Stefan Marschall (Hg.) Parteien in NRW

Stefan Marschall (Hg.)

Parteien in NRW Liebe Leserin! Lieber Leser!

Die Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen fördert die politisch bildende Literatur, indem sie entsprechende Buchprojekte konzeptionell und redaktionell begleitet sowie finanziell unterstützt. Auch dieses Buch ist mit maßgeblicher Beteiligung der Landeszentrale entstanden.

Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen

1. Auflage Juni 2013 Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen (www.k-mw.de) Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen ISBN ePDF 978-3-8375-1116-1 ISBN Print 978-3-8375-0771-3 Alle Rechte vorbehalten © Klartext Verlag, Essen 2013 www.klartext-verlag.de Inhalt

Parteien in Nordrhein-Westfalen – Einleitung 7 Stefan Marschall

I. Querschnittsperspektiven Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen . 17 Christoph Nonn Das NRW-Parteiensystem im Wandel – Ein schleichender Prozess? . . 37 Christoph Strünck Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW – Von den Freiheiten der Landesverbände 57 Heike Merten Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen ...... 71 Marcel Lewandowsky Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen ...... 91 Jürgen Mittag Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen – Das Beziehungsgeflecht von Politik und Medien aus journalistischer und parteipolitischer Sicht ...... 107 Melanie Diermann Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen 127 Christoph Bieber Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen – Ein Nullsummenspiel? 145 Andreas Kost NRW-Parteien auf Bundesebene 165 Karl-Rudolf Korte Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen ...... 185 Uwe Andersen Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen ...... 203 Andreas Blätte und Karina Hohl II. Parteienprofile Die SPD in Nordrhein-Westfalen – Aus der Diaspora zur temporären Hegemonialmacht ...... 221 Sebastian Bukow Die CDU in Nordrhein-Westfalen – Zwischen elektoraler Dominanz und landespolitischer Marginalisierung ...... 239 Martin Florack Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen – Der lange Marsch in die Mitte 257 Niko Switek Die FDP in Nordrhein-Westfalen – Multikoalitionsfähige Partei des programmatischen Wandels ...... 275 Jan Treibel Die Piraten in Nordrhein-Westfalen – Newcomer an Rhein und Ruhr zwischen Transparenz und Protest . . 293 Marcel Solar Die Linke in Nordrhein-Westfalen – Zu links, um erfolgreich zu sein? . 311 Tim Spier NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde – Die KPD/DKP . . . . 329 Till Kössler NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde – Die Deutsche Zentrums-Partei ...... 345 Ute Schmidt Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen – Die »Sonstigen« . . . . . 363 Katharina Hanel und Nadja Wilker Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen 377 Lazaros Miliopoulos

III. Dokumentation – Anhang A. Wahlergebnisse 394 B. Kabinette/Koalitionen in NRW seit 1947 ...... 400 C. Parteimitglieder in NRW seit 1990 404 D. Auswahlliteratur ...... 409 E. Parteien- und Personenverzeichnis ...... 413 F. Verzeichnis der Autoren/-innen ...... 417 Stefan Marschall links: Stefan Marschall rechts: Parteien in Nordrhein-Westfalen Parteien in Nordrhein-Westfalen Einleitung

Moderne Demokratien sind Parteiendemokratien. Parteien haben sich zu den zentralen politischen Organisationen entwickelt und sind auf allen Ebenen der Politikgestaltung zu finden: auf der nationalen, ebenso auf der kommunalen Ebene und in der Europäischen Union. Sie sind auch – und das ist das Thema dieses Buches – von der Landesebene nicht mehr wegzudenken. Parteien übernehmen Aufgaben, die für die Demokratie existenziell sind. Sie verbinden – so zumindest die Theorie – die Bürgerinnen und Bürger mit den politischen Entscheidungseliten; sie organisieren, vertreten und artikulieren Interessen, sie rekrutieren das politische Personal und treten bei Wahlen an. Zugleich gehören Parteien zu den umstrittensten politischen Organisationen. In der Wissenschaft, in den Medien, aber auch von Parteien selbst wird ihre Rolle kritisch betrachtet – insbesondere im Lichte dessen, was als eine zunehmende Entkopplung oder Entfremdung zwischen Parteien und Bürgern bezeichnet wird. Diese Entkopplung, die mit dem Schlagwort Parteienverdrossenheit ver- sehen wird, manifestiert sich unter anderem im sinkenden Vertrauen in Parteien und im insgesamt dramatischen und anhaltenden Rückgang der Parteimitglied- schaft. Zugleich haben Parteien ihre zentrale Stellung in der Politik wie auch ihre Bedeutung in anderen gesellschaftlichen Bereichen behauptet und mitunter noch ausgeweitet. So baut sich eine Spannung zwischen der rückläufigen gesellschaft- lichen Verankerung der Parteien einerseits und ihrer expansiven Machtposition andererseits auf. Ob sich somit die Parteiendemokratie – und mit ihr die gesamte repräsentative Demokratie – in einer »Krise« befindet, ist freilich fraglich. Zu oft sind in den vergangenen Jahrzehnten solche Krisen diagnostiziert worden, ohne dass sich das System in seiner Substanz geändert hätte. Nichtsdestoweniger kann diese Spannung langfristig zur Korrosion oder gar Erosion der repräsentativen Demokratie führen. Von dieser Spannung sind auch die Parteien auf Landesebene betroffen. Landesparteien sind ein Phänomen des deutschen Föderalismus. Dies zeigt sich in den Ähnlichkeiten und in den Unterschieden zwischen den Parteiensystemen des Bundes und der Länder. Der föderale Aufbau der Bundesrepublik bringt

7 Stefan Marschall eine partielle Autonomie der Länder mit sich, die sich in den unterschiedlichen Parteienlandschaften niederschlägt. Unterschiede werden dann evident, wenn sich die jeweiligen Landesverbände, die unter dem Dach einer Bundespartei befinden, sowohl von der Mutterpartei, aber auch von den Schwesterverbänden unterscheiden, zum Beispiel hinsichtlich ihrer Programmatik. Noch deutlicher wird die Eigenständigkeit der Parteiensysteme der Länder daran, dass einige Parteien und Wählergruppen nur in einzelnen oder wenigen Bundesländern aktiv sind. All dies weist darauf hin, dass sich in den Ländern eigene und unterschied- liche (partei-)politische Kulturen herausgebildet haben. Dass dies der Fall ist, kann mit dem Blick auf die historischen Grundlagen nicht wirklich verwundern, haben sich doch in einer Reihe von Ländern politische (Parteien-)Systeme heraus- gebildet, noch lange bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden ist. Dabei wurden mitunter regionale Traditionen aufgegriffen; die Parteienland- schaften der Länder sind pfadabhängig entstanden. Und trotz aller angestrebter »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet« (Art. 72 des Grundgesetzes) sind die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen von Land zu Land höchst unterschiedlich und durch die Deutsche Einheit noch heterogener geworden. Auch dies spiegelt sich in der landesspezifischen Heraus- bildung und Entwicklung der Parteiensysteme. Zugleich – und dies macht den bundesdeutschen, föderalen Charakter aus – sind die Parteiensysteme und die Parteien mit den anderen Ebenen, insbesondere mit der Bundesebene verflochten. Diese Verflechtung ist reziprok, sie wirkt in beide Richtungen: Die Parteien in den Ländern werden von bundespolitischen Trends und Strukturen oder von bundespolitischen Akteuren beeinflusst, allemal wenn sie einen Landesverband einer föderal organisierten Partei bilden. Die Ent- wicklungen, Parteigliederungen oder Politiker der Landesebene können zugleich aber wieder Einfluss auf die Bundesebene nehmen. Insofern ist eine Beschäftigung mit der Parteienlandschaft der Länder auch stets eine Auseinandersetzung mit der Politik auf Bundesebene – und mit dem deutschen Föderalismus. Dass die Parteienlandschaft Nordrhein-Westfalens eine besondere Rolle in Deutschland spielt, kann kaum überraschen. Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Land der Bundesrepublik – und eine Größe in Europa: NRW ist als politische Einheit bevölkerungsstärker als die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ein gewichtiger Anteil der deutschen Wählerinnen und Wähler lebt in diesem Land; ein großer Anteil aller Parteimitglieder in Deutsch- land stammt aus Nordrhein-Westfalen. Dabei ist NRW mit seinen Parteien und

