Bayerische Landeszentrale 2 | 11 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden / Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise / Das Jüdische Kultur- museum Augsburg-Schwaben / Zur Reise von Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle nach Auschwitz, Krakau, Oppeln und Breslau / Demjanjuk-Prozess Einsichten und Perspektiven

Autoren dieses HeftesImpressum

Werner Karg ist stellvertretender Direktor der Bayerischen Landeszentrale für Einsichten politische Bildungsarbeit. und Perspektiven PD Dr. Friedrich Kießling ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Neuere Geschichte II der Universität Erlangen-Nürnberg. Verantwortlich: Dr. Peter März ist Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Werner Karg, Dr. Benigna Schönhagen ist Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben. Praterinsel 2, Dr. Rainer Volk ist Historiker und Redakteur für Politik und Zeitgeschichte beim 80538 München Bayerischen Rundfunk. Redaktion: Monika Franz, Dr. Christof Hangkofer, Veranstaltungshinweis Christoph Huber, Werner Karg 6.–8. September 2011 Redaktionsassistenz: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit in Kooperation mit David Wagner, der Karl Graf Spreti Stiftung Hester Weigand

Veranstaltungsort: Vertretung des Freistaates Bayern beim Bund in Berlin, 10117 Berlin, Gestaltung: Behrenstraße 21/22 griesbeckdesign www.griesbeckdesign.de Symposion „Bayern in der deutschen und in der europäischen Geschichte“ Druck: creo Druck & Die Geschichte Bayerns ist von vielen Ambivalenzen geprägt: Welche Rolle spielte Bayern zwischen Medienservice GmbH, den europäischen Großmächten Preußen und Österreich? Wie konnte Bayern nach der Reichsgrün- Gutenbergstraße 1, dung 1871 seine Sonderstellung bewahren? Wodurch zeichnet sich der Einfluss Bayerns auf die 96050 Bamberg Geschichte der alten und der neuen Bundesrepublik aus? Und wie positioniert sich Bayern in der europäischen Gemeinschaft? Zu diesen und anderen Themen werden folgende Gäste Vorträge Titelbild: halten: Der amerikanische Präsident John F. Kennedy wird wäh- Prof. Dr. Reinhold Baumstark, Edeltraud Böhm-Amtmann, Prof. Dr. Mark Häberlein, rend seines Staatsbesuches Dr. Gerhard Immler, Prof. Dr. Hans-Michael Körner, Prof. Dr. Bernhard Löffler, zusammen mit , Dr. Bernd Pischetsrieder, Prof. Dr. Roland Sturm, Dr. Katharina Weigand, Bundeskanzler Konrad Prof. Dr. Dieter J. Weiß, Prof. Dr. Andreas Wirsching Adenauer und dem Journalis- ten Robert Lochner in einem Genauere Informationen zum Programm und zur Anmeldung offenen Cabriolet durch Ber- erhalten Sie unter: lin gefahren; 26. Juni 1963. Bild: ullstein bild – Thomas & Thomas www.politische-bildung-bayern.de

Die Landeszentrale konnte die Urhe- berrechte nicht bei allen Bildern dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nach- träglich zu honorieren.

74 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

Friedrich Kießling 76 Die vielen intellektuellen Gründungen der alten Bundesrepublik Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Peter März 92 Vor 50 Jahren Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Benigna Schönhagen 112 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Werner Karg 130 To deszone, altes Europa, gemeinsames Haus Zur Reise von Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle nach Auschwitz, Krakau, Oppeln und Breslau

Rainer Volk 134 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

148 Geänderte Schutzgebü?hren für? Publikationen

149 Neue Publikation der Landeszentrale 50 Jahre Berliner Mauer und dieTe ilung Deutschlands

150 Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa in München

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 75 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Die vielen intellektuellen Gründungen der alten Bundesrepublik Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Von Friedrich Kießling

Schriftzug am Gerüst beim Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes, 1961 Bild: ullstein bild

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Über das genaue Ausmaß lässt sich streiten, dass aber das Land, von dem wir uns an- gewöhnt haben, es die „alte Bundesrepublik“ zu nennen, grundsätzlich ein erfolgrei- cher Staat war, daran kann es kaum einen Zweifel geben. Dies gilt ökonomisch, sozial, hinsichtlich des Wohlstands der Bürger. Es gilt aber auch politisch. Nach außen gelang die Integration in die westliche Staatengemeinschaft. Nach innen entwickelte sich die Bonner Republik zu einer stabilen Demokratie, in der sich immer mehr Menschen mit dem neuen politischen System auch tatsächlich identifizierten. Bei der Gründung 1949 waren diese Entwicklungen so nicht absehbar.

Zu groß schienen die materiellen und ideellen Verheerun- gen, die Krieg und Nationalsozialismus hinterlassen hatten. Die Städte waren längst nicht wieder aufgebaut. Wohnraum blieb knapp. Die Wirtschaft kam auch nach der Währungs- reform nur schleppend in Gang. Von einem ökonomischen „Wunder“ konnte in den ersten Jahren des neuen Staates noch keine Rede sein. Ob die Bürger das neue System akzeptieren würden, blieb zunächst ebenso unklar. Frühe Umfragen verrieten eine erhebliche Distanz zur neuen poli- tischen Ordnung. Die Stabilisierung setzte Mitte der fünfziger Jahre ein, sie lässt sich ganz grob auf drei Dimensionen bringen. Zum einen war da die ökonomische Prosperität. Seit 1951 wies die Wachstumskurve der Wirtschaft dann doch steil und, wie sich zeigen sollte, stetig nach oben. Damit begann auch die anfangs noch hohe Arbeitslosigkeit zu sinken. Seit Ende der fünfziger Jahre kam der Aufschwung dann bei der breiten Bevölkerung an. Die Wohlstands- und Konsum- gesellschaft, die bis dahin für die meisten vor allem ein Ver- sprechen gewesen war, fing an, Wirklichkeit zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die politischen Institutionen, das ist die zweite Dimension, ihre ersten Bewährungs- proben bestanden. Die Tatsache, dass die beiden ersten Legislaturperioden voll ausgeschöpft wurden und dass sich die Parteienlandschaft von Wahl zu Wahl konsolidierte (was natürlich auch an der Fünf-Prozent-Klausel lag), signalisier- , Vater der Sozialen Marktwirtschaft, mit einer te eine Stabilität, wie man sie aus Weimar nicht kannte. übergroßen D-Mark-Münze, ein Symbol für das deutsche Regierung, Parlament oder Verwaltung, ja selbst das zu „Wirtschaftswunder“, 1968 Beginn ziemlich misstrauisch beäugte Parteiensystem funk- Bild: ullstein bild tionierten offenbar.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 77 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Konstituierende Sitzung des Ersten Deutschen Bundestages in Bonn am 7. September 1949, Eröffnungsrede von Alterspräsident Löbe Bild: ullstein bild

Im Vergleich zu wirtschaftlichen Daten oder auch zu poli- Die Bonner Republik, so lässt sich sagen, kannte viele tischen Institutionen, die sich zumindest bei der entspre- und ganz unterschiedliche „intellektuelle Gründun- chenden historischen Konstellation recht schnell ändern gen“. lassen, wandeln sich ideell-kulturelle Prägungen nur lang- sam. Vermutlich liegt es daran, dass es diese dritte Dimen- Bei der folgenden Vorstellung solcher Wege in die alte sion war, die den längsten Zeitraum in Anspruch nahm: Bundesrepublik gehe ich mit Liberalismus, Konservatismus sowie sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Positio- Erst für die siebziger Jahre sprechen Historiker von nen entlang der drei großen politisch-weltanschaulichen einer „Selbstanerkennung“ der alten Bundesrepublik Lager der Moderne vor. Ich beginne mit der Richtung, deren und meinen damit die ideell-kulturelle Ankunft der Ankunft in den Anfangsjahren der Bundesrepublik wohl Westdeutschen in der bundesdeutschen Version von mit am unwahrscheinlichsten anmutete, mit „linken“ bzw. Demokratie und Pluralismus.1 Diese vergleichsweise neo-marxistischen Positionen. lange Annäherung an die neue Ordnung lässt sich so- Die Wirkung von Publizisten, Schriftstellern oder wohl mentalitäts- wie ideengeschichtlich zeigen, und sie Wissenschaftlern darf nicht überschätzt werden. Ihre Vor- gilt damit auch für viele Intellektuelle. Gerade bei ihnen stellungen setzen sich nicht direkt in die Mentalitäten der war die Bundesrepublik 1949 auf erhebliche Vorbehalte Gesamtbevölkerung oder die Entscheidungen von Politi- gestoßen. kern um. Als Stichwortgeber und wichtige Kommunika- toren von Ideen gehören sie dennoch zu denjenigen, die die Das Bemerkenswerte an der dann folgenden Entwicklung öffentliche Selbstverständigung einer Gesellschaft mitprä- ist aber nicht der lange Zeitraum, den es zur Selbstanerken- gen. Die hohe ideengeschichtliche Integrationskraft, die nung bedurfte. Ein solcher ist, wie gesagt, im Bereich von sich in den vielen intellektuellen Gründungen zeigt, gehört Kultur und Ideen zu erwarten. Bemerkenswert ist vielmehr, so zu den Faktoren, die die Attraktivität und damit den wie vielen Intellektuellen die Ankunft in der bundesdeut- Erfolg erklären können, den der Bonner Staat im Laufe sei- schen Demokratie am Ende doch gelang. Diese Intellektuel- ner Geschichte entwickelte. Das Vorgehen entlang von drei len, und das ist vielleicht noch wichtiger, entstammten zum Lagern ist dabei natürlich eine vereinfachende Hilfskon- Teil völlig unterschiedlichen ideengeschichtlichen und poli- struktion. Sie kann dennoch den Grundbefund unterstüt- tischen Lagern und gehörten zudem verschiedenen Genera- zen, auf den es hier ankommen soll: Intellektuelle Wege in tionen an.

1Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 2005, S. 534ff.

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Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb, Bundeskanzler Adenauer und Max Hork- heimer im vollen Ornat als Rektor der Universität Frank- furt am Main beim Einzug in die Aula; Adenauer sprach bei dem Universitätsfest 1952 vor Studenten. Bild: ullstein bild

die alte Bundesrepublik gab es viele, und genau dies ist auch republik eine Institutspolitik, die sorgsam darauf achtete, allgemeinhistorisch relevant geworden. das zeitgenössische Totschlagargument des Kommunismus möglichst von der eigenen Position fernzuhalten. Aufs „Frankfurter Schule“ und „Gruppe 47“ Ganze gesehen ist ihm dies während der fünfziger Jahre auch recht gut gelungen. Berühmt wurde ein Bild aus dem Am häufigsten beschrieben worden ist der Weg der Frank- Jahr 1952. Als Rektor der Universität Frankfurt begrüßt furter Sozialphilosophie in den Bonner Staat. Es ist sicher- Horkheimer in vollem Ornat Bundeskanzler Konrad Ade- lich die prominenteste „intellektuelle Gründung“ der alten nauer, der huldvoll grüßt.3 Bundesrepublik.2 Selbstverständlich war gerade sie nicht. Der zweite Grund, der einer Integration entgegen- Vor allem zwei Gründe schienen ihr entgegenzustehen. stehen mochte, bestand im Emigrationshintergrund der bei- Zum einen knüpfte die Gruppe, die sich seit den späten den führenden Köpfe der Frankfurter Schule nach 1945. zwanziger Jahren unter anderem um Max Horkheimer und Max Horkheimer, wie der in den späten zwanziger Jahren das 1923 gegründete Frankfurter Institut für Sozialfor- zum Umkreis des Instituts gestoßene Theodor W. Adorno, schung gebildet hatte, an einen erneuerten Marxismus an waren 1949 dauerhaft aus dem amerikanischen Exil zurück- bzw. stand in der Tradition des deutschen Linkshegelianis- gekehrt. 1950 war das Frankfurter Institut wieder einge- mus. In der ideengeschichtlichen Landschaft der Ära Ade- richtet worden. Viele Forschungen haben gezeigt, dass Emi- nauer mit ihrer weit verbreiteten Modernekritik sowie granten keineswegs überall willkommen waren. Im Gegen- einem ausgeprägten Antitotalitarismus mochte das durch- teil, gerade im intellektuellen Feld stießen sie zum Teil auf aus ein Problem darstellen. Vor allem Max Horkheimer sah erhebliche Widerstände. Gründe hierfür lagen in der Kon- das ganz ähnlich, und so betrieb er in der jungen Bundes- kurrenz, die Remigranten bedeuteten, aber auch in einem

2Sie hat dem Phänomen auch den Namen gegeben: Clemens Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungs- geschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. u. New York 2000. Vgl. auch: Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, 6München 2001 (zuerst 1986). Sammelbesprechung zum Thema: Karsten Fischer/ Raimund Ottow: Das „Godesberg“ der kritischen Theorie. Theorie und Politik im Generationenwechsel von Horkheimer/Adorno zu Habermas. 2 Teile, in: Politische Vierteljahresschrift 43 (2002), S. 508-523 u. 653-669. 3Zum Beispiel abgebildet in: Zvi Rosen: Max Horkheimer, München 1995, S. 49.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 79 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Studentenproteste an der Universität Frankfurt am Main gegen die geplanten Notstandsgesetze der Großen Koalition in Bonn, 1968 Bild: ullstein bild

westdeutschen nationalen „Solidaritäts-“ und „Opferdis- sitäre Stellung aus, sie knüpften oder stabilisierten Verbin- kurs“ der frühen Adenauerzeit,4 der den Emigranten vor- dungen und wurden zu gefragten Teilnehmern in den vielen warf, gar nicht beurteilen zu können, was es hieß, die Jahre Diskussions- und Gesprächsrunden der frühen Bundesre- des Nationalsozialismus in Deutschland verbracht zu ha- publik. In ihrem inhaltlichen Profil waren sie zu diesem ben. Die Vorwürfe gegen Thomas Mann der späten vierzi- Zeitpunkt aber noch weniger stark exponiert. Das änderte ger und noch Franz Josef Strauß‘ berühmter Anwurf gegen sich seit dem Übergang zu den sechziger Jahren. Nun tra- Willy Brandt im Bundestagswahlkampf von 1961 sind zwei ten die philosophischen und gesellschaftstheoretischen prominente Beispiele für diese Haltung. Es sei „schwer, sol- Konzepte deutlich stärker hervor. In ihrer Kritik an „Re- che Dinge [Nationalsozialismus und Krieg, F.K.] zu schil- pression“ und „Manipulation“ beriefen sich die Vertreter dern, wenn man sie nicht erlebt hat“, schrieb Walter Boeh- der Studentenbewegung vielfach auf die Autoren der Frank- lich 1948 in einer Rezension zu Manns „Doktor Faustus“. furter Schule, aber eben nicht nur sie. Die Schlagworte der „Es war eine Epoche der Weltgeschichte und Thomas Mann Frankfurter Schule bestimmten weit über die Studentenbe- kann sagen, er sei nicht dabei gewesen.“5 Man müsse „Herrn wegung hinaus die Diskussionen. Vor allem auch die media- Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang drau- le Präsenz von Horkheimer und Adorno war dabei enorm.7 ßen gemacht?“, hieß es von Strauß 1961: „Wir wissen, was Wenn es seit den siebziger Jahren endgültig zum Selbstver- wir drinnen gemacht haben."6 ständnis der Bundesrepublik gehörte, eine Gesellschaft zu Verfolgt man nun die Integration der Frankfurter sein, in der Kritikfähigkeit, Infragestellung von Autorität Schule, seiner führenden Köpfe und dann ihrer Schüler in und offene Diskussion wichtig geworden waren (man muss die Bundesrepublik, lässt sich grob von zwei Phasen spre- sich nur noch einmal die erste Regierungserklärung von chen. In den fünfziger Jahren gelang die Etablierung im Willy Brandt als Bundeskanzler im Oktober 1969 durchle- intellektuellen Feld. Im Laufe der sechziger Jahre wurde die sen),8 dann verband sich das theoretisch-intellektuell mit Frankfurter Schule dann darüber hinaus zu einem der füh- den Autoren der Frankfurter Schule. renden Stichwortgeber der öffentlichen Debatte. Die erste In beiden Phasen, bei der Etablierung der fünfziger Phase lässt sich auch als organisatorische Etablierung wie bei der – immer auch relativen – Meinungsführerschaft beschreiben. Horkheimer und Adorno bauten ihre univer- der sechziger Jahre, profitierten die Frankfurter auch von

4Zum Beispiel: Robert G. Moeller: Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte. Opferausgleich als Identitätspolitik, in: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 29-58. 5Walter Boehlich: Thomas Manns „Doktor Faustus“, in: Merkur 2 (1948), S. 588-603, Zitate S. 596. 6Hier zitiert nach: Der Endkampf, in: Der Spiegel 15/1961, S. 14-30, hier S. 16. 7Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, S. 225-238. 8Neben dem „Reform“-Vokabular waren „Öffnung“, „kritisch mitdenken“, „Gespräch“ und „Mitwirkung“ das auffallende Wortfeld der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969. Stenographische Berichte. 6. Deutscher Bundestag, 5. Sitzung, Bd. 71, S. 20-34.

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zeitlichen Kategorien wie dem „Humanen“ oder dem Verhältnis von „Person“ und Welt interpretiert worden war, schob sich nun die soziale Deutung in den Vordergrund. Der Zustand der Welt, ob in den Städten, bei der Erziehung oder in Bildung und Wissenschaft, wurde nun den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zugeschrieben. Für die Verbreitung der Ideen der Frankfurter Schule mit ihrem neomarxistischen Ausgangspunkt bzw. Vokabular war dies ein idealer Nährboden.10

Paradoxerweise bedeutete die Inanspruchnahme der Ideen der Frankfurter Schule durch die Studentenbe- wegung für erstere allerdings eher eine weitere Annä- herung an den Bonner Staat. Spätestens als sie selbst zum Ziel der studentischen Kritik geworden waren, fanden sich Vertreter der Frankfurter Schule auf der Seite des bundesdeutschen Establishments wieder, von dessen Kritik sie eigentlich ausgegangen waren. Vor al- lem Jürgen Habermas entwickelte sich zu so etwas wie einem Staatsphilosophen der zweiten Hälfte der alten Bundesrepublik, in dessen politischer Theorie auch die Anerkennung der Institutionen einen wichtigen Platz fand, welche den gesellschaftlichen Diskurs sowohl Schriftsteller und Mitbegründer der Zeitschrift „Der Ruf“ Alfred garantierten als auch kanalisierten.11 Andersch bei einem Treffen der „Gruppe 47“, 1963 Bild: ullstein bild Nicht viel anders ging es einer zweiten Gruppe von Autoren, die ebenfalls „links“ standen und mit ihrer Kritik am Bonner Staat zu Beginn keineswegs hinter dem Berg bestimmten Umständen, in die sich die eigene Position gut gehalten hatten. Gemeint ist die „Gruppe 47“ und insbeson- einordnen ließ. In der Adenauerära war es die Kulturkritik, dere deren Gründer und Organisator Hans Werner Richter. deren linke Variante die Autoren der Frankfurter Schule Hans Werner Richter, sicher einer der wichtigen verkörperten. Sie ist mit der konservativen Moderneskepsis Intellektuellen der frühen Bundesrepublik, wurde 1908 auf keineswegs gleichzusetzen, wies aber doch genügend Usedom geboren. Von seiner politischen Herkunft her war Übereinstimmungen auf, um ideengeschichtlich anschluss- er Kommunist, 1930 war er in die KPD eingetreten, 1932 fähig zu sein und die intellektuelle Integration auch inhalt- allerdings als „Trotzkist“ ausgeschlossen worden. 1940 als lich möglich zu machen.9 In der zweiten Phase war es der Soldat eingezogen, geriet Richter 1943 in Italien in amerika- Zerfall des antitotalitären Grundkonsenses, der Anfang der nische Kriegsgefangenschaft. Zwei Jahre verbrachte er in sechziger Jahre Platz griff und eine internationale verschiedenen Gefangenenlagern in den Vereinigten Staa- Entwicklung war, die in der Bundesrepublik im Übrigen ten. 1946 kehrte er zurück und zwar nach München, wo er erst verspätet ankam. Faschismuskritik fiel nun nicht mehr mit dem ebenfalls sozialistischen Schriftsteller Alfred An- zwangsläufig mit Kritik an Kommunismus oder Marxismus dersch die Zeitschrift „Der Ruf“ herausgab. Nach Querelen zusammen. Allgemein gesprochen, änderte sich der zeitdia- mit der amerikanischen Kulturaufsicht mussten er und gnostische Grunddiskurs der Bundesrepublik. Wo vorher Andersch im April 1947 den „Ruf“ verlassen. Zu den fol- die eigene Gegenwart mit Hilfe von anthropologisch-über- genden Aktivitäten gehörte unter anderem die Gründung

9Sprechend ist zum Beispiel Adornos Kritik des Jazz als Phänomen der modernen „Masse“. Theodor W. Adorno: Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Bd. 10. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 123-137 (zuerst 1953). Allgemein zur Moderneskepsis und Kulturpessimismus der frühen Bundesrepublik: Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeit- geist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. 10 Sprachgeschichtlich: Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III. 19. und 20. Jahrhun- dert, Berlin/New York 1999, S. 555-562 u. Martin Wengeler: „1968“ als sprachgeschichtliche Zäsur, in: Georg Stötzel/Martin Wengeler (Hg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S. 383-404. 11 Karsten Fischer/Raimund Ottow: Das „Godesberg“ der kritischen Theorie, S. 658-661.

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den. Die Ziele der frühen Jahre, Demokratie, Humanismus, Sozialismus, Europäische Einigung, wie sie im „Ruf“ ver- treten worden waren, seien verfehlt worden.14

Ungefähr zehn Jahre später klang es auch bei Richter anders. Sehen kann man das zum Beispiel an einer Schrift, die zum ersten Mal 1971 erschien: „Briefe an einen jungen Sozialisten“ war sie überschrieben. Darin bezeichnete sich Richter selbst zwar weiter als Sozialis- ten, outete sich aber als Reformist, das heißt als jeman- den, der daran glaubt, dass man im bestehenden System sinnvoll etwas verändern könne. Für eine Revolution, so schien es ihm nun, fehlten die sozialen und wirt- schaftlichen Voraussetzungen. Die Bundesrepublik sei im Übrigen stabiler als gedacht, sie würde vom Bür- gertum und den Arbeitern getragen. Von 1945/49 aus gesehen waren das erstaunliche Sätze. Am Ende stand für Richter hier ein Staat, den er zwar nicht wirklich gut fand, an dem man aber doch sinnvoll mitarbeiten konnte.13

Schriftsteller und Initiator der „Gruppe 47“: Sucht man nach Gründen für diese Entwicklung, sind es Hans Werner Richter, 1971 Bild: ullstein bild wohl vor allem drei Ereignisse, die für Richter in den sech- ziger Jahren wichtig geworden sind und die diesen Weg in die Bundesrepublik erklären können: die Studentenbewe- einer literarischen Gruppe, der „Gruppe 47“, die sich im gung, der Regierungswechsel von 1969 sowie als zeitlich Herbst 1947 in Bannwaldsee bei Füssen zum ersten Mal erstes die „Spiegelaffäre“ von 1962/63. Die nach dem Ham- traf.12 burger Nachrichtenmagazin benannte Affäre begann im Aus seiner Oppositionshaltung zur entstehenden Oktober 1962 mit der Verhaftung des Herausgebers der Bundesrepublik machte Richter keinen Hehl. Die sich ab- Zeitschrift Rudolf Augstein sowie weiterer Journalisten des zeichnende Wirtschaftsordnung missfiel ihm ebenso wie die „Spiegel“. Die Redaktionsräume wurden durchsucht und seiner Meinung nach zu enge Steuerung des politischen für einige Zeit gesperrt. Grund war ein Artikel über ein Neuaufbaus durch die Alliierten. Vor allem aber würden NATO-Manöver, in dem offensichtlich aus internen Papie- viel zu sehr die Rezepte der Weimarer Republik fortgeführt, ren zitiert worden war, zum Beispiel die Einschätzung der ein wirklicher Neuanfang werde verspielt. Die Entwick- NATO, wonach die Bundeswehr als nur „bedingt abwehr- lung, so Hans Werner Richter bereits Anfang September bereit“ zu gelten habe. In der Folge ging es einerseits um die 1946 im „Ruf“, gleiche immer mehr einer „Restauration“.13 Rechte einer freien, kritischen Öffentlichkeit und anderer- Richter führte seine Kritik am Nachkriegsdeutschland auch seits um die Rechte und Eingriffsmöglichkeiten des Staates, nach dem Ende seiner Tätigkeit am „Ruf“ zunächst fort. um den Tatbestand des „Landesverrat[s]“, wie Konrad Ade- Noch 1962 bezeichnete er in einer Bilanz der zurückliegen- nauer im Bundestag formulierte.16 den Jahre die nach 1945 fällige Wandlung als gescheitert. Die Für Richter war die Affäre auf der einen Seite ein Bundesrepublik sei lediglich eine „formale[n] Demokratie“ Beleg für den halbautoritären Charakter der Bundesrepu- geworden. Statt deutschen Demokraten seien die Deut- blik zu diesem Zeitpunkt. Und das ist noch freundlich for- schen lediglich „‚Wirtschaftswunderdeutsche[n]‘“ gewor- muliert: Eigentlich hielt er Verteidigungsminister Franz Jo-

12 Biographische Informationen zum Beispiel in: Hans Werner Richter: Briefe, hg. v. Sabine Cofalla, München/Wien 1997. Zum „Ruf“: Jérôme Vaillant: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945-1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung, München u.a. 1978. 13 Hans Werner Richter: Wo sollen wir landen, wo treiben wir hin...? Skizzen von einer Reise in die östliche Zone, in: Der Ruf 1 (1946), Nr. 2. 14 Hans Werner Richter: Zwischen Freiheit und Quarantäne, in: ders. (Hg.): Bestandsaufnahme, S. 15 u. S. 18. 15 Hans Werner Richter: Von Erfahrungen und Utopien. Briefe an einen jungen Sozialisten, Frankfurt a. M. 1981 (zuerst 1971), hier S. 137-150. „Reformist“ z.B. auch: Brief von Richter an Fritz J. Raddatz, 10. 7. 1968. Richter (wie Anm. 12), S. 671. 16 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte. 4. Wahlperiode, Bd. 51, 7. November 1962, S. 1981-1984.

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Münchner Studenten protestieren vor der Universität für den Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Strauß aufgrund seiner Rolle in der Spiegel-Affäre, 1962. Bild: ullstein bild sef Strauß, der mit seinem (zunächst abgestrittenen) Druck kam in diesem Fall ein generationelles Moment. Nach 1945 auf die Strafverfolgungsbehörden im Zentrum der Affäre hatte sich Richter selbst als Sprecher einer jungen Genera- stand, für den Typus von Politiker, mit dem sich die Bun- tion profiliert. Nun trat eine neue Generation auf, die den desrepublik auf dem Weg zu einer neuen rechten Diktatur Anspruch erhob, für politische und intellektuelle Erneue- befand.17 Das war die eine Seite. Auf der anderen hatte sich, rung zu stehen. Richter und mit ihm die „Gruppe 47“ wie Richter schrieb, die Öffentlichkeit in der Affäre gut kamen auch in dieser Hinsicht in die Rolle eines Vertreters geschlagen. Es gab massive Proteste gegen das Vorgehen der des Establishments. Richter hat das offenbar sehr stark Bundesregierung und fast alle Zeitungen, sogar die Bild- empfunden und in seinen Briefen immer wieder reflektiert. Zeitung, hatten sich zumindest teilweise auf die Seite des „Diese Generation“, so Richter an seinen Bruder, „hat uns Spiegel und damit der freien Meinungsäußerung geschlagen. hier alle mit einem Schlag alt gemacht, wobei es wiederum Das Recht der freien Meinungsäußerung wurde höher be- gleichgültig ist, ob wir ganz links, halblinks, oder gar rechts wertet als Staatsräson. Das fand Richter doch einigermaßen stehen.“19 bemerkenswert, und das hatte er seinen Journalistenkol- Inhaltlich ist für Richters Weg in die Bundesrepu- legen so gar nicht zugetraut.18 Die Bundesrepublik war blik schließlich der Regierungswechsel von 1969 wichtig ge- damit aus seiner Sicht ein Stück weit offener geworden. worden. Nicht nur handelte es sich dabei um den ersten Die Wirkung von „1968“ auf Richter ist kompli- „echten“ politischen Wechsel nach 20 Jahren, in denen der zierter. Inhaltlich hatte er viele Übereinstimmungen mit den Bundeskanzler von lediglich einer Partei gestellt worden Achtundsechzigern, aber sie waren ihm zu radikal. Hinzu war, auch inhaltlich gab es nun viele Übereinstimmungen.

17 Zur Einschätzung von Strauß durch Andersch und Richter z.B.: Richter (wie Anm. 12), S. 444f. u. S. 541. Das verhinderte freilich nicht, dass Richter Strauß einige Jahre später als Gast eines Streitgesprächs in den von Richter organisierten „politischen Salon“ in Berlin einlud. Das Gespräch fand im Mai 1964 statt. Vgl. ebd., S. 537f. 18 Zu dieser Einschätzung u.a.: Brief Richters an Wolfgang Hildesheimer, 8. 12. 1962. Richter (wie Anm. 12), S. 433f. 19 Richter an Willi Richter, 25. 4. 1968, Richter (wie Anm. 12), S. 668 vgl. ebd. S. 672, Richter an Günter Grass, 6.6.1968 [bei dem in der Edition vermerkten Jahr 1969 handelt es sich vermutlich um ein Datierungsversehen, F.K.].

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Bundeskanzler Willy Brandt bei seiner Regierungserklä- rung: „Mehr Demokratie wagen“ am 28. Oktober 1969 im Deutschen Bundestag Bild: ullstein bild

Richter hatte Willy Brandt in mehreren Wahlkämpfen un- Kreis liberaler Publizisten. Das liegt möglicherweise daran, terstützt, er war dabei zwar durchaus kritisch geblieben, dass sie sich schlechter zu Gruppen fügen wollen bezie- aber soviel Nähe zur Macht war dennoch noch nie gewesen: hungsweise keine solchen gut identifizierbaren Strukturen „Es waren politisch glückliche und frohe Tage“, schrieb er wie die Frankfurter Schule oder die „Gruppe 47“ ausbilde- an den gerade gewählten neuen Bundeskanzler, zum ersten ten. Mit dem Historiker Theodor Eschenburg, dem Sozio- Mal sei er „im Einklang mit der ‚Macht’“. Und weiter: „Das logen Ralf Dahrendorf, den Politologen Wilhelm Hennis ist ein seltsames Gefühl. Ich habe es nie gekannt. Aber ich und Kurt Sontheimer oder auch dem Psychoanalytiker muß sagen, es lebt sich sehr gut damit.“20 Alexander Mitscherlich können aber viele prominente Ähnlich wie die Frankfurter Schule waren Richter Intellektuelle hier eingeordnet werden.23 Am ehesten zur und mit ihm die Hauptautoren bzw. wichtigen Mitglieder „Gruppe“ fügten sich liberale Publizisten vielleicht ganz zu der „Gruppe 47“ am Ende nicht nur fest etabliert, sondern Beginn. Bereits 1945 gründeten Dolf Sternberger u.a. zu- standen auch gewissermaßen für die „Idee der Bundesre- sammen mit Karl Jaspers und Alfred Weber die Zeitschrift publik“.21 Geholfen hatte dabei sicher die Neuorganisation „Die Wandlung“. Ende 1949 war Schluss, nicht wenige Au- des intellektuellen Feldes im Zuge von „1968“. Es war aber toren fanden allerdings in Zeitschriften wie der „Gegen- ebenso Ausdruck schon länger im Gang befindlicher ideen- wart“ oder dem „Monat“ neue regelmäßige Publikations- geschichtlich-intellektueller Entwicklungen. Durch den möglichkeiten.24 Regierungswechsel 1969 wurden sie aus Sicht Richters und anderer gewissermaßen „beglaubigt“.22 Schon die drei wichtigen Herausgeber der „Wandlung“ zeigen die Bandbreite liberaler Wege in die neue Ord- Liberale Gründungen nung. Während der 1868 geborene Soziologe Weber seine vor allem in der Zwischenkriegszeit ausgebaute In der Literatur zur intellektuellen Geschichte der alten Modernediagnose aufgriff und gleichzeitig modifizierte, Bundesrepublik merkwürdig unterrepräsentiert ist der zeigt sich am Beispiel von Karl Jaspers eine typische

20 Richter an Willy Brandt, 23. 10. 1969. Richter (wie Anm. 12), S. 697. 21 Vgl. Jens Hacke: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009. 22 Der Regierungswechsel war damit von vornherein symbolisch aufgeladen. Edgar Wolfrum sprach vom „Pathos des Neuanfangs“. Edgar Wolfrum: „1968“ in der gegenwärtigen bundes-deutschen Geschichtspolitik, in: APuZ B 22/23 (2001), S. 28-36, hier S. 34. 23 Biographisch u.a.: Stephan Schlak: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008; Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007 u. Tobias Freimüller: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagno- sen und Psychoanalyse nach Hitler, Göttingen 2007; allgemein zum Liberalismus: Jens Hacke: Zur Ideengeschichte des Liberalismus in der Bundesrepublik Deutschland, In: Vorgänge 49 (2010), S. 4-12. 24 Zum Monat: Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.

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Mischung aus konzeptionellen Modifikationen sowie einem Weg, den man den „performativen“ Anschluss an die neue Ordnung nennen kann. Auf der einen Seite entwickelte Jaspers eine eigene politische Theorie von Pluralismus und Demokratie, auf der anderen verän- derte sich aber auch seine intellektuelle Haltung. Wäh- rend sich der Heidelberger Philosoph vor 1933/45 davor gehütet hatte, zu konkret politischen Fragen Stellung zu nehmen, griff er nach 1945 mehr und mehr in die aktuellen politischen Debatten ein. Demokratische Teilhabe fand für ihn nun auch praktisch bzw. persön- lich statt.

