambrid- 17 Vgl. Paul Darby: Africa, the FIFA Presidency and the ge 1988, S. 62. Governance of World Football: 1974, 1998 and 2002. In: seiner mehr als hundertjährigen Geschichte 5 Hatten die Kanalfähren in den dreißiger Jahren des 19. Moving Bodies, 1/2003, S. 47-61. längst zu einem Kulturgut sui generis entwi- Jahrhunderts jährlich etwa 50.000 Passagiere nach Ost- 18 Dirk Schümer: Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs. ende, Le Havre, Boulogne, Calais und Dieppe gebracht, so Berlin 1996, S. 117ff. ckelt. Eine Verstärkung durch außersportliche waren es Anfang der achtziger Jahre 250.000 und um Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, 1900 eine halbe Million.

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19 DER MANN, DER DEN FUSSBALL NACH DEUTSCHLAND BRACHTE Walther Bensemann: Kosmopolit des Fußballs

BERND-M. BEYER

bracht. Gesellschaftliche Anerkennung war Eintracht). Prägend war sein Wirken aber vor Die Geschichte des deutschen Fußballs ist damit nur bedingt verbunden, obwohl ein Teil allem in Karlsruhe, wo er 1889 mit dem Inter- mitgeprägt durch innere politische Kon- der jüdischen Gemeinschaft sich bemühte, national Football Club zunächst den ersten flikte, die ihre Dynamik aus allgemeinen durch eine betont säkulare Haltung und dem süddeutschen Fußballverein überhaupt grün- gesellschaftlichen Entwicklungen zogen. Bekenntnis zum „Deutsch-Sein“ die latente dete und zwei Jahre später mit dem Karlsruher Bis zum Beginn des Nationalsozialismus Diskriminierung zu durchbrechen. FV den für lange Zeit erfolgreichsten. symbolisiert die Person Walther Bense- Wahrscheinlich wuchs Walther Bensemann in Über seinen ersten Auftritt in Karlsruhe be- mann interessante Facetten dieser Ge- einer weltoffenen, intellektuell wie kulturell richtete Bensemann später: „Im September schichte. Er war nicht nur der wichtigste anregenden Atmosphäre auf; seine Mutter soll 1889 ließ ich aus der Schweiz einen Fußball Fußballpionier in Süddeutschland, son- Musikabende im heimischen Salon organisiert kommen; der Ball wurde morgens vor der dern stand zugleich für ein kosmopoliti- haben, und die verwandtschaftlichen Kontak- Schule aufgeblasen und in der 10-Uhr-Pause sches Sportverständnis, das zunehmend te der Familie reichten bis nach Schottland. musste bereits ein Fenster des Gymnasiums in Konflikt mit deutsch-nationalen Strö- Die kosmopolitische Einstellung seiner Eltern daran glauben. Der im Schulhof wandelnde mungen geriet und dem die NS-Diktatur wird schließlich durch die Tatsache unterstri- Professor du Jour (…) hielt eine Karzerstrafe ein brutales Ende bereitete. Zugleich ver- chen, dass sie ihren Sohn im Alter von etwa für angemessen; allein Direktor Wendt erklär- weist die jüdische Herkunft Bensemanns zehn Jahren in den französischsprachigen Teil te sich mit der Bezahlung des Fensters einver- auf den gewichtigen Beitrag, den Juden der Schweiz schickten, wo er in Montreux eine standen und schickte uns auf den kleinen 1 2 bei der Popularisierung des Fußballs in englische Schule besuchte. Exerzierplatz, Engländerplatz genannt.“ Frei- Mitteleuropa bis in die 1930er-Jahre leis- lich kam es immer wieder zu Konflikten mit teten. Karlsruher Bürgern, die sich belästigt fühlten ERSTE BEKANNTSCHAFT oder sich am gewagten Outfit der jungen MIT DEM LEDERBALL Sportler störten; der örtliche Schutzmann wurde eingeschaltet, die Schule drohte wegen Vermutlich schon hier entwickelte sich Bense- des „ungebührlichen Verhaltens“ mit Strafen, manns Begeisterung für alles, was er für typisch und Bensemann galt gemeinhin als „der Eng- KINDHEIT UND JUGEND EINES Englisch hielt: das Ideal des Fair Play, die vorur- länder in der Narrentracht“. KOSMOPOLITEN teilsfreie Offenheit eines Weltenbürgers, die Selbstdisziplin und Philanthropie des Gentle- Obwohl aus Berlin stammend, war Walther man, die Erziehung zum „sportsman“. Und er DER SIEGESZUG DES RUNDEN LEDERS Bensemann maßgeblich daran beteiligt, dass lernte den ihm bis dahin unbekannten Fußball in Baden und Württemberg frühe Hochburgen kennen. Die Tatsache, dass die Schweizer Pri- Dies waren Ressentiments, mit denen die jun- des deutschen Fußballs entstanden. Sein Vater vatschulen seinerzeit stark von englischen Up- ge Fußballbewegung im gesamten Deutschen Berthold war Bankier, seine Mutter Eugenie perclass-Zöglingen frequentiert wurden, hatte Reich zu kämpfen hatte; vor allem die deutsch- entstammte vermutlich einer begüterten Fa- das Land zum ersten kontinentalen Einfallstor national eingestellte Turnerschaft wehrte sich milie aus Breslau. Ihr Sohn Walter (das „h“ im des neuen Sports gemacht. 1883 sah Bense- gegen den vermeintlich schädlichen Einfluss Vornamen legte er sich später eigenmächtig mann zum ersten Mal ein Football-Match eng- der „englischen Modetorheit“ auf die Jugend, zu) wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die lischer Mitschüler, die allerdings Rugby prakti- beschwor die Gefahren für vaterländischen Emanzipation der Juden im Deutschen Reich zierten. Später setzte sich Soccer durch, an dem Geist, Disziplin und Gesundheit. Den Sieges- augenscheinlich große Fortschritte machte. sich auch der junge Deutsche versuchte. 1887, zug des runden Leders vor allem bei jungen Mit der Reichsgründung 1871 waren nahezu im Alter von 14 Jahren, gründete Bensemann Männern aus dem Bürgertum konnte sie damit alle gesetzlichen Diskriminierungen gefallen, gemeinsam mit englischen Mitschülern den nicht aufhalten. Zumal große Teile der Turner- und in der Dynamik der industriellen Revolu- Football Club Montreux und stellte sich stolz als schaft antisemitischen Tendenzen anhingen, tion hatten es nicht wenige jüdische Bürger zu dessen „Sekretär“ vor. begeisterten sich insbesondere auch kosmo- Wohlstand und wirtschaftlicher Macht ge- politisch sozialisierte Jugendliche aus jüdi- schem Hause für den Fußballsport. Aus ihren PIONIER- UND MISSIONSARBEIT IN Reihen sollten bedeutende Spieler, Funktionä- KARLSRUHE re, Trainer und Mäzene hervorgehen. Als der Karlsruher FV beispielsweise 1910 Deutscher Als Walther zwei Jahre später auf ein Gymna- Meister wurde, zählten die beiden jüdischen sium in Karlsruhe wechselte, war er offen- Nationalspieler Julius Hirsch (1945 im KZ ge- sichtlich entschlossen, auch die deutschen storben) und Gottfried Fuchs (1937 emigriert) Schüler für den neuen Sport zu gewinnen. Er zu den Stützen der Mannschaft.3 begann eine etwa zehn Jahre währende Mis- sionsarbeit, in der er mit Tatendrang, Sprach- gewandtheit, charmanter Großspurigkeit und DER GRENZÜBERSCHREITER Streitlust zum wichtigsten Fußballpionier süd- lich des Mains avancierte. Man sah ihn – zu- Bensemann selbst verband seine Werbung für nächst als Schüler, später als ruhelos umher- den Sport mit politischen und ethischen Ziel- ziehenden Studenten – als Vereinsgründer und setzungen. Es gehe darum, den „klaffenden -förderer unter anderem in Straßburg, Baden- Gegensatz der Stände“ zu mildern, es gehe um Baden, Mannheim, Freiburg, Gießen, Würz- sozialpolitische Aufgaben, und es gehe um burg, München (bei einem Vorläufer des heu- „das Bemühen, die Begriffe der Freiheit, der tigen FC Bayern) und Frankfurt (bei den Frank- Toleranz, der Gerechtigkeit im inneren Sport- furter Kickers, einem Vorläufer der heutigen leben, des Nationalgefühls ohne chauvinisti- schen Beigeschmack dem Auslande gegenüber zu wahren.“4 Vor allem das Potenzial des Fuß- balls als internationales Spiel beflügelte seine WALTHER BENSEMANN ALS HERAUSGEBER DES „KICKER“. Phantasie. In einer für ihn typischen Mischung Verlag Die Werkstatt, Göttingen aus persönlichem Ehrgeiz und politischer Uto-

20 DIE KARLSRUHER KICKERS WAREN EIN VON BENSEMANN ZUSAMMENGESTELLTES AUSWAHLTEAM, DAS IN SÜD- DEUTSCHLAND LEGENDÄREN RUF GENOSS. EINIGE BEKANNTE VEREINE, DARUNTER DIE STUTT- GARTER KICKERS, BENANNTEN SICH NACH DIESEM VORBILD. DAS FOTO VON 1894 ZEIGT IN DER MITTE WALTHER BENSE- MANN (MIT BALL) UND GANZ LINKS SEINEN FREUND , DEN SPÄTEREN FIFA-GENERALSEKRETÄR. Verlag Die Werkstatt, Göttingen

pie plante er ein Auswahlteam, das auf dem – und dennoch hatte Bensemann Mühe, ein DIE GRÜNDUNG DES DEUTSCHEN europäischen Festland einen grenzüberschrei- Team zusammenzustellen. Sein Hauptgegner FUSSBALL-BUNDES tenden Sportverkehr herstellen sollte. war der Süddeutsche Fußball-Verband, an des- Zwar gelang es Bensemann bereits 1893, die sen Spitze der konservative Friedrich-Wilhelm Wenige Wochen später erfolgte die Gründung erste internationale Fußballbegegnung in Nohe sowie der streitbare Gus Manning stan- des Deutschen Fußball-Bundes, an der auch Süddeutschland einzufädeln (gegen ein Team den. Manning, Sohn eines jüdischen Kaufman- Bensemann mitwirkte, indem er als Delegierter aus Lausanne), doch scheiterten seine Bemü- nes, störte sich vor allem an Bensemanns Eigen- teilnahm und für den Namen des neuen Ver- hungen, ein französisches Meisterteam nach mächtigkeiten, an dessen Hang zu ausschwei- bandes verantwortlich zeichnete. Um einen Straßburg zu holen. Was Bensemann als Akt fenden Feierlichkeiten sowie einem allzu locke- Funktionärsposten bewarb er sich indes nicht, der Völkerversöhnung verstanden wissen ren Umgang mit Geld. Um die Spiele gegen die wohl auch in der klugen Selbsteinschätzung, wollte, hielt man in Paris für politische Provo- Engländer zu verhindern, schloss der süddeut- dass er mit seinem zuweilen sprunghaften und kation – immerhin war Straßburg im deutsch- sche Verband seinen Pionier Bensemann aus eigensinnigen Vorgehen allzu oft anecken wür- französischen Krieg, also nur zwei Jahrzehnte und drohte jedem Spieler, der an den Spielen de. Stattdessen ging er als Lehrer für Sport und zuvor, von den Preußen in einer mehrwöchi- mitwirken würde, mit der gleichen Sanktion.5 Sprachen ins Ausland, zunächst in die Schweiz, gen Kanonade schwer zerstört worden und in ab 1901 für 13 Jahre nach Großbritannien. Bei den Augen der Franzosen seither widerrecht- diesem Entschluss spielte wohl auch das wenig lich besetzt gehalten. „Wenn wir nach Straß- „UR-LÄNDERSPIELE“ ALS MEILENSTEIN rühmliche Ende seiner akademischen Karriere burg kommen, werden wir mit unseren Kano- eine Rolle: An der Universität Freiburg war er, nen kommen“, beschied eine Pariser Zeitung. Nicht nur aus diesem Grund stand Bense- kurz vor der Dissertation stehend, wegen „Be- Erst fünf Jahre später gelang es Bensemann, manns Arrangement mit der Football Associa- fleckung der Standesehre“ zwangsweise exma- das Eis zu brechen. Er erreichte nach langwie- tion auf äußerst wackligen Beinen – noch un- trikuliert worden. Man warf ihm vor, einige rigen Verhandlungen die Einladung einer mittelbar vor der Anreise der Engländer ver- Gymnasiasten nach dem Fußballspielen zum deutschen Mannschaft nach Paris – der erste fügte er weder über eine halbwegs repräsen- Besuch von Kneipen angeregt zu haben. bedeutsame Sportkontakt zwischen den bei- tative Mannschaft noch über die den Eng- den verfeindeten Nationen. Im Dezember 1898 ländern zugesagten finanziellen Garantien. gelangen einem von Bensemann zusammen- Erst als der Berliner Verband seine Unterstüt- DER SPORT-PAZIFIST gestellten Auswahlteam gegen den Pariser zung zusagte, erst als sich Karlsruher Spieler Meister White Rovers sowie einem Pariser entgegen dem Verbot ihres Verbandes zur Teil- Der Erste Weltkrieg zwang Bensemann, ver- Städteteam zwei Siege. nahme bereit erklärten und erst als eine Gön- mutlich ungewollt, nach Deutschland zurück. nerin in letzter Minute Bensemann einen Pri- Er erlebte diesen Krieg zwischen allen Fronten vatkredit gewährte, konnten die Begegnungen stehend: „Ich habe ihn doppelt empfunden: Es QUERELEN UM BENSEMANNS stattfinden. waren Jahre der Trauer um meine eigenen INTERNATIONALES ENGAGEMENT Diese später so genannten „Ur-Länderspiele“ Landsleute, deren Pyrrhussiege mir das Ende (zwei in Berlin, eines in Prag, eines in Karlsruhe) nicht verschleiern konnten; Jahre der Trauer um Inzwischen aber gab es im deutschen Lager wurden zu einem Meilenstein in der deutschen liebe Kollegen, liebe Schüler aus meiner (...) Tä- Querelen um Bensemanns internationales En- Fußballgeschichte und vor allem in Karlsruhe zu tigkeit in England.“8 Bensemanns Konsequenz gagement. Sie nährten sich aus persönlichen einem gesellschaftlichen Ereignis.6 Die Deut- war die Ablehnung engstirnigen Nationalden- Animositäten – der ehrgeizige Bensemann be- schen verloren zweistellig – doch sie erhielten kens: „Auf den Geburtsort eines Menschen trieb seine Privatdiplomatie an den mittlerwei- erstmals einen prägenden Anschauungsunter- kommt es so wenig an, wie auf den Punkt, von le gegründeten Verbänden vorbei – sowie aus richt über die taktischen und spielerischen Po- wo er in den Hades fährt.“9 Seine Hoffnung war, nationalistisch gefärbten Ressentiments. Ein- tenziale des modernen Fußballspiels. So hieß es dass die Eigendynamik eines grenzüberschrei- flussreiche Kreise plädierten dafür, der Fußball noch 15 Jahre später in der Festschrift eines tenden Sportverkehrs friedensstiftend wirken müsse sich zunächst als „deutsches Spiel“ eta- Berliner Vereins: „Die größte Sensation des al- könnte: „Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht blieren, bevor man sich mit ausländischen Geg- ten Jahrhunderts war das Erscheinen der ersten heute das einzige wahre Verbindungsmittel der nern messen und der Gefahr einer schmachvol- repräsentativen englischen Mannschaft in Ber- Völker und Klassen.“10 len Niederlage aussetzen könne. lin mit den glanzvollsten Namen englischer Um bittere Erfahrungen reicher und um einige Der Streit eskalierte, als es Bensemann 1899 Fußballgeschichte. (...) Sie offenbarte uns eine Unbesonnenheiten ärmer war Bensemann überraschend gelang, die ehrwürdige englische ganz neue Kunst, das genaue flache Zuspiel, das nach dem Weltkrieg wieder an jenem Punkt Football Association für eine Tournee nach Zuspiel an den Hintermann, das exakte Stoppen angelangt, der ihn bereits vor 1900 umgetrie- Deutschland zu gewinnen. Es war die erste Reise des Balles usw., Eigenschaften, die man damals ben hatte: der Förderung internationaler Be- eines englischen Auswahlteams auf den Konti- bei dem guten hohen alldeutschen Spiel abso- gegnungen und Propagierung einer „pazifisti- nent und daher eine sportpolitische Sensation lut nicht kannte.“7 schen Sportidee“.11

21 BERND-M. BEYER

DER LEGENDÄRE „KICKER“ WIRD GEGRÜNDET

Als er 1920 seine Zeitung gründete, den „Ki- cker“, beschrieb er dessen Leitmotiv in vielfa- chen Varianten so: „Der ‚Kicker‘ ist ein Symbol der Völker-Versöhnung durch den Sport.“12 Am Anfang deutete wenig darauf hin, dass dieser Sportzeitung ein längeres Leben beschieden wäre. Bensemann betrieb sie zunächst als ein reines Ein-Mann-Unternehmen, chaotisch verwaltet und von ständiger Geldnot verfolgt. Allerdings war er während seiner langjährigen DIE ERSTE AUSGABE Abwesenheit in Teilen der süddeutschen Fuß- DES „KICKER“ ERSCHIEN ballszene zu einer legendären Figur geworden; AM 14. JULI 1920. man pries ihn als den „Mann, der sich wohl die Verlag Die Werkstatt, größten Verdienste um den deutschen (...) Göttingen Fußball erworben hat.“13 Bensemann konnte alte Mitstreiter der Pionierzeit als Korrespon- denten gewinnen, zugleich verfügte er mitt- lerweile über hervorragende internationale Kontakte, die vor allem nach Ungarn, Tsche- choslowakei, Österreich, in die Schweiz und die Niederlande reichten. Diese beiden Um- stände – sein Renommee in Süddeutschland und sein Ansehen im Ausland – sorgten dafür, dass der „Kicker“ trotz schwierigster Startbe- dingungen überlebte. Kernregion der Zeitung war Süddeutschland; die Redaktion residierte zunächst in Konstanz, dann in Stuttgart, Ludwigshafen und schließ- lich in der Fußball-Hochburg Nürnberg. Einen „Glossen“ stolpern und sich bei aller Tumbheit derspiele gegen Ungarn und Schweden atta- Großteil des Inhalts füllten regionale Beiträge, doch als „Salz der Erde“ fühlen.16 So sehr diese ckierte und Linnemann attestierte, einen doch für Profil und Aufsehen sorgten vor al- Satiren den liberalen und sozialdemokratischen „Mangel an Diplomatie“ gezeigt und „ein Kabi- lem die fundierten Korrespondentenberichte Teil der „Kicker“-Leser amüsiert haben mögen, nettstück von Taktlosigkeit“ abgeliefert zu ha- aus dem Ausland sowie die Leitartikel, die Ben- so sehr ärgerten sie den deutsch-konservati- ben. Linnemann antwortete mit einem Brief, in semann allwöchentlich als „Glossen“ veröf- ven. Deren Unmut eskalierte, als Bensemann im dem er Bensemann vorwarf, er „denke zu fentlichte. Diese „Glossen“ waren oft journa- Februar 1921 statt eines eigenen Leitartikels international“: „Sie wissen ja selbst, dass Sie listische Meisterstücke, in denen Elemente der das Traktat eines Dr. Max Uebelhör auf die er- nicht nur in fremden Sprachen träumen, Sie Nachricht, der Reportage, des Kommentars, sten beiden Seiten seiner Zeitung rückte. Unter fühlen leider nach meinem Empfinden auch zu der Satire, des Reiseberichts und der Leseran- der Überschrift „Der deutsche Jammer“ war stark in fremder Mentalität.“20 sprache kühn miteinander vermengt wurden – darin eine polemische Attacke gegen den Mili- Durch die nationalistisch motivierten Über- nicht selten auf durchaus intellektuellem Ni- tarismus zu lesen, und zwar „denjenigen Made heblichkeiten mancher DFB-Funktionäre sah veau. Es waren „ungewöhnliche Arbeiten“, ur- in , den einzig existierenden also.“17 Es Bensemann das Projekt einer internationalen teilte 50 Jahre später der bekannte Sportpubli- hagelte daraufhin empörte Leserbriefe aus, wie Verständigung mithilfe von Sportbegegnun- zist Richard Kirn, „das Bedeutendste, was je ein der „Kicker“ selbst darstellte, „deutsch-natio- gen gefährdet: „Der Hass gegen Deutschland deutscher Sportjournalist geschrieben hat.“14 nalen Kreisen“. Ein Abonnent kündigte an, er (...) entspringt einer Antipathie gegen schul- Im Nachhinein erschließt sich aus diesen habe die Zeitung nunmehr zum letzten Mal ge- meisterliche Belehrung.“21 Er selbst versuchte „Glossen“ nicht nur eine wichtige Epoche lesen: „Jeder echte Deutsche wird dasselbe solche Begegnungen durch eigene Initiativen deutscher Fußballgeschichte, sondern auch tun.“18 In einer anderen Zuschrift hieß es: „Sie auch praktisch zu fördern, beispielsweise in- das atemlose Leben eines „Weltbürgers“, über sind beide (gemeint sind Bensemann und Ue- dem er englische Trainer nach Deutschland den Kirn schrieb: „Er war in den Luxusherber- belhör) Schurken und verdienen, am nächsten vermittelte, internationale Begegnungen auf gen Europas zu Hause, Mittelpunkt jeder gast- Laternenpfahl gehängt zu werden.“19 Offen- Vereinsebene anbahnte und einen „Friedens- lichen Tafel, schwermütiger Wanderer, (...) nie sichtlich schadete die Affäre dem jungen Un- pokal“ ausschrieb für das erste Spiel zwischen in einer bürgerlichen Wohnung zu Hause.“15 ternehmen auch finanziell erheblich. Bense- einer Mannschaft aus Deutschland und einer mann behauptete später, der Gastartikel habe aus dem mittlerweile wieder zu Frankreich ge- ihn 500 Abonnenten gekostet. Jedenfalls wur- hörenden Elsass.22 „GLOSSEN“ GEGEN OBRIGKEIT de er in der nächsten Zeit vorsichtiger mit po- UND NATIONALISMUS litischen Provokationen. DIE FIFA ALS SPORTLICHER VÖLKERBUND Vor allem in den ersten Jahren enthielten Ben- semanns „Glossen“ meist witzige und geistrei- DER DFB-KRITIKER Diese Bemühungen korrespondierten mit dem che Attacken gegen die Behinderung des Fuß- engen Verhältnis, das Bensemann zu zahlrei- ballbetriebs durch die Obrigkeit und gegen na- Deutlich blieb allerdings seine Kritik am inter- chen Führungsfiguren der europäischen Fuß- tionale Engstirnigkeiten. Oft stellte er dem auf nationalen Gebaren des DFB, insbesondere an ballszene unterhielt. Mit den Verbandspräsi- internationalem Parkett beschränkt und polte- der Person Felix Linnemanns, der im Vorstand denten aus Schweden, Ungarn oder Italien bei- rig auftretenden Deutschen den polyglotten, zunächst für die internationalen Beziehungen spielsweise pflegte er regelmäßige Kontakte, souverän agierenden Engländer oder Schwei- zuständig war. Ihm warf Bensemann in meh- ebenso mit , dem Vater des legendä- zer gegenüber. Als deutschen Prototyp jener reren Leitartikeln arrogantes und überhebli- ren österreichischen „Wunderteams“. Auch Fre- „Kulis einer Epoche, da der Untertan schweif- ches Auftreten gegenüber ausländischen Ver- derick Wall, als Sekretär der englischen Football wedelnd seine Inspiration von einer höheren bänden vor. Einen Höhepunkt erreichte der Association eine graue Eminenz des europäi- Affenkaste empfing“, ließ Bensemann zuweilen Streit, als der „Kicker“ 1923 die offenbar vom schen Fußballs, sowie den FIFA-Generalsekre- eine Kunstfigur namens Kuhwedel durch seine DFB verschleppten Verhandlungen über Län- tär Jules Rimet kannte er gut. Ebenso den lang-

22 Walther Bensemann: Kosmopolit des Fußballs jährigen FIFA-Vizepräsidenten Ivo Schricker, senkämpferischen Implikationen. Zugleich über- mitismus allerdings thematisierte Bensemann der 1932 zum ersten hauptamtlichen FIFA-Ge- sah er nicht, dass es in ihrer Betonung des Fair hier, wie auch bei späteren Anlässen, kaum. neralsekretär gewählt wurde und damit eine Play und des Internationalismus wesentliche Diese Haltung, der möglicherweise Illusionen Schlüsselstellung im internationalen Fußball Berührungspunkte mit seinem eigenen Sport- über die wahre Wucht judenfeindlicher Strö- einnahm. Bensemann hatte Schricker bereits verständnis gab. In diesem Sinne berichtete mungen in Deutschland zugrunde lagen, soll- als Jugendlichen in Straßburg kennen gelernt, er über größere Veranstaltungen der Arbei- te der „Kicker“ bis 1933 beibehalten. hatte ihn dort für den Fußball begeistert und tersportbewegung zuweilen ausführlich und den talentierten Sportler zum Kapitän seines freundlich, bescheinigte einer Arbeitersport- Auswahlteams gegen England gemacht. Seit- zeitung „echten Pioniergeist, wie er uns früher ANTISEMITISMUS VERSCHONT AUCH her verband die beiden Kosmopoliten eine le- beseelte“25, oder erwähnte lobend die erste DEN FUSSBALL NICHT benslange enge Freundschaft. deutsch-französische Nachkriegsbegegnung, Aus Inhalt und Diktion von Bensemanns „Ki- die durch die „Arbeitersportkartelle“ zustande In der Weimarer Republik hatte der Antise- cker“-Glossen wird ersichtlich, dass eine Ver- gebracht wurde.26 mitismus neuen Nährboden gefunden – vor ständigung mit diesen und anderen Größen des In seiner Kritik an den jüdischen Separatver- allem, weil für die politischen Nachwehen europäischen Fußballs für ihn höchste Priorität bänden argumentierte er ebenso moderat und des verlorenen Krieges und für ökonomische genoss – die FIFA sah er als vermittelnde Instanz mit jener Einstellung, die den säkular denken- Krisenphänomene wie Inflation oder Arbeits- für den internationalen Sportverkehr, als eine den Teil der deutschen Juden prägte: „Die Lei- losigkeit Sündenböcke gesucht wurden. Au- Art sportlichen Völkerbund, den er gelegentlich densgeschichte des jüdischen Volkes ist genau ßenminister Rathenau beispielsweise, der die als „das herrlichste Geschöpf der Welt“ pries.23 wie die der ersten Christen oder die der ersten schwierigen Reparationsverhandlungen mit Protestanten ein Schandfleck der Geschichte. den Alliierten zu führen hatte, wurde von der Allein sie sollte dazu führen, Humanität und To- politischen Rechten als „gottverfluchte Juden- DER DFB ISOLIERT SICH INTERNATIONAL leranz als Prinzipien gelten zu lassen. Neben sau“ geschmäht und fiel 1922 einem Attentat den vielen hoch gebildeten Israeliten, die sich in zum Opfer. Umso heftiger geriet seine Kritik, als sich der der Nation, von der sie einen Bestandteil bilden, Auch der Fußball blieb von antisemitischen Vor- DFB mit den „Hannoveraner Beschlüssen“ 1925 akklimatisiert hatten und die zum Teil als Phi- fällen nicht verschont. Der Wiener Sportjour- international isolierte. Auf einer Tagung des lanthropen und Förderer der Künste über den nalist Willy Meisl (ein Bruder des erwähnten ös- Verbandes war beschlossen worden, zur Vertei- Rahmen ihres Landes hinaus gewirkt haben, terreichischen Verbandskapitäns Hugo Meisl) digung des deutschen Amateurideals künftig gibt es eine ganze Reihe von Staatsbürgern der- zitierte im „Kicker“ ein Beispiel aus dem öster- den Spielverkehr mit Profiteams aus der Tsche- selben Konfession, die nur durch eine inten- reichischen „Volksblatt“. Darin wurde behaup- choslowakei, Ungarn und Österreich zu ver- sive soziale Vermischung mit Andersgläubigen tet, der Fußball werde „von jüdischem Gelde er- bieten – also mit den seinerzeit spielstärksten gewinnen kann. Warum also etwas Trennen halten (...), um die Leidenschaften der Massen Teams auf dem Kontinent. Dieser „ungeheuer- des in eine Bewegung hineinschaffen, welche aufzupeitschen und die rohen Instinkte der liche“, „taktlose“ und „überhebliche“ Beschluss die Einigkeit als obersten Grundsatz pflegt?“27 Menschen zu wecken.“ Meisl, der selber jüdi- (Bensemann) war in den folgenden Jahren im- Die aktuelle Gefahr eines wachsenden Antise- scher Herkunft war, kommentierte: „No also, mer wieder Ziel seiner Attacken: „Es wird sich herausstellen, dass die übergroße Majorität der FIFA-Verbände durchaus nicht gesonnen ist, am deutschen Sportwesen zu genesen. Ich habe dies schon vor Wochen und Monaten befürch- tet; als Antwort auf meine Befürchtungen ka- men die Beschlüsse von Hannover, die von ei- ner Weltfremdheit ohnegleichen zeugten und durch ihre verkehrte psychologische Einstel- lung unsere wenigen Freunde im Ausland ge- gen uns aufbrachten.“24 Zum zugrunde liegenden Streitpunkt – Ableh- nung des Profitums – nahm Bensemann eine pragmatische Haltung ein. Er akzeptierte, dass die Zeit des großen englischen Amateurideals, wie es in den von ihm verehrten Corinthians verkörpert war, wohl abgelaufen war, und plä- dierte für Lockerungen in den Amateurbestim- mungen. Einen regelrechten Profibetrieb in Deutschland lehnte er jedoch ab – weniger aus DIE „KICKER“- ideologischen denn aus ökonomischen Grün- JUBILÄUMSAUSGABE den: Er befürchtete, dass im krisengeschüttel- VON 1930. ten Deutschland die Sportvereine ein solches Verlag Die Werkstatt, Experiment nicht überleben könnten. Göttingen

EIN VERFECHTER SPORTLICHER EINHEITSORGANISATIONEN

Auch in anderen großen Streitfragen des deut- schen Fußballbetriebes argumentierte Bense- mann zumeist zwar mit polemischer Feder, aber in der Sache selbst mit Pragmatismus und ohne ideologische Scheuklappen. Als Verfechter von sportlichen Einheitsorganisationen beispiels- weise lehnte er separate Arbeitersportvereine ebenso ab wie konfessionelle Verbände. An den Aktivitäten der Arbeitersportler kritisierte er deren (partei-)politische Agitation und klas-

23 BERND-M. BEYER bitte! Ist er nicht an allem Schuld? – Wer? – Blö- Bensemann druckte den Artikel nach und ließ Grundhaltung aufgeben zu müssen. Aus freien de Frag`: der Jud!“28 ihn durch – überwiegend ablehnende – Gast- Stücken wählte er einen Weg, der ihn 1933 Entsprechenden Konflikten im deutschen Sport beiträge kommentieren. Ein Vorgehen, das ihm schließlich in die Arme der Nationalsozialisten wich Bensemann in seinen „Glossen“ eher aus. seitens des „FuL“ den Vorwurf einbrachte, er führen musste. Zwar veröffentlichte er zuweilen Leserbriefe habe „das ganze Heer“ seiner „Spottjournalis- oder Presseberichte, die antisemitische Stim- ten aufgeboten, um Herrn Dr. Klein lächerlich mungen in der Turnerschaft kritisierten, doch zu machen und seine Gedanken als die Ausge- BEMERKENSWERTE KARRIEREN kommentierte er sie zurückhaltend mit den burt eines nationalistischen Gehirns zu ver- Worten: „Zu einer Diskussion (dieser Berichte) dummteufeln.“33 Danach verging kaum eine Gerade Bensemanns Gegenspieler hatten es kann ich nicht schreiten, da der ‚Kicker‘ sich mit Ausgabe des „Kicker“ oder des „FuL“ ohne übrigens nicht schwer, sich rasch mit den neu- der Turnerei in keiner Beziehung abgibt. Ich wechselseitige Sticheleien, und der Streit es- en Machthabern zu arrangieren oder dort Kar- habe genug damit zu tun, die Politik vom Sport kalierte, als im Frühjahr 1925 Guido von riere zu machen. , der ihm einst fernzuhalten.“29 Mengden Redakteur des „FuL“ wurde. Auch er „fremde Mentalität“ attestiert hatte und mit Und als die linke Zeitschrift „Arbeitersportler“ warf Bensemann vor, er mache „sehr viel in dem er sich seither beständig stritt, war inzwi- behauptete, „das bürgerliche Sportpublikum Sportpolitik, allerdings nicht in deutscher“, schen Bundesvorsitzender des DFB und blieb (stelle) die Kerntruppen für Naziversammlun- und fügte dieser Kritik bald einen unüberhör- dies auch unter den Nazis. Der Kriminalbeamte gen“, während „der ‚Kicker‘ krampfhaft die Au- baren antisemitischen Unterton bei. Beispiels- wurde zudem SS-Standartenführer und war als gen davor zudrückt“, antwortete Bensemann weise rechnete er den „Kicker“-Herausgeber zu Leiter der Kripoleitstelle Hannover direkt an der mit einem Hinweis auf die parteipolitische Neu- jenen Menschen, „die Krämer und Geschäfte- Vernichtungspolitik der Nazis, insbesondere tralität der Sportbewegung: „Wir haben uns macher mit Volksseele und Volksgemüt sind“34 gegenüber den Sinti und Roma, beteiligt. Der niemals die Mühe gegeben, die politischen An- und schrieb von einem „Mausefallenhändler“, „teutsche“ Dr. Klein wurde im Mai 1933 zum schauungen unserer Zuschauer zu erforschen; der „aus den Ländern um Galizien“ stamme. neuen „Führer“ des WSV gewählt und saß zwi- selbst unseren Mitgliedern steht ihre Parteizu- Letzterer Vorwurf war zwar gegen Hugo Meisl schen 1932 und 1936 für die NSDAP im Reichs- gehörigkeit völlig frei.“30 gerichtet, den (jüdischen) Verbandskapitän in tag. Später geriet er in Widerspruch zum natio- Auch ein eklatanter antisemitischer Vorfall in Österreich, zielte aber gleichzeitig auf Bense- nalsozialistischen System.36 Bensemanns direktem Umfeld blieb von ihm mann, der mit Meisl eng befreundet war. Vor Die bemerkenswerteste Karriere allerdings unkommentiert: Im August 1932 verließ der allem diese Formulierung veranlasste den „Ki- durchlief Guido von Mengden. Im Juni 1933 langjährige ungarische Trainer des 1. FC Nürn- cker“-Herausgeber, den Streit zwar nicht in- wurde er Pressewart des DFB, im April 1935 berg, Jenö Konrad, über Nacht Deutschland und haltlich zu vertiefen, aber formal eine Etage Pressereferent des Deutschen Reichsbundes für übersiedelte nach Österreich. Anlass waren At- höher zu hängen: Er drohte mit dem Austritt Leibesübungen, 1936 Generalreferent des tacken des in Nürnberg erscheinenden Hetz- des Süddeutschen Verbandes aus dem DFB, Reichssportführers von Tschammer und Osten. blattes „Der Stürmer“ gegen den Trainer, über sofern „Fußball und Leichtathletik“ seine Ton- In dieser Funktion wirkte der SA-Sturmbann- den es u. a. hieß: „Ein Jude ist ja auch als wah- lage nicht mäßigen würde.35 führer als „Generalstabschef“ des deutschen rer Sportsmann nicht denkbar. Er ist nicht dazu Auch wenn Bensemann mit dieser Drohung sei- Sports (so der Sporthistoriker Hajo Bernett). gebaut mit seiner abnormen und missratenen ne Kompetenzen vermutlich weit überschritt, Nach 1945 begann er eine zweite Karriere als Gestalt.“31 Obwohl Bensemann mit Konrad gut so verweist der Vorgang doch darauf, dass es Sportfunktionär, wurde 1951 Geschäftsführer bekannt war und ihn im „Kicker“ sowohl vor wie sich bei dem Streit keineswegs um die Privataf- der Deutschen Olympischen Gesellschaft, 1954 auch nach diesem Vorfall als hervorragenden färe zweier verfeindeter Zeitungsleute handel- Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sport- Trainer lobte, schwieg er zu dem Eklat. Die Mo- te. Der „Kicker“ war seit 1924 das Zentralorgan bundes und 1961 Generalsekretär des Nationa- tive dafür sind schwer zu mutmaßen. Mögli- des Süddeutschen Fußball-Verbandes, der len Olympischen Komitees – kurzum, die „graue cherweise schien es ihm gerade als Juden un- „Fußball und Leichtathletik“ das des Westdeut- Eminenz“ (Hajo Bernett) des bundesdeutschen passend, Angriffe auf jüdische Bürger zu the- schen, und ihre Fehde war durchaus repräsen- Sports.37 matisieren. Ebenso mag die erwähnte mögliche tativ für die politische Konfliktlage im DFB. Ben- Unterschätzung antisemitischer Stimmungen semann verfolgte in den wichtigsten sportpo- eine Rolle gespielt haben. litischen Fragen (wie Profitum, Verhältnis zum IN DIE DEFENSIVE GEDRÄNGT Arbeitersport, Beziehungen zum Ausland) ei- nen Kurs des Ausgleichs, des Pragmatismus und Während Walther Bensemann Anfang der DER „MAUSEFALLENHÄNDLER“ der Verständigung. Dagegen dominierte beim 1930er-Jahre auf internationalem Parkett als „FuL“ eine aggressive deutsch-nationalistische einer der angesehensten Vertreter des deut- Doch auch Bensemann selbst war mit antise- Ideologie. Klein und von Mengden formulierten schen Fußballs galt und seine Zeitung als „das mitischen Klischees gegen seine Person kon- in pointierter Form lediglich eine Position, die beste Sportblatt des Kontinents“38, geriet er in frontiert. Dies galt vor allem für seinen lang- im DFB längst Mehrheitsmeinung war. Wie der Deutschland mit seinem Eintreten für eine kos- jährigen Streit mit dem Westdeutschen Spiel- Streit beweist, hätte der DFB in der Weimarer mopolitische Ausrichtung des Sports immer verband (WSV) bzw. dessen Zentralorgan, dem Zeit die Option auf eine andere politische Ent- stärker in die Defensive. In den Monaten vor und „Fußball und Leichtathletik“ („FuL“). Diese Feh- wicklung gehabt, ohne dabei seine bürgerliche nach der nationalsozialistischen Machtüber- de war in Schwung gekommen, nachdem nahme äußerte er sich in seiner Zeitung kaum „Fußball und Leichtatheltik“ im Frühjahr 1924 noch politisch. Dabei dürfte seine Sorge um die ein Traktat veröffentlicht hatte, dessen Inhalt Zukunft des „Kicker“ eine Rolle gespielt haben, durch die Überschrift im Grunde hinreichend zudem war seine Gesundheit stark angeschla- wiedergegeben wird: „Die drei scharfen T des UNSER AUTOR gen und seine finanzielle Situation denkbar WSV“, nämlich „Teutsch, Treu, Tüchtig“. Verfas- schlecht. Hinzu kam, dass der „Kicker“ inzwi- ser war Josef Klein, der Vorsitzende des WSV- Bernd-M. Beyer, schen seine Selbstständigkeit verloren hatte. Jugendausschusses.32 Klein ging es um ethi- Jahrgang 1950, Mit dem Nürnberger Verleger Max Willmy war sche Grundsätze, die für Sport und Nation studierte Politik, ein Partner ins Boot gekommen, der Bense- gleichermaßen eine prägende Kraft entwi- Volkswirtschaft manns autokratische Position im „Kicker“ bald ckeln sollten. Ziel der sportlichen wie der ge- und Publizistik. Er infrage stellte und offenbar auch dessen per- sellschaftlichen Erziehung waren für Klein „in arbeitete zunächst sönlichen Reiseetat zusammenstrich.39 In ei- und für Deutschland brauchbare Menschen“, als Zeitungsredak- nem letzten Akt des Trotzes und persönlicher Ei- die die „Lebenskräfte des deutschen Volks- teur und seit 1982 telkeit ließ Bensemann sich anlässlich seines tums“ retten sollten. Seine rigorose Ablehnung als Verlagslektor 60. Geburtstags über mehrere Seiten im „Ki- galt dem „schwachsinnigen Traum von sport- mit dem Schwer- cker“ als verdienstvollen Pionier feiern. Danach licher Weltverbrüderung“ sowie jeglicher Form punkt Fußball- resignierte er offenbar. Zwar enthielt sich der des Profitums. geschichte. „Kicker“ unter seiner Regie jeglichen positiven

24 Walther Bensemann: Kosmopolit des Fußballs

Kommentars zu Hitlers frischer Kanzlerschaft – 1937 fand in Genf das erste „Tournoi interna- 10 „Der Kicker“, Nr. 34/1930. aber auch jeglicher direkten Kritik. In seinen tional de Football-Juniors pro memoria Walter 11 „Der Kicker“, Nr. 9/1925. 12 „Glossen“ finden sich lediglich geschickt ver- Bensemann“ statt, mit Beteiligung namhafter „Der Kicker“, Nr. 25/1920. 13 Wolf, P.: Neue Ausgrabungen aus der Steinzeit des klausulierte Hinweise auf staatliche Zensur und Vereine aus der Schweiz, der Tschechoslowakei, Frankfurter Fußballs. Frankfurt am Main 1930, S. 12. Sorgen um den Erhalt des Friedens. aus Frankreich und Italien. Weitere Turniere 14 Zit. Nach Seifert, P.: Walther Bensemann als Sportpu- folgten 1938 und 1939 in Straßburg und Zü- blizist. Diplomarbeit. Köln 1973. 15 Kirn, R.: Große Namen der deutschen Sportjournalis- rich, bis der Weltkrieg dieser Idee ein vorläufi- tik. o. O. Juli 1977. DER EXILANT ges Ende setzte. 1946 wurde das Turnier dann 16 „Der Kicker“, Nr. 3/1920, vgl. beispielsweise auch Nr. wieder ausgetragen, 1951 erstmals auch in 4/1921. 17 Anfang April 1933 reiste Bensemann in die Deutschland (Karlsruhe). Die UEFA unterstütz- „Der Kicker“, Nr. 5/1921. 18 „Der Kicker“, Nr. 6/1921. Schweiz, aus der er nicht mehr zurückkehren te das Projekt, das nach 1962, dem Todesjahr 19 „Der Kicker“, Nr. 7/1921. sollte. Auf Einladung der FIFA weilte er 1934 – Schrickers, zum „Internationalen Turnier p.m. 20 „Der Kicker“, Nr. 16/1923. gesundheitlich stark beeinträchtigt – noch als Walter Bensemann – Dr. Ivo Schricker“ umbe- 21 „Der Kicker“, Nr. 5/1922. Gast bei der Fußballweltmeisterschaft, wo ihn nannt wurde. Als Vorsitzender des Organisa- 22 „Der Kicker“, Nr. 13/1921. deutsche Journalisten als Mahner vor der fa- tionskomitees fungierte u. a. FIFA-Präsident Sir 23 „Der Kicker“, Nr. 22/1931. 24 schistischen Gefahr in Erinnerung behielten.40 Stanley Rous. Das letzte Turnier wurde 1991 „Der Kicker“, Nr. 9/1925. 25 „Der Kicker“, Nr. 5/1925. Auch in Briefen an deutsche Freunde bekun- durch den Karlsruher FV durchgeführt, danach 26 „Der Kicker“, Nr. 42/1924. dete er seine tiefe Ablehnung des Hitler-Re- löste das Komitee sich auf, weil die UEFA ihre fi- 27 „Der Kicker“, Nr. 43/1921. gimes. Doch öffentliche Äußerungen von ihm nanzielle Bürgschaft zurückzog. 28 „Der Kicker“, Nr. 49/1923. gab es nicht mehr. Bensemann starb am 12. Darüber hinaus war der Name Bensemann seit 29 „Der Kicker“, Nr. 4/1925. Bensemann selbst erhebt m. W. im „Kicker“ nur einmal den Vorwurf des Antisemi- November 1934 in Montreux – jenem Ort, von seinem Tode in der Öffentlichkeit kaum noch tismus, und zwar gegenüber einem Straßburger (also dem er 35 Jahre zuvor aufgebrochen war, präsent. Daran änderte auch das Ende der Nazi- französischen) Leserbriefschreiber, der sich als „ehrlicher Arbeiter“ bezeichnet und bestimmten Fußballerkreisen Deutschland für den Fußball zu missionieren. Herrschaft nichts. Zwar erwähnte ihn in der DFB „Krämergeist“ vorwirft. Bensemann antwortet in Heft in seinen Festschriften sowohl zum 50- wie 2/1924: „Ihr Brief bekundet einen offensichtlichen Anti- zum 100-jährigen Jubiläum, ohne jedoch seine semitismus, den man in Arbeiterkreisen eigentlich nicht erwartet. Lassalle, Marx und Rosa Luxemburg haben doch ANPASSUNG DES DFB AN DEN Verdienste tatsächlich zu benennen. Dies hing stets bei der werktätigen Schicht die allergrößte Vereh- NATIONALSOZIALISTISCHEN UNGEIST sicherlich auch damit zusammen, dass beim rung genossen.“ Fußball-Bund eine politische Aufarbeitung der 30 „Der Kicker“, Nr. 39/1931. 31 Vgl. dazu: Bausenwein, C./Kaiser, H./Siegler, B.: 1. FC Es war ihm nicht erspart geblieben, die Anfän- eigenen schmählichen Rolle in der NS-Zeit Nürnberg – Die Legende des Clubs. Göttingen 1996, S. ge der nationalsozialistischen Herrschaft mit- kaum stattgefunden hatte. Als dies nach diver- 75ff. zuerleben – und die fatale Anpassung auch von sen kritischen Buchveröffentlichungen45 sowie 32 Vgl. dazu u. a.: Heinrich, A.: Der deutsche Fußball- bund. Eine politische Geschichte. Köln 2000; Eggers, E.: Leuten, die einst seine Weggefährten waren. einem eher peinlichen Beitrag in der DFB-100- Fußball in der Weimarer Republik. Kassel 2001; West- Hanns-Joachim Müllenbach, sein journalisti- Jahresschrift zunehmend öffentliche Kritik deutscher Fußballverband e.V. (Hrsg.): 100 Jahre Fußball scher Schüler seit 1920 und Nachfolger im „Ki- wachrief, entschloss sich der Bund, selbst eine im Westen. Kassel 1998. 33 „Fußball und Leichtathletik“, Nr. 27/1925. cker“, ließ in dem Blatt über „Asphaltliteraten“ Studie zu der Thematik in Auftrag zu geben.46 34 Zit. nach „Der Kicker“, Nr. 14/1928. Dass Bensemann herziehen, die „das deutsche Wesen so verun- Das im Jahr 2005 vorgelegte Werk, das immer- die Verwendung solcher Begrifflichkeiten mit Antisemi- glimpft“ und „teilweise allerdings nun die hin die persönlichen Verhaltensweisen führen- tismus gleichsetzen musste, beweist seine in Fußnote 29 41 geschilderte Reaktion. Flucht ergriffen“ hätten. Bereits einige Tage der DFB-Männer im NS-Regime recht offen 35 „Der Kicker“, Nr. 47/1928. zuvor, am 4. April 1933, hatten die großen süd- skizziert, fand in Hinblick auf seine politischen 36 Vgl. dazu u. a: Heinrich, A.: Der deutsche Fußball- deutschen Fußballvereine, mit denen Bense- Erklärungsansätze gleichwohl nicht den un- bund. a.a.O.; Eggers, E.: Fußball in der Weimarer Repu- blik. a.a.O.; Dwertmann, H.: Sportler – Funktionäre – Be- mann über lange Zeit enge Beziehungen ge- geteilten Beifall der Sporthistoriker. Im Falle teiligte am Massenmord. Das Beispiel des DFB-Präsiden- pflegt hatte, in einer gemeinsamen Erklärung Walther Bensemanns ist diese Skepsis nach- ten Felix Linnemann. In: SportZeiten. Sport in Geschich- versichert, sie würden die Maßnahmen der NS- vollziehbar. Bensemann findet dort lediglich te, Kultur und Gesellschaft, Heft 1/2005. 37 Vgl. dazu: Bernett, H.: Guido von Mengden – „Gene- Regierung „mit allen Kräften“ mittragen, „ins- in seiner „Rolle“ als Jude Erwähnung. Sein le- ralstabschef“ des deutschen Sports. Berlin, München, besondere in der Frage der Entfernung der Ju- benslanges Eintreten für ein kosmopolitisches Frankfurt am Main 1976. den aus den Sportvereinen“.42 Zu den unter- Sportverständnis sowie der daraus resultieren- 38 So der Vorsitzende des schwedischen Fußballverban- zeichnenden Klubs gehörten der Karlsruher FV, de Konflikt mit dem DFB werden an keiner Stel- des, Johanson. Zit. nach „Der Kicker“, Nr. 22/1932. 39 Dr. Max Willmy war Besitzer einer Großdruckerei sowie den Bensemann gegründet hatte, der 1. FC le behandelt. Auch wenn die Protagonisten von eines Zeitungsverlages in Nürnberg. Seine Eingriffe in den Nürnberg, zu dem er bis 1933 freundschaftli- einst längst Vergangenheit sind – der Konflikt „Kicker“ waren möglicherweise nicht nur dadurch moti- viert, Ordnung in ein Unternehmen zu bringen, an dem che Kontakte unterhalten hatte, Eintracht an sich ist es keineswegs. Schon deshalb wäre er finanziell beteiligt war. Willmy arrangierte sich ab 1933 Frankfurt und FSV Frankfurt, die jahrelang von es notwendig, Bensemanns politisches Erbe an- verdächtig schnell mit den Nazis und druckte einige ihrer Blätter, ab 1934 auch den „Stürmer“, der bald eine wö- der Förderung des jüdischen Mäzens Dr. David gemessen zu thematisieren. chentliche Auflage von 2,5 Millionen erreichte. Es ist zu Rothschild profitiert hatten, sowie der FC Bay- vermuten, dass Willmy frühzeitig ein Interesse daran hat- ern, an dessen Gründung jüdische Sportler te, den „Kicker“ politisch in ein neues Fahrwasser zu lot- sen und den starrsinnigen (zudem jüdischen) Herausge- (darunter Bensemann selbst) großen Anteil ANMERKUNGEN ber loszuwerden. 1948 wurde Willmy wegen seiner Bezie- hatten und deren langjähriger Vorsitzender, der 1 hungen mit dem Nazi-Regime zu zwei Jahren Sonderar- Einzelheiten zu Bensemanns Herkunft und weiterer beit verurteilt, sein Vermögen wurde zu 50% eingezogen. jüdische Kaufmann Kurt Landauer, im März Biografie siehe: Beyer, B.-M.: Der Mann, der den Fußball Auf fünf Jahre wurde ihm das Wahlrecht entzogen sowie 1933 zurücktreten musste. Kurze Zeit später nach Deutschland brachte. Das Leben des Walther Ben- die Berufsausübung als Verleger verboten. semann. Göttingen 2003 (siehe dort vor allem die Quel- 40 proklamierte auch der DFB, er halte „Angehöri- lenverweise in den Anmerkungen). Vgl. beispielsweise: Becker, F.: Walter Bensemann. Por- 2 trät eines Idealisten. In: DFB-Jahrbuch. Frankfurt am ge der jüdischen Rasse (...) in führenden Stel- „Der Kicker“, Nr. 27/1929. Weitere Angaben zu jener Main 1953 Zeit finden sich u. a. in den Heften 43/1931 und 12/1922. lungen der Landesverbände und Vereine nicht 41 3 „Der Kicker“, Nr. 16/1933. Er erschien am 11. April, 43 Zum Wirken jüdischer Fußballer vgl.: Schulze-Marme- also etwa zehn Tage nach Bensemanns Ausreise. für tragbar.“ ling, D. (Hrsg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte 42 der Juden im deutschen und internationalen Fußball. „Der Kicker“, Nr. 15/1933. Göttingen 2003. 43 „Der Kicker“, Nr. 16/1933. 4 „Spiel und Sport“ vom 13. Januar 1900, S. 24. 44 Vgl. zu Entstehung und Geschichte des Turniers: TURNIERE WAHREN DAS ANDENKEN 5 Vgl. zu dem Streit: „Spiel und Sport“ vom 20. Januar Karlsruher Fußballverein (Hrsg.): 90 Jahre Karlsruher Fuß- 1900, S. 39. ballverein. Karlsruhe 1981; sowie derselbe (Hrsg.): 100 Jahre Karlsruher Fußballverein. Karlsruhe 1991. 6 Diese „Ur-Länderspiele“ waren: am 23.11.1899 in Ber- Ivo Schricker, der für die Nazis unangreifbar in 45 lin (2:3; 1.500 Zuschauer), am 24.11.1899 wiederum in Vgl. dazu die erwähnten Veröffentlichungen von Eg- der FIFA-Zentrale saß, und weiteren alten Berlin (2:10; 500 Zuschauer), am 25.11.1899 in Prag (0:8; gers, E. und Heinrich, A. sowie Fischer, G./Lindner, U.: Freunden im Ausland blieb es vorbehalten, Ben- 4.500 Zuschauer) sowie am 28.11.1899 in Karlsruhe (0:7; Stürmer für Hitler. Vom Zusammenspiel zwischen Fußball 2.000 Zuschauer). und Nationalsozialismus. Göttingen 1999. semanns Andenken zu wahren. Am Abend sei- 46 7 Torball- und Fußball-Club Viktoria e.V. (Hrsg.): Fest- Havemann, N.: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB ner Beerdigung in Montreux beschlossen sie, schrift zum 25-jährigen Jubiläum. Berlin 1914. zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt am Main 2005. ein internationales Fußballjugendturnier ins 8 „Der Kicker“, Nr. 11/1920. Leben zu rufen und dem Pionier zu widmen.44 9 Ebenda.