8 Parteien in Nordrhein-Westfalen seinem Parteiensystem nicht nur wegen seiner schieren Größe oft ein Faktor in der Bundespolitik gewesen, sondern auch wegen seiner gefühlten Relevanz – allemal in Zeiten der Bonner Republik, als der bundesdeutsche Regierungssitz in diesem Bundesland lag. Das Land selbst ist ein Kind des Zweiten Weltkrieges und der Besatzungs- zeit, eines der deutschen Bindestrich-Länder, das aus vorher nicht historisch zusammengewachsenen Regionen komponiert wurde: aus Teilen der preußischen Rheinprovinz sowie der Provinz Westfalen und dem Land Lippe. In Nord- rhein-Westfalen herrschen auch heute noch unterschiedliche landschaftliche, wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten vor: Dass es diese Unterschiede immer wieder zu überwinden galt, wird als Ursache für die typische gesellschaftliche und politische Konsenskultur in NRW erachtet. Markant ist zum einen die großstädtische Prägung mit seiner Metropol-Region Rhein-Ruhr, zum anderen die für weite Teile typischen ländlichen und landwirt- schaftlichen Strukturen. Nicht zuletzt die jahrhundertelange Bedeutung von Kohle und Stahl für die Wirtschaft der Regionen, der Niedergang der Montan- industrie und die damit einhergehenden Strukturprobleme und der Struktur- wandel haben sich eingebrannt. Die Besonderheiten spiegeln sich auch in den Entwicklungen und Merkmalen des nordrhein-westfälischen Parteiensystems wider. NRW war nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt durch einen starken Katholizismus sowie einer Arbeiterkultur. So konnte hier die katholische Zentrumspartei, aber auch die KPD zunächst Fuß fassen. Frühzeitig reüssierten die neugegründete CDU und die SPD als dominante Parteien. Diese entstanden zunächst auf Bezirksebene; die vergleichs- weise spät entstandenen Landesverbände sind immer noch stark regional geprägt. Das Wahlverhalten fällt innerhalb des Landes höchst unterschiedlich aus; einige Regionen gelten als CDU-Hochburgen, andere als Hochburgen der SPD. Für viele gilt Nordrhein-Westfalen heute noch als das »Stammland der Sozialdemo- kratie«. Der Grad der Polarisierung innerhalb des Parteiensystems wird als mäßig eingestuft. Die SPD sei hier rechter und die CDU linker als andernorts. Die Grünen konnten sich erst vergleichsweise spät in NRW etablieren. Die FDP gilt hier als koalitionsoffener als andernorts. Die nordrhein-westfälische Parteien- landschaft ist in vielen Hinsichten ein Sonderfall. NRW wird aber auch von generellen Trends erfasst, die die Parteiensysteme der Länder und des Bundes zu verändern scheinen. Hierzu gehört eine wachsende Fluidität des Parteiensystems bei gleichzeitiger Beibehaltung von Lagerstrukturen sowie eine Abnahme der Bindungskraft der großen Parteien in Wahlen und in der

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Mitgliedschaft. Die Repräsentationsfähigkeit der Parteien auch in NRW scheint zu schwinden – auf der Folie von veränderten Kommunikationsformen und der Heterogenisierung moderner Gesellschaften und bei gleichzeitiger Zunahme der Verhandlungs- und Handlungserfordernisse in Mehrebenensystemen. Insofern eröffnet das Studium aktueller Entwicklungen der Parteienlandschaft in NRW, die gelegentlich als »Bundesrepublik im Kleinen« bezeichnet wird, auch Ein- blicke in generelle Trends der deutschen Parteiendemokratie. Mit dieser doppelten Perspektive, die Parteienlandschaft NRW einerseits als besonderen, aber vielleicht auch als exemplarischen Fall zu verstehen, beschäftigt sich dieses Buch. Dabei nimmt es die nordrhein-westfälische Parteienlandschaft möglichst umfassend in den Blick und vertieft respektive ergänzt vorliegende ver- gleichende Sammelbände, Monographien und Aufsätze zu den Parteiensystemen und Parteien der Länder. Es steht inhaltlich in einer Linie mit dem vor rund drei Jahrzehnten von Ulrich von Alemann herausgegebenen Sammelband (»Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen«, Köln 1985). Das Buch reiht sich ein in eine wachsende Gruppe von Studien zu den Parteienlandschaften der deutschen Länder. Der Band gesellt sich zu den Büchern über die Politik und das politische System in Nordrhein-Westfalen und leistet einen Beitrag zum Verständnis der Politik in diesem so wichtigen deutschen Land in Europa. Last but not least trägt es zur Debatte um die Parteien als wichtige und zugleich umstrittene politische Akteure in modernen politischen Systemen bei. Inhaltlich gliedert sich der Band in zwei Hauptteile: Im ersten werden partei- übergreifende Querschnittsperspektiven entwickelt, im zweiten Teil stehen einzelne Parteien oder Parteiengruppen im Mittelpunkt. Der erste Hauptteil (Querschnittsperspektiven) beschäftigt sich in einem ersten Schritt mit den Fundamenten des nordrhein-westfälischen Parteiensystems – zunächst mit den historischen. Das erste Kapitel von Christoph Nonn wirft einen Blick auf das historische Wurzelwerk der Parteien in Nordrhein-Westfalen, der bis ins 19. Jahrhundert hineinreicht, und spannt einen Bogen bis zum Beginn der vorläufigen sozialdemokratischen Alleinregierung 1980 unter . An diesem Punkt übernimmt das Kapitel von Christoph Strünck den Staffel- stab und wendet sich den jüngeren Entwicklungen des Parteiensystems zu, die entlang der Dialektik von »Kontinuität und Wandel« bis in unsere Tage tariert werden. Ein zweites, rechtswissenschaftliches Fundament wird in dem dritten Kapitel von Heike Merten gelegt. Dieses skizziert, welche Möglichkeiten das Wahl- und Parteienrecht für die autonome Entwicklung von Parteien auf Landes- und kommunaler Ebene bereithält.

10 Parteien in Nordrhein-Westfalen

Die sich anschließenden Kapitel wenden sich der Rolle der NRW-Parteien als intermediäre, d. h. zwischen Bürgern und Entscheidern vermittelnde Organisationen zu. Das Kapitel von Marcel Lewandowsky nimmt zunächst in den Blick, wie sich die NRW-Parteien in ihrer Organisation auf diese Ver- mittlungsrolle eingestellt haben und dabei die Gestaltungsmöglichkeiten auf Landesebene nutzen. Dabei steht unter anderem die Professionalisierung der Parteien im Brennpunkt, die sich auch in der Wahlkampfführung zeigt. Als inter- mediäre Organisationen stehen die Parteien zudem in Konkurrenz zu und Inter- aktion mit anderen Vermittlungssträngen zwischen der Gesellschaft und dem politischen System. In dem anschließenden Kapitel von Jürgen Mittag stehen die Verbände im Fokus, die mit den Parteien viele Vermittlungsaufgaben teilen und dabei ihnen gegenüberstehen respektive mit ihnen verbunden sind. Wie sich diese Partei-Verbände-Beziehung ausgestaltet und welchem Wandel sie unterliegt, ist Gegenstand des Kapitels. Mit der Interaktion zwischen Parteien und Medien beschäftigt sich das Kapitel von Melanie Diermann und wirft einen genaueren Blick auf die gegenseitige Wahrnehmung von Politikern und Journalisten auf der Landesebene. Das Kapitel von Christoph Bieber greift das Medienthema auf, indem es sich mit der Nutzung von Online-Medien durch die Landesparteien und deren Positionen in der Netzpolitik auseinandersetzt. Auch die direkte Demo- kratie verknüpft die gesellschaftliche Basis mit der politischen Entscheidungs- findung; oft werden diese Verfahren als Faktoren einer Entmachtung der Parteien gesehen; ob dies so ist und wie sich die NRW-Parteien zur direkten Demokratie in NRW positionieren, thematisiert das Kapitel von Andreas Kost. Am Ende des ersten Hauptteils beschäftigen sich drei Kapitel mit der Rolle von NRW-Parteien im Mehrebenensystem: Das erste (von Karl-Rudolf Korte) taxiert die Beziehung der NRW-Parteien zur Bundesebene und kommt zu dem Schluss, dass die NRW-Parteien – wie auch die aus anderen Bundesländern – in der Berliner Republik an Einfluss verloren haben. Nach dem Blick auf die Bundes- ebene folgt der Blick auf die kommunale Ebene; das Kapitel von Uwe Andersen beschäftigt sich mit Parteien auf der Ebene von Städten und Gemeinden; diese lokalen Parteiformationen bilden zum einen die Basis für demokratische Willens- bildung der Landes- und Bundesparteien, zum anderen und hauptsächlich ver- stehen sich die lokalen Parteien als Akteure der Kommunalpolitik. Hier kommen dann auch als kommunalpolitisches Spezifikum die »Rathausparteien« ins Spiel, die auf Landesebene kaum präsent sind. Schließlich sind die NRW-Parteien und -Politiker auch »europäisiert« worden; dies ist Thema des Kapitels von Andreas Blätte und Karina Hohl, welches anhand einer Analyse von Landtagsdebatten

11 Stefan Marschall veranschaulicht, wie, wann und unter welchen Bedingungen die Europäische Union in den Beiträgen der Parlamentsparteien präsent gewesen ist. Der zweite Hauptteil (Parteienprofile) wendet sich dann konkreten Parteien und Parteienfamilien zu und portraitiert diese. Dabei werden in den Kapiteln zunächst diejenigen Landesparteien hinsichtlich ihrer Gründung, Entwicklung, Organisation und ihrem programmatischen Profil skizziert, die in den ver- gangenen Jahren im Landtag vertreten waren oder immer noch sind. Zu Beginn werden die beiden großen Parteien, die bislang um die Regierungs- spitze rangen, vorgestellt: die SPD (von Sebastian Bukow) und die CDU (von Martin Florack). Beide Parteienprofile setzen sich damit auseinander, dass NRW als das Stammland der Sozialdemokratie gilt, aber auch in den Anfängen eine jahrelange Dominanz der CDU erlebt hat. Die NRW-Grünen sind mittler- weile – so der Tenor des Kapitels von Niko Switek – in der Mitte des Systems angekommen. Dabei steht sie als dritte Kraft mittlerweile in Konkurrenz zur FDP, deren jahrzehntelange Bedeutung als »Regierungsmacherin« in dem Parteienprofil von Jan Treibel im Mittelpunkt steht. Mit den Piraten hat 2012 eine neue Kraft den Landtag geentert – das Kapitel von Marcel Solar fragt, ob es sich hierbei um ein Strohfeuer oder um eine neue Konstante im NRW-Parteiensystem handelt. Die Linkspartei hat jedenfalls den Charakter einer Konstanten verloren: Sie ist 2012 nicht mehr in den Landtag gekommen; die zukünftigen Chancen der Links- partei ist eines der Themen des Kapitels, das Tim Spier zu dieser Partei erstellt hat. Dies leitet – auch in ideologischer Linie – zu einer weiteren ehemaligen Land- tagspartei über, deren parlamentarische Präsenz in tiefer Vergangenheit, in den ersten Jahren der Existenz des Landes, zu suchen ist: der KPD in NRW. Das Kapitel von Till Kössler schildert Aufstieg und Fall der kommunistischen Partei. Eine weitere Partei, die in den ersten Legislaturperioden im NRW-Landtag Parla- ment vertreten war, ist die Zentrumspartei; hierbei handelt es sich in seiner Aus- prägung um ein spezifisches NRW-Phänomen. Deren Bedeutung schildert das Kapitel von Ute Schmidt. Die »Neue Zentrumspartei«, als Nachfolgeorganisation des alten Zentrums, gehört heutzutage zu einer Gruppe von Parteien, die unter der Rubrik »Sonstige« geführt werden. Mit den hierunter verbuchten Kleinst- parteien in Nordrhein-Westfalen beschäftigt sich das Kapitel von Katharina Hanel und Nadja Wilker. Schließlich setzt sich das letzte Kapitel von Lazaros Miliopoulos mit einer Untergruppe der »Sonstigen« auseinander, die besondere Aufmerksamkeit erfordern: den rechtsextremen Parteien in NRW. Die angehängte Dokumentation, erstellt von Jonas Israel, liefert schließlich eine übersichtliche Zusammenstellung der bisherigen NRW-Wahlergebnisse auf