Ausgangspunkt für beide Entwicklungen war die Zwi- schenkriegszeit.26 In seinem in der jungen Bundesrepublik entwickelten Demokratie- und Pluralismuskonzept knüpf- te Jaspers an Elemente seiner früheren Existenzphilosophie an. Im Zentrum stand der Begriff der Wahrheit beziehungs- weise der Wahrhaftigkeit. Damit die demokratisch-plurali- stische Ordnung gelingen konnte, brauchte es einen „Raum der Wahrheit“, in dem sich die Streitenden begegnen konn- ten. Demokratische Auseinandersetzungen wurden als not- wendig und wichtig akzeptiert, gelingen konnten sie dann, wenn die Kontrahenten im Willen zur Wahrheit eine ge- Zuschauertribüne im Bundeshaus in Bonn: Bürger schulen ihr po- meinsame Basis hatten. Wahrheit wurde damit nicht inhalt- litisches Bewusstsein, 1965. Bild: ullstein bild lich bestimmt, sondern bezeichnete als „Wahrhaftigkeit“ eine bestimmte Haltung der Streitenden.27 Jaspers performative Wendung zur neuen politi- blik?“. Es trägt eindeutig den Charakter einer politischen schen Ordnung lässt sich ebenso klar beschreiben. Mit ihr Kampfschrift und war auch so gemeint.29 Verglichen mit sei- einher ging vor allem eine Wandlung seines Selbstverständ- ner Haltung in der Zwischenkriegszeit, ist dies eine deutli- nisses als Intellektueller. Während Jaspers in der Zwischen- che Veränderung. Jaspers hat sie immer wieder mit der ein- kriegszeit zu den deutschen Intellektuellen gehört hatte, die schneidenden Erfahrung des Nationalsozialismus begrün- sich selbst vor allem ein allgemeines, aber politisch unver- det, bei dessen Entstehung und weiterem Verlauf man sich bindliches „Wächter-Amt“ zuschrieben, vollzog er nach zu wenig eingemischt habe.30 1945 eine deutliche Annäherung an den Typus des sich ein- Jaspers hat die politische Wirklichkeit der Bundes- mischenden kritischen Intellektuellen.28 Das geschah nicht republik bis zu seinem Tod Anfang 1969 immer wieder mas- sofort und in einem Zug, es sind vielmehr verschiedene Ent- siv kritisiert. Bereits bei seinem Weggang aus Heidelberg – wicklungsstufen zu erkennen. Jaspers wird zudem sein Le- 1948 wechselte er an die Universität Basel – hatte die Un- ben lang nicht von Intellektuellen, sondern den „Geistigen“ zufriedenheit mit der westdeutschen Nachkriegsentwick- sprechen, am Ende aber steht das politische Tagesgeschäft. lung eine Rolle gespielt. Parlamentarische Demokratie und 1966 erschien sein Buch „Wohin treibt die Bundesrepu- gesellschaftlichen Pluralismus bejahte er allerdings. Das

25 Vor allem fand er nach 1945 zu einem deutlich positiveren Begriff der „Masse“. Z.B. Alfred Weber: Arbeiterschaft und Intelligenz, in: ders.: Alfred-Weber-Gesamtausgabe Bd. 9, S. 555-560 (zuerst 1953). 26 Zum folgenden Abschnitt auch: Friedrich Kießling: „Diktatur des Lebensstandards“. Wirtschaftliche Prosperität, Massenkonsum und Demokratiebegründungen in liberalen und konservativen Gesellschaftsdeutungen der alten Bundesrepublik, In: Michael Hochgeschwen- der/Bernhard Löffler (Hg.): Kapitalismus, Liberalismus und religiöses Erbe. Kulturhistorische Interdependenzen und ideengeschichtliche Entwicklungen in Westeuropa und den USA (im Druck). 27 Das Konzept ist u.a. fassbar in Jaspers’ Dankesrede für den Friedenspreis des deutsche Buchhandels, den er 1958 erhielt: Karl Jaspers, Wahrheit, Freiheit und Friede, in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965. München 1965, S. 173-185. 28 Zum sich wandelnden Intellektuellenverständnis in Deutschland: Jutta Schlich (Hg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11. Sonderheft), Tübingen 2000. 29 Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen, Stuttgart/Hamburg 1966. 30 Vgl. die Einleitung zu der Aufsatzsammlung Jaspers (wie Anm. 27).

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 85 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Karl Jaspers mit dem Journa- listen Thilo Koch, 1966 Bild: ullstein bild

Grundgesetz, wie die Bundesrepublik insgesamt, bezeich- als Herausgeber der schon zitierten „Wandlung“ einen jour- nete er gegen Ende seines Lebens (bei allen Mängeln im De- nalistischen Neuanfang, schlug dann aber eine wissen- tail) als Glücksfälle.31 Das Problem lag aus seiner Sicht beim schaftliche Karriere ein. Sternberger wurde einer der wich- politischen Bewusstsein der Deutschen. Bei der Entwick- tigen Begründer der westdeutschen Politologie. 1962 erhielt lung einer eigenen westdeutschen Identität hat Jaspers den- er schließlich einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an noch, vielleicht gerade deswegen, mehrmals eine prominen- der Universität in Heidelberg. Daneben war er aber weiter- te Position vertreten. Berühmt geworden ist vor allem ein hin mit seiner umfangreichen publizistischen Tätigkeit auch Fernsehinterview aus dem Jahr 1960, in dem er die Teil- in der größeren Öffentlichkeit präsent.33 staatlichkeit der Bundesrepublik de facto aus der Geschich- Auch Sternberger war keineswegs zufrieden mit te des Nationalsozialismus heraus rechtfertigte. Jaspers der Gründung der Bundesrepublik von 1949. Was ihn vor brachte das Gespräch mit Thilo Koch eine Titelgeschichte allem störte, war das Wahlrecht sowie das wieder entstehen- samt Titelbild im Spiegel ein.32 de Parteiensystem. Das Verhältniswahlrecht, so seine Sorge, Zeigt Jaspers den Weg eines Intellektuellen in die würde Bürokraten und Parteikader in die Schlüsselstellun- neue politische Ordnung, der in der Zwischenkriegszeit gen bringen, nicht Personen, die sich wirklich um die Men- noch wenig aktiv um Demokratie bemüht war, so eröffnet schen kümmerten. Hinter solchen Befürchtungen stand ein das Beispiel seines zeitweiligen Schülers und späteren emphatischer Humanitätsbegriff. „Die Humanität politisch Freundes Dolf Sternberger noch weitere Dimensionen: Der zu organisieren“, bestimmte er zum Beispiel 1947 als die 1907 geborene Dolf Sternberger war bei Kriegsende 37 Jah- entscheidende Aufgabe der Gegenwart.34 Eng verbunden re alt. Nach der Promotion mit einer Studie zu Martin Hei- mit dem Eintreten für die „Menschlichkeit“ in der Politik degger wurde er Journalist, bis 1943 arbeitete er als Redak- war noch ein weiteres Schlagwort, das der „lebendigen De- teur bei der „Frankfurter Zeitung“, einer der großen libera- mokratie“. Daraus ergab sich dann auch die Kritik an der len Zeitungen in Deutschland. Kurz bevor die Zeitung im frühen Bundesrepublik. Das, was 1949 und in den Folge- „Dritten Reich“ verboten wurde, erhielt Sternberger jahren fehlte, war eine gelebte oder eben eine „lebendige Schreibverbot. Nach dem Krieg versuchte er unter anderem Demokratie“.

31 Jaspers (wie Anm. 23), z.B. S. 5 u. S. 176. 32 „Grenzdenker Jaspers“, Der Spiegel, Ausgabe 36 (1960), 31. 8. 1960. Titelgeschichte: Der Bodenlose. Ebd., S. 44-53. Wortlaut des Interviews in: Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960. 33 Eine wissenschaftliche Biographie von Sternberger existiert nicht. Wichtige biographische Informationen finden sich zum Beispiel in: Claudia Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk Dolf Sternbergers, Würzburg 2001. 34 Dolf Sternberger: Tagebuch. Ausflug in die Schweiz, in: Wandlung 2 (1947), S. 376.

86 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.“ – „Es ist eine gute Verfassung.“ Der Artikel, aus dem diese Sätze stammen, trug die Überschrift „Verfas- sungspatriotismus“.37 Der Begriff sollte überaus wirkmäch- tig für die späte Bonner Republik werden. Ideengeschicht- lich interessant ist der Artikel auch deswegen, weil vieles fast wortwörtlich aus einem Beitrag stammt, den Sternber- ger 1947 für die „Wandlung“ schrieb.38 Damals Programm, war das Konzept aus Sicht Sternbergers nun tatsächliche Beschreibung der bundesdeutschen Wirklichkeit gewor- den.

Sternbergers intellektueller Weg in die alte Bundesre- publik stellt in vielerlei Hinsicht einen ideengeschicht- lichen Scharnierpunkt dar. So war sein Konzept des Verfassungspatriotismus bekanntlich auch für jeman- den wie Jürgen Habermas anschlussfähig. Auch wenn sich dessen Version von der ursprünglichen in manchen Punkten unterscheiden mochte, war der bei Sternber- ger zu findende Grundgedanke von der Verbindung guter Institutionen und bürgerlicher Partizipation in der späten Bonner Republik auch für Jürgen Habermas und damit offenbar lagerübergreifend attraktiv.39 Der Politologe Dolf Sternberger bei einem Auftritt bei der Deut- schen Wählergesellschaft, 1955 Bild: ullstein bild Sternbergers Konzepte strahlten aber ebenso ins christlich- konservative Lager aus. Zu denen, die sich immer wieder auf Damit ist das Lebensthema von Dolf Sternberger benannt, ihn beriefen, gehörte neben Richard von Weizsäcker zum und man kann gut zeigen, wie für ihn nach und nach die Beispiel der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Bundesrepublik genau das wurde, eine „gelebte Demo- später Thüringen , der in Heidelberg auch kratie“. Sternbergers damit verbundene Annäherung an die bei Sternberger studiert hatte.40 Bonner Republik setzte etwas früher ein als bei Hans Werner Richter und sie ging weiter. 1956 sah er die Loyalität Konservative Intellektuelle und der Westdeutschen zum eigenen Staat zwar „von Zweifeln die Bundesrepublik nicht frei“, aber doch gewachsen.35 1961 war die Diagnose noch etwas positiver. „Die Chance der Selbstbestimmung“, So wenig wie liberale oder linke Autoren bilden konserva- schrieb er nun, „ist im Bereich der Bundesrepublik wirklich tive Publizisten und Intellektuelle eine homogene Gruppe. gegeben, sie wohnt ihrem inneren Aufbau, ihrem Verfas- In unserem Kontext lassen sich mindestens drei Richtungen sungsleben inne.“36 Seit den siebziger Jahren kann Sternber- unterscheiden. Da gab es zunächst diejenigen, die – aus wel- ger dann endgültig als vehementer Verfechter der bundesre- chen Gründen auch immer – nie wirklich in der bundes- publikanischen Ordnung gelten. 1979 etwa scheinen in sei- deutschen Ordnung ankamen. Der Staatsrechtler Carl nem berühmtesten Leitartikel überhaupt, den er zum 30- Schmitt ist wohl das prominenteste Beispiel.41 Sozusagen jährigen Bestehen des Bonner Staates schrieb, alle Zweifel am anderen Ende des Spektrums rangieren diejenigen, die geschwunden: „[W]ir leben in einer ganzen Verfassung, in der Hamburger Politologe Jens Hacke vor einigen Jahren

35 Dolf Sternberger: Das Problem der Loyalität, in: ders.: Schriften Bd. 10. Frankfurt a. M. 1990, S. 85-94, Zitat S. 86 (zuerst 1956). 36 Dolf Sternberger: Des Deutschen Vaterland, in: FAZ, 28. 1. 1961, S. 1. 37 Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: ders.: (wie Anm. 35), S. 13-16, hier S. 15 bzw. 13 (zuerst: FAZ, 23. 5. 1979). 38 Dolf Sternberger: Begriff des Vaterlands, in: Wandlung 2 (1947), S. 494-511. Das gilt dann auch für die auf einen Vortrag zurückgehende spätere Langfassung des Leitartikels von 1979: Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: ders.: (wie Anm. 35), S. 17-31. 39 Vgl. z.B. Mateusz Stachura: Zwischen nationaler Identität und Verfassungspatriotismus. Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1972–1989, in: Politische Vierteljahresschrift 46 (2005), S. 288-312. 40 Siehe z.B. Bernhard Vogels Nachruf in der FAZ: Bernhard Vogel: Ein Lehrer der Verfassung. Zum Tode Dolf Sternbergers, FAZ, 28. 7. 1989, S. 23 sowie Richard von Weizsäcker: Nachdenken über Patriotismus, in: ders.: Reden und Interviews 4, Bonn 1988, S. 127-138. 41 Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 87 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

die „Liberalkonservativen“ genannt hat.42 Gemeint ist eine Gruppe von Schülern des Münsteraner Philosophen Joa- chim Ritter mit den Philosophen Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann an der Spitze. Auch ihr Ausgangspunkt war, wie bei ihrem Lehrer, eine tiefe Skep- sis gegenüber der europäischen Moderne und der das Indi- viduum bedrohenden, vereinheitlichenden Massengesell- schaft. Im Laufe der Zeit entwickelten sie aber eine Art Apologie der modernen Entzweiungen und näherten sich so Demokratie und Pluralismus an. Gerade konservative Werte, so in etwa die Denkbewegung, erlaubten die Aner- kennung von Unterschieden bzw. historisch begründeten Differenzen, die dann im System der modernen Demokratie sowie im gesellschaftlichen Pluralismus zum Ausdruck kommen konnten. Eine christliche Werteordnung sowie eine Betonung der Bedeutung von geordneten Institutionen kamen hinzu und ebneten den Münsteranern bis in die sieb- ziger Jahre hinein den Weg zur Anerkennung und Verteidi- gung der Bundesrepublik. Das Spannende an dieser Gruppe ist, dass mit und Der Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen, 1973 in ihrer Anerkennung der modernen Entzweiung der Weg Bild: ullstein bild zu einer genuin konservativen Begründung der pluralisti- schen Massengesellschaft und ihrer politischen Ordnung desrepublik, des zumindest in den fünfziger und frühen gewiesen war.43 Die Münsteraner ließen damit nicht nur die sechzigerer Jahren überwiegend konservativ geprägten kulturpessimistische Skepsis gegenüber der „Masse“ hinter „Merkur“. Am Anfang stand auch hier die Kritik am neu sich, ihr konservatives Weltbild machte Pluralismus als An- entstehenden Staat. Die „parlamentarische Regierungsform erkennung der historisch gewachsenen Differenzen gerade- ist im Niedergang begriffen“, kommentierte 1948 der zu notwendig. Insofern markierten die Konzepte der Ritter- Philosoph Jürgen von Kempski, so etwas wie der politische Schule eine sehr starke Form der Versöhnung des Konserva- Hausautor der Zeitschrift in den ersten Jahren, und es sei tismus mit der auf der modernen Massengesellschaft auf- „nichts weniger als selbstverständlich, daß eine freie De- bauenden Wirklichkeit des westdeutschen Teilstaates. mokratie auch eine parlamentarische Demokratie sein Soweit ging eine dritte Ausprägung konservativen muß“.44 Kempski kritisierte Parteien und Bürokratie sowie Denkens nicht. Aber auch sie näherte sich schon seit den insbesondere die Abhängigkeit der Regierungsarbeit vom fünfziger Jahren der Bundesrepublik deutlich an. Eine em- Parlament. Explizit verwies er auf Carl Schmitts Klassiker phatische Anerkennung, die Legitimitation von pluralisti- der Parlamentarismuskritik aus dem Jahr 1923, „Die gei- scher und demokratischer Ordnung aus dieser selbst heraus stesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“.45 erfolgte hier aber kaum. Prominente Beispiele für diese Daran knüpfte – schon im Titel – ebenso der Kölner Jura- Richtung sind die Soziologen Hans Freyer und Helmut professor Ottmar Bühler an. Bei der Beurteilung des parla- Schelsky oder der Philosoph und Anthropologe Arnold mentarischen Regierungssystems müsse man „von der ele- Gehlen, die alle in der öffentlichen Debatte der frühen Bun- mentaren Tatsache ausgehen, daß dieses System unter der desrepublik ebenfalls sehr präsent waren. Deutlich älter als Weimarer Verfassung in Reich und Ländern mit einem völ- Marquard, Lübbe oder Spaemann lässt sich ihr Weg in die ligen Mißerfolg geendet“ habe.46 Schon vier Jahre später alte Bundesrepublik am besten als Gewöhnung oder salopp klang es vor allem bei von Kempski ganz anders. In einem als zähneknirschende Akzeptanz kennzeichnen. Beitrag zu „Krise und Zukunft der Demokratie“ zeichnete Gut verfolgen lässt sich die Entwicklung in den er nun ein positives Bild der bestehenden politischen Ord- Bänden einer der wichtigsten Zeitschriften der jungen Bun- nung und ihrer liberalen Grundlagen von Rechtsstaat und

42 Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 43 Friedrich Kießling: Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit? Zu einigen jüngeren Arbeiten der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 363-389, hier v.a. S. 367f. 44 Jürgen von Kempski: Betrachtungen zur deutschen Verfassungsfrage, in: Merkur 2 (1948), S. 367-390, hier S. 383. 45 Ebd., S. 385. 46 Ottmar Bühler: Die geistige Lage des deutschen Länder-Parlamentarismus, in: Wandlung 3 (1948), S. 337.

88 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden bürgerlicher Freiheit. Wichtig ist sein Hauptargument, in rizont wurde vielmehr aus dem politischen Bereich ausge- dem er die Annäherung konservativer Vorstellungen an die lagert. Die Annäherung an die neue politische und gesell- Ideale des Liberalismus als die Anerkennung der „ge- schaftliche Ordnung erhielt so gesehen den Charakter des schichtlich gewordene[n] Gegenwart“ kennzeichnete. Im Arrangements. Zentral für Gehlen wurde das Konzept der Kern erklärte von Kempski die liberale Demokratie so kur- „Entlastung“, bei Schelsky das der „Sachgesetzlichkeit“. zerhand zur bewahrenswerten Tradition und machte sie auf Im „Merkur“ entwarf Gehlen seine Vorstellung der diese Weise für Konservative annehmbar.47 Entlastung zum Beispiel 1960 in einem Leitaufsatz zur Situ- Bei dieser Annäherung an die bundesdeutsche ation der modernen Kunst. Schon im Titel „In die Freiheit Ordnung spielte sicherlich die antikommunistische Front- verstrickt“ benannte Gehlen das aus seiner Sicht entschei- stellung der fünfziger Jahre eine Rolle. Hinzu kommt etwas dende Problem der modernen Menschen. Bindungslos ge- auf den ersten Blick Simples, aber aus meiner Sicht gerade worden und ständigem Reiz- und Informationsüberfluss bei konservativen Intellektuellen sehr Wichtiges, nämlich ausgesetzt, stünden sie unter einem fortwährenden Ent- Gewöhnung. Die Bundesrepublik funktionierte ja offen- scheidungsdruck. Weil die gültigen Maßstäbe weggefallen sichtlich. Das machte sie bewahrenswert.48 Ein dritter As- waren, könne dieser nur überfordern.53 Durch Traditionen pekt liegt in der Deradikalisierung der Kulturkritik. Sie ist würden demgegenüber, wie er in einem anderen Aufsatz vor allem an den konservativen Hauptautoren Hans Freyer geschrieben hatte, „gewisse Fundamente gelegt, die man sowie insbesondere Arnold Gehlen und Helmut Schelsky nicht ewig in Frage stellen muß“. Dies sei „eine ungeheure gut zu erkennen. Entlastung“, die für „eine ewige Belastung […] preisgege- Am wenigsten weit ging dabei der 1887 geborene ben“ worden sei.54 Soziologe Hans Freyer. Seine Texte blieben auch in den Entsprechend suchte Gehlen immer wieder nach fünfziger und frühen sechziger Jahren von der massiven Möglichkeiten der „Entlastungen“ auch in der modernen Kritik an der modernen Gesellschaft, an Vermassung und Welt. Sie konnten die Zumutungen der Moderne nicht be- Ent-Individualisierung oder der Entfremdung des Men- seitigen, dagegen stand der ebenso geforderte „Realitäts- schen im Industriezeitalter geprägt.49 Die „Deradikalisie- sinn“, doch mochten sie diese mildern. rung“ bestand darin, dass sich daraus keine unmittelbaren politischen Forderungen mehr ergaben. Was blieb, war indi- Die Differenz zur Position von Vertretern der Frank- viduelles Aushalten oder Durchhalten und die Hoffnung furter Schule (bei aller Ähnlichkeit in der Diagnose auf die Lösung der Probleme in der einzelnen „Person“.50 auch hier) wird in einem berühmten Radiogespräch Gehlen und Schelsky gingen hier weiter. Auch bei ihnen deutlich, das Gehlen 1965 mit Adorno führte. Wo der kam zwar das kulturkritische Vokabular immer noch vor, Frankfurter Philosoph auf „Mündigkeit“ jedes einzel- sie verbanden es aber mit der ausdrücklichen Anerkennung nen setzte, suchte Gehlen auch hier nach „Entlastung“. der modernen Bedingungen. Diese seien unhintergehbar. Statt rückwärtsgewandten Kulturpessimismus hielt Gehlen Ob er wirklich glaube, fragte Gehlen seinen Gesprächspart- „Realitätssinn“ für notwendig.51 Und auch Schelsky kon- ner, „dass [sic] man die Belastung mit Grundsatzproble- statierte in seinen vielen gegenwartsdiagnostischen Beiträ- matik, mit Reflexionsaufwand […], allen Menschen zumu- gen zwar wortreich die Folgen von Industrie- und Massen- ten sollte“. Adorno bejahte und wies die Entlastungsstrate- gesellschaft, verzichtete aber auf eindeutige Wertungen.52 gie ausdrücklich zurück: „[S]o lange, wie man sie entlastet Im Unterschied zu den skizzierten „liberalkonservativen“ und ihnen nicht die ganze Verantwortung und Selbstbe- Positionen führte dies allerdings nicht zu einer Legitimation stimmung zumutet“, seien „Wohlbefinden und Glück“ der von Pluralismus und moderner Entzweiung. Der Werteho- Menschen nur „Schein“.55

47 Jürgen von Kempski: Krise und Zukunft der Demokratie, in: Merkur 6 (1952), S. 580-585. 48 Deutlich wird dies auch an einem Beitrag des Juristen Ernst Forsthoff, der die Bundesrepublik bei ihrer Gründung ebenfalls sehr kritisch beurteilt hatte. Weil sie bisher funktionierte, so der Tenor eines Artikels von 1960, sei die Bundesrepublik ein bewahrenswerter Staat. Ernst Forsthoff: Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse, in: Merkur 14 (1960), S. 807-821. 49 Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalter, Stuttgart 1955; ders.: Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965; im „Merkur“ z.B.: Hans Freyer: Die Vollendbarkeit der Geschichte, in: Merkur 9 (1955), S. 100-114. 50 Jerry Z. Muller: The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987. 51 Arnold Gehlen: Das Ende der Persönlichkeit? In: Merkur 10 (1956), S. 1148-1158, hier v.a. S. 1154. 52 Vgl. z.B. Helmut Schelsky: Zukunftsaspekte der industriellen Gesellschaft, in: Merkur 8 (1954), S. 13-28. 53 Arnold Gehlen: In die Freiheit verstrickt. Zur Situation der modernen Kunst, in: Merkur 14 (1960), S. 301-307. 54 Arnold Gehlen: Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, in: Merkur 6 (1952), S. 533-545, hier S. 542. 55 Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen. Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Friedemann Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt a. M. 1974, S. 225-251, hier S. 250.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 89 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Technisierung in Europa: Frauen bei der Montage von Fernsehgeräten unter männlicher Aufsicht, 1958 Bild: ullstein bild

„Entlastung“, das legt bereits der Begriff nahe, stellte die scheidungen. „Politik im Sinne der normativen Willensbil- moderne Massengesellschaft längst nicht mehr grundsätz- dung“, so Schelsky, „fällt aus diesem Raume eigentlich prin- lich in Frage, sondern suchte realistische Antworten auf ihre zipiell aus.“ Und wieder kommt das „Funktionieren“ als diagnostizierten Probleme zu geben. Ganz ähnlich gilt dies entscheidende Kategorie ins Spiel: „Die moderne Technik“, für Helmut Schelskys Sachgesetzlichkeit, wie er sie etwa in so Schelsky, „bedarf keiner Legitimität; mit ihr ‚herrscht’ seinem Vortrag „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zi- man, weil sie funktioniert und so lange sie optimal funktio- vilisation“ von 1961 entwickelt hat.56 Am Anfang beschreibt niert. Sie bedarf auch keiner anderen Entscheidung als der Schelsky wie so häufig die Moderne als Verwissenschaft- nach technischen Prinzipien.“59 lichung und Technisierung, als Entfremdung oder Sieg der Wo liberale Intellektuelle bei ihrem Weg in die technischen (medialen, elektronischen usw.) „Apparatu- Bundesrepublik versuchten, normative Vorstellungen in ren“57 über den unmittelbaren Weltbezug der Menschen. Politik und Gesellschaft hineinzutragen, nahmen konser- Wie Gehlen weist er Kulturkritik aber zurück: „Nichts liegt vative Positionen in den zuletzt genannten Fällen diese aus mir ferner als eine kulturkritische Fragestellung.“ Es dem politischen Feld heraus. Erstere fanden über die For- komme vielmehr darauf an, das „Zeitschicksal auszutra- derung nach einer neuen politischen Kultur in die Bun- gen“.58 Für die Politik bedeutet dies, dass Ideale, Werte – desrepublik. Letztere sehr viel mehr über das Funktionieren und im Übrigen auch Ideologien – aus ihrem Bereich her- des neuen Staates. Wie angedeutet, machte dies in der „libe- ausfallen. Wissenschaft und Technik übernehmen die Herr- ralkonservativen“ Variante auch den Weg für eine wertge- schaft, allein aus ihren Zwängen ergeben sich die Ent- bundene Annäherung an die Bonner Republik frei.

56 Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders.: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze. 1965, S. 439-471 (zuerst 1961). 57 Ebd., S. 442. 58 Ebd., S. 443 u. 452. 59 Ebd., S. 456.

90 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Wie westdeutsche Intellektuelle zu ihrem Staat fanden

Schluss Deradikalisierung ihres Kulturpessimismus und eine so mögliche, allmähliche Anerkennung der modernen Die Bundesrepublik hatte bei ihren Intellektuellen keinen Entzweiungen. Konzeptionell interessant ist der Fall guten Start. Im Gegenteil, linke, liberale wie konservative von Karl Jaspers. Er leitete aus dem weitgehend unpo- Intellektuelle äußerten in der Gründungsphase zum Teil litischen Existentialismus, wie er ihn in der Zwischen- erhebliche und ganz grundsätzliche Kritik. Sahen die einen kriegszeit entwickelt hatte, nun ein eigenes Pluralis- nur eine „formale Demokratie“ entstehen, hielten andere mus-Konzept ab, das sich mit der parlamentarischen die neue Ordnung überhaupt nur für eine „Restauration“ Demokratie gut verbinden konnte. Ähnliches lässt sich des Alten. Eine dritte Gruppe äußerte fundamentale Zweifel für Dolf Sternberger und dessen Zentralbegriff des gegenüber der parlamentarischen Regierungsweise oder „Lebendigen“ beschreiben. Die Bundesrepublik wurde dem neu entstehenden Parteiensystem. Vor allem bei kon- ihm nach und nach zu einer gelungenen, weil „lebendi- servativen Autoren kam die starke Moderneskepsis hinzu. gen“ Demokratie. Die entstehende politische wie gesellschaftliche Ordnung verkörperte in vieler Hinsicht die beklagten modernen Zeitlich sind für die intellektuellen Wege in die Bundes- „Entzweiungen“. republik vor allem die sechziger Jahre wichtig. Ansätze zei- Die Annäherung an die bundesdeutsche Ordnung gen sich aber schon zuvor. Einen vorläufigen Endpunkt erfolgte nach und nach und auf verschiedenen Ebenen. Eine wird man auf der anderen Seite nicht vor den siebziger „organisatorische“ Annäherung kann man die Etablierung Jahren ansetzen. Man darf den Weg insgesamt nicht zu ein- vieler der hier vorgestellten Intellektuellen im kulturellen heitlich zeichnen. Auch nach der intellektuellen Selbstan- bzw. publizistischen Leben der Bonner Republik nennen. erkennung blieb noch viel Raum für Kritik. Unter den vie- Zumindest im intellektuellen Feld waren die meisten von len hier nicht weiter erwähnten, aber natürlich ebenso wich- ihnen bald keine Außenseiter mehr. Das gilt auch für jeman- tigen Intellektuellen fand zum Beispiel der Schriftsteller den wie Hans Werner Richter, auch wenn dieser in seinem Alfred Andersch, Hans Werner Richters Mitherausgeber Selbstbild noch längere Zeit eine Außenseiterrolle pflegte. des „Ruf“ und ebenfalls Mitbegründer der „Gruppe 47“, nie Hinsichtlich der intellektuellen Haltung oder des intellek- wirklich in die Bundesrepublik. Andere, wie etwa Walter tuellen Selbstverständnisses näherten sich nach 1945/49 Dirks, als linkskatholischer Publizist und Journalist eben- auch Autoren dem Typus des kritischen Intellektuellen an, falls eine zentrale Figur bundesdeutscher Intellektuellen- die ursprünglich die Sphäre der Tagespolitik gemieden hat- geschichte, blieben ein Leben lang sehr skeptisch, ob das ten. Der Philosoph Karl Jaspers ist ein gutes Beispiel für die- bundesdeutsche Experiment gelingen würde. Insgesamt ist sen „performativen“ Weg in die Bundesrepublik. Ereignis- aber doch die Zahl derjenigen bemerkenswert, die nach und historisch sind vor allem für liberale und sozialistische bzw. nach in die Bundesrepublik fanden, obwohl sie zunächst sozialdemokratische Positionen neben „1968“ – dessen mehr als kritisch gewesen waren. Wirkung allerdings durchaus ambivalent war – die „Spiegel- Es ist in der historischen Forschung immer wieder affäre“ von 1962/63 sowie der erste „echte“ Regierungs- einmal gefragt worden, welche Autoren oder welche Grup- wechsel von 1969 wichtige Stationen auf dem intellektuel- pe von Autoren als eigentliche intellektuelle Gründer der len Weg in die Bundesrepublik geworden. Im konservativen alten Bundesrepublik zu gelten hätten. Neben der Frank- Spektrum ist allgemein das Funktionieren des neuen Staates furter Schule und den „Liberalkonservativen“ der Ritter- sowie seiner Verfassungsordnung zu nennen. Schule sind zum Beispiel auch die Vertreter der „Gruppe 47“ ins Spiel gebracht worden.60 Angesichts der hier ver- Konzeptionell fiel allen der hier untersuchten Richtun- folgten Entwicklungen ist schnell zu sehen, dass diese Frage, gen die Annäherung an die Bundesrepublik nicht leicht. sobald sie als Alternativfrage gestellt wird, ziemlich müßig Für die Frankfurter Schule sind die Abschwächung des ist. Die Bevorzugung einer Richtung verdeckt die entschei- antikommunistischen Grundkonsenses und die Renais- dende Tatsache. Sie besteht darin, dass es ganz unterschied- sance neomarxistischer Ideen, zu der sie freilich selbst liche intellektuelle Wege in die Bundesrepublik gegeben hat. beigetragen hatte, in den sechziger Jahren bedeutsam Die neue Ordnung war am Ende für viele ideengeschicht- geworden. Konservativen Autoren half eine deutliche liche Richtungen anschlussfähig. III

60 Gangolf Hübinger: Gelehrten-Intellektuelle im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, S. 227-247, hier S. 245f.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 91 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Vor 50 Jahren Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin- Krise

Von Peter März

Berlin: Brandenburger Tor nach 1961: Absperrungen aus Stacheldraht vor der Mauer am Brandenburger Tor Foto: Fritz Eschen, Bild: ullstein bild