25 FUSSBALLSPIELE SIND VON NATIONALEM ÜBERSCHWANG NICHT ZU TRENNEN Fußball und nationale Identität

VERENA SCHEUBLE / MICHAEL WEHNER

WELTMEISTERSCHAFTEN SCHAFFEN lastungen und Herausforderungen ist eine Na- Fußballspiele sind nicht von Politik und MYTHEN UND HELDEN tion heute konfrontiert? nationaler Identität zu trennen: „Man Die Herausbildung von modernen Nationen braucht die Politik nicht erst hineinzu- Auf wissenschaftlicher oder analytischer Ebe- und Nationalstaaten ist eines der bedeutend- bringen und hineinzumischen, sie ist im- ne sind Art und Ausprägung dessen, was als sten Phänomene des 18. und 19. Jahrhunderts. mer schon darin, insofern eben Nationen nationale Identität beschrieben werden kann, Ihren Ursprung hat diese Entwicklung in den politische Körper sind“ (Dolf Sternber- nur schwer darzustellen. Die „gefühlte“ Einheit politischen und sozialen Umwälzungen der ger). Welche politische Wirkung der Fuß- bzw. emotionale Verbundenheit mit dem eige- Französischen Revolution, deren Auswirkun- ball hat, zeigte der deutsche Sieg bei der nen Land entzieht sich gesellschaftswissen- gen die tradierte, feudale Herrschaftslegitima- Weltmeisterschaft 1954 in Bern. Der da- schaftlichen Untersuchungsansätzen. Sport- tion der absolutistischen Monarchien massiv malige nationale Überschwang erklärt ereignisse – und hier der Fußball im Besonde- unter Druck setzt. Der souveräne Staat als ter- sich nicht zuletzt dadurch, dass Deutsch- ren – bieten eine geeignete Projektionsfläche ritorial abgegrenzte Einheit löst die ständi- land seine Abseitsstellung in der Völker- für politische und soziale Veränderungen und schen und hierarchischen Bindungen sowohl gemeinschaft durch das „Wunder von den Umgang mit der Nation. Das in Deutsch- auf politischer als auch auf sozialer Ebene auf Bern“ relativieren konnte. Verena Scheu- land am häufigsten angeführte Beispiel ist die und schafft damit ein neues, alle gesellschaft- ble und Michael Wehner zeigen in ihrem Fußballweltmeisterschaft 1954. Die viel zitier- lichen Gruppen überwölbendes Ordnungssys- Beitrag, wie das Konstrukt der „Nation“ te „nachträgliche Gründung“ der Bundesrepu- tem (Reinhard 2002). Für das Individuum, den – im Sinne einer „vorgestellten politi- blik im Berner Wankdorfstadion war eng ver- „Staatsbürger“, bedeutet dies idealiter, als par- schen Gemeinschaft“ (Benedict Ander- knüpft mit einer – wenn auch provisorischen tizipierendes, gleichberechtigtes Mitglied un- son) – und die „nationale Identität“ als – Neuschaffung einer (west-)deutschen Iden- mittelbar zum Träger und Gestalter der neuen „Seelenkitt des modernen Kollektivs“ bei tität. Hier gewannen nicht einfach elf Fußbal- Ordnung, also des Staates, werden zu können. sportlichen Großereignissen aktiviert ler das Endspiel einer Weltmeisterschaft, son- Der französische Geisteswissenschaftler Er- und sichtbar werden. Diese kritische dern Weltmeister waren „wir“, die Deutschen. nest Renan definiert bereits im ausgehenden Analyse des Zusammenhangs von Fuß- Resultierend aus der Kriegsniederlage, den 19. Jahrhundert die Nation als eine große „So- ball und nationaler Identität stellt neben düsteren Schatten der NS-Zeit und der gesell- lidargemeinschaft“, die nur durch die fort- all den Ambivalenzen und negativen Be- schaftlichen Desorientierung in der Phase des währende Teilhabe der Bürger am staatlichen gleiterscheinungen die positive Funktion Wiederaufbaus vermittelte der Gewinn des und gesellschaftlichen Geschehen, durch ein dieser Symbiose dar. Nichts trägt mehr Weltmeistertitels eine Mischung aus „kollekti- „tägliches Plebiszit“, gewahrt werden könne zur Bildung einer schichtenübergreifen- vem Rausch“ und „kollektiver Verdrängung“ (Renan 1882). den Gemeinschaft, die „vom Kanzler bis (Seitz 2004). Die Weltmeisterschaft schuf My- Trotz all der unterschiedlichen Entwicklungs- zum Penner“ (Dirk Schümer) alle einigt, then, Helden und „Erinnerungsorte“, die weit schritte europäischer Nationalstaaten lässt bei und nichts beeinflusst die (politische) über die Gründungsphase der BRD hinaus sich dieser Prozess verallgemeinernd für na- Stimmungslage mehr als Fußballwelt- wirkten und wesentlicher Bestandteil des na- hezu alle Staaten als grundlegende Transfor- meisterschaften. Es zeigt sich aber auch, tionalen Selbstverständnisses wurden. Ähnli- mation des 19. Jahrhunderts beschreiben: dass das Konstrukt der „Nation“ im All- che – wenn auch schwächere – Mechanismen Nach der Auflösung der traditionell legitimier- tagsleben eine wichtige, wenn auch entstanden aus den Fußballgroßereignissen ten Herrschaftsstrukturen werden der Staat schwierige und historisch belastete Be- 1966, 1974 und 1990. 1974 auf dem Höhe- und dessen Bürger „durch tägliche Bande zugsgröße ist. Diese Bezugsgröße wird punkt der Entspannungspolitik kam es zur er- zwangsläufig in einer Weise miteinander ver- solange virulent bleiben, bis eine natio- sten und einzigen Begegnung zweier deut- knüpft wie nie zuvor“ (Hobsbawm 1992). Die nale in eine europäische Identität über- scher Nationalmannschaften: Der Sozialismus Nation wird zur einheitlichen, normativen Be- führt werden kann. gewinnt im „Sparwasser-Spiel“ von Hamburg zugsgröße von Politik und Gesellschaft. Instan- zwar eine Schlacht, doch im „Kampf der Syste- zen und Korporationen der ständischen Gesell- me“ obsiegt schlussendlich die bundesrepub- schaft, die in der „vorstaatlichen“ Epoche die likanisch-kapitalistische Mannschaft. 1990: soziale und politische Integration des Individu- Weltmeister und Wiedervereinigung – die ums gesichert haben, erhalten hier einen dem SIND WIR WIEDER WER? Bundesrepublik siegt erneut, es erfolgt der po- Staat untergeordneten Stellenwert. litische und sportliche Anschluss der DDR an „Du bist Deutschland!“, „Wir sind Papst!“, „Wir die Bundesrepublik. Das Wembley-Tor 1966 sind WM und wieder wer!“, „Ein Volk, ein Land, und die Spuck-Attacke 1990 des Niederlän- NATION ALS „IMAGINED COMMUNITY“ ein Fußball!“ – Schlagworte, die das Gefühl ders Frank Rijkaard gegen Rudi Völler sind un- nationaler Zugehörigkeit und Geschlossenheit vergessen. Auch diese Ereignisse mobilisierten Diese knapp zusammengefasste Entwicklung suggerieren, hatten und haben Konjunktur. deutsche Empörung und Empfindlichkeiten gibt zunächst den äußeren historischen Rah- Appelle dieser Art sprechen die Gemeinschaft und rekonstruierten alte historische Feindbil- men der Staatsbildung vor; die Fragen nach der Deutschen an, nivellieren soziale und poli- der und Ressentiments. der inneren Ausgestaltung und den Prinzipien tische Unterschiede und konstruieren damit der Legitimation eines Nationalstaates sind eine integrative, „gefühlte“ Einheit. Insbeson- davon noch nicht berührt. Die Erosion der dere in Zeiten wirtschaftlicher, politischer oder DIE NATION ALS KONSTRUKT DER ständisch-feudalen Strukturen und der Über- sozialer Unsicherheiten und Umbrüche ge- MODERNE gang zu einer Gemeinschaft gleichberechtig- winnt die Identifikation mit der eigenen Na- ter Staatsbürger verlaufen nicht linear und tion zunehmend an Bedeutung; die Nation Bevor nun der Brückenschlag zwischen dem ohne Hindernisse. Zunächst ist die sich entwi- und damit auch die nationale Identität werden Massensport Fußball und der „nationalen Iden- ckelnde Nation als übergreifendes Bindeglied zum Bindeglied in der sich verändernden Ge- tität“ vollzogen werden kann, ist es notwendig, auf die Konstruktion neuer Loyalitätsmuster sellschaft. Zugleich gibt es vor allem in der das „Nationale“ bzw. „die Nation“ zu definieren. angewiesen, da ständische oder auch religiöse Bundesrepublik Spannungen und Hemmnisse Was ist eine Nation und wo liegen die Wurzeln Integrationsmuster im Zuge der modernen im Umgang mit der eigenen nationalen Iden- dessen, woran wir unsere – positiven wie nega- Staatenbildung an politischer Bedeutung ver- tität – die Erinnerungen an die Schrecken des tiven – Emotionen nationaler Zugehörigkeit loren haben. In dieser Phase des Nieder- Nationalsozialismus und die deutsche Teilung koppeln? Auf welchem historisch-politischen gangs traditioneller Legitimationsstrukturen machen einen unbefangenen Umgang mit der Hintergrund ist die Entstehung von Nationen erscheint die Nation als neue Größe von Ge- nationalen Geschichte unmöglich. zu betrachten und mit welchen Gefahren, Be- meinschaft und Solidarität besonders sinnstif-

26 Fußball und nationale Identität tend. Zur modernen, säkularen „Bürgerreli- ben kann, müssen fremde bzw. die Einheit der lität und zunehmende Kommunikation zwi- gion“ der nationalstaatlichen Gesellschaften Nation gefährdende Faktoren entweder assi- schen einzelnen sozialen und politischen wird ab dem 19. Jahrhundert, so der britische miliert oder aus der nationalen Gemeinschaft Gruppen sind – zumindest oberflächlich – die Historiker Eric Hobsbawm, der Patriotismus, ausgeschlossen werden. Für die (oft gewaltsa- Grundvoraussetzungen einer konsolidierten die Hingabe zur Nation (Hobsbawm 1992). me) Selbstbehauptung und äußere Abgren- Nationsauffassung (Deutsch 1972). Doch für Staatenbildung und Nationsbildung erhalten zung der modernen Nationalstaaten lassen die Antwort auf die Fragen, wer wir eigentlich aus dieser Perspektive einen notwendigen Zu- sich zahlreiche Beispiele anführen – negativer sind bzw. womit wir uns identifizieren, braucht sammenhang: Die Bezugsgröße der Nation als Höhepunkt des 20. Jahrhunderts dürfte zwei- es greifbare Bilder, sinnstiftende Ereignisse begrenzte und souveräne „vorgestellte politi- fellos der völkische Nationalismus des Dritten und Identifikationsmuster: Im Prozess der Na- sche Gemeinschaft“ (Anderson 1988) gibt dem Reichs gewesen sein (Oberndörfer 1993). tionsbildung wirkt bis heute insbesondere die partizipierenden Volk ein verbindliches Werte- Konstruktion historisch legitimierter Mythen und Normengerüst und damit zugleich einen und Symbole integrativ. Die Trikolore und die Orientierungsmaßstab für die eigene Veror- NATIONALE IDENTITÄT ALS „SEELENKITT Stars-and-Stripes-Flagge der USA repräsen- tung innerhalb des Staates. Unterschiedliche DES MODERNEN KOLLEKTIVS“ tieren zugleich Ursprung und Fortbestand na- soziale, ökonomische oder politische Interes- tionaler Erinnerungskultur. Sie können für das sen können dadurch überwölbt und homoge- „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Individuum Ausdruck der Identifikation mit nisiert werden (Reinhard 2002). Grundlage (…) Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, der vergangenen und gegenwärtigen Defini- dieser abstrakt vorgestellten inneren Einheit ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, ge- tion der eigenen Nation sein. Im „kulturellen können sprachliche, ethnische oder religiöse meinsam Großes vollbracht zu haben und es Gedächtnis“ wird die Überlieferung und Er- Gemeinsamkeiten sein bzw. auch die territori- noch vollbringen wollen – das sind die wesent- scheinung einer Gesellschaft bzw. einer Nation ale Bezugsgröße des Staates. Die Abgrenzung lichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. (…) „sichtbar“: Welchen Blick eine Gesellschaft auf nach außen – gegen andere „imagined com- Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir die eigene Vergangenheit richtet und welche munities“ – spielt im Prozess der National- dieses Bild – ein tägliches Plebiszit, wie das Da- Wertperspektive dabei konstruiert wird, „sagt staatsbildung eine gewichtige Rolle: Dass eine sein des einzelnen eine andauernde Behaup- etwas aus über das, was sie ist und worauf sie Nation im Inneren konsolidiert werden und tung des Lebens ist. (…) Die Nationen sind nichts hinaus will“ (Assmann 1988). Im Falle Frank- nach außen als souveräne Größe Bestand ha- Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie wer- reichs oder der USA richtet sich dieser Blick in den enden. Die europäische Konföderation wird die Vergangenheit vor allem auf das revolutio- sie wahrscheinlich ablösen“ (Renan 1882). näre Erbe – die Metaphern der „Grande Na- MIT SCHWARZ-ROT-GOLD GEFÄRBTEM GESICHT DER EINE, Die Vermittlung eines kollektiven Werte- und tion“ und des „Landes der unbegrenzten Mög- DER ANDERE MIT STIRNBAND UND FAN-SCHAL IN DEN Normenmodells an die gesamte Gemeinschaft lichkeiten“ symbolisieren bis heute Freiheits- DEUTSCHEN NATIONALFARBEN, FEIERN ZWEI DEUTSCHE einer Nation, also die Einleitung des Nations- geist und demokratische Grundordnung, die SCHLACHTENBUMMLER IN SÜDKOREA BEI DER WM 2002 bildungs-Prozesses, steht zunächst in enger nur schwer grundlegend hinterfragt oder neu DEN EINZUG DER DEUTSCHEN NATIONALMANNSCHAFT INS Verbindung mit der Entwicklung moderner verortet werden können, weil sie gewachsene, VIERTELFINALE. ZUMINDEST FÜR 90 MINUTEN DIENEN Kommunikationsformen, sprachlicher Verein- kollektiv legitimierte Symbole und Normen DIE NATIONALE SYMBOLIK UND DIE „GEFÜHLTE“ EINHEIT heitlichung und (demokratischer) Partizipa- darstellen. Das Einssein mit diesen nationalen DER NATION ALS SINNSTIFTENDE IDENTIFIKATIONSMUSTER. tionsmöglichkeiten. Gesellschaftliche Mobi- Selbstbildern ist eine Mischung „aus Bindung, picture alliance / dpa

27 VERENA SCHEUBLE / MICHAEL WEHNER kollektivem Erleben und Orientierung auf machen die Mechanismen nationaler Identifi- ob als aktive Spielerinnen oder Fans – trotz der Kommendes, die sich im Seelenhaushalt des kationsstrukturen besonders deutlich. Die Fan- hohen Akzeptanz beispielsweise in den USA – Einzelnen niederlässt, dort Zustimmung er- kultur innerhalb der Stadien – ob auf nationa- nach wie vor unterrepräsentiert. Insofern taugt fährt und zu Eigenbeitrag anspornt“ (Schmid ler oder regionaler Ebene – hebt ähnlich den der Volkssport Fußball nur bedingt als Iden- 2005). Funktionsweisen der modernen Nationsbil- titäts- und Identifikationsmöglichkeit. dung individuelle soziale oder politische Diffe- Fußball dient der Bildung von Vorurteilen und renzen zumindest für gut 90 Minuten auf: Die Feindbildern ebenso wie der Völkerverständi- VOM UMGANG MIT DER NATION IN Zuschauer werden damit zu einer „imagined gung und der Freundschaft. Fußball im Beson- DEUTSCHLAND community“, die sich an den gleichen Werten deren und Sport sind nicht unpolitisch: Fair- (z.B. dem Spaß am Fußball) und Zielen (z.B. dem ness, Solidarität, Völkerfreundschaft und Tole- In Deutschland tun wir uns schwer im Um- Sieg ihrer Mannschaft) orientiert. Der Einzelne ranz stehen als Werte in Konkurrenz zu Rück- gang mit nationaler Erinnerungskultur und wird unabhängig von seiner persönlichen Her- sichtslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, zu Ras- nationaler Symbolik. Im Gegensatz zu den kunft in das Kollektiv der Fans integriert und sismus und Nationalismus. Er ist ebenso Pro- westeuropäischen Staaten Frankreich und nicht selten ist es erst das Massenerlebnis, das jektionsfläche für individuelle und kollektive Großbritannien oder den USA gilt die deutsche sonst eher ruhige und zurückhaltende Men- Machtfantasien wie für Geborgenheitssehn- Nationalstaatsgründung des 19. Jahrhunderts schen zu fröhlichen oder grölenden Fußball- süchte, Gemeinschaftsgefühle und Heimatbe- häufig als „von oben“ oktroyiert, als Zwangs- fans werden lässt. Grundvoraussetzungen für dürfnisse. konstrukt ohne demokratisch-parlamentari- diese Art der Partizipation im Stadion ist eine sche Tradition. Vor dem Hintergrund der na- einheitliche „Kommunikationsform“: Fange- tionalsozialistischen Verbrechen richtet sich sänge und -parolen funktionieren nach immer PRÄSENTATIONSFELD FÜR AUTORITÄRE der deutsche Blick auf die eigene Vergangen- wiederkehrenden „Codes“, die jeder einzelne CHARAKTERE heit meist (und zurecht) auf die negative Kon- Zuschauer unabhängig von seinem persön- notation des Nationalen: Die Berufung auf die lichen Umfeld verstehen und an denen er teil- Der Fußballsport liefert aber auch durch sein eigene Nation und nationale Identität werden haben kann. Die emotionale Ebene, die ein Fuß- „starres Regelwerk mit Befehl, Gehorsam und gleichgesetzt mit übersteigertem, politisch ballspiel vermittelt, ist zugleich das geeignete Bestrafung ein Präsentationsfeld für konven- rechts orientiertem Nationalismus, die Defini- Vehikel nationaler Identitätsmuster: Wo sonst tionelle, patriarchale Wertvorstellungen und tion der Nation birgt im deutschen Selbstver- werden so inbrünstig Nationalhymnen gesun- autoritäre Charaktere. Das ihm zugrunde lie- ständnis häufig die aggressive Abgrenzung gen oder Flaggen geschwenkt wie in den Fuß- gende männliche Weltbild kann autoritäre Cha- nach außen und militaristisch-gewaltsame ballstadien? Hier findet die für die „gefühlte“ rakterstrukturen, Nationalismus, Rassismus, Konsolidierung nach innen. Sie entspricht Einheit der Nation so wichtige nationale Sym- Gewalt, Identitätsdenken, Chauvinismus, Se- eben nicht der oben beschriebenen partizipa- bolik einen Platz; sie wird stellvertretend zum xismus verstärken“ (Chlada/Dembowski 2000, tiven, demokratischen Auffassung von Nation „Plebiszit“ der Bevölkerung für ihre Nation. S. 5). Nationalismus und Hooliganismus sind (Langewiesche 1994). Das Bekenntnis zur ei- Auf den Fußballplätzen wurde und wird eine nicht zu akzeptierende übersteigerte Aus- genen nationalen Identität und zur histori- Vielzahl nationaler Erinnerungsmomente und drucksformen nationaler Identität. Fußball ist schen Vergangenheit der Nation war nach -mythen geschaffen. Die bereits einleitend ge- und bleibt ein Rasen- und kein Rassensport. dem negativen Höhepunkt des häufig disku- nannte sinnstiftende Bedeutung der Weltmeis- Auf den Spielfeldern der Weltmeisterschaft tierten deutschen „Sonderwegs“ nach 1945 terschaften 1954 oder 1990 darf trotz der Tat- wird nationale Identität gestiftet, auf dem Ra- vollständig diskreditiert. Krieg und Kriegsfol- sache, dass es sich um scheinbar banale Sport- sen wird ausgelebt und kanalisiert, was oftmals gen führten hier vielmehr zu einer „nationalen ereignisse handelt, nicht gering geschätzt wer- in einer Zivilgesellschaft keinen Platz mehr hat. Ernüchterung“ (Winkler 1979), die eine völlige den. Vielleicht ist gerade für die identitätstraumati- Neudefinition der abstrakten Größen Nation sierten Deutschen der spielerische Umgang mit und nationaler Identität erforderten. Die deut- nationalen Sentiments ein wichtiges Ventil für sche Teilung verhinderte indes eine gesamt- WERTE- UND WIRKUNGSAMBIVALENZEN das Ausleben unserer unterdrückten, gebän- deutsche Neuschaffung nationaler Identitäts- VON PROJEKTIONEN digten Stimmungen und Kompensation für muster. Das „kulturelle Gedächtnis“ der Deut- politisch korrekte Ersatzhandlungen. Der „Ge- schen und der Rückblick auf die gemeinsame Fußball ist ambivalent in seinen Wirkungen: Er schichtsfelsen“ Nationalsozialismus blockiert nationale Geschichte bleiben trotz unter- ist notwendiges Ventil und Vehikel für mensch- naive und ahistorische Zugänge zu nationalen schiedlichster Perspektiven immer am histori- liche Bedürfnisse (z.B. nach Identifikation und Emotionen. Nahezu zwangsläufig und reflexar- schen Fluchtpunkt des Nationalsozialismus Abgrenzung), Aggressionen und archaische tig erfolgt vor allem auf intellektueller Seite die hängen. Bis heute bewegt sich die Diskussion Verhaltensmuster des „Kräftemessens“ und Flucht in einfachere Identitäten wie die der Re- über die nationale Identität der Deutschen „Siegens“. Er spiegelt in elementarer Art und gio- oder europäischen Identität: Es ist einfa- trotz Wirtschaftswunder, Westbindung, Wen- Weise – wenn auch oft unausgesprochen – die cher, das Badnerlied zu singen als die deutsche de und Wiedervereinigung zumeist allein um Grundwerte einer kapitalistischen Leistungs- Nationalhymne, und mit der Europaflagge tut die Schuldbekenntnisse in Bezug auf die his- und Wettbewerbsgesellschaft wider. Zugleich man sich leichter als mit Schwarz-Rot-Gold. torischen Belastungen der NS-Zeit und um die kann gerade im Sport der zunächst vereinheit- Warnungen vor einem überheblichen, rechts- lichende Konkurrenzgedanke, abseits sozialer orientierten Nationalbewusstsein. Gegenwär- oder ethnischer Unterschiede einen gemeinsa- MULTIPLE IDENTITÄTEN IN STADIEN tiges – wie z.B. die demokratisch erlangte men Erfolg zu erzielen, recht schnell fragwür- UND STAATEN staatliche Einheit – oder auch Zukünftiges – dig werden. Der Leistungsgedanke wird verab- wie die Frage nach nationalstaatlicher Politik solutiert und pervertiert, wenn das Gewinnen- Einstellungen zur Nation verändern sich, sind im Zuge von Europäisierung und Globalisie- wollen um jeden Preis zu Auswüchsen wie Do- dynamisch. Nationale Stimmungen und Strö- rung – werden häufig ausgeklammert. pingmissbrauch und Wettskandalen führt. Ins- mungen müssen gerade in Deutschland seis- besondere in Zeiten zunehmender Kommerzia- mographisch und wachsam beobachtet wer- lisierung des Fußballs kann ein Sportler, dessen den. Jede Nation ist auch Imagi-Nation und FUSSBALL ALS PROJEKTIONSFLÄCHE Leistung nicht den allgemeinen Erwartungen Indoktri-Nation. Der zwangsläufige Mecha- NATIONALER IDENTITÄT entspricht, leicht aus dem (nationalen) Kollek- nismus einer Identitätsbildung ist der der Aus- tiv ausgeschlossen werden oder die Leistungen und Abgrenzung. Geschichtserzählungen und Nach den Ausführungen zu den grundsätz- wie im Fall der deutschen Frauennational- Mythen, soziale Emotionen und faszinierende lichen Definitionen der Nation und nationaler mannschaft nicht entsprechend gewürdigt Angebote der nationalen Vergemeinschaftung Identität bleibt die Frage danach, wo diese ab- werden, da die an Einschaltquoten und Werbe- unterliegen ständigen Missbrauchsgefahren. strahierten Bezugsgrößen tatsächlich in der einnahmen orientierte Eigengesetzlichkeit der Kollektive Identitäten sind multipel und über- Alltagskultur nun sichtbar werden. Sportliche Medien eine entsprechende Wertschätzung lagern sich sedimentartig, sie sind Hybride: Eine Großereignisse, und hier vor allem der Fußball, verhindert. Überhaupt sind im Fußball Frauen, nationale Identität blockiert nicht zwangsläu-

28 Fußball und nationale Identität fig eine europäische oder eine badische. Ein Fan Es scheint so, als würden Fußballweltmeister- werden, dann hat sich die Austragung der WM des SC Freiburg kann durchaus in der Cham- schaften die Menschen mehr bewegen und im eigenen Land aus Sicht der politischen Bil- pions League Arsenal London unterstützen sich nachhaltiger in ihren Köpfen festsetzen dung bereits gelohnt: „Politics is more interes- und bei der WM sich für die Équipe Tricolore be- als historische Ereignisse. Das Wunder von ting to people who are committed to some geistern. Bern ist in der nationalen Erinnerung präsen- kinds of collective identities, e.g., partisan or Identitäten sind „variabel konfigurierte und ter als der Holocaust und die Mehrzahl der national identities, because the self is more permanent umstrittene politische Felder, ge- jungen Menschen bis zu 24 Jahren weiß mit emotionally invested in objects that have a deutet und besetzt von politischen Akteuren, dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft public, or political nature“ (Rahn 2004, S. 22). die konkurrierende Interessen vertreten und 1954 kognitiv mehr anzufangen als mit dem Als Megaevent wird sich die WM im kulturel- ihre Politik symbolisch inszenieren“ (Brusis 17. Juni 1953. Laut einer repräsentativen Um- len Gedächtnis und den individuellen Erinne- 2003, S. 255). frage der Forschungsgruppe Wahlen (2005, S. rungen aller Zeitgenossen einbrennen und je Nach einer Gallup-Umfrage (Rötzer 2005) be- 15ff.) konnten die Frage „Was bezeichnet man nach Abschneiden der deutschen Mannschaft zeichnen sich 28 Prozent der Deutschen, dop- als das Wunder von Bern?“ 55,4% der Alters- Anlass sein für kollektives Wundenlecken oder pelt so viele wie in anderen EU-Staaten, an er- gruppe richtig beantworten, während auf die politische Ruckappelle. ster Stelle als Europäer, während umgekehrt Frage „Was versteht man unter dem Begriff mehr als die Hälfte der Menschen in Österreich, Holocaust?“ lediglich 51,4% der Befragten Island und Luxemburg sagen, dass sie in erster richtig mit „Vernichtung der Juden“ antworte- DIE MULTIETHNISCHE Linie stolz auf ihre Nationalität sind. Weltweit ten. 35,6% beantworteten die Frage nach der NATIONALMANNSCHAFT nennt etwa ein Drittel der Befragten die natio- NS-Machtergreifung am 30.1.1933 korrekt, nale Identität als wichtigstes Merkmal, gefolgt während nur noch 19,7% der Interviewten die Eine eindimensionale nationalistische Be- von der Religion (21%). Während in Lateiname- Frage „Was geschah am 17. Juni 1953?“ zu- trachtungsweise scheidet dabei zwangsläufig rika die Bedeutung der nationalen Identität mit treffend beantworten konnten. schon aus. Denn multiethnisch ist die Natio- 54 Prozent überwiegt, dominieren in Afrika nalmannschaft ja sowieso: „der in Ghana ge- (56%), in den USA und Kanada (32%) vor allem borene Asamoah und Owomoyela als Sohn ei- religiöse Identifikationsmuster. IT’S MORE THAN A GAME… nes Nigerianers bringen afrikanischen Elan in die Elf; Kuranyi stärkt das südamerikanische Fußball leistet einen nicht unwesentlichen Element, hat der Sohn einer Panamaerin doch „NATIONALE HERAUSFORDERUNG Beitrag zur Herausbildung einer nationalen in Brasilien das Kicken gelernt; polnische Po- WM 2006“ (OTTO SCHILY) Identität in einer gegebenen Zeit. It´s more wer verkörpern Podolski, Klose und Sinkiewicz; than a game: Fußball ist einer von vielen Spie- der aus der Schweiz stammende Neuville steht Lösche (2002) hat deutlich gemacht, dass Fuß- geln der Gesellschaft und ein Barometer na- für Unaufgeregtheit, und dass Torhüter Kahn ball eher Ausdruck, nie Anlass für gesellschaft- tionaler Befindlichkeiten. Er beeinflusst die einen lettischen Opa hat, verleiht der deut- lichen Wandel ist. Veränderungen gehen immer politische Stimmungslage in einem Land. Auch schen Auswahl ebenso ein internationales von der Politik und der Gesellschaft aus und die Weltmeisterschaft 2006 wird für Politiker Flair wie die Tatsache, dass der Bundestrainer werden retrospektiv in die Fußballgeschichte und Medien ein willkommenes Ereignis sein, in Kalifornien wohnt“ (Klemm 2005, S. 26). hinein interpretiert. Das Fußballfeld ist keine identitätsstiftende Sinnangebote für die Deut- Sollte Deutschland allerdings bereits in der soziale Matrix, anhand der sich die komplexe schen und ihr Verhältnis zu ihrer Nation zu Vorrunde ausscheiden, wird die WM schnell in moderne Gesellschaft dechiffrieren lässt und machen. Rahn (2004, S. 2) hat in zahlreichen Vergessenheit geraten und das kollektive Jam- die den nationalen Taktschlag so einfach vor- Untersuchungen nachgewiesen, dass eine öf- mern wieder an der Tagesordnung sein: „Das geben kann. Wie einfach wäre sonst die Aufga- fentliche Stimmung (public mood), eine „the- lang bewunderte Sozialsystem kastriert sich, be von Regierungen und Parlamenten? menbestimmte gesellschaftliche Großwetter- die lang beneidete Wirtschaft ruiniert sich, Dennoch: Eine kritische Analyse des Zu- lage“ kausale Auswirkungen auf nationale die langweilige Nationalmannschaft blamiert sammenhangs von Fußball und nationaler Bindungen (commitment) haben kann. Groß- sich“ (Platthaus 2006). Fußball und Deutsch- Identität muss neben all den negativen Begleit- ereignisse können eine Nation mitreißen und land sind dann eben auch nicht mehr das, was erscheinungen und äußerst fragwürdigen Ent- ihr zumindest kurzzeitig ein Selbstwertgefühl sie einmal waren. wicklungen auch die positive Funktion dieser und Selbstbewusstsein geben. Die Nation lebt Der Gewinn der Weltmeisterschaft 2006 ande- Symbiose darstellen. Kein anderer Bereich trägt nicht vom Brot, vom wirtschaftlichen Wohl- rerseits könnte aber rückblickend für ein offe- in Deutschland mehr zur schichtenübergrei- stand und effizientem (sozial-)staatlichen nes und integrationsfähiges Deutschland ste- fenden (Erlebnis-, Erzähl- oder Solidaritäts-) Handeln allein: Ein funktionierender Binnen- hen, das durch Anleihen in der ganzen Welt Gemeinschaft und zur nationalen Identitäts- markt ist „kein Vaterland“. Das Bewusstsein um und durch eine nationale Kraftanstrengung stiftung bei als der Fußball. eine nationale Identität hat eine grundlegen- den unveränderbaren Globalisierungsprozess „Fußball ist der Leitstern unserer Kultur – de Bedeutung für den Zusammenhalt moder- mit einer auf Zeit befristeten Großen Koalition wenn Kultur bedeutet: worüber die meisten ner Staaten. Fehlende Identität und Identifika- gemeistert hat und sich dort wieder zurück- reden, worauf die meisten fiebern, was die tion führt bei Verteilungskonflikten zur Bedro- meldet, wo es im 21. Jahrhundert als Mittel- meisten wichtig finden, in welcher sprach- hung oder gar Auflösung des Gemeinwesens. macht hingehört: ohne Sicherheitsratssitz in lichen Währung die meisten miteinander ver- Reiner Verfassungspatriotismus reicht nicht der UN, aber als selbstbewusster europäischer kehren können. (...) Das Stadion ist der letzte aus. Nicht nur Menschen, sondern auch Natio- Staat, der den wirtschaftlichen und politi- Ort der alle Klassen versammelt: die Spitzen nen, die über ein gesichertes Selbstkonzept schen Wettbewerb mit Brasilien, Iran, Südko- der Politik, die Medienexistenzen des Showge- und einen verlässlichen Normenkodex verfü- rea, den USA oder Japan aufnehmen kann. schäfts, die über ihre Produkte omnipräsente gen, sind berechenbarer und in ihren Hand- Wirtschaft, die Masse der Angestellten und lungsweisen eher einschätzbarer. Man könnte Arbeitenden, aber auch Leute, die in keiner öf- wahrscheinlich sogar sagen, dass eine selbst- NATIONALE UND EUROPÄISCHE IDENTITÄT fentlichen Debatte mehr vorkommen und um bewusste Nation großzügiger im Umgang mit die sich kaum einer kümmert, also Arbeitslose, dem Anderen sein kann, toleranter gegenüber Der Fußball zeigt deutlich auf, was in der Poli- verwahrloste Jugendliche, Ausländer, Alkohol- dem Fremden. tik oft nur hinter vorgehaltener Hand einge- süchtige. Nachdem Religionen, Weltanschau- Kurzum: Nur noch der Sport, und in Deutsch- standen wird: das „Konstrukt“ Nation wird Be- ungen und Gebräuche in der Erlebnisgesell- land fast ausschließlich der Volkssport Fußball, zugsgröße im Alltag wie in der internationalen schaft ihre Verbindlichkeit verloren haben und ist in Friedenszeiten in der Lage, das „National- Politik auf absehbare Zeit bleiben. Das Gute die Menschen der unterschiedlichen Milieus gefühl“ in der Bevölkerung zu mobilisieren. und das Schlechte ist: Identitäten können ge- und Gehaltsklassen in streng voneinander ge- Wenn bei der schönsten Nebensache der Welt schaffen werden, auch europäische. Sie müs- trennten Lebensbereichen zu Hause sind, eint ab und an auch Fragen nationaler Identität zur sen allerdings bei der Bevölkerung Akzeptanz sie alle – vom Kanzler bis zum Penner – nur Hauptsache werden und damit politisches erfahren. Die politisch viel relevantere Frage mehr der Fußball“ (Schümer 1995). Interesse und die Urteilsbildung gesteigert ist deshalb die, wie eine deutsche Identität

29 VERENA SCHEUBLE / MICHAEL WEHNER

„Finale Provokationen“ für die Leserinnen / den Leser in Form von Thesen und Antithesen: These: Warum identifizieren wir uns während 90 Minuten nahezu bedingungslos mit der deutschen Mannschaft, während wir den auf fünf Jahre gewählten Politikern von Anfang an misstrauen und nichts zutrauen? Warum gibt es den „winning spirit“ auf dem Spielfeld, nicht aber in der deutschen Politik? Antithese: Politische Probleme lassen sich nicht in 90 Minuten, manche auch nicht im Rahmen einer 5-jährigen Legislaturperiode lösen. Politik ist weit- aus komplexer als ein simples Spiel von 22 Personen um einen Ball. Mit einem gemeinsamen Schulterschluss und Mannschaftskreis sind die Verteilungskonflikte einer Gesellschaft nicht zu lösen. These: Fußball ist Ersatzkrieg und das Überstreifen des Fantrikots und Bemalen der Wangen ist nichts anderes als früher die Uniformierung in Zei- ten militärischer Auseinandersetzungen und die bedingungslose Identifikation mit der Nation. Antithese: Fußball ist lediglich ein Spiel, das 90 Minuten dauert und mit der entsprechenden Inszenierung macht das Ganze noch mehr Spaß. Die Zu- schauer wissen, dass es ein Schauspiel, ein unterhaltsames Erlebnis ist, das mit der politischen Realität nichts gemein hat. These: „Rettet den Fußball vor den Intellektuellen“ (Der Spiegel Nr. 27/2005, S.150): Akademiker können uns Fußballbegeisterten sogar dieses Spiel verderben. Historiker und Politologen veranstalten darum ein „intellektuelles Buhei“ und „akademisches Blabla“. Mit ihrem multiperspekti- vischen Denken vermiesen sie uns die glücklichen fußballerischen Momente. Das traurige Los des Intellektuellen ist, dass er sich über den Gewinn einer Weltmeisterschaft nicht einfach nur freuen kann, sondern immer schon reflektiert, was das für einen politisch denkenden deutschen Kosmopoliten für Auswirkungen haben könnte: „Der Kern des Problems liegt darin, dass die deutschen Intellektuellen mit dem Gedanken der Nation nicht fertig werden können“ (Dahrendorf 1990). Antithese: Bewahrt uns vor dem gemeinen Fußballfan: Der politikverdrossene Fußballfan realisiert nicht, dass Brot und Spiele zusammengehören und Fußball immer mehr ist als nur live dabei sein im Hier und Jetzt. Emotionen pur ohne kognitive Bezüge laufen ins Leere und sind bloßer Zeitvertreib. Fußball ist mehr als nur ein Spiel. Vermittelt dem gemeinen Fußballfan endlich politisches Bewusstsein! These: Es hat viel für sich, dass wir unsere Nationalhymne nicht einfach reflexartig mitsingen und die deutsche Flagge nicht gleich als das Schre- bergarten-Schmuckstück betrachten. Antithese: Die notwendige Identifikation mit unserem Gemeinwesen wird vor allem Jugendlichen erschwert, wenn sie bei Anlässen wie der Fußball- weltmeisterschaft nicht unbefangen unsere nationalen Symbole verwenden können, da vor allem von Pädagogen dann sofort die Moral- keule der Geschichte geschwungen wird. These: Die gebrochene nationale Identität schützt uns vor enttäuschungsanfälligen, diffusen deutschen Stimmungen und garantiert eine Ausein- andersetzung mit der Nation auf der rationalen Ebene. Antithese: Die Ausblendung der seelenhaften, affektiven Identifikation mit der Nation missachtet Identifikationsbedürfnisse des Individuums und für solidarisches Verhalten notwendige Zusammengehörigkeitsgefühle einer „Schicksalsgemeinschaft“. Dies gilt insbesondere auch für eine eu- ropäische Identität: Mit Informationskampagnen wird der Euroskeptizismus nicht besiegt werden können. These: Wer die Aufstellung der deutschen Weltmeistermannschaft 1974 auswendig aufsagen kann, hat noch überhaupt nichts von deutscher Ge- schichte gelernt. Die Metaebene der Zusammenhänge von nationaler Mythenbildung und Fußballgeschichte wird sich dem Fußballbegeis- terten niemals erschließen. Antithese: Paninibildchen von Fußballern sind nachhaltiger in ihrer Wirkung auf das nationale Bewusstsein als ein Kriegerdenkmal, Ballack ist sinn- stiftender für die deutsche Nation (und ihren Ruf)? als Bismarck. Laut Eisenberg (2004, S. 7) hat sich immerhin jeder der 6,2 Milliarden Er- denbewohner, statistisch gesehen, mehr als vier Mal in die Endrunde des Turniers eingeschaltet. These: Eine Diskussion über Nationalstolz und Patriotismus führt zu nichts. Die politischen Probleme Deutschlands werden dabei nicht gelöst. Leit- kulturdebatte und Fragebögen für Migranten helfen bei der Integration und Identitätsbildung der in Deutschland lebenden Menschen nicht weiter. Antithese: Auf der nationalen Ebene tun sich die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte zu Recht schwer mit ihrer Identität. Dennoch: Die Diskussion um europäische Werte, Leitkulturen und Parallelgesellschaften muss in Deutschland geführt werden. Bislang erfolgte die Definition unse- rer nationalen Identität meist über das Negative: Deutschland ist nicht Kopftuch, nicht Parallel- und Patchworkgesellschaft, vor allem aber auch nicht Grande Nation. Besonders eine positive Annäherung an unsere nationale Identität fällt schwer. Wir sollten darauf vertrauen, dass sich auch bei diesem Diskurs der Pluralismus bewähren und zeigen wird, wer im Streit um Meinungen und die besseren Konzepte die poli- tische Gestaltungsmöglichkeit erhält und die Verantwortung für die Umsetzung dann auch zu tragen hat. These: Trotz Geschichte, Genozid und Verbrechen der Nationalsozialisten sollte es uns möglich sein, ein normales Verhältnis zu unserem Vaterland zu entwickeln. Eine Definition von Patriotismus, die in den USA konsensfähig ist, kann auch für einen deutschen Patriotismus Gültigkeit be- anspruchen: Patriotism is “pride and love for country” (Li and Brewer 2004) or “ Patriotism is an attachment to nation, its institutions, and its founding principles” (Figueiredo and Elkins 2003)?

30 Fußball und nationale Identität

Antithese: Wir sind nicht eine Nation wie jede andere. Deutschland ist ein schwieriges Vaterland. Wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen und dem im Umgang mit nationalen Fragen gerecht werden. Eine Normalisierung des „Deutsch-Seins“ bedeutet die Singularität des Holocausts bereits in Frage zu stellen. These: Der politischen Bildung und der Politik ist es nicht gelungen, das Grundgesetz im öffentlichen Bewusstsein als gemeinsames identitätsstif- tendes Symbol zu verankern. Ein Jersey der deutschen Nationalmannschaft in den Farben schwarz-rot-gold weckt deutlich mehr positive Emotionen als unsere Verfassung. Demokratieerziehung sollte mehr den Sinn von Institutionen und unserer Verfassung verdeutlichen und die positiven Errungenschaften unserer Demokratie auch mit einem gewissen Stolz vermitteln. Antithese: Der Stellenwert des Grundgesetzes und unserer politischen Institutionen ist den Bürgerinnen und Bürgern deutlich. Sie werden sich in Kri- senzeiten ohne weiteres auf die demokratischen Grundsätze der Verfassung berufen können. Deswegen muss man den Staat nicht gleich lieben und stolz auf Deutschland sein: „Ich kann vielleicht zur Not noch eine Landschaft lieben, aber ich liebe keine Institutionen, den Staat so wenig wie beispielsweise die Allgemeine Ortskrankenkasse“ (Roman Herzog). These: Die für die politische Bildung viel wichtigere Aufgabe lautet: Beiträge zur Ausbildung einer politischen-zivilgesellschaftlichen Identität zu leisten und die Mechanismen aufzuzeigen, wie Identitäten mit welchen Intentionen benutzt werden und nicht nationale Gefühlsduseleien zu betreiben. Antithese: „Die Frage, wie unsere Demokratie überleben soll, hat etwas mit Patriotismus und Gemeinsinn zu tun“ (Hans Apel). Es gehört deshalb zur Kernaufgabe politischer Bildung, sich mit Fragen der nationalen Identität auseinanderzusetzen. Für unsere Zeit bleiben „Vaterlandsliebe und Patriotismus notwendig – mit oder ohne Stolz“ (Wolfgang Schäuble 2001).

(sofern es eine solche gibt) in eine europäische LITERATUR Renan, E./Euchner, W.: Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Hamburg 1996. transformiert werden kann, gerade weil der Anderson, B.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere ei- Rötzer, F.: Kein Vertrauen in Politiker. Unter: http:// Nationalstaat als Orientierungsrahmen nicht nes folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main, 2. Auf- www.telepolis.de/r4/artikel/20/20959/1.html. ohne weiteres zu überwinden sein wird. „Das lage 2005 Schäuble, W.: Stolz, Vaterlandsliebe, Patriotismus – eine Assmann, J.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Iden- deutsche Diskussion. In: Süddeutsche Zeitung vom Verhältnis von Union und Nationalstaaten tität. In: Assmann, J./Hölscher, T. (Hrsg.): Kultur und Ge- 29.11.01 wird eine der wichtigen Fragen sein, die in den dächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9-19. Schmid, J.: Das Ringen um nationale Identität. In: kommenden Jahren zu regeln sind. Denn auch Brusis, M.: Zwischen europäischer und nationaler Iden- Deutschlandradio Berlin vom 6.3.2005. Berlin 2005. Un- tität – zum Diskurs über die Osterweiterung der EU. In: in Zukunft wird der Nationalstaat mit seinen ter: www.dradio.de/dlr/sendungen/signale/353243. Klein, A. (Hrsg): Europäische Öffentlichkeit – Bürgerge- Schümer, D.: Bundesliga zwischen Kommerz und diony- kulturellen und demokratischen Traditionen sellschaft – Demokratie. Opladen 2003 sischem Ereignis. In: Badische Zeitung vom 12.6.1995 für die Menschen in Europa der primäre Träger Chlada, M./ Dembowski, G.: Und täglich drückt der Fuß- Schümer, D.: Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs. ballschuh. Köln 2000. Unter: www.eurozine.com/arti- Frankfurt am Main 1998 ihrer Identität sein. Er ist der wichtigste Rah- cle/2000-01-08-chlada-de.html. Seitz, N.: Was symbolisiert das „Wunder von Bern“? In: men für Sprache, Kultur und Tradition und Dahrendorf, R.: Betrachtungen über die Revolution in Eu- Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzei- wird auch in einer großen Union unersetz- ropa. München 1990 tung Das Parlament, 26/2004, S. 3-6. Dembowski, G./Scheidle, J. (Hrsg.): Tatort Stadion: Ras- bar bleiben, um europäische Entscheidungen sismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball. Köln überzeugend demokratisch zu legitimieren. 2002 Andererseits werden die Mitgliedstaaten im Deutsch, K. W.: Nationenbildung – Nationalstaat – Inte- 21. Jahrhundert auf eine handlungsfähige, de- gration. Düsseldorf 1972 Eisenberg, C.: Fußball als globales Phänomen – Historische mokratisch legitimierte Europäische Union es- Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage sentiell angewiesen sein“ (Fischer 2001, S. 3). zur Wochenzeitung Das Parlament, B 26/2004, S.7-15. UNSER AUTOR Fischer, J.: Die Zukunft Europas und die deutsch-franzö- sische Partnerschaft. Rede von Bundesaußenminister Jo- seph Fischer am 30. Januar 2001 vor dem Frankreich- Dr. Michael Weh- Zentrum der Universität Freiburg. Unter: www.auswaerti- ner studierte in ges-amt.de/www/de/archiv_print?archiv_id=1204. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Deutschen Geschichte – Freiburg an der Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Pädagogischen Mannheim 2005 Hochschule Poli- Klemm, T.: So werden wir Fußball-Weltmeister. In: Frank- furter Allgemeine Zeitung vom 27.12.2005 tikwissenschaft UNSERE AUTORIN Langewiesche, D.: Nationalismus im 19. und 20. Jahr- und Geschichte hundert: zwischen Partizipation und Aggression. Vortrag, und war zwei Jah- Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 24.1.1994. Unter: Verena Scheuble http://library.fes.de/fulltext/historiker/00625.htm re lang im Schul- absolvierte ihr Lösche, P.: Sport und Politik(Wissenschaft): Das dreidi- dienst des Landes Magisterstudium mensionale Verhältnis von Sport und politischem System Baden-Württem- der Bundesrepublik Deutschland. In: Jahrbuch für Euro- der Neueren und pa- und Nordamerikastudien 5 (2002). Wiesbaden 2002, berg. Seit 1991 ist Neuesten Ge- S. 45-63. er Leiter der Außenstelle Freiburg der Lan- schichte und der Oberndörfer, D.: Der Wahn des Nationalen. Freiburg 1993. deszentrale für politische Bildung Baden- Platthaus, A.: Die Welt zu Gast bei Träumern. In: Frank- Ethnologie an den furter Allgemeine Zeitung vom 2.1.2006 Württemberg. Michael Wehner ist Autor Universitäten Frei- Qiong, L. and Brewer, M.: “What Does It Mean to Be An mehrerer Veröffentlichungen zu politikwis- burg und Zürich. American? Patriotism, Nationalism, and American Identi- senschaftlichen und pädagogischen Themen ty after September 11.” In: Political Psychology (im Druck) Ihre fachlichen 2004 sowie Autor mehrerer Schulbücher in den Schwerpunkte Rahn, W. M.: Feeling, Thinking, Being, Doing: Public Fächern Geschichte und Gemeinschaftskun- sind Nationsbil- Mood, American National Identity, and Civic Participa- de. Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter tion. Paper prepared for presentation at the Annual Mee- dungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert ting of the Midwest Political Science Association. Chica- am Seminar für wissenschaftliche Politik der und die Geschichte des europäischen Kolo- go, IL, April 17, 2004: Unter: www.polisci.umn.edu/facul- Universität Freiburg, an der Pädagogischen nialismus. Seit 2003 ist sie freie Mitarbeite- ty/wrahn/mw04.pdf Hochschule Freiburg sowie an der Berufs- Reinhard, W.: Geschichte der Staatsgewalt. Eine verglei- rin der Landeszentrale für politische Bildung chende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfän- akademie des Landes Baden-Württemberg Baden-Württemberg. gen bis zur Gegenwart. München, 2. Auflage 2002 in Villingen-Schwenningen. EINE KLEINE GESCHICHTE DER KOMMERZIALISIERUNG DES FUßBALLS „Nun siegt mal schön!“1

DIRK SCHINDELBECK

sind längst alle eingeschworen. Schließlich Deutschland 2006 der sportliche Sieger sein, Fußball funktioniert nicht losgelöst von versucht ja auch jeder, der es vermag, ange- damit sich die WM auch ökonomisch voll aus- ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, er fangen vom Goethe-Institut über die beiden zahlt. Jede Platzierung, die schlechter als das unterliegt diesen Gesetzmäßigkeiten so- Kirchen bis hin zu den Ausstellungsmachern Erreichen des Halbfinales ausfällt, muss den In- gar in verschärftem Maße. Keine andere „Marken Made in Germany“, die kolossalste vestoren, die auf ständige Wiederholung und Sportart hat sich in den letzten Jahren in Bühne aller Zeiten zum eigenen großen Auf- Intensivierung ihrer Botschaften auf dem Bild- einer derart engen Wechselbeziehung tritt zu nutzen. schirm bis ins Endspiel hinein bauen, sauer auf- mit den Medien, mit Kommerz und Wer- In der Tat war eine Fußballweltmeisterschaft stoßen (nur die letzten vier Mannschaften be- bung entwickelt wie der Fußball. Die noch nie so sehr im Visier von Trittbrettfahrern streiten sieben Begegnungen, sind also für „Geldmaschine“ Fußball ist ein echter wie dieses Mal. Um die „schönste Nebensache mindestens 630 kostbare Werbeminuten auf und ernstzunehmender Wirtschaftsfak- der Welt“ geht es schon lange nicht mehr: Die- dem Bildschirm). Insofern darf Jürgen Klins- tor geworden. Der alljährliche Wander- se WM ist – aller vorgegebenen Heiterkeits- mann, um den Erwartungsdruck des Kapitals zu zirkus der Profis und die astronomischen und Freundschaftsrhetorik zum Trotz – die bedienen, gar nichts anderes verkünden als: Ablösesummen sind nur ein Indikator da- ernsteste Angelegenheit des Jahres 2006. Was „Wir wollen Weltmeister werden!“ Was aber ist, für, dass die Logik des Marktes auch auf hängt für ihren Ausrichter auch nicht alles an wenn die deutsche Mannschaft schon früh dem Spielfeld herrscht. In den Anfangs- ihr? Von der Erschließung neuer Märkte über scheitert? Wird Daimler-Chrysler dem Bundes- zeiten des bundesdeutschen Fußballs die Sicherung von Arbeitsplätzen, Tourismus- trainer per SMS dann Anweisung geben, die tummelten sich noch die „ehrlichen“ impulsen bis hin zu einem mächtigen Image- Windjacke ausziehen, damit der gute Stern in Amateure auf dem grünen Rasen. Inzwi- schub für die Bundesregierung selbst. Franz allen Stadien keinen Imageschaden und – infol- schen haben sich Profifußballer zu Privat- Beckenbauer sei Dank: Die mickrige Reputa- gedessen – Absatzeinbruch davonträgt? Die unternehmern mit Managern und Bera- tion eines Joschka Fischer hätte niemals aus- Angst davor sitzt, trotz aller offiziellen Freund- tern entwickelt. Werbebranche, Medien gereicht, jenen Nachdruck zu entfalten, der es schaftsrhetorik, tief. und Wirtschaft benutzen Fußball als ein einzig dem Kaiser möglich machte, das Mega- Natürlich war das Kreuz des heutigen Kom- längst unverzichtbares Instrument, das Event ins Land zu holen (Fußballkommentato- merzialisierungsstandards nicht gottgegeben, der Vermittlung von Werbebotschaften risch gefragt: Ist Beckenbauer der bessere Fi- auch wenn von jeher nationale Fußballmann- und der Vermarktung unzähliger Produk- scher?). Längst hat es der Franz auch allen schaften immer wieder dazu missbraucht te dient. Dirk Schindelbeck schildert in deutlich gesagt: Eine solche Chance bekom- worden sind, die Kraft und die Herrlichkeit des seiner „Kleinen Geschichte der Kommer- men wir in den nächsten 50 Jahren nicht mehr. jeweiligen Landes auf dem grünen Rasen vor- zialisierung“ diese Entwicklung und be- zuführen. In den letzten fünfzig Jahren haben zieht dabei auch die Erwartungen mit sich die Auftritte der Nationalmannschaften ein, die sich mit dem Mega-Event des Jah- DAS KALKÜL DES KAPITALS radikal verändert, vor allem unter dem Einfluss res 2006 verbinden. des kommerziellen Vereinsfußballs, wie er sich Doch genau dies ist eben auch die Krux der Fuß- nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in ball-Weltmeisterschaften im totalen Medien- West- und Südeuropa entwickelt hat. Längst zeitalter. Denn das Kalkül des in das Riesen- sind Länderbegegnungen und Weltmeister- spektakel schon reichlich eingeflossenen Kapi- schaften keine Propagandaveranstaltungen tals (siehe Stadionbauten oder Automuseen) mehr, sondern vor allem Imagespender, deren KOMMERZIELLE PROGNOSEN kennt nur eine Logik: return on investment. Das Transferleistungen für ganze Produktland- Fußballspiel seinerseits aber bezieht – wie jedes schaften unverzichtbar geworden sind. Das Die rheinische Frohnatur Reiner Calmund andere Spiel – seinen Reiz ja gerade daraus, dass Funktionsprinzip ist offensichtlich. Nichts fas- war begeistert: 40 Milliarden Menschen, so es nicht kalkulierbar ist. Also möchte die Logik ziniert und emotionalisiert die breiten Massen schwärmte er, würden die Spiele der Fußball- des Geldes sich die Logik des Spiels allzu so sicher und nachhaltig wie der Fußball. Weil WM 2006 in Deutschland verfolgen (die astro- gern unterwerfen. Nach dessen Kalkül muss der Fußball – dank der Mediatisierung – heute nomisch anmutende Zahl ist selbstverständlich akkumuliert; sie ergibt sich aus geschätzten zehn verfolgten WM-Begegnungen seitens je- ner vier Milliarden Menschen – von 6,5 der Weltbevölkerung – mit Fernsehzugang).2 Was für Möglichkeiten, deutsche Ideen und Produk- te in die Köpfe der versammelten Fernseh- menschheit zu tragen! Eine sechswöchige Dau- erwerbesendung von nie gekanntem Ausmaß! Die dazu noch den unschätzbaren Vorteil hat, dass sie niemand wegzappt – weil die Spannung die Leute vor den Bildschirmen fesselt. Dies ist die eine Seite jener traumhaften Chan- cen, über die WM ein Milliardenpublikum emotional zu bannen und zu Empfängern der „Marke Deutschland“ zu machen. Ihre andere Seite ist der im selben Maß ansteigende gigan- tische Erwartungsdruck. Diese WM muss rund DIE ZWEI VON und schön ablaufen, damit sie zur optimalen DER TANKSTELLE: OTT- Projektionsfläche für die größte Selbstdarstel- MAR WALTER NEBST lung ihres Ausrichters in der Geschichte wer- den kann. Es darf unter keinen Umständen zu BUCHFÜHRENDER GATTIN IN KAISERS- unschönen Szenen oder gar Gewaltakten LAUTERN (1954) kommen (noch immer ist das Trauma des At- Kultur- und werbe- tentats bei den Olympischen Spielen von Mün- geschichtliches Archiv chen 1972 präsent). Auf dieses nationale Ziel Freiburg kwaf

32 DAS GOLDENE G DER MOTORROLLER-FIRMA GLAS: HANS SCHAEFER FÄHRT AUF DEM SOZIUSSITZ DURCH DINGOLFING (JULI 1954) Stadtarchiv Dingolfing selbst den letzten Winkel auf der Erde erreicht. Getreu dieser Selbsteinschätzung dokumen- In Wirklichkeit war man in der Bundesrepublik Deswegen ist der Fußball das ideale Vehikel tiert die seinerzeitige Darstellung der Helden mit dem 1951 eingeführten Amateur-Ver- und wie kein anderes geeignet, andere Pro- in der Presse und den Bildmedien dies vitale tragsspieler-Statut im europäischen Vergleich dukte im Huckepack-Verfahren an die poten- Kommunikationsinteresse: die auf dem Fuß- inzwischen isoliert. Rings herum, in den ziellen Käufer zu tragen. Fußball, Medien und ballfeld gezeigten Tugenden und Wertvorstel- Niederlanden, in England, Frankreich, Italien Kommerz bilden heute auch bei Weltmeister- lungen stammten ja unmittelbar von den Ar- oder Spanien waren schon in den frühen schaften ein untrennbares Beziehungsge- beitsplätzen und aus den Betrieben; jeder ein- Nachkriegsjahren nationale Profiligen einge- flecht, dessen historische Entwicklungslinien zelne der Weltmeistermannen war einer ihrer führt worden – mit Bezügen für die einzelnen in Deutschland im Folgenden in groben Zügen mustergültigen Repräsentanten von Fleiß und Spieler, die sich direkt an deren Marktwert dargestellt seien. Disziplin, von Anständigkeit und Bescheiden- orientierten. Zudem kämpften dort die besten heit. So war Torwart und „Fußballgott“ Toni Vereinsmannschaften des Landes Woche für Turek im Zivilberuf auch nur ein kleiner Ange- Woche um Punkte und Meisterschaft, was sich „BEGEISTERUNG FÜR EINE EDLE SACHE...“ stellter bei den Düsseldorfer Rheinbahnen, sowohl auf die Qualität der Begegnungen als Hans Schäfer Herrenfriseur in Köln. Werner auch die Zuschauerzahlen förderlich auswirk- „Das deutsche Volk in seiner ganzen Breite hat Kohlmeyer stand bei einer Kammgarnspinne- te. Hierzulande bekamen die Stadionbesucher etwas jetzt empfunden, was Begeisterung rei in Lohn und Brot, bei der dagegen fast das ganze Jahr hindurch nur bie- heißt für die edle Sache des Sports. Nicht nur Post. Ottmar Walter fand als Betreiber einer deren Oberligafußball zu sehen – mit immer die Jugend, auch die ältesten Semester stan- Tankstelle sein Auskommen, ähnlich wie sein wieder sehr ungleichen und wenig spannen- den auf dem Acker mit dem Dreschflegel und Bruder Fritz, Inhaber einer Dampfwäscherei.5 den Paarungen. Erst in einer Endrunde wurde winkten, es war etwas so Hinreißendes, das Insgesamt münzte sich die große Leistung für dann unter den in ihren Oberligen Süd, West, wirklich zeigt, dass es eine Volksbewegung ge- die Akteure keineswegs in handfesten mate- Nord usw. jeweils führenden Vereinen die worden ist, die etwas gesteuert werden muss riellen Vorteilen aus, blieb für den einzelnen deutsche Meisterschaft ausgespielt – ein Sys- von unserm Staat, und darauf hoffen wir.“3 Fußballer oft bis weit in die siebziger Jahre tem, das weder für die Aktiven noch für die Der Präsident des Deutschen Fußballbundes hinein die Frage des „Danach“ ungelöst, waren Zuschauer sehr attraktiv war. Nur 400 DM er- Peco Bauwens stand bei seiner Rede am 6. Juli Existenzen als Kneipenwirt oder Kioskbetreiber laubte das Vertrags-Amateur-Statut den Ball- 1954 im Münchner Rathaus noch ganz unter nach zuweilen glanzvollen Karrieren die Regel. künstlern (die zudem einen „richtigen“ Beruf dem Eindruck der Zugfahrt der Nationalmann- nachweisen mussten) als Nebeneinnahme. In schaft zurück in die Heimat. Doch seine Vision der Praxis bedeutete dies, dass die Leistungs- einer national inspirierten „Volksbewegung“ AM AMATEURSTATUS WIRD bereitschaft der Spieler stark schwankte und als Gegenstück für die Höchstleistungen auf NICHT GERÜTTELT immer wieder der Anstachelung bedurfte – dem Fußballfeld sollte sich (gottlob!) nicht er- folglich steckten Funktionäre und Vereinsobe- füllen. Dass es indessen eine Mannschaft der Doch solange der glorreiche Sieg der „Helden re ihnen auch immer wieder heimlich Geld zu, Vertragsamateure gewesen war, die das „Wun- von Bern“ ausschließlich der Ausstaffierung und wenn es nur das obligatorische Fünfmark- der von Bern“ vollbracht hatte, rührt gleich- deutschen Selbstbewusstseins diente, sahen stück in den Stiefeln war. wohl noch heute zu Tränen und wird inzwi- am allerwenigsten die Funktionäre des DFB schen auch seitens der historischen Forschung Veranlassung, am erfolgreichen Amateursta- zum Kernstück des Gründungsmythos der tus zu rütteln. Immerhin erreichte die Natio- „KRAFT IN DEN TELLER, Bundesrepublik erklärt.4 Zum ersten Mal nach nalauswahl selbst unter diesen Vorgaben bei KNORR AUF DEN TISCH!“ dem Krieg wagten die Westdeutschen den kol- der WM 1958 in Schweden noch einen beacht- lektiven Blick in den Spiegel und verschafften lichen vierten Platz. Erst 1962 in Chile, als man Anfangs der Sechzigerjahre hatte sich die sich – zwischen Selbsterkenntnis und Selbst- gegen Jugoslawien schon im Viertelfinale aus- Schere zwischen dem, was für einen talentier- gefallen – mit dem makellosen Sieg ihrer schied, war die Talfahrt des deutschen Fuß- ten Fußballspieler hierzulande und im Ausland Mannschaft den Beweis ihrer Vollwertigkeit im balls nicht mehr zu übersehen, hatte sich der zu verdienen war, so weit aufgetan, dass Ta- Kreis der Nationen. Mythos von den „elf Freunden“ überlebt. schengeld und gute Worte nicht mehr aus-

33 DIRK SCHINDELBECK reichten, die Leistungsträger zu halten: Bau- August 1963 knapp 300.000 Zuschauer die er- plätze oder wenigstens zinslose Darlehen für sten acht Begegnungen sehen und die sich Eigenheime neben beträchtlichen Geldzu- nun jeden Samstag einstellende „Endspiel- wendungen „unter dem Tisch“ waren bei den stimmung“ genießen konnten. reichen Vereinen längst übliche Praxis gewor- den. Inzwischen empfanden es die besten un- ter Deutschlands Fußballern wie Karl-Heinz DER ERSTE SCHRITT ZUR Schnellinger, Sportler des Jahres 1962, oder PROFESSIONALISIERUNG Helmut Haller, auch nicht mehr als ehrenrüh- rig, ihr Geld in Italien zu verdienen. Doch es Aus heutiger Sicht bedeuteten die nun gelten- musste wohl erst zu dem Debakel bei der WM den neuen Statuten freilich nur den ersten – 1962 in Chile kommen, ehe sich der DFB zur wenn auch entscheidenden – Schritt zum Pro- überfälligen Strukturreform im deutschen fisystem. Von nun an waren die Spieler Ange- Vereinsfußball durchrang und die Einführung stellte ihrer Vereine mit festen Einkommen: „Die einer bundesweiten Eliteliga beschloss. Gesamtbruttobezüge eines Spielers – zu- Gleichwohl gab es auch im Spielerlager Stim- sammengesetzt aus Grundgehalt und Leis- men, die dem hergebrachten Amateurstatus tungsprämien – dürfen den Betrag von monat- nachtrauerten wie etwa Jürgen Werner vom lich 1.200 Mark nicht übersteigen.“ Nur „be- Hamburger SV: „Und wenn es in den nächsten sonders wertvollen Spielern“ wurde in Ausnah- Jahren 300.000 DM wären, das ist mir die Sa- mefällen mehr gestattet. Trotz der Verdreifa- „WERBUNG AM MANN“ 1973: ICH, PAUL BREITNER, che nicht wert.“6 Werner stieß sich vor allem chung ihrer Bezüge vom einen auf den anderen TRAGE J., WEIL ICH DOCH IMMER SCHON DER PLATZ- an den in Zukunft unterschiedlichen Gehäl- Tag war auch dieser Rahmen eher eng bemes- HIRSCH WAR... Der Ball ist rund. Begleitheft zur tern innerhalb der Mannschaften. Damit wer- sen. Schon für einen durchschnittlich guten Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen de „das Gleichheitsprinzip durchbrochen“, von Spieler wie den Essener Horst Trimborn, der in 12. Mai bis 15. Oktober 2000, S. 51 nun an sei jeder nur noch des anderen seinem Zivilberuf als Buchhalter 1.000 DM und „Nebenbuhler, nicht Kamerad“. Dennoch sollte bislang zusätzlich 400 DM als Vertragsamateur es nach der Entscheidung zur Profiliga im Juli erhalten hatte, waren die jetzt maximal „erlaub- 1962 noch ein ganzes Jahr dauern, ehe am 24. ten“ 1.200 DM eine deutliche Verschlechterung. breitung des neuen Mediums Fernsehen zu- Und so sorgte auch in der Folgezeit immer wie- sammenhing,7 der Rundfunkstaatsvertrag, wel- der das (noch zu wenige) Geld für Affären und cher die Trennung von kommerziellen und in- Skandale – am offensichtlichsten im großen formellen Inhalten strikt vorschrieb, sorgte Bundesliga-Skandal der Saison 1970/71, als bis weit über das Ende der Siebzigerjahre hi- sich herausstellte, dass der Abstieg bestimmter naus dafür, dass seine ökonomischen Entwick- Vereine gegen Zahlung von Schmiergeldern lungsmöglichkeiten an enge Grenzen stießen. manipuliert worden war. In der Folge spielten sich während des gesam- „Besonders wertvollen Spielern“ wie dem ten Jahrzehnts zum teil listig geführte Gra- ebenso erfolgreichen wie populären Ausnah- benkämpfe zwischen denen ab, die direkt oder mestürmer des HSV und der deutschen Natio- indirekt vom Spielgeschehen der Vereine pro- nalmannschaft Uwe Seeler war auch mit dem fitierten wie Trainer, Spieler, Vereine und deren neuen System nicht gedient. Um ihn zu halten, Sponsoren und denjenigen, welche „das Pro- mussten Konstruktionen jenseits des Spiel- dukt“ Fußball über die engen Stadiongrenzen felds geschaffen werden. So war „Uns Uwe“ hinaus in die Öffentlichkeit transportierten der erste, der sein „eigentliches“ Geld schon wie die Fernsehanstalten, die ihnen zuarbei- 1961 außerhalb des grünen Rasens verdiente: als Generalvertreter im norddeutschen Raum in Diensten des Sportschuhherstellers Adidas. Wie kein anderer markiert er damit die Über- gangssituation im bundesdeutschen Fußball. Erst die Generation nach ihm, die der Becken- bauers, Netzers und Overaths hatte über ihre Popularität die Chance, an die (ganz) großen Werbeeinnahmen zu kommen. Die ersten Wer- beauftritte mit Fußballern gerieten aber noch hausbacken, wie die Fernsehspots mit Lothar Emmerich und Siegfried Held von Borussia Dortmund zeigten, die schon kurz nach dem Gewinn des Europapokals 1966 artig ihre Sup- pe („Kraft in den Teller – Knorr auf den Tisch!“) löffelten.

„ICH TRINKE J., WEIL...“ (GÜNTER MAST)

Obwohl der Fußball schon zu Zeiten der „Sie- ger von Bern“ die denkbar attraktivste Mas- senunterhaltung überhaupt geboten hatte, sein Aufstieg überdies direkt mit der Ver-

DIE ZWEI WELTEN DES UWE SEELER 1961: DER SUPER- TESTIMONIAL IN DER AUSLAUFPHASE: „UNS UWE“ UND STÜRMER ALS GENERALVERTRETER FÜR SPORTARTIKEL DIE SÜSSE VERFÜHRUNG 1974 Kultur- und werbegeschichtliches Archiv Freiburg kwaf Kultur- und werbegeschichtliches Archiv Freiburg kwaf

34 „Nun siegt mal schön!“ tenden Journalisten oder der DFB selbst. Je geschlagen – aufgrund seiner Doppelfunktion stärker von ökonomischer Seite der Druck auf als Inhaber einer Likörfabrik und zugleich Prä- die Attraktion Fußball wurde, desto schwieri- sident von Eintracht Braunschweig. Nur so ger gestaltete sich für die öffentlichen-recht- war es ihm möglich gewesen, seine Spieler mit lichen Medien der Abwehrkampf – umso mehr, dem Logo des von ihm hergestellten Kräuter- da sich nach dem Einbruch des Zuschauer- likörs, einem Hirschgeweih, auflaufen zu las- interesses infolge des Bundesligaskandals sen. Auch wenn sich der DFB zunächst noch 1970/71 nicht nur der bundesdeutsche Fußball als Bremser hervortat und nur 14 Zentimeter erstaunlich schnell erholte und an Attrakti- Werbefläche (im Durchmesser) „am Mann“ zu- vität und Renommee gewann (Europameister gestand, bedeutete dies doch einen Meilen- 1972; Weltmeister 1974) und jetzt auch stein auf dem Weg zum entfesselten Fußball- Vereinsmannschaften wie Mönchengladbach markt heutiger Prägung: vom Vertragsama- oder Bayern München beachtliche internatio- teur über den Angestellten zum selbstständi- nale Erfolge verbuchen konnten. gen Unternehmer mit eigenem Manager oder gar mit ins Trainingscamp der Nationalmann- schaft mitreisenden „Berater“. Die endgültige Freigabe der Spielergehälter 1974 war die lo- DER TORWART ALS WANDELNDE LITFASSSÄULE: TEILE DES gische Folge solcher Entwicklungen, ebenso „ARBEITSGERÄTS“ VON TONI SCHUMACHER AUS DEN wie auf der anderen Seite innerhalb von nur FRÜHEN 90ER-JAHREN Der Ball ist rund. fünf Jahren die Trikotwerbung zum allgemei- Bergleitheft zur Fußballausstellung im Gasometer nen Standard wurde. Der letzte werbefreie Oberhausen 12. Mai bis 15. Oktober 2000, S. 49 deutsche Meister war der 1. FC Köln 1979/80.