12 Parteien in Nordrhein-Westfalen kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene, der Regierungskoalitionen und -kabinette in NRW sowie der Mitgliederentwicklung der NRW-Parteien. Zudem findet sich in diesem Anhang noch Auswahlliteratur zum Thema. Vieles kann in dem Buch angesprochen und dokumentiert werden – vieles aus Platzgründen nicht. Deswegen haben wir auf einer Webseite noch weitere Informationen zum Thema Parteien in Nordrhein-Westfalen eingestellt – unter der (naheliegenden) Adresse: www.parteien-in-nrw.de. Abschließend gilt es noch denjenigen Dank zu sagen, die an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Zunächst und vor allem den 23 Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge geleistet haben und dabei auch bereit waren, ihre Kapitel einem mitunter mehrfachen Revisions- und Überarbeitungsprozess zu unterziehen. Ein herzlicher Dank geht an die beiden organisatorischen Kooperationspartner in diesem Publikationsprojekt. Zunächst an die Landeszentrale für politische Bildung NRW, die diesen Band in ihr Programm aufgenommen hat. Verbunden bin ich hier insbesondere Prof. Dr. Andreas Kost, der in diesem Projekt gleich mehrere Hüte aufhat: Er hat dieses Buch initiiert, selbst ein Kapitel geschrieben und schließlich die Veröffentlichung seitens der Landeszentrale mitbetreut. Der zweite Kooperationspartner, der Essener Klartext Verlag unter Leitung von Dr. Ludger Claßen, hat sich als konstruktiver und professioneller Partner im Prozess der Publikationserstellung erwiesen. Ein Glück auf ins Ruhrgebiet! Mir bleibt noch, all denjenigen aus meinem Düsseldorfer Team zu danken, die an der Erstellung des Buches mitgewirkt haben: Dr. Henrik Gast, Katharina Hanel und Nadja Wilker für inhaltliche Revisionen; Vanessa Schrader, Melissa Schiefer und Nadine Zwiener für die Assistenz bei der redaktionellen Manuskript- bearbeitung. Eine besonders wichtige Rolle hat Jonas Israel gespielt, für die ich ihm hiermit ausdrücklich danken möchte: Er hat den Serviceanhang erstellt, Manuskripte redigiert, aber vor allem den Publikationsprozess koordiniert, der bei 21 Beiträgen alles andere als unterkomplex war. Natürlich liegt die Ver- antwortung für dieses Buch letzten Endes beim Herausgeber, der sich über ein – gerne auch kritisches – Feedback sehr freuen würde.

Düsseldorf, im April 2013 Stefan Marschall

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I. Querschnittsperspektiven

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Christoph Nonn links: Christoph Nonn rechts: Historische Dimensionen des Parteiensystems Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen in Nordrhein-Westfalen

1. Die Entstehung von Parteien in der Revolution von 1848/49 Parteien sind im Rheinland und in Westfalen etwa zum selben Zeitpunkt ent- standen, als beide Landschaften zunehmend als eng miteinander verbunden wahrgenommen wurden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Bezeichnung »rheinisch-westfälisches Industriegebiet«. Seit 1815 gehörten West- falen und das Rheinland bereits politisch zu einem Herrschaftsraum: dem König- reich Preußen. Mit der Entstehung des Ruhrgebiets und der Rheinschiene im Lauf der Industrialisierung wuchsen beide nun auch wirtschaftlich zusammen. Von den Territorien, die seit 1946 Nordrhein-Westfalen bilden sollten, blieb nur Lippe von diesen Tendenzen lange unberührt. Aber wie das Rheinland und West- falen wurde auch Lippe 1848/49 von revolutionären Bewegungen erfasst, die von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Parteien waren. Zwar hatte es in den beiden preußischen Provinzen seit 1826, in Lippe ab 1836 ständische Versammlungen gegeben, die zum Teil bereits schon zum politischen Forum wurden. Vor allem oppositionelle Bewegungen gegen die absolute Fürstenherrschaft taten sich dabei hervor. Aber erst die durch die Revolution herbeigeführten, 1848 erstmals stattfindenden allgemeinen Wahlen schufen einen Zwang zur politischen Organisation, den die Mitglieder der ständischen Ver- sammlungen so nicht gekannt hatten. Zudem war die Gründung politischer Ver- einigungen vor der Revolution verboten, und die Presse wurde massiv zensiert. In den Ständeversammlungen konnte es deshalb kaum zu einer organisatorischen Verfestigung von einzelnen Interessengruppen kommen. Das gelang erst, als mit der Revolution 1848/49 grundlegende bürgerliche Freiheiten etabliert wurden. Die jetzt entstehenden politischen Gruppierungen unterschieden sich nicht nur während der Revolution, sondern bis 1918 und teilweise noch darüber hinaus hauptsächlich dadurch, welche Freiheiten für sie Priorität hatten. Am stärksten unter den oppositionellen Strömungen der Ständeversammlungen waren die- jenigen gewesen, die den größten Wert auf Presse-, Versammlungs- und Ver- einsfreiheit gelegt hatten. Aus dieser Strömung entwickelte sich die Gruppe der konstitutionellen Liberalen. Ihre Repräsentanten rekrutierten sich überwiegend

17 Christoph Nonn aus dem säkular eingestellten Besitz- und Bildungsbürgertum. Unterstützung fanden die konstitutionellen Liberalen besonders in protestantischen Regionen. Bei den 1848 stattfindenden Wahlen zur preußischen Nationalversammlung entsandte das stärker protestantisch geprägte Westfalen denn auch vor allem Konstitutionelle als Abgeordnete. Dagegen wurden im stärker katholischen Rheinland bereits 1848 mehr Delegierte gewählt, die großen Wert auf Glaubens- und Religionsfreiheit legten. Das schloss die Unterstützung der liberalen Forderungen nach verfassungs- mäßiger Garantie freier Presse, Rede-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit nicht aus – im Gegenteil: Die rheinischen Delegierten der preußischen Nationalver- sammlung erwiesen sich als treueste Anhänger der im März 1848 ernannten Regierung in Berlin, die von dem aus dem Aachener Raum stammenden Bankier und Liberal-Konstitutionellen Ludolf Camphausen als Ministerpräsident geführt wurde. Bis zur Gründung separater katholischer Parteiorganisationen auf nationaler Ebene sollte es auch noch gut zwei Jahrzehnte dauern. Lokal bildete sich mit den Piusvereinen jedoch schon zu Beginn der Revolutionsära ein dichtes organisatorisches Geflecht der katholischen Richtung, wobei freilich Doppel- mitgliedschaften in den gleichzeitig entstehenden konstitutionellen Klubs der Liberalen anfangs durchaus vorkamen. Als dritte Richtung kristallisierte sich während der Revolution 1848/49 die der Demokraten und Sozialisten heraus. Bereits während der Märzunruhen wurde besonders in den städtischen Gewerbezentren am Rhein und im Bergischen Land bei Volksversammlungen gelegentlich ausgerufen, man begehre nicht so sehr »Pressfreiheit«, sondern viel mehr »Fressfreiheit«. Wurden dabei also materielle Forderungen und solche nach sozialer Reform laut, wie sie etwa der im April 1848 gegründete Kölner Arbeiterverein vertrat, war es allerdings ebenso oft auch das Anliegen einer breiten politischen Vertretung der Unterschichten, die dem Ruf nach bürgerlichen und religiösen Freiheiten entgegengestellt wurde. Die Über- gänge zwischen der sozialistischen und der demokratischen Form dieser dritten Richtung blieben meist aber fließend. Und auch zu einer klaren Trennung von liberal-konstitutionellen und katholischen Gruppen ist es, wenn überhaupt, ebenfalls nur langsam gekommen. Als vierte und letzte Gruppe entwickelten sich schließlich die Konservativen. Zunächst rekrutiert aus den Anhängern der alten absolutistischen Ordnung, setzten sie sich anfänglich vor allem aus der adligen und verbeamteten Klientel des monarchischen Staates zusammen. Aus deren Abneigung gegen die »modernen« Formen der Parteibildung erklärt sich ihr später Start. Nach kurzer Zeit