92 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Rahmenbedingungen

Der Bau der Mauer durch Berlin am 13. August 19611 fin- det die „alte“ Bundesrepublik im Zenit ihrer dynamischen ökonomischen Rekonstruktionsphase und zugleich in ei- nem Zeitabschnitt beginnenden kulturellen Wandels. Die durch Ökonomie wie Kultur vorgegebenen Rahmenbedin- gungen haben zwar das operative Handeln der westdeut- schen Politik zwischen dem sogenannten Berlin-Ultimatum des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow vom 27. No- vember 1958 und dem allmählichen Auslaufen der soge- nannten zweiten Berlin-Krise, nach jener ersten von 1948/49, im weiteren Verlauf des Jahres 1962, nicht unmit- telbar bestimmt bzw. determiniert. Aber es gibt natürlich zumindest indirekte Wirkungsfaktoren: Die dynamische ökonomische Rekonstruktions- phase der alten Bundesrepublik hatte gegen Ende der fünf- ziger Jahre entscheidend dazu beigetragen, dass sie auf dem Kunden in einem Lebensmittelladen (Selbstbedienungsladen) Weg schien, wieder europäische Großmacht zu sein bzw. zu während der Wirtschaftswunderjahre Bild: ullstein bild werden. Was ihr völkerrechtlich und auf der Bühne der Ver- einten Nationen an formalem Status wie an insbesondere nuklearem Rüstungsniveau fehlte, schien sie durch zuneh- einen Überschuss von 1,6 Prozent ihrer Haushaltsvolu- mende ökonomische Stärke wettzumachen: Betrug 1950 der mina, im Folgejahr immerhin noch von 0,6 Prozent. Anteil des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts an dem der USA 13,20 Prozent, hingegen der Frankreichs 13,30 Die Höhe der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haus- Prozent und der Großbritanniens 20,2 Prozent – im Falle halte am Bruttoinlandsprodukt betrug in diesen Jahren 17,4 Japans waren es ganze 9,5 Prozent –, so hatten sich die Rela- Prozent bzw. 17,2 Prozent, also deutlich unterhalb nur eines tionen bis 1960 umgedreht: Nun führte Westdeutschland Drittels des heutigen sogenannten Maastricht-Kriteriums mit 20,83 Prozent vor Großbritannien mit 19,48 Prozent, von 60 Prozent.3 Die Exportstärke der deutschen Industrie Japan mit 16,16 Prozent und Frankreich mit 15,55 Prozent.2 schließlich machte am 3. März 1961 die erste Aufwertung der DM seit der Währungsreform von 1948 um fünf Prozent Die westdeutsche Volkswirtschaft, also die der alten notwendig, durchaus gegen den langen Widerstand Konrad Bundesrepublik allein, hatte sich bis zum Beginn der Adenauers, den Industrie und Gewerkschaften gemeinsam zweiten Berlin-Krise auf Platz zwei im westlich-markt- unter Druck gesetzt hatten, weil sie um Exporte wie Ar- wirtschaftlich geordneten Teil der Weltwirtschaft vor- beitsplätze fürchteten. Aber die Zahlungsbilanz war nun gearbeitet. Und auch die interne Datenlage für die alte doch zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten. Damals be- Bundesrepublik war in diesen Jahren exzellent: 1959 gann die lange Phase der starken Position der DM gegen- setzte ein neuer Konjunkturzyklus ein, der bis 1963 an- über Franc und Pfund mit ihren politischen Folgewirkun- halten sollte. Das reale Wachstum lag 1960 bei 9,0 Pro- gen für das innereuropäische Gefüge. Und so ist auch im zent, 1961 bei 5,6 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag bei Abstand von drei Jahrzehnten Hans-Peter Schwarz zuzu- 1,3 Prozent bzw. 0,8 Prozent, also tendenziell eine Über- stimmen, wenn er die aus der zweiten Berlin-Krise resultie- beanspruchung des Arbeitsmarktes. Die Bruttolöhne renden Belastungen für Status und sicherheitspolitische Po- erhöhten sich – bei einer jährlichen Geldentwertung sitionierung Westdeutschlands dafür verantwortlich macht, von 1,4 Prozent bzw. 2,3 Prozent –um 9,3 Prozent bzw. dass sein damaliger ökonomischer Aufstieg im Ergebnis 10,3 Prozent. Die öffentlichen Haushalte erzielten 1960 nicht in politische Münze umgewandelt werden konnte:

1„Bau der Mauer“ hier symbolisch. Die Errichtung der Mauer im unmittelbar technischen Sinn begann fünf Tage nach den hermetischen Absperrungsmaßnahmen in Berlin am 18. August 1961, vgl. Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989, München 2006, S. 292. 2Fünfzig Jahre Deutsche Mark: Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, hg. v. der Deutschen Bundesbank, München 1998, S. 739. 3Vgl. ebd., S. 350.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 93 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

„Im Jahr 1958, vor Beginn der Krise, befand sich Adenauer-Jahrzehnts haben die Evangelischen Kirchen von die Bundesrepublik auf dem besten Wege, eine selbstbe- vorneherein stets nur zu einem guten Teil und auch in die- wusste westeuropäische Großmacht zu werden – an sem Teil mitunter mit schlechtem Gewissen mitgetragen; die politischem Gewicht bald schon vergleichbar mit bohrende Sorge, dass die europäische Integrationspolitik Frankreich und Großbritannien […]. Dank dem phö- die Stammlande der Reformation auf Dauer östlich des Ei- nixgleichen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft sernen Vorhanges verbleiben lasse, trieb die evangelische stand zu erwarten, dass sich nach dem voraussehbaren Christenheit in Westdeutschland um. Und ein politisch- Abschluss des Aufbaus der Bundeswehr eine gewisse prononcierter Teil, der sich bis dahin in Gustav Heinemanns Ranggleichheit wieder herstellen würde […]. Am „Gesamtdeutscher Volkspartei“ gesammelt hatte, schloss Ende der Berlin-Krise war von diesen deutschen Erwar- sich 1957 der SPD an und errang über sie Repräsentanz im tungen nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Die Er- Bundestag. pressbarkeit und Abhängigkeit wegen Berlin war ein Anders der westdeutsche Katholizismus: Er schien Hauptgrund für die nach allen Seiten weiterhin prekäre anfänglich so etwas wie die ideologisch-kulturelle Haus- deutsche Situation. Dass die Bundesrepublik, anders als macht des größten Teils der Unionsparteien zu sein und die Großbritannien und Frankreich, niemals über eigene Bundesrepublik als seinen deutschen Staat zu sehen, erst- Kernwaffen verfügen würde, begann sich damals schon mals seit 1871 in der deutschen Nationalstaatsgeschichte. abzuzeichnen. Aber vom militärischen Bereich abgese- Hier spielte insbesondere auch die Propagierung eines auf hen, stellte die durch Berlin bedingte Abhängigkeit vom christliche Universalitätsvorstellungen zurückweisenden bösen Willen der Sowjetunion und vom guten Willen Abendlandgedankens eine Rolle, der die nationalistischen der Westmächte eine Dauerbelastung dar, die jede eigen- Verirrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überwin- ständige außenpolitische Entfaltung verhinderte.“4 de. Aber auch diese Fronten begannen sich gegen Ende der fünfziger Jahre aufzuweichen: Der Abendlandgedanke ver- In die zweite Berlin-Krise fällt nur eine Bundestagswahl, die lor vor dem Hintergrund eines allgemeinen, eher techno- des Jahres 1961. Bemerkenswert für ihren kulturellen Kon- kratischen Modernisierungsparadigmas an Überzeugungs- text ist, dass, anders als schon bei der Bundestagswahl 1965 kraft, das sich in der Bundesrepublik breitmachte. Das Jahr und den folgenden Bundestagswahlen im Zeichen der so- 1958 brachte, bereits ein Jahr vor dem Godesberger Partei- zialliberalen Koalition, eine deutliche Artikulation des kul- tag der SPD, eine zweitägige Tagung der Katholischen Aka- turell linken Milieus, insbesondere unter den Literaten der demie in Bayern über „Christentum und demokratischen Republik, für die SPD noch nicht bzw. kaum erkennbar ist. Sozialismus“, zu der die SPD ihre intellektuellen Stars, Car- Erst 1965 waren Günter Grass, Rolf Hochhuth u. a. für die lo Schmid und , entsandte. Zunehmend gab es SPD präsent. Das mag 1961 auch der Preis dafür gewesen katholische Theologen, die sich an einer Attitüde gesell- sein, den Willy Brandt und die Seinen für eine Politik der schaftlicher Saturiertheit in den Unionsparteien störten. Verbürgerlichung und Amerikanisierung der SPD seit Ende Der „Kalte Krieg“ selbst forcierte weitere Entfremdungen, der fünfziger Jahre zahlen mussten. So schrieb Alfred An- paradoxerweise in zwei nahezu entgegengesetzte Richtun- dersch an Hans-Magnus Enzensberger im Blick auf Brandts gen: „In der Diskussion um die atomare Bewaffnung in der Kanzlerkandidatur vier Monate vor der Wahl, am 11. März Bundeswehr 1958 zeigten sich erste Delegitimationser- 1961: „Und ich werde auch nicht diesen Dummkopf, der scheinungen des offiziellen Katholizismus. Anders als noch etwa so sagenhaft Herrliches wie die norwegische Staats- 1951/52, als die Wiederbewaffnung im Katholizismus rela- bürgerschaft aufgegeben hat, um in Deutschland Politiker tiv ‚reibungslos’ über die Bühne ging …“6 Auf der anderen zu werden, als Alternative zu dem senilen Lumpen (letzte- Seite führte der wachsende sowjetische Druck auf West- rer Adenauer!, P.M.) sehen.“5 Berlin dazu, dass sich in der Stadt Kardinal Döpfner und der Ganz anders verhält es sich mit einem traditionel- Regierende Bürgermeister Willy Brandt deutlich aufeinan- len gesellschaftlichen Antipoden zum linken Schriftsteller- der zubewegten – gewissermaßen praktizierter Antitotali- milieu, der katholischen Kirche. Den sicherheitspolitischen tarismus zwischen katholischem Kirchenfürsten und agno- wie den gesellschaftspolitischen Grundansatz des ersten stischem7 Stadtoberhaupt mit formaler evangelischer Kir-

4Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957 bis 1963, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Stuttgart, Wiesbaden 1983, S. 250. 5Zitat nach Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 228. 6Karl Gabriel: Die Katholiken in den fünfziger Jahren: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung eines konfessionellen Milieus, in: Axel Schildt, Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre, Bonn 1993, S. 418−430, hier: S. 430. 7Peter Merseburger: Willy Brandt 1913−1992. Visionär und Realist, Stuttgart, München 2002, S. 422.

94 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Präsidium des außerordentlichen Parteitags der SPD in Bad Godesberg am 13. November 1959 zur Beratung eines neuen Grundsatz- programms (v.l.): , , Alfred Nau, , , Carlo Schmid, Erwin Schöttle und Martha Schanzenbach Bild: ullstein bild – dpa

chenbindung. hat die Gefahr der hier nur West-Berlins in eine sog. Freie Stadt und die Übergabe von knapp skizzierten Tendenzen für die politisch-kulturelle Grenzkontrollfunktionen an DDR-Einrichtungen abzielte, Hegemonie der Unionsparteien durchaus gesehen, aber glänzend bestätigt. In der Folge entwickelte sich innerhalb keine wirksamen Strategien gegen diesen Trend im Zeichen der SPD, was die Deutschlandpolitik anbelangte, eine seiner spätestens seit 1959 innenpolitisch schwächer wer- Auseinandersetzung zwischen zwei Zentren, dem Bonner denden Kanzlerschaft entwickeln können. und dem Berliner Zentrum, wobei, wie so oft, die inhaltli- chen, die strategischen und die personellen Fragen in einem Die zweite Berlin-Krise und die SPD engen Bezug zueinanderstanden. Kurz formuliert ging es um die Frage: Wer sollte die Partei in die Bundestagswahl Bei der dritten Bundestagswahl am 15. September 1957 1961 führen und wie konnte es gelingen, die SPD aus ihrer erreichte die SPD 31,8 Prozent und lag um nahezu 20 Pro- Zernierung in einem 30-Prozent-Turm zu befreien? Die all- zentpunkte gegenüber den Unionsparteien zurück, die mit gemeinen Stationen in der SPD-Parteigeschichte auf diesem 50,2 Prozent den größten Wahlsieg auf Gesamtstaatsebene Weg sind geläufig: der Stuttgarter Parteitag 1958, der den für eine Parteienformation in der deutschen Geschichte er- alten, noch in der Tradition der Weimarer Republik stehen- rangen. Deutschlandpolitisch, ordnungspolitisch und im den Funktionärsapparat entmachtete, das Godesberger politischen Management schien die Ollenhauer-SPD dele- Programm von 1959 und Herbert Wehners Bundestagsrede gitimiert. Knapp 14 Monate später, am 7. Dezember 1958, vom 30. Juni 1960, die das Bekenntnis der SPD zu den legte bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus die Essentials der Adenauer schen Außenpolitik zum Aus- SPD um volle acht Prozentpunkte auf 52,6 Prozent zu. Der druck zu bringen schien, zum atlantischen Bündnis, zur junge, damals ostentativ proamerikanische Regierende Bür- europäischen Integration und zur Wiederbewaffnung, und germeister Willy Brandt schien gerade in den Wochen nach die damit zugleich die Absage an alle Neutralitäts- und Dis- dem Chruschtschow-Ultimatum, das auf die Umwandlung engagement-Konzeptionen der Jahre zuvor enthielt. Aber

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 95 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

SPD-Landesvorsitzender Willy Brandt und Partei- vorsitzender Erich Ollenhauer 1959 Bild: ullstein bild

hinter dieser, nun förmlich festgeschrieben erscheinenden dass die sowjetische Seite einer Wiedervereinigung unter Trias verbarg sich naturgemäß ein sehr komplexes, SPD- demokratischen Vorzeichen keine Chance gab. Insofern internes Gegeneinander, bei dem die Berliner SPD bzw. ihr war dem Deutschlandplan die Grundlage entzogen, bevor rechter Flügel unter Willy Brandt eine zentrale Rolle spiel- er öffentlich gemacht wurde. Aber Wehner hielt gleichwohl te.8 Auf sie bewegte sich die Entwicklung jetzt zu. zunächst an ihm fest. Der Plan sah eine mitteleuropäische Die traditionelle Linie der sozialdemokratischen Disengagementzone mit reduzierten militärischen Poten- Deutschlandpolitik hatte noch die heftigen Angriffe auf den zialen, außerhalb von NATO und Warschauer Pakt, vor. Bundeskanzler und Bundesaußenminister von Brentano in der spektakulären Parlamentssitzung vom 23. auf den 24. Parallel dazu sollte es zur Errichtung von eigenen deut- Januar 1958 beherrscht. Dabei warfen , schen Institutionen kommen, zunächst eines Gesamt- Sozialdemokrat erst seit 1957, wie von der deutschen Rates, sodann eines Gesamtdeutschen Parla- FDP, Adenauer eine die Wiedervereinigung sabotierende mentarischen Rates. Sie hätten am Ende konstitutiv die Konfrontationspolitik gegenüber dem Osten vor. Und auf staatliche Wiedervereinigung Deutschlands in die Wege dieser Linie lagen ferner die Antiatom-Kampagne, der sich leiten sollen. Offenkundig waren in diesen Plan Neu- die SPD anschloss, und schließlich ihr am 18. März 1959 tralisierungs- und Konföderierungsüberlegungen aus vorgestellter Deutschlandplan, konzeptionell im Wesentli- den frühen fünfziger Jahren eingegangen. Damit aber chen ein Produkt von Herbert Wehner.9 Wenige Tage zuvor waren zugleich die Schwachstellen bezeichnet, die er hatten Carlo Schmid und Fritz Erler mit Nikita Chruscht- nicht nur aus Sicht der Bundesregierung, der hinter ihr schow in Moskau konferiert und dabei erfahren müssen, stehenden Kräfte wie auch der West-Berliner SPD ha-

8Vgl. Wolfgang Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948 bis 1963, Wiesbaden 2001. 9Abdruck in Archiv der Gegenwart, Nachdruck, Bd. 3, Oktober 1957 bis Mai 1962, St. Augustin 2000, S. 2388−2390.

96 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise ben musste: Disengagement konnte zugleich als Zone Hinnahme der Zweistaatlichkeit auf deutschem Boden – reduzierter Sicherheit verstanden werden, vor allem fast wie nach der Unionsparole von 1957 „keine Experi- ohne nukleare Sicherungen. Genau dies war für Brandt, mente“ und damit gegen alle Neutralisierungs- und Konfö- insbesondere wenn es um die Erhaltung der westlichen derierungsvorstellungen –, verbunden mit ersten Überle- Positionen in Berlin ging, gänzlich inakzeptabel. Für gungen, was das für die Gestaltung jener Phase heißen ihn waren diese Positionen und damit die Freiheit zu- konnte, in der die Teilung anhielt. Insofern wurde die spä- mindest in den Westsektoren nur dann gesichert, wenn tere Neue Ostpolitik nicht erst nach, sondern, wenn auch letztere in jeder Hinsicht Bestandteil des westlichen embryonal, bereits vor dem Mauerbau angedacht: „Von der Sanktuariums waren und blieben. Brandt stand in die- Tatsache der Verwaltungsorganisation im östlichen Teil ser Phase sehr viel mehr bei Adenauer als bei Herbert Deutschlands haben wir natürlich Kenntnis genommen, Wehner und es war Letzterer, der sich in der Folge be- beispielsweise bei den Vereinbarungen über den innerdeut- wegte – und mit ihm das Gros des Parteiapparates der schen Handel […]. Demgegenüber steht die Tatsache, daß SPD. wir die Spaltung Deutschlands ebenso wenig anerkennen können, wie die Rechtmäßigkeit des dem anderen Teil Im ganz weitgehenden Konsens mit der Bundesregierung Deutschlands aufgezwungenen Regimes. […]. Was immer lehnte Brandt im Hinblick auf die Genfer Konferenz des an uns liegt, sollte jedoch geschehen, ein Höchstmaß Jahres 1959 Interimslösungen, die die DDR-Organe auf- an wirtschaftlich-technischer Verflechtung, an geistig- werten würden, ebenso ab wie einseitige Zusagen der West- menschlichem Austausch zu gewährleisten. Bei einigerma- mächte, die ihren militärischen Status in Berlin gemindert ßen gutem Willen der Beteiligten ließen sich hier auch die hätten; das betraf eine Höchstzahl von 11.000 Soldaten institutionellen Formen finden …“, so Brandt im Interview ebenso wie die etwaige Verbriefung einer Denukleari- mit der Süddeutschen Zeitung vom 22./23. August 1959.10 sierung. Wie sehr Brandt damals, gut zwei Jahre vor der Schon in seiner Rede vor dem Landesparteitag der Berliner nächsten Bundestagswahl, bei Adenauer war – oder umge- SPD am 28. Dezember 1958, drei Wochen nach der Wahl kehrt –, machen zwei Vorgänge spektakulär deutlich: zum Abgeordnetenhaus, hatte Brandt im Grunde bündig Anfang 1959 ging Willy Brandt auf eine große, erklärt, wie die SPD nicht nur in Berlin, sondern in der mehrwöchige Reise durch ganz Nordamerika und über In- Konsequenz auch im Bundesgebiet mehrheitsfähig werden dien zurück nach Europa. Sie wurde von der Bundesregie- könne, nämlich indem sie mindestens im gleichen Maße wie rung finanziert und sollte als Sympathiewerbung für eine die seit 1949 in Bonn regierenden Unionsparteien Sicherheit feste westliche Berlinpolitik dienen. Und mit derselben verbürge und indem sie gesellschaftspolitisch zu integrieren Aufgabenstellung redete Brandt den westlichen Außenmi- verstehe, über das traditionell der SPD nahestehende Milieu nistern am Rande der Genfer Konferenz zweimal ins hinaus. „Uns haben auch solche Gruppen ihr Vertrauen aus- Gewissen, am 13. Juni 1959 auf Einladung des amerikani- gesprochen, die sich bisher anders entschieden hatten […]. schen Außenministers Christian Herter und dann noch- Das verständliche Sicherheitsverlangen unserer Menschen mals, am 30. Juli, nachdem ihn Bundesaußenminister von in dieser Zeit […] hat sich nicht in Berlin in einen CDU-Sog Brentano dringend nach Genf gebeten hatte – im Übrigen umgesetzt, sondern die Wähler dieser Stadt trauen in ihrer zugleich ein eindrucksvolles Beispiel für die Ambivalenzen eindeutigen Mehrheit uns zu, daß wir unserer Stadt dro- historischer Prozesse. Der Willy Brandt der späten fünfzi- henden Gefahren mindestens so gut gewachsen sind, wie ger Jahre war einerseits proamerikanisch und im atlanti- man es am Rhein mit einem gewissen Monopolanspruch schen Sinne unbedingt verlässlich. Das machte ihn zum sonst von sich behauptet.“11 wertvollen Bündnispartner der CDU/CSU-Bundesregie- rung. Dadurch aber, dass Brandt dieses Kapital mit Zu- Damit waren, fast drei Jahre vor der Bundestagswahl stimmung der Bundesregierung national und international 1961, bereits die konzeptionellen Ausgangsbedingungen einsetzte, leistete er, wie strategisch langfristig auch immer für eine spätere Kanzlerkandidatur Willy Brandts be- intendiert, tatsächlich seiner Rolle als späterer Kanzlerkan- stimmt. Die sowjetische Droh- und Ultimatenpolitik didat und Gegenspieler Adenauers Vorschub. Brandts seit Ende 1958 brachte somit im Ergebnis innenpolitisch Haltung fußte schon vor dem Mauerbau von 1961 auf zwei in der Bundesrepublik eine Rechtsverlagerung in der Kernüberlegungen. Die eine lautete: Keine Konzessionsbe- SPD und als deren personifizierten Ausdruck den Auf- reitschaft in der Berlin-Frage, die andere war die „de facto“- stieg Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten, eine Rolle,

10 Zitat nach Schmidt (wie Anm. 8), S. 293. 11 Willy Brandt: Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947 bis 1966, Berliner Ausgabe, Bd. 3, Bonn 2001, bearb. von Siegfried Heimann, Dokument 43, S. 247−254, hier S. 247.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 97 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Der amerikanische Präsident John F. Kennedy wird wäh- rend seines Staatsbesuches zu- sammen mit Willy Brandt, Bundeskanzler Konrad Aden- auer und dem Journalisten Robert Lochner in einem offe- nen Cabriolet durch Berlin gefahren; 26. Juni 1963. Bild: ullstein bild – Thomas & Thomas

die im Sommer 1960 festgezurrt und mit dem SPD- Bundesregierung düpierte und sich insgesamt in einer Parteitag im November 1960 sanktioniert wurde. Kon- furchtlosen Heldenrolle profilierte12 – all das hatte besten- zeptionell war er bzw. waren seine Berater mit Klaus falls einen Teilerfolg gebracht. Brandt selbst war frustriert, Schütz an erster Stelle bemüht, deutschlandpolitisch bei wie verstärkt vier Jahre später nach der Bundestagswahl der nun beginnenden Wahlauseinandersetzung zwi- 1965 und wie es seinem zur Melancholie neigenden Naturell schen Adenauer und Brandt möglichst keine Differen- entsprach. Aber in Wirklichkeit erwies sich die Bundestags- zen erkennen zu lassen. Genau dies machte Adenauer wahl 1961 für die SPD als wenn nicht hinreichender, so doch nervös, erkennbar ratlos und provozierte seine polemi- notwendiger Schritt auf einem langen Weg, der schließlich schen Ausfälle gegen Brandt im Wahlkampf. in die Schaffung der sozialliberalen Koalition 1969 münden sollte: Die Trias von innerer und äußerer Sicherheit, Verwestli- chung und Modernisierung und einem deutlich verjüngten Zunächst einmal wuchsen die Schnittmengen zwischen personellen Angebot brachte gleichwohl der SPD bei der der SPD und den allgemeinen kulturellen und gesell- Bundestagswahl vom 17. September 1961 „nur“ den Zuge- schaftlichen Entwicklungen. Man denke nur an die in winn gegenüber 1957 um 4,4 Prozent auf 36,2 Prozent- diesen Jahren um sich greifende Planungseuphorie. punkte oder, in absoluten Zahlen, um knapp zwei Millionen Zum Zweiten stellte der „rechte“ Flügel in der SPD um Stimmen von 9,5 Millionen auf 11,4 Millionen. Das war be- Willy Brandt, und Fritz Erler zugleich trächtlich, aber weniger als erwartet und insgesamt für die einen wesentlichen Faktor in der damals tobenden Aus- SPD-Führung enttäuschend. Die Amerikanisierung des einandersetzung zwischen Atlantikern und Gaullisten Wahlkampfes, die Orientierung an John F. Kennedy, die dar. Präsenz Brandts in seiner Stadt nach dem Mauerbau vom 13. August 1961, schließlich sein „die Luft reinigender“, vor- Die Gaullisten, jene Kräfte innerhalb der Unionsparteien wurfsvoll-offensiver Brief an Kennedy vom 15. August insbesondere um Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß, 1961, mit dem er den Westen der Passivität zieh, zugleich die die, frustriert über die Kennedy-Administration (s. u.), auf

12 Vgl. Brandt (wie Anm. 11), Dokument Nr. 68., S. 336−338.

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Bundeskanzler Konrad Adenauer besichtigt die Sektorengrenze zum Ostteil der Stadt, neun Tage nach Beginn des Mauerbaus, am 22. August 1961. Foto: Herbert Maschke Bild: ullstein bild das Frankreich Charles de Gaulles setzten, waren im gesam- Administration, eine Entwicklung, für die Unionsparteien, ten politischen Profil der Republik eben nur eine Minder- Bundeskanzler und Auswärtiges Amt eben bei Weitem heit. Die proamerikanische Mehrheitsachse zog sich von nicht so gut gerüstet waren wie eine SPD mit den – damali- Teilen der CDU – ab 1961 mit Außenminister Gerhard gen – Atlantikern Willy Brandt und Fritz Erler – oder einem Schröder an erster Stelle – über die FDP in die SPD hinein. Carlo Schmid, der 1958 bereits Polen besucht hatte.13 Auch das stärkte deren Rolle als potenzielle Regierungs- partei. Trotzdem aber kam der Bundeskanzler in seinen bei- Die zweite Berlin-Krise und die den letzten Regierungsjahren, in taktischer Not, zweimal Unionsparteien auf die SPD selbst als denkbaren Regierungspartner zu, nach der Bundestagswahl 1961, um die FDP, die sich einer Das Ende der „Ära Adenauer“ und die zweite Berlin-Krise, Verlängerung seiner Kanzlerschaft widersetzte, weichzu- mit dem Höhepunkt des Baues der Mauer am 13. August klopfen und – sehr viel intensiver – nach der Spiegelkrise des 1961, verlaufen nahezu synchron. Insofern war für die Uni- Herbstes 1962, um an die Stelle der FDP nun die SPD als onsparteien die Berlin-Krise zwar ein zentrales deutsch- Regierungspartner zu setzen. Beide Male war auf der sozi- landpolitisches Thema für sich, zum anderen aber auch aldemokratischen Seite Herbert Wehner der eigentliche wesentlicher Referenzpunkt für einen sich quälend hinzie- Partner. Das zeigt, welch weiten Weg der stellvertretende henden inneren Umbau, Gewichtsverlust und – im Blick auf SPD-Vorsitzende inzwischen gegangen war, vom gegen die 1969 – letztendlichen Wechsel in die Oppositionsrolle. Der Essentials der Bonner Deutschlandpolitik gerichteten „obere Wendepunkt“ war die Bundestagswahl 1957. Sie Deutschlandplan des Jahres 1959 bis zur Bereitschaft, über brachte nicht nur Konrad Adenauer den größten Wahl- alle Gräben hinweg nun mit Adenauer ins Regierungsbünd- triumph in der deutschen Parlaments- und Parteienge- nis zu gehen. Dahinter aber standen die Vorboten einer Ent- schichte, sondern, wie oft auf dem Höhepunkt, schon den spannungspolitik im Zeichen des Agierens der Kennedy- „Aufmarsch der Diadochen“.14 Ludwig Erhard wurde be-

13 Vgl. Merseburger (wie Anm. 7), S. 343 ff. sowie Hartmut Soell, Helmut Schmidt: 1918 bis 1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003, S. 280 ff. 14 Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 348.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 99 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise reits als Nachfolger in Stellung gebracht, hinter ihm blieben fünfziger Jahre zu lösen begann – Willy Brandt wurde dafür zunächst noch die in Deckung, die sich als die eigentlich zur Symbolfigur. geeigneten Nachfolger sahen, Franz Josef Strauß, Gerhard Schröder, u. a. Zunächst war freilich Das erste Halbjahr 1959 brachte der Bundesrepublik nicht erkennbar, dass die Unionshegemonie in West- innenpolitisch mit der sogenannten „Präsidentschafts- deutschland ins Wanken geraten könnte. Wie eine Bestäti- krise“, außenpolitisch mit der Vorbereitung und gung des Wahltriumphes von 1957 erschien der Ausgang der schließlich Durchführung der Genfer Konferenz der Landtagswahl vom 6. Juli 1958 in Nordrhein-Westfalen. Ihr Außenminister der vier Siegermächte16 die Gleichzeitig- Ergebnis schien allen Entwicklungen, die in Richtung auf keit von Abläufen, die in der Kombination entscheidend eine sozialliberale Kombination wiesen, demonstrativ einen zur Schwächung der Position des ersten Bundeskanz- Riegel vorzuschieben: 1956 war es zum Bruch zwischen lers beitrugen: Adenauer und der FDP im Bund gekommen. Gegen die Gefahr einer Marginalisierung ihrer Partei machten die Für die Nachfolge des ersten Bundespräsidenten Theodor „Düsseldorfer Jungtürken“ mobil und setzten mittels kon- Heuss hatte die SPD mit ihrem bildungsbürgerlichen Aus- struktiven Misstrauensvotums am 20. Februar 1956 den hängeschild Carlo Schmid, dem von Adenauer an sich Sozialdemokraten Fritz Steinhoff als Ministerpräsidenten geschätzten, wortmächtigen Partner bei der Moskaureise in den Sattel.15 Schnittstelle einer Kooperation zwischen des Jahres 1955,17 einen glaubwürdigen und attraktiven SPD und FDP im Bund wäre auch schon in diesen Jahren Kandidaten aufgeboten. Adenauer, der die Wirtschaftswun- vor allem die Deutschlandpolitik gewesen, auf Seiten der derlokomotive Ludwig Erhard fortloben wollte, bevor des- FDP insbesondere durch eine Generation forciert, die viel- sen Avancen auf das Palais Schaumburg zu übermächtig fach aus den unteren Offiziersrängen der Wehrmacht wurden, ließ am 24. Februar 1959 den Vater des Wirtschafts- stammte, sich nun „nationalliberal“ und damit antiklerikal wunders als Präsidentschaftskandidaten der Unionspartei- wie antikarolingisch geprägt sah und gegebenenfalls bereit en nominieren. Das aber ließ die CDU/CSU-Fraktion nicht war, mit der SPD eine Deutschlandpolitik des Auslotens zu. Sie sah in Erhard den Wahlsieger wie den Übergangs- etwaiger Chancen mit Ostberlin wie Moskau zu treiben. kandidaten von morgen – für viele eine denkbar attraktive Aber dafür war es realiter mehr als ein Jahrzehnt zu früh. Kombination. Darauf ließ sich am 7. April 1959 Adenauer Die Wählerinnen und Wähler beendeten das Düsseldorfer selbst durch einen von ihm formierten „Kurverein“ als Prä- Experiment nach mehr als zwei Jahren durch die Landtags- sidentschaftskandidat nominieren und zog diese Kandida- wahl vom 6. Juli 1958. Die CDU schnellte unmittelbar nach tur dann wieder mit Schreiben an den Fraktionsvorsitzen- dem Tod ihres hoch angesehenen ursprünglichen Spitzen- den wie an Ludwig Erhard selbst vom 19. kandidaten und früheren Ministerpräsidenten und 20. Mai 1959 zurück. Der Grund – gewiss Vorwand, um 9,2 Prozentpunkte auf 50,5 Prozent und damit auf die aber nicht nur − war „die sich gefährlich zuspitzende außen- absolute Mehrheit. Die Fundamente der CDU/CSU-He- politische Lage“, namentlich das Berlin-Ultimatum gemonie in Westdeutschland schienen fester als je zuvor, Chruschtschows und die Unübersichtlichkeit der Genfer schließlich war das Land an Rhein und Ruhr damals sehr Konferenz. Wenige Tage später starb John Foster Dulles.18 viel mehr als heute Kernland der (alten) Bundesrepublik. Schon am 15. April 1959 war er, schwer erkrankt, als US- Aber wer so kalkulierte, erlag auf Dauer einem Trugschluss Außenminister zurückgetreten. Damit hatte der Kanzler – nicht nur, weil sich eben (s. o.) die SPD aus ihren pro- unbestreitbar einen wesentlichen Partner verloren. Adenau- grammatischen wie personellen Verengungen der frühen er gelang es am Ende, die rebellierende Unionsfraktion wie-

15 Dieter Düding: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946−1989. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, S. 382 ff. 16 Die Konferenz sah bekanntlich die Beteiligung beider deutscher Staaten mit einem auch optisch minderen Status – an sogenannten „Katzentischen“. 17 Vgl. Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau, Freiburg, Basel, Wien 2005, S. 168. Carlo Schmid hatte in einer kritischen Situation der Moskauer Verhandlungen die richtigen Worte gefunden, als es um die Rückkehr der 10.000 Kriegsgefangenen ging. Adenauer übernahm bemerkenswerterweise den Wortlaut von Schmids Ausführungen am 12. September 1955 in seine Memoiren, Konrad Adenauer: Erinnerun- gen 1953–1955, Stuttgart 1966, S. 538f., und belobigte ausdrücklich den zur Kabinettssitzung am 15. September eingeladenen Oppositions- politiker (!) Carlo Schmid vor den Ministern. 18 Peter März: Zweimal Kanzlersturz. Adenauer 1963, Erhard 1966, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 39−69, hier S. 43. Zu den Abläufen des Weiteren vgl. Schwarz (wie Anm. 14), S. 502 ff., u. Daniel Koerfer: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 227 ff.

100 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Anwalt einer Großen Koalition bzw. einer Allparteienre- gierung zu werden und ihn damit in beachtlichem Maße ins Lager von Willy Brandt und Herbert Wehner führen.20

Seit Nikita Chruschtschows Moskauer Rede vom 10. November 1958 stand die westliche Deutschlandpolitik in der Defensive. Die Drohungen waren unüberhörbar: „Anscheinend ist der Zeitpunkt für die Signatarmächte des Potsdamer Abkommens gekommen, auf die Reste des Besatzungsregimes in Berlin zu verzichten und dadurch die Möglichkeit für die Herstellung normaler Zustände in der Hauptstadt der DDR zu schaffen […]. Die Sowjetunion wird, was sie betrifft, alle Funktionen, die noch bei den sowjetischen Organen belassen sind, der souveränen Deutschen Demokratischen Republik übertragen.“21 Von da an dominierte – bis zum Mauer- bau 1961 und darüber hinaus – im Bundeskanzleramt die Sorge, die Westmächte könnten sich solchen Forderungen gegenüber auf mehr oder weniger prag- matisch erscheinende Konzessionen einlassen, sich damit auf eine abschüssige Bahn begeben, West-Berlin immer mehr einer Kontrolle bzw. Reglementierung durch Sowjetunion und DDR überlassen, sodass es am Ende de facto stranguliert werde, und in der weiteren politisch-psychologischen Folge werde dann die westli- Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard im Deutschen Bun- che Position im Kalten Krieg unheilbar delegitimiert destag, November 1961 Bild: ullstein bild und geschwächt sein.