„RUMMENIGGES GRÖSSTER GELDGEBER wie der Ersatztorwart des SV Werder Bremen, IST ADIDAS“ (T. SCHUMACHER) Jürgen Rollmann, von der immer stärker Fahrt aufnehmenden Geldmaschine Profifußball. So Doch erst mit der Einrichtung des dualen Fern- lag Rollmanns Einkommen bereits Ende der sehsystems 1983 zeichnete sich ab, dass aus- achtziger Jahre weit über dem bundesdeut- schließlich das große Geld zur eigentlichen schen Durchschnittsverdienst. Zum monat- Triebfeder all dessen, was auf dem grünen Ra- lichen Grundgehalt von 10.000 DM kamen al- sen als inzwischen tägliches Medienspektakel lein für das Tragen einer bestimmten Hand- geschieht, werden sollte. Das Vermittlungs- schuhmarke weitere 10.000 DM, neben 75 monopol des öffentlich-rechtlichen Systems Prozent der eingespielten Prämien seiner war aufgehoben, Sender wie RTL und SAT 1, Stammmannschaft für Punktspiele, hinzu ka- selbst über Werbung finanziert, nahmen sich men Prämien für Pokalsiege (25.000 DM pro des Fußballs an. Nicht gegenläufige, sondern Spiel und Spieler), Honorare für Fernsehauf- parallele, aus seinem „Warencharakter“ abge- tritte (über 10 Sekunden in der entsprechen- leitete Interessen bestimmten fortan die Prä- den Kleidung), Tantiemen für Sammelbilder SAMMELND DIE MANNSCHAFT KOMPLETTIEREN: SPIELER sentation der Inhalte. „Wie ein Damokles- und anderes mehr. Und so kaufte sich selbst DES DEUTSCHEN MEISTERS 1984 VFB STUTTGART ALS schwert hängen finanzielle Einbußen über un- ein Ersatztorwart wie Rollmann nach dem An- BIERDECKEL-KOLLEKTION seren Köpfen“, bekannte Toni Schumacher in schluss seines ersten Vertrags gleich vier „Da weiß man, was man hat!“ Prominente in der Werbung, seinem Buch „Anpfiff“ 1987: „Rummenigges Dachgeschosswohnungen als Anlageobjekte: Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im größter Geldgeber nach Adidas ist Fuji. Klar „Damit hatte ich Ende 1991 mehr Eigentums- Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wie Quellwasser ist, dass Karl-Heinz ein golde- wohnungen als Bundesliga-Einsätze.“9 nes Angebot von mindestens 1 Million DM be- kommen hat. Schließlich war er Nationalspie- ler und potentieller Teilnehmer an den Welt- „JA, IS DENN HEUT SCHON So wurden immer wieder Fußballübertragun- meisterschaften 1982 und 1986. Er fühlte sich WEIHNACHTEN?“ (FRANZ B.) gen kurzfristig aus dem Programm genommen, beruflich und moralisch verpflichtet, jedes Ri- oder die Kameraleute angewiesen, Werbeban- siko einzugehen, nur um spielen zu können. „Die Wende kam mit der Wende. In schamloser den auszublenden, wenn ruchbar geworden Ähnlich hatte ich in Rom bei der EM 1980 ge- Offenheit demonstrierten die Beutezüge der war, dass der Sport aus ökonomischen Interes- handelt und mit gebrochenem Finger gespielt. Profiteure der deutschen Wiedervereinigung sen instrumentalisiert worden war. Doch der Was wäre passiert, hätte ich einen oder zwei als der zweiten Raffkegeneration nach den Umgang mit kommerziellen Interessen Dritter Bälle verpasst! Eine ungeheure Belastung!“ Gewinnlern der bundesdeutschen Währungs- war fortan als Thema nicht mehr zu umgehen. Längst war die Nationalmannschaft aus der reform von 1948 ihr Credo, dass Eigennutz 1974 forderte der DSB in seinen „Leitlinien für Sicht eines Bundesligaprofis nichts anderes als besser nährt als Gemeinnutz“,10 konstatiert die Werbung im Sport“ entsprechend konzer- der Multiplikator seiner Popularität – und da- Willi H. Knecht in seinem Buch „Mammon statt tierte Aktionen: „Die Werbung stellt den Sport mit seines Marktwerts: „Nur ein Mitglied der Mythos. Der deutsche Sport 2000“. Immer in zunehmendem Maße vor besondere Auf- Nationalmannschaft kommt an Werbeverträ- schneller drehte sich mit Beginn der neunziger gaben und Probleme. Um sie zu lösen, ist ein ge von jährlich 100.000 DM und mehr. Als ich Jahre das Geldkarussell, immer mehr Berater, gemeinschaftliches Vorgehen der Turn- und meine erste Adidas-Abrechung erhielt, war ich Agenturen, Ausrüster, Merchandising-Exper- Sportbewegung unabdingbar.“ So empfahl sehr angenehm überrascht.“8 ten, Spielervermittler („Hallo Vereine, ich habe man „angemessene“ Werbung zum Vorteil der Mit dem Einzug solcher Summen war zwangs- den Schneider von Rostock, wenn ihr ihn wollt, Sportvereine und -verbände, stationäre Ban- läufig auch die internationale Härte (die „Blut- bitteschön, wir können sprechen, aber 600 denwerbungen wurden geduldet, nichtstatio- grätsche“) in die bundesdeutschen Stadien Mille müsst Ihr schon einmal für mich einpla- näre – etwa auf Sportkleidung oder -geräten – eingekehrt, stieg das Verletzungsrisiko für die nen...“11 ) traten auf den Plan und machten hingegen verworfen. Spieler stark an, ebenso wie die Zahl echter blendende Geschäfte. Doch schon hier mochte der größte Verband – Frühinvaliden, und beendete dieses „Auslese- Bald sollte sich die Einrichtung der kommer- der DFB – nicht mitziehen. Schließlich hatte prinzip“ zunehmend die Karrieren der oft sen- ziellen Kabel- und Satelliten-Sender richtig der Braunschweiger Unternehmer Günter siblen „Supertechniker“ wie etwa des genialen auszahlen, allen voran jedoch das vom Sport- Mast bereits 1973 eine für die zukünftige Ent- Heinz Flohe abrupt. Auf der anderen Seite pro- Direktor von SAT 1, Reinhold Beckmann, er- wicklung des Fußballs folgenreiche Bresche fitierten aber nun auch zweitrangige Spieler fundene „ran-Format“ einer TV-gerechten

35 DIRK SCHINDELBECK

PROFITE, PROFITE, PROFITE… trag mit dem abstiegsbedrohten FC Hansa Rostock im März 1997 um drei Jahre, ließ An Beispielen sei auf andere Weise illustriert, sich aber gleichzeitig eine Ausstiegsklausel welche Profite der durch die Medien ausge- für sieben Millionen Mark festschreiben. weitete Markt plötzlich möglich machte: Das Ziel war klar: Akpoborie, von Stuttgart, ■ Agenturen wie ISPR, SportA oder Ufa Köln, Paris und vielen anderen umworben, Sports begannen die Vereine bei der Ver- würde bei einem Wechsel rund die Hälfte marktung ihres „Produkts“ zu beraten und der Summe für sich und seinen Berater be- vertraten sie gegenüber Dritten. „Kurz be- halten dürfen, und Rostock hätte immer vor Ufa Sports 1994 die Gesamtvermark- noch dreieinhalb Millionen statt nichts.“16 tung von den Hertha BSC übernahm, woll- te der Club einen Ausrüsterkontrakt mit der Firma Nike über drei Millionen Mark ab- KAPITALGESELLSCHAFTEN schließen. Ufa Sports hatte die Verhandlun- ALS LETZTER SCHRITT gen für die Berliner anschließend übernom- men und erzielte sechs Millionen Mark als Mit der Umwandlung in Kapitalgesellschaften Vertragssumme, obwohl der Verein damals von ehemals eingetragenen Vereinen ab 1998 noch in der Zweiten Bundesliga spielte. erfolgte der bislang letzte Schritt in Richtung Innerhalb von fünf Jahren erweiterte die totaler Kommerzialisierung des Fußballsports. Vermarktungsagentur zusätzlich das Mer- „Es ist ein beinhartes Geschäft mit viel Leiden- chandising-Angebot von 30 auf 350 Pro- schaft. Aber ich würde es nicht gleich den Hei- dukte.“14 ligen Krieg nennen“, bekannte Nike-Chef Phil ■ „Nach dem Gewinn der Europameister- Knight: „Ich würde gern glauben, dass Adidas schaft 1996 durch das ‚Golden Goal’ durch den Krieg verloren hat. In Wahrheit haben sie DIE „LICHTGESTALT“ ALLER WERBEVERTRÄGE: DER KAISER wurde mit ihm erstmals nur ein paar Schlachten verloren. Jedes halbe ALS HANDY-USER 1999 konsequent ein Einzelspieler vermarktet: Jahr gibt es eine neue Schlacht.“17 Der totale „Da weiß man, was man hat!“ Prominente ‚Ich habe die Marktlücke sofort erkannt: Krieg, zwischen Wettbewerbern in der Ausrüs- in der Werbung, Ausstellungskatalog zur Oliver ist ein Produkt, das wir vermarkten tungsbranche seit Jahrzehnten der Normalzu- gleichnamigen Ausstellung im Haus der Geschichte können wie ran oder den Compaq Grand- stand, sollte bald auch zwischen Staaten den der Bundesrepublik Deutschland slam.’“ (ISPR-Manager Peter Olsson). Umge- Umgangston bestimmen, wenn es um eine so hend erstellte die Firma eine 100.000 DM imageträchtige wie lukrative Sache wie die teure Marktanalyse mit dem umwerfenden Durchführung einer Fußball-WM ging. „Be- Befund: „Oliver ist jung, dynamisch, glaub- reits die Bewerbung“, so FIFA-Präsident Jo- Fußball-Show. Es kam der Optimierung einer würdig und verantwortungsbereit.“ Mit die- seph Blatter, „wird gleichsam wie ein wirt- Geldmaschine gleich, zum Vorteil aller daran sem Imageprofil trat der Vermarkter an po- schaftlicher Feldzug geführt, der die Vorzüge Beteiligten: „Attraktiver Sport braucht Spon- tenzielle Werbepartner heran – mit großem der einheimischen Fähigkeiten, Erzeugnisse soren, die Sponsoren brauchen das Fernsehen, Erfolg („Ich hab einen neuen Trainer für und Dienstleistungen herausstreichen soll. um ihre Werbebotschaften zu verbreiten, das mein Haar“).“15 Welche Bedeutung die Kandidaten ihrem Auf- Fernsehen wiederum braucht den Sport als ■ „Die Umgehung der Auswirkungen des Bos- tritt beimessen, zeigte sich erstmals in aller Unterhaltungsprogramm.“12 In Zahlen ausge- man-Urteils (Ablösefreiheit und Freizügig- Deutlichkeit anhand der unerbittlichen Zwei- drückt: Von 1989/90 bis 2000/01 stieg der keit der Profifußballer) 1995 führte zu ab- kampfs zwischen Japan und Südkorea für die durchschnittliche Umsatz der Bundesligaver- strusen Konsequenzen. So verlängerte der Vergabe der Weltmeisterschaft 2002; ein eine von 20 Millionen um das etwa 4,5fache Nigerianer Jonathan Akpoborie seinen Ver- Duell, das in Anbetracht der kulturellen und auf 95 Millionen DM an. Die Gesamteinnah- men an Eintrittsgeldern vermehrten sich im selben Zeitraum verhältnismäßig moderat um das nur 2,5fache von 95 auf 240 Millionen DM – hingegen explodierten die Gelder aus der Vergabe der TV-Übertragungsrechte um das 17fache (!) von gerade 40 Millionen 1989/90 auf 700 Millionen DM in der Saison 2000/01. Für kleinere Vereine wie z.B. den SC Freiburg bedeutete dies, dass ihm mehr als 60 Prozent seiner Einnahmen allein aus dieser Quelle zu- flossen. Zusätzliche Gelder kamen aus dem Trikotsponsoring, die sich im Vergleichszeit- raum verachtfachten – von etwa 18 auf 150 Millionen DM; dementsprechend stiegen die Spitzengehälter der Spieler in nur fünf Jahren von fünf (: 1995) auf neun Millionen DM an.13

WERBEZUGABEN EINER LIMONADENMARKE AUS DEM GETRÄNKEABHOLMARKT ANLÄSSLICH DER FUSSBALL- WM 2006 Kultur- und werbegeschichtliches Archiv Freiburg kwaf

36 „Nun siegt mal schön!“ historischen Voraussetzungen einzig mit der Zeit soviel Geld auf der „hohe Kante“ haben, ANMERKUNGEN ‚salomonischen’ Teilung der Veranstaltung ge- um für den Rest seiner irdischen Tage ausge- 1 Nach dem berühmt gewordenen Ausspruch von Theo- schlichtet werden konnte.18 sorgt zu haben – nur noch eingeschränkt. dor Heuss anlässlich des Gemeinschaftsgelöbnisses erster Längst ist eine andere Strategie für die reife- Bundeswehreinheiten 1957. 2 Ausgesprochen auf dem 11. Forum „Globale Fragen“ ren Jahre eines Ex-Fußball-Profis angesagt, („Global Players – Fußball, Globalisierung und Außenpo- ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN EINER wofür einmal mehr die Lichtgestalt des deut- litik“) des Auswärtigen Amtes am 19.2.2005. GIGANTISCHEN GELDMASCHINE schen Fußball als Beleg herhalten mag: Me- 3 Empfang der Mannschaft der Fußball-WM 1954 in München/Empfang im Rathaus. Rundfunkreportage des dienpräsenz. Was die geniale Nummer 5 in ih- Bayerischen Rundfunks vom 6. Juli 1954. Nach der ebenso atemberaubenden wie über- rer aktiven Zeit an Geldern einstrich, erscheint 4 Vgl. Schindelbeck, Dirk: Schöpfungsmythos und Gol- hitzten Entwicklung der Geldmaschine Profi- – angesichts der derzeitigen Werbeverträge denes Zeitalter. Unsere Nachkriegsgeschichte als Helden- epos. In: FORUM Schulstiftung. Zeitschrift für die katho- fußball in den neunziger Jahren scheint heute Beckerbauers – geradezu lächerlich. lischen freien Schulen der Erzdiözese Freiburg, Heft eher Nachdenklichkeit angezeigt – nach dem 42/2005, S. 53-74. Zusammenbruch der Kirch-Gruppe, dem Bör- 5 Vgl. hierzu ausführlich: Schindelbeck, Dirk: Sieger Marke Deutschland oder: „Wie wir Weltmeister wurden“: senfiasko von Borussia Dortmund und der DIE GELDMASCHINE SCHREIBT EIGENE Heldenstück in drei Akten. In: Schindelbeck, Dirk/Weber, Rückkehr der Fußball-Grundversorgung zu GESETZE Andreas (Hrsg.): „Elf Freunde müsst ihr sein!“. Einwürfe und Anstöße zur deutschen Fußballgeschichte. Freiburg den öffentlich-rechtlichen Sendeformaten. 1995, S. 71-88. Gleichwohl sind und bleiben Fußball, (TV-) Me- Was bedeuten all diese Phänomene für die Zu- 6 Der Spiegel, Nr. 20/1963, S. 193. dien und das große Geld nach wie vor aufein- kunft der Institution WM? Die gigantische 7 So war schon während der Fußballweltmeisterschaft in ander angewiesen, schon weil sie – in einer ge- Geld- und Werbemaschine Fußball schreibt ei- der Schweiz 1954 der Verkauf von Fernsehgeräten um 200 Prozent gestiegen. Vgl. König, Thomas: Fankultur. radezu symbiotischen Wechselbeziehung ste- gene Gesetze. Sie haben zum Teil ausschlie- Eine soziologische Studie am Beispiel des Fußballfans. hend – voneinander profitieren. ßenden Charakter: Denn wo der Aufstieg einer Münster 2002, S. 15ff. Vor diesem Hintergrund scheinen einige der Sportart so eng mit kommerziellen Interessen 8 Schumacher, Toni: Anpfiff. Enthüllungen über den deutschen Fußball. München 1987, S. 202. Aktiven noch nicht begriffen zu haben, dass und der Mediatisierung des Alltags der Men- 9 Rollmann, Jürgen: Fußballprofi. Ein Leben zwischen nicht sie, welche die Leistung auf dem Platz schen verbunden ist, bleiben zwangsläufig Sein und Schein. Berlin 1997, S. 46. bringen, das „Produkt“ Fußball „machen“, son- diejenigen in der zweiten Reihe, die nicht ent- 10 Knecht, Willi Ph. (Hrsg.): Mammon statt Mythos. Der dern immer auch diejenigen, die ihre Leistung sprechende Ressourcen und Verbindungen deutsche Sport. Berlin 2000, S. 11. 11 Rollmann 1997 (s. Fußnote 9), S. 128. kommentieren und einordnen. Die Musterfälle anzubieten haben. Es sind Länder wie Uruguay 12 Daike, Rainer: Wie viel wert ist der Sport? In: Hüther, Johannes B. Kerner und Reinhold Beckmann oder Chile, selbst einst stolze Ausrichter sol- Jürgen: Medien und Sport: Geschäft auf Gegenseitigkeit. sollten Lehre genug sein. Seinerzeit bloße Zu- cher Veranstaltungen (1950 und 1962), die In: Medien & Erziehung, Heft 2/1992, S. 68. 13 Zahlen nach Ziebs, Alexander: Ist Erfolg käuflich? arbeiter der Fußball-Shows der neunziger Jah- heute nicht mal den Hauch einer Chance ha- Analysen und Überlegungen zur sozioökonomischen Re- re, sind sie über lange Zeiträume auf dem Bild- ben, jemals noch Gastgeber einer WM zu wer- alität des Berufsfußballs. München 2002 schirm präsent geblieben und inzwischen zu den. Dazu liegen die ökonomischen und logis- 14 Holzapfel, Tim: Sportrechte-Vermarkter im Fußball. Geldgeber oder Einflussnehmer?. Hamburg 2002, S. 76. Mediengrößen mit eigenen Talksshows aufge- tischen Messlatten inzwischen viel zu hoch, 15 Kistner, Thomas/Weinreich, Jens: Das Milliardenspiel. stiegen, wohingegen viele der einst von ihnen sind diese Monster-Veranstaltungen als Wirt- Fußball, Geld und Medien. Frankfurt am Main 1998, S. interviewten Rasen-Helden heute der Verges- schaftsfaktoren viel zu attraktiv und wichtig 264. 16 Kalb, Rainer: Fallstudie Fußball. Bosman, TV-Gelder senheit anheim gefallen sind. Ein Spieler, der geworden, als dass Staaten mit kaum entwi- und Vereinsegoismen. In: Knecht, Willi Ph. 1997 (vgl. sich ihnen gegenüber durch unpassende oder ckelten Industrien und Infrastrukturen hier Fußnote 10), S. 80. gar pampige Äußerungen geoutet hat, wird in noch mitmischen könnten. Schließlich möch- 17 Kistner/Weinreich 1998 (vgl. Fußnote 15), S. 247. Zukunft wenige Chancen haben, nach seiner ten die beteiligten Global Players opulente 18 Blatter, Joseph: Die wirtschaftliche Bedeutung des Fußballs. In: Jaeger, Franz/Stier, Winfried (Hrsg.): Sport Karriere als Aktiver zum gefragten „Studio-Ex- Rahmenbedingungen mit entsprechenden und Kommerz. Neuere ökonomische Entwicklungen im perten“ aufzusteigen. Für einen solchen Profi Umfeldern vorfinden (z.B. Allianz-Arena), die Sport, insbesondere im Fußball. Chur 2000, S. 104. bedeutet der Tag seines Abschieds vom Fuß- es ihnen ermöglichen, die beste Werbebühne ball zwangsläufig auch das Ende seiner Me- der Welt richtig und effizient zu nutzen, um dienkarriere. die in Milliarden Menschen erweckte Fußball- Insofern gilt, was Toni Schumacher 1987 begeisterung auch in milliardenschwere Ge- schrieb – man müsse als Profi in seiner aktiven winne umzumünzen.

UNSER AUTOR

Dr. Dirk Schindelbeck, geb. 1952, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Freiburg, Mitbegründer des Kultur- und werbege- schichtlichen Archivs Freiburg, Dozent an der Pädagogischen Hoch- schule Freiburg (Institut für deutsche Sprache und Literatur), Schrift- leiter von FORUM Schulstiftung. Zahlreiche Texte in wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und belletristischen Zeitschriften (z. B. „Da- mals. Das Magazin für Geschichte und Kultur“ oder „Universitas. Orien- tierung in der Wissenswelt“), zuletzt: „Soziale Marktwirtschaft“ gestern und heute. Ein politischer Markenartikel im Wandel der Zeit. In: Univer- sitas, 2/2006, S. 145–157. Bücher u. a.: „Ins Gehirn der Masse kriechen.“ Werbung und Mentalitätsgeschichte (mit R. Gries, V. Ilgen, Darmstadt 1995); „Elf Freunde müsst ihr sein!“ Einwürfe und Anstöße zur deut- schen Fußballgeschichte (mit A. Weber, Freiburg 1996); Jagd auf den Sarotti-Mohr. Von der Lei- denschaft des Sammelns (mit V. Ilgen, Frankfurt 1997); „Haste was, biste was!“ Werbung für die soziale Marktwirtschaft (Darmstadt 1999); Marken, Moden und Kampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte (Darmstadt 2003).

37 KOLLEKTIVER FREIZEITPARK UND ORT DER SELBSTVERGEWISSERUNG Das Fußballstadion als Pilgerstätte

BERND STRAUSS

ten) keine Badeanlagen, im Stadion durfte BLICK IN DAS GRÖSSTE trotz großer Hitze keine Kopfbedeckung ge- DEUTSCHE FUSSBALL- Sportstadien sind beileibe keine Erfin- tragen werden und überall lagen verfaulende STADION: DAS DORTMUN- dung der Neuzeit. Schon in der Antike Tieropfer, die zu einem bestialischen Gestank DER WESTFALENSTADION. war die Arena der Inbegriff sportlichen führten. AUFGRUND DER FINAN- Treibens. Spätestens seit dem 20. Jahr- Die Zuschauer der Gladiatorenkämpfe und der ZIELLEN KRISE DES VEREINS hundert hat es den Anschein, dass das Wagenkämpfe im alten Rom wurden besser WURDE DAS STADION AM Fußballstadion einer der beliebtesten versorgt: Riesige Stadien mit Zuschauergele- 1.12.2005 IN SIGNAL Versammlungsorte unserer Zivilisation genheiten (u.a. mit Steinsitzen) wurden er- IDUNA PARK UMBENANNT. ist. Und dies, obwohl es dort gelegent- baut. So wurde 80 n. Chr. das Kolosseum in DIESER „FUSSBALLTEMPEL“ lich gar nicht so zivilisiert zugeht. Immer Rom von Kaiser Titus eingeweiht. 80.000 Zu- BIETET FAST 83.000 wieder sind Stadien auch Orte der Ag- schauer konnten hier die Gladiatorenkämp- ZUSCHAUERN PLATZ UND gression und Gewalt. Warum opfern fe verfolgen. Den damaligen Wagenrennen HEISST ZUM WM-TURNIER Menschen einen nicht unerheblichen wohnten sogar bis zu 350.000 Menschen im NOCH EINMAL WESTFALEN- Teil ihrer Freizeit mit dem Anschauen Circus Maximus bei. Das Vergnügen dürfte STADION. von Fußballspielen und welchen „Kick“ aber durch die damals sehr schwerwiegenden picture alliance / dpa erfahren sie dabei? Zuschauer begeg- Zuschauerausschreitungen im Circus Maxi- nen uns als Fans, die ihre Sportmann- mus mit vielen Toten und Verletzten getrübt schaft lautstark in den Vereinsfarben zu gewesen sein. deren Wettkämpfen begleiten. Manche Fans sind so stark mit „ihrem“ Verein verbunden, dass ihr Leben in besonde- SPORTLICHES TREIBEN IN DER rer Weise von der Identifikation mit „ih- STÄNDEGESELLSCHAFT rer“ Mannschaft beeinflusst wird. Eine kleine Minderheit der Fans sucht den Auch wenn die Zeit der großen Sportstadien Nervenkitzel im Ausloten der Grenzen, erst wieder im 20. Jahrhundert beginnt, waren will die Gefahr in körperlicher Konfron- doch auch in der Zwischenzeit (im frühen tation mit Fans der gegnerischen Mann- Mittelalter, im Hochmittelalter und im Spät- schaft erleben. Welche Motive treiben mittelalter sowie zu Beginn der Moderne) stets die Fans in Heerscharen in die Stadien? Zuschauer am sportlichen und spielerischen Warum pilgern sie allwöchentlich zu Treiben beteiligt. So waren bei den mittel- Fußballspielen? Die Motive und psycho- alterlichen Ritterspielen auch Zuschauer zu- die Rennbahn in Newmarket, und 1869 lockte logischen Facetten der Zuschauerinnen gegen. Beispielsweise berichtet Guttmann die Rennregatta zwischen Oxford und Cam- und Zuschauer, die Bernd Strauß in sei- (1986) von einem Turnier in Sandricourt nahe bridge über eine Million Menschen an. nem Beitrag erörtert, sind äußerst viel- Portoise 1493, bei dem 2.000 Zuschauer an- fältig, spannend und letztlich zutiefst wesend waren. Die Standesorientierung des menschlich. Mittelalters war auch bei der Zusammenset- RIESIGE SPORTSTADIEN ENTSTEHEN IM zung der Zuschauerschaft zu beobachten. So 20. JAHRHUNDERT vermutet Guttmann (1986), dass Nichtadlige von den Ritterturnieren ausgeschlossen waren Im 20. Jahrhundert wurden weltweit Sportsta- oder zumindest von Adligen getrennt Platz dien erbaut, zum Teil mit riesigen Ausmaßen, um SPORT UND KULT IN DER ANTIKE nehmen mussten. Bei diesen Spielen besaßen das gestiegene Zuschauerinteresse an Sport- Zuschauer und Akteure klar definierte, vonein- ereignissen zu befriedigen. Dies waren häufig Zuschauer und Sportzuschauer im Besonde- ander getrennte Rollen wie übrigens dann Fußballarenen, aber auch Mehrzweckbauten ren sind kein neu auftretendes Phänomen un- auch üblicherweise bei den Sportereignissen wie Stadien, in denen Leichtathletikwettkämp- serer Zeit. Bereits bei den autochthonen Völ- des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies war nicht fe, Fußballveranstaltungen oder andere Wett- kern (den Naturvölkern) waren Zuschauer bei der Fall bei einem in der dörflichen Bevölke- kämpfe durchgeführt werden konnten. Handlungen anwesend, die mit sportlichen rung des Mittelalters sehr beliebten Spiel, bei Beispielsweise wurden das Wembleystadion Aktivitäten in Verbindung gebracht werden dem ein Ball zu einem definierten Ziel, wie ei- 1923 und das in Berlin 1936 könnten und die besonders starke religiöse ner Brücke, gebracht werden musste. Dabei erbaut. Viele der im 20. Jahrhundert erbauten Anbindungen (wie Fruchtbarkeitsriten, Ver- spielten zwei Mannschaften gegeneinander, Stadien wurden mittlerweile abgerissen (wie treibung böser Geister etc.) aufwiesen. Die Zu- die allerdings aus der ganzen Dorfbevölkerung das Wembleystadion im Jahre 2002) oder voll- schauer waren schon damals höchst aktiv, be- bestehen konnten. Die Personen – Kinder, Er- ständig renoviert; häufig mit einer Reduktion jubelten gute Leistungen und verschmähten wachsene, Alte – waren also gleichzeitig Zu- des Fassungsvermögens verbunden. Niederlagen (vgl. Guttmann 1986). schauer und Akteure. Das Spiel konnte Tage Die größte Menschenmenge in einem Stadion Zu unterschiedlichen Zeiten gab es schon die dauern. Das Spielfeld war nicht genau defi- bei einem Fußballspiel wurde bislang im Mara- verschiedensten Formen von Zuschauern, und niert; einbezogen wurden auch Felder, Bäche cana-Stadion in Rio de Janeiro registriert, das es wurde (mehr oder weniger fürsorglich) Vor- und Wälder. zwischen 1948 und 1950 erbaut wurde. Ganz sorge seitens der „Veranstalter“ getroffen, sicher ist man sich allerdings nicht, anlässlich dass Zuschauer anwesend sein konnten. So welchen Spiels dies geschah, wohl aber, dass waren bereits in der Antike Sportwettkämpfe ANSTEIGENDES ZUSCHAUERINTERESSE es auf jeden Fall im Maracana-Stadion statt- auch stets Zuschauerereignisse. Beispielswei- IN DER NEUZEIT fand. So wird zum einen das WM-Spiel zwi- se wurde für die ersten Olympischen Spiele schen Brasilien und Uruguay am 16. Juli 1950 776 v. Chr. in Olympia Erde bewegt (Guttmann Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Clubs mit 199.854 Zuschauern genannt, zum ande- 1986, S. 15), um Möglichkeiten des Zuschau- und Vereine gegründet. Dies führte wieder zu ren das WM-Qualifikationsspiel am 19. No- ens (auf Erdwällen) zu schaffen. Allerdings war einem rasch ansteigenden Zuschauerinteres- vember 1969 zwischen Brasilien und Paraguay es wohl, wie Umminger (1992, S. 39) schreibt, se. 1811 kamen beispielsweise bereits 20.000 mit 183.341 Zuschauern. Das Stadion wurde eine „harte Strafe“, Zuschauer zu sein: So gab Besucher zu einer Boxveranstaltung nach Lon- 1998 vollständig umgebaut und fasst nun es für die Zuschauer (wohl aber für die Athle- don. 1830 besuchten über 100.000 Besucher zwischen 70.000 und 80.000 Zuschauer. Das

38 Das Fußballstadion als Pilgerstätte

im Zusammenhang mit Fußballspielen zu be- klagen. In Erinnerung dürften noch die Ereignisse wäh- rend des Europacup-Finales am 25. Mai 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion sein. Bei den Aus- einandersetzungen zwischen Hooligans aus Li- verpool und Turin starben 39 Menschen und 470 wurden zum Teil schwer verletzt. Erschreckend war auch der Angriff deutscher Hooligans auf den regungslos am Boden lie- genden französischen Polizisten Daniel Nivel am Rande des Weltmeisterschaftsspiels der Deutschen Fußballnationalelf gegen Jugosla- wien im Juni 1998. Allerdings soll auch gleich hinzugefügt wer- den, dass die Ursachen von Verletzten und To- ten unter den Zuschauern nicht nur aggres- sives Verhalten und Gewalttätigkeiten von Hooligans oder Fans sind. Die Ursachen sind auch in der Entstehung von Panik unter den Zuschauern, aber auch in Baumängeln und Ähnlichem zu suchen. Gerade die hohen Zuschauerzahlen bei Fußballveranstaltungen können dann in solchen, wenn auch insgesamt seltenen Fällen (wie einer Panik) zu erheb- lichen und dramatischen Folgen führen. So waren 33 Tote beim englischen Fußballpo- kal zwischen den Bolton Wanderers und Stoke City (England) im Jahre 1946 zu beklagen, nachdem eine Begrenzungsmauer eingestürzt war. Ein anderes Beispiel ist die Panik, die 1985 nach einem Ausbruch eines Feuers im Stadion von Bradford in England entstand. Wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mus- sten dort 57 Menschen sterben. In Tabelle 1 Fußballstadion mit dem größten Fassungsver- VERLETZTE UND TOTE sind Fußballveranstaltungen seit Anfang des mögen weltweit ist zurzeit das Aztekenstadion 20. Jahrhunderts bis 2001 aufgeführt, bei de- in Mexiko City (105.000 Plätze). Hinzufügen Mit großen Zuschauermassen sind allerdings nen Menschen zu Schaden gekommen sind. ist, dass die beiden asiatischen Stadien in auch Gefahren verbunden, zur deren Vermei- Die Tabelle sollte aber nicht zu dem Fehl- Pjöngjang und in Kalkutta sogar 150.000 bzw. dung höchste bauliche, polizeiliche und ande- schluss verleiten, dass Tote und Verletzte, ag- 120.000 Zuschauer fassen, in diesen Stadien re ordnungspolitische Sicherheitsanforderun- gressives Verhalten und Ausschreitungen ein aber nur selten Fußballspiele stattfinden. In Eu- gen zu stellen sind. alleiniges Problem des 20. Jahrhunderts sind. ropa ist das größte Fußballstadion das Camp Immer wieder sind aber auch Verletzte und so- Tote und Verletzte, auch verursacht durch Zu- Nou Stadion in Barcelona (mit ca. 99.000 gar Tote unter den Zuschauern während und schauerausschreitungen schwerster Art, sind Plätzen) und in Deutschland das Dortmunder am Rande von Sportveranstaltungen, häufig in jeder Epoche zu beklagen. Westfalen-Stadion mit ca. 82.000 Plätzen. (Auf der Website www.fussballtempel.net kön- nen Informationen zu allen Stadien weltweit TABELLE 1: FUSSBALLVERANSTALTUNGEN MIT VERLETZTEN UND TOTEN VON 1900 nachgeschlagen werden). BIS 2001 (AUS RUSSELL 1993; WWW.CONTRAST.ORG/HILLSBOROUGH/HISTORY/; VGL. SCHLICHT/STRAUSS 2003)

ZUSCHAUERREKORDE Datum Ort Tote Verl. Datum Ort Tote Verl. 1902 Glasgow 25 350 1982 Moskau 60 – Diese Stadionplätze stehen natürlich nicht nur zur Verfügung, sondern werden auch tatsäch- 1946 Bolton (UK) 33 500 1982 Kolumbien 24 50 lich und intensiv nachgefragt. Davon kann 1957 Florenz – 120 1982 Algerien 8 600 man sich leicht überzeugen, wenn man ver- 1959 Naples – 65 1985 Peking ?? ?? sucht, ein Ticket für die diesjährige Fußball- 1961 Chile 5 300 1985 Bradford 57 200 weltmeisterschaft zu erhalten. Ein gutes Bei- spiel liefert die deutsche Fußballbundes- 1964 Lima 350 500 1985 Mexico 10 30 liga, die in der vergangenen Saison 2004/05 1964 Istanbul – 84 1985 Brüssel 39 470 einen neuen Zuschauerrekord verzeichnete. 1966 Kairo – 300 1989 Hillsborough 96 400 Im Schnitt kamen 37.781 Zuschauer zu jedem der 306 Spiele. Zuschauerspitzenreiter war in 1967 Kayseri 48 602 1991 Johannesburg 42 42 der Saison 2004/05 Borussia Dortmund mit 1968 Buenos Aires 72 113 1992 Frankreich 15 ? durchschnittlich 77.235 Zuschauern, gefolgt 1971 Glasgow 66 - 1996 Guatemala 84 150 von Schalke 04 mit durchschnittlich 61.341 1974 Kairo 48 47 2000 Harare 13 100te Zuschauern, Bayern München (53.294 Zu- schauer im Schnitt), Borussia Mönchenglad- 1979 Hamburg 1 15 2001 Lambumbashi 7 100te bach (durchschnittlich 49.183 Zuschauer) und 1979 24 27 2001 Ellis Park 43 100te dem Hamburger SV mit durchschnittlich 1980 Kalkutta 16 100 2001 Ghana 126 100te 48.927 Zuschauern (Zahlen aus www.wikipe- dia.org). 1981 Athen 21 54 2001 Sari 2 100te

39 BERND STRAUSS

ZUSCHAUERAUSSCHREITUNGEN HABEN nung: Die Motivation, Erregung und Auf- ten wichtig sind. Ganz besonders sind Väter für GESCHICHTE regung zu erleben; (7.) Flucht: Die Motiva- die Entwicklung einer sozialen Identität als Fan tion, sich abzulenken von den Alltagsproble- wichtig – übrigens für Söhne und Töchter in So berichten Elias und Dunning (1983) vom men und (8.) Unterhaltung: Die Motivation, ähnlicher Weise. In der Wichtigkeit nachfol- Verbot Edwards II. im 14. Jahrhundert, ein Vor- eine freudvolle Freizeitgestaltung durchzu- gend und mit deutlichem Abstand zu den läuferspiel des heutigen Fußballs auszuüben, führen. Vätern sind als weitere relevante Soziali- weil dies die öffentliche Sicherheit gefährden Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich sationsagenten die Schule, Gleichaltrige und würde. Am Ende des 19. Jahrhundert schloss diese Dimensionen nicht oder nur unerheblich Freunde, Brüder, die Medien und die Mütter (be- der englische Fußballverband kurzerhand vie- von denen, die auch in anderen Klassifika- sonders für die Töchter) wichtig. le Fußballplätze, weil eine deutlich steigende tionssystemen (wie z.B. von Sloan 1979) oder Zahl von Gewalttätigkeiten zu beobachten war von Wenner und Gantz (1998) vorgeschlagen und man fürchtete, die Entwicklung nicht werden. Es fällt auf, dass sich innerhalb einer NÄHE ZUM FANOBJEKT IST mehr kontrollieren zu können. Aber auch Klassifikation zum einen Dimensionen erheb- ENTSCHEIDEND schon wesentlich früher und abseits vom Fuß- lich überschneiden (Spannung und Flucht), ball waren Tote und Verletzte zu beklagen. zum anderen aber auch Dimensionen fehlen Für die Entwicklung der Identifikation ist aber Beispielsweise kam es im vierten Jahrhundert können wie z.B. Identifikation. Ich habe daher weiterhin auch die psychologische Nähe zum anlässlich der Wagenrennen im Circus Maxi- verschiedentlich (z.B. Strauß 2000) lediglich Fanobjekt wichtig, also zur Mannschaft oder mus zu häufigen und schweren Auseinan- vier (überdauerndere) Motive angenommen, dem Verein, die der Verbindung zwischen Fan dersetzungen zwischen den „Blauen“ und den die der (aktuellen) Motivation von Menschen und Verein Bedeutung verschafft. Eine wichti- „Grünen“, zwei Zuschauergruppen, die sich zugrunde liegen, als Zuschauer Massenveran- ge Komponente der psychologischen Nähe ist auch entsprechend dieser Farben kleideten staltungen zu besuchen: die räumliche Nähe (vgl. auch Schlicht/Strauß (vgl. ausführlich Cameron 1976). Der römische ■ Identifikation; 2003). Die Wahrscheinlichkeit ist größer, Fan Geschichtsschreiber Tacitus (55-120 n. Chr.) ■ Selbstdarstellung; eines Clubs in der näheren Umgebung zu wer- berichtet von Schlägereien aus „nichtigem ■ Stimmungsregulation und den – am besten aus dem Ort, in dem man lebt Anlass“ zwischen Bewohnern aus Pompeji und ■ das Kontrollmotiv. oder aufgewachsen ist – als Fan eines weit Siedlern aus Nuceria anlässlich eines Gladia- entfernten Clubs. Dies lässt sich mit der Theo- torenkampfes, den Livineius Regulus veran- rie der sozialen Identität von Tajfel (1978) er- staltete. Es gab viele Tote und Verwundete. Die IDENTIFIKATION UND IDENTITÄT klären. Fan und Verein gehören der gleichen Rädelsführer durften zehn Jahre lang keine ALS MOTIVE sozialen Kategorie an – z. B. Einwohner der Gladiatorenkämpfe veranstalten und wurden gleichen Heimatstadt –, so dass es leicht ist, in die Verbannung geschickt. In den Arbeiten Folgt man der einflussreichen Theorie von Taj- sich dieser sozialen Gruppe anzuschließen. von Guttmann (1986) sowie Elias und Dun- fel (1978), besitzt das Selbstkonzept bzw. die Gleiches gilt für Studierende und Mitarbeiter ning (1983) findet man zahlreiche Beispiele zu Identität einer Person zwei Aspekte (vgl. auch amerikanischer Universitäten, an der häufig diesem Thema. Schlicht/Strauß 2003). Der erste Aspekt be- verschiedene (Mannschafts-)Sportarten auf trifft die personale Identität, die die Meinun- hohem Niveau ausgeübt werden. Dietz-Uhler gen, Einstellungen usw. der Person über eige- und Murrell (1999) befragten über 14 Wochen MOTIVE ZUM BESUCH DER ne Merkmale wie z.B. Fähigkeiten und Fertig- der gesamten Saison immer wieder Studieren- MASSENVERANSTALTUNGEN keiten beinhaltet: Zum Beispiel, wenn eine de einer Universität nach den Erfolgen und Person der Meinung ist, dass sie Statistikauf- Misserfolgen des Football-Teams. Personen, Warum opfern einige einen großen Teil ihres gaben gut bewältigt, ist dies Teil ihrer perso- die sich mit der eigenen Universität stark iden- Lebens mit dem Anschauen von Spielen ihres nalen Identität. Die soziale Identität einer Per- tifizierten, waren auch eher Fans der Universi- Clubs? Warum reisen Menschen in über 100 son ist der zweite Aspekt. Diesen Teil des tätsmannschaft. Länder dieser Erde, um sich Fußballspiele in Selbstkonzepts leitet eine Person aus ihrem den bekanntesten Stadien anzuschauen und Wissen über die eigene Zugehörigkeit zu einer die Wimpel dann wie Trophäen zu behandeln? oder mehreren sozialen Gruppen oder Kate- ERFOLG ALS QUELLE DER IDENTIFIKATION Dieses Verhalten nennt man „Groundhop- gorien ab. Dass Bürger deutscher Nationalität ping“, und es wird von einigen Menschen wie sich eher über den Weltmeistertitel der deut- Für die Identifikationsentstehung kommen ein Wettbewerb ausgetragen. Wer schafft es, schen Fußballnationalmannschaft freuen als zwei weitere Komponenten hinzu. Erstens die meisten Spielen in den meisten Ländern über den Titelgewinn einer anderen Mann- spielt der Erfolg eine wichtige Rolle. Die eben anzuschauen? Warum bevorzugen es auf der schaft, findet hier seinen Grund. Als Ange- erwähnte Studie von Dietz-Uhler und Murrell anderen Seite Menschen, vom Sport Abstand hörige der sozialen Kategorie „Deutsche“ zei- (1999) ist auch ein guter Beleg hierfür. Perso- zu halten und sind nur höchst selten in den gen diese Personen automatisch, ohne dass es nen, die sich stark mit der Universität identifi- Stadien anzutreffen? Im Folgenden möchte ihnen bewusst ist, eine größere Nähe zu den zierten, waren es auch, die die Mannschaft ich näher auf die Motivation zum Besuch von gleichen Mitgliedern dieser Gruppe (also auch insbesondere nach Erfolgen mehr wert- Sportmassenveranstaltungen eingehen. zum deutschen Team) als zu Mitgliedern ande- schätzten als nach Niederlagen. Personen mit Es gibt die unterschiedlichsten Vermutungen rer sozialer Gruppen (wie zu anderen Fußball- geringer Universitätsidentifikation machten und Klassifikationen hierüber, z. B. die Vor- teams). dagegen keine Unterschiede nach Erfolgen schläge von Messing und Lames (1996), Bette Ein Fan ist also eine Person, die einen Teil des oder Misserfolgen. Zweitens ist das (ver- und Schimank (1996), Sloan (1979) oder von Selbstkonzepts aus der Verbindung zu einer meintlich) Besondere eines Ereignisses oder Wenner und Gantz (1998). In Gabler (1998) Sportmannschaft, einem Verein oder auch zu einer Mannschaft wichtig. Menschen haben sind diese Klassifikationssysteme ausführlich einem Sportler aufbaut. Fans richten ihre sozi- das Bedürfnis, selbst Erfolge zu erzielen oder beschrieben. Wann, Schrader, Wilson (1999) ale Identität ganz oder wenigstens zum gro- wenigstens an den Erfolgen anderer teilzuha- schlagen beispielsweise acht Dimensionen ßen Teil nach den Anforderungen, die die ben (Tedeshi/Madi/Lyakhovitzky 1998; vgl. den vor: (1.) Gruppenanbindung: Die Motivation, Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, ver- Abschnitt Selbstdarstellung). mit anderen Menschen gemeinsam Zeit zu meintlich stellt. Schlenker (1986, S. 23) ver- verbringen; (2.) Familie: Die Motivation, mit steht unter Identifikation den Prozess, das der Familie Zeit zu verbringen; (3.) Ästhetik: Mittel oder auch die Präsentation seiner Selbst FAN IST NICHT GLEICH FAN Die Motivation, die Schönheit sportlicher Be- als bestimmte Persönlichkeit, um dadurch die wegungen zu betrachten; (4.) Selbstwert: Die eigene Identität bzw. das Selbstkonzept zu de- Die Stärke der Identifikation kann sehr von Motivation, zu einem positiven Selbstgefühl finieren. Person zu Person variieren. Fans mit besonders zu gelangen; (5.) Ökonomie: Die Motivation, McPherson (1976) zeigt zum Beispiel, dass für hoher und stabiler Identifikation werden von als Sportzuschauer ökonomischen Gewinn zu die Entstehung der Identifikation mit Sport- Wann und Branscombe (1990) „Die Hard Fans“ erzielen (z.B. durch Gewinnspiele); (6.) Span- mannschaften spezifische Sozialisationsagen- genannt. Personen, die temporär eine hohe

40 Das Fußballstadion als Pilgerstätte

Identifikation nur im Erfolgsfalle der Mann- nicht nur im Zusammenhang mit Personen betreibt, versucht, sich selbst als erfolgreich schaft aufbauen, werden von ihnen „Fair Wea- hoher Identifikation, sondern können auch auf darzustellen, indem sie ein gemeinsames Merk- ther Fans“ bezeichnet. zahlreiche weitere Ursachen wie Baumängel, mal des Erfolgreichen und von sich in der Öf- Die sichtbaren Erscheinungsformen und Aus- polizeiliches Falschverhalten etc. zurückge- fentlichkeit präsentiert. Dieses Merkmal ist wirkungen der Identifikation können sich er- führt werden. Am Beginn des Beitrags bin ich häufig höchst flüchtig, wird manchmal nur heblich unterscheiden und sind durch kultu- darauf schon kurz eingegangen. kurzzeitig benutzt – meistens von „Fair Weather relle, gesellschaftliche und historische Be- Mann (1979) hat die Ursachen der Zuschauer- Fans“ – und stellt häufig auch lediglich ein Sym- dingungen mitbeeinflusst. gewalt in einer Typologie „FORCE“ (Frustration, bol dar. Dies ermöglicht dann aber sehr schnell Pilz (2005) zeigt dies in einem Übersichtsbei- Outlawry, Remonstrance, Confrontation, Ex- die Demonstration, dass eine Verbindung nicht trag auf, in dem er die Entwicklung vom Kut- pression) zusammengefasst, in der er u.a. auch mehr besteht, etwa wenn eine Niederlage der tenfan zum „postmodernen Ultra und Hooltra“ auf Aggression und Gewalt durch Vanda- Mannschaft eingetreten ist. beschreibt. Beispielsweise wollen die so ge- lismus eingeht (vgl. ausführlich Schlicht/ Häufig ist nämlich zu beobachten, dass sich nannten Ultras ihre Mannschaft mit maxima- Strauß 2003). Hierzu gehören auch die Ge- Menschen in ihrer Selbstdarstellung von nicht- len Mitteln unterstützen. Dazu setzen sie auf- walttätigkeiten von Hooligans (vgl. Kerr 1998; erfolgreichen Anderen gern distanzieren. Dies wändige Choreographien und zahlreiche opti- vgl. Pilz in diesem Heft). Kennzeichnend für tritt nicht selten dann ein, wenn die eigene sche Hilfsmittel ein wie Konfettiregen, ben- diese Personengruppe ist, dass der Besuch der Mannschaft über einen längeren Zeitraum er- galische Feuer und Fahnenmeere. Auch der Sportveranstaltung oder auch der Besuch des folglos ist. Typisch ist, dass CORFing seltener bei koordinierte Gesang mit einem Vorsänger, Umfelds der Veranstaltung von vornherein mit „Die Hard Fans“ und eher bei „Fair Weather dem Capo, spielt eine zentrale Rolle. Wenn- dem Ziel verbunden ist, gewalttätige Ausein- Fans“ beobachtbar ist. Es gibt eine ganze Reihe gleich es auch zu körperlichen Auseinander- andersetzungen zu führen. Erhebliche An- weiterer Taktiken wie zum Beispiel das so ge- setzungen kommt, steht doch die Gewalt nicht strengungen polizeilicher und auch sozialpä- nannte „blasting“ . Gegnerische Mannschaften im Mittelpunkt; anders als bei den Hooligans dagogischer Art, wie Fan-Projekte, sind not- werden von den Zuschauern abgewertet, um im (Kerr 1998), die eine Gewaltbereitschaft auf- wendig, um dieses gesellschaftliche Problem Vergleich zur anderen Mannschaft zu einer po- weisen (vgl. Pilz in diesem Heft). zu bewältigen (Pilz 2002). sitiven Selbstdarstellung zu gelangen (Cial- dini/Richardson 1980).

FANKULTUR STRATEGIEN UND TAKTIKEN DER SELBSTDARSTELLUNG STIMMUNGSREGULATION ALS MOTIV Die Identifikation mit einer Mannschaft kann FÜR ZUSCHAUER eine Reihe von grundsätzlichen Auswirkungen Es gibt verschiedene Strategien und Taktiken, besitzen (vgl. im Überblick Strauß 1995; mit denen Personen Selbstdarstellung betrei- Menschen sind grundsätzlich bestrebt, in einen Schlicht/Strauß 2003; Wann et al. 2001). Fans ben. So können Personen z. B. ihre Vertrau- Zustand positiver Stimmung zu geraten und wissen mehr als andere über ihre Mannschaft, enswürdigkeit betonen, ihre Offenheit hervor- versuchen, negative Stimmungszustände zu die Sportart und den Sport im Allgemeinen. Sie kehren oder sich durch bestimmte Ver- vermeiden oder sie zu beseitigen, um in eine investieren nicht nur Geld, sondern auch viel haltensweisen beliebt machen wollen (vgl. erträglichere positive Stimmung zu geraten Zeit für Auswärtsfahrten oder zahlreiche Fan- Mummendey 1995; Tedeshi et al. 1998). Eine („Mood Management“; vgl. Zillmann/Bryant Club-Treffen, und sie sind die Besucher in den bei Sportzuschauern sehr beliebte Taktik ist 1998). Dazu muss nicht notwendigerweise auf Stadien, die häufiger als andere anzutreffen das „Basking in reflected glory“ (kurz: BIRG, Komödien oder ähnliche Medienangebote zu- sind. Grundsätzlich sind Fans optimistischer „Sich im Ruhme anderer sonnen.“). BIRGing rückgegriffen werden. Beispielsweise bevorzu- bezüglich des Abschneidens ihrer eigenen bedeutet, dass Personen versuchen, ihre Ver- gen viele Männer aggressiv getönte Filme wie Mannschaft. Sie erwarten häufiger Gewinne bindung zu erfolgreichen anderen mit Hilfe Western oder Kriegsfilme. Und zur Stimmungs- ihres Teams und berichten auch eher von ver- verschiedener Hilfsmittel zu demonstrieren. verbesserung gehört auch das Betrachten von gangenen Siegen. Aber es gibt noch eine gan- Cialdini et al. (1976) stellten fest, dass Studen- Sportveranstaltungen, im Fernsehen oder live ze Reihe weiterer kognitiver Verzerrungen: ten in Vorlesungen und Seminaren häufiger vor Ort – auch dies bevorzugen Männer eher als Fans attribuieren den Erfolg ihres Teams häu- Kleidungsstücke trugen, die auf ihre Verbin- Frauen (vgl. Zillmann/Bryant 1998). fig auf internale Faktoren, wie die „Stärke“ ih- dung zur Universität hindeuteten (z.B. Schals, Die Betrachtung und Darstellung von Kon- rer Mannschaft oder Fähigkeiten der Athleten. Trikots, Aufkleber), wenn die Footballmann- flikten und Dramatisierungen von sportlichen Wenn die eigene Mannschaft hingegen Miss- schaft der eigenen Universität am Wochenen- Wettkämpfen (bzw. auch in der Sportbericht- erfolge zeigt, wird dies dagegen häufig mit ex- de davor gewonnen hatte. erstattung) führt zu einer Verbesserung der ternalen Faktoren wie Pech oder den Schieds- BIRGing kann auch sehr gut in der Sprache Stimmung bei den Zuschauern, wie zahlreiche richterleistungen erklärt (Hastorf/Cantril 1954; wiedergefunden werden: Wenn die eigene Experimente von Zillmann und anderen zeigen Mann 1974). Universitätsmannschaft in Cialdinis Studien (vgl. Bryant/Raney/Zillmann 2002). Beispiels- Fans innerhalb einer Gruppe fühlen sich gewann, äußerten viele Studenten ganz im Sin- weise machte es den Zuschauern eines Tennis- untereinander eng verbunden und halten sich ne des BIRGing: „Wir haben gewonnen“. Wenn spiels mehr Spaß, das Spiel zu verfolgen, wenn für etwas Besonderes. Sie besitzen ein höheres die Mannschaft verlor, wurde weniger die Ver- sie die Information bekamen, die beiden Spieler kollektives Selbstwertgefühl als andere Perso- bindung hergestellt, sondern die sprachliche wären „Intimfeinde“. Zuschauer, die das gleiche nen. Und sie beurteilen sich innerhalb der glei- Wendung „Die haben verloren“ benutzt. Letzte- Tennisspiel anschauten, aber die Information chen Fangruppe untereinander positiver als res ist eine weitere Taktik von Zuschauern zur erhielten, es handle sich bei den Tennisspie- wenn sie von einem Nichtfan beurteilt werden positiven Selbstdarstellung und wird CORFing lern um Freunde, machte es deutlich weni- (vgl. Strauß 1995). (Cutting off reflected Failure) geannt (Snyder/ ger Freude zuzusehen (Bryant/Brown/Comisky/ Lassegard/Ford 1986). Zillmann 1982). BIRGing ist es auch, wenn versucht wird, das Grundsätzlich steigt vor und während eines ZUSCHAUERGEWALT entscheidende oder zumindest sehr wichtige Wettbewerbs die Erregung von Sportzu- Spiel sowie seltene Sportereignis sehen zu kön- schauern an (Corbin 1973). Dies betrifft aller- Fans verhalten sich gegenüber Anhängern der nen oder mindestens behaupten zu können, dings besonders Fans: Sie zeigen eine höhere gegnerischen Mannschaft (Out-group-Fans) man wäre Zeuge von etwas Ungewöhnlichem physiologische Erregung während des Betrach- eher aggressiver als Personen mit niedriger gewesen. So wird in den USA gerne kolportiert tens eines Wettbewerbs ihres Fanobjekts als an- Identifikation (Wann et al. 2001) und haben – (vgl. Tedeshi et al. 1998), dass ca. eine Million dere Personen. allerdings spezifisch für den Kontext von Fuß- Menschen von sich behaupten, sie hätten den Die Richtung der Stimmungen von Fans wer- ballwettbewerben – auch schon häufiger als zweiten Boxkampf von Joe Louis gegen Max den besonders durch den Ausgang des Wett- andere an gewalttätigen Auseinandersetzun- Schmeling live im Madison Square Garden kampfs beeinflusst: Nach Siegen ihres Fan- gen teilgenommen. Selbstverständlich entste- gesehen, obwohl der Madison Square Garden objekts zeigen Personen mit hoher Identi- hen Aggression und Gewalt von Zuschauern nur 20.000 Plätze fasst. Die Person, die BIRGing fikation vermehrt positive Emotionen, nach

41 BERND STRAUSS

Niederlagen vermehrt negative Emotionen control: eine Person ist davon überzeugt, dass (z.B. Hirt et al. 1992; Sloan 1979). sie durch ihr Verhalten ein Ereignis beeinflus- sen kann; (2.) information control: eine Person besitzt Informationen über das zukünftige Er- STIMMUNGEN BEEINFLUSSEN URTEILE eignis und glaubt, es zumindest in Teilen vor- hersehen zu können; (3.) cognitive control: eine Schwarz et al. (1987) zeigten, dass diese Stim- Person ist überzeugt, über kognitive Strategien mungen als Informationsquelle dienen, wenn zur Reduktion der Aversivität eines Ereignisses die Personen Urteile über sich selbst oder an- zu verfügen (z. B. positives Denken, Uminter- dere Personen bzw. Ereignisse abgeben sollen. pretation) und (4.) retrospective control: dabei Sie stellten fest, dass deutsche Männer un- handelt es sich um die nachträgliche Zuschrei- mittelbar nach Siegen der deutschen Fußball- bung von Ursachen zu eingetretenen Ereignis- nationalmannschaft während der Weltmeis- sen. Sport bietet die Gelegenheit, alle vier be- terschaft 1982 über eine größere Lebenszu- schriebenen Möglichkeiten anzuwenden, um friedenheit berichteten als vor dem Spiel. kognizierte Kontrolle ausüben zu können. Schweitzer, Zillmann, Weaver und Luttrell Am wichtigsten ist die Möglichkeit der behavio- (1992) zeigten in einer Studie, die kurz vor dem ralen Kontrolle. Strauß (1999) berichtet von ersten Irakkrieg durchgeführt wurde, dass die einer Befragung mit 1.063 Zuschauern eines negative Stimmung von Fans nach verlorenen American-Football-Spiels in . 62,1% glaub- Spielen ihrer Mannschaft dazu führte, einen ten, dass „Zuschauer den Ausgang von Foot- Krieg der USA mit dem Irak und große Verwüs- ballspielen“ mindestens stark beeinflussen tungen für wahrscheinlicher zu halten als nach können. Und ganz besonders glaubten Fans, gewonnenen Spielen. dass das Spiel durch die Zuschauer und durch Hirt et al. (1992) belegen darüber hinaus, dass sie selbst beeinflusst wurde. In dieser Studie, Personen mit hoher Identifikation Erfolg und wie auch in der Untersuchung von Wann, Do- Niederlage des Teams mit dem eigenen persönli- lan, McGeorge und Allison (1994), in der Psy- chen Erfolg verbinden. Nachdem Fans eine Nie- chologiestudierende befragt wurden, zeigte derlage ihrer Basketballmannschaft am Fernseh- sich, dass Personen den Zuschauern im Allge- schirm live miterlebt hatten, waren diese nieder- meinen eine höhere direkte Einflussnahme zu- geschlagener und schätzen ihre eigenen Leis- schreiben als sich selbst. tungen in einer Anagramm-Aufgabe niedriger Aber auch außerhalb des Wettkampfs wird ein als Personen, die ein erfolgreiches Spiel ihrer durch konkrete Verhaltensweisen versucht, die Mannschaft am Fernsehschirm miterlebten. Geschicke der Mannschaft zu beeinflussen, wie Fans betreiben auch während der Sportveran- etwa die unzufriedenen Fans, die einen Mann- staltung „Mood Management“. Marsh (1978) schaftsbus am Wegfahren hindern oder die Zu- berichtet, dass während der Fußballspiele in der schauer, die lautstark den Rücktritt des Trainers ersten englischen Fußballdivision im Schnitt fordern oder Leserbriefe in einschlägigen Zeit- 147 Lieder von den Zuschauern gesungen wer- schriften veröffentlichen. den. Dies geschieht in der Regel in Phasen, in Allerdings heißt dies nicht, dass diese behavio- denen das Spiel besonders langweilig ist. Es ralen Einflussversuche gezielt und gerichtet mit hoher Identifikation sich so beschrieben, geht also darum, sich während des Spiels in ei- eingesetzt werden. In einer Befragung von 231 dass sie die Kontrolle über ihr konkretes Verhal- ner positiven Stimmung zu halten oder in eine Sportzuschauern von Dimmock und Grove ten verloren. solche zu gelangen. Allerdings gibt es auch Aus- (2005) zeigte sich, dass insbesondere Personen Zuschauer sind also der festen Überzeugung, nahmen, etwa wenn die eigene Mannschaft ein dass Zuschauer im Allgemeinen bzw. sie per- Tor geschossen hat, wie dies die Analyse der bei- sönlich das sportliche Geschehen durch ihr Ver- den Musikwissenschaftler Kopiez und Brink halten beeinflussen können. Der tatsächliche (1998) ergeben hat. Sie untersuchten die Ge- Einfluss von Zuschauern ist allerdings nur klein sänge der deutschen Zuschauer während der UNSER AUTOR oder gar nicht vorhanden, wie verschiedentlich sieben Spiele der deutschen Fußballnational- empirisch gezeigt wurde (vgl. im Überblick mannschaft 1990 in Italien. Es zeigt sich, dass Prof. Dr. Bernd Strauß 1999; 2002a; 2002b). Es handelt sich bei nach einem Tor wesentlich mehr gesungen wird Strauß, geboren der festen Überzeugung also eher um eine Kon- als vorher. Dies kann als Versuch der Zuschau- 1959; Diplom in trollillusion. er interpretiert werden, die gute Stimmung, die Psychologie 1987 durch das Tor der eigenen Mannschaft entstan- in Kiel; 1992 Pro- den ist, durch die Gesänge zu verlängern und motion in Psycho- VIELFÄLTIGE FACETTEN UND MOTIVE deren Intensität zu erhöhen. logie in Kiel; von 1987 bis 1992 wis- Die Facetten von Zuschauerinnen und Zu- senschaftlicher schauern sind vielfältig. Sie begegnen uns als DIE ILLUSION DER KONTROLLE Mitarbeiter und ab Fans, die ihre Sportmannschaft lautstark in den 1992 wissenschaft- Vereinsfarben zu deren Wettkämpfen be- Menschen sind im Allgemeinen bestrebt, Ereig- licher Assistent am gleiten. Manche Fans sind ein Leben lang so nisse und Zustände in ihrer Umwelt so zu be- Institut für Sport und Sportwissenschaft der stark mit „ihrem“ Verein verbunden, dass ihr Le- einflussen und wahrzunehmen, dass sie die Fä- Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in der ben in erheblicher Weise von ihrer Identifika- higkeit zur Kontrolle besitzen. Dies betrifft auch Abteilung Sportpädagogik. 1998 Habilitation tion beeinflusst wird („Die Hard Fans“). Sehr Situationen, die objektiv nicht beeinflussbar mit der Arbeit „Die Beeinflussung sportlicher eindrücklich hat dies 1992 der Schriftsteller sind (wie z. B. beim Glücksspiel), wenn es sich Leistungen durch Sportzuschauer“; seit 1998 und Fan des Fußballclubs Arsenal London Nick also nur um eine Illusion der Kontrolle handeln Professor für Sportpsychologie an der Uni- Hornby in seinem biographischen Roman „Fe- kann (Langer 1975). Es kommt bei diesem Kon- versität Münster. Bernd Strauß ist seit 2003 ver Pitch“ beschrieben. Und manchmal werden zept also nur darauf an, dass die Person davon Präsident der Deutschen Vereinigung für Fans zur Bedrohung, wenn von ihnen aggressi- überzeugt ist, Kontrolle ausüben zu können Sportwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: ve Handlungen und Gewalt ausgehen. Sicher ist (kognizierte Kontrolle). soziale Prozesse im Sport, Zuschauer, Exper- aber auch, dass Sportzuschauer untrennbar Thompson (1981) unterscheidet vier Möglich- tise, Diagnostik, forschungsmethodologische zum Sport gehören und Sport ohne sie nicht keiten kognizierter Kontrolle: (1.) behavioral Fragen und Medien. denkbar wäre.