18 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen formierten sich jedoch auch die Konservativen zumindest in den 1848 gewählten Parlamenten organisatorisch, und die lokale Organisationsbildung ließ nicht lange auf sich warten. Damit begannen sie dann auch unter den Anhängern der konstitutionellen und katholischen Richtung zu werben. Kontakte zu den Repräsentanten dieser Richtungen und programmatische Zugeständnisse an diese waren die Folge. Statt die Gewährung politischer Freiheiten im Interesse alter Privilegien zu bekämpfen, wurde die evolutionäre Verbindung von beiden zum konservativen Ziel. Die Verteidigung religiöser Traditionen einerseits, adliger Interessen gegen absolutistische Willkür des Monarchen andererseits bildeten Gemeinsamkeiten mit Katholiken und Konstitutionellen. Nur zwischen Demo- kraten und Konservativen gab es kaum Berührungspunkte.1

2. Von der Revolution zur Reichsgründung (1849–1871)

Nachdem die revolutionäre Bewegung 1849 durch konservative und monarchische Kräfte niedergeschlagen worden war, waren es so vor allem die Demokraten, deren politische Organisationen verfolgt und zerschlagen wurden. Die Presse- zensur wurde wieder verschärft, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheiten ein- geschränkt. Das bedeutete für alle politischen Richtungen, die sich 1848 formiert hatten, einen Rückschlag. Während in Lippe die alten ständischen Vertretungen wiederbelebt wurden, fanden in Preußen konstitutionelle Liberale, katholische Gruppen und natürlich die konservative Richtung jedoch in dem 1849 eröffneten Abgeordnetenhaus ein neues Forum. Das Wahlrecht zum preußischen Abge- ordnetenhaus, das die Wähler in drei Klassen aufteilte und eine Repräsentation

1 Vgl. als neuesten Forschungsüberblick Jürgen Herres/Bärbel Holtz: Rheinland und West- falen als preußische Provinzen (1814–1888), in: G. Mölich (Hg.): Rheinland, Westfalen und Preußen – eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 151–173. Ausführlichere, nach wie vor lesenswerte Darstellungen bieten: Horst Lademacher: Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbands Rheinland, in: F. Petri/G. Droege (Hg.): Rheinische Geschichte, Band 3, Düsseldorf 1976, S. 483–569; Hans-Joachim Behr: Die Provinz Westfalen und das Land Lippe 1813–1933, in: W. Kohl (Hg.): West- fälische Geschichte, Band 2, Düsseldorf 1983, S. 47–89 und Alfred Hartlieb von Wallthor: Die landschaftliche Selbstverwaltung, in: ebd., S. 168–175. Gute Kurzfassungen für eilige Leser finden sich bei Wilhelm Kohl: Kleine westfälische Geschichte, Düsseldorf 1994, S. 198–207 und S. 210–215; Wilhelm Janssen: Kleine rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997, S. 293–324.

19 Christoph Nonn der wohlhabenderen Schichten begünstigte, erschwerte demokratischen Kräften den Zugang in das neue, vom Monarchen oktroyierte Parlament zusätzlich. Daher dominierten dort zunächst konservative Gruppen, die sich in der Mehr- zahl aus adligen Abgeordneten zusammensetzten, und stärker bürgerlich geprägte Zusammenschlüsse von Liberal-Konstitutionellen. Neben diesen anfänglich noch stark fluktuierenden Verbindungen bildete sich 1852 auch eine katholische Fraktion, deren Mitglieder überwiegend im Rheinland gewählt worden waren. Während der 1860er Jahre schwächte der preußische Verfassungskonflikt zwischen Liberalen und Konservativen allerdings die zwischen den Fronten stehende katholische Richtung – zumal die 1850 vom König gewährte Verfassung bereits weitgehende Religionsfreiheit zugestand. So waren es die Liberalen, die 1861 mit der Fortschrittspartei die erste moderne deutsche Partei begründeten. Einer ihrer Gründungsväter war der nach 1848 von den Konservativen zu den Konstitutionellen übergewechselte westfälische Adlige Georg von Vincke. Der in Düsseldorf geborene und über drei Jahrzehnte in einem Hagener Wahlkreis gewählte Arztsohn Eugen Richter wurde später Vorsitzender und dominierende Persönlichkeit der Fortschrittspartei. Ermöglicht wurde deren Gründung durch die Liberalisierung des Vereinsrechts während der so genannten »Neuen Ära« in Preußen nach 1858. Auf konservativer Seite hatte sich zwar schon im Gefolge der Revolution die so genannte »Kreuzzeitungspartei«, später in Konkurrenz mit ihr auch die »Wochenblattpartei« gebildet. Wie die Namen bereits andeuten, handelte es sich dabei aber nur um mehr oder weniger lockere Personengruppen, die sich zu dem von einer Zeitung verfolgten politischen Kurs bekannten. Über eine formelle Organisation verfügten diese Gruppen nicht – schon gar nicht in den beiden preußischen Westprovinzen Rheinland und Westfalen, aus denen auch keine ihrer prominenten Führungspersönlichkeiten stammte. Erst 1866 entstand mit der freikonservativen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus die Keim- zelle der ersten konservativen Parteibildung. An dieser Neugründung waren mit dem Bonner Juraprofessor Heinrich Achenbach und dem Saarindustriellen Carl Ferdinand Stumm dann auch zwei Abgeordnete aus der Rheinprovinz beteiligt. Während die Freikonservative Partei sich von den Altkonservativen um Kreuz- zeitung und Wochenblatt abspaltete, wurde ebenfalls 1866 die Nationalliberale Partei als Abspaltung der Fortschrittspartei gegründet. Die Nationalliberalen hatten ihren Schwerpunkt in den östlichen Provinzen Preußens, und nicht zuletzt besonders auch im 1866 von Preußen annektierten ehemaligen König- reich Hannover, dessen Gebiet weitgehend dem heutigen Niedersachsen ent-

20 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen sprach. Allerdings gehörte auch der aus Essen gebürtige Friedrich Hammacher, 1848 noch Demokrat, mittlerweile Vorsitzender des Essener Bergbauvereins und lange Zeit parlamentarischer Vertreter von Duisburg, zu den nationalliberalen Gründungsvätern. Sowohl die Gründung der Nationalliberalen als auch die der Freikonservativen Partei war eine Reaktion auf die Politik Bismarcks, die bis 1871 zur Einigung aller Staaten des Deutschen Bundes außer Österreich unter Preußens Führung führte. Freikonservative und Nationalliberale unterstützten diesen Einigungsprozess. Dadurch wurden sie zu Bündnispartnern und der parlamentarischen Basis von Bismarcks Politik.2

3. Das Kaiserreich (1871–1918): Etablierung und Modernisierung Die Gründung des Deutschen Reichs von 1871 verstärkte die Tendenzen zur politischen Organisation von weltanschaulichen und Interessengruppen in Form von Parteien. Mit dem Berliner Reichstag entstand wie schon 1848/49 ein in gleichen und direkten Wahlen gewähltes Parlament, das anders als noch die kurz- lebigen verfassunggebenden Versammlungen der Revolutionsära freilich keine vorübergehende Erscheinung blieb, sondern langfristigen Bestand hatte. Tat- sächlich war schon das Parlament des 1866 gebildeten Norddeutschen Bundes nach dem allgemeinen gleichen Männerwahlrecht gewählt worden – im Gegen- satz zum Preußischen Abgeordnetenhaus und den kommunalen Repräsentativ- organen, bei denen bis 1918 ungleiche Wahlsysteme bestehen blieben. Das Reichstagswahlrecht forcierte deshalb je länger, desto mehr den Ausbau der Parteiorganisationen. Dabei gab es freilich beträchtliche Unterschiede zwischen den politischen Richtungen.3

2 Vgl. Herres/Holtz, S. 173–184; Behr, S. 89–103; Kohl, S. 223–229; Janssen, S. 336–343. 3 Immer noch ein Standardwerk zur Entwicklung während des Kaiserreichs mit vielen Informationen auch zum Rheinland und Westfalen ist Thomas Nipperdey: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961. Statistische Befunde sind leicht zugänglich in Gerhard Ritter/Merith Niehuss: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980. Überblicke zur Zeit des Kaiserreichs in der Region, in denen die Geschichte der Parteien zumindest berührt wird, bei Behr: Die Provinz Westfalen, S. 103–121; Janssen, S. 355–370; Lademacher, S. 604–633; Kohl, S. 229–250; Veit Veltzke: Rheinland und Westfalen. »Reichslande« im