In den Folgejahren bis 1962 wurde insbesondere von Wa- der zu disziplinieren – „meine Herren, Sie können ja das shington und London eine unübersehbare Abfolge von konstruktive Misstrauensvotum einbringen“19 − und am 1. Planspielen ventiliert, wie einerseits der eigene Status in der Juli 1959 wurde Bundeslandwirtschaftsminister Heinrich geteilten Stadt gewahrt und andererseits möglichst schadlos Lübke zum zweiten Präsidenten der Bundesrepublik ge- den sowjetischen Forderungen entgegengekommen werden wählt. Aber schon bald sollte sich, neben Adenauers nie könne. Stillschweigend gingen dabei alle Beteiligten, in mehr wieder vollständig wettgemachtem Prestigeverlust, Berlin im Schöneberger Rathaus, in Bonn, in den westlichen zeigen, dass mit Lübke durchaus nicht jene unbedarfte Hauptstädten, zunehmend davon aus, dass es in der Sache Randfigur in die Villa Hammerschmidt eingezogen war, als kaum mehr um den Status der gesamten Stadt, sondern um die er bis heute so gerne kolportiert wird: Lübke stammte die Integrität ihrer drei Westsektoren, einschließlich der vom linken Zentrumsflügel aus den Jahren der Weimarer Zugangswege, als Teil der westlichen Welt ging. Das Dilem- Republik, aus Zeiten, in denen insbesondere in Preußen das ma der Adenauer schen Politik und zugleich ihrer beiden Koalieren zwischen katholischem Zentrum und Sozialde- weiteren wichtigsten westdeutschen Akteure, Bundes- mokratie gängig war. Sein Weltbild, geprägt durch seine außenminister von Brentano und Bundesverteidigungsmi- ursprüngliche Tätigkeit im Bereich der Agrargenossen- nister Franz Josef Strauß, bestand nun darin, dass sie einer- schaften, war subsidiär-solidarisch wie gemäßigt national seits allen derartigen Planspielen mit größtem Misstrauen und nicht ordoliberal. Für „nationale“ Sozialdemokraten begegneten, ihnen widerrieten und sie möglichst zu sabo- hatte er einiges übrig. Diese Gemengelage sollte ihn schließ- tieren versuchten, dass sie andererseits aber über den lich dazu bestimmen, im Zeichen des Mauerbaus zum Zeitpunkt des Baus der Mauer hinweg keine Alternative

19 Vgl. März (wie Anm. 18), S. 43. Zu Dulles Ausscheiden Detlef Felken: Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953−1959, Bonn, Berlin 1993, S. 505. 20 Vgl. Rudolf Morsey: Heinrich Lübke, Eine politische Biografie, Paderborn, München, Wien, Zürich 1996, S. 318 ff. 21 Zit. Rolf Steininger: Berlin-Krise und Mauerbau 1958 bis 1963, 4München 2009, S. 25.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 101 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Moskau: Festbankett im Kreml zu Ehren der deutschen Delegation. Adenauer (Bildmitte links) und Nikolai Bulganin (Bildmitte rechts) stoßen auf das Wohl beider Völker an; ganz links Nikita Chruschtschow, ganz rechts , 12. September 1955. Bild: ullstein bild –AP bzw. jedenfalls keine öffentlichkeitswirksam plausible Denn das Dilemma von Adenauer, wie auch von Alternative zu formulieren vermochten: Brentano und Strauß, lag eben darin, dass sie zwar Zunächst einmal war dieses konzeptionelle Dilem- etwaige Konzessionen in der Berlin-Frage mehr oder ma auch Resultat des Grunddilemmas der Adenauer schen weniger apodiktisch ablehnten, zugleich aber ihren Deutschlandpolitik nach dem Inkrafttreten der Pariser Ver- amerikanischen und britischen Gesprächspartnern träge von 1954 insgesamt. Die im westdeutschen Publikum keine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben geweckten Erwartungen, ein starker und geschlossener vermochten, wie denn politisch und gegebenenfalls Westen unter Einschluss der Bundesrepublik werde die auch militärisch verfahren werden solle, wenn West- Sowjetunion zum Nachgeben in der deutschen Frage ver- Berlin tatsächlich durch Rote Armee und bzw. oder anlassen, fanden keine Bestätigung. Das war schon bei DDR-Volksarmee stranguliert werde. Adenauer wie Adenauers Moskaureise vom September 1955 deutlich, frei- Strauß wollten keineswegs, dass die Bundeswehr mit ein lich zunächst durch den Propagandahype um die 10.000 oder zwei Divisionen am Freikämpfen entlang der freigelassenen Kriegsgefangenen überdeckt worden. Und Autobahn Helmstedt-Berlin teilnahm und einen so, wie es jedenfalls nach außen, deutschlandpolitisch keine Atomkrieg um Berlin, der ja zum Atomkrieg um operative Perspektive zu geben schien, so setzte sich diese Deutschland werden musste, lehnten sie ebenso ab.22 Anmutung von Gestaltungsverweigerung auf der konkre- ten Ebene der Berlin-Politik fort, zumindest in der ameri- Matthias Uhls einschlägige Untersuchung weist eindeutig kanischen und britischen Wahrnehmung. nach, dass die östliche Seite eine solche potenzielle militäri-

22 Vgl. Steininger (wie Anm. 21), S. 98 ff., S. 213 ff., Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 380 ff. Zu den militärischen Planungen der sowjetischen Seite Matthias Uhl: Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlin- Krise 1958 bis 1962, München 2008.

102 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise sche Auseinandersetzung von vorneherein umfassend und als Partner gegen eine angelsächsische Hegemonie im west- unter Einsatz des nuklearen Instrumentariums geführt hät- lichen Bündnis, fokussiert in seiner Abwehr eines britischen te. Zugleich spricht, von den grundlegenden moralischen Beitrittes zur EWG. Ein unter französischer Führung ste- wie politischen Fragen ganz abgesehen, sehr viel dafür, dass hendes Kontinentaleuropa sollte sich im globalen Maßstab die Bundeswehr, hastig aufgebaut, auf einem vielfach unbe- behaupten können. Zugleich stand er, in der Tradition des friedigenden Ausbildungsstand, mit wenig Reserven und französischen Staatsinterventionismus, einem ordnungspo- mit eher zweitklassigem Material aus Beständen der westli- litisch liberalen Denken ablehnend gegenüber – und damit chen Alliierten ausgerüstet, zu diesem Zeitpunkt militärisch wurde der Spaltpilz in die innerdeutsche Politik hineinge- gesehen wohl eher ein Schwachpunkt gewesen wäre. „Erst tragen. Für Adenauer, aber auch für Franz Josef Strauß, am Ende der sechziger Jahre hatte die Bundeswehr eine lagen hier keine allzu großen Probleme. Beide waren selbst bedeutend höhere Kampfkraft entwickelt als noch zehn nie liberale Ordnungspolitiker, beide sahen Großbritannien Jahre zuvor.“23 Jenseits militärischer Projektionen ging es gleichfalls kritisch und waren insgesamt einem Primat der freilich primär darum, dass in den Augen der Amerikaner Politik über die Ökonomie verhaftet. Adenauer selbst und Briten die westdeutsche Seite viel verlangte, selbst aber scheint unter dem Druck der zweiten Berlin-Krise wenig konkret nichts anbot: Die Bundeswehr sollte, jedenfalls realisiert zu haben, dass die der Präsidentschaft Charles de nach Bonner Argumentation, zumindest anfänglich nicht Gaulles vorausgegangene vierte französische Republik in mitkämpfen, da es sich beim Konflikt um Berlin bzw. West- mancherlei Hinsicht für die Bundesrepublik der adäquate- Berlin um eine Angelegenheit der Siegermächte, nicht der re Partner gewesen war. Mit der Vierten Republik hatte NATO handele; und wenn gefragt wurde, wie denn alter- Adenauer die ersten Integrationsschritte unternehmen kön- nativ strategisch Druck auf die sowjetische Seite ausgeübt nen, von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und werden solle, verwiesen Adenauer und Strauß auf die Mög- Stahl bis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft des lichkeit einer maritimen Blockade der UdSSR, d. h. fernab Jahres 1957, und die Vierte Republik hatte der Bundesrepu- vom westdeutschen Territorium. Mit solchen Ideen war in blik wie auch Italien das Angebot eines gemeinsamen Kern- Washington und London wenig Eindruck zu machen. Um- waffenprojekts gemacht. De Gaulle hingegen bereitete die- gekehrt begegnete Adenauer der britischen Politik, die sen Ambitionen sofort nach seinem Amtsantritt ein Ende; ohnehin einen Atomkrieg wegen Berlin bzw. West-Berlin auf der kontinentaleuropäischen Ebene lockte er die Bun- für absurd hielt, nahezu über seine gesamte Regierungszeit desrepublik, zugleich strebte er in der NATO ein Dreier- mit großem Misstrauen. Aber auch das Vertrauen des Bun- direktorium mit den USA und Großbritannien an. In dieser deskanzlers in die amerikanische Führung in Washington Liga sollten die Bundesrepublik wie auch Italien dauerhaft ließ im Laufe des Jahres 1959 deutlich nach; entscheidende nicht mitspielen können. Der Spaltpilz, den die Präferenz Zäsur dabei war das Ausscheiden von Außenminister John für Charles de Gaulle in die deutsche Innenpolitik hinein- Foster Dulles. Schon vor der Installierung der Kennedy- trug, war ein doppelter, ein sicherheitspolitischer wie ein Administration Anfang 1961 erfuhr also das Verhältnis zwi- ordnungs- bzw. wirtschaftspolitischer: Für die Atlantiker in schen den Regierenden in Washington und denen in Bonn den Unionsparteien wie auch für FDP und SPD blieben eine zunehmende Verschlechterung. Die Partner hatten ein- auch während der zweiten Berlin-Krise US-Amerikaner ander immer weniger zu bieten, die Bonner erschienen in und Briten die Verbündeten, auf die es ankam. Die zweite Washington steril und unbeweglich, die Amerikaner er- Konfliktlinie, insbesondere für Ludwig Erhard von vorran- schienen in Bonn unberechenbar, wankelmütig, ja labil. giger Bedeutung, kam im Gegensatz zwischen einem sich Gegen eine Entfremdung von den Angelsachsen nach außen abschottenden, an erster Stelle in der Agrarpo- glaubte Adenauer über ein neues Trumpfass zu verfügen, litik staatsinterventionistischen kontinentaleuropäischen das Frankreich Charles de Gaulles. Der Auftakt ihrer bei- Wirtschaftsraum und dem Leitbild von global offenen der schwieriger Freundschaft war ihr erstes Zusammentref- Märkten zum Ausdruck. Im Grunde ist diese Konfliktlinie, fen am 14. September 1958 am lothringischen Wohnort des bezogen auf eine optimale außenhandelspolitische Positio- neuen französischen Staatsoberhauptes, in Colombey-les- nierung des Industriestaates Bundesrepublik, bis in unsere deux-Églises. Vermutlich hat Adenauer die Ambivalenz sei- Gegenwart von Bedeutung. Adenauer vermochte Ludwig ner Beziehung zu de Gaulle nie wirklich wahrnehmen wol- Erhard außenhandelspolitisch nie wirklich an die Kette zu len.24 De Gaulle warb über die Jahre um die Bundesrepublik legen. Dazu waren die bei dieser Fragestellung hinter Er-

23 Sönke Neitzel: Republik und Armee: Ein gespaltenes Verhältnis, in, Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach sechzig Jahren, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 353−376, hier S. 359. 24 Siehe grundsätzlich Ulrich Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949 bis 1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, München 2001, S. 1201 ff.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 103 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Bundeskanzler Konrad Ade- nauer wird bei seiner Ankunft in Colombey-les-Deux-Eglises von Charles de Gaulle im Park seines Landsitzes be- grüßt, 14. September 1958. Bild: ullstein bild

hard stehenden Kräfte viel zu stark: Einmal ging es um die nämlich einen radikalen eigenen Schwenk in der Deutsch- ideologischen Kronjuwelen des Erfolgsmodells Soziale land- und Ostpolitik. Die Rede ist vom sogenannten Glob- Marktwirtschaft, zum anderen um die Interessen der ex- ke-Plan, den der Kanzler Anfang 1959 von seinem Amts- portstarken deutschen Industrie und zum Dritten um die chef erarbeiten ließ und der dann vielfach variiert wurde. größere kulturelle Modernität, die insbesondere von den Die Grundidee war gar nicht so sehr verschieden von den USA auszugehen schien. So beantwortete Erhard im Inter- Ausgangsüberlegungen der späteren Ostpolitik Willy view mit der Süddeutschen Zeitung vom 15. Februar 1963 Brandts und Egon Bahrs: Es ging darum, die machtpoliti- die Frage, ob er seine „klare Linie zugunsten der Atlanti- sche Statik im Zentrum Europas weitestgehend zu erhalten, schen Gemeinschaft und gegen eine europäische Sonder- sodass die Sowjetunion weder Gesichts- noch Gewichtsver- bündelei“ aufrechterhalten werde, „mit einem glatten Ja“.25 lust fürchten müsse. Im Gegenzug sollte sie so etwas wie Adenauer hatte noch einen zweiten Joker, um ein Unterlie- eine Österreich- bzw. im ursprünglichen Sinne Saarland- gen in der Berlin-Krise an der Seite der Amerikaner und Lösung (Autonomiestatut) für die DDR konzedieren, vor Briten, so wie er es nun einmal kommen sah, zu verhindern, allem ein relativ hohes Maß an Freiheit und Rechtsstatus.26

25 Zitat nach Archiv der Gegenwart, Deutschland 1949 bis 1969, Bd. 4, Mai 1962 bis Oktober 1966, Nachdruck St. Augustin 2000, S. 3257. Ferner grundsätzlich Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958 bis 1969, München 2000. 26 Vgl. Schwarz (wie Anm.14), S. 480 ff.

104 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß während seiner Rede in der Bundes- tagsdebatte über die Aus- rüstung der Bundeswehr mit Kernwaffenträgern, 25. März 1958 Bild: ullstein bild – dpa

Adenauer hat diese Überlegungen vertraulich gegenüber men prognostiziert, für die SPD 35,4 Prozent, für die FDP der sowjetischen Seite, in Person von Botschafter Smirnow, 8,8 Prozent .27 Das hätte bei einer Einbuße von nur rund übermittelt, aber kein positives Echo erhalten. Sie blieben einem Prozentpunkt − sofern sich diese marginale Größe ein Denkmodell, das nie materialisiert wurde; für die west- überhaupt prognostizieren ließ − gegenüber der Bundes- deutsche Seite wäre es, auf den offenen Markt gelangt, ge- tagswahl 1957 den Fortbestand der absoluten Mehrheit an fährlich kühn gewesen, auch psychologisch ohne jede Vor- Mandaten für die Unionsparteien bedeutet. Die SPD wäre bereitung im westdeutschen Publikum; der UdSSR hätte es, etwa auf den Stand des tatsächlichen Wahlergebnisses ge- nach deren Interessenlage, im Saldo wohl wenig gebracht. kommen, eigentlicher Verlierer wäre die FDP gewesen. Und In der letzten Sitzung des CDU-Bundesvorstandes Adenauer selbst hätte, gegen alle Modernisierungsbeschwö- vor der Bundestagswahl 1961, am 11. Juli 1961, referierte rer, als 85-jähriger Patriarch noch einmal triumphieren kön- der Kanzler und Parteivorsitzende Konrad Adenauer per- nen. Aber auch ohne Mauerbau und Verlust der absoluten sönlich die jüngsten Umfragedaten von Emnid. Für die Mehrheit zeichnete sich das Ende seiner Ära jetzt schon ab; Unionsparteien wurden im Ergebnis 49,3 Prozent der Stim- bereits im Vorfeld der Wahl wurde daran gearbeitet, zumin-

27 Konrad Adenauer: „… um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957 bis 1961, bearb. v. Günter Buch- stab, Sitzung vom 11. Juli 1961, Düsseldorf 1994, S. 939.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 105 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise dest hinter den Kulissen. Der FDP-Vorsitzende Erich Men- Kennedy-Administration habe während des Wahlkampfes de berichtet in seinen Erinnerungen: „Bereits am 10. Juni falsch gespielt und Willy Brandt und die SPD unterstützt. des gleichen Jahres […] war ich im Hause des Kaufmanns In der ersten CDU-Vorstandssitzung nach dem 13. August Helmut Horten in Düsseldorf zusammen mit Willi Weyer erklärte der als Gast anwesende Franz Josef Strauß am 25. und Wolfgang Döring (führende FDP-,,Jungtürken“ von August 1961: „In diesem Zusammenhang muss ich jedoch 1956 gegen Adenauer, P.M.) mit dem CSU-Vorsitzenden einmal folgendes sagen: Ich habe das ungute Gefühl, dass Franz Josef Strauß und seinem Generalsekretär Friedrich zwischen der Umgebung von Herrn Brandt und der Zimmermann übereingekommen, die Nachfolgefrage für Umgebung von Herrn Kennedy irgendein Faden läuft Konrad Adenauer im Herbst zusammen mit der CSU zu (Zuruf: Sehr richtig!), dass da eine Verbindung besteht – lösen.28 man kann sich die Namen ungefähr vorstellen – und dass Adenauers unglückliches Agieren unmittelbar diese ganze Johnson-Geschichte einschließlich der 1.500 nach dem Bau der Mauer ist oft beschrieben worden. Vieles Mann als Wahlhilfe für Herrn Brandt in irgendeiner Form kam binnen weniger Tage zusammen: Die Parallelität der eingefädelt war.“31 Berliner Ereignisse mit Adenauers Regensburger Wahl- kampfrede am 14. August und ihren Verunglimpfungen Das Fiasko des Mauerbaus wurde gleichwohl keines- Willy Brandts als „Herbert Frahm“; ein verunglückter, hilf- wegs zum großen Fiasko der Unionsparteien bei der und ratlos wirkender Fernsehauftritt des Kanzlers mit Au- Bundestagswahl: Die CDU/CSU erreichte 45,3 Prozent, ßenminister von Brentano, die mangelnde Unterstützung der eigentliche Gewinner des Geschehens in Berlin war, der Verantwortlichen in Bonn und Berlin durch die abge- insbesondere gegenüber den Prognosen von vor der taucht erscheinenden Führungen der westlichen Alliierten, Wahl, eben nicht die SPD, sondern die FDP. Bei den eine sehr defensive Gesprächsführung Adenauers gegen- Unionsverlusten handelte es sich somit weitestgehend über dem sowjetischen Botschafter am 16. August: „Es han- um „bürgerliche“ Wähler, die eine prononcierte Wieder- dele sich seiner Ansicht nach hierbei um eine lästige und vereinigungspolitik auf der Linie der nationalliberalen unangenehme Sache, die über das Nötige hinaus hochge- Führung der FDP unter wünschten, wie spielt worden sei …“,29 und dies zeitgleich, als umgekehrt realistisch eine derartige Option zu Beginn der sechzi- Brandts offensiver Brief in Washington eintraf, der westli- ger Jahre auch immer sein mochte, Wähler zugleich che Passivität beklagte. Und medial orchestrierte die damals aber, denen die SPD vor allem gesellschafts- und Brandt ohnehin weit näher als Adenauer stehende Bild-Zei- wirtschaftspolitisch immer noch sehr fernstand. tung den Gesamteindruck von Passivität und Defensive an Die CDU/ CSU behielt das Heft noch in der Hand. Rhein, Themse und Potomac.30 Für das Kanzleramt ver- schärfend kam schließlich die von den Amerikanern zu ver- Adenauer selbst lief noch einmal zu großer Form auf: Die antwortende Nichtteilnahme Adenauers beim Besuch von Wahlniederlage – immerhin hatten die Unionsparteien ge- Vizepräsident Johnson am 19. August 1961 in West-Berlin genüber den für sie schlimmsten Umfragen unmittelbar hinzu, der dort eine zusätzliche US-Kampfgruppe von nach dem Mauerbau wieder an die zehn Prozentpunkte auf- 1.500 Mann begrüßte. Kennedy hatte öffentlichkeitswirk- holen können – instrumentalisierte er für sich, um seine sam u. a. auf Brandt, aber auch auf die Vorstellungen der Kanzlerschaft nochmals zu verlängern. Aus den vertrauli- amerikanischen Beobachter in West-Berlin, reagiert. Eine chen Schwüren einer Anti-Adenauer-Fronde unter Ein- Million Berliner war auf den Beinen, umjubelte die GIs und schluss der FDP wurde nichts. „Was den Kanzler – wahr- bot in Wahlkampfzeiten eine perfekte Show für die Kame- scheinlich – die absolute Mehrheit gekostet hatte, nämlich ras. Andererseits argumentierte Adenauer in diesen August- der Bau der Mauer durch Berlin, verbesserte nun seine tagen wie später auch, er habe die Stimmung in Berlin nicht Position: Denn angesichts des in diesen Wochen vielfach zusätzlich und gefährlich aufheizen wollen. Zum anderen beschworenen nationalen Notstandes hatte naturgemäß je- aber gewann nun unter den Gaullisten in den Unions- ner Akteur gute Argumente auf seiner Seite, der für sich parteien die Auffassung zunehmende Verbreitung, die außenpolitische Erfahrungen und Kontinuität geltend ma-

28 Erich Mende: Die neue Freiheit 1945 bis 1961, München 1994, S. 477. 29 Zitat nach Schwarz (wie Anm. 14), S. 664. 30 Vgl. Hans-Peter Schwarz: Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008, S. 348 ff. Springer formulierte die berühmten Schlagzeilen in der Aus- gabe der Bild-Zeitung vom 16. August 1961 selbst mit: „Der Westen tut NICHTS! […] und Adenauer schimpft auf Willy Brandt.“ Springer kam nach einer heftigen Auseinandersetzung darüber in Fernschreiben am folgenden Tag von Berlin ins Bonner Kanzleramt, führte dort mit Adenauer ein frostig-konfrontatives Gespräch und verließ den Raum gruß- und formlos mit seiner Begleitung. Beide, Springer und Adenauer, hatten einander über viele Monate nichts mehr zu sagen. 31 Adenauer (wie Anm. 27), Sitzung vom 25. August 1961, S. 1017.

106 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

West-Berlin: Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt während der Ansprache vor dem Rathaus Schöneberg zusammen mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson anlässlich dessen Besuch nach dem Beginn des Mauerbaus, 20. August 1961 Foto: Kurt Hamann Bild: ullstein bild – dpa chen konnte.“32 Erich Mendes Schwüre, die ihn bei der mit Erfolg Druck auf die FDP auszuüben. Er konferierte am Bundestagswahl so weit nach oben getragen hatten, mit den 25. September 1961 über zwei Stunden mit dem SPD-Vor- Unionsparteien, aber ohne Adenauer als Kanzler regieren sitzenden Erich Ollenhauer sowie mit Fritz Erler und zu wollen, wurden nun sehr bald brüchig: Der Mauerbau Herbert Wehner. Zur Großen Koalition bzw. zur Allpar- hatte zwar im deutschen Publikum Tendenzen verstärkt, teienregierung kam es allerdings im Schatten des Mauer- eine Art Allparteienkabinett der nationalen Einheit wie in baues nicht. Adenauer wollte zunächst einmal nur, und dies Kriegszeiten zu installieren, gewissermaßen in Analogie mit Erfolg, die FDP weichkochen, die schließlich in das zum Burgfrieden des 4. August 1914, bei Ausbruch des Ers- Bündnis mit ihm einwilligte. Der Kanzler musste nur zwei- ten Weltkrieges. Die SPD, Willy Brandt wie Herbert Weh- erlei Zugeständnisse machen, einmal – schriftlich gegenüber ner, war durchaus für ein solches Szenario zu haben, hätte dem noch amtierenden Fraktionsvorsitzenden Heinrich es für sie doch erstmals die Perspektive einer Regierungs- Krone –, dass er rechtzeitig vor der Bundestagswahl 1965 beteiligung auf Gesamtstaatsebene seit dem Ende der Re- zurücktreten werde, was immer das heißen sollte, und zum gierung Hermann Müller im Frühjahr 1930 gebracht. Und anderen, dass er ein ihn persönlich schmerzendes und seine Bundespräsident Heinrich Lübke, im Herzen Pro-Berliner, Stellung weiter schwächendes Bauernopfer brachte. An die war ohnehin für eine solche Kombination und zog entspre- Stelle des den Traditionslinien seiner Außenpolitik naheste- chend hinter den Kulissen die Fäden. Schon jetzt waren die henden „gaullistischen“ Außenministers Heinrich von führenden Sozialdemokraten bereit, den Preis einer Verlän- Brentano trat der im evangelischen Milieu verankerte, gerung der Kanzlerschaft Adenauers zu leisten. Gewiss: nationalliberal orientierte bisherige Innenminister Gerhard Der Kanzler selbst sondierte nur in solche Richtungen, um Schröder. Und um Schröder entzündete sich ein letzter

32 Vgl. März (wie Anm.18), S. 45.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 107 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard und Noch-Bundesinnenminister Gerhard Schröder in der CDU/CSU-Fraktion, 24. Oktober 1961 Bild: ullstein bild – dpa

Konflikt: Er galt als Pragmatiker, in der Berlin-Krise zu „Ausläufer“ der Krise und einer Frontbegradigung gewillt, ja, so wurde vom Berliner Schlussfolgerungen CDU-Vorsitzenden und Koalitionspartner Willy Brandts Franz Amrehn kolportiert, sogar bereit, die Dreisektoren- Der Bau der Mauer durch Berlin am 13. August 1961 been- halbstadt ganz aufzugeben. Daraufhin weigerte sich der dete weder die zweite Berlin-Krise, noch gab das Ergebnis Bundespräsident, die Bestallungsurkunde für Gerhard der fünf Wochen darauf durchgeführten vierten Bundes- Schröder zu unterzeichnen, und musste mit sanfter Gewalt tagswahl gültige und abschließende Antworten auf die daran erinnert werden, dass er nach dem Grundgesetz eben Fragen nach der Justierung in der bundesdeutschen Innen- kein materielles Prüfungsrecht besaß, das ein solches Veto politik. Hier wie da blieb somit vieles offen und wurde um zuließ.33 In Wirklichkeit war es Schröder, Realpolitiker, der vieles weiter gekämpft. Die Sondierungen über eine Große er in der Außenpolitik gerne sein wollte, darum zu tun ge- Koalition im Bund hatten zu neuen, kulturell wie soziolo- wesen, die Bundesrepublik nicht durch ein Übermaß an gisch überraschenden, parteiübergreifenden Beziehungs- Dogmatik in der Berlin-Frage um reale Gestaltungsmög- mustern geführt. Darunter an erster Stelle das sich für eini- lichkeiten in der Wiedervereinigungsfrage selbst zu bringen. ge Zeit zur Freundschaft entwickelnde Verhältnis zwischen

33 Vgl. Torsten Oppelland: Gerhard Schröder (1910−1989). Politik zwischen Staat, Partei und Konfession, Düsseldorf 2002, S. 431 ff.

108 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise dem Exanarchisten und Exkommunisten mit Moskauer- über die Nichtweitergabe von Kernwaffen an Drittstaaten fahrung Herbert Wehner und dem aus der katholischen und auch die Zustimmung zur Einsetzung von drei ge- Welt des Alten Reiches stammenden Freiherrn von und zu mischten Kommissionen aus Vertretern der Bundesrepu- Guttenberg, einem gaullistischen Hardliner des Kanzlers blik und der DDR.“34 par excellence. Die hier geknüpften Verbindungen sollten Aus der unmittelbaren Perspektive des Kanzler- weitertragen, am Ende in die Bildung der Großen Koalition amtes schienen damit zentrale Essentials der bisherigen von Ende 1966 und damit schließlich in eine grundlegend westlichen Berlin-Politik preisgegeben. Für die vorzeitige gewandelte Regierungstektonik münden. Der Mauerbau als Veröffentlichung und damit Sabotierung des Papiers mach- zumindest Imagination eines nationalen Notstandes hat ten die Amerikaner den deutschen Botschafter in Washing- dabei gewiss forcierend gewirkt. Auf der außenpolitischen ton, Wilhelm Grewe, verantwortlich, einen alten außenpo- Ebene war deutlich, dass mit ihm sowohl die Berlin-Krise litischen Wegbegleiter Adenauers. Grewe musste schließ- als auch der Konflikt zwischen Gaullisten und Atlantikern lich als Bauernopfer gehen. In Wirklichkeit gingen Wider- keineswegs ausgestanden war. Der deutsch-französische stand und Indiskretion in Bonn wohl von den Gaullisten Vertrag vom 22. Januar 1963 schien den konzeptionellen Adenauer und Heinrich von Brentano aus, Letzterer jetzt Sieg der Gaullisten festzuschreiben und eben dieser Tri- CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Sie sahen umph mutierte kurz darauf zum Pyrrhussieg, durch die vor- sich von den Amerikanern verraten und düpiert. Das geschaltete proatlantische Präambel, ohne die es im Bundes- Ausmaß der seinerzeitigen Entfremdung zwischen den tag am 16. Mai 1963 keine Mehrheit für seine Ratifizierung Führungen in Washington und Bonn enthüllen die soeben gegeben hätte. erschienenen Akten zur deutschen Außenpolitik für das Jahr 1962. Botschafter Grewe hatte in seinem Bericht über Die ursprünglichen Ambitionen der Ostberliner wie die Übergabe der neuen amerikanischen Vorschläge durch auch der Moskauer Führung, nicht nur den Zugang den Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium nach West-Berlin aus ihrem Machtbereich – nahezu – Foy Kohler unmissverständlich mitgeteilt, welchen Wert vollständig zu unterbinden, sondern ihre Hand auf die die amerikanische Seite auf absolute Diskretion in Bonn Westsektoren der Stadt selbst zu legen, hatten sich mit legte und dass der deutschen Seite ganze zwei (!) Tage zu dem Mauerbau keineswegs erledigt. Walter Ulbricht einer Stellungnahme gewährt wurden.35 Nicht verwunder- wollte weiter einen Friedensvertrag zwischen DDR und lich war somit, dass der Bruch der Geheimhaltung in UdSSR, der Ostberlin aufwertete, den Westen der deut- Washington, die ultimative Befristung in Bonn provozie- schen Hauptstadt in den Schatten der DDR geraten rend wirken musste. Inhaltlich wie prozedural übte der und vielleicht sogar die Mauer durch die Stadt überflüs- deutsche Botschafter schon am 10. April harte Kritik an den sig werden ließ – wenn die Westsektoren nämlich zum amerikanischen Vorstellungen – sie lag ganz auf der Linie Mauseloch würden. Und weiterhin gab es in Washing- der Adenauer schen Politik: „Die […] Dokumente leiten ton Tendenzen, solchen Ambitionen irgendwie pragma- nach meiner Ansicht nicht nur prozedural, sondern auch in tisch entgegenzukommen. „Am 12. April 1962 wurde der Substanz einen neuen Abschnitt der Berlin-Krise ein. Adenauer ein neues amerikanisches Berlin-Papier vor- Alle Begleitumstände […] deuten darauf hin, dass die ame- gelegt (das die westlichen Botschafter in Washington rikanische Regierung entschlossen ist, […] über mögliche schon am 9. April erhalten hatten, s. u. P.M.), das den Einwendungen der Verbündeten rasch hinwegzugehen.“ Es Vorstellungen Chruschtschows weit entgegenkam. werde „ein erheblicher Schritt in Richtung auf die Gleich- stellung der beiden deutschen Regierungen getan“ und „das Nach dem, was seither darüber bekannt wurde, enthielt es: Konzept der europäischen Sicherheit ohne Verbindung mit den Plan einer internationalen Zugangsbehörde für die der deutschen Wiedervereinigung taucht wieder auf.“36 Landwege und die Luftkorridore unter Einbeziehung der Letztere Formulierung deutete zugleich bereits auf zentra- DDR; den Vorschlag eines Austauschs von Nichtangriffs- le konzeptionelle Grundlagen der späteren Entspannungs- erklärungen zwischen den Mitgliedsstaaten der NATO und politik zwischen den Weltmächten wie in der Mitte Europas des Warschauer Pakts mit der Versicherung, die bestehen- hin – die freilich, zweifellos ein Erfolg der deutschen Politik, den Grenzen und Demarkationslinien nicht zu verletzen; das Überleben des freien West-Berlins auch künftig nicht in die Offerte eines amerikanisch-sowjetischen Abkommens Frage stellen sollte. Zunächst aber machte Adenauer in

34 Schwarz (wie Anm. 4), S. 245, vgl. auch Steininger (wie Anm. 19), S. 326 ff.. 35 Vgl. Botschafter Grewe an das Auswärtige Amt, 9. April 1962, 23.40 Uhr, Dok. Nr. 154, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) 1962, Bd. II, München 2010, S. 737–743, hier S. 738f. 36 Ebd. Botschafter Grewe an das Auswärtige Amt, 10. April 1962, 23.45 Uhr, Dok. Nr. 157, S. 750.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 109 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise

Bundesaußenminister Heinrich von Brentano am Schreibtisch Foto: Karoly Forgacs, Bild: ullstein bild