42 FRANKFURTER FANS DER GRUPPE „ULTRABRUTALEN“ FEIERN IM BREMER WESER- STADION IHR ZEHNJÄHRIGES BESTEHEN. „ULTRAS“ UNTER- STÜTZEN IHRE MANNSCHAFT MIT MAXIMALEN MITTELN. DABEI SETZEN SIE AUF AUF- WÄNDIGE CHOREOGRAPHIEN, OPTISCHE HILFSMITTEL UND FAHNENMEERE. WENNGLEICH ES AUCH ZU KÖRPERLICHEN AUSEINANDERSETZUNGEN KOMMT, STEHT DIE GEWALT NICHT IM MITTELPUNKT. DIE ABBILDUNGEN AUF DEN TRANS- PARENTEN SIND ANLEIHEN AUS DEM KULTFILM „CLOCKWORK ORANGE“ (REGIE: STANLEY KUBRICK) NACH DEM GLEICHNAMIGEN BUCH VON ANTHONY BURGESS. picture alliance / dpa

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43 JUGENDLICHE FANKULTUREN UND DIE INSZENIERUNG VON GEWALT „Tatort Stadion“ – Wandlungen der Zuschauergewalt

GUNTER A. PILZ

ten enden. Im Folgenden werden nach einem ein SV Werder Bremen an die Polizeidirektion Warum gibt es bei Fußballspielen immer kurzen historischen Abriss Ursachen und Bedin- Bremen zur Bereitstellung von zwei (!) Beam- wieder gewaltsame Ausschreitungen? gungen hooliganspezifischen (Gewalt-)Han- ten, um vor herumpöbelnden Zuschauern ge- Welche besondere Faszination übt Ge- delns aufgezeigt und Möglichkeiten der Präven- schützt zu werden. „Der Grund unseres Gesu- walt auf jugendliche Fans aus? Gunter A. tion diskutiert. ches“, so der SV Werder Bremen, „ist unsere Pilz geht in seinem Beitrag – nach einem Schutzlosigkeit gegenüber dem pöbelhaften kurzen historischen Abriss zur Geschich- und auch schädigenden Benehmen ganzer te der Gewalt im Umfeld von Sportereig- „STOCK- UND PEITSCHENTRÄGER“ Truppen halbwüchsiger und auch älterer Bur- nissen – ausführlich auf die Fangruppen SORGTEN FÜR ORDNUNG schen“ (Wallenhorst/Klingebiel 1988). Der So- der Hooligans und der Ultras ein. Hooli- zialdemokrat Helmut Wagner warnte schließ- gans suchen den Nervenkitzel bei der Er- Die Gewalt im Umfeld von Fußballspielen ge- lich 1931 vor der Gefahr einer „Fußballpsycho- oberung fremden Territoriums, genießen hört neben dem Doping zu den in den letzten se“: „Massensport, das heißt heute: zweiund- das stete Ausloten der Grenzen und gie- Jahren am häufigsten diskutierten Problemfel- zwanzig spielen Fußball, Tausende und Zehn- ren förmlich nach dem „Kick“, den sie im dern des Sports. Zuschauerausschreitungen tausende sehen zu. Sie stehen um das Spielfeld Erleben und Genießen körperlicher Kon- werden dabei zumeist als eine völlig neue Er- herum, kritisieren, johlen, pfeifen, geben ihr frontationen finden. Dieses Phänomen scheinung angesehen, die sich vor allem nach sachverständiges Urteil ab, feuern die Spieler ist in jüngster Zeit auch bei einem Teil der den Ereignissen um das Europapokalendspiel an, bejubeln ihre Lieblinge, beklatschen einzel- Ultras zu beobachten. Wenngleich beide zwischen Liverpool und Turin 1985 in Brüssel, ne Leistungen, reißen den Schiedsrichter her- Gruppen eine Minderheit innerhalb der als 39 Fußballfans bei Ausschreitungen ums Le- unter, fanatisieren sich, spielen innerlich mit. Fangemeinde darstellen, lässt sich an ih- ben kamen, zu einem gravierenden sozialen (...) Sie verfallen der Fußballpsychose, und sie nen zeigen, dass sie Verhaltensnormen Problem entwickelten. benehmen sich auf dem Sportplatz, als hinge der Moderne radikal ausleben und damit Nun sind uns aber bereits von den sportlichen nicht nur ihr eigenes Wohl und Wehe, sondern einen direkten Weg zur Befriedigung ih- Wettkämpfen der Antike Zuschauerausschrei- das Wohl und Wehe der ganzen Welt von dem rer Bedürfnisse suchen. Gewinnen Hooli- tungen überliefert. Die Analysen und Ratschlä- Ausgang dieses lumpigen Fußballspiels ab.“ gans einen Großteil ihrer Identität gera- ge des Militärschriftstellers Tacitus in seinem de aus der Suche nach dem „ultimativen Buch über die Verteidigung befestigter Plätze Kick“, steht bei den Ultras die Identifika- und über die Sicherheitsmaßnahmen bei den GEWALTANLÄSSE HABEN SICH GEWANDELT tion mit der „atmosphärischen Seele des Dionysien in Chios lesen sich „wie der Einsatz- Fußballs“ im Mittelpunkt. Gunter A. Pilz plan eines heutigen Polizeipräsidenten für sport- Ist die Gewalt im Umfeld von Fußballspielen diskutiert abschließend ordnungspoliti- liche Großveranstaltungen“ (Lämmer 1986, somit in der Tat kein neues Problem, so hat sche Maßnahmen und angemessene Re- S. 80). In Olympia gab es beispielsweise beson- sich bezüglich der Ursachen und Anlässe der aktionen, die sich in einem Spannungs- dere Einheiten, die für die Aufrechterhaltung Gewalt jedoch ein wesentlicher Wandel voll- feld von Prävention und Repression be- der äußeren Ordnung bei Sportfesten sorgten. zogen. Waren die Zuschauerausschreitungen wegen, die „Räume“ der jugendlichen Diese „Stock- und Peitschenträger“ genannten in der Antike und im Mittelalter noch weitest- Fans einengen, gleichzeitig aber auch Beamten (Vorläufer der modernen Bereit- gehend im Kontext mit der gesellschaftlich er- Freiräume belassen und somit Möglich- schaftspolizei?) sorgten bei diesen Festen für heblich höheren Gewalttoleranz und Akzep- keiten der Identitätsvergewisserung er- Ordnung und hatten das ausdrückliche Recht tanz individueller körperlicher Gewalt zu se- lauben. körperlicher Züchtigung. In den Schriften der hen, so sind die Pöbeleien, der Vandalismus, damaligen Zeit wird empfohlen, bei Fackelläu- die Gewalt Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang fen, Wettkämpfen und anderen öffentlichen des 20. Jahrhunderts eher im Zusammenhang Veranstaltungen auf der Hut zu sein und durch mit dem eigentlichen Sport- und Spielgesche- überlegte Postierung von Sicherheitskräften an hen zu sehen. strategisch wichtigen Punkten jede Möglich- So berichtet Heinz Bothe von Hannover 96, der POSTMODERNE „INDIANERSPIELE“? keit zum Aufruhr im Keim zu ersticken. Um 450 1954 beim Gewinn der Deutschen Meister- vor Christus sah sich die Heiligtumverwaltung schaft mit im Team war: „Krawall kam immer Wochenende für Wochenende sind Hundert- des Stadions von Delphi genötigt, nachdem vor. Ich kann mich gut erinnern, dass meine tausende auf Achse, um in der Atmosphäre des wiederholt betrunkene Zuschauer bei Wett- Frau – ich glaube, da spielten wir gegen Göt- Stadions einen Hauch von Abenteuer, Span- kämpfen randalierten, die Mitnahme von Wein tingen – einem was mit dem Regenschirm nung, Nervenkitzel und Risiko zu erleben oder in den inneren Bereich des Stadions zu unter- übergehauen hat, weil er über mich gemeckert sich im Umfeld des Stadions bei Zoff und Ran- sagen, wobei Denunzianten die Hälfte des hat. So was kam schon immer mal vor. (...) Aber dale selbst Abenteuer und Spannungserlebnisse Strafgeldes in Aussicht gestellt wurde, um die- doch nicht in den Ausmaßen, dass es da Mas- zu verschaffen. Von stiller, genießender Teilha- ser unpopulären Maßnahme zum Erfolg zu ver- senschlägereien gab, und Polizei da war. Kann- be bis hin zu enthusiastischer Begeisterung, von helfen. Die jüngsten Alkoholverbote in bundes- ten wir überhaupt Polizei?“ humoristischen Gesängen und Sprechchören deutschen Fußballstadien hatten also bereits bis hin zu provokativer Häme und verletzenden berühmte antike Vorbilder. Auch aus dem Verbalinjurien und mehr oder weniger ernsthaf- Mittelalter sind uns gewalttätige Auseinander- MILITÄRISCHE KONNOTATIONEN ten Keilereien reicht die Spannbreite fanspezifi- setzungen im Umfeld von Sportwettkämpfen schen Verhaltens. Vor allem die so genannten überliefert und Ende des 19. Jahrhunderts sorg- In den dreißiger bis weit in die fünfziger Jahre Hooligans inszenieren immer wieder aufs Neue, te man sich in England „um die steigende Zahl war das Verhältnis von Zuschauer und Spieler oft mit bewundernswerter Kreativität und stra- unkontrollierter Fans“ (Dunning 1984, S. 124). durch Interaktion geprägt. Dass dabei die An- tegischen Finessen postmoderne „Indianerspie- hänger als „Schlachtenbummler“ bezeichnet le“, in der Auseinandersetzung mit der Polizei wurden, hat seine Ursache in der militärischen moderne „Räuber und Gendarm-Spiele“. Spiele, PÖBELEIEN UND „FUSSBALLPSYCHOSE“ Tradition des Fußballsports. Es war das Militär, die leider aber auch den Boden karnevalistischer das in Deutschland am gesellschaftlichen Auf- Schlägereien verlassen, zu blutigem Ernst wer- Im Jahre 1908 wendet sich ganz offensichtlich stieg des Fußballspiels wesentlich beteiligt war. den und nicht selten in brutalen Gewalttätigkei- aus ähnlichen Beweggründen der Fußballver- Der Durchbruch des Fußballsports zu einem

44 „Tatort Stadion“

ROSTOCKER HOOLIGANS LEGEN FEUER IM RUDOLF- HARBIG-STADION IN DRESDEN. IM AUSLEBEN DER GEWALT, IN DER SUCHE NACH SPANNUNG, ABENTEUER UND LUST FINDET EIN TEIL DER HOOLIGANS DEN „ULTIMATIVEN KICK“. picture alliance / dpa

gekochte Profi ist, der flexibel und cool wie ein elitärer Hooligan die regionale Vereinsgebun- denheit ebenso abstreift wie sein Trikot und dort auftritt, wo das meiste Geld bezahlt wird, respektive beim Hooligan, wo die „beste Ac- tion“ abgeht (Bott 1988). So steht im Erstgutachten der Unterkommis- sion Psychologie der Gewaltkommission der Bundesregierung: „Das Fanverhalten spiegelt die Erfolgs(Leistungs)betonungen unserer Ge- sellschaft wider. Der Erfolg wird recht einsei- tig am Spielergebnis (Spielstand) gemessen. Dagegen treten andere Werte zurück. Der Spielerfolg setzt sich auch direkt in Geld um. Es entsteht die Gleichung ‚Erfolg = Geld’. Dies impliziert: Im Leistungssport sind Leistungs- träger – und wie wir wissen mittlerweile auch Unparteiische käuflich. Auf dem Spielermarkt ist offensichtlich die Mitsprache der Sportler so weit eingeengt, dass ernsthaft darüber dis- kutiert werden müsste, wie weit hier die Men- schenwürde verletzt wird. Die Heranwachsen- den nehmen diese Art von Degradierung ihrer Idole wohl diffus wahr, ohne sich im Allge- meinen davon kritisch distanzieren zu können. Der aggressive Konkurrenzkampf um einen Stammplatz in der Mannschaft nimmt Einfluss auf die aggressiven Tendenzen der Fans. Dies wird kaum durchschaut, denn es ist eingebet- tet in eine Vielzahl von Normen, die vom jun- gen Mann aggressives Durchsetzungsverhal- ten verlangen“ (Lösel u.a. 1990, S. 75). Dabei kann man Hooligans bezüglich ihrer Selbst- konzepte und Motivationen in zwei Gruppen einteilen. Die einen (vornehmlich mit niedri- gem Bildungsniveau) finden auf der Suche Massenphänomen in den zwanziger Jahren, zu ben: Aus breitflächigen Stadien, in denen die nach Selbstbehauptung in der Gewalt und der dem sich das Fußballspiel in eben diesen Jah- Zuschauer bis unmittelbar am Spielfeldrand Gruppe der Hooligans ihre eigene Kraft, ihr ren entwickelte, erfolgte, wie Pfeifer/Tobias standen, sind Arenen mit Drahtverhauen ge- Selbstwertgefühl. Die anderen (vornehmlich (1996) aufzeigen, u. a. durch die aktive Unter- worden, hinter denen Zuschauer und Fans wie mit höherem Bildungsniveau) finden auf der stützung des Militärs. „Das Persönlichkeitsbild Raubtiere gehalten und von den Akteuren Suche nach Selbstdurchsetzung durch die eines idealen Fußballspielers entsprach dem ferngehalten werden. Aus „Schlachtenbumm- Auslebung der Gewalt „authentische Erfah- des modernen Soldaten.“ Es wundert so denn lern“ werden – verfolgt man die Berichterstat- rungen“ von Spannung, Abenteuer und Lust – auch nicht, dass in die Fußballsprache die Spra- tung in den Tageszeitungen – ab Mitte der kurz: den ultimativen Kick. che des Militärs Eingang gefunden hat: Angriff, siebziger Jahre mehr und mehr „Fußballfans“ Abwehr, Flanke, Schuss, Bombe, Bomber, Gra- und differenzieren sich – in der negativen Ver- nate sind heute noch gängige Begriffe im Fuß- sion – in „Fußballrowdies“, „Fußballrocker“ HOOLIGANS ALS ballerlatein. Konsequenterweise trafen sich die und Mitte/Ende der achtziger Jahre in „Hooli- MODERNISIERUNGSVERLIERER gegnerischen Mannschaften zu „Schlachten“ gans“ aus (siehe Pilz 2004). Dabei können wir und lieferten sich auch nicht selten „Schlach- eine interessante Parallele festmachen bezüg- „Gewalt ist die Tankstelle für Selbstbewusst- ten“ auf dem „Schlachtfeld“. Zu diesen Schlach- lich der Entwicklung und Ausdifferenzierung sein“ – so lautet die Umschreibung für die Mög- ten „bummelten“ denn auch die „Schlach- von Spieler- und Zuschauertypen: So wie aus lichkeit, im Jugendalter ein Selbstkonzept tenbummler“, die „Schlachtrufe“, „Schlacht- dem Spieler zum Anfassen, dem Spieler als durch Selbstbehauptung zu erlangen. Das Ju- gesänge“ anstimmten. Schlachtruf, so steht im „greifbarem subkulturellen Repräsentanten“ gendalter gilt als Lebensphase, in der der Her- Bundesligakurier vom 12. Februar 1966 zu le- der distinguierte Star wurde, dessen Treue, anwachsende eine psychosoziale Identität auf- sen, ist der „Ausdruck einer begeisterten Zu- Verbundenheit zum Verein nicht einmal mehr bauen muss. Diese Verwirklichung von perso- schauermenge im sportlichen Geschehen, die langfristige Verträge, geschweige denn die so- naler Identität ist heute erschwert. Junge Men- eine ihr genehme Mannschaft durch einen pe- ziokulturelle, lokale Verwurzelung, sondern al- schen wollen nicht nur passiv Lernende in riodisch wiederkehrenden, bestimmten Slogan lein die Höhe der finanziellen Zuwendungen Institutionen sein, sie brauchen auch Bestäti- zu Höchstleistungen beflügelt.“ bestimmten, so wandelte sich denn auch der gung, Engagement und sinnvolle Aufgaben. kumpelhafte Anhänger zum leidenschaft- Herausbildung einer positiven Identität, die im lichen Fan und schließlich zum coolen distin- Jugendalter geleistet werden muss, heißt des- ZEITEN UND FANS HABEN SICH GEWANDELT guierten Hooligan, als letzte Stufe der Distanz halb, positive Antworten auf die drängenden von Spieler, Verein und Zuschauer. Der Fan und Fragen zu geben: „Wer bin ich?“, „Was kann Schon ein kurzer Blick in moderne Fußballsta- Star sind zwei Seiten einer Medaille, deren ak- ich?“, „Wozu bin ich da?“, „Wohin gehöre ich?“ dien zeigt, wie sich die Zeiten gewandelt ha- tuelle und fortgeschrittene Variante der aus- und schließlich „Was wird aus mir?“

45 GUNTER A. PILZ

Im Gewaltgutachten der Bundesregierung den zu hartes, zum Teil sogar brutales Eingrei- Worten von Blinkert (1988) zu sagen – in einer (Schwind/Baumann 1990) wird entsprechend fen wird von vielen Hooligans mit der lapidaren „fatalen Weise überangepasst sind an die Mo- beklagt, dass junge Menschen vor allem in der Bemerkung abgetan: „Wenn wir unseren Spaß bilitäts- und Flexibilitätserfordernisse unserer Schule heute fast nur noch erfahren, was sie haben, sollen ihn auch die ‚Bullen’ haben. Wenn Gesellschaft“ und des Erfolgssports. Soziale nicht können, nicht aber das, was sie können. wir Scheiße machen, dürfen wir uns nicht be- Normen haben eben in wachstums- und er- Oskar Negt (1998) hat deshalb zu Recht darauf klagen, wenn die ‚Bullen’ es uns zurückzahlen.“ folgsorientierten Handlungsfeldern – wie Blin- hingewiesen, dass der Kampf vieler junger So sagte ein Hooligan, nachdem er durch Gum- kert zu Recht konstatiert – „die Bedeutung von Menschen eigentlich um die Frage geht: „Was miknüppel der Bereitschaftspolizei erhebliche Alternativen. Man kann sich für aber auch ge- bin ich in dieser Gesellschaft?“, „Was bin ich Blessuren erlitten hatte und in die Flucht ge- gen sie entscheiden – und zu welcher Entschei- überhaupt, wer nimmt mich wahr?“ Daraus er- schlagen wurde, wörtlich zu mir: „Heute waren dung man kommt, hängt von Opportunitätser- geben sich kulturelle Suchbewegungen, mit de- die ‚Bullen’ aber gut drauf!“ Ein Hannoveraner wägungen ab.“ nen sie diese Probleme zu lösen versuchen. Fan berichtete mir stolz von seinem Erlebnis mit Bieten sich Jugendlichen keine oder kaum Mög- Braunschweiger Fans, mit denen die Hannove- lichkeiten, sich durch etwas hervorzutun, bleibt ranerfans ein traditionell gepflegte Feindschaft HOOLIGANS VERKÖRPERN DEN ZEITGEIST ihnen oft nur noch der Körper als Kapital, den verbindet, und der Polizei: „Vor mir Braun- DER MODERNE sie entsprechend ausbilden (modellieren) und schweiger, hinter mir die Bullen. Ich dazwi- damit Anerkennung und Aufmerksamkeit su- schen, ganz alleine. Ich hab’ die Prügel meines Den Hooliganismus können wir auch als eine chend einsetzen. Hier ist eine der Wurzeln für Lebens bekommen: ein Wahnsinnserlebnis!“ Folge der Modernisierungsprozesse unserer Ge- den „Kult des Körpers“ und den „Kult der Ge- sellschaft begreifen. Hooligans verkörpern in walt“ zu sehen, die so besehen auch eine Form exakter Spiegelung die einseitigen Werte und jugend-, meist jungenspezifischer Identitäts- HOOLIGANS UND DIE SUCHE Verhaltensmodelle des verbreiteten Zeitgeistes: suche und Identitätsentwicklung sind. NACH DEM KICK Elitäre Abgrenzung, Wettbewerbs-, Risiko- und Statusorientierung, Kampfdisziplin, Coolness, Mit dieser Beschreibung komme ich auf einen Flexibilitäts- und Mobilitätsbereitschaft, Aktio- FEHLENDE SCHULDGEFÜHLE BEI weiteren Aspekt des Hooliganismus zu spre- nismus, Aggressionslust, Aufputschung und GEWALTHANDLUNGEN chen. Entgegen den allgemeinen Vorurteilen be- atmosphärischer Rausch. Das Persönlichkeits- züglich der sozialen Herkunft, der schulischen profil eines gewaltbereiten, gewaltfaszinierten Dabei ist im Fußballumfeld auch festzustellen, und beruflichen Situation sind unter den Hoo- Hooligans unterscheidet sich denn auch in der dass sich unter die gewaltfaszinierten Fußball- ligans kaum – zumindest nicht überrepräsen- Selbstbeschreibung nicht von dem eines mittle- fans und Hooligans Rechtsradikale mischen. tiert – Arbeitslose zu finden. Hooligans rek- ren deutschen Managers: freundlich-locker, Dies hat nach Wippermann (2001, S. 7) damit rutieren sich aus allen Sozialschichten, unter ih- cool-knallhart, durchsetzungsstark, respektiert, zu tun, dass „rechtsradikale Gewalttaten für die nen befinden sich viele Abiturienten, Studenten, überlegen, selbstbewusst, Menschenkenner. Täter (unbewusst) den Charakter eines Events Menschen in guten beruflichen Positionen. Die- haben. Sie werden begriffen als eine Veranstal- se Hooligans haben zwei Identitäten: eine bür- tung mit einer besonderen Ästhetik, emotiona- gerliche Alltagsidentität und eben ihre sub- bzw. SUCHE NACH „AUTHENTISCHER len Aufladung und Gemeinschaftserleben und jugendkulturelle Hooliganidentität: „Der Fuß- ERFAHRUNG“ sind darin motivationspsychologisch anderen ball ist wie ein zweites Privatleben. Ich kann mit Events ähnlich. Rechtsradikale Gewalt hat also meiner Freundin weggehen, da habe ich meine Eine weitere Dimension kommt hinzu, die Su- heute diese Doppelstruktur von Ideologie und Sonntagshose an, da geh’ ich Essen ganz fein, che nach der „authentischen Erfahrung“, die Erlebnissehnsucht.“ Der hohe Eventcharakter geh’ ins Kino ganz fein, sitz abends daheim und ihre Ursache u. a. in der Verengung, Verrege- macht die gewaltfaszinierte Hooliganszene für guck Fernsehen. Und dann gibt´s wie ein Bild- lung, dem Verschwinden von Bewegungsräu- rechtsradikale Gewalttäter attraktiv. Wie pro- schnitt, dann schlaf´ ich eine Nacht, steh’ mor- men, Räumen zum Spielen, zum Ausleben der blematisch, ja dramatisch gerade dieser letzte gens auf und dann ist Fußballtime. Dann guck’ Bewegungs-, Spannungs- und Abenteuerbe- Punkt ist, zeigt die Tatsache, dass nahezu al- ich halt, wo ich gut kann, wo geht ´ne Party ab“, dürfnisse hat. Ein paar Aussagen von Hooligans le jugendlichen Gewalttäter ein gemeinsames so ein Hooligan. Die Hannoversche Polizei hat mögen dies verdeutlichen: Merkmal aufweisen: Sie haben oder entwickeln denn auch vor ein paar Jahren Hooligans nach ■ „Wenn man im Dunkeln durch den Wald keine Schuldgefühle bezüglich ihres Gewalt- einer Schlägerei festgenommen, unter ihnen ein rennt, über Zäune und durch Gärten, und die handelns, und die früher in großem Umfange Diplomingenieur, ein Arzt, ein Banker und – qua- anderen jagt, und die Polizei ist hinter einem vorhandenen Selbstregulierungsmechanismen si als Krönung – ein Rechtsanwalt und Notar. her – das ist fantastisch, da vergisst man gehen in der Fan- und Hooliganszene – von den Blinkert (1988) hat dabei aufgezeigt, dass sich sich.“ Jugendlichen zumeist selbst beklagt – immer im „Verlauf industriewirtschaftlicher Moderni- ■ „Es ist ein unheimlich spannendes Gefühl, mehr zurück. Die Hooligans verhalten sich da- sierung in zunehmendem Maße ein ganz spezi- wenn man in so einer riesigen Gruppe von bei wie die Fußballspieler: Sobald diese den fischer Typ der Orientierung gegenüber sozialen 100 bis 120 Leuten mitläuft und man muss Platz betreten, lassen sie die Verantwortung für Normen durchsetzt“, den er als „utilitaristisch- wirklich aufpassen, ob jetzt links oder rechts ihr Verhalten in der Kabine: Erlaubt ist nicht nur kalkulative Perspektive“ bezeichnet. Der mit der oder irgendwoher – jetzt wirklich in Anfüh- was das Regelwerk vorschreibt, sondern alles, industriewirtschaftlichen Modernisierung ver- rungszeichen – feindliche Hooligans kom- was der Schiedsrichter nicht sieht bzw. nicht bundene Trend zur Ökonomisierung und Pro- men. Das erinnert mich irgendwie immer so pfeift. Ganz ähnlich äußern sich Hooligans: zesse der Rationalisierung und Individualisie- an diese Geländespiele, die man früher im- „Wenn es Verletzte oder gar Tote gibt, sind nicht rung führen dazu, dass verstärkt Situationen ent- mer gemacht hat mit Jugendgruppen. Das ist wir schuld, sondern die Polizei, die nicht recht- stehen, in denen „eine größere Zahl von Norm- wirklich so, wie wenn man Räuber und Gen- zeitig genug eingegriffen hat.” Dabei entwi- adressaten die Kosten für illegitimes Verhalten darm spielt. Und was das Ganze oft noch ckeln diese Jugendlichen ein sehr ambivalentes als niedrig und den Nutzen von abweichendem spannender macht, ist, dass höchst überflüs- Verhältnis zur Polizei: Auf der einen Seite bekla- Verhalten als relativ hoch einschätzen.“ siger Weise die Polizei dann auch noch mit- gen sie sich, wenn die Polizei konsequent ein- Illegitimes Verhalten wird entsprechend nicht mischt, weil das macht die Sache dann inte- greift und damit mögliche Auseinandersetzun- als pathologisch angesehen, sondern als durch- ressanter, weil es schwieriger ist, weil man gen bereits im Keime erstickt, auf der anderen aus rationale Form der Konfliktlösung. Auf- dann auf zwei Gegner achten muss und nicht Seite finden sie es aber auch nicht gut, wenn die grund dieser hedonistischen, Kosten und Nut- nur auf einen“. Polizei gar nicht oder zu spät eingreift. So wer- zen kalkulierenden Haltung, die sich zuneh- ■ „Wenn du natürlich jetzt mit so ’nem Über- den Bundesligastädte und -stadien von den Ju- mend in modernen Industriegesellschaften mob antobst und dann eben alles nie- gendlichen danach eingestuft, wie gut oder wie ausbreitet, können wir Hooligans als die Avant- dermachst, also das schönste Gefühl ist das schlecht man sich dort prügeln kann. Dabei ha- garde eines neuen Identitätstyps bezeichnen, eigentlich. Dann fliegen vielleicht ’n paar ben Hooligans ein klares Bild von dem, wie die die sich – was den Zeitgeist anbelangt – nicht Flaschen oder Steine. Und dann rennt der Polizei einzugreifen hat. Für den Außenstehen- abweichend verhalten, sondern – um es mit den andere Mob und dann jagst du die anderen

46 „Tatort Stadion“ – Wandlungen der Zuschauergewalt

durch die Gegend. Also siebenter Himmel. tur des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorherr- wenn dieser nicht stimmt, überträgt sich das Das würdest du mit keiner Frau schaffen schen. Strukturierter ausgedrückt: der Fußball- automatisch auf die gesamte Gruppe. Eine oder mit keiner Droge. Dieses Gefühl, das ist sport wird seine Teilautonomie von den herr- Gruppe sollte einem Halt geben, idealer Weise schön“. schenden ökonomischen und kulturellen Kräf- als Ersatzfamilie dienen. Es ist wichtig, dass ■ „Der Reiz liegt in dem Moment, wenn du um ten, seine Teilautonomie als Bestandteil der man auch diese zwischenmenschlichen Dinge die Ecke biegst und 40 Mann auf dich zu ren- Volkskultur verlieren.“ Und vor allem: „Der Fuß- beachtet, denn nur wenn die Mitglieder der nen. Das ist der Kick für den Augenblick. Das ballsport wird geschichtslos und historisch fol- Gruppe sich gegenseitig achten und res- ist wie Bungee-Springen – nur ohne Seil.“ genlos werden; er wird so wenig und so viel Ge- pektieren, entsteht Zusammenhalt und Ge- schichte haben wie das Flipperspiel, das Bow- schlossenheit“ (http://www.ultras-frankfurt.de ling-Treffen und der Abend in der Diskothek. /portal/modules.php?name=selbstverstaendnis, „GEIL AUF GEWALT“ (BILL BUFORD) Gereinigt von lebensgeschichtlichen Erinne- 05.01.2006). rungen, in die zugleich ein Stück historischer Das Fußballstadion wird hier wieder zu einem Gewalt, dies machen diese Aussagen deutlich, Erfahrung eingegangen ist“, wie Lindner und wichtigen Ort des Ausgleichs des Seelenhaus- wird zu einem Selbstzweck, übt eine hohe Fas- Breuer (1979, S. 170) ergänzend hinzufügen. haltes der Menschen moderner Industriege- zination aus. Diese Faszination von selbst bru- Just in diese Entwicklung drängt aber eine neue sellschaften. In einer Gesellschaft, wo die Men- talster Gewalt kann man in dem Buch „Geil auf Gruppierung, die „Ultras“, die sich verstärkt der schen nur noch daran gemessen werden, was Gewalt“ des amerikanischen Journalisten Bill (Wieder-)Herstellung der traditionellen Stim- sie haben und nicht danach, was sie sind, steigt Buford in ebenso eindrucksvoller wie bedrü- mung und Atmosphäre im Stadion durch Insze- auch das Bedürfnis selbst kreativ zu sein, etwas ckender Weise nachvollziehen. Angewidert von nierungen, Choreografien, „Schlacht“- und zu schaffen, nach eigenen Vorstellungen auf- deren Brutalität, ja Bestialität und um deren Stimmungsgesänge verschrieben hat. zubauen und verändern zu können, etwas zu Verhalten verstehen zu können, begleitete Bu- bewegen, auf etwas Einfluss zu haben, wie uns ford englische Hooligans auf deren Fahrten zu Oskar Negt (1998) gezeigt hat. Dem Fußballsta- Europacup-Spielen im Ausland. Das Bedrü- ULTRAS ALS BEWAHRER DER dion kommt deshalb eine wichtige Rolle im Sin- ckende an dem Buch ist dabei die Erkenntnis, „SEELE“ DES FUSSBALLS ne der Kompensation zu. dass Buford ungeachtet der beobachteten, zum Teil brutalsten Handlungen seinen anfäng- Seit Mitte bis Ende der neunziger Jahre stieg die lichen Ekel und seine Abneigung gegenüber Zahl der Ultra-Gruppierungen in Deutschland ULTRAS AUF DEM WEG ZU HOOLTRAS? dieser Gewalt der Hooligans zunehmend ableg- rapide an. Die leidenschaftliche, südländische te, je länger er dabei war. Am Ende machte sei- Kultur des Anfeuerns, die so genannte „Ground- Ein Problem stellen die Gewaltbereitschaft, das ne Ablehnung dieser Gewalt einer hochgradi- hopper“, die in Spanien und Italien unterwegs offene Bekenntnis zur Gewalt dar, die offen- gen Faszination Platz wie im Schlusskapitel sei- waren, mit nach Deutschland brachten, ist sehr sichtlich zum Lifestyle der Ultras gehörend, nes Buches nachzulesen ist: beliebt. Vor allem ihre extravertierte Art der Ver- mittlerweile von fast allen Ultragruppierungen „Was mich anzieht, sind die Momente, wo das einsunterstützung und die Selbstdarstellung in ihren Internetseiten propagiert wird. Die Be- Bewusstsein aufhört: Momente, in denen es der Ultras, sowie der enge, freundschaftliche Zu- teiligung an Auseinandersetzungen mit gegne- ums Überleben geht, Momente von animali- sammenhalt der Gruppe faszinieren jugendliche rischen Fans und auch der Polizei haben dazu scher Intensität, der Gewalttätigkeit, Momen- Fußballanhänger. „Ultra“ sein bedeutet dabei, geführt, dass die Ultraszene von der Polizei der te, wenn keine Vielzahl, keine Möglichkeit ver- eine neue Lebenseinstellung zu besitzen, „ex- „Kategorie C (= Gewalttäter)“ zugeordnet wird. schiedener Denkebenen besteht, sondern nur trem“ zu sein, „durchzudrehen“, Spaß zu haben, Diese Maßnahme wird ergriffen, da es den Po- eine einzige – die Gegenwart in ihrer absoluten Teil einer eigenständigen neuen Fußballfan- und lizeibeamten unmöglich scheint, die Szene ge- Form. Die Gewalt ist eines der stärksten Erleb- Jugendkultur zu sein. Im Gegensatz zu den Hoo- nau zu differenzieren. Als negative Folgeer- nisse und bereitet denen, die fähig sind, sich ihr ligans besitzen sie nur eine Identität – ihre Ultra- scheinung resultiert daraus eine Radikalisie- hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindun- Identität, die sie auch während der Woche aus- rung (im Sinne eines ausgeprägten Feindbildes gen. (...) Und zum ersten Mal kann ich die Wor- drücken. Alles andere, wie die Schule, der Beruf, „Polizei“) des weitaus größeren, unproblemati- te verstehen, mit denen sie diesen Zustand die Freundin oder die Familie muss sich dabei schen Teils der Szene, der sich mit repressiven beschrieben. Dass die Gewalttätigkeit in der dem Fußball unterordnen. Ultras beschreiben in Maßnahmen konfrontiert sieht, die sonst ei- Masse eine Droge für sie sei. Und was war sie Interviews ihr Fandasein als Mischung aus An- gentlich nur Hooligans erfahren. Die Ultrasze- für mich? Die Erfahrung absoluten Erfülltseins“ und Entspannung – als „Arbeit“, bei der sie bis in ne ist auf dem Weg, sich von der Gewaltfreiheit (Buford 1992, S. 234). die letzte Minute höchst konzentriert sind und zu verabschieden und immer mehr auch hooli- Die Verteilung dieser beiden Hooligangruppie- körperlich wie verbal alles geben, und als Rau- ganähnliches Verhalten, gepaart mit ultraspe- rungen ist in den alten Bundesländern so, dass scherlebnis, als „Flow“ (Csikszentmihalyi 1992), zifischen Aktionen, zu zeigen, so dass ich von die Balance mehr in Richtung „Selbstdurchset- bei dem sie einfach alles rundherum vergessen, einer Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung der zung“ und hinsichtlich der sozialen Milieus in sich fallen und nur noch von ihrer Leidenschaft, Ultras hin zu Hooltras spreche, dies auch, um Richtung mittlere bzw. obere Mittelschicht und ihrem Gefühl leiten lassen: Die folgenden Aus- den noch kleinen Teil der gewaltbereiten Hool- höheres Bildungsniveau tendiert, während sie sagen mögen dies verdeutlichen: tras von der überwiegenden Zahl friedlicher in den neuen Bundesländern eindeutig in Rich- „Die Leute sollten einfach verstehen, dass das Ultras klar zu unterscheiden. tung „Selbstbehauptung“ und untere Sozial- bei allen anderen Sachen, die in Bezug auf Ultra In der Internetseite der Ultras Frankfurt steht milieus und niedriges Bildungsniveau zeigt. durch den Raum schwirren, das einzige ist, was hierzu unmissverständlich: „Wenn man von der bei einer guten Gruppe wirklich zählt: Freund- Verteidigung und Erhaltung seiner Freiräume schaft und Liebe! Diese beiden Faktoren sind spricht, muss man zwangsläufig etwas zum SCHLECHTE ZUKUNFT FÜR DEN FUSSBALL? existenziell und unabdingbar, wenn eine Ultra- Thema Gewalt sagen. Es ist oft heuchlerisch von Gruppe funktionieren soll. Freundschaft unter- anderen Gruppen, wenn sie sich in Texten von Der englische Kultursoziologe Critcher (o. J.) einander, Liebe zu Ultra und dieser Einstellung, Gewalt grundsätzlich distanzieren, dann aber hat auf Grund der hier beschriebenen Entwick- diesem Lebensgefühl und natürlich zu seinem im Endeffekt gegensätzlich handeln. Anderer- lung des Fußballsports dem Fußball eine Verein. Dieses Lebensgefühl, diesen Lifestyle seits kann es aber auch nicht sein, dass einige schlechte Zukunft prophezeit: „Er wird tot sein, kann man eigentlich auch nicht wirklich in Leute im Stadion den Dicken markieren, um nicht weil er nicht länger als ein schnelles und Worten beschreiben, man muss es einfach füh- dann draußen auf der Straße von dem ganzen hartes Spiel von den unterdrückten Massen in len. Wenn erwachsene Menschen sich gegen- Hass nichts mehr wissen zu wollen. Für uns be- den Blechbuden-Stadien verfolgt wird, son- seitig in den Arm nehmen, weinen, lachen und deutet Ultra auch, sich nicht nur auf die Hass- dern weil er nicht mehr länger kulturell verwur- sich auch ohne große Worte verstehen, muss gesänge während der 90 Minuten im Stadion zu zelt ist. Er wird dann nicht mehr aus einer le- schon mehr dahinter stecken als bloße Liebe beschränken, sondern dieses Leben 24 Stunden bendigen Volkskultur heraus geprägt, sondern zum Verein. Manche mögen das als unnö- am Tag / 7 Tage in der Woche zu leben. (...) Wir von außen, von den Ideen des Massenkultur- tige Gefühlsduselei abtun, aber für uns ist der distanzieren uns nicht grundsätzlich von Ge- Spektakels, die unter den Kontrolleuren der Kul- Umgang untereinander sehr wichtig, denn walt. (…) sicherlich mag für einige Menschen

47 GUNTER A. PILZ

Gewalt der falsche Weg sein, um Probleme zu einiger Ultragruppen aus der Szene sowie ge- ist bei Hooligans hingegen eine deutliche Prä- lösen, wir merken hier lediglich an, dass es in un- walttätige Konfrontationen mit der Polizei kön- senz angesagt. serer Gruppe verschiedene Strömungen gibt nen schon jetzt beobachtet werden. Dabei muss und motivierte Leute in allen Bereichen vorhan- uns eine weitere zu beobachtende Entwicklung den sind, sei es im kreativen, optischen Sektor Sorge bereiten: Die Auseinanderdividierung KANN (SOZIAL-)PÄDAGOGIK oder eben im Sektor der ‚sportlichen Betätigung’ von Ultras der neuen und der alten Bundeslän- ETWAS AUSRICHTEN? auf der Strasse.“ (http://www.ultras-frankfurt. de der. Hier wird von den jeweiligen Ultragruppie- /portal/modules.php?name=selbstverstaendnis, rungen eine Kultur der Feindschaft aufgebaut Mit Pädagogik, auch mit Erlebnispädagogik, er- 05.01.2006). und gepflegt, die sich bereits in vielen Aus- reicht man bei Hooligans, wenn junge Men- Mit diesem offenen Bekenntnis zur Gewalt wer- schreitungen, die an die gewalttätigen Eskala- schen erstmals an der Faszination der Gewalt den auch die Spott- und Hassgesänge ihres ver- tionen während der Blüte des Hooliganismus gelechzt haben, nichts mehr oder nicht mehr meintlichen harmlosen und spielerischen Ritu- Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jah- viel. Da hilft dann wohl nur noch nur Repression. als enthoben und als ernst gemeinte Lebens- re erinnern, zwischen Ultras von Vereinen der Entsprechend sehen Fanprojekte ihre Haupt- philosophie gepriesen. Es verwundert so bese- neuen und alten Bundesländer der 1., vornehm- aufgabe auch mehr im Verhindern, dass junge hen auch nicht, dass Kenner der Szene auf lich aber 2. Bundesliga und der dritten Ligen Menschen in diese Szene abdriften bzw. hinein- Grund der Tatsache, dass sich die Ultras offen Bahn brechen. Hier scheint sich ein neuer „Klas- wachsen, und weniger darin, gewaltfaszinierte zu Gewalt bekennen und diese auch leben und senkampf“ zu entwickeln, der sich auch schon Hooligans vom Ausleben ihrer Gewaltfantasien sich Hooligans mehr und mehr auch in den in den entsprechenden Fanzines widerspiegelt. abzubringen. Hier scheint die Aufgabenteilung Ultrablöcken aufhalten, davon ausgehen, dass klar: Im ersten Fall ist die Sozialpädagogik, sind Ultras und Hooligans sich verbünden und noch körper- und bewegungsbezogene Angebote ge- stärker gemeinsame Sache machen. ORDNUNGSPOLITISCHE FOLGERUNGEN fordert, im zweiten Fall die Polizei. Bezüglich der Reaktionen auf hooliganspezifisches Verhalten Die Ultra-Bewegung in Deutschland kann schon und Bemühungen zur Prävention von Gewalt- WIE KONNTE ES ZU DIESEM WANDEL heute als eine neue Jugendkultur angesehen handlungen jugendlicher Gewalthandlungen KOMMEN? werden. Eine Jugendkultur, in der sich jugendli- ist Steinhilper (1987, S. 73) zuzustimmen, wenn che Kreativität, Engagement und Begeiste- er resümierend schreibt: „Rasche Antworten Die Frage, die sich bei diesen Beschreibungen rungsfähigkeit einerseits, andererseits aber sollten misstrauisch machen. Je nach der Ursa- der Wandlungen der Fan-, hier besonders der eben auch Gewaltbereitschaft, Hass und Feind- che sieht die Therapie unterschiedlich aus. Han- Ultraszene stellt, ist vor allem: Wie konnte es seligkeit ausleben. Für die Zukunft bleibt abzu- delt es sich um persönlichkeitsabhängige Krimi- zu solch einem Wandel in Bezug auf die Ein- warten, in welche Richtung sich die Ultraszene nalität, so erscheint mehr Kontrolle, mehr Rege- stellung zu Gewalt bzw. Gewaltlosigkeit kom- entwickelt: Setzt sich das große Potenzial an lung notwendig. Ist Gewalt dagegen die Ant- men? Eine Antwort geben die Ultras selbst, in- Kreativität, Einfallsreichtum und Engagement wort auf gesellschaftliche Struktureffekte, Aus- dem sie darauf hinweisen, dass die zunehmen- der Ultras durch und verdrängt die oben be- druck einer Sinnkrise, Beweis für Identitätssu- de Verregelung ihrer als Freiraum reklamierten schriebenen negativen Einflüsse? Oder geht aus che und Perspektivlosigkeit, Verarmung famili- Kurve, die in ihren Augen zunehmenden Re- Teilen dieser Szene, den Hooltras, ein neues Ge- ärer und sozialer Bindungen, so sind die Ant- pressionen seitens der Ordnungsdienste und waltpotenzial hervor? Aus unserer Sicht ist die worten auf die Frage nach der Vorbeugung viel Polizei, dazu führen, dass sie sich von der Ge- Entwicklung der Ultraszene auf einem Scheide- komplizierter, die Frage nach der Schuld trifft waltlosigkeit verabschieden. Dies ist sicherlich weg; und vor allem in Bezug auf 2006 ist es viele und diese zu einem recht frühen Zeitpunkt. ein vordergründiges, aber auch nicht ganz von interessant zu beobachten und zu erkunden, in Vorbeugung kann nicht gelingen durch Verbo- der Hand zu weisendes Argument: Gerade wo welche Richtung der Ultrazug fahren wird. Viel te, sondern könnte unter Umständen am ehes- die Jugendlichen in unserer heutigen Leis- wird auch davon abhängen, wie es Verband, Ver- ten erreicht werden durch Belassung der Provo- tungsgesellschaft ständig erfahren, was sie einen und Polizei gelingt, auf diese Szene diffe- kation im eng umgrenzten, kontrollierten Be- nicht können und nicht dürfen, und sich im renziert und sensibel zu reagieren. Die optische reich des Fußballstadions.“ Stadion endlich mal kreativ und engagiert prä- Annäherung der Ultras an die Hooligans, ihr ein- Noch deutlicher wird dies von Kriminologen im sentieren wollen, wird ihnen dieser letzte heitliches Gruppenauftreten und das provo- Gewaltgutachten der Bundesregierung gefor- Handlungsspielraum auch noch genommen. kant, aggressive Vorgehen gegenüber „Feinden“ dert: „Aus der Sicht der Fans in einer auf Passi- Sie fühlen sich nicht ernst genommen, störend wie gegnerische Fans, Ordnern und der Polizei vität ausgerichteten Konsumgesellschaft bie- und eingeengt. Wundert es da, dass die Unzu- macht es Außenstehenden dabei nicht gerade tet die Fanszene jedoch eine hoch einzu- friedenheit unter den Ultras wächst? Viele ha- leicht, die Szene genau einzuschätzen und dif- schätzende kompensatorische Möglichkeit, um ben das Vertrauen in den Verein, den DFB, die ferenziert behandeln zu können. Dies umso Alltagsfrustrationen zu verarbeiten und ‚Ur- Medien, den Ordnungsdienst und die Polizei mehr, als Kuttenfans und Ultras, wie auch (zu- laub’ vom gewöhnlichen und zumeist langwei- verloren, fühlen sich völlig missverstanden mindest zurzeit noch) Hooltras auf Polizei und ligen Tagesrhythmus zu machen. Wenn die Er- und glauben, dass allein die Tatsache, dass sie Polizeipräsenz ganz anders reagieren als Hooli- wachsenenwelt dann nur mit Verbot und Be- Mitglied bei den Ultras sind, Außenstehenden gans. Für Kuttenfans, Ultras und Hooltras wirkt strafung reagiert, kann sich das Gewaltpo- als Information schon reiche, sie als Gewalttä- die Anwesenheit von Polizei und besonders von tential andere ‚Freiräume’ suchen, die noch ter zu stigmatisieren. Die Tatsache, dass Ein- Spezialeinsatzkommandos bedrohend und schwerer zu beeinflussen sind. Insofern käme satzkräfte der Polizei vermehrt von frechem macht sie aggressiv. Für Hooligans ist umge- es darauf an, verstärkt über positive Wege Ton und provokanten Verhaltensweisen der kehrt die Abwesenheit von Polizei geradezu eine der Kanalisierung von Aktivitätsbedürfnissen Ultras berichten, ist sicherlich auch Ausdruck Einladung zum Ausleben ihrer Gewaltbedürf- nachzudenken“ (Kerner u. a. 1990, S. 550). des angespannten Verhältnisses von Polizei nisse und -fantasien, bzw. bedeutet die Anwe- Verschließen wir nicht die Augen vor der von und Ultras. Die Polizei ist für viele Ultras das senheit von Polizei und Spezialeinsatzkomman- Zinnecker (1987) formulierten These, dass nicht Feindbild, Einsatzkräfte wirken wie ein rotes dos zunächst einmal eine Aufwertung und dann nur die Verkommerzialisierung des Fußball- Tuch auf die Ultras. auch eine Herausforderung. Man sieht in der Po- sports und die damit verbundene Entfremdung lizei schließlich sogar so etwas wie einen sport- der Fans von den Vereinen Gewaltpotenziale lichen Gegner, mit dem man sich misst getreu mittelbar freisetzt, sondern dass auch aufgrund DROHT EIN NEUER „KLASSENKAMPF“? dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ der gewaltbejahenden Strukturen Jugendliche Hooligans erwarten von der Polizei also, dass sie erst das Freizeitangebot Fußball schätzen ler- Inwieweit diese Unzufriedenheit und Ohn- konsequent einschreitet und „Null-Toleranz“ nen. Kein anderer Mannschaftssport gewährt macht in Resignation endet und vielleicht auch zeigt. Das Prinzip der Deeskalation, dies wird hier seinen Zuschauern ein räumlich größeres die zentrale Ursache der Radikalisierung der sehr schön deutlich, setzt je nach Fangruppie- Handlungsfeld. Abweichende Handlungen las- Szene in Richtung Hooltras ist, muss noch ge- rungen sehr unterschiedliche Maßnahmen vor- sen sich hier besonders publikumswirksam her- nauer untersucht werden. Vermehrter Vanda- aus. Ist bei Kuttenfans und Ultras im Besonde- ausstellen. Und darauf, sowie auf die zum Teil lismus, erste Auflösungen und Abspaltungen ren eher ein verdeckter Polizeieinsatz geboten, entgegengesetzten Entwicklungen jeweils an-

48 „Tatort Stadion“ – Wandlungen der Zuschauergewalt gemessen und angepasst zu reagieren, ist eine dem richtigen Wege. Im Rahmen des „Nationa- mal so ausdrücken darf, als Antwort auf ein der großen und sicherlich nicht leichten Aufga- len Konzeptes Sport und Sicherheit“ wurde ein sehr elementares menschliches Bedürfnis ver- ben von Verband, Vereinen, Sozialarbeit und Po- ausgeklügeltes, Repression und Prävention gut dient, ernstgenommen zu werden.“ Ergänzend lizei. ausbalancierendes Konzept zur Befriedung des und mahnend fügt er hinzu: „Die Freizeitbe- Fußballumfeldes entwickelt. Fanprojekte zur so- schäftigungen der Industriegesellschaften, ob zialpädagogischen Betreuung der Fans und zur es sich um Konzerte oder Fußballspiele, um RÄUME EINENGEN UND RÄUME BELASSEN Brechung der Gewaltfantasien von Hooligans Schauspiele oder Jazz handelt, entsprechen wurden eingerichtet. Fan-Betreuer, die die Auf- offenbar einem mächtigen Bedürfnis. Ich bin Der Schlüssel zum angemessenen Reagieren gabe haben, die verloren gegangene Nähe der nicht sicher, dass wir Freizeitbedürfnisse, wie scheint mir in dem Begriff „Raum“ zu liegen. Die Vereine und der Spieler zu ihren Anhängern wie- sie etwa auch bei der Anteilnahme am Fußball- ordnungs- und sozialpolitischen Herausforde- der herzustellen, werden vom DFB für jeden Ver- spiel zum Ausdruck kommen, so wie sie das ver- rungen bestehen darin, ein verbindlich vorgeschrieben. Moderne Sta- dienen, schon wirklich verstehen.“ (Elias 1983, ■ die Räume der Hooligans und Hooltras ein- dien, die nicht nur den Komfort erhöhen, son- S. 21) zuengen, vor allem da, wo sie entregelt wer- dern auch die Nähe der Zuschauer zum Spielfeld den; wie zu früheren Zeiten herstellen, all dies und ■ den Ultras und Fans Räume zu belassen und eine aktive Ultraszene, die sich engagiert gegen zu geben, wo sie ihren Bedürfnissen nach die Auswüchse der Kommerzialisierung des LITERATUR Selbstinszenierung, Selbstpräsentation, Cho- Profifußballs stellte und stellt und für die tradi- Blinkert, B.: Kriminalität als Modernisierungsrisiko. In: So- reografien und Identifikation gerecht wer- tionelle Fußballkultur kämpft, aber auch eine ziale Welt 1988, S. 397-412. Bott, D.: Integration statt Ausgrenzung. Für die Wieder- den können, sie aber gleichzeitig auch be- Ultraszene, die im Sinne der Selbstregulierung vereinigung der Fans ins Vereinsgeschehen. Maschinenge- züglich des Einhaltens von Regeln, von all- auch gegen Auswüchse in den eigenen Reihen schriebenes, vervielfältigtes Manuskript. Düsseldorf 1988 gemein gültigen Normen des Fairplay, der engagiert angeht, können dazu beitragen, dass Buford, B.: Geil auf Gewalt. München 1992 Abkehr von Gewalt und rechtsextremem Ge- das, was ich einmal als die „Seele des Fußballs“ Critcher, C.: Football Since the War: Study in Social Chan- ge and Popular Culture (Typoskript) Birmingham o.J.; hier dankengut in die Pflicht zu nehmen. beschrieben habe (Pilz 2002) und pathetisch zitiert nach: Lindner, R./Breuer, H. T.: Fußball als Show. Während es also bei den Hooligans und Hool- auch als der „Geist der Schlachtenbummler der Kommerzialisierung, Oligopolisierung und Professiona- lisierung des Fußballsports. In: Hopf, W. (Hrsg.): Fußball – tras darum geht, deren Handlungsräume eng zu fünfziger Jahre“ bezeichnet werden kann, wie- Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. machen und staatliche Repression im Sinne von der auflebt in einer der Zeit angepassten, aber Bensheim 1979, S. 170. deutlicher Präsenz (Null-Toleranz), d.h. konse- die Faszination des Fußballspiels und der Fuß- Csikszentmihalyi, M.: Flow – Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart 1992 quentes Eingreifen der Polizei gefordert ist, gilt ballkultur bewahrenden Weise. Die Euro 2004 in Dunning, E.: Zuschauerausschreitungen. Soziologische es, den Ultras Freiräume zu schaffen bzw. zu be- Portugal hat hierzu ein Mut machendes Zeichen Notizen zu einem scheinbar neuen Problem. In:. Elias, N./ wahren, die es ihnen ermöglichen, sich selbst zu gesetzt. Die hier beschriebenen neueren Ent- Dunning, E.: Sport im Zivilisationsprozeß. Münster 1984, S. 123-132. verwirklichen, einen Sinn in ihrem und für ihr wicklungen in der Ultraszene müssen uns aber Elias, N.: Der Fußballsport im Prozess der Zivilisation. In: Leben zu finden, Perspektiven für die Zukunft auch besonders wachsam sein lassen gegenü- Modellversuch Journalisten-Weiterbildung der Freien Uni- zu entwickeln und eben auch einfach ein wenig ber entgegengesetzten Trends und für uns Ver- versität Berlin (Hrsg.): Der Satz „Der Ball ist rund“ hat eine gewisse philosophische Tiefe. Berlin1983, S. 12-21. Spannung und Abenteuer zu erfahren. pflichtung sein, unsere Bemühungen zur Stär- Kerner, H. J. u. a.: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Entsprechend ergeben sich bei den Ultras im kung der positiven Elemente der Fan- und Ultra- Gewalt aus kriminologischer Sicht. In: Schwind, H.-D./ Spannungsfeld von Prävention und Repression kultur zu intensivieren. Baumann, J. u. a. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kon- trolle von Gewalt. Berlin 1990,Band II, S. 415-606. drei Pfeiler der Gewaltprävention: Norbert Elias hat in seiner zivilisationstheo- Korff, W.: Der Sündenfall des Sports. In: Media Report ■ Selbstregulierung: Die Fans dazu zu befähi- retischen Analyse des Fußballsports zu Recht Sportwissenschaft, 5/1981, S. 21 ff. gen, zu ermutigen und zu unterstützen, festgestellt: „Spannung und Entspannung im Lämmer, M.: Zum Verhalten von Zuschauern bei Wett- kämpfen in der griechischen Antike. In: Spitzer, G./ selbst bestimmt Grenzen zu setzen und die Fußballspiel ist ein – gewiss ein besonders ge- Schmidt, D. (Hrsg.): Sport zwischen Eigenständigkeit und eigene Szene zu befrieden; lungenes – Beispiel für ein psycho-soziales Fremdbestimmung. Bonn 1986, S. 75-85. ■ Prävention: Schaffung und Erhalt von Fan- Muster unseres Lebens, das, wenn ich mich ein- Lindner, R./Breuer, H. T.: „Sind doch nicht alles Becken- bauers“. Frankfurt 1982 projekten gemäß dem „Nationalen Konzept Negt, O.: Jugendliche in kulturellen Suchbewegungen. Ein Sport und Sicherheit“, d.h. die Förderung der Persönliches Resümee. In: Deiters, F.-W./Pilz, G.A. (Hrsg.): Sozialen Arbeit mit Fans und der Einsatz von Aufsuchende, akzeptierende, abenteuer- und bewegungs- orientierte, subjektbezogene Sozialarbeit mit rechten, ge- Fanbeauftragten bei den Vereinen und Ver- waltbereiten jungen Menschen – Aufbruch aus einer Kon- bänden zur Fan-Betreuungsarbeit; UNSER AUTOR troverse. Münster 1998, S. 113-124. ■ Repression: Durchsetzen von ordnungspoli- Lösel, F. u. a.: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Ge- walt aus psychologischer Sicht. In: Schwind, H.-D./Bau- tischen Regularien durch Polizei und Ord- Prof. Dr. Gunter mann, J. u. a. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle nungsdienste der Vereine mit der Maßgabe, A. Pilz, Jahrgang von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämp- Grenzen zu setzen und zu bewahren. 1944, studierte fung von Gewalt (Gewaltkommission). Berlin 1990, Band Um Gewalt und Eskalationsprozesse von Gewalt Soziologie, Psy- II, S. 4-156. zu vermeiden bzw. zu verringern, müssen zu- chologie und Peiffer, L./Tobias, S.: „Das furchtlose Zugreifen – die den 96ern von jeher eigen gewesene Eigentümlichkeit. In: Peif- nächst Selbstregulierungen innerhalb der Fan- Volkswirtschafts- fer, L./Pilz, G.A. (Hrsg.): Hannover 96 – 100 Jahre – Macht szenen gefördert werden. Die ordnungspoliti- lehre, war von an der Leine. Hannover 1996, S. 14-55. schen Institutionen müssen möglichst auf die- 1972 bis 1974 wis- Pilz, G. A.: Fußball ist unser Leben!? Leerformel oder ge- sellschaftspolitische Herausforderung. In: Württembergi- se Selbstregulierungen setzen, sie einfordern senschaftlicher scher Fußballverband e.V. (Hrsg.): Der Fußball – ein Bei- und unterstützen, um Solidarisierungsprozesse Mitarbeiter am trag zu einer Gesellschaftskultur der Zukunft. Stuttgart der Fans gegen die Polizei zu verhindern. Wenn Forschungsinstitut 2002, S. 59-77. Pilz, G. A.: Gewaltgruppierungen in deutschen Fußballsta- die Polizei dennoch einschreiten muss, ist einer- der Eidgenössi- dien – eine soziologische Betrachtung. In: die neue poli- seits von nicht gewaltbereiten Fans ein Verzicht schen Turn- und Sportschule Magglingen zei, 1/2004, S. 14-24. auf Solidarisierungen mit Gewaltbereiten abzu- (Schweiz). Seit 1975 ist er am Institut für Schwind, H.-D./Baumann, J. u. a.(Hrsg.): Ursachen, Prä- vention und Kontrolle von Gewalt. Berlin 1990 (4 Bände) verlangen, andererseits durch den Einsatz so ge- Sportwissenschaft der Universität Hannover Steinhilper, G.: Kriminalpolitische Aspekte einer wirksame- nannter Konfliktbeamter polizeiliches Handeln und beschäftigt sich mit den Forschungs- ren Bekämpfung der Gewaltkriminalität. In: Beiträge zur transparent zu machen. schwerpunkten Gewalt in der Gesellschaft Inneren Sicherheit. Schriften der Hermann-Ehlers-Akade- mie Nr. 21. Kiel/Bremen 1987, S. 69-81. und im Sport, Gewaltakzeptanz und Rechts- Wallenhorst, H.-J./Klingebiel, H.: Neunzig Jahre SV „Wer- extremismus junger Menschen, Fairplay, der”. Bremen 1988 DIE „SEELE DES FUSSBALLS“ Medien und Gewalt. Im Rahmen seiner For- Wippermann, C.: Die kulturellen Quellen und Motive rechtsradikaler Gewalt – Aktuelle Ergebnisse des sozialwis- WIEDER ENTDECKEN schungsschwerpunkte war Gunter A. Pilz senschaftlichen Instituts Sinus Sociovision. In: jugend & mehrfach als Gutachter für das Bundesin- GESELLSCHAFT, 1/2001, S. 4-7. Der DFB, die Vereine und die Verantwortlichen nenministerium zu den Fragen „Sport und Zinnecker, J.: Jugendkultur 1940-1985. Opladen 1987 gesellschaftlicher Institutionen sind dabei auf Gewalt“, „Fanverhalten und Fankultur“ tätig.