21 Christoph Nonn

Am schwächsten blieb die Parteiorganisation bei den Konservativen. Fast die gesamte Zeit des Kaiserreichs hindurch, bis in die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, stellten die Freikonservativen und die 1876 gegründeten Deutsch- konservativen Prototypen von Honoratiorenparteien dar. Formell organisiert waren sie lange Zeit lediglich in den Parlamenten als Fraktionsgemeinschaften. Nationale Parteistrukturen gab es darüber hinaus kaum. Die Freikonservativen verfügten sogar erst seit 1890 über einen Vorsitzenden; regelmäßige Parteitage fanden bei ihnen erst nach 1905 statt. Auf lokaler Ebene existierten meist ledig- lich klubähnliche, stark informell strukturierte Komitees, die in der Regel nur während der Wahlkämpfe aufeinander abgestimmte Aktivitäten entfalteten. Regionale Parteiverbände für Westfalen und die Rheinprovinz wurden erst wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gegründet.4 Bei Wahlen schnitten die Konservativen auf dem Gebiet des späteren Nord- rhein-Westfalens eher schlecht ab. Nur in stärker protestantisch geprägten Gegenden, wie im Fürstentum Lippe und dem westfälischen Regierungsbezirk Minden, gewannen sie während der Zeit des Kaiserreichs meist einen höheren Stimmenanteil als im nationalen Durchschnitt. Die Freikonservativen konnten auch im Regierungsbezirk Düsseldorf zumindest Achtungserfolge erringen. Von einzelnen Wahlen abgesehen fristeten sie sonst allerdings in der Region die Existenz einer Splitterpartei.5 Auch bei den Liberalen herrschten organisatorisch während des Kaiserreichs lange Zeit Honoratiorenstrukturen vor. Neben den Fraktionen in Reichstag und preußischem Abgeordnetenhaus existierten noch ungefähr bis zur Jahrhundert- wende allenfalls lokale Wahlkomitees, die meist nur ad hoc vor Wahlgängen aktiv wurden. Zwar sind spätestens in den 1880er Jahren auch regionale »Parteitage« etwa bei den Nationalliberalen der Rheinprovinz belegt. Diese dienten allerdings den Abgeordneten und der Parteiführung vor allem als Resonanzboden für

wilhelminischen Kaiserreich, in: G. Mölich (Hg): Rheinland, Westfalen und Preußen – eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 227–246. 4 Vgl. neben Nipperdey, S. 241–264, auch James Retallack: Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany 1876–1918, Boston 1988; Volker Stalmann: Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866 bis 1890, Düsseldorf 2000; Matthias Alexander: Die Freikonservative Partei 1890– 1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf 2000. 5 Ritter/Niehuss.

22 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen die Stimmung in den Ortsvereinen. Bindende Beschlüsse wurden dort nicht gefasst, und die Delegierten waren auch nur selten durch demokratische Wahlen legitimiert. Denn eine Mitgliederorganisation gab es zu diesem Zeitpunkt erst in Ansätzen. Das Abonnement einer Zeitung diente in gewisser Weise als Ersatz für Mitgliedsbeiträge; die ersten Berufspolitiker – wie bei dem Linksliberalen Eugen Richter – lebten als Journalisten von der Redaktion parteilich eingefärbter Zeitungen. Beginnend mit den späten 1890er Jahren bauten die liberalen Parteien im Rheinland und in Westfalen dann verstärkt eine moderne Organisation auf. Ansatzweise begannen sie sich nun zu Massenparteien zu wandeln. Haupt- amtliche Parteisekretäre wurden eingestellt, die allerdings meist von den Wahl- kreisvereinen besoldet wurden. 1913 gab es bei den Nationalliberalen 18 solcher Parteisekretäre im Rheinland und in Westfalen zusammen. Damit war der Organisationsgrad im Vergleich mit anderen Gegenden des Deutschen Reiches bereits ausgesprochen gut. Die nationalliberalen Vereine der Region stellten 1914 auch etwa die Hälfte aller Mitglieder der Partei: In Westfalen lag ihre Zahl bei über 43.000, im Rheinland bei fast 65.000. Die nationalliberale Partei der Rhein- provinz gab in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine eigene Presse- korrespondenz heraus. Bei den Linksliberalen waren die Zahlen der Mitglieder und auch der Parteisekretäre geringer, demokratische Vereinsstrukturen dagegen teilweise schon früher ausgeprägter. Auch bei ihnen gab es im Rheinland und in Westfalen viele Ortsvereine. Das organisatorische Übergewicht der beiden preußischen Westprovinzen in der Gesamtpartei war allerdings nicht so stark wie bei den Nationalliberalen.6 Mit ihren vermehrten organisatorischen Anstrengungen reagierten die Liberalen nicht zuletzt darauf, dass der von ihnen gewonnene Anteil an Wähler- stimmen und Parlamentsmandaten in den beiden preußischen Westprovinzen – wie fast im gesamten Deutschen Reich – tendenziell zurückging. In Lippe und dem westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg hatten National- und Links-

6 Wie bei den Konservativen fehlen auch für die Liberalen regionale Studien zur Parteient- wicklung im Kaiserreich. Vgl. neben Nipperdey, S. 86–240, besonders S. 101, S. 114–117, S. 187, S. 196, noch Alastair Thompson: Left Liberals, the State, and Popular Politics in Wilhelmine Germany, Oxford 2000, besonders S. 60 und S. 63; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 133–164; Nationalliberale Korrespondenz für die Rheinprovinz, Köln 1907–1918.

23 Christoph Nonn liberale zusammen bei den ersten Reichstagswahlen 1871 satte absolute Mehr- heiten gewonnen. Bei den letzten Wahlen vor dem Ersten Weltkrieg 1912 waren sie dort zwar weiterhin stark vertreten; die Mehrheit der Stimmen hatten sie allerdings verloren. In Lippe und im Regierungsbezirk Arnsberg gab es ebenso wie im Bezirk Minden, wo die Liberalen ebenfalls noch relativ gut abschnitten, protestantische Bevölkerungsmehrheiten. Von Anfang bis Ende des Kaiser- reichs unterdurchschnittlich blieb die Zahl der liberalen Wähler dagegen in den mehrheitlich katholischen Gebieten des Rheinlands. In den Regierungsbezirken Münster und Aachen, wo neun Zehntel oder mehr der Bevölkerung katholisch waren, hatte die Aufstellung liberaler Kandidaten in den meisten Wahlgängen nur rein symbolischen Charakter.7 Denn in den katholischen Regionen dominierte fast unangefochten die Zentrumspartei. Obwohl das Zentrum in allen katholischen Gebieten des Deutschen Reiches vertreten war, kam die größte Gruppe seiner Reichstags- abgeordneten doch stets aus dem Rheinland und Westfalen. Hier lagen auch die Wurzeln seiner Gründung: Nach vorbereitenden Besprechungen in Münster, Ahlen und Essen wurde mit dem Soester Programm 1870 die Partei de facto aus der Taufe gehoben. Unter den Gründungsvätern des Zentrums spielten die rheinischen Juristen Peter und August Reichensperger und ihre westfälischen Pendants Hermann und Georg von Mallinckrodt eine wichtige Rolle. Später nahmen die Kölner Karl Trimborn, Julius und Carl Bachem führende Positionen in der Partei ein. Wie bei den Konservativen und Liberalen war auch im Zentrum die Partei- organisation lange Zeit nur schwach ausgebildet. Die Mobilisierung der Wähler wurde zunächst fast ausschließlich von kirchlichen Vereinen übernommen. Die katholische Ortspfarrei fungierte gleichsam als lokales Parteisekretariat. 1890 wurde dann in Mönchengladbach der Volksverein für das katholische Deutsch- land gegründet, der zunehmend die Wahlagitation der Zentrumspartei übernahm. Mit schließlich über 800.000 Mitgliedern – davon die Hälfte aus dem Rheinland und Westfalen – wuchs er bis 1914 zu einem gewaltigen Massenverband heran, der für das Zentrum weitgehend die Funktion einer Parteiorganisation über- nahm. Da der Volksverein aber die Aufstellung der Kandidaten und die Politik der gewählten Zentrumsabgeordneten höchstens indirekt beeinflussen konnte,

7 Ritter/Niehuss.

24 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen blieb die Partei in ihrer Struktur im Wesentlichen weiterhin dem Modell elitärer Honoratiorenpolitik verpflichtet. Auch der langsame Aufbau von demokratisch strukturierten regionalen Parteiorganisationen im Rheinland und in Westfalen nach der Jahrhundertwende änderte daran bis zum Ersten Weltkrieg nur allmäh- lich etwas. Das Zentrum verdankte seine Entstehung dem Gefühl einer latenten Bedrohung der katholischen Kirche und ihrer Anhänger. Wie schon die rheinischen und westfälischen Katholiken im protestantischen Preußen, waren auch im 1871 gegründeten Deutschen Reich Katholiken eine Minderheit. Der als »Kultur- kampf« bekannt gewordene Versuch der Liberalen und Bismarcks, in dem neuen Reich die Einflussgebiete von Staat und Kirche deutlicher zu trennen als zuvor, verschweißte während der 1870er Jahre das katholische Milieu zu einer Einheit. Die damit geschaffene Klammer hielt die sozial außerordentlich verschiedenen Bestandteile des Milieus dann über Jahrzehnte zusammen. Das ersparte der Zentrumspartei freilich nicht heftige innere Auseinandersetzungen – zunächst vor allem zwischen katholischem Adel und Klerus einerseits, dem katholischen Bürgertum andererseits, später dann auch unter Einschaltung von Landwirten, Handwerkern und katholischen Arbeitern, die sich seit der Jahrhundertwende in eigenen Gewerkschaften organisierten. Obwohl die Erinnerung an den »Kultur- kampf« und geschicktes Lavieren der Führungselite ein Auseinanderbrechen der Partei noch bis 1933 verhinderte, franste das katholische Milieu an den Rändern doch zusehends aus. Das Zentrum verlor auch in seinen Hochburgen zusehends an Attraktivität und an Wählern. Im westfälischen Regierungsbezirk Münster etwa, wo die Partei vor der Jahrhundertwende noch sensationelle 95 Prozent aller Stimmen gewonnen hatte, waren es bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg 1912 nur noch zwei Drittel. Gleichzeitig wurde Köln, die »Krone des Zentrumsturms«, das seit den 1870ern stets von einem Zentrums- abgeordneten im nationalen Parlament vertreten worden war, von den Sozial- demokraten »erobert«.8