Bonn gegen die Vorstellungen der Kennedy-Administra- Situation in seiner Korrespondenz mit dem amerikanischen tion mobil. Er versammelte in heller Aufregung die Frak- Außenminister Dean Rusk bemüht war bzw. bemüht sein tionsvorsitzenden in Brentanos Dienstzimmer, um sie emo- wollte, zwang ihn der Bundeskanzler förmlich am 19. April tionalisiert auf seine Linie gegen die Administration in 1962 von seinem Urlaubsort Cadenabbia aus, den er inzwi- Washington zu bringen. Dagegen formierte sich eine um schen zum Osterurlaub aufgesucht hatte, die amerikanische Beruhigung bemühte Allianz aus dem seit einem halben Jahr Seite mit einem hochemotionalen Protest zu konfrontieren. amtierenden „atlantischen“ Außenminister Schröder, sei- So musste der zweifellos widerstrebende Schröder schrei- nem Staatssekretär Karl Carstens und den weiteren beiden ben: „Sehr geehrter Mr. Rusk, im Nachgang zu meinem Fraktionsvorsitzenden aus Regierungslager wie Oppositi- Schreiben vom 16.4.1962 hat mich der Herr Bundeskanzler on, Erich Mende und Erich Ollenhauer. Auch diese Szene gebeten, Ihnen folgendes mitzuteilen: Nach zehnjähriger zeigt, wie sehr innen- und außenpolitisch in diesen letzten einträchtiger Zusammenarbeit zwischen den Regierungen Kanzlerjahren Adenauers parteiübergreifend die Fronten in der Vereinigten Staaten und der deutschen Bundesregierung Bonn in Bewegung gerieten. Während nun Bundesaußen- empfinde er den Vorwurf eines ‚ernsten Vertrauensbruches’, minister Schröder in der Folge um eine Beruhigung der der zudem noch bei völlig ungeklärtem Tatbestand erhoben

110 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise wird, als sehr verletzend. Er weise ihn entschieden zu- nachgiebigen Tendenzen in Washington und London rück.“37 Text wie dahinter stehende Frontlinien bringen wäre alle Tapferkeit der Berliner vergebens gewesen, nicht nur die Konfrontation zwischen Gaullisten und At- wenn die Bundesregierung nicht die Sache des freien lantikern auf der Bonner Bühne zum Ausdruck. Sie zeigen Berlins zu ihrer eigenen gemacht hätte. Hier aber war auch, wie hartnäckig, vielfach enervierend, unflexibel an- Adenauer die schlechthin entscheidende Figur. Er hatte mutend und dabei doch mit Erfolg Adenauer zumindest den sich zwar von Anfang an gegen den Vorwurf der Status quo in Berlin und Deutschland selbst noch in dieser Berlinfeindlichkeit zu wehren und ist diesen weder Spätphase seiner Regierungszeit verteidigte. Gewiss, er zeitlebens noch nach seinem Tode richtig losgeworden. „nervte“ die Amerikaner. Aber obwohl er nicht mehr die Deshalb wurde seine letzte, große Leistung nie richtig Autorität der späten fünfziger Jahre besaß, als John Foster erkannt. In Wirklichkeit war er der Retter des freien Dulles sein Partner auf der anderen Seite des Atlantiks Berlin.“38 gewesen war, gingen sie doch nicht einfach über ihn hinweg – wohl auch, weil sie ihn nicht vollständig an die Seite Ob überpointiert oder nicht: An Adenauers Abwehrkampf Charles de Gaulles treiben wollten. gegen die Erosion des Berlin-Status und vor allem gegen die Die zweite Berlin-Krise versandete schließlich Gefährdung der Integrität West-Berlins seit Ende der fünf- doch vor Ort, weil die Mauer unbestreitbar die DDR und ziger Jahre kann kein Zweifel bestehen. Zu fragen ist allen- damit auch für das SED-Regime die Situation in der deut- falls, ob es ihm auch emotional um die Stadt Berlin ging oder schen Hauptstadt stabilisierte, weil zu den darüber hinaus- mit ihr vor allem um den für die Statik des Kalten Krieges weisenden Ambitionen der Sowjetunion wie der DDR die geostrategisch und psychologisch entscheidenden Punkt. Westmächte zwar, wie gezeigt, vieles erwogen, am Ende Wenn Adenauer aber wie Brandt darin übereinstimmten, aber, vor allem dank der hartnäckig ablehnenden bzw. sabo- dass ein Nachgeben an der Spree, mehr oder weniger in tierenden Bonner Politik, doch wenig anboten und weil die Appeasement-Manier, zur ausschlaggebenden Niederlage Sowjetunion selbst spätestens mit dem Aufflammen der im Kalten Krieg führen werde, dann analysierten sie beide Kuba-Krise vom Herbst 1962 ihre Prioritäten änderte. wohl zutreffend. Gleichwohl gilt zugleich der Eingangs- Westdeutschland erfuhr durch den Bau der Mauer keine befund, dass die Berlinkonstellation die alte Bundesrepu- Traumatisierung wie der westliche Teil der deutschen blik eben auch dem Druck ihrer Gegner wie Partner auslie- Hauptstadt. Die einzige im Bundesgebiet wirklich spürba- ferte und damit für ihre Entwicklung auf der europäischen re Änderung war das Versiegen des Zuwandererstroms aus Bühne zum Problem wurde, wenn nicht zur Hypothek. der DDR, der nun durch mehr Gastarbeiter, wie man da- mals sagte, aus anderen Ländern kompensiert werden muss- Die Berlinkonstellation hat aber zugleich die alte Bundes- te, um das Wirtschaftswunder vorderhand auf Volldampf republik an die ungelöste nationale Frage geradezu gekettet. laufen zu lassen. Aber zugleich kann es keinen Zweifel Sie war damit wesentliche Voraussetzung dafür, dass es, bei daran geben, dass die zweite Berlin-Krise mit dem optischen allen Versuchungen in diese Richtung, gerade in den siebzi- wie sensitiven Höhepunkt des Mauerbaus die Statik der ger und achtziger Jahren, einen Nationalstaat Westdeutsch- alten Bundesrepublik deutlich veränderte und wichtige land schließlich doch nie gab. II Voraussetzungen für die Neujustierungen schuf, die ab Mitte der sechziger Jahre Gestalt gewannen. Dabei ergibt sich eine Paradoxie: Ohne den Mauerbau und ohne die dar- auf gegründete, vor allem mittelbare Stärkung der sozialde- mokratischen Position wäre Willy Brandt, der Berliner Held der Augusttage, möglicherweise nie zur nationalen Figur in Deutschland geworden.

Aber das eine fügte sich eben zum anderen. Hans-Peter Schwarz resümiert die zweite Berlin-Krise: „Ohne die Entschlossenheit der Berliner Bevölkerung und ohne das Geschick des Senats hätte sich die westliche Berlin- Position gewiss nicht halten lassen. Doch angesichts der

37 Ebd., Bundeskanzler Adenauer, z.Z. Cadenabbia, an Bundesminister Schröder, 18. April 1962, 8.25 Uhr, Dok. Nr. 178, S. 818f., hier S. 819, Fußnote 8. 38 Vgl. Schwarz (wie Anm. 4), S. 254.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 111 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Von Benigna Schönhagen

Blick in die Dauerausstellung des Museums Alle Abbildungen: Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

112 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Als das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben am 1. September 1985 gleich- zeitig mit und in der wiederhergestellten Augsburger Synagoge eröffnet wurde, gab ihm der Museumsgründer und Erste Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, Julius Spokojny, folgenden Wunsch auf den Weg: „Museum und Synagoge stehen für die gesamte Bevölkerung des In- und Auslandes offen, wobei wir uns besonders wünschen, daß sich die Jugend aller Völker in aufgeschlossenem Verstehen für Kultur und Religion der Juden interessieren möge. Diesem Ziel ist dieses Museum gewidmet.“1 Seitdem haben zahllose Schulklassen, Jugend- und Seniorengruppen, Familien und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland das Museum besucht.

Allein seit seiner Neueröffnung im November 2006 Zusammenleben zwischen Minderheit und Mehrheit bis waren es bis heute 100.000 Besucher, mehr als die Hälf- zur NS-Zeit im Zentrum stehen? Wie geht man mit den te davon Schülerinnen und Schüler. Zahlreiche hebrä- fehlenden Objekten um? Kann, soll und darf e i n e ische, englische, russische und andere fremdsprachige Geschichte erzählt werden? Oder müssen nicht gerade Einträge in den Besucherbüchern belegen die Anzie- Widersprüche und Brüche, die Vielfalt jüdischen Lebens hungskraft des Museums weit über die Region hinaus. und die Erfahrung der Fremdheit, Differenz allgemein Damit hat sich der Wunsch des Gründers erfüllt – viel- thematisiert werden? leicht sogar in einem höheren Maß, als er es damals zu hoffen wagte und in mancher Hinsicht sicher auch Die Lösung, die in Augsburg entwickelt wurde, hängt mit anders, als er es sich damals vorstellen konnte. mehreren Besonderheiten zusammen, die dieses Museum kennzeichnen. Dazu gehören neben seinem, vor dem Hin- Im Oktober 2010 konnte das Museum, das das älteste tergrund der verspäteten deutschen Erinnerungskultur be- selbstständige jüdische Museum der Bundesrepublik ist, in merkenswert „frühen“ Gründungsdatum, vor allem der Anwesenheit illustrer Gäste aus nah und fern, unter ihnen Ort, an dem das Museum untergebracht ist – die Augsbur- die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, ger Synagoge. Dr. h.c. Charlotte Knobloch, und der Bayerische Kultus- minister Dr. Ludwig Spaenle, sein 25-jähriges Bestehen Nicht wenige zählen den prächtigen Kuppelbau vom feiern. Anfang des 20. Jahrhunderts zu den schönsten Syn- agogen Europas. Gleichzeitig mit dem Museumsjubilä- Ein Ort der Erinnerung an „Verlorenes“ um jährte sich der Jahrestag der Wiedereinweihung der Augsburger Synagoge zum 25. Mal. Wie alle Museen ist auch das Jüdische Kulturmuseum Augsburg ein Ort der Erinnerung, in dem Zeugnisse der Der weiträumige, um einen zentralen Kultraum angeordne- Vergangenheit gesammelt, bewahrt, erforscht und vermit- te Gebäudekomplex im Herzen der Stadt ist ein herausra- telt werden. Aber als jüdisches Museum erinnert es an eine gendes Baudenkmal Augsburgs und ein einzigartiges Do- gewaltsam zerstörte und ausgelöschte Kultur – und an den kument jüdischer Geschichte in Deutschland. Er wurde Umgang damit nach 1945. Wie dies zu erzählen und zu zei- zwischen 1914 und 1917 nach den Plänen von Fritz gen ist, darüber wird seit vielen Jahren in allen jüdischen Landauer (1883-1968) und Heinrich Lömpel (1877-1951) Museen gerungen, dazu gibt es viele und kontroverse Mei- als Gemeindezentrum der damaligen jüdischen Gemeinde nungen. errichtet und mitten im Ersten Weltkrieg eingeweiht. Seit- dem gilt der Bau, der innovativen Eisenbeton mit histori- Soll die Religion, die Vernichtung der jüdischen Ge- sierenden byzantinischen Formen zu einer harmonischen meinschaft in der Shoa oder das zeitweise gelungene Einheit verbindet, als Prototyp einer modernen Synagoge

1Julius Spokojny: Geleitwort, in: M.B. Ansbacher (Red.): Zeugnisse jüdischer Geschichte und Kultur, hg. v. Jüdischen Kulturmuseum Augsburg, Augsburg 1985, S. 9-11.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 113 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Die Synagoge in der Halderstraße mit den zwei Gemeindehäusern im Vordergrund und dem überkuppelten Kultraum im Hintergrund

und überzeugende Antwort auf die Frage nach einer jüdi- sie als Mosaik an zentraler Stelle im Pflaster der Eingangs- schen Architektur.2 Gesamtanlage wie architektonische halle einlegen ließ. Details spiegeln die aufgeschlossene Einstellung einer libe- ralen Kultusgemeinde wider, die sich bis zum Machtantritt Eine weitere Besonderheit des Museumsgebäudes be- der Nationalsozialisten als integrierter Teil der Stadtbevöl- steht darin, dass die Augsburger Synagoge eine der kerung sah und als solcher auch lebte. ganz wenigen Großstadtsynagogen in Deutschland und Nach dem Vorbild des salomonischen Tempels mit die einzige in Bayern ist, die während der NS-Zeit nicht Höfen und Außenmauern angelegt, demonstriert der Bau zerstört wurde.4 Zwar wurde auch sie am frühen Mor- die Überzeugung, in Augsburg zu Hause zu sein und blei- gen des 10. November 1938 von Nationalsozialisten in ben zu können.3 Für ihr Selbstverständnis als „Deutsche Brand gesetzt, doch wegen einer gegenüberliegenden Staatsbürger jüdischen Glaubens“ hat die Erbauergemeinde Tankstelle ließ der NS-Gauleiter das Feuer wieder im Vorhof ein sprechendes Zeichen gesetzt: die Kombina- löschen, um ein Übergreifen der Flammen auf die tion von Zirbelnuss, dem Wahrzeichen Augsburgs, und umliegenden Häuser von Nichtjuden zu verhindern. Davidstern, dem bekanntesten Symbol des Judentums, die

2Ulrich Knufinke: Auf der Suche nach einer jüdischen Architektur – die Synagoge in Augsburg und ihre Zeit, in: Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte, hg. v. Benigna Schönhagen und Tatjana Neef zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedereinweihung der Augsburger Synagoge und der Eröffnung des Jüdischen Kulturmuseums, Augsburg 2010, S. 33-38. 3Sabine Offe: Synagogen als Gedächtnisorte, in: Die Augsburger Synagoge – ein Bauwerk und seine Geschichte (wie Anm. 2), S. 121-125. 4Benigna Schönhagen: Augsburg. Die Synagoge. Einladung zu einem Rundgang (Orte jüdischer Geschichte und Kultur), Haigerloch 2006; Cornelia Berger-Dittscheid: Augsburg, in: Mehr als Steine …, Synagogen-Gedenkband Bayern, Band 1, erarbeitet von Barbara Eberhardt u.a., hg. v. Wolfgang Kraus, Berndt Hamm und Meier Schwarz, Lindenberg im Allgäu 2007, S. 397-413.

114 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

einer seit Mitte der neunziger Jahre sprunghaft gewachse- nen Gemeinde – und gleichzeitig als lebendiges und viel besuchtes Museum, als Gedächtnisort und als Haus der Begegnung, des Lernens und der Verständigung. Deshalb ist die Augsburger Synagoge nicht nur eine Chiffre für die Ver- nichtung, sondern auch eine Chiffre für Aufbrüche und hoffnungsvolle Anfänge. Viele Spuren dieser Geschichte sind dem Bau eingeschrieben. Sie für den Besucher lesbar zu machen, ist eine der Aufgaben des Museums.

Museum und Synagoge

Das Nebeneinander von Gemeinde und Museum ist außer- gewöhnlich. Nirgendwo sonst in Deutschland findet sich Zirbelnuss und Davidstern im Eingangsbereich der Synagoge diese Koexistenz. Seit Mitte der achtziger Jahre führte ein oft konflikthafter, offener und kritischer Umgang mit der NS-Vergangenheit zur „Wiederentdeckung“ der jüdischen Als ehemaliges „Judenhaus“, in dem die zur Deportation Geschichte und zum Erhalt der verwüsteten oder nach 1945 bestimmten schwäbischen Juden auf den Abtransport war- zweckentfremdeten Synagogen sowie anderer architektoni- ten mussten, ist die Synagoge zudem ein authentischer Ort scher Zeugnisse der vernichteten jüdischen Gemeinden. der Verfolgungsgeschichte – und gleichzeitig ein Gedächt- Mehrere demolierte oder zu profanem Nutzen umgebaute nisort für die vernichtete jüdische Gemeinde der Stadt. Synagogen wurden seitdem wieder hergestellt; in Baye- Aber die Augsburger Synagoge ist auch ein Ort der risch-Schwaben sind es mit Augsburg, Binswangen, Ichen- Hoffnung. Denn die Erbauer sahen bei der Einweihung hausen und Hainsfarth vier von ehemals mehr als dreizehn 1917 hoffnungsvoll in die Zukunft. Und Hoffnung muss jüdischen Gotteshäusern. auch die Überlebenden der Shoa, trotz allem Unvorstellba- ren, was sie erlebt hatten, motiviert haben, als sie nach dem Doch nur in Augsburg gibt es heute wieder jüdisches Zweiten Weltkrieg wagten, in der verwüsteten Synagoge Leben, nur hier wird die Synagoge nicht nur museal eine neue Gemeinde zu gründen. Allerdings mussten sie genutzt, sondern ist wieder ein Haus des Gebets, des danach beschämende 40 Jahre lang warten, bis der Bau – sei- Lernens und der Versammlung, der Ort einer sich neu ner synagogalen Ausstattung beraubt, zweckentfremdet findenden und entwickelnden jüdischen Kultur. Die und im Innern verwüstet – in alter Pracht wieder hergestellt Zuwanderung von Juden aus den GUS-Ländern hat die war. Auch Julius Spokojny, Erster Vorsitzender der Kultus- Kultusgemeinde auf mehr als 1.600 Mitglieder anwach- gemeinde von 1963 bis 1996, ließ sich von Hoffnung trei- sen lassen – eine Größe, die sie vor der Shoa nie besaß. ben, als er vor 25 Jahren für die Synagogenrenovierung kämpfte und die Gründung des Museums betrieb. Es war Die Koexistenz von Museum und Gemeinde bietet eine die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben von ungewöhnliche Chance für eine direkte Begegnung zwi- Juden und Nichtjuden möglich sei. schen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, sie hilft einander kennenzulernen und zu verständigen. Und Hoffnung in eine bessere Zukunft war es auch, die die überwiegende Mehrheit der heutigen Kultusgemein- Gründung des Museums und seineTr äger de in den letzten 15 Jahren dazu brachte, ihre Heimat in den Ländern der GUS-Staaten zu verlassen und in Als der aus Polen stammende und im KZ Buchenwald Deutschland eine neue zu suchen. Diese Zuwanderer befreite Julius Spokojny das Museum gründete und 1985 im machen die Synagoge heute wieder zum Bethaus einer Westtrakt der wiederhergestellten Synagoge einrichten ließ, aktiven Gemeinde. Seitdem ist sie wieder der Ort einer, war die Situation der Gemeinde eine vollkommen andere als immer lebhafter zu vernehmenden, jüdischen Gegen- heute. Damals zählte sie etwa 250, überwiegend ältere Mit- wart und Auseinandersetzung um deren Zukunft. glieder. Die Befürchtung schien realistisch, dass in ein, zwei Generationen keine Juden mehr in der Stadt leben würden. Der großzügige, aus mehreren Höfen, zwei Gemeindehäu- Deshalb wurde das Museum gegründet und diesem die Gro- sern, dem großen Kultraum und der kleinen Werktagssyna- ße Synagoge als Glanzstück und anschaulichstes Objekt zur goge bestehende Baukomplex dient als Gemeindezentrum Verfügung gestellt. Es sollte das Wissen um jüdische Kultur

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 115 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Stiftung (2011)

Stiftungsvorstand: Senator i.R. Helmut Hartmann

Stiftungsrat: Dr. Georg Haindl, Vorsitzender Dr. Walter Eschle, Schatzmeister Jürgen Reichert, Bezirkstagspräsident Dr. Kurt Gribl, Oberbürgermeister von Augsburg Alexander Mazo, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg Senator i.R. Julius Spokojny Silvio Wyszengrad

Wiss. Beirat: und Geschichte weitergeben, auch wenn einmal keine jüdi- Prof. Dr. Rolf Kießling, Vorsitzender sche Gemeinschaft mehr in der Stadt leben würde. Prof. Dr. Michael Brenner, LMU München Zur Eröffnung schrieb der Museumsgründer im Dr. Josef Kirmeier, MPZ München Geleitwort des Katalogs: „Als ich 1945 aus dem Konzen- Dr. Otto Lohr, Landesstelle zur Betreuung nichtstaatli- trationslager befreit wurde und in Augsburg eine Heimat cher Museen in München fand, habe ich mir zwei Aufgaben vorgenommen, nämlich Bernhard Purin, Jüdisches Museum München die Restaurierung der Synagoge voranzutreiben und dafür zu sorgen, daß die geschändeten Tora-Rollen neu geschrie- ben werden. [… ] Nachdem die Zahl unserer Gemeinde- ständen, die in ihrer religiösen Funktion erklärt wurden. mitglieder im Dritten Reich dezimiert wurde, wir also die Damit knüpfte das Museum an jüdische Museen vor 1933 Synagoge nicht mehr füllen können, soll dieser prächtige Bau an, in denen es vor allem darum gegangen war, den jüdischen zwar noch zu Gottesdiensten an Feiertagen benutzt werden, Beitrag an der allgemeinen Kultur aufzuzeigen. Auch die ansonsten aber haben wir ihn als Hauptexponat in ein Mu- Sonderausstellungen der folgenden Jahre – z.B. „Marc Cha- seum eingebracht, das unseren Mitmenschen die Kultur der gall“, „Artur Markowitz“, „Heinrich Heine und das Juden- jüdischen Religion näher bringen soll.“5 tum“, „Die Jad – Thorazeiger“, „Mesusa“, „Jüdische Texti- Auch wenn das Museum in der Synagoge zu Hause lien“ – präsentierten Beiträge aus dem Bereich der jüdischen ist, ist es dennoch kein Gemeindemuseum, sondern wird Kunst. von einer unabhängigen Stiftung getragen, in deren Stif- tungsrat und Wissenschaftlichem Beirat Juden und Nicht- Die jüdische Vergangenheit Augsburgs, die Ambivalen- juden zusammenarbeiten. Finanziell wird es durch Zu- zen deutsch-jüdischer Existenz in den ersten Jahrzehn- schüsse des Freistaats Bayern, der Stadt Augsburg und des ten des 20. Jahrhunderts und die lokalen Ereignisse Bezirks Schwaben sowie seit einigen Jahren auch mit groß- während der NS-Zeit waren kein Thema. Noch war zügiger Unterstützung eines Mäzens unterhalten. undiskutiert, wie jüdische Geschichte nach der Shoa im Land der Täter auszustellen sei. Alte Dauerausstellung Einen ersten Schritt in Richtung einer lokal- bzw. regional- Die erste Dauerausstellung, die der ehemalige Direktor der historischen Verankerung jüdischer Kultur machte 1995 die israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, Mordechai Baruch Ausstellung „Ein fast normales Leben. Erinnerungen an die Ansbacher, mit Leihgaben des Bayerischen Nationalmuse- jüdischen Gemeinden Schwabens“, deren Konzept Gernot ums München und anderer Sammlungen in einem Zwi- Römer, langjähriger Vorsitzender des Stiftungsrats und Au- schenstockwerk vor der westlichen Frauenempore einge- tor zahlreicher Bücher über die schwäbischen Juden, erar- richtet hatte, bestand aus jüdischen Kult- und Ritualgegen- beitete.6 Doch sollte es noch einmal zehn Jahre dauern, bis

5Spokojny (wie Anm. 1), S .9-11. 6Ein fast normales Leben. Erinnerungen an die jüdischen Gemeinden Schwabens. Ausstellung der Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augs- burg-Schwaben nach einem Konzept von Gernot Römer, Augsburg 1995.

116 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben das Museum völlig neu konzipiert und umgestaltet wurde. Dass die Hälfte der damit verbundenen Kosten von Privat- personen getragen wurde, zeigt das große bürgerschaftliche Interesse und Engagement für das Museum und seine Aufgabe.

Neue Museumskonzeption

Im November 2006 wurde das Museum nach einjähriger Umbauzeit mit einer neuen Dauerausstellung wieder eröff- net. Die Konzeption erarbeitete die Autorin dieses Beitrags, die 2001 zur Leiterin des Museums bestellt worden war. Wie schon bei der Konzeption des „Museums zur Geschichte von Christen und Juden“ im oberschwäbischen Laupheim7 verfolgt sie einen integrativen Ansatz deutsch-jüdischer Geschichte und erzählt die Geschichte der Juden in Augs- burg und Schwaben als einen integralen Teil der lokalen bzw. regionalen Geschichte.8

Die neue Dauerausstellung, die von der Augsburger Gegenseitige „Verflechtung und Austausch“ belegen die von Innenarchitektin Margarete Kolb in Zusammenarbeit christlichen Silberschmieden hergestellten Tora-Schilder. mit dem Augsburger Grafikbüro „KW-Neun“ mit gro- ßer Sensibilität für das unter Denkmalschutz stehende Gebäude gestaltet wurde, dokumentiert die reiche Kul- liche jüdische Bräuche ahistorisch erklärt, sondern als tur und wechselvolle Geschichte der Juden in Augsburg eine religiöse Praxis von Menschen beschrieben, die sich und Schwaben seit dem Mittelalter bis in die unmittel- verändert, weil sie dem Wandel von Zeit und Raum bare Gegenwart. Sie präsentiert diese Geschichte als unterliegt. eine Geschichte der Migration, als wiederholte Abfolge von Niederlassung und Austreibung, von Suchen und Deshalb wird sie im chronologischen Strang dort einge- Finden, aber auch als Verlust von Heimat. klinkt, wo ein Leitobjekt einen Bezug dazu herstellt. So wird die Bat Mizwa, also das Fest der religiösen Mündigkeit Das lenkt den Blick auf das Mit-, Neben- und Gegeneinan- für Mädchen, dort vorgestellt, wo es um die staatsrechtliche der von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit, auf Gleichstellung und deren innerjüdische Folgen geht, als gegenseitige Beeinflussung, auf „Verflechtung und Aus- deren Resultat Mädchen in den liberalen Gemeinden dieses tausch“, wie eine Vitrine überschrieben ist, die eben dieses Fest erstmals feiern durften. am Beispiel von Tora-Schildern zeigt. Diese Ritualgegen- Als Raum für die Dauerausstellung steht die ehe- stände aus Silber durften nämlich bis zur Aufhebung des malige Damengarderobe vor der Frauenempore zur Verfü- Zunftzwangs nur von Christen hergestellt werden. So flos- gung. Das sind knapp 200 Quadratmeter, die sich zudem sen automatisch zeitgenössische ästhetische Vorstellungen noch großenteils auf Nebenräume und kleine Nischen ver- der christlichen Mehrheitsgesellschaft in die Gestalt jüdi- teilen, was zu strenger thematischer Reduktion und klarer scher Kultgeräte ein. Strukturierung zwang. Deshalb wurden drei Leitlinien ent- wickelt, die – immer wieder aufeinander bezogen – durch Um zu vermeiden, dass Juden ausschließlich über die die Ausstellung führen: eine historische, eine religiös-kul- Religion definiert werden, da diese Zuschreibung nur turelle und die Geschichte des Hauses. noch für den kleineren Teil der jüdischen Gemeinschaft zutrifft, wird jüdische Religion nicht wie in vielen an- Die historische Leitlinie erzählt die Geschichte der deren Museen durch eine der eigentlichen Ausstellung Augsburger Juden vom Mittelalter bis in das 21. Jahr- vorgeschaltete Einführung in scheinbar unveränder- hundert.

7Benigna Schönhagen: Das Museum zur Geschichte von Christen und Juden im Schloss Großlaupheim. Konzeption und Entstehungsge- schichte, in: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Bd. 3, Augsburg 2007, S. 269-282. 8Benigna Schönhagen: Grundzüge der Konzeption – ein Leitfaden, Augsburg 2004 (Typoskript).

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 117 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Die Abteilungen und medialen Angebote im Überblick

Die mittelalterliche Gemeinde, die erstmals 1212 erwähnt wird und 1438/40 mit der Ausweisung endet, stand anfangs unter dem Schutz des Kaisers. Darauf verweist ihr Siegel, das im Abdruck zu sehen ist. Später geht der Judenschutz an den Bischof und dann an den Magistrat über. Die ver- gleichsweise positive Stellung, die Juden in dieser Zeit in der Reichsstadt genossen, spiegelt sich in einer voll ausgebilde- ten Infrastruktur der Gemeinde. Im Museum dokumentiert diese wirkungsvoll das Bruchstück eines Grabsteins von 1332, der vom zerstörten jüdischen Friedhof stammt. Der Aufstieg der zweiten Gemeinde, die sich 1803 mit der Zulassung weniger Bankhäuser zu formieren be- ginnt, aber erst Mitte des Jahrhunderts genehmigt wird, wird exemplarisch an den erfolgreichen Familien Landauer und Binswanger nachgezeichnet, in deren Firmen- und Fa- miliengeschichten Fotos und Alltagsgegenstände Einblick geben. Die Erinnerungstafel eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitglieds leitet über zu neuen Äuße- rungen von Judenfeindschaft und dem Ende der Gemeinde in der NS-Zeit, das durch sechs „letzte Lebenszeichen“ von Verfolgten und eine Hörstation mit Tagebuchnotizen zum Novemberpogrom eindrucksvoll aus der Sicht der Betroffe- nen verdeutlicht wird. Die Situation der Emigranten schil- dern neben Erinnerungsobjekten an die verwehrte Heimat die Rundbriefe des letzten Rabbiners, die dieser von 1941 Blick in die Abteilung „Mittelalter“ mit Grabsteinfragment und bis 1949 im Exil „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“ der Vitrine „Das Band der jüdischen Tradition/Tod und Trauer“. schrieb. Da sich die meisten der Emigranten auch im Exil Bild unten: Die „Gemeinde heute“ in Fotoporträts noch lange als Augsburger fühlten, sind diese Briefe den mühsamen Anfängen der Nachkriegsgemeinde „in Trüm- mern und Scherben“ gegenübergestellt. Zum Schluss ver- Landjuden in Schwaben, die in der Zeit entstanden, als mittelt eine Wand mit Porträtfotos einen Eindruck von der in Augsburg keine Juden zugelassen waren, und die bis Vielfalt und den unterschiedlichen Lebensgeschichten der zur Wiederzulassung in den Städten eine eigene Kultur heutigen Gemeindemitglieder, die alle als Migranten – sei es etablierten und pflegten. als DPs oder als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ – in Augsburg eine neue Heimat suchen. Unter den historischen Bedingungen der Region mit ihrer territorialen Zerstückelung kam es zur Ausbildung vieler Die historische Linie der Augsburger Geschichte wird und mitgliederstarker Gemeinden, die im 18. Jahrhundert konterkariert und ergänzt durch die Geschichte der bis zu 40 Prozent, ja zeitweise über 50 Prozent der jeweili-

118 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Museumsrundgang in Bildern: Blick in die Abteilungen „Mittelalter“, „Jüdisches Schwaben“, „Integration durch Leistung?“, „Feste im Jahreslauf“, „Hausgeschichte“, „Das Band der jüdischen Tradition/Das jüdische Haus“

gen Ortsbewohner stellten. Um eine Karte des heutigen Vitrinen in die Chronologie eingeklinkt. Mit „Tora und Bayerisch-Schwaben angeordnete Tora-Schilder stehen für Weisung“ thematisiert er die religiösen Grundlagen und diese Landgemeinden und weisen mit ihren unterschiedli- präsentiert mit den „Festen des Lebenskreises“ von der Be- chen Bedeutungsebenen auf deren Aufbau und die Situation schneidung bis zur Beerdigung religiöse Praxis, wie sie sich ihrer Mitglieder als oft selbstbewusst agierende „Schutzju- in Schwaben entwickelt hat. Drehwürfel verweisen auf die den“ hin. Terrakottafiguren aus Zizenhausen zeigen deren parallelen Feste im Islam und im Christentum. Ein Installa- wirtschaftliches Tätigkeitsfeld und bieten gleichzeitig tionstisch in der Mitte des Raums mit Vitrinen, Schubladen, Gelegenheit, antisemitische Stereotype zu dekonstruieren. Hörstationen und eingelassenen PCs ermöglicht die wech- Der Strang der religiös-kulturellen Tradition ist als selnde Präsentation der jüdischen Hauptfeste zum jeweili- „Band der jüdischen Tradition“ mit farblich abgesetzten gen Datum des jüdischen Kalenders.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 119 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Bild oben: Hier wird das Landjudentum thematisiert. Bild unten links: Vor der Vitrine „Das jüdische Haus“ Bild unten rechts: Eröffnung der Ausstellung zu „Sukkot“ am Installationstisch in der Dauerausstellung

Die Synagoge als Hauptexponat ist mit dem Kultraum der Jüdische Geschichte als Migrations- Mittelpunkt einer Gemeinde, die zur Zeit der Erbauung geschichte eine religiös-liberale Gemeinde war. Ihre Architektur, die in einer eigenen Abteilung („Hausgeschichte“) erläutert wird, Am Eingang der Dauerausstellung empfängt den Besucher vermittelt mit der Raumanordnung, die dem Reformritus eine Projektion, die es ihm ermöglicht, assoziativ die jüdi- folgt, einen Eindruck von der Vielfalt des Judentums und sche Geschichte Augsburgs und Schwabens in die allgemei- der Existenz unterschiedlicher religiöser Richtungen. ne Geschichte der Juden einzuordnen. Begriffspaare wer- Am Ende eines jeden Rundgangs steht die Besichtigung den auf ein sich endlos drehendes Motiv aus der Synagogen- des beeindruckenden Kultraums von der Frauenempore kuppel projiziert: Diaspora – Verantwortung übernehmen, aus. Sie lässt den Besucher eintauchen in die besondere Flucht – neu anfangen, Migration – sesshaft werden, Exodus Atmosphäre dieses Raumes und seine identitätsstiftende – aufbauen, Auszug aus Ägypten – einwandern, Auswei- Authentizität. sung – eine neue Heimat schaffen, Flucht – neu anfangen,

120 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Schwerpunkt der Museumssammlung hin. Im Kern besteht diese aus Ritual- und Kultgegenständen für Synagoge und häusliche Feiern aus dem 17. bis 20. Jahrhundert. Die mei- sten stammen aus den zerstörten jüdischen Gemeinden Schwabens und wurden von Mitgliedern der renommierten Augsburger Silberschmiedezunft hergestellt. Darunter be- finden sich allein mehr als 20 Tora-Schilder. Kenner zählen die Sammlung deshalb zu den herausragenden Judaica- Sammlungen von Augsburger Silber weltweit. Leihgaben privater Sammler und des Bayerischen Nationalmuseums München ergänzen den Bestand ebenso wie familienge- schichtliche Dokumente, Fotografien und Erinnerungsob- jekte.

Wie Sabbatlampen, Beschneidungsbecher oder Beso- mimbüchsen zeugen die Tora-Schilder von einer jahr- tausendealten Kultur. In ihrer konkreten Gestaltung verdeutlichen sie zugleich, dass jüdische Religion immer in Wechselwirkung zur jeweiligen Umgebung stand und sich jüdische Bräuche und jüdische Identität bis heute in diesem Spannungsverhältnis entwickeln.