49 MACHT UND VERSUCHUNG AUF DEM GRÜNEN RASEN Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball

RAINER KOCH / WOLFGANG MAENNIG

den Kampf um bessere Rangplätze in den Li- DAS AUSMASS IST SCHWER „Verpfiffen!“ – Der Skandal, der die Kar- gen, insbesondere um Aufstiegsplätze (oder ZU BEURTEILEN … riere des Schiedsrichters Robert Hoyzer die Vermeidung von Abstiegsplätzen) zu be- jäh beendete, erschütterte den deut- einflussen. In Ländern mit entwickelten Wett- Zweitens: Eine klare Abgrenzung der Korrupti- schen Fußball und mithin die sportbe- märkten dominiert die Korruption mit dem Ziel on (oder gar des Wortes „Skandal“) fällt schwer, geisterte Öffentlichkeit. Bis zu diesem der Manipulation einzelner Spiele, um damit weil der Begriff von Nation zu Nation (und von Vorfall glaubte man, dass die Mannen in Wetterlöse zu maximieren. Kontinent zu Kontinent) sowie von Sportart zu Schwarz unbestechliche Gehilfen der Allerdings darf eine Unterteilung in Arten von Sportart unterschiedlich ausgelegt wird und Regelkunde sind. Der Fall Hoyzer offen- Skandalen im Fußball (und in anderen Sportar- einem Wandel im Zeitablauf unterliegt.7 bart, dass auch die beliebteste aller ten) bei dieser Unterteilung nicht halt machen. Drittens: Wenngleich die erste Vorbemerkung Sportarten nicht frei von Skandalen und Die Manipulation ist nicht auf Wettkampfer- in die Richtung zielt, dass nicht alle „Skanda- Affären ist. Ob Wettmanipulationen, gebnisse beschränkt. Fälle 16 und 17 in Tabelle le“ tatsächlich welche sein mögen, ist auf er- der Kampf um bessere Rangplätze, beim 1 zeigen, dass Korruption beim Bau von Fußball- hebliche Dunkelziffern der Korruption (auch Sponsoring oder bei der Vergabe von stadien existiert, was allerdings angesichts der im Sport) zu verweisen. In Industrieländern Orten, an denen sportliche Großereig- allgemeinen Anfälligkeit der Bauwirtschaft für wie Deutschland werden höchstens fünf Pro- nisse stattfinden: Verdachtsmomente die Korruption kaum verwundert. Und: selbst zent der Korruptionsfälle aufgedeckt (Bannen- und Korruptionsvorwürfe wurden auch wenn hierfür in den letzten Jahren im Fußball- berg/Schaupensteiner 2004). Dieser korrup- schon in der Vergangenheit laut und ha- sport keine Fälle bekannt wurden, kann nicht tionsspezifische Wert stimmt gut mit der ben sich gelegentlich bewahrheitet. ausgeschlossen werden, dass auch der „sonsti- Schätzung von Dunkelziffern bezüglich der Trotz einzelner, oft spektakulärer Vorfäl- ge Produktions- bzw. Wertschöpfungsprozess“ allgemeinen Wirtschaftskriminalität von über le gibt es dennoch keine klaren empiri- des Fußballsportes betroffen ist, so wie dies 96 Prozent überein.8 Unter der Annahme, dass schen Belege für eine verstärkte Korrup- für andere Sportarten bekannt wurde. Korrup- im internationalen Rahmen und im Sport ver- tion im Fußballsport. Um den zu konsta- tion(sverdachtsmomente) im Sport existieren gleichbare Dunkelziffern herrschen, impliziert tierenden (sozialen) Schaden von den bereits bei der Entscheidung um die Orte, an de- dies, dass das tatsächliche Ausmaß der Kor- sportlichen Normen und Werten abzu- nen bestimmte Sportereignisse stattfinden sol- ruption im Sport größer ist, als in der Tabelle 1 wenden und die sinkende Reputation len.5 Ferner existiert Korruption beim Sponso- dargestellt. einzelner Sportarten zu vermeiden, ist ring, bei der Berichterstattung im Fernsehen, ja eine deutliche Anti-Korruptionspolitik selbst bei der Vergabe von Funktionärsposten.6 im Sport erforderlich. Transparente Ent- … ABER GERINGER ALS IN ANDEREN scheidungen der Schiedsrichter, die Ver- BEREICHEN wendung verschiedenster technischer VORWÜRFE UND GERÜCHTE SIND Kontrollsysteme (z.B. mittels Video), an- NOCH KEINE TATSACHEN Viertens darf dies nicht in die Richtung inter- gemessene Formen der Bestrafung aber pretiert werden, dass die Korruption im Fuß- auch die Formulierung von Ehren- und Spätestens an dieser Stelle sind einige Bemer- ballsport ein besonders großes, über die Kor- Verhaltenskodizes sowie eine verbes- kungen notwendig: Erstens sind Korruptions- ruption in anderen Bereichen menschlichen serte finanzielle Entschädigung der vorwürfe und -verdachtsmomente im (Fuß- Zusammenlebens hinaus gehendes Problem Schiedsrichter unterer Ligen sind nur ei- ball-)Sport zunächst einmal nicht so ernst zu ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich nige der Anti-Korruptionsmaßnahmen, nehmen: Wenn Sportler verlieren, neigen sie angesichts der vielen Fußballbegegnungen an die Rainer Koch und Wolfgang Maennig dazu, die Schuld überall zu suchen – aber nicht jedem Tag in der Welt die nachgewiesenen in ihrem Beitrag erörtern und hinsicht- bei sich selbst. Gerne werden auch unlautere Korruptionsfälle im Sport auch unter Berück- lich ihrer präventiven und Korruption Machenschaften der Gegner wie Korruption sichtigung einer erheblichen Dunkelziffer re- verhindernden Wirkung abwägen. (und Doping) als Argument angeführt. Und lativieren. Auch die Höhe der Bestechungsgel- wenn Fans ihre Mannschaft verlieren sehen, ist der im Fußballsport erscheint relativ kleiner als der Vorwurf der Schiebung schon immer schnell in anderen Bereichen, wo inzwischen bis zu 30 da gewesen. Von daher spricht gerade im Sport Prozent der Summe des Auftrages, der „an vieles für den juristischen Grundsatz, von Tatsa- Land gezogen“ werden soll (Müller 2002, S. SKANDALE AUCH IN DER BELIEBTESTEN chen nur auszugehen, wenn rechtskräftige Ur- 492 u. 495), eingesetzt werden. Im Falle der SPORTART teile vorliegen – und den Bericht über Fälle, in Münchener Allianz-Arena floss „nur“ ein Pro- denen lediglich Verdachtsmomente vorliegen, zent. Und die Gelder, welche Spieler und Fußball, die beliebteste aller Sportarten, ist entweder zu unterlassen oder aber die beteilig- Schiedsrichter im deutschen Fußball-Wett- eine jener Sportarten, die relativ stark von ten Personen weitestgehend zu schonen. Aller- skandal von 2004/2005 erhielten, waren im Skandalen und Spielmanipulationen1 betrof- dings gibt es aus polit-ökonomischer Sicht ei- Vergleich zu den Wettgewinnen, welche die fen ist. Tabelle 1 zeigt, dass nicht bis zum nen Aspekt, der dafür spricht, sich explizit auch inzwischen verurteilten Wettbetrüger um den Bundesliga-Skandal von 1971/722 zurückge- mit den Verdachtsmomenten zu befassen: Die Kroaten Ante Sapina erzielten, fast lächerlich. griffen werden muss,3 um diese bedauerliche tatsächliche Korruption in einer Gemeinschaft Erst recht gilt dies im Vergleich zu dem Scha- Aussage zu untermauern. Selbst bei Beschrän- hängt über den Mechanismus der „Self-fulfil- den, der durch den Skandal ausgelöst wurde9 kung auf das noch recht junge 21. Jahrhundert ling prophecies“ positiv von der allgemein wahr- – selbst im Falle von Robert Hoyzer, welcher ist die Anzahl der Skandale und Schiedsrich- genommenen bzw. empfundenen Korruption die Annahme von 50.000 Euro gesteht (o.V. teraffären beeindruckend hoch. ab. Eine Wahrnehmung, dass die Korruption 2005t) bewegen sich die Gelder im Promille- Es wird deutlich, dass der Fußballsport welt- weit verbreitet ist, senkt die Moralschranken der bereich. weit4 von der Korruption betroffen ist. Die Menschen und erhöht so die Korruption. Fünftens dürfen die obigen Schilderungen von Fußball-Korruptionsfälle lassen sich dabei zu- Es muss explizit beachtet werden, dass sich Ta- aktuellen Korruptionsskandalen nicht ohne nächst in zwei Arten unterteilen: Regelmäßig belle 1 und die folgenden Ausführungen zu- Weiteres in die Richtung interpretiert werden, – aber nicht ausschließlich – dominiert in den mindest teilweise auch auf Fälle erstrecken, in dass die Korruption ein in jüngerer Zeit ver- Ländern, in denen die Wettmärkte weniger denen noch keine rechtskräftigen Urteile, son- stärkt auftretendes Phänomen im Fußball sei – entwickelt sind, die Korruption mit dem Ziel, dern lediglich Verdachtsmomente bestehen. möglich ist, dass lediglich die öffentliche Auf-

50 Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball

TAB. 1: KORRUPTION(SVERDACHTSFÄLLE) IM FUßBALLSPORT

Lfd. Nr. Zeitperiode Land Art der Korruption(sverdachtsmomente) Gegenmaßnahmen Literaturquelle der Korrution 1 andauernd China Vorwürfe, dass praktisch kein einziges Fußball- Schiedsrichter J. Gong wegen Bestechlichkeit Ashelm (2005), Ligaspiel unmanipuliert laufe. FIFA-Schiedsrichter zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Drei Spie- Deong (2004), J. Gong hat in den Jahren 2000 und 2001 insge- ler des FC Chongqing Lifan wegen Absprachen ZDF (2003) samt 50.000 y von Buchmachern erhalten, damit gesperrt. er Spiele in der chinesischen Liga manipuliere. 2 2005 Finnland Finnischer FC Alianssi soll Punktspiel absichtlich UEFA, finn. Fußballverband und Staatsanwalt- o.V. 2005h (hoch) verloren haben. Eigentümer des FC ist der schaft ermitteln. Erkki Alaja, Präsident des FC Chinese Zhenyun Ye, der auch ein Wettbüro besitzt. Alianssi, und ein weiteres Vorstandsmitglied treten zurück. 3 bis 2005 Brasilien FIFA-Schiedsrichter Periera de Carvalho und Ge- Elf Erstliga-Spiele wurden vom Verband annu- o.V. 2005b, i schäftsmann Fayad geben zu, bis zu elf Erstliga- liert. Diese Annulierung wurde allerdings von und j spiele manipuliert zu haben. Schiedsrichter Paulo einem Gericht aufgehoben. Lebenslange Sperre Danelon gibt Manipulation von 4 Partien in der für Carvalho. Regionalmeisterschaft von São Paulo zu. Pro Spiel sollen 3.700 bis 5.550 y geflossen sein. 4 Saison 2004/5 Türkei Der Nationalmannschaftsspieler Gökdeniz Zehnmonatige Spielsperre für Gökdeniz o.V. 2005k Karadeniz (Trabzonspor Istanbul) gibt zu, Karadeniz. mehrere Partien manipuliert zu haben, um Wetterlöse zu maximieren. 5 2004–2005 Polen Nicht näher publizierte Manipulation von Verhaftung des Vorsitzenden des oberschlesi- o.V. 2005l mehreren Begegnungen. schen Schiedsrichterverbandes und eines Schiedsrichters. Fußballverband richtet Ethik- Kommission ein, die bei Verdacht ermittelt. Vereinsungebundene Sonderbeobachter bei bestimmten Spielen. Schiedsrichter wohnen nur noch in vom Verband ausgesuchten Hotels. 6 2004 Russland/ Der Kapitän der lettischen Nationalelf Vitalijs o.V. 2005m Lettland Atsafjevs wirft dem russischen Fußballverband vor, versucht zu haben, den Ausgang des Spiels Lettland – Russland am 17.8.2004 (1:1) mit Geld zu manipulieren. 7 bis 2004 Deutschland Drei kroatische Wettspieler bestechen Schieds- DFB führt allgemeines Wettverbot für Spieler, o.V. 2005 n richter, Spieler und Vereinsfunktionäre und mani- Schiedsrichter und Funktionäre ein und über- und o pulieren mehrere Pokal- und Ligaspiele mit dem legt die Einführung einer eigenen Wette. DFB Ziel, Wetterlöse zu maximieren. Nach Hoyzer war sperrt mehrere Schiedsrichter und Spieler. es bis vor zwei Jahren üblich, dass Schiedsrichter HSV erhält Entschädigung (0,5 Mio. y bar und auf Kosten der Vereine zu Bordellbesuchen einge- ein Länderspiel) im Wert von insg. rd. 2 Mio y. laden wurden. Anklage gegen Schiedsrichter Hoyzer und Marks, Spieler Stefen Karl und drei Wettspieler. Hoyzer erhält zwei Jahre und fünf Monate Haft, der Wettspieler Sapina sechs Monate mehr. Spätere Anklagen gegen weitere Schiedsrich- ter(betreuer) wahrscheinlich. 8 bis 2004 Italien FC Genua erkauft sich Sieg gegen AC Venedig, Freisprüche für FC Chievo Verona, FC Modena Schümer 2005, um aufzusteigen. Großteil der Erstligavereine und deren Funktionäre. Zwangsabstieg des o.V. 2005p im Verdacht, Fußballspiele in höchsten Ligen Erst-Ligisten FC Genua in die dritte Liga. zu Wettzwecken zu manipulieren. Dessen Vereinspräsident Preziosi tritt zurück. Ansonsten lediglich geringfügige Bußen gegen 34 verwickelte Spieler und 19 Vereine. Staats- anwaltschaft nimmt Ermittlungen gegen na- mentlich nicht genannte Schiedsrichter auf. 9 bis 2004 Südafrika 34 der 40 bestqualifizierten Schiedsrichtern des Zwei Verbandsangestellte und die meisten der o.V. 2004d und Südafrikanischen Fußballverbandes wird vorge- Schiedsrichter werden verhaftet und gesperrt. 2005q worfen, Spiele der höchsten Ligen für 3.000 Rand Der südafrikanische Fußballpräsident Trevor (normales Monatsgehalt) bis 40.000 Rand Phillips denkt darüber nach, ausländische (5.300 y, Top-Gehalt) manipuliert zu haben. Die Schiedsrichter einzufliegen. Bislang keine An- meisten sind geständig. klage erhoben. 10 bis 2004 Tschechien 30 Schiedsrichter sollen Spielergebnisse der ersten Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen gegen o.V. 2004e, Liga für je 1.000 - 6.000 y im Auftrag von Ver- 16 Schiedsrichter und einen Funktionär auf. Huber 2005 einsfunktionären manipuliert haben, die Wettein- Zwölf Schiedsrichter wurden Zahlungen bereits nahmen maximieren oder ihren Tabellenplatz ver- nachgewiesen. Punktabzüge und Geldbußen bessern wollten. 14 der 16 Erstligavereine sind für bestechende Vereine, insb. Erstliga-Absteiger betroffen. Victoria Zizkov . Der tschechische Ligaausschuss bestraft sechs Schiedsrichter und zwei Funktio- näre mit Sperren und Geldstrafen.

51 RAINER KOCH / WOLFGANG MAENNIG

FORTSETZUNG TAB. 1: KORRUPTION(SVERDACHTSFÄLLE) IM FUßBALLSPORT

Lfd. Nr. Zeitperiode Land Art der Korruption(sverdachtsmomente) Gegenmaßnahmen Literaturquelle der Korrution 11 2005 Frankreich Mindestens ein Spieler des FC Metz soll ein Ange- Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Liga und o.V. 2005a bot zur Manipulation des Spieles gegen den der nationale Verband haben sich als Nebenklä- Meister Olympique Lyon (0:4) erhalten haben. ger dem Verfahren angeschlossen und wollen vor eigenen Schritten die Ergebnisse der be- hördlichen Ermittlungen abwarten. 12 bis 2004 Portugal 150 Personen aus zehn portugiesischen Vereinen 16 Personen festgenommen. Anklage gegen Klemm 2005, der ersten bis dritten Liga geraten in Verdacht, Jose Antonio Pinto de Sousa, Vorsitzender der o.V. 2004b den Ausgang von Meisterschaftsspielen manipu- Schiedsrichterkommission, wegen Verdacht der und c liert zu haben. Manipulation in 21 Fällen. 13 bis 2001 Brasilien Nationaltranier Wanderley Luxemburgo beruft Luxemburgo wird entlassen. Reuters (2001) Spieler in die Nationalmannschaft mit dem Ziel, deren Marktwert zu erhöhen und erhält hierfür Schwarzgelder von den Spieleragenten. 14 2000 Singapur Der deutsche Lutz Pfannenstiel (Torwart) und sein Anklage der Korruption beider Spieler durch o.V. (2001a S-League australischer Mitbewohner Mirko Jurilji (Verteidi- das „Corrupt Practices Investigation Bureau“ in und b) (Nationale ger) sollen Gelder von Buchmachern akzeptiert Singapur am 30. Juli 2000. Obwohl Lutz Pfan- Liga) und versucht haben, Spiele mit eigener Beteiligung nenstiel der Gelderhalt nicht nachgewiesen in der S-League zu verschieben. werden konnte, wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt. Mirko Jurilji unterzeichnete ein Schuldgeständnis, da man ihm versprach, ihn darauf frei zu lassen. Bei Gericht konnte ihm nicht nachgewiesen werden, dass er an etwai- gen Schiebungen beteiligt war, jedoch wurde er aufgrund seines Geständnisses zu fünf Mona- ten Haft verurteilt. Nach ca. vier Monaten wur- den beide aus der Haft entlassen. Außerdem wurden sie aus ihren Verträgen mit ihrem da- maligen Verein entlassen und von der Singapore Football Association lebenslang gesperrt. Die FIFA widersprach einer weltweiten Sperre und verkürzte sie zudem auf ein Jahr, gültig ab dem Tag ihrer Verurteilung im August 2000. Zukünf- tig will die Singapore Football Association Lü- gendetektoren einsetzen. Jeder Liga-Spieler soll sich zur Teilnahme an den Tests verpflichten. 15 2000 Rumänien Am Vorabend des UI-Cup-Spiels FC Ceahlaul Das Disciplinary Committee der UEFA sperrte Bancroft- (Rumänien) – Austria Wien am 15. Juli 2000 Gheorghe Stefan, Präsident des FC Ceahlaul Hinchey (2001); wurden dem französischen Schiedsrichtergespann und Florin Chivulete für ein Jahr. Chivuletes Zgârdea (2002); vom rumänischen Schiedsrichter-Kollegen Florin Strafe wurde nachträglich noch mal um ein Kicker Online Chivulete vergeblich die Dienste von drei Prosti- Jahr verlängert. Der FC Ceahlaul zog dennoch (2003). tuierten angeboten. Im UI-Cup können sich drei in die nächste Runde ein. Für das folgende Jahr Mannschaften nachträglich für den UEFA-Cup wurde der Verein allerdings für ein Jahr von qualifizieren. sämtliche Wettbewerben ausgeschlossen. Als der FC Ceahlaul anlässlich eines Spieles ge- gen Dynamo Bukarest am 10. März 2002 erneut der Absprache des Spielausgangs überführt wurde, erfolgten Geldstrafen und Punktabzüge. Der Rumänische Fußballverband hat seit 1999 verfügt, dass das Prestigeduell zwischen Rapid Bukarest und Steaua Bukarest von ausländi- schen Schiedsrichtern gepfiffen wird, um den Korruptionsvorwürfen gegenüber den Schieds- richtern vorzubeugen. 16 2002-2003 TSV Mün- Beim Bau des neuen Fußballstadions von Bayern Wildmoser jun. zu viereinhalb Jahre Haft o.V. 2004a und chen 1860 München und TSV München 1860 erhielt Wild- verurteilt; ein Komplize zu zwei Jahren auf 2005r moser jun. Prämien in Höhe von rd. 2,8 Mio. y Bewährung. dafür, dass er an die österreichische Baufirma Alpine-Mayreder Bau Salzburg GmbH Hinweise gab, welche es der Firma ermöglichten, den Bau- auftrag über 280 Mio. y zu erhalten. 17 k.A. Fortuna Verdacht, dass Stadionbau-Unternehmen Walter o.V. 2005s Düsseldorf / Bau auf Betreiben der Stadt 700.000 y an Fortuna Stadt Düsseldorf "gespendet" hat. Ein dem Schwieger- Düsseldorf sohn des Oberbürgermeisters gehörendes Unter- nehmen soll vor Zuschlagserteilung eine Verein- barung erzielt haben, Unteraufträge zu erhalten.

52 Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball merksamkeit für das Thema erhöht ist. Wenn- Grenzschaden anrichten, da im Allgemeinen Lauf hingegen, wo Frühstarts automatisch an- gleich mit zunehmenden Finanzvolumina im erheblicher Ansehensverlust nicht nur für die gezeigt und der Zieleinlauf über Zielvideos und Fußballsport das Potenzial für eine zuneh- Täter, sondern für ihre gesamte Sportart ent- automatische Zeitmessung eindeutig doku- mende Korruption steigt (Maennig 2002), ist steht. Der Schaden kann gar den Sport allge- mentiert sind, werden hingegen kaum Ziel von auch zu beachten, dass aufgrund der in jünge- mein betreffen und durchaus über die Gren- Korruptionsattacken. Von erheblicher Bedeu- rer Zeit verbesserten Archivierungs- und in- zen des eigenen Landes hinaus anfallen: Mit tung bei der Bekämpfung der Korruption ist ternationalen Kommunikationstechnologien, dem jüngsten deutschen Fußball-Korrupti- deshalb die Schaffung einer hohen Transparenz Informationen auch über die Korruption im onsskandal hatte nicht nur die hauptsächlich (Tanzi 1998). Die recht radikalen Reformen des Sport besser verfügbar werden. Klare empiri- betroffene Zweite Bundesliga ein Problem; der Amateur-Weltboxverbandes AIBA, die in Rich- sche Belege zur These einer verstärkten Kor- Fall strahlte auf alle Ligen und (sicherlich ge- tung transparenter und nachvollziehbarer ruption im Fußballsport liegen jedenfalls bis- mindert) auf alle Sportarten aus. Schiedsrichterentscheidungen gehen, sind hier her nicht vor.10 Zudem sollte es möglich sein, die sozialen modellhaft.12 Grenzkosten der Vermeidung der Korruption In die gleiche Richtung gehen die Videoaus- im Sport letztlich relativ gering ausfallen zu wertungen in der Fortbildungsarbeit des DFB- KORRUPTION VERLETZT SPORTLICHE lassen. Die bisher im Fußballsport durchge- Schiedsrichterausschusses. Bei jedem Spiel der NORMEN UND WERTE führten, in Tabelle 1 angedeuteten Maßnah- ersten und zweiten Bundesliga ist ein erfahre- men, die meistens auf – teilweise unbegrenz- ner Ex-Schiedsrichter mit der Spielbeobach- Obwohl keine Beweise für ein trendmäßiges te – Wettkampfsperren der Täter hinauslaufen, tung betraut. Nach jedem Spiel nimmt er mit Ansteigen der Korruption im Sport und/oder bedeuten beispielsweise relativ geringe sozia- dem Schiedsrichtergespann eine Videoanalyse für eine Zunahme über das Korruptionsaus- le Grenzkosten der Korruptionsvermeidung. der Spielleitung vor und benotet die Spiellei- maß in anderen Lebensbereichen hinaus vor- tung des Schiedsrichters. Am Ende einer Sai- liegen, ist sie im (Fußball-)Sport besonders son entscheidet der DFB-Schiedsrichteraus- problematisch. Aufgrund der vorsätzlichen … ABER MIT VOLLER EFFIZIENZ schuss über Auf- und Abstieg der Schiedsrich- Verletzung der sportlichen Werte wie Fairness ter in den einzelnen Leistungsklassen.13 und leistungsorientierte, aber ansonsten er- Zudem bietet die Ökonomik Ansätze, wie die gebnisoffene Wettkämpfe wird der zentrale gesamten Kosten der Korruptionsvermeidung Sinn des Sportes nicht mehr erfüllt. Das Anse- systematisch klein gehalten werden können. KONTROLLSYSTEME UND hen des Sportes sinkt, potenzielle Athleten Bei der Zusammenstellung der Maßnahmen VERHALTENSKODIZES (bzw. beim Nachwuchs: deren Eltern) wenden gegen die Korruption im Sport sind diese Maß- sich vom Sport ab, Sponsoren stellen ihre nahmen so einzusetzen, dass das Verhältnis Verschärfte Kontrollen (d.h. erhöhte Entde- Unterstützung ein. Diese Form von „Kosten“ ihrer individuellen sozialen Grenznutzen zu ckungs- und Verurteilungswahrscheinlichkeit) entsteht spätestens mittelfristig dem gesam- ihren sozialen Grenzkosten identisch ist. und erhöhte Strafen beeinflussen die Ent- ten Sport und den Sportlern. Deshalb er- Selbst wenn also beispielsweise eine Maßnah- scheidungskalküle der potenziell Korrupten scheint es angemessen, wenn der Präsident me doppelt so wirksam ist wie eine andere tendenziell in Richtung eines sauberen Verhal- des Internationalen Olympischen Kommitees (exakter: doppelt so hohe Grenznutzen hat), tens. Die Zusammenhänge zwischen Kontroll- Jacques Rogge (2005) festhält, dass die Kor- darf sie nur solange eingesetzt werden, wie sie system und Strafhöhe auf der einen und der ruption eine der größten Gefahren für den nicht mehr als das Doppelte der anderen Maß- Korruption auf der anderen Seite sind jedoch Sport ist. nahme an Grenzkosten auslöst. Die aus dieser komplexer als dies zunächst erscheint. Formulierung deutlich werdende Notwendig- Beim Kontrollsystem spielt zunächst die Bil- keit, die Wirksamkeit („Nutzen“) der Maßnah- dung eines klaren Verhaltenskodexes, an wel- DER KAMPF GEGEN DIE KORRUPTION men mit ihren Kosten zu relativieren, ist von chem das (Fehl-)Verhalten gemessen werden zentraler Bedeutung für den – aus ökonomi- kann, eine wichtige Rolle. Zudem ist die Mehr- Korruption dürfte diejenige Art von Unfairness scher Sicht – effizienzorientierten Kampf ge- schichtigkeit des Kontrollsystems von großer im Sport sein, die am stärksten ökonomisch gen Korruption im Sport. Bedeutung. Hierzu sind systematische interne bedingt ist. Aus den ökonomisch-theoreti- Bezüglich der Vermeidung der Korruption um Revisions- und Kontrollmaßnahmen durch hö- schen Erkenntnissen ergeben sich zunächst die Entscheidung von Orten von Großsport- here (Sport-)Instanzen notwendig. Hierbei ist die nachfolgenden zentralen Erkenntnisse be- veranstaltungen wäre es beispielsweise sinn- es wichtig, dass die höheren Instanzen direkte züglich der optimalen Anti-Korruptionspolitik voll, den Anteil der Familie des Sportes an den Verantwortung für eventuelle Vergehen ihrer im Sport (vgl. Maennig 2002, 2006). Fernseh- und Marketingerlösen weiterhin zu „Untergebenen“ tragen und über angemessene erhöhen, um Aussicht auf finanzielle Über- Anreizsysteme sichergestellt wird, dass die schüsse und/oder eine günstige Mitfinanzie- Kontrolleure bzw. Vorgesetzten nicht selbst NICHT UM JEDEN PREIS … rung städtischer Infrastruktur und somit die korrupt sind: Die erwartete Strafe verringert Anzahl der Bewerber und die Intensität des sich mit einem zunehmenden Anteil korrupter Maßnahmen zur Verringerung dieser und an- Wettbewerbs zu verringern. Die weiterhin (zu) Kontrolleure (Andvig/Moene 1990). derer Delinquenzformen sind nur in dem Um- hohe Zahl von Bewerbern für wichtige Wett- Ferner sind unabhängige Beschwerdeinstan- fang anzuwenden, wie die sozialen (Grenz-) kämpfe in vielen Sportarten zeigt, dass solche zen, unabhängige Untersuchungsinstitutio- Kosten11 , die bei der Planung und Durchfüh- Wettkämpfe noch immer (zu) profitabel für die nen, Anonymitätszusicherungen, unter Um- rung der Gegenmaßnahmen entstehen, die Ausrichter bzw. deren Städte sind. ständen gar Prämien für sachdienliche Hin- aus ihnen resultierenden sozialen (Grenz-) weise14 und eine freie Presse bedeutsam (vgl. Nutzen (z.B. eingesparte (Image-)Schäden für z.B. Bac 1998, S. 103). Schließlich können (be- den Sport, vgl. Maennig 2005) nicht überstei- HOHE TRANSPARENZ VERHINDERT dingte) Aufweichungen der Prinzipien von gen. Dieser Sachverhalt führt in der Literatur KORRUPTION Vertraulichkeit und geheimen Wahlen sinnvoll zur allgemeinen Delinquenz zu der Schlussfol- sein: Zur Erhöhung der Rechenschaft bzw. gerung, dass es in der Regel nicht das gesell- Was Maßnahmen zur Vermeidung der Wett- Verbesserung der Kontrolle sollten die Abstim- schaftliche Ziel sein kann, die Rate der Delin- kampfkorruption betrifft, sind einfache und mungen beispielsweise für Ausrichterstädte quenz auf Null zu senken. Mit anderen Wor- schnell nachvollziehbare Entscheidungen we- zwar für die Allgemeinheit weiterhin geheim, ten: Aus effizienzorientierter Sicht ist ein be- nig korruptionsgefährdet. Die in kompositori- für einen engen Kreis von zur Verschwiegen- stimmtes Maß an Delinquenz optimal – oder schen Sportarten bis vor kurzem üblichen heit verpflichteten Notaren jedoch namentlich mit freundlicheren Worten: tolerierbar. Schiedsrichterentscheidungen, beispielsweise nachvollziehbar sein. Im Falle von Korrup- Im Falle der Korruption im Sport spricht jedoch im Boxen und Eiskunstlaufen, waren mit erheb- tionsvorwürfen ist eine schnelle Überprüfung Einiges dafür, dass die „optimale“ Rate der lichen Freiheitsgraden verbunden – entspre- möglich, ob die Verdächtigten entsprechend Korruption gleich Null ist: Bereits ein erster chend tauchten in solchen Sportarten Korrup- gestimmt haben bzw. ihre Stimmen wahlent- Korruptionsfall kann signifikanten sozialen tionsfälle auf. Schiedsrichter im 100-Meter- scheidend waren.

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UNERWÜNSCHTE EFFEKTE HOHER SCHIEDSRICHTER ROBERT HOYZER STEHT AM STRAFEN? 18.10.2005 IM GERICHTSSAAL IM LANDGERICHT IN BERLIN MOABIT. VOR DEM LANDGERICHT MÜSSEN SICH Wenngleich hohe Strafen und großer öffent- DIE SCHIEDSRICHTER ROBERT HOYZER UND DOMINIK licher Druck das Ausmaß der Korruption in ih- MARKS, DIE KROATISCHEN BRÜDER FILIP, MILAN UND rer Häufigkeit reduzieren mögen, ist ein unge- ANTE SAPINA SOWIE EX-PROFI STEFFEN KARL IM wünschter Effekt hoher Strafen für den Besto- PROZESS ZU WETTMANIPULATIONEN IM DEUTSCHEN chenen zu beachten: Die von ihm erwarteten FUSSBALL VERANTWORTEN. picture alliance / dpa Kosten des korrupten Verhaltens können zu verstärkten Abwehr- und Geheimhaltungsme- chanismen sowie zu erhöhten Schmiergeldfor- derungen führen (Tanzi 1998, S. 18). Insofern gilt: Werden Bestochene stärker bestraft, so kann das Ausmaß an Korruption (allerdings (z.B. die Hälfte) der Entschädigungen laufend ausschließlich gemessen am Volumen der Be- ausgezahlt werden – der andere Teil könnte in stechungszahlungen) steigen. Eine erhöhte einen Fonds zur Alterssicherung eingezahlt Strafe für die Bestechenden wirkt hingegen werden. Die Ansprüche aus dem Fonds entfal- eindeutig in Richtung einer verringerten Kor- len gänzlich, wenn ein Schiedsrichter uneh- ruption (Bac 1998). Bei bestimmten Arten renhaft aus seinem Amt ausscheidet. Dieses von korruptionsanfälligen Entscheidungen im Vorgehen hätte zwei anreizkompatible Wir- Sport wären somit – in Anlehnung an straf- kungen. Erstens wird die generelle Empfäng- rechtliche Forderungen für den Unterneh- lichkeit aufgrund der verbesserten Einkom- mensbereich (o.V. 2000) – hohe Konventional- menssituation stark verringert. Zweitens ist strafen angemessen, die zuvor zu vereinbaren ein unehrenhaftes Ausscheiden mit erhöhten wären und beispielsweise über bei Einreichung finanziellen Nachteilen verbunden. Die Fonds- der Bewerbung zu hinterlegende Kautionen ge- lösung bewirkt, dass die Strafe unabhängiger sichert werden könnten. Sind – wie beim Fuß- vom (Dienst-)Alter des Funktionärs wirkt. Für ball-Wettskandal – Sportexterne die Beste- Jüngere wäre ein Ausschluss mit weit reichen- chenden, hilft dieses Mittel jedoch kaum. den zukünftigen Einkommensverlusten ver- bunden. Für Ältere, die nur noch geringe Verluste aus wegfallenden zukünftigen Auf- WIRKSAME STRAFEN UND wandsentschädigungen befürchten müssen, „PRÄVENTIVE“ ANREIZE wäre der Wegfall der jahrelang angesparten Fondsgelder schmerzhaft. Unter Beachtung dieser Einschränkung sollte untersucht werden, wie eine Bestrafung Be- stochener wirksamer ausgestaltet werden EHRENKODIZES, JOBROTATION UND kann als der bisherige, meist vorgenommene SCHIEDSRICHTERPOOL Ausschluss, der in den meisten Sportverbän- den schon immer und schon vor den etwaigen Von weiterer Bedeutung für die Bekämpfung Korruptionsfällen möglich war. Strafen in der Korruption im Sport sind Faktoren, die sich Form von Geldbußen haben dabei gegenüber unter dem Stichwort „institutionenökono- anderen Strafformen wie beispielsweise Haft- misch“17 zusammenfassen lassen: strafen den Vorteil, dass sie kaum soziale ■ Die historisch gewachsenen (Korruptions-) Ressourcen verbrauchen – m. a. W. nur zu al- Strukturen und die aufgrund dessen ge- lenfalls geringen Grenzkosten der Korrup- wachsenen grundsätzlichen Verhaltens- tionsvermeidung führen. Individuell bemesse- weisen und Wertvorstellungen determinie- nen Geldstrafen ist schon deshalb effizienter ren das aktuelle Korruptionsausmaß: Eine Weise häufig der Vorzug gegeben (Becker allseits hohe Korruption vermindert bei- 1968, S. 193ff.). Was die konkrete Ausgestal- spielsweise die von den korrupten Akteuren tungsform betrifft, so sind Schadensersatzan- wahrgenommenen Verluste an Reputation. sprüche aufgrund der Problematik der Scha- Wenngleich daraus der Schluss gezogen densbemessung (Maennig 2005) fragwürdig, werden könnte, dass es schwierig ist, einen nahme gegen Korruption angesehen, weil zumal sie beispielsweise bei der Veranstal- korrupten Sport zu bessern, zeigen Beispie- damit verhindert wird, dass die Vertrautheit tungskorruption nur im Zusammenhang mit le aus dem Bereich der allgemeinen Korrup- zwischen potenziell Bestechendem und Be- der zuvor skizzierten, verringerten Geheimhal- tionsbekämpfung (beispielsweise die öf- stochenem zu groß und die Entdeckungs- tung der Wahlen möglich wären. Klarer wäre fentlichen Verwaltungen von Hongkong wahrscheinlichkeit kleiner wird.18 Insofern die vertragliche Vereinbarung von Konventio- und Singapur, vgl. Tanzi 1998, S. 16), dass könnten die Entscheidungen des Interna- nalstrafen. Auch diese laufen allerdings ins eine relativ rasche und deutliche Verände- tionalen Olympischen Komitees zur Be- Leere, wenn das geringe Einkommen der Be- rung der Korruptionsmentalität mit glaub- grenzung der Amtszeiten auch für andere stochenen ein wesentlicher Grund für deren würdigen Maßnahmen möglich ist. Die in Verbände vorbildlich sein. Die gleiche Wir- Empfänglichkeit war. Da Personen, die am Tabelle 1 genannten Sportinstitutionen ha- kung erzielt auch die relative frühe „Pen- (wirtschaftlichen) Erfolg ihrer Tätigkeit be- ben in der Regel in effizienter Weise Ehren- sionierung“ der Schiedsrichter im Fußball, teiligt werden, weniger korruptionsanfällig kodizes erarbeitet, Manipulation als Sport- wenngleich Motivation für die Altersbe- sind,15 könnte es sich im Falle des Sportes des- straftatbestand definiert und Aufklärungs- grenzung bei Bundesligaschiedsrichtern die halb anbieten, die ehrenamtlichen oder nur re- material produziert, welches verdeutlicht, an den einzelnen gestellten hohen körper- lativ gering entlohnten Tätigkeiten von Funk- dass korruptes Verhalten die schlechte Aus- lichen Anforderungen sind.19 tionären und Schiedsrichtern durch eine (hö- nahme ist. Die (Grenz-)Kosten dieser Form ■ Vornehmlich Projekte, bei deren Entschei- her) entlohnte Tätigkeit abzulösen. Beispiels- der Maßnahmen zur Erhöhung der morali- dungen eine geringe Anzahl von Entschei- weise könnte Schiedsrichtern eine pauschale schen Schwellen sind relativ gering und so- dungsträgern involviert ist, sind korrup- Aufwandsentschädigung gezahlt werden, die mit effizient. tionsanfällig: Bei einer hohen Anzahl von über der Marktentlohnung für vergleichbare ■ Jobrotation bzw. die Begrenzung der Amts- Entscheidungsträgern wird der Beste- Tätigkeiten liegt.16 Allerdings sollte nur ein Teil zeiten werden teilweise als sinnvolle Maß- chungsversuch relativ teuer, besonders

54 Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball

Bund schloss Hoyzer und Sapina aus dem Ver- desliga ergibt sich für diese eine Entschädi- band und seinen angeschlossenen Vereinen gung, die über eine Saison gerechnet in die aus. Andere Schiedsrichter und einige Spieler Höhe eines mittleren fünfstelligen Eurobetra- wurden zeitweilig gesperrt. Wieder andere, ges gelang.22 Bei Schiedsrichtern in den dar- auch der schnell in Verdacht geratene und unter liegenden Ligen ist die Entschädigung später vom Landgericht Berlin zu einer Frei- hingegen deutlich geringer. Schon in der Re- heitsstrafe von einem Jahr und sechs Mona- gionalliga, der halbprofessionellen dritten Liga ten auf Bewährung verurteilte Schiedsrichter erhalten Schiedsrichter nur noch eine Vergü- Dominik Marks,20 entzogen sich der Sportge- tung von 210 Euro pro Spiel. richtsbarkeit des DFB bis auf weiteres durch ihren Austritt aus den Mitgliedsvereinen (Koch 2006). VERBÄNDE LEHNEN TECHNISCHE Zum anderen nahm der DFB eine sportpoliti- HILFSMITTEL AB sche Aufarbeitung vor. Der außerordentliche Verbandstag des DFB beschloss am 28.4.2005, Der verstärkte Einsatz von technischen Mitteln keine 100 Tage nach Bekanntwerden des Skan- zur Überprüfung des Schiedsrichterverhaltens dals, eine Reihe von entsprechenden Anträ- wurde (im Gegensatz beispielsweise zur AIBA gen, unter anderem auch Satzungsänderun- und zur ISU) nicht umgesetzt, obwohl er tech- gen (vgl. auch im Folgenden DFB 2005a und nisch denkbar wäre. Mit Minisendern im Fuß- 2005b sowie Koch 2006). So wurde erstmals ball und in den Schienbeinschonern in Zu- der Begriff der Spielmanipulation ausdrück- sammenhang mit 3-D-Ortungssystemen und lich definiert (Beeinflussung des Verlaufs bzw. einer Videoaufzeichnung wären automatische des Ergebnisses eines Spiels durch wissentlich Torprüfungen und Abseitsmeldungen und die falsche Entscheidungen, um sich oder anderen sofortige Korrektur von Fehlentscheidungen Vorteile zu verschaffen) und als speziell nor- und Objektivierung der Schiedsrichterent- mierter Sportstraftatbestand und Einspruchs- scheidung möglich (Whitfield 2002, Miller grund verankert. Zur Aufarbeitung des Wett- 2003). Bei der Fußball-WM der Unter-17-Jäh- und Manipulationsskandals war das DFB- rigen vom 16.9. bis zum 2.10.2005 wurden Sportgericht noch gezwungen, auf den Gene- diese technischen Hilfsmittel bereits einge- ralklauseltatbestand des unsportlichen Ver- setzt (o.V. 2005c), jedoch verliefen die Tests haltens zurückzugreifen.21 Zudem wurde ein angesichts zu häufiger technischer Probleme direktes und indirektes Wettverbot verhängt nicht erfolgreich und ein Einsatz bei der Fuß- für Spieler, Trainer und Funktionsträger für ballweltmeisterschaft 2006 wurde von der Spiele, an denen sie beteiligt sind. Für Schieds- FIFA abgelehnt. richter gilt ein Wettverbot für alle Spiele in Li- Dass die Fußballverbände technischen Hilfs- gen, in denen sie aktiv sind. mitteln bislang weitgehend ablehnend gegen- Zudem veranstalteten DFB und Deutsche Fuß- überstehen, liegt vor allem an dem grund- ball Liga (DFL) ein Treffen mit zahlreichen eu- sätzlichen Einwand, dass Fußball in allen Liga- ropäischen Buchmachern und Wettanbietern, niveaus immer gleich sein müsse und das Prin- welches mit einem Zusammenschluss zu ei- zip der Tatsachenentscheidung zum Schutz nem neuen Frühwarn- und Reaktionssystem, der Autorität der Schiedsrichter nicht aufge- der Vereinbarung zum Austausch von Daten weicht werden dürfe. Hinzu komme, dass es in und der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft einem Fußballspiel zu oft zu nicht eindeutigen der Beteiligten endete. Schließlich wurde ein Spielsituationen komme und der Spielfluss bei Antrag verabschiedet, der die Einführung einer häufigen Spielunterbrechungen zu sehr ge- eigenen Fußball-Wette ab der Saison 2006/ stört werde Die Erfahrungen aus dem Ame- 2007 offen hält, wobei jedoch ein entspre- rican Football, wo Schiedsrichterentschei- chendes (deregulierendes) Urteil des Bundes- dungen auf Antrag einer Mannschaft einige verfassungsgerichts abgewartet werden soll. Male in einem Spiel zur Überprüfung durch Im Moment ist nicht erkennbar, dass eine ei- den Schiedsrichter nach Videobetrachtung ge- gene Fußballwette in absehbarer Zeit einge- bracht werden können, sollten in der Zukunft führt werden würde. Anstoß für experimentelle Tests sein. Dann entdeckungsgefährdet und in seinem Er- Erneut der Vollständigkeit halber soll auf die wäre herauszufinden, ob der Unterschied der folg kaum kontrollierbar. Insofern ist bei- (unveränderte) Vergütung der Schiedsrichter Sportarten (beim American Football ist das spielsweise eine angemessen hohe Anzahl des DFB bzw. der DFL eingegangen werden, Spiel ohnehin nach jedem Spielzug für einige von Schiedsrichtern wichtig, die eventuell welche in Tabelle 2 zusammengefasst ist. An- Zeit unterbrochen) einer Einführung von Vi- erst kurz zuvor aus einem Pool heraus be- gesichts von 20 Schiedsrichtern der 1. Bun- deoüberprüfungen23 grundsätzlich entgegen- stimmt und (noch kurzfristiger) wieder ge- wechselt werden können.

TABELLE 2: VERGÜTUNGEN DER SCHIEDSRICHTER DER ANTI-KORRUPTIONSKAMPF DES DFB Pokalspiele Der Manipulations- und Wettskandal im Deut- wenn Heim- wenn Heim- wenn Heim- schen Fußball (Fall 7 in Tabelle 1) führte zum verein in verein in verein in einen zu einer umfangreichen Aufarbeitung Bundesliga 2. Bundesliga Bundesliga 2. Bundesliga Amateurligen sowohl durch die DFB-Sportgerichtsbarkeit als Schiedsrichter 3068 1534 3068 1534 767 auch durch ordentliche Gerichte. Im Rahmen dieser Bearbeitung wurden die Hauptakteure Schiedsrichter- wie der Schiedsrichter Robert Hoyzer und der assistenten 1534 767 1534 767 383,5 Wettspieler Ante Sapina zu Haftstrafen von Vierter Offizieller 750 750 375 187,5 zwei Jahren und fünf bzw. elf Monaten verur- teilt (Reinsch 2005). Der Deutsche Fußball- Quelle: DFB, Schreiben des Justiziars Goetz Eilers vom 10.10.05.

55 RAINER KOCH / WOLFGANG MAENNIG steht. Bis auf weiteres ist allerdings nicht mit grundlegenden Neuerungen zu rechnen: „As long as I am president, there will be no video evidence” (Zitat Blatter, o.V. 2005f). Die zentrale Rolle von Wettverboten in den Antikorruptionsmaßnahmen ist auch aus an- deren Ballsportligen bekannt. So hat der italie- nische Fußballverband, seit langem Opfer von Wettskandalen (Schümer 2005), jüngst ein umfassendes Wettverbot mit Sperrandrohun- gen von bis zu eineinhalb Jahren beschlossen (o. V. 2005g). Auch in den US-amerikanischen College-Sportarten, die jahrzehntelang von Wettskandalen betroffen waren, sind Wettver- bote die zentralen Gegenmaßnahmen.

SCHLUSSPLÄDOYER: BEKÄMPFUNG VERHINDERT SOZIALE SCHÄDEN

Auch unter Beachtung von erheblichen Dun- kelziffern ergibt sich kein Nachweis, dass die Korruption im Fußballsport zunimmt oder im Vergleich zur Korruption in anderen Bereichen DER ITALIENISCHE STAR-SCHIEDSRICHTER PIERLUIGI COLLINA IST EIN SINNBILD FÜR DIE HERREN IN SCHWARZ – DIE menschlicher Aktivitäten ein größeres Aus- UNBESTECHLICHEN GEHILFEN DER REGELKUNDE IM FUSSBALL. picture alliance / dpa maß aufweist. Diese Relativierung darf nicht als Plädoyer für eine weniger stringente Kor- ruptionsbekämpfung im Fußball verstanden werden. Im Gegenteil: Es spricht einiges dafür, und deren Einstufung als Sportstraftatbestand sollten klare Ehrenkodizes erarbeitet wer- dass die allgemeine Erkenntnis zur Delin- sowie die Koordinierung der Wettanbieter in den, aus denen nicht erwünschte (und quenz, wonach die optimale Delinquenzrate Richtung eines Frühwarnsystems, an welchem strafbare) Verhaltensweisen eindeutig ab- nicht Null sein muss, im Falle der Korruption die Wettanbieter ohnehin ein Interesse haben lesbar sind. In den meisten Fußballverbän- im Sport in dieser allgemeinen Form nicht gilt: sollten, bedeutsam. Das Wettverbot für Spieler den existieren solche Kodizes für das Ver- Bereits ein erster Korruptionsfall kann signifi- und Schiedsrichter erscheint hingegen als eine halten auf den Spielfeldern. Im Verhalten kanten sozialen (Grenz-)schaden anrichten, da Selbstverständlichkeit, die jedoch den jüngsten von Funktionären und Sportlern unterei- im Allgemeinen erheblicher Ansehensverlust Skandal nicht verhindert hätte: Die inzwischen nander sowie in Bezug auf Externe wie nicht nur für die Täter, sondern für ihre ge- belangten Schiedsrichter und Spieler haben – Sponsoringpartner und Medien gilt dies samte Sportart, gar für den Sport allgemein, bis auf geringfügige Ausnahmen – nicht selber hingegen noch nicht überall.24 Es wäre des- und durchaus über die Grenzen des eigenen gewettet. halb wünschenswert, wenn Sport, Wirt- Landes hinaus anfallen können. Zudem zeigen schaft und Medien unerwünschte gegen- die bereits von Sportverbänden durchgeführ- seitige Verhaltensweisen klar kodifizieren. ten bzw. potenziellen weiteren Maßnahmen, ZUSÄTZLICHE EFFIZIENTE MASSNAHMEN ■ Die Überschüsse in den Austragungsstäd- dass die sozialen (Grenz-)kosten der Vermei- ZUR BEKÄMPFUNG ten aus der Veranstaltung von Fußballgroß- dung der Korruption im Sport bei geschickter veranstaltungen wie Welt- und Europa- Zusammenstellung der Maßnahmen letztlich Aus ökonomischer Sicht könnten diese Maß- meisterschaften sollten verringert werden, relativ gering gehalten werden können. Aus nahmen zur Bekämpfung der Korruption durch indem die Familie des Sports noch stärker dem Kalkül, dass die Korruptionsbekämpfung zusätzliche effiziente Maßnahmen ergänzt an den monetären Vorteilen beteiligt wird.25 solange ausgedehnt werden soll, bis deren so- werden. Regelmäßig gehören hierzu: Die Verringerung des Überschusses ist so ziale Grenzkosten dem Grenznutzen der Kor- ■ Dort, wo dies (teilweise, weil man es für un- lange fortzusetzen, bis die Bewerberzahl ruptionsbekämpfung entsprechen, dürfte sich nötig erachtet) noch nicht geschehen ist, hinreichend stark sinkt. Bewerberstädte aus eine Korruptionsrate, die nur insignifikant von Null verschieden ist, ergeben. Es verbleibt weiterhin die zentrale allgemeine Erkenntnis, dass bei der Zusammenstellung des Policy-Mixes der Anti-Korruptionsmaß- UNSERE AUTOREN mann), von 1995-2001 Vorsitzender des nahmen das Verhältnis der Grenznutzen der Deutschen Ruderverbandes und wurde in individuellen Maßnahmen zu deren Grenzkos- Prof. Dr. Wolfgang 2000 mit dem Olympischen Orden des IOC ten für alle Maßnahmen identisch sein muss – Maennig ist Inhaber ausgezeichnet. mit anderen Worten: Dass Antikorruptions- des Lehrstuhls für maßnahmen mit vergleichsweise hohen sozi- Volkswirtschafts- Dr. Rainer Koch ist alen Grenzkosten durch kostengünstigere zu lehre, insbesondere beruflich Richter ersetzen sind. Wirtschaftspolitik am Oberlandesge- Aus dieser Perspektive bieten sich mehrere An- am Department richt in München. sätze und Erkenntnisse, mit denen der bisheri- Wirtschaftswissen- Seit 1998 ist er eh- ge Kampf gegen die Korruption im Fußball ver- schaften der Univer- renamtlicher Vor- bessert werden kann. So ist den Fußballverbän- sität Hamburg. sitzender des den zwar zu attestieren, dass sie in den meisten Im Bereich der Sportgerichts des Fällen mit angemessener Geschwindigkeit Sportökonomie hat Deutschen Fußball- Anti-Korruptionsmaßnahmen ergriffen haben, er unter anderem zahlreiche regionalwirt- bundes (DFB) und die zumindest zum großen Teil grundsätzlich in schaftliche Studien zu Sportgroßveranstaltun- seit 2002 Beisitzer die richtige Richtung gehen. Beim Deutschen gen wie den Olympischen Spielen in Berlin in der Kontroll- und Fußballbund ist insbesondere die neu vorge- 2000 und Leipzig 2012 verfasst. Er war Olym- Disziplinarkammer des Europäischen Fußball- nommene Definition der Spielmanipulation piasieger in Seoul 1988 (Achter mit Steuer- verbandes (UEFA).

56 Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball

ärmeren Ländern könnten von der interna- schlag. Doch daran werden sich unsere Stürmer Ehrlich, I. : Crime, Punishment, and the market for Offen- ces. In: Journal of Economic Perspectives, 1/1996, S. 43-67. tionalen Sportfamilie gezielt subventioniert schon noch gewöhnen“ (o.V. 2005d). Huber, M.: Geld auf dem Parkplatz. In: Der Tagesspiegel werden. Und was die Geldstrafen betrifft, so dürften vom 31.1.2005, S. 21. ■ Die Auswahlverfahren für Sportveranstal- diese in den Augen vieler Sportenthusiasten Inglis, S.: Soccer in the dock. A history of british football tungsorte sollten transparenter gestaltet ebenfalls unangemessen sein.28 Ein Blick zurück scandals 1900 to 1965. London 1985 Isaac, N.: All the moves – a history of college basketball. werden. in den antiken Sport zeigt jedoch, dass die Idee New York 1984 ■ Insbesondere für Schiedsrichter und Funk- keineswegs neu ist. Im klassischen Olympia ISU International Skating Union (2003): Assessment of tionäre sollten verstärkte finanzielle Anreiz- wurden korrupte Athleten mit schweren Geld- Figure Skating Judges 2003/4, Lausanne. http://www.isu. org/visite/vfile/page/fileurl/0,11040,4844-143701-160917- mechanismen zur Korruptionsvermeidung strafen belegt. Sie hatten den Bau so genann- 46212-o-file,00.pdf. [Verfügbarkeitsdatum: 4.11. 2003]. geschaffen werden, indem ihnen für ihre Ak- ter „Schandsäulen“ („Zanes“) zu finanzieren, die ISU (International Skating Union) (2005), ISU Judging System for Figure Skating and Ice Dancing 2004/5: http:// tivitäten offizielle Vergütungen zufließen, die am Eingang des Olympiastadions postiert wur- www.isu.org/vsite/vcontent/page/custom/0,8510,4844- über den Marktlöhnen für vergleichbare Ak- den. Diese Säulen wurden aus erlesenen Mate- 152094-169310-31825-132302-custom-item,00.html tivitäten liegen. Es soll in diesem Zusammen- rialien von bekannten Künstlern gefertigt und vom 7.12.05. Kfouri, J.: Foul play in Brazilian football. In: Transparency hang darauf hingewiesen, dass der Fußball- kosteten ein Vermögen – eine hohe pekuniäre International (Ed.): Global Corruption Report 2001, S. 175. Wettskandal nicht etwa Spiele der ersten Strafe war gesichert. Wenn die Athleten nicht Kicker Online (2003): Messina pfeift das Stadtderby. Mel- Bundesliga betraf, sondern Ligen darunter, wo zahlen konnten, musste die entsendende Stadt dung vom 25.04.2003.

57 RAINER KOCH / WOLFGANG MAENNIG

O.V. (2004b): Erste Anklage im Bestechungsskandal. In: ANMERKUNGEN protokoll steht unmittelbar und unbeeinflussbar nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.4.2004, S. 31. Ende des Wettkampfes zur Verfügung. Von besonderer Be- O.V. (2004c): Bestechungsskandal erschüttert Portugal. 1 Die folgenden Ausführungen gehen nicht auf Skanda- deutung ist, dass die Software gleichzeitig die Kampfrich- http://www2.onsport.t- le wie beispielsweise Zuschauerausschreitungen etc. ein, ter nach festem Schema evaluiert. Die Software berechnet online.de/dyn/c/18/75/15/1875156.html [Verfügbar- sondern konzentrieren sich auf korrupte Verhaltensweisen die Schiedsrichterleistung „real time“ und gibt automati- keitsdatum: 7.5.2004]. im Fußballsport. Der Wett- und Manipulationsskandal des siert „Cautions“ und „Warnings“ bei abweichendem Kampf- O.V. (2004d): Aktion „Dribbling“: Schiedsrichter in Haft. Jahres 2005 war der erste deutsche Fall, in den Schieds- richterverhalten aus. Die gewichtete Anzahl von Cautions In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.7.2004, S. 32. richter verwickelt waren. In den Bundesligaskandal Anfang und Warnings, dividiert durch die Anzahl der Wettkämpfe als Wettkampfrichter, wird als Maßzahl für die Güte der O.V. (2004e): Sport in Kürze. In: Frankfurter Allgemeine der siebziger Jahre waren Schiedsrichter nicht involviert. 2 Wettkampfrichter herangezogen. Bei schwachen Leistun- Zeitung vom 6.8.2004, S. 34. 52 Spieler und 2 Trainer aus 9 Bundesligavereinen er- hielten jeweils zwischen 2.300 und 15.000 DM (laufende gen werden Schiedsrichter durch die Kampfrichterkommis- O.V. (2005a): Auch Frankreich von Wettskandal bedroht. sion des internationalen Amateurboxverbandes AIBA für In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.11.2005, S. 32. Preise). Ziel war die Manipulation von rund 18 Spielen im Auf- bzw. Abstiegskampf. Horst Canellas, der den Skandal weitere Wettkämpfe suspendiert (vgl. Bastian 2006). Die O.V. (2005b): Skandalsaison beendet: Titel an Sao Paulo. aufdeckte, erhielt lebenslanges Verbot, einen DFB-Verein Maßnahmen der AIBA ähneln in vielen Punkten denjeni- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.12.2005, S. 36. zu führen. Der DFB reagierte mit Geldstrafen sowie zu- gen der Internationalen Eiskunstlauf-Union (ISU), die ihr O.V. (2005h): Der Schleichwerbungsfindungswahrschein- nächst lebenslanger Lizenzentzug für alle betroffenen traditionsreiches Wertungssystems nach dem Skandal um lichkeitsfaktor. In: Der Tagesspiegel vom 14.8.2005, S. 30. Spieler und Trainer sowie fünf weitere Funktionäre. Die le- den Olympischen Eiskunstlauf von Salt Lake City 2002 O.V. (2005c): Mit Minisendern im Stutzen. In: Frankfurter benslangen Sperren wurden später in zeitlich begrenzte grundlegend geändert hat. Im deutschen Eishockey ist in- Allgemeine Zeitung vom 28.2.2005, S. 27. Sperren von durchschnittlich zwei Jahren innerhalb zwischen der Videobeweis eingeführt (Leyenberg 2005). 13 O.V. (2005d): Der Tag, an dem der Schiri richtig Kasse Deutschlands (für das Ausland galten keine Sperren) um- Das Beobachtungssystem des DFB konnte Robert Hoy- macht. In: Der Tagesspiegel vom 26.2.2005, S. 1. gewandelt, um einen zivilen Gerichtsentscheid zu vermei- zer zwar nicht von seinen Spielmanipulationen abhalten, den. Die Beteiligten durften nicht an der Fußball-WM 1974 war aber ausschlaggebend dafür, dass er dem Wettbetrü- O.V. (2005e): Präsident Blatter fordert Profi-Schiedsrichter. in Deutschland teilnehmen. Der am meisten belastete Ver- ger Ante Sapina schließlich Anfang Januar 2005 mitteilte, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.2.2005, S. 34. ein musste in die absteigen; vorerst keine weiteren Spielmanipulationen mehr vorneh- O.V. (2005f): News. In: Sport intern, vom 20.2.2005, S. 1. vgl. Blöhs (2003 und 2004); Bundesliga (2003); o. V. men zu wollen, da er den Abstieg als Schiedsrichter aus dem O.V. (2005g): Sport in Kürze. In: Frankfurter Allgemeine (2003b). Kreis der Erstligaschiedsrichter befürchtete. Zeitung vom 12.11.2005, S. 31. 3 Zu einem Überblick über Fußballskandale in anderen 14 Hierbei muss allerdings auf die Problematik „produzier- O.V. (2005h): Wettmafia aus China im finnischen Fußball?. Ländern vgl. beispielsweise Inglis (1985), Duke/Crolley ter“ Anschuldigungen geachtet werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.7.2005, S. 28. (2001) sowie Kfouri (2001). 15 Vgl. Mookherjee/Png (1995) sowie zum theoretischen O.V. (2005i): Gewalt und Korruption in Brazilien. In: 4 Dass für den australischen Fußballsport kein jüngerer Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Korruptionsan- sport1.de vom 18.10.2005, www.sport1.de/coremedia/ge- Korruptionsskandal bekannt ist, mag auch damit zu- reizen auch Cadot (1987), Klitgaard (1987), Besley/McLa- nerator/www.sport1.de/Fussball/International/Berichte sammenhängen, dass der Fußballsport dort keine ver- ren (1993), Bac (1998) und Tanzi (1998, S. 16), zur empi- [Verfügbarkeitsdatum: 23.10.2005]. gleichbar zentrale Rolle hat wie in anderen Erdteilen. rischen Überprüfung Ul Haque/Sahay (1996) sowie O.V. (2005j): Fernsehbeichte heizt Schiedsrichterskandal 5 Der bekannteste Fall war derjenige der Olympischen Ades/de Tella (1999). an. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.10.2005, S. Winterspiele 2002 von Salt Lake City, in dessen Gefolge 16 Zur Mikrofundierung solcher, über dem Marktniveau 38. Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees aus- liegender „Effizienzlöhne“ vgl. Becker/Singer (1974). O.V. (2005k): Kurze Mitteilungen In: Frankfurter Allgemei- geschlossen wurden und sich das IOC einer weitgehenden 17 Für eine grundlegende institutionenökonomische Ana- ne Zeitung vom 1.10.2005, S. 35. Strukturreform unterzog (vgl. Maennig 2002). lyse der Korruption vgl. Dietz (1998). O.V. (2005l): Bei Korruptionsverdacht Ethikkommission. 6 Vgl Maennig (2004; 2005 b; 2006). 18 Vgl. Bardhan (1997, S: 1338) sowie ausführlicher und In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.5.2005, S. 30. 7 Vgl Bac (1998) und Tanzi (1998), S. 9f. sowie auf den die Rotation stark befürwortend Abbink (1999). O.V. (2005m): Kurze Meldungen. In: Frankfurter Allgemei- Sport bezogen Maennig (2004; 2006). 19 Auf Grund des von älteren Schiedsrichtern erarbeiteten ne Zeitung vom 24.8.2005, S. 29. 8 Vgl. o. V. (2003a). Auch aus den Angaben für Deutsch- hohen Erfahrungsschatzes kommen immer wieder Forde- O.V. (2005n): Konflikt zwischen Oddset und DFB spitzt sich land von Rügemer (1996) lassen sich hohe Dunkelziffern rungen nach einer Heraufsetzung der Altersgrenze auf, zu- zu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.2.2005, S. für die allgemeine Korruption ableiten. letzt besonders intensiv im Fall des weltbesten Schiedsrich- 31. 9 Es gibt nur wenig Anhaltspunkte zur Bemessung des ters Pierluigi Collina (http:www.welt.de/z/plog/blog/php/ O.V. (2005o): 6000 Seiten Akten im Hoyzer-Prozess. In: entstandenen Schadens. Einer der wenigen: Der HSV er- sport_lieb_und_teuer/was_gefiel/2005/08/29/konsequent Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.10.2005, S. 29. hielt vom DFB Entschädigungsleistungen in Höhe von rd. vom 29.8.2005). 20 O.V. (2005p): Erstligist Genua muss in Dritte Liga. In: Der 2 Mio. Euro (http://www.dfb.de/news/suche.php?anfra- http://www.welt.de/data/2005/11/17/8505315.html? Tagesspiegel vom 28.7.2005, S. 22. ge=hamburg+pokal vom 11.2.2005), wobei der entstande- s=2 vom 17.11.2005 ne Schaden nur mittelbaren Bezug zur Spielmanipulation 21 O.V. (2005q): Chaos, Bestechung, Randale: WM-Ausrich- Damit verbunden waren zahlreiche verfahrensrechtliche hatte. Da der HSV aus dem Pokalwettbewerb ausschied, war ter Südafrika als Problemfall. In: Frankfurter Allgemeine Schwierigkeiten. So war auch die Spielmanipulation durch nur darüber zu spekulieren, wie viele weitere Spielrunden Zeitung vom 4.9.2005, S. 19. einen Schiedsrichter nicht ausdrücklich als Einspruchs- er bei einem Sieg gegen Paderborn im Wettbewerb verblie- grund normiert und heftig umstritten, ob die Einspruchs- O.V. (2005r): Viereinhalb Jahre für Wildmoser. In: Frank- ben wäre. Im Ergebnis einigten sich die Parteien auf Vor- frist nach Bekanntwerden der Spielmanipulationen nicht furter Allgemeine Zeitung vom 14.5.2005, S. 7. schlag des Sportgerichts auf einen Vergleich mit einem Ge- längst verstrichen war. Die Urteile zu den Einspruchsver- O.V. (2005s): Schwiegerpapa & Co. In: Stern, 44/2005, S. samtvolumen von ca. 2 Millionen Euro, das zu einem er- handlungen vor dem DFB-Sportgericht sind zusammenge- 244. heblichen Teil über die Vergabe eines Länderspiels der Na- fasst unter www.dfb.de - Newssuche in der Meldung vom O.V. (2005t): Fußball-Skandal: Razzia in Berlin. In: Der Ta- tionalmannschaft nach Hamburg finanziert wurde. 29.3.2005. gesspiegel vom 22.1.2005, S. 1. 10 Zur Frage, ob die allgemeine Korruption weltweit zuge- 22 In der Saison 2003/2004 erzielte Schiedsrichter Herbert Reinsch, M.: Robert Hoyzer ist entsetzt über das harte Ur- nommen hat oder ob nur die Wahrnehmung durch die Öf- Fandel mit ca. 84.000 Euro die höchsten Einkünfte; vgl. teil. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.11.2005, fentlichkeit gestärkt wurde, vgl. Tanzi (1998, S. 4ff.). Im http://morgenpost.berlin1.de/content/2005/01/26/sport S. 31. Zusammenhang mit den Themen „trendmäßige Entwick- /730951.html „Das verdienen Schiris“, Berliner Morgen- Reuters: Früherer brasilianischer Nationaltrainer Luxem- lung der Korruption im Sport“ bzw. auch „Dunkelziffer“ ist post vom 26.1.2005. burgo entlassen. Meldung vom 17.12.2001. http://fifa- übrigens sowohl der Olympische Boxskandal von 1988 (vgl. 23 In jedem Fall muss eine Videoüberprüfung ausschließ- worldcup.yahoo.com/02/de/011217/1/70.html. [Verfüg- die Einleitung des folgenden Abschnittes) als auch der lich dem amtierenden Schiedsrichter selbst vorbehalten barkeitsdatum: 12.1.2004]. Skandal von Salt Lake City interessant: Der Boxskandal war sein, damit das Prinzip der Tatsachenentscheidung keinen durch den Staatssicherheitsdienst der DDR dokumentiert, Rogge, J.: Rede vor dem Internationalen Olympia-Forum Schaden nimmt. wurde aber erst mit Offenlegung der „Stasi-Akten“ allge- in Frankfurt am 27.9.2005, auszugsweise veröffentlicht in: 24 Die FIFA hat aber die Grenze für zulässige Geschenke mein bekannt. Und was den Skandal um die Olympischen DSB Presse vom 4.10.2005, S. 23-25. auf 100 US-Dollar festgelegt (o. V. 1999). Winterspiele 2002 betrifft, so dürfte das US-Olympia-Be- 25 Rügemer, W.: Korruption in Deutschland. In: WSI Mittei- werberkomitee dem Vernehmen nach nicht das erste und Nicht übersehen werden darf jedoch, dass der strikte lungen 1996, S. 328-337. einzige gewesen sein. Spätestens seit 1991, zu Zeiten der Sponsorenschutz der FIFA und die damit verbundenen Res- Schümer, D.: Selbst deutsche Schiedsrichter sind ganz nor- Olympiabewerbungen für 2000, als Dossiers über die an- triktionen der WM-Ausrichterstädte zwar zur Einnahme- male Menschen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom geblichen Neigungen und Wünsche von IOC-Mitgliedern steigerung der Fußballfamilie führen, ihrerseits jedoch hef- 3.2.2005, S. 36. auftauchten, war das problematische Verhalten von eini- tig kritisiert werden, weil sich die Städte zu sehr eingeengt Tanzi, V.: Corruption around the world: causes, conse- gen IOC-Mitgliedern bekannt. Vgl. im Einzelnen Fuchs fühlen (z.B. Verbot des Ausschanks von bayerischem Bier quences, scope, and cures. IMF Staff Papers. 45/1998, S. (1999). an den WM-Standorten München und Nürnberg). 26 559-594. 11 Unter Grenzkosten verstehen Ökonomen die zusätz- Allerdings wurde das Bewusstsein für den Ermittlungs- Ul Haque, N., R. Sahay: Do government wages cuts close lichen Kosten bei der Erstellung eines zusätzlichen Gutes, bedarf der Staatsanwaltschaft erst nach einigen Tagen und budget deficits? Costs of corruption. IMF Staff Papers. hier beispielsweise die zusätzlichen Kosten bei der Verrin- einer ausdrücklichen Anzeige des DFB geschaffen, in deren 43/1996, S. 754-778. gerung der Korruption um ein Prozent. Folge die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Braun- 12 schweig an die Staatsanwaltschaft Berlin übergingen; vgl. Whitfield, J.: Micorowaves track football. Meldung vom Die AIBA führte 1989 für alle internationalen Wett- http://www.netzeitung.de/sport/bundesliga/322942.htm 6.11. 2002. http://www.nature.com/nsu/021104/021104- kampfhöhepunkte ein elektronisches Bewertungssystem l vom 26.1.2005. 6.html. [Verfügbarkeitsdatum: 13.1.2004]. (Boxpunktmaschine) ein, in welchem die fünf rund um den 27 Der Weltfußballverband FIFA zahlt seinen Präsidium- ZDF: Zehn Jahre Haft für Schiedsrichter in China. Meldung Boxring platzierten Kampfrichter jeden Treffer quittieren. Ein Treffer zählt nur, wenn ihn mindestens drei der fünf smitgliedern 50.000 US-Dollar pro Jahr; vgl. o. V. (2001c). vom 29.1.2003. http://www.heute.t-online.de/ZDFheu- 28 te/artikel/12/0,1367,SORT-0-2032012,00.html. Kampfrichter innerhalb einer Sekunde werten. Ein Video- Dies gilt insbesondere, wenn sie Wettkampfstrafen sub- kontrollsystem, welches den Wettkampf von allen vier Sei- stituieren sollen und somit als ein „Freikaufen“ interpre- Zgârdea, C.: Sanktionen im rumänischen Fußball. Sieben- ten zeitsynchron zur Boxpunktmaschine erfasst, ermög- tiert werden können. Insofern sollten Geldstrafen als Be- bürgische Zeitung Online vom 18.04.2002. http://www. licht es, im Nachhinein jeden gegebenen Treffer auf seine gleitung von Wettkampfstrafen ausgesprochen werden. siebenbuerger.de/sbz/sbz/news/1019118251,14857,.html. Richtigkeit zu überprüfen. Sämtliche Aktivitäten der [Verfügbarkeitsdatum: 7.1.2004]. Kampfrichter werden statistisch verarbeitet; das Ergebnis-