8 Thomas Bredohl: Class and Religious Identity. The Rhenish Center Party in Wilhelmine Germany, Milwaukee 2000; Herbert Lepper (Bearb.): Volk, Kirche und Vaterland. Wahlaufrufe, Aufrufe, Satzungen und Statuten des Zentrums 1870–1933. Eine Quellen- sammlung zur Geschichte insbesondere der Rheinischen und Westfälischen Zentrums- partei, Düsseldorf 1998; allgemein: Wilfried Loth: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1984;

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Der Aufstieg der SPD hier wie anderswo war ein Anzeichen dafür, dass im Lauf des Kaiserreichs religiöse Orientierungen für Wahlentscheidungen und damit auch für das Parteiensystem zwar nicht vollkommen an Bedeutung verloren, aber zunehmend hinter anderen Faktoren zurücktraten. Materiell begründete Gegen- sätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, aber auch zwischen Stadt und Land, Produzenten und Konsumenten von Nahrungsmitteln, wurden wichtiger. Die SPD als Partei, die sich als Interessenvertretung besonders der Industriearbeiter und darüber hinaus aller »kleinen Leute« verstand, profitierte davon besonders. 1875 aus einer Fusion des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemo- kratischen Arbeiterpartei entstanden, und seit 1890 schließlich unter dem endgültigen Namen antretend, war sie ein Unikum unter den politischen Organisationen der Zeit. Ihrer Struktur nach unterschied sie sich von Anfang an von den Honoratioren- klubs. In ihr verbanden sich die frühzeitig professionalisierte Arbeit einer schnell wachsenden Zahl von Berufspolitikern und hauptamtlichen Funktionären, die einen beispiellosen Parteiapparat oligarchisch lenkten, mit ebenso beispiellosen Strukturen zumindest formell innerparteilicher Demokratie. Dieser Parteiapparat ließ sich während des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 zwar in den Untergrund drängen. Dauerhaft zerschlagen werden konnte er aber durch solche Repressionen nicht. In der Rheinprovinz fanden sogar noch vor Aufhebung des Sozialistengesetzes wieder sozialdemokratische Regionalparteitage statt. Dieser organisatorische Vorsprung zahlte sich für die Sozialdemokraten auf dem Gebiet des späteren Nordrhein-Westfalens allerdings zunächst nur wenig in größeren Wahlerfolgen aus. Unter den Bedingungen des preußischen Drei- klassenwahlrechts, das Besitzende bevorzugte, hatten sie ohnehin keine Chance. Aber selbst bei Reichstagswahlen konnte die SPD bis in die 1880er Jahre in den stark katholisch und ländlich geprägten Regierungsbezirken Münster oder Aachen selbst kaum Achtungserfolge erringen. Nur im frühzeitig stark industrialisierten Regierungsbezirk Düsseldorf war sie schon bei den ersten Reichstagswahlen einigermaßen erfolgreich, vor allem in den protestantischen Gewerberegionen an der Wupper. Dort erreichte die SPD bis zum Ersten Weltkrieg Stimmenanteile, die über dem reichsweiten Durchschnitt lagen. Sonst blieb sie im Rheinland, in Westfalen und auch in Lippe allerdings darunter. Ländliche Prägung oder

Christoph Weber: »Eine starke, enggeschlossene Phalanx«. Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871, Essen 1992; Wahlergebnisse: Ritter/Niehuss. Siehe das Kapitel von Ute Schmidt in diesem Band.

26 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen katholische Färbung der meisten Wahlkreise stellte für die Sozialdemokraten in der Region ein dauerhaftes Handicap dar. Dennoch lässt sich die Geschichte der SPD hier während des Kaiserreichs weitgehend als eine Erfolgsgeschichte sehen. Keine andere Partei erlebte einen vergleichbaren Aufstieg. Keine profitierte so von Industrialisierung und fundamentaler Politisierung der Bevölkerung, die sich in der ganzen Region an der wachsenden Wahlbeteiligung ablesen lässt. Katholisches Zentrum, Liberale und Konservative sahen sich dadurch zunehmend gezwungen, das Organisationsmodell der SPD zum Vorbild zu nehmen und sich von Honoratioren- zu Mitgliederparteien zu wandeln.9

4. Folgen von Demokratisierung und Parlamentarisierung in der Weimarer Republik Der Organisationswandel der Parteien war in den letzten Jahren des Kaiserreichs bereits im Gange, wurde dann aber durch die Folgen der Revolution von 1918/19 noch einmal beträchtlich beschleunigt. Zum einen brachte die Revolution eine Demokratisierung des Wahlrechts zu den Gebietskörperschaften. Während bis 1918 für den preußischen Landtag und die kommunalen Mitbestimmungsorgane ein ungleiches und teilweise auch indirektes Wahlrecht gegolten hatte, wurde das Reichstagswahlrecht jetzt hier eingeführt. Durch die Parlamentarisierung des politischen Systems erhielten die Parlamente zudem einen deutlichen Funktions- zuwachs. Schließlich verdoppelte sich durch Einführung des Frauenwahlrechts auch die Zahl der Wähler. Alle Parteien reagierten darauf mit einem massiven Ausbau ihrer Organisation und ihrer Mitgliederwerbung. Das Zentrum gab in den frühen Jahren der Weimarer Republik die Zahl ihrer Mitglieder mit insgesamt knapp 300.000 an, und während für die rheinischen und westfälischen Provinzialorganisationen keine Zahlen vorliegen, waren diese jedenfalls mit Abstand die größten und galten als »vorbildlich organisiert«.10 Bei der linksliberalen Deutschen Demokratischen

9 Für die regionale Entwicklung der SPD während des Kaiserreichs immer noch unüber- troffen ist Jürgen Reulecke (Hg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974; siehe auch Nipperdey, S. 293–392, und Ritter/Niehuss. 10 Rudolf Morsey: Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966, S. 583–598, hier S. 591 f.

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Partei lag die Mitgliederzahl 1919 etwa viermal so hoch wie bei ihrer Vorgänger- organisation vor dem Ersten Weltkrieg. Die Zahl ging dann allerdings parallel zu den Wahlergebnissen der Liberalen bald wieder zurück, und die rheinischen und westfälischen Regionalverbände gehörten nicht zu den Hochburgen der Partei.11 Auch die SPD, die 1914 im ganzen Deutschen Reich schon eine Million Mitglieder hatte, legte zu Beginn der Weimarer Republik noch einmal zu, und erhöhte außerdem die Zahl ihrer Parteisekretariate massiv.12 Im Agitationsbezirk Westliches Westfalen gab es am Vorabend des Ersten Weltkriegs etwas über 25.000 eingeschriebene Sozialdemokraten, 1920 waren es 70.000. Wie bei den anderen länger etablierten Parteien sank die Mitgliederzahl danach jedoch ab, wenn sie auch über den Vorkriegszahlen blieb – im westlichen Westfalen halbierte sie sich während der späten 1920er Jahre auf etwa 35.000.13 Die SPD verlor vor allem Anhänger an die neugegründete KPD. Von deren Mitgliedern kamen 1920 erst 12.000 aus dem Rheinland und Westfalen; das war ein Zehntel der Gesamt- partei. Die Attraktivität der Kommunisten nahm aber im Verlauf der Weimarer Republik zu: 1924 zählte die KPD allein im Ruhrgebiet schon 24.000 Anhänger mit Parteibuch.14 Die meisten Parteien machten auch mehr oder weniger ernste Anstrengungen, ihre inneren Strukturen zu demokratisieren. Vielfach begünstigten der Ausbau der Organisation, die Zunahme der Zahl von Berufspolitikern und hauptamt- lichen Parteisekretären allerdings auch oligarchische Tendenzen. Insbesondere die Zentrumspartei experimentierte zudem mit einem System berufsständischer Beiräte. Das konterkarierte die Fortschritte in der innerparteilichen Demo- kratisierung und führte vielfach zu einer Zwitterstellung zwischen Honoratioren- und Mitgliederpartei.15 Bei den Wahlen in der Region setzte sich während der Weimarer Republik der langsame Abstieg des Zentrums in der Wählergunst, der in der wilhelminischen

11 Joachim Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1994, S. 31 und S. 33; Thompson, S. 39. 12 Nipperdey, S. 398 f.; Thompson, S. 63. 13 Bernd Faulenbach/Stefan Goch/Günther Högl/Karsten Rudolph (Hg.): Sozialdemo- kratie im Wandel. Der Bezirk Westliches Westfalen 1893–2001, Essen 2001, S. 333. 14 Siegfried Bahne: Die KPD im Ruhrgebiet während der Weimarer Republik, in: J. Reulecke (Hg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 315–354, hier S. 317. 15 Morsey; Nipperdey, S. 397 f.