Deswegen werden die Kultobjekte nicht nur in ihrer reli- giösen Funktion erklärt, sondern in ihren jeweiligen histo- rischen Kontext gestellt und in ihren sozialen und lokalen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen erläu- tert. Wenn beispielsweise ein silberner Kiddusch-Becher, der jahrhundertelang einer Familie beim Sabbat gedient hat, vor dem Foto einer Kiddusch-Feier der heutigen Gemeinde präsentiert wird, kommen Veränderungen in den Blick, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Folgen der deutschen Wiedervereinigung einhergehen; als Erinne- rungsobjekt im Kontext der Emigration präsentiert, trägt der gleiche Ritualgegenstand eine andere Bedeutung.

So öffnet die Kontextualisierung nicht nur den Blick Eingang zur Dauerausstellung für die unterschiedlichen Perspektiven und Bedeutungs- ebenen der Objekte, sondern auch für die Veränderun- gen innerhalb der Gemeinden. Gleichzeitig macht sie Zerstreuung – Eigenes bewahren. Hinter den Begriffspaa- erst die unterschiedlichen Formen von Koexistenz deut- ren scheint der Balanceakt zwischen Anpassung und Selbst- lich. Denn das Zusammenleben von Juden und Nicht- behauptung auf, den das Leben in der Diaspora Juden ab- juden gestaltete sich in den Landgemeinden anders als verlangte und bis heute abfordert. Unmittelbar neben die- in den Reichsstädten, in den wohlhabenden Vorortge- ser Projektion verweist eine traditionell geschmückte Tora- meinden anders als auf dem flachen Land, im Hohen Rolle auf die Tora als Zentrum des Judentums – das „porta- Mittelalter anders als im langen Jahrhundert der tive[...] Vaterland“, wie Heinrich Heine es nannte. Emanzipation.

Museumssammlung Die Geschichte der jüdischen Minderheit ist immer auch ein Spiegel des Verhaltens der Mehrheit. Deswegen begegnen Die mit Krone (hebr. Keter tora), Mantel (hebr. Meil), Zei- nichtjüdische Besucher im Jüdischen Kulturmuseum nicht ger (hebr. Jad) und Schild (hebr. Tass) nach aschkenasischem nur jüdischer Geschichte und Kultur, sondern sie begegnen Ritus geschmückte Tora-Rolle am Eingang weist auf einen auch ihrer eigenen Geschichte.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 121 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

in Augsburg wirkenden Rabbiner Jakob Weil kundig machen. In der Abteilung „Anfänge nach 1440“ erhalten sie Informationen über die weitverzweigte Familie Ullmann- Günzburg, die in der Frühen Neuzeit in Pfersee, unmittel- bar vor den Toren der Reichsstadt, außergewöhnliche Wirk- samkeit entfaltete. In der Abteilung, die das Ende der zwei- ten Gemeinde in der NS-Zeit thematisiert, finden sie die Lebensgeschichten der sechs schwäbischen Juden, deren Abschiedsbriefe vor der Deportation oder dem Freitod exemplarisch ausgestellt sind. Die Bildschirmpräsentatio- nen in der Abteilung „Anfänge nach 1945“ schließlich erzählen Biografien von Augsburger Emigranten wie Immi- granten. Exemplarische Lebensgeschichten der Zuwande- Bild oben: Blick in die Synagoge von der Frauenempore aus rer, die in einem Interviewprojekt erfasst wurden, sollen im Bild unten: Tora-Schild aus Fischach von 1711/15 von dem Zusammenhang einer geplanten Ausstellungsserie zur jüdi- Augsburger Meister Marcus Wolf, #2004–0007 schen Geschichte Augsburgs nach 1945 ein Klappalbum in der Abteilung „Gemeinde heute“ füllen.

Geschichte als Lebensgeschichten Gegenwartsbezug

Wo immer es geht, wird im Museum jüdische Geschichte in Die Integration in eine bestehende Gemeindesynagoge individuellen Lebensgeschichten erzählt. Wo dies nicht ob- bietet besondere Möglichkeiten der Begegnung und for- jektbezogen möglich ist, geschieht es in den PC-Stationen, dert zu doppelter Vermittlungsarbeit heraus. Denn es deren digitale Bildschirmpräsentationen kontinuierlich er- gilt nicht nur, die jüdische Kultur und Geschichte gänzt werden. Bislang können sich Besucher in der Abtei- Nichtjuden, sondern auch vielen Mitgliedern der jüdi- lung zur mittelalterlichen Gemeinde über den im Mittelalter schen Gemeinde verständlich zu machen, da diese in der

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PC-Station in der Mittelalter-Abteilung Die Ausstellung „Mitgebracht. Schach bei den Augsburger Juden“ wurde mit Mitgliedern der Kultusgemeinde erarbeitet.

ehemaligen Sowjetunion meist keine Möglichkeiten Eigene Kinderstationen wenden sich an die kleinen Besu- hatten, ihre Religion zu leben und ihre Tradition ken- cher, die sich z.B. darin versuchen können, ihren Namen auf nenzulernen. Hebräisch zu schreiben. So hält die Dauerausstellung die Waage zwischen den Zwängen eines stringenten Führungs- Immer mehr Mitglieder der Kultusgemeinde nützen das rundgangs und den Möglichkeiten zu individueller Ent- Museum. Das wurde auch bei der Ausstellung „ein gewis- deckerlust und selbstbestimmtem Forscherdrang. Ästhe- ses jüdisches Etwas“ deutlich, an der sich beachtlich viele tisch wie funktional überzeugend hilft die architektonische Gemeindemitglieder mit einem Objekt ihrer Wahl und der und grafische Gestaltung dem Besucher Themenstränge dazu gehörenden Geschichte beteiligten.9 Die jüngste posi- miteinander in Beziehung zu setzen, ohne den Überblick zu tive Erfahrung beim Einbezug der Gemeinde bildete die verlieren. Ausstellung „Mitgebracht – Schach bei den Augsburger Ju- den“, die in Zusammenarbeit mit dem Schachclub der Ort der Begegnung und des Lernens Kultusgemeinde Einblicke in die Welt der Migranten ge- währte, unter denen sich bemerkenswert viele ehemalige Das Jüdische Kulturmuseum versteht sich als ein Ort des sowjetische wie aktuelle regionale und nationale Schach- Lernens und der Begegnung. Dazu gehört, dass es nicht nur meister befinden.10 Wenn auch vielen älteren Zuwanderern an Vergangenes erinnert, sondern auch die Gegenwart kom- die deutsche Sprache noch Probleme bereitet, sind manche mentiert. Ein breit gefächertes Veranstaltungsprogramm von ihnen dennoch Stammgäste der Museumsveranstal- setzt sich deshalb mit der jüdischen Vergangenheit wie mit tungen. Besonders gerne besuchen sie die „Lehrhaus-Vor- der Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland auseinan- träge“ des Rabbiners. Die im Jubiläumsjahr angebotene der, allen voran die Wechselausstellungen im Foyer. Aller- Reihe zu den „Strömungen“ im Judentum löste lebhafte dings schränkt dessen gleichzeitige Nutzung als Durch- Diskussionen aus. gangsraum das Spektrum der Ausstellungen stark ein, da selbstverständliche konservatorische Auflagen von Leihge- Museumspädagogischer Ansatz bern hier nicht zu erfüllen sind. Ein sachgerechter Wechsel- ausstellungsraum ist deshalb ein dringendes Desideratum Die Museumskonzeption arbeitet mit einem museumspäd- des Museums. agogischen Ansatz, der es dem Besucher ermöglicht, das Begleitprogramme zu den Wechselausstellungen, Quantum seiner Information selbst zu bestimmen. Ab- Lesungen, Konzerte und Exkursionen verknüpfen die his- gestufte Informationsebenen, Klapptafeln und Schubladen, torischen Themen mit aktuellen Fragen des Umgangs mit Hörstationen und interaktive PC-Stationen laden zu ent- anderen Kulturen und Minderheiten sowie mit der Erfah- deckendem Lernen und selbstbestimmter Vertiefung ein. rung von Differenz.

9Benigna Schönhagen/Souzana Hazan (Hg.): Ein gewisses jüdisches Etwas, Augsburg 2009. 10 Souzana Hazan: „Mitgebracht – Schach bei den Augsburger Juden“ (Einblicke 01), hg. v. Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, Augsburg 2011.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 123 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Wechselausstellungen 2001 – 2011: „Ein gewisses jüdische Etwas. Eine Ausstellung zum Selbermachen.“ „Die Augsburger Synagoge – das Haus und seine von und mit Katarina Holländer und Michael Geschichte“, 2001/02 Guggenheimer, 2009

„Milch und Hering. Jewish Foodshops in NewYo rk.“ „Moritz Daniel Oppenheim – Idealbilder jüdischen Fotografien und Interviews von Michael Melcer und Lebens.“ Patricia Schon, 2003 in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main, 2009 „Ein Visum fürs Leben – Diplomaten, die Juden rette- ten.“ „Und ich wurde ihnen zu einem kleinen Heiligtum... Eine Ausstellung der GedenkstätteYad Vashem, 2003 Synagogen in Deutschland.“ in Kooperation mit der BetTfila- Forschungsstelle für „Jüdisches heute – Fotografische Betrachtungen.“ jüdische Architektur in Europa des Fachgebiets Eine Ausstellung von Studierenden der Fachhochschule Baugeschichte an derTU Braunschweig und des Center Bielefeld, 2007 for Jewish Art an der Hebrew University of Jerusalem, 2010 „‚Wie eine Insel im braunen Meer.‘ Die Geschichte der PrivatenTe nnisgesellschaft Augsburg (PTGA).“ „‚Fegt alle hinweg!‘ Zum Approbationsentzug Eine Ausstellung nach einer Idee von Gernot Römer, jüdischer Ärztinnen und Ärzte 1938.“ 2008 Kuratorin: Ursula Ebell, München, 2011

„Singt dem Herrn ein neues Lied. Musik in der „Kicker, Kämpfer und Legenden. Juden im deutschen Synagoge.“ Fußball.“ in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Augsburg, Eine Ausstellung der Stiftung Neue Synagoge Berlin – 2008/09 Centrum Judaicum, 2011

Seit 2008 werden die Ausstellungen zu den jüdischen Festen am Wechselausstellungstisch in der Dauerausstellung ent- weder zusammen mit der Augsburger Franz-von-Assisi- Schule oder mit Kindern der Sonntagsschule der Kultusge- meinde präsentiert. Die Kooperation von Schule und Muse- um hat sich bewährt, sie verschafft den Kindern vertiefte Kenntnisse und neue Kompetenzen und erschließt dem Museum neues Publikum. Denn die Schüler, die dabei die Objekte der Ausstellung vorstellen, die sie zuvor bei einem Workshop kennengelernt haben, bringen Eltern und Ge- schwister ins Museum mit. Neben den vielen Veranstaltungen bieten das klei- ne Museumscafé „Landauer“ sowie die Buchhandlung, die Drehwürfel zur Hochzeits-Vitrine in der Kinderlinie in Kooperation mit der renommierten Literaturhandlung von Dr. Rachel Salamander betrieben wird, Möglichkeiten zur Begegnung. Beide haben sich zu einem Treffpunkt ent- jüdische Familiengeschichten“, in deren Rahmen jeweils wickelt. ein geladener Zeitzeuge in einer öffentlichen Veranstal- tung von seinen Erfahrungen in, mit und nach der Zeitzeugengespräche NS-Zeit berichtet.

Einen Schwerpunkt der Museumsarbeit bildet die Ar- Im Herbst 2002 zusammen mit dem S’ensemble-Theater als beit mit überlebenden Augsburger Juden. Er führte zu Beitrag zum Gedenken an den Novemberpogrom 1938 ins der Veranstaltungsreihe „LEBENSLINIEN. Deutsch- Leben gerufen, hat sich diese Veranstaltung einen festen

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Ein Höhepunkt im Veranstal- tungsjahr 2010 war die Auf- führung des „Elias“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Museumsshop und „Lesecafé Landauer“

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 125 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Platz im Augsburger Kulturleben erobert. Im Zentrum steht jeweils die Geschichte einer jüdischen Familie, die frü- her in Augsburg lebte oder auf andere Weise mit der Stadt verbunden ist. Die Ausweitung auf die Geschichte der Familie – in der Regel beginnen die Zeitzeugen ihren Bericht mit den Großeltern – verhindert, dass die Wahrnehmung von Juden auf die zwölf Jahre der NS-Zeit reduziert wird und macht den Bruch, den die Vertreibung aus Nazi- Deutschland für die meist seit Generationen in Schwaben verwurzelten Familien bedeutete, um so deutlicher. Eröff- net wird die Reihe jedes Jahr mit einer Matinee im S’ensem- ble Theater, bei der nach einer Einführung und Lesung von Familiendokumenten oder autobiografischen Texten der Zeitzeuge das Wort hat. Auf diesen Auftakt folgen ebenso arbeitsintensive wie emotional berührende Workshops für Schüler, die sich aktiv mit der Geschichte der Zeitzeugen beschäftigen, bevor sie diesen begegnen. Anhand autobiografischer Texte, zeit- genössischer Fotografien und historischer Dokumente, die das Museumsteam aufbereitet hat, bereiten sich die Schüler vor und entwickeln die Fragen, die sie anschließend der Zeitzeugin oder dem Zeitzeugen stellen. Eine Anschubfinanzierung durch das Leo-Baeck- Programm „Jüdisches Leben in Deutschland – Schule und Fortbildung“ hat es möglich gemacht, diese Zeitzeugenbe- gegnungen seit 2008 in einer eigenen Museumsreihe als Arbeitsheft mit interaktiver DVD zu publizieren, und da- mit für andere Schulklassen und Interessierte nachvollzieh- bar zu machen. Bislang sind die Begegnungen mit Liora Bild oben: Matinee bei den LEBENSLINIEN 2008 Se’ewi aus Jerusalem, den Geschwistern Aub aus Jamaika Bild unten: Schülerinnen beim LEBENSLINIEN-Workshop und Großbritannien sowie mit George Sturm aus den USA 2008 publiziert.11 Die nächsten LEBENSLINIEN mit Eva Labby, geb. Lammform, aus den USA sind in Vorbereitung. hat. Mittlerweile koordiniert es das Programm für 16 Orte in der Region, und mit München, dem württembergischen Diese dichte und wertschätzende Erinnerungsarbeit Bopfingen und Schopfloch in Franken auch darüber hinaus. wird von beiden Seiten als wichtig erlebt, nicht selten Der jeweilige Programmflyer wird mit Unterstützung der als heilsam beschrieben. Sie hat die Aufmerksamkeit Landeszentrale für politische Bildungsarbeit in Bayern und Anerkennung der meist hochbetagten Überleben- gedruckt und an alle Schulen in Schwaben verteilt. Den Tag den (und ihrer Kinder) gefunden und das Museum zu der offenen Tür, den das Museum dabei jeweils am ersten einem Anziehungspunkt für Augsburger Juden in aller Sonntag im September gemeinsam mit der Kultusgemeinde Welt gemacht. in Augsburg organisiert, besuchen regelmäßig zwischen 500 und 800 Personen. EuropäischerTa g der jüdischen Kultur Vermittlung Zu einem zweiten Höhepunkt im Veranstaltungskalender des Museums hat sich der Europäische Tag der jüdischen Das Museum antwortet mit einem vielfältigen Vermitt- Kultur entwickelt, den das Museum in Bayern eingeführt lungsangebot auf seine wachsende Bedeutung als außer-

11 Benigna Schönhagen: „Getrennt von allem, was uns geblieben ...“ Der Weg der Familie Kraus aus Augsburg, mit einer Einleitung von Hel- mut Hartmann (Band 1 der Reihe LEBENSLINIEN), Augsburg 2008; Monika Müller: „Das Trauma der Verbannung ist nicht auslösch- bar.“ Der Weg der Familie Aub aus Augsburg (Band 2 der Reihe LEBENSLINIEN), Augsburg 2009; Souzana Hazan, „… dieser schönen Welt Lebewohl sagen.“ Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg (Band 3 der Reihe LEBENSLINIEN), Augsburg 2010.

126 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben schulischer Lernort. Dafür hat es zehn, überwiegend stu- dentische Guides ausgebildet und sorgt für deren kontinu- ierliche Fortbildung. Zur neuen Dauerausstellung wurden museumspädagogische Angebote für alle Altersgruppen entwickelt. Dank der finanziellen Unterstützung durch die Landesstiftung und die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern steht dafür seit Sommer 2008 ein kleiner, multimedial ausgestatteter Seminarraum zur Verfügung. Schulklassen und Erwachsenengruppen, die sich zu einem geführten Besuch im Jüdischen Kulturmuseum anmelden, können zwischen Führungen (1 Stunde), Workshops (3 Stunden) und Projekttagen (6 Stunden) wählen. Das Füh- rungsangebot umfasst eine Überblicksführung und mehre- re Themenführungen. Die Überblicksführung ist für ein erstes Kennenlernen der jüdischen Geschichte und Kultur gedacht. Die Themenführungen konzentrieren sich auf Schwerpunkte: auf die Augsburger Synagoge und ihre Ge- schichte, auf die mit den jüdischen Lebenskreisfesten ver- bundenen Rituale und die alltäglichen Bräuche in einem Museumsbesucher bei einer Führung jüdischen Haushalt, auf die Kultur der Landjudengemein- den sowie auf die Zeit des Nationalsozialismus und die Situation der schwäbischen Juden während der Verfol- Zahlreich sind die Anfragen –von Schülerarbeiten, über ge- gungszeit. Begehungen der zwei jüdischen Friedhöfe und nealogische Recherche bis zu Spezialfragen für wissen- Stadtrundgänge gehören ebenfalls zum Angebot und wer- schaftliche Untersuchungen. Die Recherchen zur Beant- den gern in Kombination mit einer Führung durch das wortung dieser Anfragen haben ein Archiv zur Geschichte Museum gebucht. der schwäbischen Juden entstehen lassen, das mit jedem Die Angebote sind am Lehrplan orientiert. Bera- Projekt und jedem Zeitzeugenkontakt weiter wächst, teil- tungen helfen, zu entscheiden, ob der Museumsbesuch als weise auch systematisch erweitert wird. Zurzeit ist mit Hilfe Einstieg ins jeweilige Thema dienen, einen Themenschwer- der Landesstelle für die Betreuung nichtstaatlicher Museen punkt aufarbeiten oder bereits Gelerntes am konkreten ein digitales Archiv zur Geschichte der schwäbischen Syna- Beispiel veranschaulichen soll. Die 60-minütigen Führun- gogen im Aufbau. Ein Datenbankprojekt zu Juden in gen sind gesprächsorientiert. Bei den dreistündigen Work- Schwaben ist in Planung. shops steht das selbstentdeckende Lernen im Vordergrund. Regelmäßige Lehrerfortbildungen informieren über die Netzwerk in Bayerisch-Schwaben museumspädagogischen Angebote und Möglichkeiten. 2010 wurden über 700 Führungen und 25 Workshops Erwähnt werden soll schließlich noch die Arbeit des Mu- durchgeführt.12 seums in der Region. Mit seinem Namen wurde dem Jüdi- schen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben auch die Erin- Forschung, Archiv und Bibliothek nerungsarbeit in Bayerisch-Schwaben aufgetragen. Deshalb hat es 2004 das „Netzwerk Historische Synagogenorte in Ausstellungen und Veranstaltungen bilden aber nur die Bayerisch-Schwaben“ ins Leben gerufen. Das ist eine „Spitze des Eisbergs“. Alle Veranstaltungen und Vermitt- Arbeitsgemeinschaft, in der erinnerungskulturell Engagier- lungsangebote basieren auf der Grundlagenarbeit, die das te aus mittlerweile 16 Orten zwischen Kempten und Oet- kleine, durch studentische Mitarbeiter und Ehrenamtliche tingen, Fischach und Altenstadt zusammenarbeiten, um die unterstützte Museumsteam leistet. Für Forschungen und Erinnerung an die früher in ihrem Ort lebenden Juden zu Recherchen hat es eine jedermann zugängliche Fachbiblio- bewahren. Als Erstes wurden ein gedruckter „Wegweiser“ thek zur Geschichte des schwäbischen Judentums aufge- und eine Homepage erstellt, anschließend wurden für 13 baut und seinen Fotobestand in einem digitalen Fotoarchiv ehemalige jüdische Friedhöfe in der Region Informationsta- für die Zukunft gesichert. feln erarbeitet. Als nächstes Projekt hat sich das Netzwerk

12 Jahresbericht des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben 2010, hg. v. Benigna Schönhagen, Augsburg 2011.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 127 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

nen die wachsende Objektsammlung und die Dokumente der Vergangenheit verantwortlich für die Zukunft gesichert werden können. Eine Fortsetzung der anspruchsvollen Pro- grammarbeit verlangt zudem dringend nach einem profes- sionell ausgestatteten Raum für Wechselausstellungen. Ein gerade gegründeter „Verein der Freunde und Förderer des Jüdischen Kulturmuseums“ will dessen Arbeit ideell und finanziell fördern. Eine zuverlässige Unterstützung der Stiftung durch den Freistaat, die Stadt und den Bezirk sind darüber hinaus unerlässlich. Mit der Synagoge in Kriegshaber, die mit weitge- hend erhaltenem Innenraumdekor samt Tora-Schrein in einem eingemeindeten Stadtteil steht, ist dem Museum eine weitere Aufgabe zugewachsen. Es soll die ehemalige Syna- goge, mit deren dringend notwendiger Sanierung die Stadt Augsburg Ende 2010 begonnen hat, zukünftig als Depen- dance des Museums in der Halderstraße mit Leben füllen. II

Zum Abschluss sollen Stimmen aus den Besucherbüchern einen Eindruck von der Resonanz vermitteln, die das Museum seit seiner Neugestaltung erhalten hat:

„Was für ein beeindruckender Ort! Dank an alle, die mög- lich machten – und machen – daß soviel Schönheit und Informationstafel am Friedhof in Memmingen, vom Netzwerk bewegende Geschichte allen zugänglich ist.“ 2006 erarbeitet „Natürlich sind wir extra aus Israel zur Wieder(Neu)- eröffnung vom Museum gekommen. Wir sind begeistert, die Erarbeitung einer Wanderausstellung über die Schwä- was man für wunderbare Arbeit geleistet hat. Alle, alle bischen Synagogen vorgenommen.13 Hochachtung!“ 2006

Ausblick „Wirklich, das Museum ist ein Juwel, allein architektonisch könnte es nicht besser sein und natürlich: der Inhalt ist Aus der lokalen Erinnerungsarbeit und dem Kultur- kostbar.“ 2006 leben der Stadt ist das Kulturmuseum nicht mehr weg- zudenken. Es kann seine anerkannte Arbeit aber nur „Nochmals Glückwünsche zur Neukonzeption des fortsetzen, wenn zwei Voraussetzungen gewährleistet Jüdischen Museums, sowohl inhaltlich wie gestalterisch: Es sind: die Sanierung des Museumsgebäudes und eine ist eine große Leistung, auf so begrenzter Fläche substan- dauerhafte und angemessene finanzielle Ausstattung zielle Informationen über jüdische Geschichte in Augsburg des Museums. und Schwaben in einer so lebendigen und anregenden Form zu vermitteln.“ 2006 Mit der deutlichen Erhöhung des bis vor kurzem auf dem Stand von 1985 eingefrorenen Haushaltsansatzes durch die „Das Museum präsentiert das jüdische Leben als wesent- drei Zuschussgeber ist ein wichtiger Schritt in finanzieller lichen Teil der jüdischen Geschichte und Kultur unserer Hinsicht erfolgt. Die nahezu hundert Jahre alte Synagoge Stadt und wird dies den Augsburgern und den Besuchern aber ist dringend sanierungsbedürftig. Die Gemeinde überzeugend vermitteln. Ich wünsche dem Museum viele braucht für ihre wachsenden Aufgaben mehr Raum und das interessierte Besucher und bin sicher, dass es ein Ort der Museum Platz für Büros, Archivräume und Depots, in de- Begegnung zwischen den Kulturen sein wird.“ 2006

13 Benigna Schönhagen/Rolf Kießling (Hg.): Jüdisches Schwaben – ein Wegweiser, Augsburg 2006. Die Homepage des Netzwerks hat die Adresse www.juedisches-schwaben-netzwerk.de.

128 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben

Die Synagoge in Augsburg-Kriegshaber wird Dependance des Jüdischen Kulturmuseums.

„Hier wird ein wichtiger Teil der Augsburger Geschichte Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben aus- und dargestellt und dafür braucht es viele Besucher. Die Ausstellung ist wichtig.“ 2007 Halderstraße 6–8 86150 Augsburg „This is one of the best jewish museums I have seen.” 2007 Tel. 0821-513658 Fax 0821-513626 „Sehr eindrucksvoll, anschaulich dargestellt, aufwändig Email: [email protected] recherchiert, übersichtlich. Ich komme gerne wieder.“ 2007 Öffnungszeiten „Super Museum, viel Wissenswertes & spektakuläre Di, Mi, Do 9.00–18.00 Uhr Eindrücke! Tolle Synagoge!“ 2008 Fr 9.00–16.00 Uhr So 10.00–17.00 Uhr „Klein, aber fein! Ein sehr gut aufgebautes Museum.“ 2009 Jeden ersten Mittwoch im Monat findet um 18.00 Uhr eine öffentliche Führung statt. „An extraordinary exhibit and experience for us. My ances- Das Museum ist dann bis 20.00 Uhr geöffnet. tors came from this region. Thank you so much.“ 2010

„Eine würdige Stätte, die dem Verständnis und der Verständigung unterschiedlicher Religionen und Kulturen dient. Möge sie vielen Skeptikern zum Umdenken verhel- fen.“ 2010

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 129 Todeszone, altes Europa, gemeinsames Haus Todeszone, altes Europa, gemeinsames Haus

Zur Reise von Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle nachAuschwitz, Krakau, Oppeln und Breslau

Von Werner Karg

Staatsminister Dr. Spaenle vor den Resten der Gaskammern und Krematorien im Lager Auschwitz-Birkenau.. Alle Bilder: März

130 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Todeszone, altes Europa, gemeinsames Haus

Der Eintrag von Staatsmini- ster Dr. Spaenle im Gästebuch der Gedenkstätte Auschwitz

Der Flug nach Krakau dauert nur eine Stunde, man fliegt eine Million Menschen wurden hier ermordet, völlig un- über europäisches Kernland, über die Donau, die Elbe, glaublich: hier bei uns, mitten unter uns, mitten in Europa, unter uns zuerst Passau, dann die Städte Böhmens, schließ- keine killing fields am Rande der Welt. Diese Wunde haben lich Schlesien, Südpolen, die Mitte des Kontinents, kleintei- wir uns geschlagen; hier, beim kurzen Flug zwischen lig, über Jahrtausende umkämpft, aber doch ein Raum. Der München und Krakau wird sinnfällig und greifbar, was das deutsch-polnische Freundschaftsvertrag, vor zwanzig Jah- etwas spröde Wort vom „Zivilisationsbruch“ meint. Ausch- ren geschlossen, jetzt Anlass des Besuchs des Ministers in witz, die Verbrechen, die von Deutschen und in deutschem Polen, bestätigt eine gewachsene Gegebenheit, die zu zer- Namen begangen wurden, waren auch der Versuch der stören den Diktaturen des 20. Jahrhunderts letztlich nicht Zerstörung unserer eigenen Kultur, unserer gemeinsamen gelang. europäischen Zivilisation. Und das war nicht irgendwo. Ge- schichte ist nie nur das, was anderen Leuten zu einer ande- Dann aber, schon näher am Boden, ein paar Minuten vor der ren Zeit passiert ist. Landung, inmitten der Flusslandschaft, der Ansiedlungen, inmitten der Zivilisation eine helle, große Fläche, geome- Als wir dann nur wenig später dort stehen, am Rande der trisch umgrenzt und mit schmalen Linien durchzeichnet, zerstörten Gaskammern und Krematorien, im Rücken das das Bild wirkt unwirklich, aber der Betrachter gewinnt Ge- horizontlose Feld der ehemaligen Baracken, wird klar: Dies wissheit: Das ist Auschwitz-Birkenau, die Todeszone. Über gehört zu uns, diesem Ort sich stellen, fordert –sonst blie-

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 131 Todeszone, altes Europa, gemeinsames Haus

Gedenkstätte Auschwitz, Dauerausstellung: Schuhe von ermordeten Häftlingen des Konzentrationslagers

ben Trauer und Schmerz nur selbstbezügliche Zeichen – weiterer erfahrener Partner zur Kooperation bereit steht praktische Konsequenzen, die im Wesentlichen bildungs- und gewonnen werden konnte, ist ein glücklicher Umstand. politischer Natur sein müssen. Minister Spaenle: „Bayern Die Landeszentrale wird im kommenden Schuljahr die ers- wird mit den Verantwortlichen der Gedenkstätte Ausch- ten Projekte mit den polnischen Partnern in Auschwitz rea- witz gemeinsame Lehrerfortbildungen initiieren und auf lisieren. Auf diese Weise gewinnt die normative Verpflich- dem Gebiet des zeithistorischen Unterrichtens gemeinsam tung auf das ‚Nie wieder!’, das, so Spaenle, „unauslöschlich Konzepte erarbeiten.“ Dass für solche Vorhaben mit der zur Staatsräson Bayerns und Deutschlands gehört“, eine Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz ein greifbare Gestalt.

132 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Todeszone, altes Europa, gemeinsames Haus

schen und Polen initiiert und betreut, belegte die Chancen von Bildungskooperationen, die den Studierenden bislang kaum denkbare berufliche Potentiale eröffnen. Um die Er- folge und weiteren Perspektiven der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen in Schlesien ging es beim Gespräch mit dem früheren Erzbischof von Oppeln, Professor Nossol, der mit all seiner Lebenserfahrung und seiner prie- sterlichen Empathie eine Katholizität personifiziert, der es um Toleranz zu tun ist und um Weitherzigkeit; und dies scheinen – so können seine Ausführungen gedeutet wer- den –Voraussetzungen zu sein für ein gemeinsames Leben, das auch jeweils ganz verschiedene Verletzungen mit sich trägt. Und dies gilt nicht nur für Schlesien.

Die Erfordernisse praktischer Politik wurden bei einer Unterredung mit Marschall Sebesta, Woiwodschaft Op- peln, erörtert. Er hat die Tatsache zu bewältigen, dass nahe- zu 10 % der schlesischen Bevölkerung als Wochenpendler mit dem Auto nach Deutschland fahren, aber nie daran den- ken, in Deutschland zu bleiben, weil sie eben ihrer Heimat verbunden sind und in Schlesien bei ihren Familien leben wollen – dies ist ein positiver Befund, der gleichwohl eine Vielzahl politischer, sozialer, wirtschaftlicher Herausforde- rungen mit sich bringt.

Zuletzt in Breslau bei Gesprächen an der Uniwersytet Wrocławski, die in den letzten drei Jahrhunderten drei Neu- gründungen erfahren hat, hat sich erneut gezeigt, wie histo- rische Prägekräfte und gegenwärtige Aufgaben sich überla- gern, wie aber auch das Bewusstsein der eigenen Geschicht- lichkeit den Verzicht aufs Präjudiz bedingt; das ist ein Fort- schritt. Im architektonischen Ambiente des Breslauer Ba- rock, umgeben von Reminiszenzen auch an eine bedeuten- de deutsche Universitätsgeschichte vor allem im 19. Jahr- hundert, wurden von Professor Ruchniewicz und Minister Spaenle ganz pragmatisch die unsicheren Realisierungs- chancen eines deutsch-polnischen Geschichtsbuchs verhan- delt.

Diese Themen, Erfahrungen, Gespräche belegen: Die Rede vom „Gemeinsamen Haus Europa“ ist keine Phrase, aber Die Gespräche, die dann weiterhin stattfanden, in Krakau, das Gemeinsame lebt von der Kenntnis und der in Oppeln, in Breslau, wurden immer auch geführt im Anerkennung der jeweils prägenden Eigenständigkeiten, Gegenlicht von Auschwitz, weil es immer auch darum ging, die zu profilieren in Europa möglich bleiben muss. Ohne wie das Eigene bewahrt und das Gemeinsame gewonnen die Entwicklung der sich verständigenden Identitäten blie- werden könne: be das Gemeinsame hohl, und ohne die Selbstreflexion, die Auschwitz erzwingt, verlören wir jede Zukunft. Darum Der Besuch an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo geht es, wenn der bayerische Kultusminister an den Professor Zoll gemeinsame juristische Studien von Deut- Gaskammern von Birkenau einen Kranz niederlegt. II

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 133 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Von Rainer Volk

John (eig. Iwan) Demjanjuk vor dem Landgericht München bei Prozessbeginn am 30.11.2009 Alle Bilder: ullstein bild

134 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Am 12. Mai 2011 endete vor dem Landgericht München II der Prozess gegen den SS-Hilfswilligen John (Iwan) Demjanjuk. Die Kammer verurteilte den 91-jährigen gebürtigen Ukrainer wegen Beihilfe zum Mord in 28.000 Fällen zu fünf Jahren Haft. Das Gericht hob jedoch den Haftbefehl auf, da keine Fluchtgefahr mehr bestehe. Bis zur Urteils-Revision durch den Bundesgerichtshof darf Demjanjuk daher in einem Pflegeheim leben. Für Prozessbeteiligte wie Beobachter stellte sich das Verfahren als sehr viel komplizierter heraus, als zunächst gedacht. Eine Analyse veranschaulicht die Gründe.