58 TOLERANZ GEGENÜBER MENSCHEN ANDERER HERKUNFT, RELIGION UND HAUTFARBE „ballance 2006“ – Integration und Toleranz für eine friedliche Fußballweltmeisterschaft

MICHAEL GLAMEYER

Menschen von Deutschland und von Hessen INFORMATION SCHAFFT IDENTIFIKATION Zur Fußballweltmeisterschaft werden machen können? Wie groß durfte das Vertrauen UND VERNETZUNG knapp drei Millionen Fans erwartet, da- sein, dass „wir“ dem Motto „Die Welt zu Gast bei von allein eine Million Fans und Schlach- Freunden“ gerecht würden? Und wie war das In einem ersten Schritt lud man über die Be- tenbummler aus dem Ausland. Gerade mit der Fremdenfeindlichkeit hierzulande, mit zirksfußballwarte zu sechs Informations- und die ausländischen Fans und Besucher Neonazis und Gewaltbereiten wie jenen, die Diskussionsabenden in den hessischen Fuß- werden sich ein Bild von Deutschland ma- 1998 in Lens den französischen Polizisten Da- ballbezirken in Kassel, Wiesbaden, Darmstadt, chen. Welches Bild aber werden sie sich niel Nivel fast zu Tode geprügelt hatten? Gießen/Marburg, in Frankfurt/Offenbach und von Deutschland machen können? Schaf- Fulda ein, an denen insgesamt 125 Kreis- und fen wir es, dem Motto „Die Welt zu Gast Jugendfußballwarte sowie Schiedsrichterob- bei Freunden“ gerecht zu werden? Be- DIE PROJEKTINITIATIVE männer und Frauenbeauftragte teilnahmen. reits im Vorfeld dieses Mega-Events ma- Ziel war es, systematisch und flächendeckend chen sich – nicht nur im Kreise der Innen- „Immerhin bleiben uns noch etwa sechs Jahre jene Multiplikatoren zu identifizieren, die an ministerkonferenz – Sorgenfalten breit: Zeit, etwas zu tun“, sagten sich die Verantwort- einer Vernetzung des gemeinsamen Engage- Wie soll mit gewaltbereiten, zumeist lichen des Hessischen Fußballverbandes (Präsi- ments gegen Gewalt im Jugendfußball und im jugendlichen Fans umgegangen wer- dent Rolf Hocke, Vorstand Stefan Reuß, stellver- Sinne der Projektziele interessiert waren, die den? Sind unsere Stadien sicher? Haben tretender Geschäftsführer Jens-Uwe Münker), da heißen Integration, Toleranz und Fair Play wir die unzähligen Schlachtenbummler der Hessischen Landeszentrale für politische für eine friedliche Fußballweltmeisterschaft. wirklich „im Griff“? Das 2001 ins Leben Bildung (der damalige Direktor Klaus Böhme Parallel wurden anlässlich der Jahreshauptver- gerufene Projekt „ballance 2006“ will in und Referatsleiter Jürgen Kerwer) und des ge- sammlung der Hessischen Jugendbildungs- und um Hessen auf einen friedlichen und meinnützigen Internationalen Bildungszen- werke in Witzenhausen ca. 50 hauptamtliche fairen Charakter der WM hinwirken. Mit trums Witzenhausen (Geschäftsführer Michael Bildungsreferenten informiert und zur Mitwir- vielfältigen Aktivitäten wird gerade jun- Glameyer). Ein Jahr später, im Herbst 2001, lag kung eingeladen. gen Menschen die Erfahrung vermittelt, ein detaillierte Projektplan vor, war mit der dass Fairness und Toleranz die bessere Al- Kunsthochschule „Universität Kassel“ ein an- ternative darstellen als Randale, Diskri- sprechendes Logo entwickelt worden und so PROJEKTZIELE UND VIELFÄLTIGE minierung und Gewalt. Michael Glamey- konnte man auf einer Landespressekonferenz AKTIVITÄTEN er schildert in seinem Beitrag die Projekt- im Hessischen Landtag in Wiesbaden der Öf- initiative und das Engagement der Ver- fentlichkeit ein Projekt vorstellen, das auf fünf In der Kooperation setzte man auf: antwortlichen und Beteiligten. Gerade Jahre angelegt (1.1.2002 –31.12.2006) und so- ■ bestehende Methoden (z. B. DFB-Kampag- die Projektziele und die Beschreibung lide finanziert war. Als Träger fungierten: ne „Fair ist mehr“, „Straßenfußball für Tole- einzelner Aktivitäten zeigen, dass sich ■ der Deutsche Fußball Bund (DFB – seit 2003); ranz“); Integration und Toleranz durchaus mit ■ der Hessische Minister des Innern und für ■ die gemeinsame Entwicklung neuer Kon- sportlichem Ehrgeiz verbinden lassen. Sport; zepte („Fair mit Pfiff“); ■ die Hessische Landeszentrale für politische ■ die regionale Verankerung und dezentrale Bildung (HLZ); Verantwortung der Netzwerkpartner und ih- ■ der Landessportbund Hessen (LSBH); rer Aktivitäten; ■ der Hessische Fußball Verband (HFV); ■ den Aufbau eines vom IBZW professionell „ballance 2006“ – HINTERGRUND UND ■ das Internationale Bildungszentrum Wit- koordinierten Netzwerks unter dem marken- ENTSTEHUNG zenhausen (IBZW). rechtlich geschützten Label „ballance 2006“; Als Förderer engagierten sich die Fraport AG, ■ die Präsentation aller Aktivitäten über ein „The winner is Deutschland“, verkündete FIFA- die Sparda-Bank Hessen und die Kfz-Innung. gemeinsames Internet-Portal (siehe: www. Generalsekretär Sepp Blatter am 6. Juli 2000 ballance2006.de); um exakt 14.07 Uhr, und diese Worte lösten ■ die Einbindung prominenter Förderer: als auch in Hessen große Freude aus. Erinnerungen Schirmherren wurden Weltmeisterin Steffi an 1974 wurden wach, an die „Wasserschlacht“ Jones und Vizeweltmeister Sebastian Kehl in Frankfurt mit dem entscheidenden Tor des gewonnen, als Toleranzbotschafter u. a. Mo- unvergessenen Gerd Müller, an Jürgen Gra- nika Staab, Armin Kraaz, Hanno Baltisch bowski und Bernd Hölzenbein und vor allem an (Hannover 96), Christoph Preuß (Eintracht ein farbenfrohes und friedliches Miteinander Frankfurt), Dragoslav Stepanovic, Lutz Wag- im sportlich-fairen Wettstreit eines großen ner (Bundesliga-Schiedsrichter). Auch Bernd Turniers. Der Freude jedoch folgte sogleich der Hölzenbein und Jürgen Grabowski engagier- Blick auf die vor uns liegende Dimension: Die ten sich nicht nur mit ihren Namen, sondern Fußballweltmeisterschaft ist nach den Olympi- durch Besuche bei den Veranstaltungen „auf schen Spielen das größte internationale Sport- dem flachen Land“ in ganz Hessen. ereignis der Welt. Keine Sportart wird in so vie- Die vielleicht wichtigste Prämisse war der Vor- len Ländern der Erde betrieben, wie das Fußball- satz, auf unbedingte Freiwilligkeit zu setzen, spiel. Weltweit, so schätzt man, spielen mehre- und damit ausschließlich Personen bzw. Struk- re hundert Millionen Jungen und Mädchen, turen „mitzunehmen“, die mit Begeisterung Männer und Frauen Fußball. und Überzeugung dabei waren und nicht „zum Zur WM 2006 werden knapp drei Millionen Fans Jagen“ getragen werden mussten. Dieses Prin- erwartet, davon allein eine Million aus dem Aus- zip sollte sich später mehr als einmal bewähren. land. Im Fernsehen werden die Spiele viele Milli- Soweit die Idee – doch Theorie und Praxis sind onen Menschen verfolgen und sich – im wahr- bekanntermaßen zwei Paar Stiefel. Würde es sten Sinne des Wortes – ein Bild von Deutsch- gelingen, in der Wirklichkeit des hessischen land machen. Welches Bild aber würden sich die Alltages anzukommen? Selbst ein Fundament

59 MICHAEL GLAMEYER

TABELLE 1: „ballance 2006“-VERANSTALTUNGEN VON NETZWERKPARTNERN Jugendbetreuern“ organisiert werden; mit ei- 2002/2003 2004 2005 Gesamt ner Co-Finanzierung durch die Deutsche Agen- tur JUGEND in Bonn und das Deutsch-Franzö- Anzahl Veranstaltungen 30 31 37 98 sische Jugendwerk. Kinder und Jugendliche 2.100 2.942 3.022 8.064 Hier ließ es sich der hessische Ministerpräsident davon Mädchen 500 561 780 1.841 Roland Koch nicht nehmen, die europäischen „Youngster“ höchstpersönlich in der Staats- davon Jungs 1.600 2.381 2.242 6.223 kanzlei in Wiesbaden zu empfangen und die Be- Multiplikatoren 220 477 341 1.038 deutung des Projekts zu erläutern: „Wir haben davon Frauen 70 172 101 343 ,ballance 2006‘ gemeinsam mit Trägern aus dem davon Männer 150 305 240 695 Fußball, der Politik, der Bildung und der Wirt- schaft gegründet, weil wir die Begegnung der Gäste (ca.) 3.500 6.835 3.090 13.425 jungen Generation im Zeichen von Integration und Toleranz für wichtig halten. Erfolgreich sind wir dann, wenn die Jugend zueinander findet, mit starken Trägern und einer gesicherten Ba- der Netzwerkpartner vor Ort kamen ca. 13.500 wenn sie sich austauscht, miteinander arbeitet sisfinanzierung über fünf Jahre garantierte Gäste (Publikum und Passanten) zu den Veran- aber auch Spaß hat. Wenn Sie gerne an Ihren den Erfolg nicht automatisch. Werfen wir ei- staltungen (vgl. Tabelle 1). Aufenthalt in Wiesbaden und Witzenhausen zu- nen Blick auf die Ergebnisse, die in der Praxis Auch werden „projekteigene Veranstaltungen“ rückdenken, ist schon viel gewonnen.“ verzeichnet werden konnten. organisiert, die Test- bzw. Modellcharakter für Netzwerkpartner haben sollen. Hinzu kommen Präsentationen bei geeigneten Veranstaltun- „ballance 2006“ IN RHEINLAND-PFALZ „ballance 2006“ IN HESSEN gen und Gespräche mit möglichen Unterstüt- UND IM SAARLAND zern des Projektes, sei es auf ideeller oder ma- Etwa 50 Vereine, Jugendbildungswerke, Schu- terieller Basis. Hier wurden im Berichtszeitraum Mit großer Freude registrierten die Initiatoren len, Kirchengemeinden oder andere Initiativen 2002 bis 2005 bei ca. 90 Veranstaltungen ins- das Interesse des Nachbarlandes Rheinland- arbeiten seit Jahren kontinuierlich als Netz- gesamt ca. 4.000 Personen erreicht. Die Grafik Pfalz am Konzept und unterstützten den Grün- werkpartner mit „ballance 2006“ zusammen. verdeutlicht die geografische Verteilung. dungsprozess tatkräftig. Am 6. Juli 2004 war es Die Multiplikatoren halten untereinander bzw. Überwältigend ist auch die Unterstützung der dann soweit: die Träger um den damaligen mit den Koordinatoren Kontakt und treffen Medien: Alleine in Hessen erschienen 488 Ar- Sportminister Walter Zuber, Jürgen Klopp und sich mindestens zweimal jährlich im Rahmen tikel über „ballance 2006“, was für die Verbrei- Präsident Strutz (FSV Mainz 05), Olaf Marschall von Workshops zur Auswertung, zum Erfah- tung der Ziele einen unschätzbaren Beitrag (1. FC Köln), Wolfgang Möbius (DFB) und Dr. rungsaustausch und zur weiteren Planung. darstellte. Franz-Josef Kemper, dem früheren Weltklasse Neben gemeinsamen Aktionen stehen vor al- 800m-Läufer, verkündeten auf dem Podium im lem die dezentral „vor Ort“ organisierten Akti- Mainzer Bruchwegstadion die Gründung von vitäten im Mittelpunkt. In den Jahren 2002 bis „ballance 2006“ IN HESSISCHEN „ballance 2006 – Rheinland-Pfalz“. Seither geht 2005 wurden knapp 100 Veranstaltungen mit PARTNERREGIONEN das Projekt in unserem Nachbarland einen er- über 8.000 Kindern und Jugendlichen organi- folgreichen Weg mit zahlreichen Aktionen. siert. Davon waren ca. 80% männlich und 20% Von Anfang an war es der Wunsch der Organi- Auch „ballance 2006 – Saarland“ wurde weiblich. Verantwortung übernahmen hierbei satoren gewesen, „ballance 2006“ gemeinsam zwischenzeitlich gegründet. ca. 1.000 Multiplikatoren, davon etwa 65% mit den europäischen Partnerregionen zu ge- männlich und 35% weiblich. Nach Schätzung stalten. Dass es gelingen würde, ausländische Fußballverbände dazu zu bewegen, eigene METHODEN UND INHALTE BEI Maßnahmen zur Gewaltprävention zu ergrei- „ballance 2006“ fen, hätte man nicht zu hoffen gewagt. Den- noch ist genau dies eingetreten: Grundsätzlich kann man sich natürlich auf vie- ■ die „Ligue de Football d’Aquitaine“ in Bor- le unterschiedliche Weisen für die Projektziele deaux veranstaltet unter „ballance 2006 – engagieren. Im Wesentlichen werden die Ziele Aquitaine“ Schulungen für Schiedsrichter von „ballance 2006“ im Rahmen folgender Ver- („Lutte contre la violence“), wo mit Patrick anstaltungsarten verwirklicht: Battiston sogar ein prominenter Schirmherr ■ Straßenfußball für Toleranz: Diese Me- gewonnen werden konnte und thode wurde maßgeblich von Jürgen Gries- ■ der Fußballverband Wielkopolska in Posen, beck in Kolumbien entwickelt und über die der unter „ballance 2006 – Wielkopolska“ Sportjugend Brandenburg erfolgreich nach internationale Fußballturniere für Toleranz Deutschland transferiert. Auch bei „ballance und Sicherheit ausrichtet. 2006“ wurde der Ansatz vielfach aufgegrif- Darüber hinaus konnten mit beiden Regionen fen. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass sowie mit einem Partner („Antirassistische Mädchen und Jungs nach speziellen Tole- Weltmeisterschaft“) aus der Emilia Romagna ranz-Regeln gemeinsam kicken und die Ver- (Italien) und England mehrere Jugendbegeg- antwortung für das Geschehen gemeinsam nungen zu den Themenbereichen „Konzepte übernehmen. (Unter www.streetfootball- gegen Gewalt“, „Fair gehandelte Fußbälle“, world.org gibt es hierzu weitere interessan- „Antirassismus“ und „Soziale Kompetenz von te Infos: u. a. hinsichtlich des „festivals 06“, das Teil des offiziellen Rahmen- und Kultur- programms der FIFA WM 2006 ist.) Bei „ball- ance 2006“ findet man diesen Ansatz meis- tens eingebettet in ein Gesamtkonzept, bei dem die Kooperation von Netzwerkpartnern aus verschiedenen Strukturen (Stadt, Verein, Schule, Kirche) im Vordergrund steht. ■ Fair mit Pfiff: Gemeinsam mit den Schieds- GEOGRAFISCHE VERTEILUNG DER BETEILIGTEN STÄDTE, richtervereinigungen Kassel und Darmstadt KOMMUNEN, SPORTVEREINE UND HFV-KREISE. wurde dieser Ansatz entwickelt mit dem Ziel,

60 „ballance 2006“ – Integration und Toleranz für eine friedliche Fußballweltmeisterschaft

für die Rolle und Belange der Schiedsrichter – möglicherweise abstrakte oder moralisch und Einbindung von Mädchen und Jungen in zu werben, zu informieren und zu sensi- akademisch überladene – Gesprächsangebote entsprechende Maßnahmen angestrebt. bilisieren. Dabei können unterschiedliche einzulassen? (Hierzu Monika Staab, 1. Vorsitzende des 1. Schwerpunkte gesetzt werden: (1.) Förde- „Fußball“, so wird stets unermüdlich wiederholt FFC Frankfurt: „Die Verantwortlichen von rung des Vertrauensverhältnisses zwischen sei „ein Spiegelbild der Gesellschaft – im Guten ‚ballance 2006’ engagieren sich nicht nur für Schiedsrichtern, Spielern, Funktionären; (2.) wie im Bösen“. „Nun denn“, möchte man mei- eine friedliche Fußball-WM in Deutschland, Unterstützung von Jung-Schiedsrichtern; nen: „nichts wie hin zu den Kiddies…“ genau wie sondern versuchen auch, alle Nationalitäten (3.) Verbesserung der Atmosphäre auf und es die Hessische Landeszentrale für politische und eben auch alle Geschlechter unter einen am Fußballplatz; (4.) Gewaltprävention. Bildung (HLZ) bei „ballance 2006“ tut. Und so Hut zu bringen. ‚ballance’ vermittelt, dass ■ Förderung vorbildlichen Verhaltens: Wer war und ist die HLZ im Trägerkreis derjenige un- uns alle eines eint: die Liebe zum Fußball.“) kennt sie nicht: die rotgesichtigen Eltern ter den Partnern, der die inhaltliche Ausrich- ■ Gewalt und Diskriminierung sind als Mittel oder Betreuer am Spielfeldrand, die mit tung der Werte und Leitlinien maßgeblich mit- der Auseinandersetzung in ihren unter- falsch verstandenem Ehrgeiz Aggressivität gestaltete. Immerhin hat sich „ballance 2006“ schiedlichen Formen und Motiven zu äch- in ein Jugendspiel überhaupt erst hineintra- Begriffe wie „Integration, Toleranz und Fair ten. Ihnen sind präventive Maßnahmen ent- gen? Von guten Vorbildern kann man hier Play“ auf die Fahnen geschrieben und diese Be- gegen zu setzen. nicht sprechen. Der Ansatz besteht darin, be- griffe mussten definitorisch unterfüttert und Über die zentralen Begrifflichkeiten wie Inte- reits vor einem Spiel oder Turnier (z.B. Hal- über die Multiplikatoren und Netzwerkpartner gration und Toleranz, Fair Play, Nachhaltigkeit, len-Kreismeisterschaft) an das Publikum, an an die Jugendlichen vermittelt werden. Netzwerk, Gewaltprävention, Sensibilisierung Eltern und Betreuer zu appellieren, Kriterien von Kindern und Jugendlichen etc. wird im für angemessenes Verhalten zu benennen, Evaluierungsbericht ausführlicher berichtet. und entsprechende Preise auszuloben. Die VEREINBARUNGEN ALS LEITLINIEN UND Dieser wird Mitte des Jahres von Prof. Gunter anschließende Würdigung vermag positive ORIENTIERUNGSHILFEN A. Pilz (Universität Hannover), Dr. Matthias Beispiele zu verdeutlichen und entspre- Wesseler (Universität Kassel), Günther Koegst chend zu motivieren. Dabei war es durchaus im Sinne des Projekts, die (SOKRATES-Mannheim) und Rudolf Schmidt ■ Seminare und Podiumsveranstaltungen: Ob Messlatte nicht allzu hoch zu legen: Man sollte (Heusenstamm) vorgelegt. mit kompetenten Gesprächspartnern im nicht Philosophie oder Sozialpädagogik stu- Rahmen von Podiumsdiskussionen, im Kon- diert haben müssen, um sich im Projekt enga- firmandenunterricht der Kirche oder bei gieren zu können. Niemandem, der sich mit gu- EINBLICKE IN DIE INHALTLICHE ARBEIT Workshops zum interkulturellen Lernen – in ten Absichten und gesundem Menschenver- vielen Formen wurden die Inhalte des Pro- stand gegen Gewalt und Diskriminierung enga- Anstelle von detaillierten definitorischen Be- jekts vermittelt und diskutiert. gieren wollte, sollte der Weg verschlossen blei- griffsbeschreibungen und Kriterien möchten ■ Mediation: Sonntag auf dem Fußballplatz. ben. Andererseits war es wichtig, eine Orientie- wir drei Quellen heranziehen, und deren Sicht Eine zunächst harmlose Auseinanderset- rungshilfe vorzugeben, die in den entsprechen- des inhaltlich Relevanten wiedergeben. Es zung eskaliert. Man beschimpft sich: „Scheiß den Netzwerk-Vereinbarungen als Leitlinien handelt sich um: Kanake! Scheiß Nazi!“. Ein Spieler rastet völ- wie folgt formuliert wird: 10- bis 12-Jährige, die sich unter der Leitung lig aus und schlägt einem Gegenspieler ins ■ Deutschland steht als Gastgeber der WM von Manfred Lotz, dem HFV-Verbandsreferen- Gesicht. Es werden Drohungen in Richtung 2006, einer Veranstaltung mit großer öffent- ten für jugendpädagogische Aufgaben, mit der Rückrunde ausgesprochen und dem Schiri licher Ausstrahlung, in einer besonderen ge- Leitfrage „Was finde ich fair?“ beschäftigen. die Reifen seines Autos zerstochen. In den samtgesellschaftlichen Verantwortung. Die 10- bis 12j-ährige Mädchen und Jungs wäh- meisten Fällen können Trainer, Betreuer oder Partner im Netzwerk „ballance 2006“ ver- rend der DFB-Fußball-Ferien Freizeit auf die die Jugendlichen selbst ihre Konflikte auf pflichten sich, ein gastfreundliches und Frage: „Was finde ich fair?“: und neben dem Fußballplatz lösen. Manch- sportlich-faires gesellschaftliches Klima ge- ■ Schiri-Entscheidung akzeptieren; mal sind Auseinandersetzungen jedoch zielt zu fördern, um auf einen friedlichen ■ neuen Spielern helfen, in die Mannschaft zu richtig festgefahren, man redet nicht mehr Charakter dieser Veranstaltung hinzuwirken. kommen; miteinander (oder „hinter dem Rücken“), die ■ Die Partner engagieren sich gemeinsam ge- ■ Gegnern zum Sieg gratulieren; Wahrnehmung verengt sich. Der Konflikt gen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ■ schwächere Spieler akzeptieren; kostet allen Beteiligten Zeit und Nerven. In die unserem gemeinsamen demokratischen ■ andere nicht verspotten; diesem Fall kann das Angebot des Projektes Wertesystem von Toleranz und Weltoffen- ■ nicht den Ball weg schlagen; „Interkulturelle Konfliktvermittlung/Media- heit widersprechen. Die Integration und ■ im Streit vermitteln; tion“ wahrgenommen werden. Um den Kon- Gleichberechtigung von Menschen mit ei- ■ keine absichtlichen Fouls; flikt zu schlichten, besuchen vom Projekt nem unterschiedlichen kulturellen, religiö- ■ nach einem Foul entschuldigen; ausgebildete Fußballmediatoren die Mann- sen und ethnischen Hintergrund wird aktiv ■ nicht alle Schuld auf den Tormann schieben; schaften und erarbeiten Regeln, wie man unterstützt und die qualitativ gleichrangige ■ keine „Schwalben“. sich bei künftigen Spielen verhalten will. Ziel ist die Gewährleistung eines friedlichen Rückspiels. Diese Projektkomponente wird von „ballance 2006“ finanziell gefördert und von der Sportjugend Hessen umgesetzt.

POLITISCHE BILDUNG UND FUSSBALL

Drehen wir die Frage um: Ist es nicht geradezu die Pflicht des verantwortlich denkenden Staatsbürgers und erst recht für staatliche In- WELTMEISTERIN UND stitutionen mit Bildungsauftrag mindestens SCHIRMHERRIN STEFFI den Versuch zu unternehmen, mit der jungen JONES MIT DR. BERND Generation in einen Dialog über Werte zu tre- HEIDENREICH, DEM ten. Und macht es nicht Sinn, die Jugendlichen DIREKTOR DER HESSI- dort zu treffen, sie dort „abzuholen“, wo sie sich SCHEN LANDESZENTRALE aus freien Stücken und wegen ihrer eigenen FÜR POLITISCHE BILDUNG, Interessen aufhalten, statt zu erwarten, dass sie BEI DER ERÖFFNUNG DER in die Institutionen kommen, um sich dort auf NEUEN STAATSKANZLEI.

61 MICHAEL GLAMEYER

Kreisjugendwarte des HFV zur Frage: „Wo liegen die Probleme?“. Feedback von Bezirks-, Kreis- und Jugendfuß- ballwarten bei Diskussionsabenden in der Startphase von „ballance 2006“ auf die Frage: „Wo liegen die Probleme im Umgang mit Ju- gendfußballern?“: ■ Gewalt und Umgangston bei Jugendspielen; ■ das Verhältnis der Jugendbetreuer unterein- ander; ■ die Rolle der Eltern an der Seitenlinie; ■ rücksichtsloser Umgang aller Beteiligten untereinander; ■ das Verhalten gegenüber Schiedsrichtern; ■ interkulturelle Probleme, auch zwischen ver- schiedenen ethnischen Gruppen; ■ zunehmende Verständigungsprobleme ( Kul- tur, Sprache); ■ die Integration jugendlicher Russlanddeut- scher; ■ das Verhalten gegenüber Minderheiten; ■ mangelnde Akzeptanz von ausländischen Schiedsrichtern; ■ der Wille zur Integration seitens ausländi- scher Vereine fehlt. Und last but not least Dr. Bernd Heidenreich, SCHIRMHERR SEBASTIAN KEHL „INTERVIEWT“ IN MELSUNGEN SEINE JUGENDLICHEN FANS ZUM THEMA „FAIR PLAY“. Direktor der HLZ, bei seinem Statement zur Frage, warum sich die HLZ bei „ballance 2006“ engagiert: bereitstehen. Nichts ist so überzeugend wie das Fußballweltmeisterschaft gelernt hat, tolerant „Die Hessische Landeszentrale für politische gute Beispiel. Dafür stehen Steffi Jones und Ar- gegenüber Menschen anderer Herkunft, Reli- Bildung hat den Satzungsauftrag, die Entwick- min Kraaz. gion und Hautfarbe zu sein, solidarisch und ka- lung des freiheitlich-demokratischen Bewusst- Zusammenfassend können wir feststellen: meradschaftlich in einer Mannschaft für ein seins durch politische Bildungsarbeit zu för- Hessen hat im Rahmen der Fußball-WM eine re- sportliches Ziel zu kämpfen sowie fair mit sei- dern. Deshalb wirbt sie für das Grundgesetz und ale Chance, sich als guter Gastgeber, fairer Part- nem Gegner umzugehen, der hat eine ganze seine Werte und für unsere freiheitliche Demo- ner und weltoffener Veranstalter zu präsentie- Menge für sich persönlich und für die Demo- kratie. Dabei liegt uns die Wertorientierung von ren; Jugendliche aktiv einzubeziehen und ihnen kratie getan. Und er hat sozusagen das Golden Jugendlichen besonders am Herzen. zu zeigen, dass die Weltmeisterschaft auch ihre Goal, ‚Das goldene Tor’ geschossen.“ Viel zu oft lassen wir Jugendliche mit ihren Pro- Veranstaltung ist; Jungen und Mädchen klar- blemen alleine, kümmern uns erst um sie, wenn zumachen, dass Erfolg nicht von Toren, sondern es zu Gewalt, Pöbeleien oder rassistischen Äu- davon abhängt, für sich selbst und für die eige- SCHLUSSBEMERKUNGEN ßerungen gekommen ist. Deshalb sind Präven- ne demokratische Entwicklung etwas zu lernen. tion und Vorbeugung besonders wichtig. Wir Wer deshalb im Rahmen dieses Projekts zur Ob nun „ballance 2006“ eines Tages im Rück- müssen auf junge Menschen zugehen und sie blick als mehr oder weniger erfolgreiches Pro- dort abholen, wo wir sie finden. gramm gesehen wird, eines steht bereits heute Mit unserer Aktion wollen wir junge Menschen fest: Der Einsatz gegen Gewalt und der Dialog für Toleranz, Solidarität und Fairness be- mit der jungen Generation zu Themen wie „In- geistern; ihnen klarmachen, dass diese de- UNSER AUTOR tegration, Toleranz und Fair Play“ wird auch mokratischen Werte weiterführen als Gewalt über die WM 2006 hinaus von Bedeutung blei- und Fremdenfeindlichkeit; ihren Sinn für Michael Glameyer, ben. „ballance 2006“ ist die Summe all dessen, Rücksichtnahme, für Verantwortungsbewusst- Jahrgang 1958; be- was diejenigen daraus gemacht haben, die sich sein, Leistungsbereitschaft und Teamfähigkeit dingt durch berufli- darin für die gemeinsamen Ziele engagieren fördern und damit unsere Demokratie stärken. che Tätigkeit des und Beiträge leisten. Sport und vor allem der Fußball bieten dafür ei- Vaters zehn Jahre Dabei sind die Beiträge so verschieden wie die nen guten Rahmen; denn: demokratische Wer- Auslandsaufent- beteiligten Menschen und Strukturen. Jeder te müssen gelernt und eingeübt werden. Genau halt (Sudan, Nige- war eingeladen, sich an der Konstellation zu das passiert im Rahmen des Projektes ‚ballance ria, Pakistan), nach orientieren, die er/sie vor Ort vorfindet: an der 2006 – Integration und Toleranz für eine fried- einem landwirt- Problemstellung, den Menschen, den Ressou- liche Fußballweltmeisterschaft’, z. B. beim ‚Stra- schaftlichen Prakti- rcen, Möglichkeiten und Grenzen. Und es ist ßenfußball für Toleranz’ oder bei den Jugend- kum 1979-1982 nicht durchgängig ein Hochglanzprodukt, son- begegnungen mit unseren Partnerregionen in Studium der Agrar- dern in vielen Facetten liebevolle Handarbeit. In Frankreich, Italien und Polen. wirtschaft in Witzenhausen mit Studienauf- jedem Fall jedoch hat jeder Beitrag seine Da- Das ist eines der Motive, warum sich die Lan- enthalten in Kanada und Marokko; 1983- seinsberechtigung und seine besondere Rele- deszentrale für politische Bildung an diesem 1985 Entwicklungshelfer in /Westafri- vanz für das Ganze. (Wer sich eine umfassende Projekt beteiligt. Es kommt jedoch ein weiteres ka; 1986-87 freier Dozent und Gutachter Übersicht verschaffen möchte, dem sei die Pro- Motiv hinzu: Demokratie braucht Vorbilder. (GTZ); 1988-2000 Programmleiter und Pro- jekt-Homepage empfohlen: www.wm2006- Demokratische Werte werden nicht mit ‚Tro- kurist im Deutschen Institut für Tropische hessen.de). ckenübungen’ vermittelt. Es bedarf vielmehr und Subtropische Landwirtschaft (DITSL); Hoffen wir, dass sich jederzeit Menschen und Menschen aus Fleisch und Blut, die sich enga- 2000 Gründung und Geschäftsführung des Institutionen finden, die bereit sind, Verant- gieren und mit ihrer Persönlichkeit und ihrem gemeinnützigen Internationalen Bildungs- wortung fürs Gemeinwohl zu übernehmen. Engagement für die Botschaft der Demokratie zentrums Witzenhausen (IBZW GmbH). Pro- Vielleicht nicht immer mit der Weisheit letzter stehen. Daher sind wir den erfolgreichen Sport- grammschwerpunkte: Europäischer Freiwilli- Schluss, dafür aber mit Begeisterung und der lerinnen und Sportlern besonders dankbar, dass gendienst, „ballance 2006“, Fortbildung für Überzeugung, dass es sich für ein faires Mitei- sie für ‚ballance 2006’ als Toleranzbotschafter internationale Fach- und Führungskräfte. nander lohnt!

62 DAS PROJEKT „WM SCHULEN: FAIR PLAY FOR FAIR LIFE“ Straßenfußball, Fair Play und globales Lernen

ULI JÄGER

Play for Fair Life“. Es geht um Fair Play, Gewalt- DIE BAUSTEINE VON „WM SCHULEN: prävention und globales Lernen. FAIR PLAY FOR FAIR LIFE“ „Vom Fußball für das Leben lernen“ – so kann das Hauptziel des Projektes „WM Für die Durchführung des Projektes wurden von Schulen: Fair Play for Fair Life“ über- DAS PROJEKT „WM SCHULEN: den vier Partnern drei Bausteine vereinbart, um schrieben werden. In ganz Deutschland FAIR PLAY FOR FAIR LIFE” die Förderung von Fair Play, Gewaltprävention beteiligen sich 204 Schulen an diesem und globalem Lernen verbinden zu können. wohl einzigartigen Projekt. Sie bekamen „Die Welt zu Gast bei Freunden“, lautet das of- per Losentscheid ein FIFA-Land als Paten- fizielle Motto für die Fußballweltmeisterschaft land zugeteilt. Schülerinnen und Schüler 2006 in Deutschland. Aber woher kommen BAUSTEIN 1: STRASSENFUSSBALL sind bis zur Fußballweltmeisterschaft diese Gäste, wie kann man ihre Länder, wie die FÜR TOLERANZ Botschafter für ihr jeweiliges Patenland, Probleme und Hoffnungen der Menschen am sie vertreten es in der Öffentlichkeit und besten kennen lernen und das Motto der WM Die Methode „Straßenfußball für Toleranz“ in- auf dem grünen Rasen. Gleichzeitig will im Sinne eines globalen Lernens mit Leben fül- szeniert Fußball nach spezifischen Regeln (sie- das Projekt bei den beteiligten Schulen len? Lässt sich die gesteigerte Fußballbegeiste- he Kasten). Von besonderer Bedeutung sind das Interesse an der Umsetzung und der rung von Kindern und Jugendlichen im Vorfeld vier Vorgaben: Erstens wird nur in geschlecht- Aneignung des Konzeptes „Straßenfuß- und während der WM 2006 aufgreifen, um ei- lich gemischten Teams gespielt. Im Rahmen ball für Toleranz“ wecken und auch die nen Beitrag zur Förderung von Fair Play im All- des Projektes „WM Schulen“ besteht ein Team Beschäftigung mit Themen der Entwick- tag zu leisten und nachhaltige Lernprozesse aus zwei Mädchen und zwei Jungen. Hinzu lungszusammenarbeit, weltweiter Ver- anzustoßen? Gibt es sogar die Möglichkeit, ak- kommt, dass Tore, die von Jungen geschossen ständigung, Gewalt und Rassismus för- tives Fußballspielen mit Themen der interna- wurden, erst dann gewertet werden, wenn dern. So lernen die in das Projekt invol- tionalen Entwicklungszusammenarbeit, welt- auch ein Treffer von einem Mädchen erzielt vierten Schülerinnen und Schüler im Un- weiter Verständigung und Gewaltprävention worden ist. Zweitens vereinbaren die gegen- terricht und in Projekten alles über die zu verknüpfen? Diese und andere Fragen bilde- einander spielenden Teams vor dem Beginn Themen „Fair Play“ und „Fair Life“ in der ten den Ausgangspunkt für die Konzeption des des Spieles gemeinsam drei Fair Play-Regeln Einen Welt. Uli Jäger, hauptamtlicher Mit- Projektes „WM Schulen: Fair Play for Fair Life“. (z.B. „Wir verzichten auf Schimpfwörter.“ oder arbeiter und Geschäftsführer des Insti- Um diese Konzeption anzugehen und in ein „Wir helfen uns gegenseitig wieder auf die tuts für Friedenspädagogik Tübingen e.V., umfassendes Projekt umzusetzen, fanden sich Beine.“). Drittens wird auf einen Schiedsrichter beschreibt in seinem Beitrag die Konzep- vier, in unterschiedlichen Bereichen erfahrene verzichtet. Dafür gibt es Teamer, welche in der tion, die einzelnen Methoden des Projek- Partnerorganisationen zusammen. Die Stif- Regel nicht in das Spiel eingreifen, sondern vor tes und vermittelt erste Einblicke in die tung Jugendfußball (mit dem internationalen allem die Einhaltung der Fair Play-Regeln be- konkrete Arbeit in und an den Schulen. Netzwerk „streetfootballworld“) hat das Pro- obachten und den Teams helfen, das eigene jekt initiiert und die Federführung übernom- Fair-Play-Verhalten und das des Gegners nach men. Jürgen Griesbeck, Geschäftsführer von Ende des Spiels zu bewerten. Denn viertens „streetfootballworld“, hat in den neunziger zählen neben den geschossenen Toren auch Jahren während eines Aufenthaltes in Kolum- Fair Play-Punkte, deren Aufteilung die Teams bien die Methode „Straßenfußball für Tole- nach dem Spiel diskutieren und vereinbaren. PATENLAND LÖST KONTROVERSE ranz“ entwickelt, nach Deutschland gebracht DEBATTE AUS und begonnen, ein internationales Netzwerk von Straßenfußballprojekten zu knüpfen.1 Als STRASSENFUSSBALL FÜR TOLERANZ: „Kann unsere Schule Partner für den Iran sein, zweiter Partner kommt die entwicklungspoliti- DIE REGELN dessen Regierung zur Vernichtung Israels auf- sche Nicht-Regierungs-Organisation „Aktion ruft?“ – Seit der Forderung des iranischen Prä- Brot für die Welt“ hinzu, die das Sportthema Die Spielregeln von „Straßenfußball für Tole- sidenten Mahmud Ahmadinedschad, der Staat schon 1998 mit dem Motto „Fair Play for Fair ranz“ in Kürze: Israel solle „von der Landkarte verschwinden“, Life“ für die Bildungsarbeit im Inland aufge- beschäftigt diese Frage die Internatsschule griffen hat und weltweit eine Reihe von Pro- ■ Kleinfeld-Fußball: Gespielt wird auf einem Königin-Luise-Stiftung in Berlin. Die Schule jekten fördert, in denen der Fußball eine be- Kleinfeld (ca. 10 x 15m) mit kleinen Toren. verfügt über eine besondere Beziehung zum deutende Rolle spielt. Die Brandenburgische Spieldauer: Sieben Minuten. Iran. Gemeinsam mit 203 weiteren Schulen in Sportjugend, der dritte Projektpartner, verfügt ■ Teams: Die Teams bestehen aus bis zu Deutschland wurde ihr als Teilnehmer des Pro- seit einigen Jahren über praktische Erfahrung sechs Spielerinnen und/oder Spielern jektes „WM Schulen: Fair Play for Fair Life“ im im Bereich „Straßenfußball für Toleranz“ und (zwei Auswechselspielerinnen/Auswech- Dezember 2004 in Berlin ein Mitgliedsland des in der Organisation von großen Jugendturnie- selspieler). Jedes Team ist mit vier Spiele- Weltfußballverbandes FIFA als Patenland zu- ren. Das Institut für Friedenspädagogik Tü- rinnen und/oder Spielern auf dem Platz gelost. Mit großem Engagement übernahm die bingen e.V. schließlich ist als anerkannte vertreten. Die Teams sind gemischt. Es Berliner Schule daraufhin die „Botschafterrol- Fachstelle für Friedenserziehung und globales wird ohne Torwart gespielt. Auswechslun- le“ für den Iran, informierte sich über Land und Lernen theoretisch und praktisch mit dem The- gen sind laufend möglich. Leute, knüpfte erste Kontakte zu einer Schule menbereich „Gewaltprävention und Sport“, der ■ Rolle der Mädchen: Es müssen zwei Mäd- in Teheran und qualifizierte sich mit seinem wissenschaftlichen Begleitung von Projekten chen auf dem Spielfeld sein. Ein Mädchen Straßenfußball-Team für das Finale der WM und der Erstellung didaktischer Materialien im Team muss im Laufe des Spiels ein Tor Schulen in Potsdam 2006. Dann führte das Zi- vertraut. schießen. Damit zählen alle anderen ge- tat des Präsidenten zu kontroversen Diskus- Am 12. November 2004 starteten Jürgen schossenen Tore. Diese Regel ist zentral im sionen an der Schule und polarisiert seitdem Klinsmann, Bundestrainer und Mitbegründer Kontext des sozialen Miteinanders im Schüler, Lehrer und Eltern. Alle Beteiligten ha- der Stiftung Jugendfußball und Heidemarie Team. ben ein hohes Interesse, den Konflikt kon- Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirt- ■ Teamer: Schiedsrichter gibt es nicht. Sie struktiv auszutragen und zu einer gemein- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, werden durch so genannte Teamer ersetzt. samen Einschätzung zu kommen. Denn die als Schirmleute in Berlin das Projekt.2 Den 204 Teamer spielen ebenso eine zentrale Rol- problemorientierte Auseinandersetzung der ausgewählten Schulen wurde ihr Patenland le im Gesamtkonzept. Sie können in der Schulen mit ihren Patenländern ist ein wichti- zugelost. Deutschland wird von einer Schule in Dialogzone vermitteln und Diskussionen ger Aspekt des Projektes „WM Schulen: Fair Südafrika (Pula di Fate/Memelodi) vertreten. begleiten. Während des Spiels beobachten

63 ULI JÄGER

sie von außen und greifen nicht aktiv in NACH DEM SPIEL: DIE TEAMS BESPRECHEN MIT DEM das Spielgeschehen ein. TEAMER DIE VERGABE DER FAIR PLAY-PUNKTE. ■ Dialogzone: Vor dem Spiel kommen beide Agentur Zeitenspiegel Teams zusammen und definieren für sich drei „Agreements“ des Fair Play, drei zu- sätzliche Regeln, die sie während des Spiels einhalten wollen. Nach dem Spiel Menschen oder auf die Rolle des Landes im kommen die Teams wieder zusammen Weltmarkt. und diskutieren kurz, inwiefern sie die- se Agreements eingehalten haben. Der Teamer kann hier unterstützen und auf be- 3. BAUSTEIN: FAIR LIFE-TAG obachtete Spielsituationen aufmerksam machen. Eng verknüpft mit der „Botschafterrolle“ ist ■ Punkteverteilung: Der Gewinner nach To- der dritte Baustein. „Jede Schule“, so heißt es ren erhält drei Punkte, der Verlierer nach in einem „Leitfaden“ für die WM Schulen, „or- Toren einen Punkt, bei einem Unentschie- ganisiert bis zum WM-Sommer 2006 mindes- den erhalten beide Teams jeweils zwei tens einen ‚Fair Life-Tag’. An diesem Tag stellen Punkte. Beide Teams können noch bis zu die Schülerinnen und Schüler ihr FIFA-Part- drei Fair Play-Punkte bekommen. Be- nerland der Öffentlichkeit vor. Mit Plakaten, sonders bewährt hat sich folgendes Vor- Power-Point-Präsentationen, Vorträgen, The- gehen: ater- oder Musikaufführungen informieren (1.) Drei Punkte bekommt ein Team, wenn die Mädchen und Jungen ihre Mitschüler, El- alle drei Agreements eingehalten wurden tern und andere Besucher über ‚ihr’ Land und und besonders fair gespielt wurde (keine das Thema Fair Play. Fair Play als Motto für den Rangeleien, Ausdrücke etc.). Sport und für das Zusammenleben der Men- (2.) Zwei Fair Play-Punkte werden verge- schen weltweit – das Thema wird in seiner ben, wenn alle Agreements eingehalten ganzen Vielfalt in unterschiedlichen Fächern wurden, das Spiel jedoch nicht vollkom- (Geographie, Ethik/Religion, Gemeinschafts- men fair war (grobe Fouls, Beleidigung des kunde, Kunst, Sprachen) behandelt.“ Das Pro- Gegners oder der Mitspielenden). jekt soll nach der Intention der Veranstalter (3.) Einen Fair Play-Punkt gibt es, wenn nur der „gesamten Schule eine Reihe von Möglich- ein Teil der Agreements eingehalten wurde. keiten eröffnen, spannende und verantwor- tungsvolle Aufgaben zu übernehmen. Für jede Schülerin und jeden Schüler soll es Bereiche Im Rahmen des Projektes „WM Schulen“ set- geben, in denen sie ihre Interessen, Wünsche zen sich die Schulen seit Dezember 2004 mit und Kompetenzen einbringen können: als Bot- „Straßenfußball für Toleranz“ im Vordergrund. diesem Konzept auseinander und organisieren schafter bei der Präsentation des Patenlandes Hierbei erhielten sie Unterstützung von regio- eigene lokale Turniere. Im Herbst 2005 nah- in Schule und lokaler Öffentlichkeit; auf sport- nalen Fachkräften, die im Auftrag der Projekt- men alle Schulen für ihr Land an Qualifika- lichem Gebiet als Spielerin und Spieler oder als partner den einzelnen Schulen beratend zur tionsturnieren nach dem Vorbild der Konti- fantasievolle Fans ihres Teams; bei der Ausein- Seite standen. Die Schulen organisierten loka- nentalmeisterschaften (z. B. Europameister- andersetzung mit Themen rund um das Motto le Turniere, wozu gelegentlich die Teams ande- schaft, Copa América oder Africa Cup of Na- ‚Fair Play for Fair Life’ oder einem Entwick- rer WM Schulen in der näheren Umgebung tions) teil. Bei den Turnieren in Wittenberge, lungsprojekt; bei der Vorbereitung und Durch- eingeladen wurden. Hamburg, Halle und in Stuttgart/Filderstadt führung der Turniere und anderer öffentlicher Involviert waren vielfach die Sportlehrer mit wurden die Teilnehmer für das Finale des Pro- Veranstaltungen; bei der Präsentation in der den spielberechtigten Schülerinnen und Schü- jektes ermittelt, das im Juni 2006 unmittelbar Öffentlichkeit, der Pressearbeit, der fotogra- lern der vierten und fünften Klassen. Für die vor Beginn der offiziellen WM in Potsdam aus- phischen und filmischen Dokumentation oder Verantwortlichen war die Schwerpunktlegung getragen wird. der Suche nach Sponsoren.“3 Besonders die auf den sportlichen (Wettkampf-)Aspekt des Auseinandersetzung mit einem entwicklungs- Projektes bedeutsam, weil sie die Teams (und politischen Projekt soll bei der Durchführung damit die Schule bzw. das Patenland) optimal 2. BAUSTEIN: BOTSCHAFTERROLLE des Fair Life-Tages eine bedeutende Rolle spie- auf die Kontinentalturniere vorbereiten woll- len. Hierzu bereitete die Partnerorganisation ten. Parallel dazu widmeten sich in der Regel Parallel zu der Umsetzung der sportlichen und „Brot für die Welt“ einige ihrer Hilfsprojekte andere Fachlehrer und meist auch ältere sozialen Aspekte des Regelwerkes von „Stra- speziell für die Behandlung im Unterricht auf. Schülerinnen und Schüler der Botschafterrol- ßenfußball für Toleranz“ soll nach Auffassung Alle WM Schulen sind schließlich angehalten, le und der Vorbereitung eines Fair Life-Tages. der Veranstalter die „Botschafterrolle“ für die ihre Aktivitäten in einer Dokumentation fest- Einerseits gab es Schulen, die bereits im ersten inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Pa- zuhalten und den Partnerorganisationen als halben Jahr an der gesamten Schule inhaltli- tenland sorgen. Die Schulen sind aufgefordert, Eintrittskarte für die Teilnahme am großen Ab- che Projektarbeiten zum Patenland durch- sich ihr Patenland im Regelunterricht und in schlussfestival vorzulegen. führten und in einen öffentlichen Fair Life-Tag intensiver Projektarbeit zu erarbeiten, es in der münden ließen. Andere Schulen jedoch haben Schule, der lokalen Öffentlichkeit und im Rah- sich dazu entschlossen, erst nach den Konti- men des parallel zum Fußballfinale stattfin- PROJEKTAKTIVITÄTEN nentalturnieren die inhaltliche Projektarbeit denden Festivals der „WM Schulen“ in Pots- UNTERSCHIEDLICHER INTENSITÄT zu forcieren. dam zu präsentieren. Nicht nur Fragen der tra- ditionellen Landeskunde sollen im Mittelpunkt Die Zulosung der Patenländer im Dezember stehen, sondern eine problemorientierte Aus- 2004 hat bei den Schulen Projektaktivitäten ANSÄTZE FÜR EINE ZWISCHENBILANZ einandersetzung mit Staat und Gesellschaft. unterschiedlicher Intensität ausgelöst. Nach In einem für die WM Schulen entwickelten der ersten Orientierung bezüglich des zu ge- Wie ist der bisherige Verlauf des Projektes hin- Raster für die kritische Länderanalyse wird losten Patenlandes („Wo liegen eigentlich sichtlich der Auseinandersetzung mit Fair Play, ausdrücklich auf Themen wie die Einhaltung Swasiland, Äquatorialguinea oder Bhutan?“) Gewaltprävention und globalem Lernen ein- von Menschenrechten und den Umgang mit stand jedoch für die meisten zunächst der zuschätzen? Prinzipiell müssen einige äußere Minderheiten ebenso hingewiesen wie auf die sportliche Aspekt und damit verknüpft die An- Faktoren berücksichtigt werden, die den Pro- soziale und ökonomische Lebenssituation der eignung des anspruchsvollen Regelwerkes von jektverlauf, die Projektschwerpunkte und die

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gelegten Regeln, sondern vor allem auch hin- sichtlich der Aneignung von „Fair Play im Geist der Regeln“. Gleichzeitig dient Sport der Erfül- lung von Grundbedürfnissen wie Anerken- nung, körperliche Betätigung, das Sich-Bewei- sen-Können.5 Das weltweite Sportgeschehen kann diese Zielsetzung fördern, wenn Jugend- lichen durch den Spitzensport und seine Groß- ereignisse Werte wie Solidarität, Völker- freundschaft oder Teamgeist vermittelt wer- den. Auch wird dem Sportgeschehen eine wachsende Bedeutung für ein friedlicheres Zusammenleben der Menschen zugesprochen. Seit einigen Jahren nimmt sich die UNO dieser Fragestellung intensiv an, erklärte das Jahr 2005 zum „Jahr des Sports“ und forciert die Bestrebungen, Sport als Menschenrecht zu etablieren.6 Weltweit wird Sport als Medium eingesetzt, um Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe oder kultureller Zugehö- rigkeit zusammenzuführen – in Nachkriegs- gesellschaften, aber auch in den gefestigten Demokratien. In Deutschland hat der Sport als Teil von Jugendsozialarbeit Bedeutung: „Sportorientierte Jugendarbeit, oder deut- licher benannt, Trendsportorientierung in der Jugendarbeit, verhilft Jugendarbeitern häufig dazu, den Zugang zu vielen Kindern und Ju- gendlichen zu finden. Sport als Medium der pädagogischen Arbeit ist in der Jugend(sozi- al)arbeit und in der Sucht-, Drogen- und Ge- waltprävention etc. ausgezeichnet einsetz- bar.“7

Tiefe der inhaltlichen Beschäftigung bei den Zwischenbilanz gezogen werden. Die Zwi- ERZIEHUNG ZU FAIR PLAY einzelnen WM Schulen beeinflussen und eine schenbilanz bezieht sich auf Dokumente sei- TRÄGT FRÜCHTE differenzierte Betrachtung verlangen: tens der Schulen (Internetauftritt, Projektbe- ■ Schularten: Die beteiligten WM-Schulen re- richte), auf Gespräche mit den beteiligten Doch zu Recht wird vor überzogenen Erwar- präsentieren unterschiedliche Schularten Schulen und auf teilnehmende Beobachtun- tungen gewarnt. Denn der Sport ist keinesfalls (Staatliche Gymnasien, Realschulen, Grund- gen. Die Bilanz kann bei 204 beteiligten Schu- aus sich heraus integrations- und friedensför- und Hauptschulen, Schulen in privater und len nur einen Ausschnitt und eine Auswahl der dernd. Sportarenen bieten immer wieder ge- kirchlicher Trägerschaft). Dies führt zu er- Aktivitäten der WM Schulen vermitteln. Erst eignete Schauplätze für rassistische oder heblichen Differenzen. So ist die Identifika- nach Eingang der Abschlussdokumentationen fremdenfeindliche Provokationen. Gewaltbe- tion mit dem Gesamtprojekt bei kleineren aller Schulen wird eine Gesamtbilanz möglich reitschaft und Hooliganismus sind ein Pro- Grund- und Hauptschulen häufig höher als sein. Eine Bewertung derjenigen Ansätze, die blem für die Veranstalter von Sportereignis- bei großen Gymnasien. Diese wiederum ha- auf Kontinuität und Nachhaltigkeit angelegt sen.8 In einer Untersuchung weist der Sport- ben mehr Möglichkeiten für eine intensive sind, ist naturgemäß noch nicht möglich. wissenschaftler Gunter A. Pilz9 zum Beispiel inhaltliche Auseinandersetzung mit den auf einen fatalen Zusammenhang hin: Je mehr Projektthemen. Fußballsozialisation im Verein stattgefunden ■ Geographische Lage: Die Schulen befinden FAIR PLAY UND GEWALTPRÄVENTION hat, desto eher verinnerlichen Kinder und Ju- sich sowohl in Großstädten als auch in länd- gendliche die Moral des „fairen Fouls“. Gleich- lichen Gebieten und sind geographisch „Für den Sport und sein Regel-, Normen- und zeitig ergeben seine Untersuchungen aber auf unterschiedliche Bundesländer verteilt. Wertesystem ist kennzeichnend, dass er sich auch, dass eine gezielte Fair Play-Erziehung Schulen in Ballungsgebieten und Großstäd- nicht nur in den westlichen Kulturen ausbrei- Früchte trägt.10 Die Frage lautet, ob und inwie- ten haben beispielsweise bessere Vorausset- tete, sondern im Grunde in allen, und dass er weit sich Sport inszenieren lässt, um Fair Play zungen für die Durchführung von lokalen in ihnen generell auch weitgehend gleich zu fördern und einen Beitrag zur Gewaltprä- Turnieren mit benachbarten WM Schulen. wahrgenommen und nach den gleichen Re- vention leisten zu können?11 Dabei gelten ge- ■ Sportschulen: In den Reihen der Schulen gibt geln betrieben wird. Dies betrifft nicht nur die rade Jugendliche als eine wichtige Zielgruppe, es ausgesprochene Sportschulen mit dem- typischen Bewegungsformen und Bewe- die lernen kann, spielerisch innergesellschaft- entsprechend guter Infrastruktur. gungsmuster des Sports, sondern auch die ihn liche Gräben zu überwinden. Im UNESCO-Be- ■ Erfahrung: Des Weiteren gibt es Schulen, die leitenden Prinzipien und Werte der Leistung richt zur Bildung für das 21. Jahrhundert heißt bereits Erfahrungen mit Straßenfußball, glo- und des geregelten und möglichst fairen es: „Wenn Menschen an lohnenswerten Pro- balem Lernen oder internationalen Schul- Wettbewerbs“4, so der Sportpädagoge Ommo jekten zusammenarbeiten, die sie ihrer norma- partnerschaften aufweisen können. Gruppe. Das Fair Play-Gebot ist tatsächlich len Routine entreißen, werden oft die Unter- ■ Schließlich hatten Schulen, denen beispiels- weltweit die Maxime für den Sport und hat im schiede oder sogar die Konflikte zwischen ih- weise ein europäisches Land zugelost wor- lokalen Verein genauso seine Gültigkeit wie bei nen schwächer und verschwinden manchmal den war, erheblich mehr Probleme mit der internationalen Sportereignissen. Fair Play ist sogar ganz. Menschen ziehen eine neue Iden- Verknüpfung von „Fair Play“ und „globalem gerade für Jugendliche eine wichtige ethische tität aus solchen Projekten, so dass bisweilen Lernen“ als Schulen, die ein typisches „Ent- Handlungsorientierung. Darüber hinaus kann die Eigenheiten der Einzelnen zurücktreten wicklungsland“ vertreten. der Sport Jugendlichen Chancen bieten, neue und die Gemeinsamkeiten wichtiger als die Trotz der genannten Unterschiede kann an- Wege im Umgang mit Konflikten aufzuzeigen: Unterschiede werden. In vielen Fällen, wie z.B. hand einiger ausgewählter Beispiele eine erste Nicht nur im Umgang mit formalen und fest- im Sport, wurden durch gemeinsame Anstren-