28 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen

Epoche eingesetzt hatte, beschleunigt fort. Das Zentrum blieb aber noch bis zu den Reichstagswahlen vom Juli 1932 insgesamt stärkste politische Kraft in der Region. Die liberalen Gruppen konnten ihren geringeren Stimmenanteil dagegen während der 1920er Jahre zunächst erhalten, sanken dann aber Anfang der 1930er Jahre zu Splitterparteien hinab. Die SPD war bei den Wahlen zu Beginn der Republik sogar noch einmal deutlich erfolgreicher als schon im Kaiserreich. Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre wurden die Sozial- demokraten aber vom »Genossen Trend« zum ersten Mal seit ihrer Gründung verlassen. Die eigentlichen Gewinner der Wahlentwicklung zwischen 1918 und 1933 fanden sich ohnehin an den radikalen Rändern des Parteiensystems. Die KPD überflügelte die SPD im Rheinland 1930, im südlichen Westfalen 1932. Die konservative Deutschnationale Volkspartei schnitt in der ganzen Region während der 1920er Jahre besser ab als die Konservativen vor dem Ersten Welt- krieg. Zwischen 1930 und 1933 trat dann die NSDAP ihr Erbe an: In einem bei- spiellosen Aufstieg wurde sie nach dem Zentrum zweitstärkste politische Kraft in der Region. Freilich blieben die Nationalsozialisten damit auf dem Gebiet des späteren Nordrhein-Westfalens hinter ihren Erfolgen auf nationaler Ebene zurück. Daran konnte auch rheinische NS-Parteiprominenz wie Joseph Goebbels und Robert Ley nichts ändern. Selbst auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, bei den Reichs- tagswahlen vom Juli 1932, gewann die NSDAP in den westfälischen und nord- rheinischen Wahlkreisen zwischen 20 und 32 Prozent der abgegebenen Stimmen – und damit jeweils weniger als im Reichsdurchschnitt, wo sie mehr als 37 Prozent verbuchen konnte. Nur bei den Landtagswahlen in Lippe im Januar 1933 gelang es den Nationalsozialisten unter größter Konzentration aller Propagandamittel, dieses Ergebnis im Reich knapp zu übertreffen. Zwar konnten sie, ebenso wie die Kommunisten, offenbar überall von den Erschütterungen der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise profitieren. In den relativ zu anderen deutschen Regionen stärker katholisch, industriell und städtisch geprägten preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen blieb ihre Attraktivität für die Wähler jedoch vergleichs- weise begrenzt. Am erfolgreichsten waren die Nationalsozialisten dagegen in evangelischen und ländlich-kleinstädtisch geprägten Gebieten – wie eben Lippe.16

16 Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933, München 1986; vgl. auch Lademacher, S. 684–737; Janssen, S. 387–391; Kohl, S. 258–272; Behr, S. 140–154.

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Nach der Machtübertragung an die NSDAP lösten sich die anderen Parteien in der Region wie im übrigen Deutschen Reich entweder selbst auf oder wurden verboten. Organisierter Widerstand aus dem Untergrund, den vor allem die Kommunisten leisteten, wurde bis spätestens 1936 weitgehend zerschlagen. Nur in kirchlichen Organisationen und im informellen persönlichen Umgang blieben politische Bindungen außerhalb der nationalsozialistischen Einheitspartei fragmentarisch erhalten.17

5. Kontinuität und Neuanfang nach 1945

Umso auffallender ist die Kontinuität, mit der beim Wiederaufbau der Parteien- landschaft im 1946 gegründeten Land Nordrhein-Westfalen vielfach dort angeknüpft wurde, wo Parteiarbeit vor der Verwüstung durch die National- sozialisten abgebrochen worden war. Mit der SPD, der KPD und dem Zentrum entstanden nicht nur drei der 1933 aufgelösten Parteien unter gleichem Namen wieder. Die Kommunisten erzielten bei den ersten Landtagswahlen 1947 auch etwa das gleiche Ergebnis wie bei den Reichstagswahlen am Vorabend der Welt- wirtschaftskrise. Die Liberalen, als Freie Demokraten einmal mehr umbenannt, schnitten ebenfalls ähnlich ab wie damals. Die Zentrumspartei kam zwar 1947 nur noch auf zehn Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit setzte sie freilich den langfristigen Trend ihres Abstiegs in der Wählergunst seit 1900 fast geradlinig fort – war ihr Stimmenanteil in Rheinland-Westfalen seitdem doch schon von über 50 Prozent auf etwa 40 Prozent 1919 und ungefähr 25 Prozent 1928 gefallen. Von den wiedergegründeten Parteien schnitt allein die SPD mit knapp einem Drittel der Stimmen signifikant besser ab als während der Weimarer Republik.18 Dagegen führte die nationalsozialistische Herrschaft gerade auf konservativer Seite zu einem einschneidenden Bruch mit der Vergangenheit. Die Gründung

17 Anselm Faust (Hg.): Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933–1945, Köln 1992; Detlef Peukert: Die KPD im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr 1933–1945, Wuppertal 1980; Günter Plum: Die Arbeiterbewegung während der nationalsozialistischen Herrschaft, in: J. Reulecke (Hg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 355–383. 18 Zur Gründung der Parteien in NRW siehe nur den jüngsten Überblick im Standardwerk von Dieter Düding, Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946–1980, Düsseldorf 2007, S. 39–52.

30 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen der Christlich-Demokratischen Union bildet hier eine tiefe Zäsur. Sie ging nicht zuletzt auf die Initiative ehemaliger Zentrumspolitiker aus dem Rheinland und Westfalen zurück, darunter , der erster Vorsitzender der Bundes- CDU wurde. Die Partei wurde aber von vornherein ebenso von konservativen und liberalen Kreisen unterstützt, und sie integrierte schließlich auch eine beträcht- liche Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Die Idee einer überkonfessionellen Erweiterung war im Zentrum schon vor dem Ersten Weltkrieg diskutiert worden. Aber erst nach 1945 schien die Zeit dafür reif. Soweit religiöse Gegensätze das Parteiensystem fortan prägten, waren es jeden- falls kaum noch solche zwischen den Konfessionen, sondern zwischen säkularer und allgemein christlicher Orientierung. Auseinandersetzungen zwischen solchen Orientierungen prägten die Landespolitik vor allem in Schulfragen, wo das Land im föderalen System der Bundesrepublik zentrale Kompetenzen besaß, bis in die 1960er Jahre. Daneben wurde für die Entwicklung des Parteiensystems ein Streit um die Wirtschaftsordnung von entscheidender Bedeutung. Die nordrhein-west- fälische CDU hatte dabei wie die meisten anderen politischen Richtungen in den ersten Jahren nach 1945 noch auf eine stärker gemeinwirtschaftliche Aus- richtung gesetzt, die etwa eine Sozialisierung der Montanindustrien einschloss, wie sie im Ahlener Programm von 1947 gefordert wurde. Unter Adenauers Ein- fluss orientierte die Partei sich dann jedoch vor allem auf Bundesebene mehr zu marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien hin.19 Keine andere politische Gruppierung, mit Ausnahme nur des Zentrums in den 1870er Jahren, hat auf dem Gebiet Nordrhein-Westfalens einen schnelleren Aufstieg erlebt als die CDU. Gleichsam aus dem Stand wurde sie bei den ersten Landtagswahlen 1947 mit mehr als 37 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Partei. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts konnte sie dann kontinuier- lich weitere Anhänger gewinnen, bis sie schließlich über die absolute Mehrheit verfügte. Parallel zu diesem Aufstieg der Christdemokraten, und tatsächlich mit ihrer Gründung bereits beginnend, vollzog sich ein grundlegender Wandel des Parteiensystems. Das Vielparteiensystem, das die Politik in der Region seit den Anfängen organisierter politischer Interessenvertretungen in der Revolution von 1848 geprägt hatte, durchlief eine Phase der Konzentration. Das Zentrum schrumpfte während der 1950er Jahre weiter, bis es bedeutungslos geworden

19 Horstwalter Heitzer: Die CDU in der britischen Zone 1945–1949. Gründung, Organisation und Politik, Düsseldorf 1988.

31 Christoph Nonn war. Die KPD verlor unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts ebenfalls zunehmend an Anhängerschaft, bevor sie 1956, schon zur Splitterpartei herab- gesunken, verboten wurde.20 Neugründungen von anderen Parteien blieben kurzlebig oder schlossen sich, wie zum großen Teil auch die Reste des Zentrums, überwiegend der CDU an. Neben dieser waren 1958 im nordrhein-westfälischen Landtag, wie ein Jahr vorher bereits bei den Wahlen zum , nur noch die SPD und, von Zahl der Wähler wie Mitglieder deutlich schwächer, die FDP übriggeblieben. Aus dem Viel- war so ein Zweieinhalb-Parteiensystem geworden. Dieses ent- sprach offenbar nicht zuletzt den Veränderungen in der Gesellschaft. Durch das beschleunigte Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors in den 1950er Jahren verlor der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der lange von großer Bedeutung gewesen war, seine Relevanz fast vollkommen. Die konfessionellen Differenzen waren ebenfalls weitgehend eingeebnet. Die bleibenden Gegensätze zwischen christlicher und säkularer, zwischen stärker marktwirtschaftlicher und stärker gemeinwirtschaftlicher Orientierung wurden durch die Kontrahenten CDU und SPD abgedeckt, während die Liberalen als säkular-marktwirtschaftlich ausgerichtetes Weltkind in der Mitten Zünglein an der Waage und Mehrheits- beschaffer spielten. Am Ende der 1950er Jahre sah es angesichts der absoluten Mehrheit der Christ- demokraten allerdings zeitweilig so aus, als ob diese Funktion nicht mehr benötigt würde. Ohne die am Anfang des Jahrzehnts einsetzende wirtschaftliche Boom- phase, die der in Bund und Land regierenden CDU zu Gute gehalten wurde, ist die Wählerbewegung dieses Jahrzehnts kaum zu verstehen. Der Boom, angestoßen durch den Bedarf nach Rüstungsgütern für den Koreakrieg und strukturell unterfüttert durch den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Welt- kriegs, entschied auch den Streit zwischen gemein- und marktwirtschaftlicher Orientierung langfristig zugunsten der Letzteren. Bezeichnenderweise waren die Stimmengewinne der CDU bei den Bundestagswahlen in Nordrhein-Westfalen noch gewaltiger als bei den Wahlen zum Landtag, wo als christdemo- kratischer Ministerpräsident im Gegensatz zu Bundeskanzler Adenauer wesent-