Meiner Erinnerung nach war es der erste warme Tag des Jah- Ein Fabrikarbeiter aus Cleveland res 2010. Das Gericht hatte den Sitzungstag beendet; wie so oft in diesem Verfahren gingen wir Journalisten mit einigen Die Lebensgeschichte des John (ehemals: Iwan Nikolaje- der Anwälte plaudernd die Treppen vor dem Eingangsbe- witsch) Demjanjuk liest sich wie ein Justiz-Thriller. Der Fall reich des Justizzentrums hoch Richtung U-Bahnstation. hat die Justiz über Jahrzehnte beschäftigt. Berühmt sind vor Mir entfuhr der Satz: „Die Tage werden jetzt länger. Und allem die Prozesse in Israel von 1986 bis 1993, die ein Artikel bald haben wir’s geschafft hier.“ Einer der Nebenkläger- einer in New York herausgegebenen ukrainischen Exil-Zei- Vertreter entgegnete darauf trocken: „Ach, wir werden hier tung in den siebziger Jahren auslöst.3 auch noch verhandeln, wenn die Tage wieder kürzer sind.“ Leider sollte er Recht behalten. Der 1920 in der Ukraine geborene Demjanjuk hatte Denn der Demjanjuk-Prozess beschäftigte die seit seiner Emigration in die USA 1952 als unauffälliger Schwurgerichts-Kammer des Landgerichts München II ins- Arbeiter bei den Ford-Autowerken in Cleveland gelebt, gesamt fast 18 Monate. An insgesamt 93 Tagen fand eine eine Familie gegründet und in einem Vorort der Stadt mündliche Verhandlung statt. In seiner ersten Planung hatte ein Haus gebaut. Veranlasst durch die Berichterstat- das Gericht lediglich Termine bis zum Mai 2010 anberaumt; tung taucht erstmals auch der Hinweis auf, es gebe auch weitere Ansetzungen bis in den Herbst und Winter einen „Dienstausweis“ Demjanjuks, der ihn als so ge- 2010 erwiesen sich jedoch als unzureichend. Je länger sich nannten „fremdvölkischen Hilfswilligen“ der SS in den das Verfahren hinzog, desto ungeduldiger wurde auch die Vernichtungslagern in Osteuropa zeige. In den achtzi- Prozessbegleitung durch die Presse: „Zeugen aus Papier ger Jahren identifizieren israelische Holocaust-Über- fressen Zeit“1 lautete ein Titel, ein anderer sprach – halb ka- lebende Demjanjuk als Schergen mit dem Spitznamen lauernd – von einem „schleppenden Prozess“2. Mein Trost „Iwan der Schreckliche“, der im Vernichtungslager im Nachhinein: Offensichtlich lag ich mit meinen Erwar- Treblinka den Motor für die Gaskammern bedient habe. tungen nicht als einziger falsch. Trotz erheblicher Bedenken einiger amerikanischer

1Karin Truscheit: Zeugen aus Papier fressen Zeit, in: FAZ v. 10.12.2010 2Robert Probst: Schleppender Prozess, in: Süddeutsche Zeitung v. 21.2.2011, S. 6. 3Siehe Heinrich Wefing: Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, München 2011, hier: S. 38.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 135 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Ein zuversichtlich wirkender Demjanjuk auf dem Weg zu einem Gerichtstermin im Rahmen des Prozesses gegen ihn in Israel, 13.10.1986

Ermittler wird er im Februar 1986 an Israel ausgeliefert, schaft und die Ausweisung. Die Prozesse enden 2008 mit wo es zu zwei Strafprozessen gegen ihn kommt. dem Urteil eines Bundesgerichts in Cincinnati (Ohio) und einem entsprechenden Urteil, das die Möglichkeit der Ab- Allerdings zeigt das zweite israelische Verfahren (1993 vor schiebung einräumt. Im gleichen Jahr wird auch die Zentra- dem Obersten Gerichtshof), dass dem ersten Prozess (vor le Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigs- einem Bezirksgericht) erhebliche Mängel anhaften; so sind burg aufmerksam und beginnt, Material über Demjanjuk die Zeugen einer Verwechslung aufgesessen und die Ankla- zu sammeln.4 Die 1958 von den Länderjustizministerien ge hat entlastende Indizien offensichtlich unterschlagen. gegründete Behörde hatte sich bereits in den Vorjahren – Bei „Iwan dem Schrecklichen“ hatte es sich um einen ande- auch durch die Verfahren in Israel und den USA angeregt – ren – bereits verstorbenen – Ukrainer gehandelt. Daher mit dem Fall Demjanjuk beschäftigt. Noch 2003 urteilt wird Demjanjuk in dem zweiten Verfahren freigesprochen jedoch der Leiter, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, in einer und darf im September 1993 als freier Mann in die USA Notiz, obwohl wohl erwiesen sei, dass Demjanjuk – unter zurückkehren. anderem – Wachmann in Sobibor und Flossenbürg gewesen sei, abschließend: „Ein individueller Tatvorwurf ist aus den Abschiebung in die Bundesrepublik vorgelegten Unterlagen nicht ersichtlich.“5 2008 ändert Schrimm seine Meinung und lässt abermals recherchieren. Das Office of Special Investigations (OSI) des US-Justiz- Da die Behörde nur für die Vorermittlungen zuständig ist, ministeriums, das sich mit Fällen illegaler Einwanderung in dauert es im Fall Demjanjuk ein weiteres Jahr, bis die Staats- die USA befasst (was auch unvollständige Angaben auf Ein- anwaltschaft München die notwendigen Schritte unternom- reisepapieren einschließt), ermittelt in der Folgezeit jedoch men hat. Am 12. Mai 2009 wird Demjanjuk aus den USA weiter. Nicht zuletzt, weil die teilweise Öffnung der Archi- ausgewiesen und mit einem Charterflugzeug nach München ve in Osteuropa weitere Erkenntnisse über Demjanjuks geflogen. Tätigkeit für die Deutschen – konkret: Tatbeteiligung am Holocaust – verspricht. Zudem bleibt ein aus Sicht der US- Vorbereitende Berichterstattung Behörden hinreichender Vorwurf bestehen: Demjanjuks Angaben bei der Einbürgerung in die USA waren eindeutig Über die israelischen Verfahren war zu ihrer Zeit in der falsch oder unvollständig. In mehreren Gerichtsverfahren deutschen Presse ausführlich berichtet worden. Doch die betreiben die Behörden daher den Entzug der Staatsbürger- Zwischenzeit ist lang genug, um sagen zu können: Demjan-

4Vgl. die Darstellung in: Alice Bota, Kerstin Kohlenberg, Heinrich Wefing: Ivan, der Anpasser, in: Die ZEIT, Nr. 28 v. 2.7.2009, S. 13–15. 5Siehe Wefing (wie Anm. 3), S. 96.

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juk ist für die deutschen Journalisten wie für das Publikum Schmidt.9 Der SPIEGEL-Bericht „Der dunkle Kontinent“ ein Unbekannter, als seine Ausweisung in die Bundesrepu- lässt dagegen von Beginn an ahnen: Gegenstand der Bericht- blik akut wird. Das Fotomaterial über ihn ist von bemer- erstattung ist die Arbeitsteiligkeit des Holocaust und damit kenswert geringer Varianz. Der Mangel wird dadurch ka- die Beteiligung Demjanjuks an den Verbrechen des NS- schiert, dass der Dienstausweis für die Medien reproduzier- Staates.10 bar ist. So benutzt man dieses Papier immer wieder zur Illustration von Texten. Ein Ereignis als medialer Zirkus Ebenso bemerkenswert ist: Die Berichterstattung über das deutsche Verfahren gegen John Demjanjuk beginnt Die eigentliche Prozessberichterstattung beginnt ab Okto- bereits mehrere Monate vor dessen Eintreffen auf deut- ber 2009. Nach der Festsetzung des Termins für die Eröff- schem Boden. Da die Ludwigsburger Zentralstelle nur aus nung der Hauptverhandlung geht es für alle Berichterstatter wenigen Beamten und Angestellten besteht und keine of- darum, den ersten Verhandlungstag vorzubereiten – sozu- fensive Pressearbeit betreibt, muss gefragt werden: sagen: das Publikum (Hörer, Leser, Zuschauer) einzustim- men auf den 30. November 2009. So werden im Bayerischen Wer hat die Journalisten auf die Ermittlungen aufmerk- Rundfunk bereits Wochen vor dem ersten Verhandlungstag sam gemacht? Kaum von der Hand zu weisen ist fol- Übertragungswagen „gebucht“. Bei der Pressestelle des gender Zusammenhang: Die Behörde feiert Ende 2008 Oberlandesgerichts sind Presseausweise zu bestellen. Tri- ihr 50-jähriges Bestehen, was für diverse Medien Anlass viale Dinge wie das Absperren der Parkplätze für die Ü-Wa- ist, über die aktuelle Arbeit der Staatsanwälte in Lud- gen an der Straße vor dem Gerichtsgebäude mittels Ab- wigsburg zu berichten. Heinrich Wefing berichtet in sperrband müssen bedacht werden. Unerlässlich sind seinem Buch von einem Gespräch der beiden wichtig- Interviews mit Prozessvertretern für den Morgen des Pro- sten Ermittler über das öffentliche Ansehen, das Scha- zessauftakts und die Vorankündigung von Berichten für die den nehmen würde, bliebe man im Fall Demjanjuk wei- Kollegen in den Funkhäusern der ARD. Anders ausge- terhin inaktiv.6 Die Möglichkeit, einen weiteren großen drückt: Es genügt nicht mehr, sich einfach am Morgen des NS-Prozess auf deutschem Boden zu erleben, scheint ersten Verhandlungstages zum Gericht zu begeben und auf nach anderen Berichten eine attraktive Perspektive, die der Pressebank Platz zu nehmen. Der Konkurrenzdruck ein Fortsetzen der Suche nach weiteren Tätern aus dem der diversen Angebote ist zu groß für eine solche Passivität. Völkermord-Geschehen des Zweiten Weltkriegs und Die mediale Inszenierung des Demjanjuk-Prozesses damit den Fortbestand der Zentralstelle rechtfertige.7 geschieht ganz anders, als dies noch in den sechziger und Jedenfalls sind im Februar 2009 die vorbereitenden siebziger Jahren beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt oder Ermittlungen der Ludwigsburger Fahnder soweit beim Treblinka-Verfahren üblich war. gediehen, dass die „Süddeutsche Zeitung“ über Verstim- So verläuft der erste Prozesstag unter teilweise gro- mungen zwischen ihnen und der Staatsanwaltschaft in tesken Begleitumständen: Noch vor Tagesanbruch stehe ich München berichtet.8 mit circa 250 Kollegen für zwei Stunden vor dem Eingang des Münchner Justizzentrums in einer „Demjanjuk-Sam- Mit dem Eintreffen Demjanjuks in Deutschland wird zu- melzone“, kämpfe mich durch enormes Gedränge an den gleich der mediale Kampf um seine Schuld oder Unschuld Sicherheitskontrollen und im Gerichtssaal, den Hals re- eröffnet. Im Frühjahr und Sommer 2009 werden in mehre- ckend, als Demjanjuk mit gut einer Stunde Verspätung in ei- ren großen Beiträgen in den Printmedien die Arbeit der so nem Blitzlichtgewitter und unter lautem Rattern der Kame- genannten „fremdländischen Hilfswilligen“ der SS und die raverschlüsse im Rollstuhl in den Saal geschoben wird. komplizierte Vorgeschichte des Falles geschildert. Bereits Ganz offensichtlich hat auch das Landgericht München II die Überschriften der Artikel ermöglichen Rückschlüsse die veränderte mediale Begleitung eines großen NS-Straf- über deren Tendenz. So signalisiert die Titelzeile „Der fal- prozesses und damit den Andrang der Journalisten aus aller sche Iwan“ in der FAZ die Skepsis des Verfassers Friedrich Welt unterschätzt.11

6Siehe Wefing (wie Anm. 3), S. 96. 7Leiharbeiter des Todes, in: DER SPIEGEL Nr. 47 v. 17.11.2008, S.88–90. 8Joachim Käppner, Robert Probst: Jeder Monat zählt, in: Süddeutsche Zeitung, 20.2.2009, S. 39. 9Friedrich Schmidt: Der falsche Iwan. Die verwickelte Geschichte John Demjanjuks, in: FAZ v. 12.5.2009, S. 3. 10 Der dunkle Kontinent, in: DER SPIEGEL, Nr. 21 v. 18.5.2009, S. 82–92 11 Eine treffende Skizze der Umstände findet sich in der Reportage von Alexander Krug, Monika Maier-Albang und Florian Fuchs: Du glaubst nicht was hier los ist, in: Süddeutsche Zeitung v. 1.12.2009, S. 3.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 137 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Vor dem Landgericht München war Demjanjuk nur „eingeschränkt verhandlungsfähig“, 22.12.2009.

Augenblicke historischerTr agik nem der ersten Tage ein Krankenbett im Gerichtssaal erhält und von dort aus der Verhandlung folgt, ohne Der Anblick des greisen Angeklagten ist aber nicht der ein- kaum je etwas zu sagen. Die Nebenkläger nehmen zige Sensationsmoment, dessentwegen Berichterstatter aus wirklich teil. Wir Reporter können sie in den Pausen vielen Ländern im Saal A 101 des Münchner Justizzentrums ansprechen und zu ihnen ins Hotel kommen, um Inter- dabei sein wollen. John Demjanjuk muss sich die Bühne views zu führen und uns ihre Geschichte erzählen zu gewissermaßen teilen mit den Nebenklägern, die ebenfalls lassen. Dabei wird klar, dass die Taten, um die es vor an diesem Tag nach München gereist sind. Es sind fast alle dem Landgericht München II geht, zwar fast 70 Jahre Senioren, kaum einer ist unter 70; angereist aus den USA, vergangen sein mögen. Aber: Sie wirken bis heute wei- den Niederlanden und der Bundesrepublik. Alle sind Nach- ter. Wenn die Nebenkläger erzählen, dass sie den Bei- kommen von in Sobibor Ermordeten oder haben das Ver- stand ihrer Eltern beim Heranwachsen schmerzlich nichtungslager selbst überlebt. Dass sie vor Gericht auftre- vermisst haben, dass sie Brüder und Schwestern oder ten können, liegt an einer juristischen Besonderheit: Nach andere Verwandte nur als ganz blasse Kleinkinder- deutschem Strafrecht haben Opfer von Straftaten und deren Erinnerung im Gedächtnis haben, weil diese in Sobibor Angehörige das Privileg, sich selbst am Prozess zu beteili- vergast wurden, und dann Tränen fließen oder die gen, Fragen zu stellen und sich so in das Verfahren einzu- Stimme bricht, dann wird die Kontinuität von Ge- bringen.12 Am ersten Prozesstag sind von den insgesamt 35 schichte sehr authentisch erlebbar. Nebenklägern etwa 20 angereist. Ihretwegen gibt es Simul- tan-Dolmetscherinnen für die niederländische und die eng- Wir Journalisten lernen manche dieser Menschen bald sehr lische Sprache. schätzen. Als der Sobibor-Überlebende Jules Schelvis als Zeuge vernommen wird – er kommt im dunklen Anzug, mit Die Nebenkläger verleihen dem Prozess eine Art „histo- Krawatte und Ordensnadel am Revers –, ergibt sich ein be- rische Aura“, viel mehr als der Angeklagte, der an ei- merkenswerter Kontrast zum Auftreten des Angeklagten,

12 So die allgemein verständliche Darlegung bei Wefing (wie Anm. 3), S. 129.

138 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Polnische Juden werden vor dem Erschießen von deutschen Soldaten in einem Graben bewacht, Belzec oder Sobibor, um 1941.

der teilnahmslos in seinem Bett liegt und fast immer seine klagten vortragen. Alle drei erklären ihn letztlich überein- Baseball-Mütze über den Kopf zieht, als gehe ihn das stimmend für eingeschränkt verhandlungsfähig. Nach ihrer Geschehen nichts an. Der eine bewahrt fast feierlich die Meinung kann gegen ihn bis zu drei Mal wöchentlich für Haltung, der andere zeigt Sturheit, ja Verachtung für die zweimal 90 Minuten pro Tag verhandelt werden.13 Anwesenden. Zur Verlesung der Anklage durch Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz kommt es wegen der Verteidiger-An- Straftatbestand und Verteidiger-Strategie träge und der anderen Formalien erst am zweiten Verhand- lungstag. Der Kern der strafrechtlichen Vorwürfe handelt Der Auftakt am 30. November 2009 lässt zugleich jedoch von Beihilfe zum Mord, unter anderem an den Vorfahren ahnen: Es wird in München kaum „kurzer Prozess gemacht“ der oben erwähnten Nebenkläger. Als Hauptbeweismittel werden können. Ein frühes Indiz ist der erste Befangen- gilt auch in München von Beginn an der bereits aus den heitsantrag des Wahlverteidigers Demjanjuks, Dr. Ulrich Verfahren in Israel bekannte Dienstausweis Demjanjuks. Busch, gegen das Gericht, den dieser unmittelbar nach der Auf ihm ist eine Kommandierung nach Sobibor von Ende Verhandlungs-Eröffnung stellt (Busch wird im Lauf des März bis Mitte September 1943 notiert. Da zugleich exakte, Verfahrens mehr als 20 solcher Anträge stellen, alle werden so genannte „Transportlisten“ existieren mit den Namen von der übergeordneten Instanz abgelehnt.). Zudem rückt derjenigen Juden, die in dieser Zeit aus einem Lager in den von Beginn an eine der großen Unwägbarkeiten des Verfah- Niederlanden nach Sobibor deportiert wurden, lasse sich rens in den Blick: der Gesundheitszustand des Angeklagten. eine Zahl von mindestens 27.900 Ermordeten ermitteln, Gleich am ersten Tag lässt die Kammer drei medizinische erklärt Staatsanwalt Lutz in seiner Eröffnungs-Stellung- Sachverständige die gesundheitlichen Befunde des Ange- nahme. Demjanjuk habe durch seine Arbeit als Bewacher

13 Siehe Matthias Janson: Hitlers Hiwis. Iwan Demjanjuk und die Trawniki-Männer. Konkret Texte 51, Hamburg 2010, S. 74.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 139 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München bei der Ankunft und bei den Vorbereitungen für die Ver- beruflich über längere Zeit mit NS-Prozessen befasste, hat gasung in „gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung“ darüber ein bilanzierendes Buch verfasst, das in einem gehandelt, auch habe er nicht die bestehende Möglichkeit kleinen Fachverlag erschienen ist. Bezüglich der Trawniki einer Flucht aus dem Lager genutzt. kommt sie darin zu dem Urteil, es habe sich um ahnungslo- Neben einer Flut von Anträgen und Erklärungen se „Mitvollstrecker von Massenmorden gigantischen Aus- zeichnet sich bereits sehr früh der Versuch der Verteidigung maßes“ gehandelt, die sich (zudem) nur „freiwillig“ gemel- ab, das Holocaust-Geschehen mit anderen Verbrechen des det hätten, „um dem sicheren Tod durch Verhungern, Er- Zweiten Weltkriegs zu vergleichen und so zu verharmlosen. frieren oder Seuchen in den Lagern zu entkommen“.15 Ohne die Anwesenheit seines Mandanten in Sobibor einzu- Jüngere historische Forschungsarbeiten haben da- gestehen, erklärt der Anwalt des Angeklagten zum Beispiel gegen versucht, zumindest skizzenhaft die Struktur, Größe am vierten Verhandlungstag (21.12.2009) nach der Verneh- und Rekrutierungspraxis der Trawniki-Einheiten zu erfas- mung der Nebenkläger als Zeugen, deren Leid stehe „in sen. Sie lassen es als sicher erscheinen, dass die Einheiten einer Reihe“ mit dem Schicksal der Angehörigen der 3,3 nach Anfängen im Oktober 1941 für die „Aktion Rein- Millionen Soldaten der Roten Armee, die in Kriegsgefan- hardt“ (der Vernichtung der Juden im Generalgouverne- genenlagern der Wehrmacht gestorben seien. Den Neben- ment) von der SS zusammengestellt wurden. kläger Robert Cohen fragt Busch am gleichen Tag nach ei- nem „jüdischen Ordnungsdienst“ im Lager Westerbork:14 Als geeignet galten demnach Kriegsgefangene der Ro- Der sei „doch schlimmer gewesen als die Deutschen“. Erst ten Armee, vor allem, wenn diese zu den nicht-russi- die Ermahnung des Vorsitzenden Richters, er solle Belege schen Minderheiten der Sowjetunion gehörten, hier vor für seine Angaben bringen, lassen den Anwalt verstummen. allem zu den Wolgadeutschen, Balten, Ukrainern usw. Auch in dieser Hinsicht bieten die ersten Prozesstage Ver- In Trawniki, wo eine ehemalige Zuckerfabrik als Unter- haltensmuster für die gesamte Dauer des Verfahrens. bringung diente, erhielten die Hilfswilligen u. a. einen Dienstausweis mit Identifikationsnummer, Uniform DieTr awniki: „Historiker und Juristen und weitere Ausrüstungsteile; darüber hinaus mussten verstehen sich nicht“ sie eine Dienstverpflichtung unterschreiben.16 Zunächst bediente sich die SS der Trawniki bei der Räumung Die Literatur über die so genannten „fremdvölkischen der Ghettos; anschließend vor allem beim Betrieb und Hilfswilligen“ der SS stellt die meisten Journalisten (und der Bewachung der drei großen Vernichtungslager auch Juristen) im Demjanjuk-Prozess von Beginn an auf im Generalgouvernement: Belzec, Sobibor und eine harte Probe. Denn die Geschichte und juristische Stel- Treblinka.17 lung dieser Einheiten – wegen des Ausbildungsorts, dem Städtchen Trawniki südwestlich von Lublin im so genann- Wie kompliziert die Materie selbst für Fachleute ist, wird im ten „Generalgouvernement“, hat sich diese Sammel-Be- Prozess durch die Aussage des Historikers Prof. Dr. Dieter zeichnung eingebürgert – ist eine nur schwach beleuchtete Pohl deutlich. Der Wissenschaftler (heute Lehrstuhlinhaber Nische in der Täterforschung zum Holocaust. Auch eine an der Universität Klagenfurt, damals noch Mitarbeiter am sorgfältige Literatursuche erbringt bis zum Prozessauftakt Institut für Zeitgeschichte in München) wird zunächst im nur ganz wenige wissenschaftliche Aufsätze zu diesem The- Januar 2010 und dann im März 2010 insgesamt fünf Tage ma. Eine umfassende Monographie fehlt sogar ganz. Es lang als Sachverständiger befragt. Pohl, einer der führenden scheint, als hätten auch die Historiker die Tätigkeit dieser deutschen Holocaust-Forscher, versucht, seine Antworten Truppe als zu unwichtig eingeschätzt, um sich mit ihr ein- so gut wie möglich zu differenzieren. Denn die Interpreta- gehend zu beschäftigen. tion der Verhältnisse und Befugnisse der deutschen Haupt- Ob es an diesem Mangel liegt, oder daran, dass in täter beim Völkermord an den europäischen Juden ist Strafprozessen Juristen und nicht Historiker die Akteure schwierig. Vor allem gibt es selten klare Befehle und Ab- sind – jedenfalls beruft sich im Demjanjuk-Prozess die Ver- grenzungen durch Hitler, Himmler oder Göring. Vielmehr teidigung oft auf die Einschätzung der ehemaligen Ham- herrschen über weite Phasen geradezu eine Konkurrenz der burger Staatsanwältin Helge Grabitz. Grabitz, die sich Beteiligten und ein Gerangel um Kompetenzen.

14 Das Lager Westerbork war der Sammel- und Ausgangspunkt für die Transporte von niederländischen Juden in die Vernichtungslager. 15 Helge Grabitz: NS-Prozesse – Psychogramme der Beteiligten, 2Heidelberg 1986, hier: S. 61. 16 Siehe Angelika Benz: Von Ausbildern und Handlangern. Der Spagat zwischen Schuld und Rechtsprechung, in: Einsicht. Zeitschrift des Fritz-Bauer-Instituts, Ausgabe Herbst 2009, S. 32–36. 17 Eine gute Zusammenfassung des Forschungsstands bietet: Angelika Benz: Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München, Berlin 2011, hier vor allem S. 53–78.

140 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Typisch sind die Ausführungen Pohls in der Sitzung vom karte der Gemeinde Feldafing aus dem Jahr 1951 lautet der 13. Januar 2011, in der die Rekrutierung der Trawniki durch Eintrag dagegen: „1.9.1939 – Wohnort: Sobibor/Polen“ und die Deutschen erörtert wird. Die Stärke der Truppe schätzt bei der ersten Registrierung als Flüchtling im Jahr 1947 Pohl auf 4.000 bis 5.000 (wahrscheinlich 4.800) ein. Ein- heißt es: „Wohnort Januar 1938 – Chelm“.20 Bei den Beob- deutige Aussagen über die Disziplinarprobleme der Truppe achtern ergibt sich durch den Vergleich das Bild: Der An- scheut er jedoch: Einerseits spricht er von „hunderten von geklagte hat in den Jahren nach 1945 einen stark von takti- Desertionen“, erklärt aber auch, die Möglichkeit zur Flucht schen Erwägungen geprägten Umgang mit seinen Lebens- aus der deutschen Befehlsgewalt war abhängig von Ort, Zeit stationen gepflegt. und Umständen. Kompliziert ist auch die Bilanz der Ahn- Thomas Walther, Jahrgang 1943, zählt zu den dung von Vergehen durch die Deutschen. Welche Interpre- Schlüsselfiguren des gesamten Verfahrens. Manche nennen tationsprobleme sich für Historiker bieten, zeigt zuletzt die ihn auch den „Ideengeber und Antreiber“.21 Der Jurist hatte Frage, ob ein Trawniki als Soldat oder als Hilfspolizist ein- sich im Jahr 2006 vom Amtsgericht Lindau zur Ludwigs- zuordnen sei. Pohl bejaht hier den Status als Hilfspolizist, burger Zentralstelle versetzen lassen und war hier auf die was Verteidiger Ulrich Busch zu dem Satz provoziert: Abschiebe-Bemühungen der USA gegen John Demjanjuk „Ein SS-Wachmann ist plötzlich Hilfspolizist? Das ist ’ne (s. o.) aufmerksam geworden. schöne Rechtsfindung.“18 Angelika Benz kommentiert die Kommunikationsprobleme zweier Wissenschaften in ihrem Vor Gericht bringt er in seiner Vernehmung eine Art Buch über den Demjanjuk-Prozess zurecht so: „Historiker „Theorie“ vor, die es ermögliche, mit juristischen Mit- und Juristen haben es schwer miteinander. Für Juristen sind teln gegen den Angeklagten vorzugehen. Sie beginnt Dokumente unwiderlegbare Beweise, Quellenkritik ist mit dem Gedanken, die deutsche Justiz dürfe sich nicht kaum durchsetzbar. Der Historiker setzt dagegen ein Bild länger „linear“ mit den Verbrechen des NS-Staates aus- aus vielen kleinen Einzelteilen zusammen, von denen sich einandersetzen (d. h. in Kontinuität zur bisherigen manche durchaus widersprechen.“19 Rechtsprechung). Vielmehr erlaube das Strafrecht auch einen anderen Blick auf die Massentötungen von Juden. Demjanjuks Weg Denn im KZ-System habe es nur zwei Gruppen von Menschen gegeben: Herrschende und Beherrschte. Die Unbestritten von der Verteidigung bleibt bis zum Prozess- erste Gruppe habe nur ein Ziel gehabt: die Ermordung ende lediglich der Lebenslauf des Angeklagten bis zu seiner der zweiten. Deshalb brauche es den sonst im Strafrecht Gefangennahme durch die Wehrmacht im Mai 1942 bei vorgesehenen „Einzeltäternachweis“ nicht. Wer zur Kertsch auf der Halbinsel Krim. Der Ex-Traktorist Dem- ersten Gruppe gehört habe, sei automatisch ein Täter janjuk war demnach etwa zwei Jahre lang Soldat der Roten und müsse daher bestraft werden. Walthers souveräner Armee und hatte vor der Gefangennahme bei einem Einsatz Auftritt, den auch Verteidiger Ulrich Busch nicht bereits eine schwere Rückenverletzung erlitten. Für heftige durch Fragen erschüttern kann, hinterlässt einen tiefen Diskussionen sorgen vor Gericht dagegen immer wieder die Eindruck. Behauptungen des Verteidigers Busch, sein Mandant sei nach seiner Gefangennahme nie zu den Trawniki rekrutiert Der Kampf um die Beweismittel worden, sondern habe bis 1945 als Kriegsgefangener in ei- nem Lager überlebt. Die dem Gericht zur Verfügung stehenden Beweismittel Bis zur Karikatur beschäftigt sich der Zeuge Tho- sind der Öffentlichkeit teilweise bereits vor Prozesser- mas Walther in seiner Vernehmung am 2. und 9. Februar öffnung gut bekannt, was durchaus ungewöhnlich ist. Das 2010 mit dieser Strategie. In einem Schema, das er per Over- eklatanteste Beispiel dafür ist der Dienstausweis. Sowohl in head-Projektor auf eine Wand im Gerichtssaal werfen lässt, Israel wie auch in den USA hatten Urkunden-Sachver- zeigt Walther die stark abweichenden Versionen, die der ständige das Papier als echt eingestuft. Allerdings hatte es Angeklagte im Laufe der Zeit über seine Aufenthaltsorte bis jeweils auch abweichende Meinungen anderer Experten zum Kriegsende durch Behörden protokollieren lässt. So ist gegeben. in einem Hilfsantrag für die „International Refugee Organi- Aus diesen „Dissidenten-Meinungen“ versucht sation“ (der Vereinten Nationen) vom März 1948 angege- Verteidiger Busch auch in München immer wieder Kapital ben: „1937–1943 Kraftfahrer in Sobibor“. Auf einer Melde- zu schlagen, vor allem, als ein Sachverständiger des Bayeri-

18 So das Sitzungsprotokoll des Autors vom 13.1.2010 (Original im Besitz des Autors). 19 Janson (wie Anm. 13), S. 127. 20 Protokoll der Sitzung vom 2.2.2010 durch den Autor (Original im Besitz des Autors). 21 Siehe Wefing (wie Anm. 3), S. 87.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 141 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Duplikat des Ausweises der Vereinten Nationen vom 11.02.1948, der Demjanjuk als „Displaced Person“ und Flüchtling ausweist

schen Landeskriminalamts am 14. und 15. April 2010 seine einem Sachverständigen auf seine Echtheit überprüft wor- Erkenntnisse vorstellt. Das Urteil des Fachmanns, das Pa- den ist.22 pier enthalte so viele Einzelmerkmale, dass es praktisch kaum zu fälschen sei („Die Individualität ist überragend“), Immer wieder versucht Verteidiger Busch auch in den Sit- veranlasst die Verteidigung zu einer mehrstündigen Befra- zungen – bis in die Endphase hinein –, den Wert der Gutach- gung, bei der alle Zweifel und alle von den „Dissidenten- ten und die Kompetenz der Autoren zu untergraben mit Experten“ als Hinweise auf eine Fälschung bezeichneten dem Hinweis auf Ansichten, die deren Folgerungen und Eigenheiten des Dokuments durchgesprochen werden. Bilanzen entgegenstehen. So bezweifelt er z. B. die Fach- Überzeugen können die Einwände gegen das Gutachten kenntnisse des vom Gericht bestellten amerikanischen Mili- allerdings weder beim Dienstausweis noch beim dazu gehö- tärhistorikers Bruce Menning23 und des Dokumentensach- renden Foto, das ebenfalls für das Münchner Verfahren von verständigen Larry F. Stewart24 beziehungsweise rügt deren

22 Dieser Experte, ein pensionierter Beamter des BKA Wiesbaden, war am 13.4.2010 einvernommen worden; ein Bericht über den Verlauf der Verhandlung an diesem Tag findet sich bei Benz (wie Anm. 17), 2011, S. 142f. 23 Sitzungen vom 3.8. bis 6.8.2010. 24 Sitzungen vom 8.6. bis 10.6.2010.