65 ULI JÄGER gungen die Spannungen zwischen gesell- Regelwerkes in der Schulung von Teamern und tigen’ Fußball WM gehen die sechs Landshuter schaftlichen Klassen oder verschiedenen Na- der Durchführung von Turnieren. Vor allem Jungen und Mädchen für den Irak in das Ren- tionalitäten gelöst, und es entstand ein Gefühl den Sportlehrern und den im Verein Fußball- nen um den Titel des Schulweltmeisters im der Zusammengehörigkeit.“12 spielenden Schülerinnen und Schülern fiel es Straßenfußball für Toleranz.“15 nicht immer leicht, sich auf das Regelwerk ein- zulassen. Gleichwohl belegen eine Reihe von ANEIGNUNG VON „STRASSENFUSSBALL Aussagen, dass das Fair Play-Gebot Berück- SCHLÜSSELFUNKTION DER TEAMER FÜR TOLERANZ“ sichtung fand und dass das Regelwerk auch bezüglich der besonderen Rolle der Mädchen Die Aneignung des Konzeptes von „Straßen- Vor diesem Hintergrund kann das Konzept die intendierten Lernprozesse anstoßen konn- fußball für Toleranz“ scheint in der Tat einen „Straßenfußball für Toleranz“ als Versuch einer te. So berichtete die Schule Winterhuder Weg Beitrag zur Förderung von Fair Play leisten zu Inszenierung von Sport im Sinne von Fair Play (Patenland: Afghanistan) über die Durchfüh- können – zumindest auf dem Spielfeld. Beob- und Gewaltprävention verstanden werden. In rung eines lokalen Turniers: „Der eigentlich achtungen während einiger Lokalturniere und einem an die ausgewählten WM Schulen ver- vorgesehene Fair-Play-Pokal konnte nicht ver- der Kontinentalmeisterschaften zeigen aber sandten Leitfaden der Veranstalter heißt es geben werden, da das gesamte Turnier in einer auch Problemfelder auf: Das Aushandeln der dazu: „Im Rahmen von ‚WM Schulen – Fair Play vorbildlich fairen Atmosphäre ablief.“ Ähnlich Fair Play-Punkte erweist sich als äußerst for Fair Life’ bietet die Methode einen Lern- die Erfahrungen des Friedrich-Wilhelm Gym- schwieriger Entscheidungsprozess und über- und Handlungsraum, in dem auf spielerische nasiums Trier (Patenland: Marokko): „Das Tur- fordert weniger die beteiligten Teams, sondern Art und Weise soziales und faires Miteinander nier war ein voller Erfolg. Alle gemeldeten vor allem die Teamer. Während die Teams ihre erfahrbar werden. Die Inhalte des sozialen Ler- Mannschaften kamen und Schüler und Be- Interessen vertreten und sie artikulieren kön- nens entstehen aus konkreten Handlungssitu- treuer waren sehr angetan vom fairen Um- nen, müssen die Teamer eine Konsenslösung ationen im Spiel und um das Spiel herum. Die gang miteinander. Nicht der Sieg stand im herbeiführen – häufig unter Zeitdruck. In der Spielenden müssen z. B. in einer Diskussion Vordergrund, sondern das faire Spiel mit- und Betrachtung des Spielverlaufs und der Suche entscheiden, nach welchen besonderen Re- gegeneinander. In einer besonderen Konstella- nach einem Konsens spielt deren subjektive geln sie das Spiel austragen werden – und die- tion – Jungen und Mädchen spielen gemein- Einschätzung und die Art ihres persönlichen se Regeln dann auch einhalten. Die Jungen sam in einer Mannschaft – erlebten die Schü- Auftretens eine (spiel-)entscheidende Rolle. sind dazu aufgefordert, die teilnehmenden ler Fair Play.“ In einem Rückblick auf den „Afri- Den Teamern kommt somit eine Schlüssel- Mädchen aktiv in das Spiel einzubeziehen. Ei- ca Cup of Nations“ in Wittenberge – bei diesen funktion zu. Dies macht deutlich, wie wichtig nen Schiedsrichter, bei dem sie sich beschwe- Kontinentalturnieren ging es ja immerhin um die Auswahl der Teamer und vor allem deren ren können, gibt es nicht. Das bedeutet, Kinder die sportliche Qualifikation für Potsdam! – Ausbildung ist. Hier hat die Suche nach Stan- und Jugendliche setzen sich mit Situationen schreibt das Lessing Gymnasium Norderstedt dards jedoch eben erst begonnen. auseinander, in denen sie selbst immer ‚mit- (Patenland: Demokratische Republik Kongo): betroffen’ sind und aktiv Entscheidungen tref- „Zwar erzielte Natascha im ersten Spiel gegen fen können und müssen. (...) Die Regeln von Äquatorialguinea schon in der ersten Minute GLOBALES LERNEN UND IDENTIFIKATION ‚Straßenfußball für Toleranz’ und deren Um- das wichtige ‚Mädchentor’, doch lagen wir setzung auf dem Spielfeld werden bei allen bald zurück. Nach der Abschlussbesprechung Unter globalem Lernen versteht man unter- Beteiligten Fragen aufwerfen und Diskussio- mit dem Spielleiter war die Enttäuschung schiedliche Lernansätze und -modelle, die sich nen auslösen. Es ist deshalb wichtig, Raum groß. Wir hatten zwar insgesamt 14 Tore er- als pädagogische Antworten auf die Herausfor- und Zeit zu lassen, um die neuen Erfahrungen zielt, aber nur 5 Spielpunkte und nur 6 Fair- derungen der Globalisierung verstehen. Globa- gemeinsam auswerten und besprechen zu nesspunkte. Damit war das Turnier für uns be- les Lernen setzt bei den Bedürfnissen der Men- können. (...) Über die zusätzlichen Regelverein- endet. Doch nach einer intensiven Diskussion schen weltweit an. Dabei geht es beispielsweise barungen definieren die Kinder und Jugend- über alle Wenn und Aber lichteten sich die sor- um die Verknüpfung von Erfahrungen, Ereig- lichen ihre Vorstellung von Fair Play, ihre Auf- genschweren Gesichter wieder und alle spiel- nissen und Themen aus unserem Alltag mit fassung von fairem Miteinander. Daraus erge- ten weitere Länderspiele gegen ebenfalls aus- Sichtweisen aus anderen Kulturkreisen und ben sich konkrete Anknüpfungspunkte für den geschiedene Teams.“ Auch in den Berichten Weltregionen. Eine große Rolle spielt auch der Umgang miteinander im Alltag und für weite- der Lokalpresse wurden die spezifischen Re- Zusammenhang der Verhaltensweisen von Ein- re Themenbereiche, zum Beispiel: Wo und in- geln wahrgenommen und gewürdigt. So heißt zelnen, Gruppen oder Staaten mit globalen Pro- wiefern sind wir stark, andere schwach? Wo- es in einem Bericht der Westfälischen Rund- blemstellungen. Der Vergleich von Alltag und her kommt diese Sichtweise? Welche Folgen schau über das Auftreten der Willy-Brandt- Lebensverhältnissen weltweit soll zu einem hat unser Verhalten auf andere? Was bedeutet Gesamtschule Bergkamen (Patenland: Portu- besseren Verständnis von den Strukturen des es, Regeln aufzustellen? Was heißt das, wenn gal) bei der Europameisterschaft in Hamburg: Zusammenlebens in unserer Welt führen. Glo- diese Regeln nicht eingehalten werden? Was „Durch eine Undiszipliniertheit im Spiel gegen bales Lernen gibt Anstöße für die Suche nach ist der Unterschied zwischen selbst aufgestell- die Färöerinseln bekam Portugal nur einen Orientierung für das eigene Leben, für Visionen ten Regeln und fremd aufgestellten Regeln? Fairness-Punkt, was sich in der Endabrech- eines friedlichen Zusammenlebens und für Die Tatsache, dass den Mädchen durch das Re- nung negativ auswirkte. Denn nach deutlichen Handlungsschritte auf dem Weg zu einer ge- gelwerk von ‚Straßenfußball für Toleranz’ eine Siegen über die Türkei und Frankreich zog rechten Weltgesellschaft. Sonderrolle zukommt, sollte ausführlich the- Frankreich mit einem Fair Play-Punkt mehr in Für ihre Bildungsarbeit im Inland hat „Brot für matisiert werden. Jungen und Mädchen gera- die Finalrunde der besten Vier, die den Europa- die Welt“ dem didaktischen Konzept des glo- ten beim Spiel vor allem durch die spezielle meister unter sich ausspielten.“14 Gleichwohl balen Lernens eine inhaltliche Zielsetzung hin- ‚Torregel’ unter Druck. Die Erfahrung hat ge- stand bei den Medienberichten der sportliche zugefügt und plakativ mit dem Begriff „Fair zeigt, dass gerade diese Regel und der Um- Wettkampfaspekt im Vordergrund, oft ver- Life“ umschrieben. Fair Life bedeutet aus die- gang damit hinsichtlich des sozialen Lernens knüpft mit Hinweisen auf den sportlichen ser Perspektive, ein zentrales Element des Konzepts sind. Die Stellenwert des Patenlandes. Ein Beispiel bie- ■ dass alle Menschen auf der Erde eine faire wissenschaftliche Evaluation des Projektes tet die Landshuter Zeitung: „Was den Spie- Chance erhalten: Ein Leben in Frieden und ‚Straßenfußball für Toleranz’ in Brandenburg, lern des krisengeschüttelten Landes Irak in Würde, ohne Ausbeutung, Hunger, Armut die von der Universität Potsdam durchgeführt der Qualifikation zur Fußballweltmeisterschaft und Unterdrückung. wurde, hat diese Erfahrung bestätigt.“13 2006 in Deutschland nicht gelang, erreichten ■ dass Regierungen und Gesellschaften Re- ihre jungen Botschafter vom Hans-Leinber- geln für ein faires Zusammenleben weltweit ger-Gymnasium. Die Landshuter qualifizierten beachten: Die Respektierung von Völker- REGELWERK LÖST LERNPROZESSE AUS sich am Samstag, den 17. September 2005, recht und Menschenrechten. beim Asia-Cup in Halle a. d. Saale für das gro- ■ dass insbesondere Kinder nicht Willkür und Die Methodenaneignung von „Straßenfußball ße Fußballfinale der 32 besten WM-Schulen in Gewalt ausgesetzt sind: Die Durchsetzung für Toleranz“ besteht neben der Einübung des Potsdam. Im Juni 2006 mit dem Start der ‚rich- der Kinderrechte weltweit.

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ter!“), durch Medien bekannte Krisenländer („Wir können den Menschen helfen.“) oder exotisch anmutende, unbekannte Staaten, die zu einer wahren Entdeckungsreise einluden. Enttäuscht waren einige Schulen über die Zu- losung europäischer Länder, wenn es sich nicht gerade um Fußballgrößen handelte. Irri- tationen und Ratlosigkeit wiederum riefen Länder hervor, mit denen aus politischen Gründen eine Identifikation schwer fiel. Wie SPIELSZENE BEIM im eingangs erwähnten Falle der Partner- KONTINENTAL- schaft mit Iran geht es dabei um die Heraus- TURNIER COPA forderung, im Rahmen der Botschafterrolle AMERICA IN STUTT- nicht in eine „Nationalstaatenfalle“ zu gera- GART/OSTFILDERN. ten. Denn Ziel der Botschafterrolle kann nicht EINE DER WESENT- die Identifikation mit korrupten Regierungen LICHEN VORGABEN sein, sondern mit den dort lebenden Men- BEIM „STRASSEN- schen. Bei manchen WM Schulen löste die Fra- FUSSBALL FÜR TOLE- ge fruchtbare Diskussionen aus, wie man mit RANZ“ IST DAS SPIEL martialischen nationalen Symbolen verfahren MIT GESCHLECHTLICH soll. Soll man es den Schülerinnen und Schü- GEMISCHTEN TEAMS. lern erlauben, ihr Team mit dem Schwenken Agentur der Nationalfahne anzufeuern, auf welcher als Zeitenspiegel Symbol ein Maschinengewehr abgebildet ist? Mit dieser Frage sah sich zum Beispiel die Hauptschule Scharnhorst (Patenland: Mosam- bik) während des Kontinentalturniers kon- frontiert. Identifikationsfragen auf ganz per- sönlicher Ebene wiederum stellten sich für manche Schülerinnen und Schüler mit multi- kulturellem Hintergrund: „Wem soll ich jetzt eigentlich die Daumen drücken?“, fragte sich bei der Europameisterschaft ein türkisches Mädchen, die mit ihrer deutschen Schule für Frankreich gegen die Türkei spielen musste.

■ dass Menschen weltweit voneinander lernen 2005 versuchten wir dann über die turkmeni- FAIR LIFE-TAGE MIT TIEFGANG und sich gegenseitig unterstützen: Die Soli- sche Botschaft in Deutschland und später über darität in Zeiten der Globalisierung. die deutsche Botschaft in Turkmenistan Kon- Die Botschafterrolle muss in Zusammenhang ■ dass Anderssein nicht mehr als Bedrohung, takt zu Landsleuten herzustellen. Auf dem mit der Projektorientierung bzw. der Durch- sondern als Chance wahrgenommen wird: letztgenannten Weg ist es uns gelungen, zwei führung des Fair Life-Tages gesehen werden, Die Gemeinsamkeit im Anderssein erkennen. junge Frauen aus Turkmenistan, die zurzeit in d.h. auch die Förderung der Arbeit in Projekten ■ dass Konflikte nicht mehr mit Gewalt ausge- Stuttgart als Aupairmädchen arbeiten, zu uns unter Einbeziehung der gesamten Schule ein- tragen werden: Die Etablierung einer Kultur in die Schule einzuladen. Schchnosa und Lena, schließlich der Eltern. Die Gesamtschule Wulf- des Friedens. die in Turkmenistan eine Schule mit speziellem fen (Patenland: Kamerun) hat mit ihrem Pa- ■ dass für Waren und Dienstleistungen ein ge- Deutschunterricht besuchten, berichteten sehr tenland nach eigenen Angaben das große Los rechter Preis bezahlt wird: Die Förderung des anschaulich über das Leben der Kinder in Turk- gezogen. Rasch etablierten die Verantwort- fairen Handels. menistan. Unsere Schülerinnen und Schüler lichen ein bemerkenswertes lokales Netzwerk, ■ dass faires Verhalten belohnt wird: Die Ab- der Klassen 5 und 6 löcherten die Mädchen ge- um Informationen aus erster Hand über das sage an Vorteilnahme durch Ungerechtig- radezu mit ihren Fragen und zeigten ihnen Patenland zu bekommen. Auf der Homepage keit. stolz ihre Schule und ihren Klassenraum“. Ganz heißt es: „Deutlich wurde: Afrika hat was zu andere Erfahrungen durfte die Katholische bieten und ein Zugang dazu über Kopf, Herz Schule St. Paulus (Patenland: Jamaika) ma- und Hand, wie das Projekt ‚WM Schulen’ ihn WIE WURDE DIE BOTSCHAFTERROLLE chen: Sie erfuhr die nationale Umarmung vorsieht, öffnet uns alle gegenüber diesem ANGENOMMEN? durch die Botschaft. In einem Glückwunsch- Kontinent und seinen Menschen, wie es über schreiben heißt es: „Congratulations! They Unterricht allein nicht möglich ist!“ Die Ge- Das Projekt „WM Schulen“ soll in diesem Sinne have certainly held Jamaicas flag high on our meinschafts-Hauptschule Görrestrasse, Le- Anregungen für gemeinsame und nachhaltige behalf as they have continued to demonstrate verkusen (Patenland: Kenia) schreibt: „Plötz- Lernprozesse eröffnen. Die problemorientierte the importance of the competition theme fair lich tauchten an den Wänden Zeichnungen Botschafterrolle, also die umfassende Beschäf- play for fair life. Best regards from all the staff der Nationalflagge von Kenia auf. Eine Karte tigung mit dem Patenland und der Lebenssitu- of the embassy.“ von Afrika entstand mit genauer Einzeichnung ation der Menschen sowie die angemessene von Kenia. Vitrinen füllten sich mit Informa- Präsentation in Schule und Öffentlichkeit, ist tionen über die Bedeutung der Botschafterrol- Teil dieser Konzeption. Wie wurde sie wahrge- IRRITATIONEN BLIEBEN NICHT AUS le und Informationen über Kenia.“ nommen und umgesetzt? Häufig gewählte Für die Haupt- und Realschule Fraenkelstraße Wege waren die Suche nach formalen Kontak- Irritationen bleiben bei der Umsetzung der Hamburg (Patenland: Indien) war die Verknüp- ten zu den offiziellen Botschaften des Paten- Botschafterrolle nicht aus. Die angestrebte fung von Fußball mit entwicklungspädagogi- landes und zu Personen und Gruppen aus die- Identifikation mit dem Patenland weckte ab- schen Projektarbeiten kein Neuland. Rund die sem Land oder mit Verbindungen in das Land. hängig vom Losentscheid Begeisterung, Ent- Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Schu- Gefragt waren authentische Erfahrungsbe- täuschung oder auch Ratlosigkeit. Begeiste- le kommen aus anderen Ländern. Globales Ler- richte. Das Gymnasium Schloss Torgelow (Pa- rung weckten zumeist die großen Fußballna- nen ist Teil der Schulkultur. Deshalb zählte die tenland: Turkmenistan) berichtet: „Im Sommer tionen („Wir werden gemeinsam Weltmeis- Schule mit seinem Patenland Indien zu den er-

67 ULI JÄGER sten Schulen, die einen beeindruckenden Fair Life-Tag durchführten. Als Gast konnte der in- dische Botschafter begrüßt werden, der aus Berlin anreiste. In der gesamten Schule präsen- tierten Schülerinnen und Schüler ihre Projekt- arbeiten und Wandzeitungen, zum Beispiel zum Kastensystem in Indien. „Für unsere Schule war es ein Staatsbesuch. Noch nie hatten wir so ‚hohe’ Gäste in unseren Räumlichkeiten emp- fangen dürfen. Tagelang hatten alle Klassen zum Thema im Unterricht gearbeitet: Die Schu- le wurde beflaggt und geschmückt. Es wurde gebastelt und gekocht. Eine Schule, die oft zu den ‚vergessenen’ Schulen zählt und an diesem Tag im Mittelpunkt der Stadt stand. Radiore- porter holten O-Töne, Fotografen knipsten und als dann noch ein Übertragungswagen auf den Schulhof rollte, war der Ausnahmezustand er- reicht. Der indische Botschafter RC Rangha- chari kam am 22.4.2005 aus Berlin zu uns nach Barmbek und wir wollten uns für diese große Ehre gebührend bedanken: Mädchen in tradi- tionellen Gewändern versuchten eine echte ‚in- dische Begrüßung’, große Flaggen hingen im Treppenhaus und Tajinder aus der 8. Klasse hat- te einen Text ins ‚Hindi’ übersetzt.“ Die Schule unterstützt seit Mitte 2005 ein Straßenkinder- PROJEKTTHEMEN: FAIR PLAY FOR FAIR LIFE ■ Fair Play in Life - Kurzfilm: Wir drehen einen projekt in Kalkutta. Kurzfilm zu dem Thema „Fair Play“. Fair Play in Sport und Spiel: ■ Fair Play-Fotogeschichten: Geschichten ■ Straßenfußball für Toleranz: Straßenfuß- zum Thema Fairness schreiben. Eigene Er- FAIR LIFE-TAGE ALS INDIZ FÜR ball als besondere Art des Fußballspielens fahrungen einbringen. ENGAGEMENT mit eigenem Regelwerk kennen lernen. Fair Play for Fair Life: ■ Behindert - Kein Schimpfwort: Fairer Um- ■ Menschenrecht Wasser: Was ist Wasser? Be- Die Ausgestaltung der Fair Life-Tage ist ein gang mit Behinderten. deutung für den Menschen. Wasserquiz, wichtiges Indiz für das Engagement der Schu- ■ Umgang mit Schwächeren in Schule und Wassertest. le und die Tiefe der inhaltlichen Auseinander- Freizeit: Wir alle haben Stärken und Schwä- ■ Straßenkinder und Straßenfußball in Latein- setzung. Das Städtisches Goethe-Gymnasium chen. Treffen mit Schülern einer Förder- amerika und Deutschland: Lebensverhält- Bischofswerda (Patenland: Tansania): „In 26 schule beim Fußballspiel. Ein Fußballtrainer nisse in Honduras/Deutschland. Projektgruppen wurden die verschiedensten hilft uns dabei. ■ Das Leben von Jugendlichen in der „Dritten Themen bearbeitet. Die Schüler lernten afrika- ■ Kricket: Einführung in den Kricketsport auf Welt“: Der Alltag, die Probleme und Nöte von nische Kultur kennen (Märchen aus Afrika, Afri- Englisch. Jugendlichen der „Dritten Welt“ sollen ver- kanische Kunst, Tierwelt Afrikas, Afrikanische ■ Kämpfen - aber fair: Ihr könnt die Grundla- glichen werden mit dem Leben und den Sor- Tänze und Musik ...) aber auch ernstere Themen gen von Ringen, Capoeira16 und Judo ken- gen der Jugendlichen in Deutschland. (Kolonialgeschichte Afrikas, Aids, Leben der nen lernen. ■ Das Leben von Jugendlichen in Honduras und Kindersoldaten) wurden behandelt. Es wurden ■ Faire Spiele selbst entwickeln - Spiele ohne Mittelamerika: Anhand von Filmmaterial, Ju- Exkursionen in den Zoo nach Dresden durchge- Verlierer: Was heißt Fairness im Spiel? gendzeitschriften und Liedern sollen die führt, um die Tiere der Savanne zu beobachten, ■ Basketball für Anfänger - Fair Play geht vor!: Träume und Lebensperspektiven von Ju- im ‚Eine Welt Laden’ afrikanische Waren be- Kennen lernen der Würfe, Spielzüge und Re- gendlichen aus Mittelamerika untersucht staunt oder das Afrikahaus Sebnitz besucht.“ geln. Mannschaftstrikots bedrucken. werden. Schließlich kann am Fair Life-Tag der Hein- ■ Freeclimbing - ein fairer Sport: Der Kurs be- ■ Kinder in Südamerika: Lieder, Tänze, Spiele, rich-Böll-Schule-Hattersberg deutlich ge- ginnt an der schuleigenen Kletterwand, um praktische Arbeit und Lektüre: Wir lernen das macht werden, was alles möglich ist. Sie ver- die notwendigen Knoten und Sicherungs- Leben der Kinder in den Ländern Südameri- tritt das Land Honduras und hat sich in techniken zu erlernen. Weiter geht es zum kas kennen. Wir hören, singen und tanzen zahlreichen Arbeitsgruppen mit dem Land be- Kletterpark in Flörsheim-Wicker. ihre Lieder. schäftigt. Im Internet ist die Vielzahl der Ar- ■ Shinson Hapkido - Koreanische Selbstver- ■ Die Menschenrechte - Grundlage für ein Le- beitsgruppen in Bild und Wort dokumen- teidigungskunst: In respektvollem Umgang ben in Freiheit: Menschenrechte und Men- tiert (www.heinrich-boell-schule.de). Selbst- lernen wir einfache aber wirksame Techni- schenwürde, eine Errungenschaft für die verständlich standen das Land und seine Men- ken der Selbstverteidigung. man immer wieder einstehen muss. schen im Mittelpunkt der Auseinanderset- ■ Spielewerkstatt - für alle die gerne spielen!: ■ Warum ist die Banane krumm?: Geschichten zung. Aber es gab auch zahlreiche Arbeits- Erfindung eigener Spiele. Nachbau belieb- und Songs rund um die Banane. gruppen zu übergreifenden Themen (siehe ter Spiele. Spiele ausprobieren. ■ Promotion-Tour: „Fair Play für eine gerechte Kasten). Im Kontext der Fair Life-Tage gelang ■ Improvisationstheater: Das Leben mit all Welt“. Mehrere Bike-Touren rund um Hat- es einigen Schulen, auch namhafte Künstler seinen Zufällen, spontanen Eingebungen, tersheim. Ideen werden vor Ort umgesetzt. für die Durchführung von Projekten zu gewin- Ideen und Situationskomiken ist das Dreh- ■ Mathematische Spiele, Geschichten und nen: „Der Wörther ‚Fair Play-Maori’ hat jetzt buch. Rätsel aus aller Welt. seinen festen Platz im Schulhof der Regiona- ■ Wir spielen Theater: Aus drei bis vier Thea- ■ Mittelamerikanische Speisekarte: Landesty- len Schule. Die aus einem Eichenstamm mit ei- terstücken wird eines von der Gruppe zur pische Verpflegung. Landestypische Pro- ner Kettensäge geschnittene zwei Meter hohe Aufführung ausgewählt. Mundartstücke dukte einkaufen. Kochen nach landestypi- Figur war während des ‚Fair Life-Tages Neu- können auch dabei sein. schen Rezepten (für z.B. Tortillas). seeland’ der Regionalen Schule Wörth als ■ Fair Play im Alltag: In Rollenspielen und All- ■ Fairer Handel am Beispiel Kaffee: Wer ver- WM-Schule vom Künstler Gunter Prochaska tagssituationen wollen wir den fairen Um- dient an den so genannten „Kolonialwaren“? gefertigt worden“, so die Dorschbergschule gang mit anderen, aber auch mit uns selbst Grundzüge einer ethisch motivierten Öko- Wörth mit dem Patenland Neuseeland. üben. nomie.

68 Straßenfußball, Fair Play und globales Lernen

DIE GRUND- UND Guyana) hat nach intensiver Suche eine Pa- Bertolt Brecht lässt in den „Flüchtlingsgesprä- HAUPTSCHULE ALDINGEN tenschule in Guyana gefunden. Als die von der chen“ Ziffel, einen der beiden Gesprächspart- VERTRITT KOLUMBIEN Qualifikation der Insulaner für das Finale in ner, die Frage stellen, was geschehen würde, ALS PARTNERLAND. DAS Potsdam erfuhr, sandte sie sofort eine Glück- wenn in der Schule die Schüler gerecht und BILD ENTSTAND KURZ wunsch-E-Mail: „Congratulations from your verständig behandelt würden? Antwort: „Alles, VOR DEM EMPFANG friends here...“ was sie in der Schule, im Verkehr mit den Leh- DER WM SCHULEN IM Schließlich ist die übergreifende Netzwerkbil- rern, gelernt hätten, müsste sie draußen im Le- STUTTGARTER RATHAUS. dung von Interesse. Dabei geht es zum Beispiel ben, das so sehr anders ist, zu den lächerlich- Agentur Zeitenspiegel um die Öffnung der Schule und die Etablie- sten Handlungen verleiten. Sie wären kunst- rung eines lokalen Netzwerkes durch Einbezie- voll darüber getäuscht, wie sich die Welt ihnen hung von interessanten Einzelpersonen, Funk- gegenüber benehmen wird. Sie würden Fair tionsträgern, Vereinen oder Gruppen in die Play, Wohlwollen, Interesse erwarten und ganz Aktivitäten als WM Schule. Das Beispiel der und gar unerzogen, ungerüstet, hilflos der Ge- Erich-Kästner-Schule in Ostfildern (Patenland: sellschaft ausgeliefert sein.“ Die Schülerinnen Argentinien) zeigt, wie wichtig die Einbindung und Schüler des Projektes „WM Schulen: Fair von WM Schulen in lokale und regionale Play for Fair Life“ hingegen erfahren, dass fai- Strukturen für die Entwicklung mittel- und res Verhalten belohnt wird. Dies ist eines der langfristiger Perspektiven ist. Bereits seit eini- Erfolgsrezepte des Projektes. Es bleibt zu hof- gen Jahren betreibt die Organisation „Kick For- fen, dass sich diese Erfahrungen nicht als pro- ward“ – eine Partnerorganisation von „street- jektbezogene Eintagsfliegen erweisen. footballworld“ – in der Heimatregion der Erich-Kästner-Schule das Projekt „Straßen- Internet: www.wmschulen.de sport Ostfildern“. Unter Einbeziehung zahlrei- cher Initiativen beispielsweise aus der Sozial- und Jugendarbeit, den Schulen und den loka- ANMERKUNGEN len Behörden werden nachhaltige Projekte an- 1 Vgl. zur Geschichte von „Straßenfußball für Toleranz“: Uschi Entenmann: Ball statt Revolver. In: FIFA magazine, gestoßen und begleitet, darunter auch eine Heft 11/2004, S. 37-43. Eine multimediale Aufbereitung INTERNATIONALE KONTAKTE UND Projektpartnerschaft der Schule mit einem der Geschichte bietet die CD-ROM „Peace Counts. Die Er- NETZWERKBILDUNG Straßenfußballprojekt in Argentinien. folge der Friedensmacher“. Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. Tübingen 2005. 2 Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Ein besonderes Augenmerk gilt der internatio- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem nalen Kontaktaufnahme und Solidarität der VOM FAIR PLAY-EVENT ZUR STREITKULTUR? Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend, von Pizza Wagner als Hauptsponsor sowie der WM Schulen, also die Suche nach Möglichkei- Deutschen Bahn als Logistik- und Mobilitätspartner. ten direkter Kontaktaufnahme in das Paten- Kommt es zu einem Regeltransfer in den All- 3 Vgl. den Leitfaden: WM Schulen: Fair Play for Fair Life. land bzw. zu dortigen Schulen, deren Umset- tag und fördert die Auseinandersetzung mit Tübingen, Stuttgart, Berlin 2005, S. 3. 4 Ommo Gruppe: Vom Sinn des Sports. Kulturelle, päda- zung und Ausgestaltung sowie die Unterstüt- Straßenfußball die Etablierung einer Streitkul- gogische und ethische Aspekte. Schorndorf 2000, S. 24. zung von Hilfsprojekten. Hier taten sich Schu- tur an der Schule, kommt es also zu einer er- 5 Vgl. Dieter Baumann: Mit Sport gegen Hass und Ge- len mit Kenntnissen in der Durchführung von kennbaren Übertragung der Fair Play-Regeln walt? In: Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber (Hrsg.): Kulturelle Vielfalt. Baden-Württemberg als Ein- „Eine Welt-Projekten“ am Anfang wesentlich in den Schulalltag? Hierzu lassen sich noch wanderungsland. Stuttgart 2005, S. 261-271. leichter als Schulen, die sich zum ersten Mal keine Aussagen machen. Dass das Thema aber 6 United Nations: Sport for Development and Peace. To- mit diesen Themen befassten. Das Glück des für die beteiligten Schulen relevant ist, zeigt wards Achieving the Millennium Development Goals. Re- port from the United Nations Inter-Agency Task Force on Tüchtigen war auf Seiten der Friedrich-Ebert- das Beispiel der Regionalen Schule Prof. Gus- Sport for Development and Peace. 2003. Schule in Luckenwalde. Schon kurz nach der tav Pflugradt (Patenland: Puerto Rico): „45 7 Ulf Neumann: Trendsport als gewaltpräventive Ju- Zulosung ihres Patenlandes Costa Rica konnte Schülerinnen und Schüler besuchten das Mu- gendarbeit. In: Ulf Baumann (Hrsg.): Gewaltprävention in Jugendarbeit und Schule. Konzepte – Praxis – Methoden. die Schule erste Gäste aus dem mittelamerika- sical ‚West Side Story’, aufgeführt auf der See- Marburg 2002, S. 63f. nischen Land empfangen. Die kleine Delega- bühne in Stralsund. Sie erlebten konfliktgela- 8 Eric Dunning: Gewalt und Sport. In: Wilhelm Heitmey- tion war auf Einladung von „Brot für die Welt“ dene Situationen, sinnlose Kämpfe zweier er/John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Ge- waltforschung. Wiesbaden 2002, S. 1130-1152. in Deutschland und betreut in Costa Rica ein Banden, die ihre Straße behaupten möchten, 9 Gunter A. Pilz: Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Fußballprojekt für benachteiligte Kinder. Kon- Streitgespräche über Aufgaben und Stellung Grenzen sport-, körper- und bewegungsbezogener sozia- ler Arbeit am Beispiel der Gewalt und Gewaltprävention im, takte wurden geknüpft und erste Briefe an die der Frauen und Vergleiche zwischen Amerika um und durch den Sport. In: Gunter A. Pilz/Henning Böh- gleichaltrigen Kinder geschrieben. Bereits seit und Puerto Rico. Der Inhalt des Musicals reg- mer (Hrsg.): Wahrnehmen – Bewegen – Verändern. Beiträ- Anfang 2002 unterstützt die Schule Winter- te zum Nachdenken an, denn die gewalttäti- ge zur Theorie und Praxis sport-, körper- und bewegungs- bezogener sozialer Arbeit. Hannover 2002, S. 13-59. huder Weg über den Verein „Afghanistan gen Auseinandersetzungen der Menschen fin- 10 Vgl. exemplarisch: Dorothea Luther/Arturo Hotz: Er- Schulen“ den Wiederaufbau der Mirablead- det man auch im Alltag wieder.“ ziehung zu mehr Fairplay. Anregungen zum sozialen Ler- Schule in Andkhoi im Norden Afghanistans. nen – im Sport, aber nicht nur dort! Bern, Stuttgart, Wien 1988. Und die Grundschule am Insulaner (Patenland: 11 Gunter A. Pilz: Mitternachtssport: medienwirksames NACHHALTIGKEIT ALS HERAUSFORDERUNG Spektakel oder Beitrag zur Gewaltprävention. In ders. u.a. (Hrsg.): Wahrnehmen – Bewegen – Verändern. Beiträge zur Theorie und Praxis sport-, körper- und bewegungs- Wie bei vielen Projekten im Kontext von Fair bezogener sozialer Arbeit. Hannover 2002, S. 237-261. UNSER AUTOR Play, Gewaltprävention und globalem Lernen 12 Jacques Delors u. a.: Lernfähigkeit: Unser verborgener wird sich an der Bereitschaft zur Verstetigung Reichtum. UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahr- hundert. Neuwied 1997, S. 80. Uli Jäger, und zur Ganzheitlichkeit zeigen, ob die Nach- 13 Leitfaden: WM Schulen: Fair Play for fair Life. Tübin- Politologe, ist haltigkeit der Erfahrungen gewährleistet wird. gen, Stuttgart, Berlin 2005. Die genannte wissenschaftli- che Evaluation ist noch nicht veröffentlicht und nur als hauptamtlicher Vor dieser Herausforderung stehen alle WM Manuskript zugänglich. Mitarbeiter und Schulen, aber auch die Projektpartner und 14 Vgl.: Westfälische Rundschau vom 5.10.2005. Geschäftsführer -förderer. Gibt es die Bereitschaft und die 15 Vgl.: Landshuter Zeitung vom 21.9.2005. des Instituts für Ressourcen, um dieses einmalige Projekt auch 16 Capoeira ist eine brasilianische Kampfkunst. Diese Kampfkunst wurde ursprünglich von schwarzafrikani- Friedenspädagogik nach der WM 2006 fortzusetzen und die Schu- schen Sklaven praktiziert, um unauffällig und im Ver- Tübingen e.V. len weiter zu begleiten? Denn die zentrale Her- steckten für den Ernstfall zu trainieren. Tanz und Kampf ausforderung des Projektansatzes bleibt: Hat können in afrikanischen Kulturen nur schwer voneinan- der getrennt werden, weshalb Capoeira nicht nur kämp- das in der Schule und im Projekt erfahrene und ferische Bestandteile enthält, sondern auch sehr viel erlernte Fair Play-Verhalten im Alltag, in Ge- Akrobatik und Spielerei. sellschaft und Politik Bestand?

69 DIE ETWAS ANDEREN TABELLENPLÄTZE! Statistisch gesehen

WOLFGANG WALLA, STATISTISCHES LANDESAMT BADEN-WÜRTTEMBERG

WELTMEISTERSCHAFTEN – DIE 15 ERFOLGREICHSTEN LÄNDER DER „EWIGEN“ WM-TABELLE, 1930 BIS 2002 TÜCKEN DER „EWIGEN“ WM-TABELLE Platz, Teil- Spiele gewonnen unent- verloren Tore Punkte Punkte je „… das ist nur für die Statistik“, hört man unsere Land nahmen schieden nach dfb Teilnahme Sportreporter sagen. Und doch überbrücken 1. Brasilien 17 87 60 14 13 191:82 134 7,88 sie mehr oder weniger gut dürftige Passagen 2. Deutschland 15 85 50 18 17 176:106 118 7,87 eines Fußballspieles durch Zitieren von Daten 3. Italien 15 70 39 17 14 110:67 95 6,33 und Zahlen. Aber auch Zahlen können es in sich haben, wie die „ewige“ WM-Tabelle offen- 4. Argentinien 13 60 30 11 19 102:71 71 5,46 bart. 5. England 11 50 22 15 13 68:45 59 5,36 Brasilien führt die Liste fast unerreichbar an, 6. Spanien 11 45 19 12 14 71:53 50 4,55 es folgen Deutschland, Italien und Argentinien. Am Ende der ersten 15 finden wir die Nie- 7. Frankreich 11 44 21 7 16 86:61 49 4,45 derlande, Ungarn, Polen und Mexiko. Die ge- 8. Schweden 8 42 15 11 16 71:65 41 5,13 nannten Länder haben unterschiedlich oft an 9. UdSSR/Russland 9 37 17 6 14 64:44 40 4,44 den Weltmeisterschaften teilgenommen: Bra- 10. Jugoslawien 9 37 16 8 13 60:46 40 4,44 11. Uruguay 10 40 15 10 15 65:57 40 4,00 12. Niederlande 7 32 14 9 9 56:36 37 5,29 MODIFIZIERTE „EWIGE“ 13. Ungarn 9 32 15 3 14 87:57 33 3,67 WM-TABELLE 14. Polen 6 28 14 5 9 42:36 33 5,50 1. Brasilien 7,9 15. Mexiko 12 41 10 11 20 43:79 31 2,58

2. Deutschland 7,9 Zur Berechnung der „ewigen“ WM-Tabelle wurden gewonnene Spiele mit 2, unentschiedene mit 1 gewertet. Datenquelle: www.dfb.de, und eigene Berechung der modifizierten „ewigen“ Tabelle 3. Italien 6,3

14. Polen 5,5 silien 17-mal, Polen nur 6-mal. Manche quali- DIE BESTEN WM-TORSCHÜTZEN WAREN: 4. Argentinien 5,5 fizierten sich nicht, andere wurden erst nach 1930 Mitglied des Weltfußballverbandes, an- 1. Gerd Müller (BRD) 14 Tore 5. England 5,4 dere wurden „politisch verhindert“. Würden die 2. Just Fontaine (Frankreich) 13 Tore 12. Niederlande 5,3 Punkte der „ewigen“ Tabelle durch die Anzahl 3. Pele (Brasilien) 12 Tore der Teilnahmen dividiert, dann ständen Bra- Ronaldo, noch aktiv (Brasilien) 12 Tore 8. Schweden 5,1 silien und Deutschland gleichauf, Polen würde 5. Sandor Kocsis (Ungarn) 11 Tore 6. Spanien 4,5 um 10 und die Niederlande um 5 Plätze vor- Jürgen Klinsmann (BRD) 11 Tore rücken. 7. Helmut Rahn (BRD) 10 Tore 7. Frankreich 4,5 Obiges mag fremd klingen. Beim sportlichen Teofilo Cubillas (Peru) 10 Tore Wettkampf geht es um die Teilnahme – die ja al- Grzegorz Lato (Polen) 10 Tore 10. Jugoslawien 4,4 les sein soll – und um Ränge. Die Rangfolge Gary Lineker (England) 10 Tore 9. UdSSR/Russl. 4,4 würde sich nochmals erheblich ändern, wenn Gabriel Batistuta (Argentinien) 10 Tore die Anzahl der Spiele je Weltmeisterschaft be- 11. Uruguay 4,0 rücksichtigt würde. Die Anzahl streut zwischen 13. Ungarn 3,7 18 ausgetragenen Spielen bei der Weltmeister- SPEKTAKEL IN DEN STADIEN schaft 1930 in Uruguay und jeweils 64 Spielen 15. Mexiko 2,6 bei den Weltmeisterschaften 1998 in Frank- Die Entwicklung der Zuschauerzahlen vor Ort reich sowie 2002 in Korea und Japan. scheint die Faszination „Fußball“ nicht wieder-

ENTWICKLUNG DER ZUSCHAUERZAHLEN BEI DEN FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFTEN SEIT 1930

Zuschauer insgesamt in 1.000 Zuschauer je Spiel in 1.000

3.500 69 70 3.000 61 60 52 2.500 50 50 47 46 49 42 45 43 2.000 40 36 36 1.500 30 27 24 23 25 24 1.000 20 500 10 0 0 1930 1934 1938 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1974 1978 1982 1986 1990 1994 1998 2002 Urug Ital Frank Bras CH Swed Chile Engl Mex BRD Arg Span Mex Ital USA Frank KoJa

70 Statistisch gesehen

Frauenquote über 40% bzw. nung für jedes gastgebende Land eigentlich Wollten alle 930.000 Mitglieder der baden- unter 20% in den Sportarten erst Jahre nach der Weltmeisterschaft möglich; württembergischen Fußballvereine in einer des LSV Baden-Württemberg, 2005 dann sind solche Betrachtungen aber meistens Mannschaft spielen, gäbe es über 80.000 kein Thema mehr. Mannschaften. Und wollten diese Mannschaf- Pferdesport 31 ten wöchentlich einmal spielen, müssten jähr- 69 31 lich über 2 Millionen Spiele ausgerichtet wer- 65 SPORTVEREINE UND KONJUNKTUR IN den. Das macht deutlich, dass der Mitglied- Tanzsport 35 65 BADEN-WÜRTTEMBERG schaft in Sport- und insbesondere in Fußball- 39 vereinen neben der sportlichen Betätigung 61 Jeder dritte Baden-Württemberger ist aktives eine zusätzliche Bedeutung zukommt. Sport- Schwimmen 50 50 oder passives Mitglied eines Sportvereins, und vereine sind Sozialisationsinstanzen, die es ei- 51 50 fast jeder zehnte in einem Fußballverein ein- nem Mitglied auf einfachem Wege erlauben, zu Leichtathletik 53 geschrieben – beeindruckende Zahlen. einer Gruppe zu gehören und sich zu soli- 47 darisieren. Fanclubs, Merchandising-Produkte, 53 47 Entwicklung der Mitgliederzahl emotionale Teilnahme an Erfolgen und Misser- 56 Rollsport des Landessportverbands folgen der „eigenen“ Mannschaft sind äußere 45 57 Baden-Württemberg seit 1955 Anzeichen dieser Art der Solidarisierung. Inso- 43 fern kommen Fußballvereinen Bedeutungen Tennis 59 Jahr Mitglieder eines Mitglieder zu, die weit über die „körperliche Ertüchtigung“ 41 Sportvereins je 100 Einwohner 60 hinausgehen. 41 1955 643.279 9 Insgesamt 60 40 1965 1.042.458 12 Fachverband Mitglieder In % aller Frauen Männer im LSV Ba-Wü Mitglieder 81 1975 1.777.544 19 Dart 19 1985 2.718.833 29 Turnen 1.128.340 28 81 19 1995 3.438.499 33 Fußball 931.697 23 Schützen 84 16 2005 3.733.993 35 Tennis 337.319 8 84 16 Datenquellen: LSV-Baden-Württemberg, Ski 201.432 5 84 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; Motorsport 16 eigene Berechnungen Leichtathletik 174.488 4 85 15 Handball 165.940 4 88 Die Entwicklung der Bevölkerungszahl und Fußball 12 noch deutlicher der Mitgliederzahlen bilden bis Schützen 164.809 4 89 in die 80er-Jahre die Konjunktureinbrüche ins- Tischtennis 112.966 3 11 besondere der Jahre 1963, 1966 und 1975 ab. Schach 92 Pferdesport 106.128 3 8 Knappe Haushaltskassen veranlassten damals Volleyball 70.677 2 etliche Menschen, ihrem Verein zumindest zeit- Datenquelle: LSV Baden-Württemberg, eigene Darstellung weise den Rücken zu kehren. Die starke Zuwan- Schwimmen 63.790 2 derung aus dem Osten nach dem Zusammen- geben zu können. Vielmehr ist die Zuschauer- bruch der sozialistischen Staaten ließ die Mit- zahl von der Bevölkerungszahl des gastgeben- gliederzahl nicht signifikant ansteigen. Im Die Mitgliederstärksten Vereine den Landes, dem Fassungsvermögen der dor- Gegenteil, die Zuwachsraten streben stetig ge- tigen Stadien, der Erreichbarkeit, der sonstigen gen Null. In einigen Jahren werden die Sport- Sportverein Mitglieder touristischen Attraktivität, den Marketingfä- vereine wegen der zu erwartenden demogra- VfB Stuttgart e.V. 30.210 higkeiten der Gastgeber und natürlich den phischen Entwicklung Mitglieder verlieren. SSV Ulm 1846 e.V. 11.757 Reisekosten abhängig. Die Strategie, große Stadien zu bauen, die tou- VfL Sindelfingen e.V. 9.245 ristische Infrastruktur zu erweitern und zu ver- FUSSBALL – EIN VOLKSSPORT? Männerturnverein 1843 Stuttgart e.V. 8.596 bessern, um dadurch Gäste und Geld ins Land zu locken, mag während der Meisterschaften Von der Mitgliederzahl der baden-württem- aufgehen; fraglich bleibt, ob die langfristigen bergischen Fußballvereine ausgehend ist Fuß- FRAUEN IN SPORTVEREINEN Folgekosten die kurzfristigen Gewinne immer ball hierzulande die bedeutendste aller Sport- aufwiegen können. Andererseits haben die arten, bedeutender sogar als Turnen, da dort Auf den ersten Blick scheint die linke Grafik das Gastgeber die Chance, sich selbst für „spätere“ verschiedene Disziplinen gepflegt werden. klassische Rollenverständnis zwischen Mann Touristen attraktiv darzustellen. Letztlich ist Ob sich die Mitgliedschaft auch in sportlicher und Frau abzubilden. Das trifft so nicht zu. eine vertrauenswürdige Kosten-Nutzen-Rech- Betätigung zeigt, muss bezweifelt werden. Innerhalb eines Fachverbandes gibt es zwar deutliche Prioritäten: Beim Pferdesport, Turnen, Tanzen, Akrobatik, Schwimmen dominieren die Frauen; bei Schach, Fußball, Rugby oder Schie- Veränderung der Mitgliederzahl des LSV Baden-Württemberg und der Bevölkerung ßen die Männer. In Absolutzahlen zeigt sich ein Baden-Württembergs im Vergleich zum Vorjahr in %, seit 1955 anderes Bild:

Mitglieder Bevölkerung 8,0 Fachverband Weibliche im LSV Ba-Wü Mitglieder 6,0 Turnen 737.000 4,0 Tennis 137.000 2,0 Fußball 111.000 0,0 Pferdesport 73.000 Tanzen 40.000 -2,0 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Sportakrobatik 3.000

71 WOLFGANG WALLA, STATISTISCHES LANDESAMT BADEN-WÜRTTEMBERG

Dem Fachverband Turnen wurde 2005 die Mit- Mitglieder in den Fußballverbänden*) Baden-Württembergs 2005 nach Altersgruppen gliedschaft von einer 3/4 Million Frauen gemel- und Geschlecht det. Der Fachverband Tennis hat 137.000 weib- Landesverband Senioren Junioren Junioren Frauen Mädchen insgesamt liche Mitglieder und an 3. Stelle kommt bereits (15-18 Jahre) (bis14 Jahre) (bis16) der Fachverband „Fußball“ mit 111.000 weib- lichen Mitgliedern. Die vermeintlich typischen 1.000 Frauensportarten fallen dagegen eher ab. Württemberg 290 43 114 37 14 499 Baden 115 13 40 22 7 197 ALTERSSTRUKTUR DER MITGLIEDER Südbaden 159 16 48 31 10 265 DES LANDESSPORTVERBANDES Baden-Württemberg 563 72 203 90 32 960 BADEN-WÜRTTEMBERG DFB insgesamt 3.587 500 1.345 634 237 6.303 BaWü in % von DFB 15,7 14,4 15,1 14,2 13,4 15,2 Mitgliederanteil beim LSV Baden- Württemberg 2005 nach Altersgruppen *) Die oben genannten Landesverbände gehören zum Regionalverband SÜD, zu dem auch Bayern und Hessen gehören. in 1000 Die Verbände bilden geographisch weder die administrativen Einheiten, noch die historischen Landesteile ab. Datenquelle: Deutscher Fußballverband; Mitgliederstatistik, 2005 Weibliche Mitglieder

Männliche Mitglieder 375 Dabei sind alle Altersgruppen mehr oder weni- NULLBOCK-GENERATION? 403 ger anteilsmäßig überrepräsentiert, in Würt- temberg am meisten die Senioren und die Ju- In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts 267 nioren und in den beiden badischen Verbän- beklagten viele Sportvereine „mangelnden 180 den die Frauen und Mädchen. Nachwuchs“. Schnell fand man die Ursache in der angeblichen „Nullbock-Mentalität“ der da- 596 514 124 126 Fußballvereine, Mitglieder und maligen Jugendgeneration. Die wesentliche 379 368 Mannschaften in den baden- Ursache war eine andere, wie unten stehendes 184 219 württembergischen Verbänden*) 2005 Schaubild verdeutlicht. Der württembergische Fußballverband hatte unter 14 15 – 18 19 – 26 27 – 40 41 – 60 über 60 Landesverband Vereine Mitglieder Mann- Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre tatsächlich sinkende Mannschaftszahlen bei in 1000 schaften den Junioren zu verzeichnen. Geht man davon Württemberg 1.809 499 13.660 aus, dass die Entwicklung der Anzahl der 1,2 Millionen Mitglieder des LSV Baden- Baden 631 197 4.783 Mannschaften die der jugendlichen Mitglieder Württemberg sind jünger als 18 und 0,5 Millio- widerspiegelt, dann erklärt sich der Rückgang Südbaden 737 265 5.752 nen älter als 60 Jahre. Dass Sportvereine „ver- ausschließlich aus der sinkenden Zahl der Ju- greisen“, kann so nicht belegt werden. Sport Baden-Württemberg 3.177 960 24.195 gendlichen; von 1977 bis 1987 sank die Zahl scheint für viele junge Menschen attraktiv zu DFB insgesamt 25.922 6.303 170.480 der 6- bis unter 15-Jährigen um fast ein Drit- sein. Bemerkenswert ist der hohe Anteil von BaWü in % von DFB 12,3 15,2 14,2 tel. An dieser Entwicklung gemessen, hat sich Mädchen, der sich mit zunehmendem Alter zu die Anzahl der Jugendmannschaften im würt- *) Die o. g. Landesverbände gehören zum Regionalver- reduzieren scheint. Aber auch das ist nicht ganz band SÜD, zu dem auch Bayern und Hessen gehören. tembergischen Fußballverband sogar sehr dy- eindeutig, wie folgende Tabelle belegt: Von Die Verbände bilden geographisch weder die administra- namisch entwickelt. Noch deutlicher wird dies, 2004 bis 2005 haben mit Ausnahme der 27- bis tiven Einheiten, noch die historischen Landesteile ab. wenn man die Entwicklung ab 1997 betrach- 40-Jährigen alle Altersgruppen Mitgliederzu- Datenquelle: Deutscher Fußballverband; tet; trotz einer gleich bleibenden Anzahl der 6- Mitgliederstatistik 2005 wächse gemeldet. Die höchste Zuwachsrate bis unter 15-Jährigen wuchs die Anzahl der war mit + 5% bei den über 60-jährigen Frauen Mannschaften um fast ein Drittel. Der demo- festzustellen. Es scheint, als ob Frauen, wenn sie Insgesamt sind die Mitglieder in drei Landes- graphische Einbruch wird sich erst in etwa 20 aus dem Berufsleben ausscheiden und von Fa- verbänden, mit fast 3.200 Vereinen organi- Jahren auswirken. milienaufgaben entlastet werden, sich eher siert, die zusammen über 24.000 Mannschaf- sportlich engagieren als gleichaltrige Männer. ten bilden. Das größte Kontingent unter den Mannschaften bilden die 16.000 Mannschaf- Mitgliederbestand beim LSV Baden-Würt- ten der Junioren und Mädchen. temberg 2005 und Veränderung zu 2004 nach Geschlecht und Altersgruppen

Mitglieder Veränderung Altersgruppen in 1000 2005 zu 2004 Einfluss des demografischen Faktors und der Weltmeisterschaften auf die Anzahl der Männlich Weiblich Männlich Weiblich Jugendmeisterschaften im württembergischen Fußballverband seit 1977 unter 14 Jahre 514 403 2 % 2 % 15 - 18 Jahre 184 124 2 % 2 % 19 - 26 Jahre 219 126 1 % 1 % Anzahl der Jugendmannschaften 6- bis unter 15-jährigen Jungen, 1977 =100 27 - 40 Jahre 379 267 – 4 % - 4 % 40 41 - 60 Jahre 596 375 0 % 1 % 8.000 30 20 über 60 Jahre 368 180 2 % 5 % 6.000 10 Insgesamt 2260 1474 0 % 1% 0 Datenquelle: LSV-Baden-Württemberg 4.000 -10 -20 FUSSBALL IN BADEN-WÜRTTEMBERG 2.000 -30 -40 Baden-Württemberg beherbergt 13% der 0 -50 Bundesbevölkerung, hat aber 15% der Mitglie- 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 der des Deutschen Fußballverbandes.

72 Aus unserer Arbeit

VERANSTALTUNGEN DER LPB 2005 IM URTEIL DER TEILNEHMENDEN Die Gretchenfrage am Ende: „Wie war’s …?“

JEANNETTE BEHRINGER / ROBERT FEIL

EVALUATION – WOZU UND Perspektivenvielfalt Die Landeszentrale arbeitet in all ihren Angeboten strikt überparteilich, um ZU WELCHEM ZWECK? die Objektivität der Meinungsbildung nicht zu gefährden. Das bedeutet, dass sie in den von ihr angebotenen Themen die derzeit wichtigsten Dis- Das Thema „Evaluation im Bildungsbereich“ kussionslinien, Positionen und Argumente kennt und sie in ihrer Arbeit wird seit langem kritisch diskutiert. Umstritten heterogen und kontrovers abbildet. Die Überparteilichkeit geht über die sind Sinn, Nutzen und mögliche Erträge, das Einbindung des Parteienspektrums hinaus und verlangt ebenso die Ein- Verhältnis von Aufwand und Ertrag: Welche bindung von Akteuren aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Ziele soll eine Evaluation verfolgen? Wie, mit welchen Methoden, kann ein „Ertrag“ einer Bil- Aktualität Aktuelle Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft werden in dungsmaßnahme überhaupt erfasst werden? Publikationen und Veranstaltungen der Landeszentrale in adäquater Weise Wie wird mit den Ergebnissen umgegangen? und in angemessenem Umfang abgebildet. Im Rahmen von Projekten und Wer erhält diese zum Teil sensiblen Daten, wozu Jahresschwerpunkten werden aktuelle Themen, Ereignisse und Entwicklun- werden die Ergebnisse verwendet? gen ebenfalls aufgegriffen. Aktualität umfasst zudem die Entwicklung und Gerade politische Bildung, die auf die freiwilli- den Einsatz innovativer Methoden der politischen Bildung. ge Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger und Chancengleichheit Die Landeszentrale vertritt eine aktive Auffassung von Chancengleichheit deren Eigenmotivation angewiesen ist, muss von Frauen und Männern. In den Angeboten der Landeszentrale spiegelt sich besonders essentiell um die Interessen, Be- sich diese Auffassung qualitativ und quantitativ wider; z.B. werden Frauen dürfnisse und Erwartungen der Bürgerinnen und Männer bei der Struktur der Angebote angemessen berücksichtigt (als und Bürger kümmern, für die die Angebote er- Referent/innen, Moderator/innen, Autor/innen). stellt werden. Dabei kann die Landeszentrale Zugang Die Landeszentrale möchte allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes ei- natürlich auf gewisse Standards und Traditio- nen freien und offenen Zugang zu ihren Angeboten bieten. Niemand wird nen zurückblicken, ist sie doch seit jeher an den von der Wahrnehmung von Angeboten ausgeschlossen. Zusätzliche Ange- Meinungen ihrer „Kundschaft“ über die vielfäl- bote für besondere Zielgruppen stehen dazu nicht im Widerspruch, son- tigen Produkte interessiert, an Beurteilungen dern sind als Maßnahmen der Angebotsspezialisierung im Sinne der Ver- der Bücher und Zeitschriften, der Spiele und Ar- breiterung des Zugangs zu verstehen. beitshilfen, an den Veranstaltungen – und na- Interventionsfähigkeit Die Landeszentrale verfolgt mit ihrer Arbeit letztlich das Ziel, Bürgerinnen türlich am Eindruck über die gesamte Arbeit. und Bürger in der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten als Bürgerin- Diese Rückmeldungen und ihre Berücksichti- nen und Bürger zu unterstützen. Dazu gehört neben der Vermittlung von gung sind wichtig, da sie für die Weiterentwick- Fachwissen auch die Vermittlung von kommunikativer Kompetenz und So- lung unserer Arbeit notwendig sind. Dies ge- zialkompetenz. Inhalt und Form unserer Angebote werden demzufolge als schieht auf unterschiedliche Weise: Die münd- Einheit verstanden. Die Ermutigung, sich in vielfältiger Weise politisch zu liche Feedbackrunde am Ende einer Veranstal- engagieren, gehört dabei ausdrücklich zu unserem Aufgabenfeld. tung gehört zum Standardrepertoire, im Jahr 2001 wurde eine Kundenbefragung durchge- Qualitätssicherung Die Landeszentrale will sowohl die Qualität ihrer Angebote wie auch die führt, 2004 haben langjährige Kenner unseres Qualität der Arbeitsabläufe in der Landeszentrale garantieren. Qualität be- Offenen Seminarprogramms in telefonischen zieht sich dabei auf die didaktische Qualität unserer Angebote, die Ent- Interviews ihr Urteil abgegeben. Die Grundlage wicklung von Innovationen sowie die entsprechende Weiterbildung der für eine systematischere Evaluation zu schaf- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. fen, das methodische Vorgehen hinsichtlich Dienstleistung Die Landeszentrale arbeitet kooperativ, offen und transparent mit anderen einzelner Formate besser aufeinander abzu- Trägern der politischen Bildung zusammen. Sie entwickelt Angebote und stimmen und die Ergebnisse systematischer zu erstellt Materialien, die durch einen möglichst großen Nutzerkreis nachge- verwenden – ausgehend von diesen Anliegen fragt werden können. Sie unterstützt die interessierten und für eine aktive bildete sich eine interne Arbeitsgruppe, um das Bürgergesellschaft tätigen Bürgerinnen und Bürger, Initiativen, Vereine zukünftige Vorgehen in Bezug auf die Selbst- und ehrenamtlich Tätigen. evaluation neu auszuarbeiten.