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Parteilichkeit. Sein Insistieren, weitere Gutachter – insbe- Orientierung, was geschieht – und verlassen verwirrt die sondere aus dem Kreis der „Dissidenten“ – zu laden, weist Szene. das Gericht jedoch zurück. Die Gründe dafür sind nicht immer sofort einsich- Typisch ist zum Beispiel die Sitzung vom 5. Mai 2010, in tig, da nur wenige Zuhörer mit den Namen und den Vor- der das Gericht die Vernehmung von Erich Bauer geschichten etwas verbinden können. Kaum einer weiß, durch Verlesen als Beweismittel einführt. Bauer, 1950 dass alle entweder bei den israelischen oder den amerikani- als „Gasmeister“ von Sobibor vom Landgericht Berlin schen Verfahren bereits ihre Meinung bekundet haben. Mit- zum Tode verurteilt (später umgewandelt in „lebens- unter braucht es Monate, bis hier Aufklärung stattfindet langes Zuchthaus“), hat 1961 und 1962 Details des Tö- und sich herausstellt, dass die Argumente des Angeklagten tungsvorgangs in dem Todeslager zu Protokoll gegeben. und seines Prozessvertreters zumeist schwach sind. So wird So erklärt er unter anderem: „Wenn ein Judentransport der Rang eines Schriftsachverständigen, den Verteidiger nach Sobibor kam, war jeder vom Personal dabei, die Busch als „weltweit führend“ hervorhebt, erst entlarvt, als Ukrainer hielten Wache mit gezogenem Karabiner; der das Gericht Monate später die Begründung des israelischen Vernichtungsvorgang funktionierte wie ein Uhrwerk. Freispruchs für Demjanjuk verliest, in dessen Text der Jüdischer Widerstand war höchst selten.“ Und über das angebliche Fachmann erwähnt wird.25 Verhältnis der deutschen SS-Männer zu den Trawniki sagt Bauer aus: „Wir waren ein verschworener Haufen Lesestunden im Landgericht in einem fremden Land, umgeben von ukrainischen Hilfswilligen, auf die kein Verlass war.“28 Die Mehrheit der Verhandlungstage erweist sich das Dem- janjuk-Verfahren jedoch als „Urkunden-Prozess“ reinsten Von hoher Eindringlichkeit sind auch die verlesenen Aussa- Wassers. Das Beweismaterial umfasst am Ende circa 100 gen weiterer Zeugen des Geschehens in Trawniki und in Leitz-Ordner mit etwa 70.000 Dokumenten.26 Denn von Sobibor, so zum Beispiel des Polizisten Helmut Leonhard den 74 Tagen Beweisaufnahme27 entfallen die meisten auf und des SS-Wachmannes Hubert Gomerski. So sagt der – das Verlesen von Dokumenten, die in anderen Prozessen ebenfalls verurteilte – Gomerski 1961 aus: „Alle, die in Sobi- bereits eine Rolle gespielt haben. Überwiegend handelt es bor gewesen sind, sind mitverantwortlich […], jedem ein- sich dabei um Aussagen ehemaliger Angehöriger der zelnen war die Aufgabe von Sobibor bekannt […], wir SS-Wachmannschaften in Sobibor und im Ausbildungslager haben alle an einem Strick gezogen.“29 Trawniki oder um Aussagen von ehemaligen „Kameraden“ Häufig ist die Bedeutung der eingeführten Papiere Demjanjuks (d. h. Trawniki), die diese gegenüber sowjeti- jedoch zunächst nur schwer zu verstehen. Was hat eine Ak- schen Behörden gemacht hatten. tennotiz, die die Mitteilung eines SS-Hauptsturmführers Die Szenerie im Gerichtssaal während dieser „Le- vom 6. Mai 1943 über die Flucht von fünf Trawniki-Män- sestunden“ ist für zufällige Beobachter mitunter grotesk: nern festhält, mit dem Angeklagten zu tun? Welchen Wert Einer der drei Berufsrichter verliest das Dokument, simul- hat der Brief des Gendarmerie-Postens Wlodawa an den tan wird es von einer neben dem Angeklagten sitzenden Kommandanten des Lagers in Trawniki vom 26.12.1942, der Dolmetscherin ins Ukrainische übersetzt. Da sie öfter das die Festnahme von drei geflüchteten Trawniki meldet, für Tempo des Vortrags nicht mithalten kann, macht der Vor- das Münchner Verfahren?30 Nur wer diesen „Lesestunden“ leser immer wieder längere Pausen. Wer in einer dieser Pau- lange genug beiwohnt – quasi in „teilnehmender Beobach- sen den Sitzungssaal betritt, hört und sieht, wie alle Anwe- tung“ –, kommt auf den schlüssigen Gedanken: Das Gericht senden einer jungen Frau lauschen, die aus einem Aktenord- legt mithilfe dieser Dokumente eine Art „Puzzle“, um ner etwas Unverständliches halblaut in einer fremden Schuld oder Unschuld von John Demjanjuk beurteilen zu Sprache vorträgt. Viele Besucher, die einfach aus Neugier können. In Ermangelung von Dokumenten, in denen Dem- kurz in den Sitzungssaal hineinkommen, verlieren rasch die janjuk selbst erwähnt wird, rekonstruieren die Richter mit-

25 Siehe dazu die Verlesung des Urteils des israelischen Supreme Court durch das LG München am 21.12.2010. 26 Die Angabe ist entnommen: Robert Probst: Bühne für Ambivalenzen. Die Bücher zum Demjanjuk-Prozess beschäftigen sich mit der Suche nach Wahrheit und den Allüren von Juristen, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 145 v. 27.6.2011, S. 16. 27 Diese Zahl nennt der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung am 12.5.2011. 28 So das Protokoll der Sitzung vom 5.5.2010 (Protokoll im Besitz des Autors). 29 Laut Notiz der Sitzung vom 16.6.2010 (Protokoll im Besitz des Autors). 30 Beide Dokumente wurden in der Sitzung vom 14.9.2010 vorgelesen und damit in das Verfahren eingeführt.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 143 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München hilfe der „Urkunden“ aus jenen Jahren das historische Um- ich jetzt außerhalb des Gerichts: Sie benehmen sich unmög- feld von Sobibor und der Täter. lich.“32 Jenseits der Konfrontativ-Strategie gegenüber den Richtern Theatralische Momente und einigen der Nebenklageanwälte verfügt der Verteidiger aber auch über ein sehr waches Gespür für Inszenierungen Es soll nicht verschwiegen werden: Die meisten Tage, an – eine in Strafprozessen sehr nützliche Gabe. So verliest er denen das Gericht aus Dokumenten vorliest, sind ermü- an jenem Tag, an dem das Gericht die Beweisaufnahme dend. Gleichwohl ist der Demjanjuk-Prozess selten lang- schließen will, ein Papier seines Mandanten, das den pathe- weilig. Zwar wiederholt sich vieles beinahe an jedem Pro- tischen Titel trägt: „Dritte Erklärung von John Demjanjuk zesstag; so die fast allmorgendliche „Sitzungseröffnung“ in Deutschland“. Darin bezeichnet er das Münchner Ver- des Verteidigers Busch mit einem Befangenheitsantrag ge- fahren als „politischen Schauprozess“, in dem man Demjan- gen das Gericht oder einem Sachverständigen. Zumindest juk, einen „ … ukrainischen Bauern [,] für Verbrechen der aber beginnt er den Prozesstag in der Regel mit einer lan- Nazis schuldig zu sprechen versucht.“33 Busch weiß: An gen, kommentierenden Erklärung (die ihm die Strafpro- diesem Tag ist der Andrang von Journalisten und neugieri- zessordnung zubilligt) über das Geschehen des vorange- gem Publikum wieder groß. Sein Mandant hat sich für diese gangenen Tages. Gelegentlich reflektieren die Beteiligten Gelegenheit in der Haftanstalt auch aus einem Stück Karton sogar diese Rituale ironisch. So fragt der Vorsitzende Rich- ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift „1627“ ter den Verteidiger zum Beispiel am 16. März 2010 ironisch: gebastelt. Unter dieser Nummer soll in Moskau eine zen- „Sie haben keinen Antrag?“, woraufhin dieser eine Erklä- trale Akte des russischen Geheimdienstes geführt werden, rung nach § 257 der Strafprozessordnung verliest. mit allem, was über Demjanjuk bekannt sei. Das Gericht Für die Zuhörer im Saal stets packend (oder zumin- hatte den Antrag von Busch, die Akte aus Moskau anzufor- dest: amüsant) sind auch die häufigen Konfrontationen der dern, stets abgelehnt – aber auch der theatralische Coup Prozessbeteiligten. Die konkreten Auslöser dafür sind jenes Tages bleibt ohne Erfolg. schwer zu bestimmen. Mitunter entsteht der Eindruck, dass In eine ähnliche Kategorie fällt der überraschende Verteidiger Busch so die Vernehmung eines Sachverstän- Besuch der Demjanjuk-Tochter Irene in München am 9. digen hinauszögern will; bei anderen Gelegenheiten erge- Februar 2011. Er verfehlt jedoch in der Öffentlichkeit die ben sich die Wortgefechte gegen Ende der Befragungen der geplante Wirkung. Die Zeitungen vermerken kritisch, dass Sachverständigen durch Busch – so als gingen diesem nun diese ihrem Vater im Gerichtssaal eine weiße Rose über- die Fragen aus und als wolle er dies durch überpointierte reicht und sehen darin eine zweifelhafte Inanspruchnahme Bemerkungen kaschieren. Am 25. Oktober 2010 wirft der des Widerstands gegen Hitler. Verteidiger dem Gericht während der Befragung eines ehe- maligen US-Staatsanwalts, der in den Ausbürgerungsver- Ein Einzelgänger auf dem Kreuzzug? fahren tätig war, Unterdrückung von Unterlagen vor. Der ansonsten zumeist eher zurückhaltende Vorsitzende haut Dr. Ulrich Busch ist nicht Teilhaber einer größeren Kanzlei, daraufhin erregt mit der Hand auf den Richtertisch, was den sondern arbeitet als Einzelanwalt in Ratingen am Nieder- Verteidiger aber nur dazu provoziert, den Vorwurf zu wie- rhein. Gegenüber einer Zeitschrift hat er selbstkritisch er- derholen und um das Adjektiv „vorsätzlich“ zu verstär- klärt: „Ich glaube, ich bin nicht teamfähig.“34 Auch mit dem ken.31 Noch akzentuierter wird der Konfrontationskurs im vom Gericht bestellten Pflichtverteidiger Günther Maull, Frühjahr 2011, als bei der Inaugenscheinnahme von vergrö- einem arrivierten Münchner Anwalt, kommuniziert er wäh- ßerter Fotoaufnahme der Handschrift Demjanjuks der rend des Prozesses wenig. Dies führt unter anderem dazu, Vorsitzende dem Verteidiger nach einem längeren Dialog dass bei einer Gelegenheit Krankenakten des Angeklagten, laut zuruft: „Reden’s mir doch net dauernd rein. Das ist ja die ein konsultierter Professor an Maull geschickt hat, unerhört, wie Sie sich hier benehmen.“ Als der Verteidiger Busch nicht rechtzeitig vor einer Sitzung erreichen. Als der Aufforderung des Gerichts nicht folgt, der an diesem Busch dies in der Verhandlung beklagt und sagt, er habe sich Tag geladenen Sachverständigen Fragen zu stellen, unter- nicht auf die Aussage des Arztes vorbereiten können, nutzt bricht der Vorsitzende wegen des immer lauter werdenden der Vorsitzende Richter dies zu der Bemerkung: „Darum Disputs die Sitzung und erklärt im Hinausgehen: „Das sag hätten Sie sich schon selbst kümmern müssen. Ich werde

31 so im Protokoll der Sitzung vom 25.10.2010 vermerkt (Protokoll im Besitz des Autors). 32 laut Protokoll der Sitzung vom 2.2.2011. 33 Sitzung vom 22.2.2011 (Protokoll im Besitz des Autors). Die schriftliche Fassung der Erklärung Demjanjuks ist im Original in englischer Sprache verfasst, wurde aber vor Gericht in Deutsch verlesen. 34 siehe Wefing (wie Anm. 3), S. 173.

144 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

Blick in den Gerichtssaal des Landgerichts München II: Links oben sieht man, wie Demjanjuk auf einer Liege von Sanitätern in den Saal gebracht wird, 22.12.2009.

den Teufel tun, und die Ärzte anweisen, vertrauliche Pa- eines jeden Verhandlungstages einbringt, sondern ebenso tientendaten weiterzugeben.“35 den Stunden, die seine Befragungen der Sachverständigen An sein Mandat ist Busch über die familiären Wur- und Zeugen dauern. Logik und Sequenz der Punkte, die er zeln seiner Frau gekommen, einer Amerikanerin aus der dabei anspricht, erschließen sich nicht jedem Zuhörer. Der Nähe von Detroit, Tochter ukrainischer Einwanderer in die „Eindruck des Zerstreuten, des Chaotischen“37 wird noch USA.36 Vera Kostiuk-Busch begleitet ihren Mann zu fast genährt durch die Länge der jeweiligen Vorträge. Selten jeder Sitzung nach München, gibt ihm im Gerichtssaal, mit- spricht Busch kürzer als fünf Minuten, häufig braucht er unter durch kleine Zettel, Rückenstärkung und meldet ihm eine Viertelstunde oder mehr. Reaktionen des Publikums auf seine Interventionen und Er macht sich keine Freunde auf diese Weise, Redebeiträge. Darüber hinaus kann sich der Verteidiger scheint sich auch nicht darum zu bemühen, die beobach- auch auf die Kenntnisse der amerikanischen Anwälte seines tenden Journalisten für seine Sache einnehmen zu wollen. Mandanten stützen, mit denen er nach eigenen Angaben in Manchmal entsteht der Eindruck, je mehr er sich in die Ecke ständigem Kontakt steht. gedrängt fühlt, desto wohler ist ihm. Im privaten Gespräch Wer die Beteiligten des Demjanjuk-Prozesses unter durchaus charmant, fährt er während der Sitzungen und in dem Aspekt listen will, wie lang sie im Verlauf der Haupt- deren Pausen jeden an, der nicht seine Meinung teilt oder verhandlung sprechen, wird Ulrich Busch mit größter etwas Kritisches über ihn und seine Strategie publiziert hat. Wahrscheinlichkeit auf Platz 1 setzen müssen. Dies ist nicht Worin diese besteht, ist rätselhaft. Den Vorwurf der Verfah- nur der Zahl der Anträge geschuldet, die er fast zu Beginn rensverzögerung weist er zwar von sich, andererseits fragen

35 So laut Sitzungsprotokoll vom 25.11.2010 (Protokoll im Besitz des Autors). 36 Siehe dazu die Äußerung von Busch in dem Radio-Feature von Tim Aßmann und Rainer Volk: Ein alter Mann und seine Schuld, ausge- strahlt vom Bayerischen Rundfunk (Bayern2) am 12.6.2010 (13.05 Uhr–14.00 Uhr), die Äußerung findet sich im Sendeskript auf S. 14. 37 So Wefing (wie Anm. 3), S. 182.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 145 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München sich Nebenkläger wie Zuhörer, was Buschs Vorgehensweise Möglichkeit zur Flucht bestanden habe. Wann Busch – außer Zeitgewinn – erbringen sollte, wenn er einen bereits welche Theorie vertritt, hängt von den jeweiligen Sach- abgelehnten Antrag erneut stellt, wie dies häufiger ge- verständigen, Zeugen und Dokumenten ab, die im schieht, oder weitere Zeugen und Sachverständige zu hören Prozess gerade Thema sind. Auch dieses Vorgehen sorgt verlangt, von denen das Landgericht München bereits er- im Saal eher für Verwirrung als für mehr Verständnis klärt hat, dass es sie nicht vorladen will. für die Lebenssituation eines Mannes, dessen Schicksal Inhaltlich gesehen geht es dem Wahlverteidiger (er kaum beneidenswert ist. wird aus der Justizkasse bezahlt) um einen historisch be- merkenswerten Punkt. Seiner Ansicht nach soll der Dem- In den Sitzungswochen des Frühjahrs 2011 steigert Ulrich janjuk-Prozess –indem er einen ehemals ukrainischen Busch sein Vorgehen geradezu exponentiell: Da er – laut Staatsangehörigen als Angeklagten präsentiert –von der Strafprozessordnung – das Recht hat, Beweisanträge zu Schuld der Deutschen am Holocaust ablenken. Bereits bei stellen, ehe das Gericht die Beweisaufnahme beendet, be- seinem Auftritt am ersten Tag der Hauptverhandlung er- ginnt er in der Sitzung vom 23. Februar 2011 mit einem klärt Busch, die Trawniki seien gleichzusetzen mit Juden, Marathon-Monolog, in dessen Verlauf er circa 50 Anträge die als Arbeitshäftlinge in den KZ eingesetzt wurden; deut- stellt. Als der Vorsitzende Richter ihn in der darauf folgen- sche Täter habe die Justiz der Bundesrepublik in der Ver- den Sitzung am 1. März 2011 fragt, wie viele Schriftsätze er gangenheit nicht angeklagt oder sogar freigesprochen. Die noch habe, antwortet der Verteidiger, er brauche wohl noch Rede gipfelt in dem Satz: „Wer die Vergangenheit bewälti- zwei weitere Tage zu deren Vortrag und habe noch weitere gen will, muss die Verantwortung der eigenen Landsleute Anträge in Vorbereitung. Nach kurzer Beratung beschließt aufklären:“38 Konkret-historisch geht es Busch offensicht- das Gericht daraufhin, er habe seine Anträge von nun an lich darum, seinen Mandanten als Opfer eines großen anti- schriftlich einzureichen, da der Verdacht auf Prozessver- ukrainischen Komplotts darzustellen. So wird in der „3. Er- schleppung bestehe.39 Nach kurzem Zögern folgt Busch der klärung von John Demjanjuk“ vom 22. Februar 2011 eine Aufforderung des Vorsitzenden – es sind insgesamt 210, was große Linie von den gewaltigen Hungersnöten durch Stalin einige Berichterstatter zu der Gesamtrechnung führt, die im Jahr 1938 („Holodomor“) über die Jahre des Zweiten Verteidigung habe in diesem Verfahren circa 500 Beiträge Weltkriegs bis in die Breschnjew-Ära gezogen. Auch in sei- eingebracht.40 Als das Gericht diese in einem Beschluss vom nem mehrtägigen Schlussplädoyer (ab dem 3. Mai 2011) 17.3.2011 fast sämtlich zurückweist, spricht Busch bilanzie- geht Ulrich Busch ausführlich auf die Zahl der Todesopfer rend von seiner „völligen Chancenlosigkeit“ und einem ein, die in der Ukraine seit den dreißiger Jahren zu beklagen „erschütternden Fazit“.41 waren. Strafe ja, Haft nein – eine Bilanz Um die persönliche Unschuld seines Mandanten zu be- weisen, betreibt der Anwalt eine Art „Hütchen-Spiel“: Nach 93 Verhandlungstagen geht dieser Prozess am 12. Mai Einmal vertritt er die These, dieser habe nie zu den 2011 zu Ende – doch und endlich; denn dass er bis zu einem Trawniki gehört und habe den Krieg bis 1945 als Kriegs- Urteil geführt werden würde – und könnte –, war zu Beginn gefangener der Wehrmacht überlebt. Bei anderen Ge- der Hauptverhandlung, wie gezeigt, nicht sicher. Und dass legenheiten lässt er in seinen Vorträgen – zumindest es so lange dauern würde – deshalb das „endlich“ –, hatte hypothetisch – die Möglichkeit zu, dieser habe als anfangs kaum jemand geglaubt. „Hilfswilliger“ gearbeitet, ohne aber in Sobibor einge- Als der Vorsitzende Richter das Strafmaß verkün- setzt worden zu sein. Doch selbst wenn das zutreffe, det – fünf Jahre Freiheitsentzug wegen Beihilfe zu Mord in habe sein Mandant – so die dritte Arbeitshypothese – fast 28.000 Fällen –, scheint offensichtlich, dass die Verteidi- an den Tagen, an denen Judentransporte dort eintrafen, gung auf ganzer Linie gescheitert ist mit ihren Argumenten. Urlaub gehabt oder sei bei einem Außenkommando Etwa 90 Minuten später jedoch teilt das Gericht quasi im eingesetzt worden. Auf jeden Fall – vierte Variante – letzten Satz der Begründung mit, der Angeklagte werde habe dieser in putativem Notstand gehandelt, weil keine freigelassen, weil keine Fluchtgefahr bestehe, er sei ja Staa-

38 Laut Protokoll des Autors in der Sitzung vom 30.11.2009 (Protokoll im Besitz des Autors). 39 Protokoll der Sitzung vom 1.3.2011; im Besitz des Autors. Ob in der Sitzung von Seiten der Nebenkläger-Anwälte gesagt wurde, Buschs Absicht sei es, „das Gericht ins Kämmerchen zu schicken“, wie Wefing (wie Anm. 3, S. 171) schreibt, lässt sich durch dieses Protokoll nicht bestätigen. 40 Vgl. dazu auch den Artikel von Robert Probst: Beweisaufnahme abgeschlossen, in: Süddeutsche Zeitung, v. 18.3.2011; dort wird die Zahl von 470 Beweisanträgen Buschs genannt. 41 Laut Protokoll der Sitzung vom 18.3.2011 (Protokoll im Besitz des Autors).

146 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Der letzte Prozess seiner Art? Eine Bilanz des Demjanjuk-Verfahrens in München

werden dagegen rein formale Gründe angeführt, denen sich ein humaner Rechtsstaat nach allgemeiner Lesart nicht ent- ziehen könne. Ist der Staatsanwalt also der Sieger des Verfahrens? Dafür sprechen ebenfalls nur vordergründige Argumente. Denn das Gericht hat sich nicht grundsätzlich zu den Fluchtmöglichkeiten eines Trawniki aus Sobibor geäußert und auch nicht eingehend die „neue Theorie“ von Thomas Walther (Beihilfe zum Mord ohne konkreten Einzeltat- nachweis) gewürdigt.42 Dies wird – wenn Demjanjuk solan- ge lebt – wohl der Revision beim BGH in Karlsruhe vorbe- halten bleiben.

Auch andere Langzeitbeobachter des Geschehens äußern sich wenig befriedigt über Verlauf und Ende des Demjanjuk-Prozesses. Die Defizite eines Mordprozesses, bei dem die Tat fast sieben Jahrzehnte zurückliegt, sind allzu offensichtlich, trotz der umfangreichen Bemü- hungen der Justiz, an Beweismittel aller Art zu kom- men. Dazu kommen die heftigen Systembrüche des 20. Jahrhunderts, vom Ende der Hitler-Diktatur über den Kalten Krieg bis zum Zusammenbruch des Ostblocks. Sie haben dafür gesorgt, dass es keine Kontinuität und Transparenz bei der Archivierung von Täterakten geben konnte. Die „Puzzle-Rekonstruktion“ des Werdegangs von Demjanjuk zeigte dies stellvertretend. Mahnmal auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Es blieben Fragezeichen, wenngleich die Verteidigung Sobibor, Polen wenig dazu beitrug, diese durch kundiges Fragen deutlicher zu machen. tenloser. Mit dieser Verfügung, die den meisten Zuhörern Gleichwohl: Die Auftritte der Nebenkläger sind ein Indiz, im ersten Augenblick als totale Verkehrung des Urteilste- dass es einem Rechtstaat, der sich in Artikel 1 seiner Verfas- nors erscheint, hat die Verteidigung eines ihrer wichtigsten sung dem Schutz der Menschenwürde verpflichtet, bis zum Ziele im Endeffekt erreicht, nämlich die – wenngleich vor- letztmöglichen Zeitpunkt obliegt, mögliche Verbrechen läufige – Entlassung Demjanjuks aus der Haft bis zur Revi- gerade des Umfangs, wie er im Demjanjuk-Prozess aufzu- sion durch den Bundesgerichtshof. Eine ironische Wendung klären galt, zu ahnden. Dieser Versuch ist grundsätzlich lo- – gar ein salomonisches Urteil? benswert. Doch das Verfahren und seine Begleitumstände Für die Vermutung, dass die Richter letztlich doch haben gezeigt: Der zeitliche Abstand hat uns an eine Grenze nicht den Mut hatten, John Demjanjuk einzusperren, geführt, jenseits derer juristische Mittel zur Aufarbeitung spricht indes wenig. Zu eindeutig tritt die Urteilsbegrün- von rasseideologisch motivierten Verbrechen nicht mehr dung auf die Seite der Anklage und schließt sich deren Mei- taugen. Bezeichnenderweise wurden zwei ähnlich gelagerte nung an, dass der Angeklagte tatsächlich in Sobibor war und Anklagen gegen andere Trawniki inzwischen beendet, der dort bei der massenhaften Ermordung von Juden teilge- erste, weil der Beschuldigte kurz vor Prozess-Eröffnung nommen hat. Als mildernde Umstände erkennt die Kammer verstarb, der zweite, weil die Beweise nicht ausreichen und lediglich an, dass der Angeklagte sich in einer Zwangssitu- die Staatsanwaltschaft deshalb die Ermittlungen einstellte.43 ation zu den Trawniki rekrutieren ließ und dass seit der Tat Auch wenn das Strafrechtler betrüben mag: Irgendwann sehr viel Zeit vergangen sei. Für die – bedingte – Freilassung müssen sie den Historikern das Feld überlassen. II

42 Diese Kritik äußert zum Beispiel Lukas Hammerstein, in: Stumm vor Schuld, Online-Ausgabe der „Jüdischen Allgemeinen“ vom 12.5.2011; im Internet unter: www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/10344 43 Es handelte sich um die Fälle Kunz und Nagorny. Kunz, der in Belzec gedient hatte, sollte in Bonn angeklagt werden; das Verfahren gegen Nagorny – der im Demjanjuk-Prozess als Zeuge aufgetreten war – wurde dagegen erst vor wenigen Tagen laut einer Meldung der Deut- schen Presse-Agentur eingestellt.

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 147 Neuigkeiten bei der Landeszentrale

Neuigkeiten bei der Landeszentrale

Schutzgebühren für Publikationen

Ab 1. August 2011 wird die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Schutzgebühren für ihre Publikationen erheben; dies gilt auch bei Abholung in der Publikationsausgabe der Landeszentrale. Im Gegenzug verringert sich die bei Bestellungen zu entrichtende Versand- pauschale. Die Beträge der Schutzgebühr werden je nach Publikation zwischen 0,50 Euro und max. 8,00 Euro liegen. Etliche Publikationen zur Grundinformation (wie z. B. die Verfassungstexte, alleTitel der Grund- wissen-Reihe und die Zeitschrift „Einsichten und Perspektiven“) bleiben von der Änderung ausgenommen. Die genaue Betragsstruktur sowie die entsprechend geänderten Bezugsbedingungen finden Sie ab August 2011 auf unserer Internetseite (www.politische-bildung-bayern.de).

Für Selbstabholer wird in der Landeszentrale die Zahlung über einen Kassenautomaten abgewickelt. Dieser nimmt 50-Cent- und Zwei-Euro- Münzen sowie Euro-Scheine im Wert von fünf, zehn und 20 Euro an, gibt jedoch nur Münzen als Wechselgeld heraus. Eine bargeldlose Bezahlung ist leider nicht möglich.

Die Internet-Bestellseite wird in denTagen unmittelbar vor der Umstel- lung aus technischen Gründen nicht erreichbar sein. Schriftliche Bestellungen, die bei der Landeszentrale bis einschließlich 31. Juli 2011 eingehen, werden nach den bisherigen Bedingungen abgewickelt, es sei denn, die Neuregelung würde zu einem günstigeren Zahlbetrag führen.

Auch nahezu alle anderen Landeszentralen sowie die Bundeszentrale erheben inzwischen nach Zahl und Art der bezogenen Publikationen gestaffelte Bereitstellungspauschalen. Wir bitten für diese unumgäng- liche Maßnahme, mit der ein geringerTeil der Kosten auf die Nachfra- genden umgelegt wird, um Verständnis.

148 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Neue Publikationen

Neue Publikationen der Landeszentrale

sche Sowjetkommunismus auf der anderen Seite unver- söhnlich gegenüber. Und die Kalten Krieger belauerten sich in der Hauptstadt des ehedem gemeinsam niedergerunge- nen Kriegsgegners –in Berlin, jener Stadt, die als „Viersek- torenstadt“ die verschiedenen Besatzungszonen Deutsch- lands im Kleinen symbolisierte. Diese Sektoren stellten zwar durchaus abgeriegelte Interessens- und Machtbereiche dar, doch waren sie immer noch so durchlässig, dass es Monat für Monat Zehntausenden DDR-Bürgern gelang, durch das Schlupfloch Berlin dem Unrechtsregime des „real existierenden Sozialismus“ zu entfliehen. Rund 2,7 Mio. Menschen hatten zwischen 1949 und 1961 die DDR und Ost-Berlin in Richtung Westen verlassen. Diesem Massen- exodus sollte einen Monat nach Ulbrichts beschwichtigen- den Sätzen ein jähes Ende gesetzt werden. Die sogenannte „Aktion Rose“ lief in Berlin in den Morgenstunden des 13. August 1961 an. Gegen ein Uhr nachts begannen bewaffnete DDR-Grenzpolizisten, flan- kiert von sowjetischen Militärverbänden, die Grenze zwi- 50 Jahre Berliner Mauer und schen West- und Ostberlin zunächst mit Panzersperren und Stacheldraht zu verriegeln, bis diese am 18. August durch die Teilung Deutschlands eine Mauer aus Hohlblocksteinen ersetzt wurden. 28 Jahre sollte das in der DDR-Diktion als „Antifaschistischer Vorgeschichte, Perzeption und Folgen Schutzwall“ bezeichnete Symbol des Kalten Krieges sowie der innerdeutschen Grenze der Unterdrückung der Freiheitsrechte der Menschen im östlichen Teil Deutschlands das Land teilen und dabei zahl- reiche Todesopfer fordern. Das Themenheft der Landeszentrale spannt den „Ich verstehe Ihre Frage so: Dass es Menschen in West- Bogen von der politischen Vorgeschichte des Mauerbaus deutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der mit der Betrachtung des Machtgefüges zwischen Ostberlin Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzu- und Moskau über die Einstellungen und Reaktionen, wel- richten, ja? Eh, mir ist nicht bekannt, dass eine solche Ab- che die Errichtung auf beiden Seiten der Grenzlinie hervor- sicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt rief, bis zu den langfristigen politischen und mentalen Fol- hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre gen, die aus ihm erwuchsen. Die Publikation weitet den Arbeitskraft voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, Blick über die Hauptstadt Berlin hinaus auf die einstigen eine Mauer zu errichten.“ Zonenränder in Bayern, Thüringen und Sachsen aus, denn, so Miriam Müller vom Forschungsverbund SED-Staat in 50 Jahre ist es her, dass der DDR-Staatsratsvorsitzende Wal- ihrem Artikel in diesem Themenheft, „erst wenn sich die ter Ulbricht diese Worte sprach. Man schrieb den 15. Juni Menschen dort wieder zusammenfinden, wo die Trennung 1961, auf der weltgeschichtlichen Bühne standen sich die der Deutschen ihre tiefsten Spuren hinterlassen hat, ist die Demokratien des Westens auf der einen und der diktatori- Teilung tatsächlich überkommene Vergangenheit“. I

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 149 Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa in München Friedensnobelpreisträger Lech Wałe˛sa in München

Oben: Lech Wałe˛sa im Kaiser- saal der Residenz München

Rechts: Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle im Gespräch mit Lech Wałe˛sa

Rechte Seite: Lech Wałe˛sa diskutiert mit Schülerinnen und Schülern des Wilhelms- gymnasiums.

150 Einsichten und Perspektiven 2 | 11 Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa in München

Demokratie verbriefe, sondern auch Pflichten zu überneh- men. Lech Wałe˛sa erinnerte daran, dass es ohne den pol- nischen Papst Johannes Paul II. und den KPdSU-Chef Michail Gorbatschow den grundlegenden Wandel in Mittel- und Osteuropa nicht gegeben hätte. Noch knapp zehn Jahre vor dem Fall der Mauer, als 1980 die Gewerkschaft Solidarnosc die Streiks an der Danziger Lenin-Werft orga- nisiert hat, glaubte nach Einschätzung des ehemaligen pol- nischen Staatschefs niemand an eine grundlegende Reform im sowjetischen Einflussbereich. Es sei aber in den folgen- den Jahren gelungen, die feste Hoffnung auf einen Wandel tief in der Bevölkerung seines Landes zu verankern. Kultusminister Spaenle würdigte den ehemaligen Die Bayerische Landeszentrale für politi- Staatspräsidenten Lech Wałe˛sa als eine Persönlichkeit, die sche Bildungsarbeit organisierte gemein- mit festen Glauben, ausgeprägter Intelligenz, enormer Kraft sam mit dem Generalkonsulat der Repu- und einem gerüttelt Maß an Humor erfolgreich die jüngste blik Polen in München eine Begegnung europäische Entwicklung und damit auch Weltgeschichte mitgestaltet habe. Lech Wałe˛sa gehört für den Historiker mit einer der großen Persönlichkeiten Spaenle in eine Reihe mit Persönlichkeiten wie Papst des 20. Jahrhunderts: Der ehemalige pol- Johannes Paul II., Michail Gorbatschow und Helmut Kohl, nische Staatspräsident Lech Wałe˛sa kam die in ihren unterschiedlichen Rollen und in verschiedener Weise die Weichen für den Zerfall des kommunistischen am 18. Mai 2011 nach München, um an Regimes in Osteuropa und für den Aufbau demokratischer einer Podiumsdiskussion mit dem Bayeri- Gesellschaften dort gestellt haben. schen Staatsminister für Unterricht Mit der Person Wałe˛sa verbinde sich die Erinne- Dr. Ludwig Spaenle teilzunehmen und rung an Unterhöhlung und Einsturz der kommunistischen Regime, des letzten großen totalitären Diktaturgefüges auf um eine Münchner Schule, das Wilhelms- europäischem Boden, erklärte Spaenle. Die Leistung Wałe˛- gymnasium, zu besuchen. sas sei „naturgemäß zunächst eine polnische für Polen. Aber sie war ebenso eine europäische für Europa.“ Wałe˛sa habe etwas zutiefst Europäisches vorgelebt, das dem Geiste vor In dem Podiumsgespräch bezeichnete Wałe˛sa die Bundes- allem des christlichen Europas entspringe, nämlich: „Das republik Deutschland als „Motor für die Europäische Ent- Eigensein, die Beharrlichkeit, die Zivilcourage des Indivi- wicklung“. Den Mitgliedsstaaten der EU empfahl er einen duums selbst." intensiven Dialog um einen gemeinsamen Wertekonsens. Mit den Schülerinnen und Schülern des Wilhelms- Allein dieser werde sich als Grundlage für ein stabiles Eu- gymnasiums diskutierte Wałe˛sa über die historische Ent- ropa erweisen, das auch künftig Sicherheit, Frieden, Freiheit wicklung in seinem Heimatland. Er erinnerte an die Rolle und Wohlstand gewährleisten könne. Dazu müsse eine der Jugend bei der Revolution in Mittel- und Osteuropa – Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung treten, die nicht nur und auch bei den aktuellen Demokratiebewegungen in den der Gewinnmaximierung, sondern auch der sozialen Ver- arabischen Ländern. Die Schilderung seines Besuchs in Tu- antwortung verpflichtet sei. Die Bürger Europas mahnte nesien, bei dem er der jungen Regierung bei ihrem Weg in der Staatsmann und –nach eigenen Worten –„Revolutio- die Demokratie als Berater zur Verfügung stand, stieß auf när“, nicht nur die Rechte wahrzunehmen, die ihnen die großes Interesse bei den Schülerinnen und Schülern. I

Einsichten und Perspektiven 2 | 11 151 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Publikationen der Landeszentrale zu den Schwerpunktthemen dieser Ausgabe

50 Jahre Berliner Mauer Die Bundesrepublik Steinerne Zeugnisse und dieTe ilung Deutschland. Eine Bilanz jüdischen Lebens in Deutschlands nach 60 Jahren Bayern 2011 698 Seiten, 2008 (D 70) 368 Seiten, 1992 (A85)

Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de