ZIELE UNSERER ARBEIT tete die Arbeitsgruppe einen Zielkatalog aus, den Veranstaltungsbereich angewandt, eines der ein wichtiges Dokument über die Grundla- der Standbeine der Landeszentrale mit ca. 850 Bei einer Selbstevaluation liegt die Verantwor- gen der Arbeit der Landeszentrale für politi- Veranstaltungen im Jahr. Dazu wurden diese in tung für die Ausarbeitung, Durchführung und sche Bildung ist. Dieser Zielkatalog wurde in konkrete Fragestellungen und Aussagen Erhebung bei den Beteiligten und Betroffenen. einem internen partizipativen Prozess zur Dis- „übersetzt“, um sie in der Bewertung von Ver- Dies schließt die Beteiligung externer Institu- kussion gestellt, Ergebnisse und Anregungen anstaltungen anwenden zu können. In Koope- tionen nicht aus, garantiert aber, dass die The- aufgenommen. Er dient als Basis für alle wei- ration mit der Universität Stuttgart wurde ein men der Evaluation an den spezifischen päda- teren Schritte in Bezug auf die Evaluation der Fragebogen für die Teilnehmerinnen und Teil- gogischen Zielsetzungen der Bildungseinrich- einzelnen Aktivitäten der Landeszentrale und nehmer entwickelt, der im vergangenen Jahr tung ausgerichtet sind. Bei dieser Vorgehens- umfasst Ziele, die in der Tabelle zusammenfas- zum ersten Mal in ausgewählten Monaten weise muss ein besonderes Augenmerk darauf send dargestellt sind. eingesetzt wurde, um eine repräsentative gerichtet werden, dass auch alle als wichtig Stichprobe zu gewährleisten.1 In die Erhebung erkannten Themen in der Evaluation bearbei- werden mindestens Halbtagesveranstaltun- tet werden (z. B. im Fragebogen erfasst sind), INSTRUMENTE UND VERFAHREN gen, jedoch nicht reine Vortragsveranstaltun- und es muss der achtsame Umgang mit den DER EVALUATION gen, Aktionen und Studienreisen einbezogen. internen Daten beachtet werden. Für Veranstaltungen mit Schülerinnen und Auf der Basis einer umfassenden Analyse von Diese Ziele beziehen sich auf unsere gesamte Schülern wird ein eigener Fragebogen einge- Quellen und Literatur und Diskussionen arbei- Arbeit. Zunächst wurden diese Ziele nun auf setzt. Dateneingabe und die technische Be-

73 JEANNETTE BEHRINGER / ROBERT FEIL treuung der Ergebnisse wird durch das exter- WIE WICHTIG SIND DIE VERANSTALTUNGEN Veranstaltungen der politischen Bildung sind – ne Büro Analyticus Data in Karlsruhe unter- FÜR DIE PERSÖNLICHE MEINUNGSBILDUNG? neben der Förderung weiterer Kompetenzen – stützt. Der „Rücktransfer“ der Daten erfolgt Informierte und interessierte Bürgerinnen und ein wichtiges Instrument, um dieses Interesse auf zwei Ebenen: Zunächst erhalten die einzel- Bürger sind das Fundament einer lebendigen zu wecken und zu steigern. nen Fachbereiche Rückmeldungen über ihre und funktionierenden demokratischen Gesell- Gemäß den Ergebnissen unserer Umfrage ist es Veranstaltungen; ausgewählte aggregierte schaft: Sie beteiligen sich mehr als Andere am sehr erfreulich, dass bei der großen Mehrheit Daten im Überblick, die keinerlei personenbe- politischen Geschehen, sie bringen ihre Zeit der Befragten das Interesse an Politik bzw. am zogene Rückschlüsse erlauben, werden an eine und ihr Engagement in politische Prozesse ein Thema der von ihnen besuchten Veranstaltung zentrale Anlaufstelle gesendet. und sind eher daran interessiert, in politischen gestiegen ist: 67,1 Prozent der Personen geben Neben den Fragen und Bewertungen zur Qua- Ämtern mitzuwirken. Größeres Wissen um po- an, dass dies der Fall ist. Bei 32,3 Prozent der Be- lität unserer Veranstaltungen, die sich an den litische Abläufe stärkt ebenso das Verständnis fragten ist das Interesse gleich geblieben. Her- oben genannten Zielen orientieren, werden die für Prozesse der politischen Meinungs- und vorzuheben ist, dass insbesondere das Interes- Personen um soziodemographische Angaben Willensbildung. Bei der Beurteilung, inwiefern se der Teilnehmenden, die als letzten zurücklie- gebeten. Des Weiteren besteht selbstverständ- die Veranstaltungen der Landeszentrale zur genden Bildungsabschluss „Hauptschule“ an- lich die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge geben, mit 83,3 Prozent überdurchschnittlich und weitere Anmerkungen zu unseren Veran- gestiegen ist. staltungen „loszuwerden“. Item: Die Veranstaltung war für meine persönliche Meinungsbildung INWIEFERN WÜRDEN TEILNEHMENDE UNSERE wichtig. VERANSTALTUNGEN WEITEREMPFEHLEN? AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE Um die Qualität von Veranstaltungen zu beur- Trifft zu 40,5 % DER EVALUATION teilen, müssen unterschiedliche Faktoren be- Trifft eher zu 38,1 % rücksichtigt werden. Ein wesentliches Krite- WIE ÜBERPARTEILICH SIND UNSERE Unentschieden 14,6 % rium dafür ist die Weiterempfehlung durch die VERANSTALTUNGEN? Trifft eher nicht zu 4,7 % Teilnehmenden, ein zweiter ist der Nutzen, den Die wichtigste Grundlage unserer pädagogi- die Teilnehmenden aus der Veranstaltung für schen Arbeit, der „Beutelsbacher Konsens“, be- Trifft nicht zu 2,1 % sich „ziehen“ können. Hier zeigt sich noch ein- schreibt die Notwenigkeit, kontroverse Dinge mal sehr deutlich die hohe Qualität der Veran- auch kontrovers zu behandeln und Themen ABBILDUNG 2: BEURTEILUNG DER AUSSAGE: staltungen der Landeszentrale für politische aus überparteilicher Perspektive zur Diskus- „DIE VERANSTALTUNG WAR FÜR MEINE PERSÖNLICHE Bildung Baden-Württemberg: 95,8 Prozent der sion zu stellen. Das Ziel der „Perspektivenviel- MEINUNGSBILDUNG WICHTIG“. Teilnehmenden würden die Veranstaltung falt“ beschreibt diese Anforderung und ist weiterempfehlen. 93,6 Prozent der Befragten zentral für unsere gesamte Arbeit. Die Landes- geben weiter an, dass die Veranstaltung ihnen zentrale für politische Bildung verpflichtet Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger einen persönlichen Nutzen gebracht hat. Der sich in all ihren Angeboten, die wichtigsten beitragen, bejahen dies insgesamt 78,6 Pro- Fragebogen bot die Möglichkeit, genauere An- Argumente und Positionen verschiedener Par- zent der Befragten. Davon sind 40,5 Prozent gaben dazu zu machen, woraus dieser Nutzen teien, Personen und/oder Institutionen sicht- der Personen vollständig dieser Meinung, für besteht. Hier wurden vor allem folgende An- bar zu machen, damit die Teilnehmenden ob- 38,1 Prozent der Befragten tragen die Veran- gaben gemacht (Auswahl): „Mehr und gute In- jektiv informiert werden. staltungen zum großen Teil zu ihrer persön- formationen“; „Mehr Wissen“; „Erfahrungsaus- Aus der Umfrage 2005 ergibt sich eindeutig, lichen Meinungsbildung bei. tausch“; „Leute kennen gelernt“; „Anregun- dass aus Sicht der Teilnehmenden in den Ver- gen“; „Sensibilisierung für das Thema“ und „An- anstaltungen unterschiedliche Perspektiven, WIE VERÄNDERT SICH DAS INTERESSE AN dere Ansätze/Methoden kennen gelernt“. verschiedene politische Einschätzungen und POLITIK DURCH UNSERE VERANSTALTUNGEN? Interessen in hohem Masse abgebildet sind. Wichtige Aufgabe der politischen Bildung ist es, Insgesamt sind 88,4 Prozent der Befragten Bürgerinnen und Bürger für politische Themen AUSBLICK dieser Meinung. Für 52,2 Prozent trifft dies in und Fragen zu interessieren, damit sie ihre vollem Umfang zu, für 36,2 Prozent der Be- Rechte und Pflichten besser wahrnehmen kön- Die Ergebnisse der Veranstaltungsevaluation fragten trifft dies im Großen und Ganzen zu. nen. Laut einer repräsentativen Umfrage der 2005 sind sehr gut und vielversprechend. Sie Bertelsmann-Stiftung bekunden im November erfassen die subjektive Sicht der Teilnehmen- 2003 nur 56 Prozent der bundesdeutschen Bür- den. Mittel- und langfristige Aussagen lassen Item: Das Thema der Veranstaltung gerinnen und Bürger ein Interesse an Politik: 16 sich jedoch erst dann treffen, wenn der Veran- wurde aus verschiedenen Perspektiven Prozent votieren mit „sehr starkes Interesse“ staltungsfragebogen über mehrere Jahre ein- beleuchtet. und 40 Prozent geben ein „starkes Interesse“ an. gesetzt wurde. Eine Evaluation macht auch Trifft zu 52,1 % Trifft eher zu 36,2 % 90,0 % stärker Unentschieden 9,0 % geworden Trifft eher nicht zu 2,0 % 80,0 % gleich Trifft nicht zu 0,7 % 70,0 % geblieben 60,0 % schwächer ABBILDUNG 1: BEURTEILUNG DER AUSSAGE: geworden 50,0 % „DAS THEMA DER VERANSTALTUNG WURDE AUS VERSCHIEDENEN PERSPEKTIVEN BELEUCHTET“ 40,0 % 30,0 % UNSERE AUTOREN 20,0 % 10,0 % Dr. Jeannette Behringer ist Mitarbeiterin der Landeszentrale für politische Bildung Ba- 0,0 % Gesamt Hauptschule Realschule Hochschulreife abgeschlossenes noch Schüler/in den-Württemberg (LpB) und arbeitet im Re- Studium ferat des Direktors. Robert Feil ist ebenfalls Mitarbeiter der LpB und leitet das Referat ABBILDUNG 3: FRAGE: „HAT SICH IHR INTERESSE AM THEMA DURCH DEN BESUCH DER VERANSTALTUNG VERÄNDERT Zukunft und Bildung. ODER IST ES GLEICH GEBLIEBEN?“ Aus unserer Arbeit

nur dann Sinn, wenn die Ergebnisse als „Wis- sensquelle“ in die weitere Arbeit einbezogen 100,0% werden. In diesem Jahr werden wir den Frage- 90,0% bogen im Veranstaltungsbereich mit leichten 80,0% Modifikationen erneut einsetzen. Die Methode des Fragebogens ist darüber hin- 70,0% aus als ein Instrument unter mehreren zu ver- 60,0% eher stehen: Das direkte Gespräch mit den Teilneh- 50,0% weiterempfehlen/Nutzen menden, die „mündliche Blitzlichtrunde“ im 40,0% gebracht Seminar wird deshalb nicht überflüssig. In der Ergänzung verschiedener Fragestellungen, 30,0% eher nicht Methoden und Vorgehensweisen, die aufein- 20,0% weiterempfehlen/keinen ander abgestimmt sind, liegt unseres Erach- Nutzen gebracht 10,0% tens die Stärke der Evaluation. 0,0% ANMERKUNG Weiterempfehlung Nutzen 1 Der Fragebogen wurde im Jahr 2005 von Februar bis Juni eingesetzt. 1.503 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen teil. Dieser Ausschnitt stellt eine repräsentative ABBILDUNG 4: FRAGE „WÜRDEN SIE DIESE VERANSTALTUNG EHER WEITEREMPFEHLEN ODER NICHT?“ UND FRAGE „HAT Stichprobe dar. IHNEN DIE VERANSTALTUNG EINEN PERSÖNLICHEN NUTZEN GEBRACHT ODER NICHT?“

Reinhold Weber/Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Bd. 34, Stuttgart 2006.

Seit seiner Gründung im Jahr 1952 ist Kultur und nicht zuletzt über Religionen Baden-Württemberg einen erfolgreichen und Konfessionen in Baden-Württemberg. Weg gegangen. Aber das Land hat auch tiefgreifende Veränderungen erfahren – Der Grundlagenband zum „Ländle“ sei es in den Bereichen Föderalismus, versteht sich als Studienbuch und als europäische Einigung oder durch die Nachschlagewerk. Herausforderungen der Globalisierung und des demografischen Wandels der Erhältlich gegen eine Schutzgebühr deutschen Gesellschaft. von 6.50 EUR (zzgl. Versandkosten) bei der Landeszentrale für Namhafte Autoren bieten eine politische politische Bildung, Marketing, Landeskunde zum deutschen Südwesten Stafflenbergstr. 38, 70184 Stuttgart auf dem neuesten Stand. Grundlegend [email protected] oder über informiert wird über Geschichte, Politik, www.lpb-bw.de/Shop. politisches System und politische Kultur, Geografie, Bevölkerung und Gesell- schaft, Verwaltung, Wirtschaft, Bildung,

75 Buchbesprechungen

Der „Tucholsky“ unter den Prototyp jener „Kulis einer Epoche, da der Un- hen könnten, die sich als „Erben der Priester“ auf Sportjournalisten tertan schweifwedelnd seine Inspirationen von ihre pädagogische Mission beriefen. Den ande- einer höheren Affenkaste empfing“. ren, so hofft Dieter Lenzen, könnte Luhmanns BERND-M. BEYER: Was Wunder, dass er mit diesen Satiren den Rationalisierung vielleicht das Erziehungssys- Unmut deutsch-nationaler Kreise auf sich zog tem „emotional erträglicher“ machen. Schon Der Mann, der den Fußball nach und mit unüberhörbar antisemitischen Unter- 2002 hatte Lenzen gemeint, Luhmann argu- Deutschland brachte. tönen angefeindet wurde. Bensemann bekam mentiere „nicht unbetroffen von defensiven Das Leben des Walther Bensemann. den wachsenden Antisemitismus, der immer Reaktionen“ mancher Pädagogen. Man muss salonfähiger wurde, zu spüren. Die Machtüber- sich wohl als einer, der Pädagogik aus der Pra- Verlag Die Werkstatt, Göttingen, nahme der Nazis zwang Bensemann, der jü- xis und aus der Theorie kennt, auf eine aufre- 3. Auflage 2005 discher Herkunft war, völlig in die journalisti- gende Lektüre gefasst machen. 544 Seiten, 26,90 Euro sche und persönliche Defensive, schließlich ins Den gleichen Gegenstand kann man „in unter- Schweizer Exil, wo er am 12. November 1934 in schiedlicher Beleuchtung“ betrachten: intern Das Sportmagazin „Kicker“ kennt wohl jeder Montreux – in jenem Ort, in dem seine Mission (pädagogisch) oder extern (hier: soziologisch). Fußballfan. Wenige nur wissen aber, dass sich begann – verstarb. Das erste, worauf sich der Leser einstellen muss, hinter dem Gründer der Zeitung eine intellek- Bernd-M. Beyer hat in seinem biografischen Ro- ist die ungewohnte Sprache der Kybernetik, die tuelle, kosmopolitische und schillernde Figur man, der auf einem überaus gründlichen Quel- der Systemtheoretiker Luhmann pflegt: Der der deutschen Fußballgeschichte verbirgt. lenstudium beruht, das fesselnde Porträt dieses Schüler ist ein „System“, dessen Veränderung Walther Bensemann, in einer weltoffenen und beinahe vergessenen Fußballpioniers einfühl- beabsichtigt ist. Er ist wie eine Nicht-Trivialma- kulturell aufgeschlossenen Familie aufge- sam und bewegend gezeichnet. Entstanden ist schine, die „typisch selbstbestimmt und unzu- wachsen, besuchte ab dem zehnten Lebensjahr ein Buch, dem man viele Leser und Leserinnen verlässig“ reagiert, im Unterricht aber so be- in Montreux eine englische Schule, in der er sei- wünscht, die sich über die frühe Phase des deut- handelt wird, als wäre sie eine Trivialmaschine, ne erste Bekanntschaft mit dem Lederball schen Fußballs informieren wollen. die auf einen Input mit dem erwarteten Output machte und rasch Gefallen am Ideal des Fair Zugleich ist der Roman mehr als nur eine Erin- zu reagieren hat. Interaktion im Unterricht ist Play fand. Als 16-Jähriger „importierte“ Bense- nerung an Bensemann und dessen Verdienste. demnach ein strukturiertes und zufallsemp- mann das Spiel aus der Schweiz, dem kontinen- Es ist auch eine Aufarbeitung der schmachvol- findliches selbstreferentielles System. Der Kon- talen Einfallstor der neuen Sportart, nach Süd- len und unsäglichen Rolle des DFB, der ein Ar- trollapparat (mit Lob, Tadel, Zensuren und Ab- deutschland. Er avancierte zum wichtigsten rangement mit dem nationalsozialistischen schlüssen) „ist ein wichtiger Teil dieser beson- Fußballpionier südlich der Mainlinie und för- Ungeist einging. deren Effektivität eines ausdifferenzierten Sys- derte mit missionarischem Eifer vor allem in Siegfried Frech tems.“ (S. 22) Karlsruhe, Mannheim, Baden-Baden, Freiburg, Interessant ist die Art, wie Luhmann mit immer Straßburg und München den Fußball. Er grün- neuen Anläufen umschreibt, was das Erzie- dete Vereine (1889 den ersten süddeutschen Die Erziehungsmaschine hungssystem denn sei: Es sei paradox, meint er Fußballverein überhaupt in Karlsruhe) und or- zunächst, „etwas institutionalisieren zu wollen, ganisierte erstmalig grenzüberschreitende NIKLAS LUHMANN: was sowieso abläuft: Sozialisation.“ (S. 9) Ein- Spiele – die „Ur-Länderspiele“ der Fußballge- facher und erfolgreicher wäre es, „die Soziali- schichte, bei denen die Deutschen gegen die Schriften zur Pädagogik. sation so laufen zu lassen, wie sie läuft, und die Engländer zweistellig verloren. Bei Bensemann Herausgegeben und mit einem Vorwort Belehrung der Welt zu überlassen.“ (S. 105) Er- war der Siegeszug des runden Leders stets mit von Dieter Lenzen. ziehungssysteme seien nichts anderes als der (sozial)politischen Idee verbunden, den „Selbstsozialisation psychischer Systeme in so- „klaffenden Gegensatz der Stände“ zu mildern, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004 zialen Umwelten“, (S. 9) Erziehung sei „eine Ver- und er beschwor das friedensstiftende und (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1697) anstaltung sozialer Systeme, spezialisiert auf grenzüberschreitende Potenzial des Fußball- 278 Seiten, 11,00 Euro die Veränderung von Personen“ und ziele „auf spiels, das engstirniges Nationaldenken zu Nützlichkeit auch für andere Systeme.“ Dann überschreiten vermag und mithin der Versöh- Man musste nicht zu den Achtundsechzigern ein Seitenhieb: „Trotz aller Reklame für lebens- nung verfeindeter Nationen dient. Nicht zuletzt gehören; es genügte, einfach jung zu sein, um langes Lernen hat die Erziehung nicht sich die Katastrophe des Ersten Weltkriegs veranlas- jenen berühmten Satz Hegels als Provokation selbst zum Endzweck.“ (S. 117) Erziehung sei ab- ste ihn, gerade in internationalen Fußballbe- zu empfinden: „Was vernünftig ist, das ist wirk- sichtsvolle Kommunikation, sie wolle Resultate gegnungen ein Instrument der Völkerverstän- lich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Im sehen und müsse deshalb die Zöglinge wie Tri- digung zu sehen. Jahr 1988 hat einer den Hegelpreis der Stadt vialmaschinen behandeln (auch wenn man den Auch die Gründung der inzwischen legendären Stuttgart erhalten, der es meisterhaft verstand, „rebellierenden“ Pädagogen zugestehen könne, Zeitschrift „Kicker“ im Jahre 1920 war von die- die Verhältnisse so lange zu interpretieren, bis dass es so einfach nicht sei). Erziehung kann die sem Leitmotiv getragen: „Der ‚Kicker’ ist ein sie einem als vernünftig erschienen. Es war der Aufgabe der Sozialisation nicht einfach über- Symbol der Völker-Versöhnung durch den Soziologe Niklas Luhmann, der auch den uner- nehmen, ist „nicht etwa die rationale Form der Sport.“ (Kicker, Nr. 25/1920). Kernregion der Zei- träglichsten Paradoxien noch einen für das Sozialisation.“ Die Pädagogen hätten dafür zu tung war Süddeutschland: Die Redaktion resi- Funktionieren des Systems erforderlichen Sinn sorgen, dass „der Preis nicht zu teuer und das dierte anfangs in Konstanz, dann einige Zeit in abgewinnen konnte. Resultat nicht schlimmer wird als das Unterlas- Stuttgart, Ludwigshafen und siedelte schließ- Niklas Luhmann wurde 1927 geboren und ist sen der Bemühung.“ (S. 122) Erziehungsresul- lich in die Fußball-Hochburg Nürnberg um. In 1998 gestorben. Bei seinem Tod hinterließ er tate seien eine psychische Auswirkung von seinen berühmt-berüchtigten Glossen erwies auch Arbeiten zur Erziehung, die Dieter Lenzen Kommunikation, „und zwar, im Unterschied zur sich Bensemann als Querdenker, der in seinen dann herausgegeben hat: 2002 erschien „Das Sozialisation, absichtsvoll herbeigeführte, als journalistischen Meisterstücken – ganz im Sin- Erziehungssystem der Gesellschaft“ als Teil von Verbesserung gemeinte [!] Veränderungen psy- ne eines Weltbürgers – streitbar gegen Behin- Luhmanns Gesellschaftstheorie, zwei Jahre chischer Systeme.“ (S. 159) Die Pädagogen derungen des Fußballbetriebs durch die deut- später die hier zu besprechenden „Schriften zur bräuchten im Übrigen auch nicht besonders sche Obrigkeit und engstirnige, chauvinistische Pädagogik“. Der Band umfasst elf verstreut pu- stolz auf ihren erfolgreichen Umgang mit Para- Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes blizierte Aufsätze aus der Zeit von 1985 bis doxien zu sein; so etwas gebe es auch in ande- anschrieb. Mehr noch: Bensemann argumen- 1997, die meist auf Vorträge des Autors zurück- ren Teilsystemen der Gesellschaft. tierte in brillanten Leitartikeln heftig gegen jede gehen. Besonders eigenwillig formuliert der Autor, Spielart nationalistischen Gehabes und wetter- Schon bei seinen Vorträgen hatte Luhmann das wenn er auf Bildung zu sprechen kommt. Bil- te gegen das Erbe des deutschen Militarismus. Publikum der Pädagogen gespalten; der Her- dung zählt für ihn zu jenen anspruchsvollen Be- Als Gegenbild zum polyglott auftretenden ausgeber warnt deshalb in seinem Vorwort da- griffen, welche die geisteswissenschaftliche (Welt)Bürger charakterisierte er den mit viel vor, dass sich durch Luhmanns Art, die Dinge zu Tradition zur Verfügung stellt; aber es sei ganz Gepolter auftretenden „Deutschen“ einmal als sehen, diejenigen als existenziell bedroht anse- einfach: „Bildung ist das Resultat der Bemü-

76 Buchbesprechungen hungen der Pädagogen.“ (S. 242) Luhmann er- tem sei hier beispielhaft skizziert. Im 18. und 19. Kriege der Vergangenheit angehören würden. klärt, wie es dem Erziehungssystem gelingt, sei- Jahrhundert war es ein Problem gewesen, ob die Mit dieser weltpolitischen Wende keimte die ne Paradoxien zu entstören und so weit un- Wirtschaft Schule überhaupt erlaubt. Dann Hoffnung einer friedlicheren und gerechteren sichtbar zu machen, dass sie nicht mehr auffal- kam die Schulpflicht und Schule sollte auf eine Welt auf. Diese Hoffnung ist jedoch längst der len. „Das Erziehungssystem hat eigene Formen familienunabhängige Berufstätigkeit vorberei- Ernüchterung gewichen. Die Golfkriege, die des Umgangs mit Paradoxien entwickelt. Es ten. Heute konfrontiert die Wirtschaft das Er- Zerfallskriege Jugoslawiens und die Kriege in nennt sich zu diesem Zwecke ‚Bildungssystem’.“ ziehungssystem mit einer paradoxen Erwar- Afrika offenbarten am Ende des vergangenen (S. 241) Bildung diene auch „als kommode Be- tung: es fordert Generalisierung und Speziali- Jahrhunderts eine neue Erscheinungsform zeichnung für offizielle Bemühungen, die man sierung zugleich. Die Lösung nach Luhmann: und bis dahin unbekannte Grammatik des angesichts des Alters der Klienten nicht mehr mal dem einen und mal dem anderen den Vor- Krieges: Der Gestaltwandel des Krieges ist gut als Erziehung bezeichnen kann.“ (S. 276) zug zu geben: einfach entscheiden und die Pa- durch eine kriminelle und globalisierte Ge- Oder: „Von Bildungssystem spricht man, wenn radoxie vergessen. Der Unterschied zwischen waltökonomie, durch veränderte Gewaltmo- man den Klienten keine Erziehung mehr zumu- praxisnaher und theoretischer Ausbildung blei- tive, brutale Strategien der Kriegführung und ten, Bildung aber anbieten kann.“ (2002, S. 186) be zwar ein Daueranlass für „die Selbstbeschäf- durch zahlreiche private Gewaltakteure ge- Weiterbildung schließlich sei ein lebensbeglei- tigung des pädagogischen Establishments“ (S. kennzeichnet. Das „Chamäleon Krieg“ (Clause- tender Parasit, bestenfalls wie die Flora und 216) und alles, was festgelegt werde, könne so- witz) hat sich den neuen politischen, sozialen Fauna des Darmes: „ungeliebt, nicht selten läs- fort wieder als reformbedürftig reproblemati- und ökonomischen Bedingungen angepasst. tig, aber angeblich unentbehrlich wie auch siert werden. Das sachliche Problem, die struk- Neben diesen „neuen Kriegen“ – so der Termi- wohl unvermeidbar.“ (S. 10) Die definitorische turelle Unentschiedenheit, wird in ein Zeitpro- nus von Herfried Münkler – existieren weiter- Kraft solcher Formulierungen mag begrenzt blem transferiert; die Reformregel heißt dann: hin noch die „klassischen“ Formen zwischen- sein, bildkräftig und einprägsam sind sie zwei- „Immer anders als vorher!“ Das unsichtbare Pa- staatlicher und innerstaatlicher Kriege. Auch fellos. radox wird durch ein sichtbares ersetzt. „Und der jüngste Krieg der einzig noch verbleiben- Die Teilsysteme der modernen Gesellschaft, damit kann man leben.“ (S. 217) den Weltmacht USA, der euphemistisch als auch das Erziehungssystem, sind „in einem Eines ist nach der Lektüre klar: Niklas Luhmann „Operation Iraqi Freedom“ bezeichnet wurde hohen Maße autonom geworden. Sie reprodu- hat den Hegelpreis der Stadt Stuttgart zu Recht und als Desaster endete, hat gezeigt, dass die zieren sich (...) aus sich selbst heraus.“ (S. 23) erhalten. Denn er ist ein Meister darin, die Ver- mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verbun- Das Verhalten im System wird durch Codie- hältnisse so zu sehen, dass allenfalls vom Be- dene Hoffnung, militärische Ressourcen in zi- rung und Programmierung gesteuert; im Er- trachter eine Veränderung der Einstellungen vile umzulenken, reichlich naiv war. ziehungssystem herrscht der binäre Code verlangt wird. Von daher verwundert es nicht, Kriege benötigen ungemein hohe finanzielle „gut/schlecht“ (mit Abstufungen) und als Pro- dass eine Frankfurter Sonntagszeitung (für die und materielle Investitionen und verursachen gramme fungieren die Inhalte, wie sie in Lehr- Gebildeten und Vermögenden aller Stände) die Vergeudung und Zerstörung wertvoller plänen fixiert sind. Der wirkliche Code der Er- Luhmanns Aufsätze als „Vademekum für re- Ressourcen. Gert Sommer und Albert Fuchs, ziehung sei etwas, was nicht in den Program- formzermürbte Lehrer“ empfohlen hat. Wahr- die Herausgeber des „Handbuchs der Konflikt- men stehe: „die Zuweisung von Positionen scheinlich hat der Rezensent übersehen, dass und Friedenspsychologie“ konstatieren, dass innerhalb und außerhalb des Systems.“ (S. 29) Luhmanns kybernetische Sprache bei Lehrern die ca. 250 Kriege des vergangenen Jahrhun- Im Selbstverständnis der Pädagogen wird die eine gewisse Abschreckungswirkung hervor- derts nahezu 110 Millionen Tote forderten. In soziale Selektion als Störung des eigentlichen ruft. Und Luhmanns zahlreiche spöttische Be- Kriegen „sind inzwischen etwa 90% aller To- Geschäfts der Erziehung gesehen, Luhmann merkungen über die geisteswissenschaftliche desopfer Zivilisten. Durch Kriege sterben nicht sieht sie als einen „Vorgang, mit dem das Er- Pädagogik erreichen zwar stellenweise Kaba- nur Menschen, sondern es werden Häuser, In- ziehungssystem Einfluss auf die Umwelt aus- rettniveau, reichen aber als Lektüremotivation frastruktur und Landwirtschaft zerstört und übt, und nicht umgekehrt.“ (S. 29) Die Zensu- alleine nicht aus. Relativ wohlwollend hat somit Flüchtlinge produziert, ebenso unendli- ren hätten kaum etwas mit Bildung zu tun; Heinz-Elmar Tenorth Luhmanns Schriften zur ches psychisches Leid und soziales Elend“ (S. wichtig sei aber, dass es sie überhaupt gibt, Pädagogik eine „verdienstvolle Sammlung“ ge- 3). Das von den Medien inszenierte „Gerede und zwar als anerkanntes Selektionsinstru- nannt. Am pointiertesten hat Bruno Hilden- von Krieg und Kriegsgeschrei“ (Goethe) und ment: „Die Operationen erzeugen zwar nicht brand ironisch, aber treffend Luhmanns Vorge- die Art und Weise der Berichterstattung, die die intendierten Effekte, aber jedenfalls hen beschrieben: „Man nehme ein Thema aus nach kurzfristiger Aufgeregtheit unzählige irgendwelche, und das System fasst die Resul- der Alltagswelt, stecke es oben in die system- kriegerische Auseinandersetzungen und deren tate (...) zu folgenreichen Entscheidungen zu- theoretische Maschine hinein, und unten Auswirkungen wieder in Vergessenheit gera- sammen.“ (S. 35) Das System ist paradox, aber kommt ein verblüffender Befund, eine originel- ten lässt, verstellt den Blick auf notwendige es liefert Entscheidungen. Damit ist der Sys- le neue Perspektive auf das Thema heraus.“ Der Debatten über Gewalt-, Konflikt- und Krisen- temtheoretiker erst einmal zufrieden und mo- alltagsweltliche Bezug gehe dabei verloren, prävention sowie über Möglichkeiten der Frie- kiert sich darüber, dass die zwangsläufige Un- aber das kümmere den Autor wohl auch nicht. denskonsolidierung. gerechtigkeit der Beurteilungen von den Pä- Am Ende bleibt die Ratlosigkeit auf einem neu- Dies ist der Veröffentlichungskontext des dagogen mit „Gerechtigkeitssemantik“ be- en theoretischen Niveau. Das wird es wohl ge- „Handbuchs der Konflikt- und Friedenspsy- mäntelt werde. wesen sein. Eine Hilfe für die Praxis müsste an- chologie“. Das inhaltlich überaus solide, um- Schwer tut sich Luhmann bei der Bestimmung ders aussehen. fassende, hinsichtlich seiner Einzelbeiträge des „Mediums“ des Systems. Das ist bei der Otto Bauschert kompetent verfasste und interdisziplinär ange- Wirtschaft einfacher; dort ist es das Geld. Auch legte Handbuch geht letztlich auf die Arbeit und bei der Politik (Macht) oder bei der Wissenschaft Aktivitäten des „Forum Friedenspsycholo- (Wahrheit) ist es auch klarer. Schließlich defi- Handbuch Konflikt- und gie (FFP) – Bewusst-Sein für den Frieden“ zu- niert er das Kind als Medium des Systems. Die Friedenspsychologie rück, dessen Gründung in den 1980-er Jahre Bezeichnung Kind sei ein Konstrukt, es sei ein nicht losgelöst von der Stationierung neuer Medium nur im System der Erziehung. Das Pro- GERT SOMMER / ALBERT FUCHS (HRSG.): atomarer Mittelstreckenraketen und der sich blem der Erziehung sei, „dass sie nicht kann, was etablierenden Friedensbewegung und vor al- sie will“, weil das psychische System Schüler als Krieg und Frieden. lem Friedensforschung betrachtet werden selbstreferentielle Maschine nur macht, was es Handbuch der Konflikt- und Friedenspsy- kann. Das „Forum Friedenspsychologie“ gab will. Als Form und als Medium [!] zugleich be- chologie sich seinerzeit die bis heute dessen Arbeit zeichnet Luhmann dann die Sprache. kennzeichnende Zielsetzung, friedenspoliti- Theoretisch überzeugender wird Luhmann Beltz Verlag, Weinheim, Basel, Berlin 2004 sche Themen und Fragestellungen psycholo- dort, wo er das Erziehungssystem zu den Sys- 664 Seiten, 29,90 Euro gisch aufzuarbeiten. Die seit 1983 jährlich temen seiner Umwelt in Beziehung setzt: zur stattfindenden Kongresse und Fachtagungen Wirtschaft, zur Familie, zum Staat und zur Wis- Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ver- mündeten schließlich in die Idee, erstmalig für senschaft. Das Verhältnis zum Wirtschaftssys- breitete sich die trügerische Annahme, dass den deutschen Sprachraum ein Lehr- und

77 Buchbesprechungen

Handbuch zu veröffentlichen, in dem ein brei- Staatliche Aufsicht oder Autonomie dort auf Grund der lange regierenden Sozialde- ter Überblick über die Konflikt- und Friedens- der Einzelschule? mokratie – die CDU gelangte erstmals 1987 an psychologie gegeben wird. die Macht – das Profil der so genannten A-Län- Das „Handbuch Krieg und Frieden“ gliedert GERD HEPP/PAUL-LUDWIG WEINACHT (HG.): der sehr stark ausgeprägt war und sich in lan- sich in drei Hauptteile. Der Grundlagenteil bie- desinternen Auseinandersetzungen mit der tet in den ersten sechs Beiträgen (Kapitel 1 bis Wie viel Selbständigkeit Union mehr als andernorts manifestiert hat. 6) einen Überblick über Fragestellungen und brauchen Schulen? Politische Reizthemen wie Förderstufe, Rah- inhaltliche Anliegen der Friedenspsychologie Schulpolitische Kontroversen und menrichtlinien oder freie Schulwahl dominier- (einschließlich ihrer zeitgeschichtlichen Ent- Entscheidungen in Hessen (1991–2000) ten im öffentlichen Bewusstsein die schulpoli- wicklung, des normativen Hintergrunds und tische Diskussion in der Polarisierungsphase methodologischer Fragen). Psychologische Luchterhand Verlag, München/Neuwied 2003 der 1970-Jahre. So hat eine nachhaltig wirken- Schlüsselthemen wie Aggression, soziale Ein- 244 Seiten, 28,00 Euro de Vergangenheit auch in der Diskussion über stellung, Intergruppenprozesse, Politische So- das Verhältnis von einzelschulischer Autono- zialisation, Gerechtigkeit und Gerechtigkeits- Die Namen der Herausgeber stehen für eine mie und staatlicher Aufsicht ihre spezifischen psychologie (Kapitel 7 bis 14) und Grundbe- Forschungskontinuität, die sich im Kontext von Spuren hinterlassen. griffe der Konfliktanalyse (Kapitel 15 bis 17) Schule und Bürgergesellschaft mit dem Ver- Diesen Spuren gehen Gerd Hepp bzw. Paul-Lud- runden den ersten Hauptteil ab. Im zweiten hältnis von externer Schulaufsicht und einzel- wig Weinacht in den Kapiteln 3 und 4 nach, in- Teil – überschrieben mit „Kriegskultur“ – geht schulischer Autonomie befasst. Die in der re- dem sie die Diskussionsprozesse auf der staat- es um die „negative“ Seite des Problem- und nommierten Luchterhand-Reihe „Beiträge zur lich-politischen und auf der Verbandsebene Untersuchungsfeldes. Im Anschluss an die Er- Schulentwicklung“ erschienene Studie setzt dokumentieren. Neben den oft demokratiethe- örterung der Entwicklungen nach dem Ende diese Kontinuität fort. Die Bedeutung der Fra- oretisch untermauerten Argumenten pro Auto- des Ost-West-Konfliktes (Kapitel 18 bis 20) gestellung „Wie viel Selbständigkeit brauchen nomie werden v. a. durch die Dokumentation folgen Beiträge (Kapitel 21 bis 29) zu zentralen Schulen?“ wird durch die empirischen Ver- der Anhörungsverfahren im parlamentari- Aspekten kriegerischer Gewalt (Macht und In- gleichsuntersuchungen der letzten Jahre nach- schen Entscheidungsverfahren auch die ver- teressen, Militarismus vs. Pazifismus, Feindbil- haltig unterstrichen. fassungsrechtlichen Legitimationsprobleme der, Propaganda und Kriegsberichterstattung, Hepp und Weinacht versuchen eine Antwort thematisiert, die bei der Neuregelung des Ver- Psychologische Kriegführung, Sozialisation im unter Berücksichtigung der schulpolitischen hältnisses von staatlicher Gestaltungskompe- Krieg, Traumatisierung). Der dritte Teil schließ- Kontroversen im Gefolge des Reformprozesses tenz und einzelschulischer Autonomie zu be- lich – „Frieden gestalten“ – widmet sich den in Hessen von 1991–2000. Hessen – so die Au- achten sind. Dabei werden auch die schulpoli- „positiven“ Seiten des Gegenstandes, themati- toren – nehme nicht zuletzt wegen der bil- tischen Aktivitäten der Verbände berücksich- siert verschiedene Möglichkeiten des Friedens- dungspolitischen Initiative des sozialdemokra- tigt. engagements (Kapitel 30 bis 33) und behan- tischen Kultusministers Hartmut Holzapfel Das fünfte Kapitel thematisiert die Berichter- delt anschließend Ansätze und Strategien eine „bundesweite Vorreiterrolle“ ein. (S. 8) In stattungen in der Presse und befasst sich in die- konstruktiver Konfliktbearbeitung (34 bis 41) summa geht es dabei nicht um eine basisdemo- sem Zusammenhang mit Landtagswahlkämp- wie Vertrauensbildung, Verhandeln, Media- kratischer Erneuerung, die den Einzelschulen fen in den 90er-Jahren. Dokumentiert wird da- tion, Versöhnung und Therapie und endet mit beliebige Freiheit zur Gestaltung ihrer inneren bei gleichzeitig die öffentliche Bedeutung des der Vorstellung und Diskussion friedenspäda- und äußeren Angelegenheiten überlassen. schulpolitischen Wandlungsprozesses in Hes- gogischer Ansätze (Kapitel 42 bis 46). Hierzu fehlt der Einzelschule die grund- sen. Warum sich die Autoren dieses Kapitels bei Das Handbuch ist der „Leitidee der aktiven Ge- gesetzliche Legitimität, die allein dem Staat ihren Recherchen gerade in der von der Partei- waltfreiheit verpflichtet – d.h. der kritischen als Akteur im Interesse aller Bürger zukommt. politik stark beeinflussten Diskussion aus- Auseinandersetzung mit Gewalt und Gewalt- Es geht vielmehr darum, dass der Verlust schließlich auf die Frankfurter Allgemeine Zei- rechtfertigung sowie der Förderung gewalt- der Steuerungsfähigkeit staatlicher Systeme tung beziehen, die ja für eine bestimmte politi- freier Konfliktaustragung, mit dem Ziel sozia- durch eine subsidiäre Verantwortlichkeit im sche Richtung steht, ist dem Rezensenten aller- ler Gerechtigkeit und der Verwirklichung der Einklang mit dem Demokratiegebot des Grund- dings nicht klar geworden. Menschenrechte“ (S. XVIII). Bestimmendes gesetzes (S. 6) zu kompensieren versucht wird. Weinacht nimmt im sechsten Kapitel den Pro- Merkmal aller Einzelbeiträge ist – so verschie- Dafür gibt es – wie Hepp deutlich macht – na- zess der Reform der Schulverwaltung unter die denartig auch der wissenschaftliche und/oder türlich auch ein demokratie- und partizipa- Lupe. Indem er die Reform als Prozess der Fis- berufliche Hintergrund der insgesamt 49 Au- tionstheoretisches Fundament. kalisierung (Sparpolitik und Budgetierung) und torinnen und Autoren ist – die psychologische Dementsprechend enthält das erste Kapitel zugleich als Prozess der Regionalisierung be- Orientierung. Ohne einzelne Beiträge im Detail eine politikwissenschaftliche Einführung, in schreibt, macht Weinacht deutlich, dass das vorstellen und angemessen würdigen zu kön- dem Hepp steuerungs- und partizipationsthe- Ministerium als Hauptakteur des Prozesses zu- nen, sei die Bemerkung erlaubt, dass die pro- oretische Begründungen für eine stärkere Selb- gleich als Objekt in diesen Prozess einbezogen funde Darstellung des neuesten Forschungs- ständigkeit der Einzelschule referiert. Einerseits ist. Dies bedeutet, dass das Kultusministerium standes beeindruckend ist. Alle Autorinnen begründe der Verlust staatlicher Steuerungsfä- und ihre Mittelbehörden ihre „maßgebende und Autoren vermitteln detaillierte Informa- higkeit ein neues Konzept der Verantwortung, oder Ziel setzende Funktion“ (S.131) weitge- tionen, tragen zu einer sachlichen Diskussion das die Stärkung der unteren Ebenen zu einem hend nach „unten“ abgeben. In der Schulver- bei und stellen plausibel Fakten bereit, die für funktionalen Erfordernis insgesamt macht. An- waltung soll die so genannte „Neue Verwal- das Verständnis des komplexen Themas wich- dererseits – dies wäre das partizipationstheo- tungssteuerung“ dabei zu flachen Hierarchien, tig sind. Zu den Adressaten des Handbuchs retische Argument für mehr Autonomie der d.h. zum Wegfall der mittleren Verwaltungs- zählen über den engeren Kreis der Lehrenden Einzelschule – geht es im Allgemeinen um ei- ebene, zu mehr Regionalität und zu mehr Qua- und Studierenden sozialwissenschaftlicher nen erhöhten Konsensbedarf für politische Ent- litätsverantwortung der Einzelschule führen. Fächer (Psychologie, Politikwissenschaft, So- scheidungen, die für die Betroffenen auch Zu- Eine betriebswirtschaftlich orientierte Reform ziologie und Pädagogik) hinaus Journalisten, mutungen darstellen. An dieser Stelle hätte könnte zu Einsparungen im Verwaltungsappa- Multiplikatoren und Praktiker aus Politik, man durchaus noch eine lerntheoretische Ar- rat führen, die – so ist man geneigt, zwischen Schule und Kirche sowie in der Friedensarbeit gumentation anschließen können, die auf den den Zeilen zu lesen – den Einzelschulen zugute und Friedensforschung Tätige und Engagierte. derzeit in den fachdidaktischen Disziplinen viel kommen würde. Das Buch dürfte gleichwohl auch für Bürge- diskutierten Konstruktivismus Bezug nimmt Die Akzeptanz der Reform in der örtlichen rinnen und Bürger interessant sein, die solide und die die Forderung nach mehr Selbständig- Schulgemeinde untersucht abschließend Gerd Informationen suchen, sich politisch und/oder keit zusätzlich unterstützen kann. Hepp. Er referiert die Ergebnisse einer repräsen- friedenspädagogisch engagieren und Einfluss Im zweiten Kapitel zeichnet Gerd Hepp die tativen Umfrage unter Mitgliedern der Schul- darauf nehmen wollen, wie Konflikte wahrge- schulpolitische Entwicklung in Hessen von konferenz (Gremium der gewählten Vertretung nommen und letztlich ausgetragen werden. 1945–1991 nach. Der Blick auf die hessische von Schülern, Lehrern und Eltern) unterschied- Siegfried Frech Entwicklung ist von besonderem Interesse, weil licher Schulformen aus dem Jahr 2000. Hepp

78 Buchbesprechungen kann dabei belegen, dass „deutlich eine mehr ments und Brutalität gegenüber Trotzki, Radek, zieller Kundgebungen auftaucht, sondern eine selbständige und eigenverantwortlich be- Bucharin u. a. erklären – gleicht der georgische neue Spielart des Autoritarismus im Russland stimmte Schule“ (S.175) im Interesse der Be- Schustersohn durch Rohheit, skrupellose Intri- der Gegenwart. Unter der Präsidentschaft Pu- fragten liegt. Die sehr differenziert angelegte gen und gnadenlose Machtpolitik, die auch vor tins ist eine schleichende autoritäre Transfor- Erhebung fördert en détail interessante Ant- exzessiver Gewalt nicht zurückschreckt, aus. mation des russischen Staates unübersehbar worten auf die Grundfrage nach dem Verhält- Unter den gewaltigen Einzelnen des 20. Jahr- geworden. Russlands Marsch in Richtung nis von Demokratieprinzip und Professionali- hunderts weist Stalin wohl „die primitivste Her- „straffer Staat“ ist in einem Stadium angelangt, sierung zu Tage. Konkret geht es dabei um eine kunft auf“ (Hans-Peter Schwarz), die er mit in dem eine funktionierende Gewaltenteilung Antwort auf die Frage, wer in bestimmten Be- eisernem Lernwillen, unbedingter Aufstiegs- und parlamentarische Kontrollmechanismen reichen das Sagen haben soll, die Schulkonfe- orientierung und autodidaktischer Begabung ebenso wenig erkennbar sind wie eine öffentli- renz als das Gremium, in dem alle an der Schu- auszugleichen versucht. Die politische Prägung che Kontrolle durch die russischen Medien. Die le Beteiligte repräsentiert sind oder die Gesamt- im revolutionären Untergrund der Erdölarbei- „Partei der Macht“, Edinaja Rossia, verfügt über konferenz der Lehrerinnen und Lehrer der be- ter von Baku, die Teilnahme an so genannten eine Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma treffenden Einzelschule. „Expropriationen“, die nichts anderes als krimi- und der Kreml kontrolliert den Föderationsrat. Ob die in Hessen getroffenen schulpolitischen nelle Überfälle waren, und schließlich die „hohe Traditionelle Großverbände der Unternehmer Entscheidungen für die Diskussion in den an- Schule des Knasts“ (Hans-Peter Schwarz) in den und Arbeitnehmer sind in die „Machtvertikale“ deren Bundesländern eine richtungweisende Lagern Sibiriens prädestinieren den Berufsre- des Kremls eingegliedert. (Angesichts dieses Funktion haben, kann nicht gesagt werden. Je- volutionär unter der Ägide Lenins als „Mann für historischen Längsschnitts und aktuellen Aus- denfalls ist es unbestritten ein Verdienst der Au- das Grobe“, der sich als williger Vollstrecker be- blicks erinnern die Korrekturen nur weniger his- toren und Herausgeber, mit der systematischen währte und seinerseits in männerbündischen torischer Sachverhalte – die in ihrer Relevanz Analyse und Dokumentation des hessischen Seilschaften wiederum Willfährige heranzog. wahrlich nebensächlich sind – eines Rezensen- Reformprozesses Informationen und Materia- Diese freiwillige Unterordnung subalterner Ap- ten in einer bekannten deutschen Tageszeitung lien zusammengestellt und politikwissen- paratschiks war stets von dem Kalkül getragen, an die beckmesserische Attitüde eines Oberleh- schaftlich so aufbereitet zu haben, dass man im im Parteiapparat aufzusteigen. Die Lektüre des rers!) So passt es dann auch zur innenpoliti- weiteren Verlauf einer eben erst in Gang ge- Buches gewährt damit auch „intime“ Einblicke schen Entwicklung unter dem „Neosowjet- kommenen Debatte auf diesen Band mit Ge- in das Funktionieren des Machtapparates und mensch Putin“ (Die Zeit), dass bei einer in Russ- winn Bezug nehmen kann. verdeutlicht die tragischen Auswirkungen land durchgeführten Umfrage (Frühjahr 2004) Armin Scherb selbstherrlich getroffener Entscheidungen auf nach der wichtigsten Persönlichkeit der russi- das Leben der einfachen Sowjetbürger. schen bzw. sowjetischen Geschichte Stalin sich Nach dem erfolgreichen Machtkampf um Le- mit 40 Prozent der gesamten Nennungen auf Biographie eines Despoten nins Erbe forciert Stalin mit einem gewalttäti- dem dritten Rang nach Peter dem Großen und gen, gleichzeitig sklavisch ergebenen Kader sei- Lenin platzieren konnte. KLAUS KELLMANN: nen Aufstieg zum Diktator. Die chauvinistische Das verständlich und über weite Passagen hin- Unduldsamkeit gegen nationale Minderheiten, weg spannend geschriebene, historisch fun- Stalin. Eine Biographie. das Misstrauen gegenüber potenziellen Rivalen dierte Buch wendet sich in erster Linie an his- in den eigenen Reihen, der im Zuge der „Großen torisch Interessierte, an Lehrende, Multiplika- Primus Verlag, Darmstadt 2005 Säuberung“ praktizierte Terror erklärt sich nicht toren der politischen Bildungsarbeit und kann 351 Seiten, 24,90 Euro zuletzt dadurch, dass Stalin ein absoluter auch Studierenden, Schülerinnen und Schülern „Techniker der Macht“ (Hans-Peter Schwarz) der Sekundarstufe II nur empfohlen werden – Das Buch von Klaus Kellmann, Dezernent der war und in seiner ideologischer Verblendung mithin ein Buch, dem man viele Leserinnen und Landeszentrale für politische Bildung Schles- unbeirrt einem „sozialistischen Modernisie- Leser wünscht! wig-Holstein, schildert die Entwicklung des rungspfad“ folgte, der auf Einzelschicksale kei- Siegfried Frech Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, bes- ne Rücksicht nahm. ser bekannt als Josef W. Stalin, vom proletari- Klaus Kellmanns Porträt von Stalin ist gleich- schen Schustersohn zum machtbesessenen zeitig ein „Schwarzbuch der stalinistischen Ära“ Deutschland in der Abseitsfalle Diktator. Anliegen des Buches ist es nicht – so und belegt, dass Stalinismus und Terror syn- im Vorwort des Autors nachzulesen – , der Viel- onym zu verwendende Begrifflichkeiten sind: DIETER OBERNDÖRFER: zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen Schätzungen zufolge ließ Stalin eine Million über die Rolle und Figur Stalins eine neue Deu- höhere und subalterne Parteigenossen töten; Deutschland in der Abseitsfalle. Politische tung hinzu zu fügen. Vielmehr hat Klaus Kell- insgesamt fielen den Säuberungswellen, Um- Kultur in Zeiten der Globalisierung. mann, promovierter Historiker, einen biogra- siedlungen und Verfolgungen ca. sieben Milli- phischen Essay vorgelegt, der auch die seit onen Menschen zum Opfer. Die Bolschewiki Herder Verlag, Freiburg i. Brsg. 2005 1990/91 erstmalig zugänglichen Quellen aus vertrieben Hunderttausende Bauern und de- 189 Seiten, 9,90 Euro Moskauer Archiven analysiert, interpretiert und portierten sie nach Sibirien. Sie führten drako- in der Darstellung berücksichtigt. Gerade diese nische Strafen in Kolchosen und Fabriken ein, Die Herausforderungen, vor denen Deutsch- Archivquellen belegen, dass Stalin und seine mit denen sie Arbeiter und Bauern zu unbeding- land steht, haben nach Einschätzung des re- Gefolgsleute die exzessive Gewalt und die mit ter Disziplin und Pflichterfüllung zwangen. nommierten Freiburger Politikwissenschaft- äußerst brutalen Mitteln durchgeführte Kollek- Mehrere Millionen Menschen starben während lers Dieter Oberndörfer einen epochalen Char- tivierung nicht nur duldeten, sondern selbst an- der Hungersnot des Jahres 1933. Die Terrorisie- akter. Deutschland braucht nach seiner Ein- ordneten. rung der Bevölkerung setzte sich selbst in den schätzung eine Öffnung und eine geregelte Das gelungene und packend geschriebene Por- Jahren des Zweiten Weltkriegs, euphemistisch Zuwanderung. Dem neuen Zuwanderungsge- trät eines rohen und skrupellosen Aufsteigers als „Großer Vaterländischer Krieg“ deklariert, setz stellt er schlechte Noten aus. Das alte, orientiert sich an den Lebensstationen Stalins, fort. „nationale“ Staatsverständnis, das für Fremde bindet die dramatischen Ereignisse und histo- Kellmanns Blick geht über den Tod des Tyran- nur wenig Raum vorsieht, habe sich behaup- rischen Strukturen jener Epoche geschickt in nen 1953, mit dem die beinahe dreißigjährige tet. Gerade in der aktuellen migrationspoliti- die Darstellung ein und erreicht somit das Ni- stalinistische Gewaltherrschaft endete und der schen Debatte über Deutschlernen, Leitkultur veau einer überaus dichten Beschreibung und Terror gegen die russische Bevölkerung merk- oder Einbürgerungstests liefert der frühere brillanten Charakterstudie. Klaus Kellmann lich nachließ, hinaus und erörtert die weitere Leiter des Arnold-Bergstraesser-Instituts in hat mit diesem Buch ein Lehrstück über die politische Entwicklung der Sowjetunion. Dass Freiburg Hintergrundwissen und beleuchtet „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ der „Schatten Stalins“ noch existiert, zeigt we- historische Zusammenhänge, die zur Versach- (Erich Fromm) vorgelegt. niger die „Renaissance“ des Josef W. Stalin, der lichung beitragen. Die niedrige soziale Herkunft, Defizite der eige- auf Plakaten marschierender Veteranen sech- Oberndörfer spricht von einer schamlosen nen Bildung – die nicht zuletzt die Ressenti- zig Jahre nach Kriegsende wieder im Bild offi- Blindheit der Anhänger einer Leitkultur für die

79 Buchbesprechungen schwarzen Flecken ihrer eigenen Kultur: „Der Polens Außenpolitik und EU als Vermittler während der „Orangenen Re- Holocaust wuchs auf dem Kultursockel einer Aussöhnung mit der Ukraine volution“ Ende 2004 in Kiew spielte. christlich geprägten Gesellschaft. Die Mörder Shynkarjov sieht die polnische „Ostpolitik“ ganz von Auschwitz waren keine Muslime.“ Bei den IVAN M. SHYNKARJOV: in die europäische eingebettet. Diese Perspek- vieldiskutierten Parallelgesellschaften erinnert tive bietet Vorteile. Die besonderen Interessen Oberndörfer daran, dass in Deutschland noch Polnische Außenpolitik als Ansatzpunkt für Polens und der „moralische“ Impuls der polni- bis in die 1960er-Jahre Ehen zwischen Protes- eine Ostpolitik der Europäischen Union: schen Politik gegenüber der Ukraine, der im tanten und Katholiken eine seltene, von den Kir- Das Beispiel der polnisch-ukrainischen gegenseitigen Minderheitenschutz, im Verzicht chen mit Sanktionen bekämpfte Ausnahme wa- Beziehungen von 1989-2002. auf jegliche Gebietsansprüche und im ernsten ren. Eine bunte und zunehmende Vielfalt von Studien zur europäischen Integration Willen zur Freundschaft und Aussöhnung be- oft weniger miteinander verbundenen Parallel- Band 4. steht, können so als Grundzüge der EU-Politik gesellschaften oder Lebenswelten ist nach sei- verstanden werden. Sie bringt aber auch Nach- ner Analyse für moderne Gesellschaften gera- Shaker Verlag, Aachen 2005 teile mit sich. Die eigenen historischen Wurzeln dezu charakteristisch. Wer die Integration der 230 Seiten, 24,80 Euro der polnischen Neuorientierung, die Unter- Ausländer in die deutsche Kultur fordert, müs- schiede und Gegensätze zur Politik der EU kom- se erst einmal die Frage beantworten können: Die polnisch-ukrainische Aussöhnung, ja sogar men zu kurz. Was ist eigentlich ein integrierter Deutscher? Freundschaft, die seit dem Ende des Ostblocks Der Autor belegt mit einer Vielzahl von Doku- Die Integration von Migranten ohne Akzeptanz einen Jahrhunderte währenden ethnischen menten, wie Polen seine Rolle als Brücke zu den kultureller Verschiedenheiten durch die Mehr- Gegensatz ablöst, hat in Deutschland außerhalb Nicht-EU-Staaten im Osten ausfüllt und der heit sei nicht möglich. von Fachkreisen kaum Beachtung gefunden. wichtigste Fürsprecher einer späteren Auf- Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integra- Diese Entwicklung gehört jedoch zu den epo- nahme der Ukraine in die EU geworden ist. In der tion haben – so der langjährige Vorsitzende des chalen Umbrüchen der europäischen Geschich- guten nachbarschaftlichen Zusammenarbeit Rats für Migration weiter – eine fundamentale te des letzten Jahrhunderts, für unsere östlichen Polens und der Ukraine sieht Shynkarjov nicht Bedeutung für die Qualität der Republik. Sie Nachbarn entspricht sie an Bedeutung dem un- zu Unrecht ein Modell für die Beziehungen der müssen seiner Ansicht nach zum Ausgangs- verhofften Wandel der politischen Beziehun- EU zu den Staaten außerhalb seiner Ostgrenzen punkt für eine große nationale Debatte über das gen zwischen Frankreich und Deutschland nach und der Bewältigung vieler Aufgaben, die die Er- Selbstverständnis der Republik und die Geltung dem Zweiten Weltkrieg. weiterung der EU nach Osten mit sich brachte. ihrer Grundwerte werden. Es ist zu hoffen, dass Welch wichtiger Faktor der heutigen europäi- Die Probleme der unerwünschten illegalen Im- diese Debatte kommt und Oberndörfer und sein schen Politik daraus entstanden ist, wurde migration über Polen in die EU, wirtschaftspo- Buch dabei eine zentrale Rolle spielen, die bei- schlagend durch die entscheidende Rolle be- litische Fragen und grenzüberschreitende Ko- de verdient haben. wiesen, die der damalige polnische Präsident operation nehmen hier einen breiten Raum ein. Karl-Heinz Meier-Braun Kwasniewski auf eigenen Vorschlag hin für die Fragwürdig ist allerdings die Darstellung, wo- nach zwischen EU und NATO in der polnischen Konzeption kein wesentlicher Unterschied be- stehe. Die Einigung auf außenpolitische Ab- sichtserklärungen liefert noch keine genügen- de Basis für die Bewertung Shynkarjovs, wo- miteinander leben nach „die polnische Außen- und Ostpolitik mit der gegenwärtigen EU-Ostpolitik im wesent- vermittelt Zusammenhänge zu gesell- lichen übereinstimmt“. Die klare Bevorzugung schaftlichen, politischen und geschicht- der USA durch Polen gegenüber einer mög- lichen Themen auf elementarisierende lichen Orientierung an den wichtigsten Staa- Art und Weise. Die lebensweltorientierten ten der EU im Vorfeld des Irakkrieges, der da- Module ermöglichen es, flexibel auf die malige offene Streit zwischen Polen und Interessen, das Lerntempo und die jewei- Frankreich widerlegen diese Vorstellung. Hier lige Sprachkompetenz unterschiedlicher liefert das historisch begründete außerordent- Lerngruppen zu reagieren. lich starke Sicherheitsbedürfnis Polens, das zu einer starken Bindung an die USA geführt und Verständliche Texte, interessante Fall- damit den – im Kalten Krieg unterdrückten – beispiele und eine Fülle von Bildern und Einstellungen einer breiten Bevölkerungs- Grafiken sorgen dafür, dass das Lernen mehrheit entsprochen hat, den Schlüssel zum und Unterrichten mit den Materialien Verständnis. Ebenso beweisen die polnischen Freude bereitet. Irritationen über die von Schröder gepflegte Achse Paris-Berlin-Moskau, dass es in der Ost- Aufgrund ihres elementarisierenden politik Polens und einem Hauptstrom der EU- Charakters bilden die Lernmodule eine Außenpolitik ganz konträre Konzeptionen gibt. Fundgrube für den Gemeinschaftskun- Dies trifft auch auf die Haltungen gegenüber deunterricht im Sekundarbereich I und dem ukrainischen Verlangen nach einem Bei- Erhältlich gegen eine Schutzgebühr von die neuen Fächerverbünde. tritt zur EU zu. Wie sich nach der „Orangenen 10.00 EURO (zzgl. Versandkosten) bei der Revolution“ gezeigt hat, vertreten Polen und Landeszentrale für politische Bildung, seine mit ihm 2004 in die Gemeinschaft ein- Marketing, Stafflenbergstr. 38, Nähere Informationen, zusätzliche Service- getretenen osteuropäischen Nachbarn hier 70184 Stuttgart; [email protected] angebote unter: sehr ukrainefreundliche Positionen, die sich oder über www.lpb-bw.de/Shop http://www.i-punkt-projekt.de von denen des Hauptteils der EU-Staaten deutlich unterscheiden. Der polnisch-russi- Modul 1: Deutschland und Europa Modul 9: Medien sche historische Gegensatz liefert den Schlüs- Modul 2: Heimat und Fremdes Modul 10: Mitmachen in der Kommune sel für diese Differenzen. Ebenso wie die balti- Modul 3: Familie Modul 11: Politik in der Demokratie schen Querelen mit Russland wird dieser prä- Modul 4: Grundrechte Modul 12: Arbeit gende Faktor vom Autor leider zu wenig in den Modul 5: Konflikte im sozialen Umfeld Modul 13: Wirtschaft Modul 6: Religion und Toleranz Modul 14: Sozialsystem Blick genommen. Modul 7: Zuwanderung und Religion Modul 15: Umwelt Die bedeutende Rolle, die Polen als NATO-Mit- Modul 8: Bildung Modul 16: Geschichte glied dabei spielt, seinen östlichen Nachbarn INHALT möglichst eng mit dem Bündnis zu verzahnen,

80 BUCHBESPRECHUNGEN

stellt der Verfasser klar heraus. Die gut entwi- zwar ihrer geopolitischen Lage in der „gemein- Überlegungen deutet Shynkarjov zwar an, ckelte polnisch-ukrainische militärische Zu- samen Strategie der EU für die Ukraine“ eine nennt sie aber nicht deutlich beim Namen. sammenarbeit ist ein wichtiger Faktor in der „entscheidende Rolle in der Region“ zuge- Ein Vorteil des Bandes besteht in einer chrono- Verzahnung der Ukraine mit der NATO. Diese schrieben wird und schon seit 1994 ein Part- logischen Darstellung der polnisch-ukraini- wiederum war schon vor Juschtschenkos Prä- nerschafts- und Kooperationsabkommen zwi- schen Beziehungen seit 1569. Dem Leser, der sidentschaft viel weiter gediehen als gemein- schen der EU und der Ukraine besteht. Polen mit den Einzelheiten nicht vertraut ist, wird ein hin bekannt. Dass Polen diese Tatsache als Er- dagegen sieht sich in einer „strategischen Überblick geboten, und die markanten Brenn- folg seiner Politik ansieht, lässt sich leicht aus Partnerschaft“ mit der Ukraine, spricht auch punkte der Vergangenheit werden herausge- dem obersten Prinzip der polnischen Ostpoli- von einer „engen Partnerschaft“ und sieht im stellt, die bis heute von beiden Seiten noch nicht tik erklären: Der große unabhängige ukraini- Ausbau der Bindungen zur Ukraine ein vorran- richtig aufgearbeitet worden sind: Unterdrü- sche Staat, möglichst eng mit der NATO ver- giges Ziel seiner Außenpolitik, während ge- ckung der ukrainischen Autonomie im Polen der bunden, ist für Polen ein als lebensnotwendig genüber Russland nur das Prinzip der „guten Zwischenkriegszeit; ukrainischer Partisanen- angesehenes Vorfeld gegenüber Russland. Nachbarschaft“ waltet. Der Autor nennt zwar kampf gegen die polnische Herrschaft, dann Das Buch ist eine Fundgrube an Dokumenten die Problempunkte zwischen Polen und Russ- aber auch, im Zweiten Weltkrieg, Repressalien und Verlautbarungen, die die gesamte polni- land und erwähnt auch richtig, dass die Unab- der ukrainischen Partisanen gegen die polni- sche Außenpolitik seit der Wende von 1989 in hängigkeit der Ukraine für Polens Außenpoli- sche Bevölkerung; „Bevölkerungsaustausch“ klaren Zügen markieren. Ebenso beleuchtet tik oberste Bedeutung hat. Hier hätte nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem beide der Autor in einem ständigen Perspektiven- allerdings ein Blick auf die leidvollen histori- Gruppen litten; „Aktion Weichsel“ im Novem- wechsel auch die „Ostpolitik“ der Europäi- schen Erfahrungen Polens mit Russland diese ber 1947: die Zwangsumsiedlung der gesamten schen Union gemäß der GASP seit dem Vertrag Neudefinition polnischer Ostpolitik verständ- ukrainischen Bevölkerungsgruppe in Polen und von Amsterdam. Gerade diese umfassende licher gemacht und den geradezu revolutionä- ihre Neuverteilung auf sämtliche Wojewod- und gegenüberstellende Methode ist sehr gut ren Wandel dieser neuen polnischen Politik schaften, vorzugsweise in die neu gewonnenen geeignet, die Grundzüge der polnischen Au- klar hervortreten lassen: Während früher Po- westlichen und nördlichen polnischen Gebiete. ßenpolitik gegenüber Polens östlichen Nach- len im Guten wie im Bösen auf Russland fixiert Umso erstaunlicher, bewundernswert in ihrer barn in scharfen Umrissen von der Ostpolitik war und das große ukrainische Nachbarvolk Folgerichtigkeit und Eindeutigkeit – wie Shyn- der EU abzuheben. In den Bewertungen Shyn- als politischen Faktor überhaupt nicht wahr- karjov zu Recht hervorhebt –, ist die Politik der karjovs bleiben diese Konturen aber ver- nahm, sieht es heute in der Existenz des be- Versöhnung, des Ausgleichs und der Freund- schwommen. So pflegt die EU Russland ge- deutenden europäischen Staates Ukraine die schaft, die von Polen sofort nach der Un- genüber die Beziehungen einer „strategischen wichtigste Garantie für seine eigene nationale abhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991 Partnerschaft“. Im Vergleich zur Russländi- Sicherheit gegenüber einem durchaus be- begonnen und von ukrainischer Seite entspre- schen Förderation wird die Ukraine von der EU fürchteten erneuten Erstarken russischer im- chend beantwortet wurde. als nicht so wichtiger Partner eingestuft, ob- perialer Ambitionen. Diese geostrategischen Ernst Lüdemann

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