20 Siehe das Kapitel von Till Kössler in diesem Band.

32 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen lich länger an einem wirtschaftspolitischen Mittelweg und der Kooperation mit den Sozialdemokraten festhielt.21 Mit dem Gewinn der absoluten Mehrheit in Land wie Bund war freilich 1957/58 für die Christdemokraten ein Höhe- und Wendepunkt erreicht. Bei den folgenden Wahlen ging diese komfortable Basis einer Alleinregierung wieder ver- loren, und der Anteil der für die CDU abgegebenen Stimmen bis zum Ende der 1960er Jahre zurück. Dagegen gewannen nun die Sozialdemokraten beständig Stimmenanteile hinzu. Bei den Landtagswahlen 1966 war es dann Heinz Kühn als SPD-Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, der nahezu die absolute Mehrheit erreichte: Denkbar knapp verpasste er sie um nur einen halben Pro- zentpunkt, konnte aber mit der FDP eine Koalition eingehen und dadurch die CDU nach fast zwei Jahrzehnten erstmals als Regierungspartei in Nordrhein- Westfalen ablösen. Für diesen ersten Machtwechsel in der Geschichte des Bundeslandes lassen sich einige Gründe ausmachen. Zum einen wurde in den 1960er Jahren der Höhepunkt der Entwicklung des industriellen Sektors erreicht. Das stärkte die Milieus, aus denen traditionell die SPD ihre Hauptunterstützung bezog. Zum anderen kündigte sich mit Bergbau- und Stahlkrise gerade im industriell geprägten Zentrum des Landes an Rhein und Ruhr zuerst das Ende des Nach- kriegsbooms an. Die oppositionellen Sozialdemokraten profitierten davon ebenso wie von Ressentiments gegen die wirtschaftliche Liberalisierung, die die regierende CDU etwa mit dem Abbau der Mietpreisbindung in den Groß- städten durchsetzte. Schließlich änderte sich auch das gesellschaftliche Klima. Mit dem Ende des Wiederaufbaus und der Erfüllung materieller Grundbedürf- nisse setzte ein Wertewandel ein. Unter anderem erhöhten sich die Ansprüche an politische Partizipation. Darauf war die SPD als klassische Mitgliederpartei besser vorbereitet als die CDU, der noch manche Eierschalen der konservativen und katholischen Honoratiorenparteien anhafteten, in deren Tradition sie stand. Unter der halbautoritären Führung Adenauers wurde sie nicht ganz zu Unrecht

21 Düding: Parlamentarismus, S. 151–433; Detlev Hüwel: Karl Arnold. Eine politische Biographie, Wuppertal 1980; Gerhard Papke: Liberale Ordnungskraft, nationale Sammlungsbewegung oder Mittelstandspartei? Die FDP-Landtagsfraktion in NRW 1946–1966, Düsseldorf 1998; Dieter Düding: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in NRW 1946–1966, Bonn 1995; Ludger Gruber: Die CDU-Landtagsfraktion in NRW 1946–1980, Düsseldorf 1998.

33 Christoph Nonn als »Kanzlerwahlverein« ironisiert. Zwar war die Mitgliederzahl der Christdemo- kraten in Nordrhein-Westfalen im Vergleich mit den anderen Bundesländern von jeher relativ hoch gewesen: Etwa zwei Fünftel aller CDU-Mitglieder hatten ihren Wohnsitz in dem Land an Rhein und Ruhr. Die SPD zählte freilich bundesweit während der 1950er und 1960er Jahre fast drei Mal so viele Mitglieder, in Nord- rhein-Westfalen immerhin etwa doppelt so viele wie die christdemokratischen Landesverbände.22 Mit dem Ende der Ära Adenauer, der Mitte der 1960er Jahre den Parteivor- sitz abgab und zwei Jahre später starb, wandelte sich auch die Natur der CDU. Während der 1970er Jahre wurden ihre innerparteilichen Strukturen zunehmend demokratischer und ihre Mitgliederzahl nahm schnell zu – schneller als bei der sozialdemokratischen Konkurrenz. Am Ende des Jahrzehnts lagen die beiden großen Parteien in Nordrhein-Westfalen mit je einer Viertelmillion Mitgliedern gleichauf.23 Auch bei Wahlen holten die Christdemokraten ihren Rückstand auf. Zugute kam ihnen dabei, dass auch die Sozialdemokraten in der Regierungsver- antwortung den wirtschaftlichen Abstieg Nordrhein-Westfalens von der früheren Rolle einer »Lokomotive des Wiederaufbaus« zum altindustriellen »Sorgenkind« der Bundesrepublik nicht aufzuhalten vermochten. Außerdem ging der SPD mit dem allmählichen Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ihre klassische Klientel in der Industriearbeiterschaft langsam verloren.24 Die beiden großen Parteien lieferten sich so bis 1980 wiederholt ein Kopf-an- Kopf-Rennen. Doch die Landtagswahl dieses Jahres konnten die Sozialdemo- kraten dann wieder mit deutlichem Abstand gewinnen. Nicht nur sicherten sie damit ihre wankende Dominanz. Die Wahlen von 1980 leiteten sogar eine neue Phase der Landespolitik ein, in der sie Nordrhein-Westfalen allein regierten. Das hatte zum einen Gründe, die außerhalb der Landesgrenzen lagen: Bei den Bundes- tagswahlen 1980 kandidierte der bayerische CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der Unionsparteien, was sich für die nordrhein-westfälische

22 Düding: Parlamentarismus, S. 434–534; Düding: Zwischen Tradition; Christoph Nonn: Die Ruhrbergbaukrise, Göttingen 2001, S. 285–295; Mitgliederzahlen nach Ute Schmidt: Die CDU Deutschlands, in: R. Stöß (Hg.): Parteien-Handbuch, Opladen 1983/84, S. 490–660, hier S. 643 f., und Siegfried Heimann: Die SPD, in ebd., S. 2025–2216, hier: S. 2174, S. 2176–2179. 23 Schmidt, S. 644; Heimann, S. 2179. 24 Düding: Parlamentarismus, S. 535–751.

34 Historische Dimensionen des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen

CDU auch im Landtagswahlkampf als Belastung herausstellte. Zum anderen scheiterte die FDP bei den Wahlen zum Düsseldorfer Parlament knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Aus dem Zweieinhalbparteiensystem wurde so zunächst ein Zweiparteiensystem. Gleichzeitig kündigte die Gründung der Grünen 1979 einen weiteren Wandel an, der sich allerdings erst mit Verzögerung im nordrhein-west- fälischen Landtag manifestieren sollte.

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Christoph Strünck links: Christoph Strünck rechts: Das NRW-Parteiensystem im Wandel Das NRW-Parteiensystem im Wandel Ein schleichender Prozess?

1. Alles beim Alten in Nordrhein-Westfalen? Seit der Landtagswahl im Jahr 2012 regiert mit eine Sozialdemo- kratin das Land, gestützt auf eine rot-grüne Mehrheit. Im Ruhrgebiet werden die meisten Kommunen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der SPD regiert. Hat sich also doch nicht so viel seit 1980 verändert, seitdem die SPD fünfzehn Jahre lang alleine regierte, ab 1995 dann mit den Grünen? War die zwischenzeitige Regierung Rüttgers mit einer Koalition aus CDU und FDP nur eine Ausnahme in einem konsolidierten Parteiensystem mit starkem Mitte-Links-Block? Nein, die Einschätzung muss nicht revidiert werden: Das Land Nordrhein-Westfalen ist historisch kein Stammland der Sozialdemokratie! Und auch ansonsten hat sich einiges seit 1980 im nordrhein-westfälischen Parteiensystem verändert, wie sich auch das Land selbst verändert hat. Der markanteste Wandel bezieht sich allerdings auf Personen: Mit Hannelore Kraft regiert erstmals eine Frau, die von 2010 bis 2012 ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte Nordrhein-Westfalens eine Minderheitsregierung geführt hatte, zusammen mit den Grünen. Vize-Ministerpräsidentin, Schulministerin und zweite starke Figur im Kabinett ist mit der Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann ebenfalls eine Frau. Doch auch im Parteiensystem gibt es Veränderungen. Nach dem Scheitern der Linkspartei bei den vorgezogenen Neuwahlen im Jahr 2012 ist mit der Piratenpartei ein weiteres Mal eine neue Partei in den Landtag eingezogen. Und die Grünen sind inzwischen so stark, dass die SPD einen fast gleich- wertigen Koalitionspartner am Kabinettstisch sitzen hat. Das Parteiensystem hat sich durch Grüne, Linkspartei und Piraten polarisiert und ist inzwischen auch stärker fragmentiert; die beiden »Volksparteien« SPD und CDU haben insgesamt auch in NRW inzwischen einen deutlich geringeren Stimmenanteil.1 Es ist also nicht alles beim Alten in NRW, aber wie viel ist wirklich neu?

1 Unter »Fragmentierung« versteht man die Größenverhältnisse der Parteien im Parlament, von »Polarisierung« oder »Pluralisierung« spricht man, wenn die ideologische Spannbreite

37 Christoph Strünck

Nordrhein-Westfalen hat sich wirtschaftlich, sozial und politisch seit 1980, dem Beginn einer langen Phase sozialdemokratischer Dominanz, deutlich verändert. Das hat auch im Parteiensystem seine Spuren hinterlassen, aber nur manche davon treten sichtbar an die Oberfläche. Die Ursachen und Konsequenzen des Wandels werden in diesem Kapitel umrissen und analysiert. Doch was zeichnet das nordrhein-westfälische Parteiensystem seit 1980 ganz generell aus? Dies soll zunächst ein kurzer Überblick zeigen.

2. Ein solides Land? Die relative Kontinuität des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen Die beiden großen Parteien SPD und CDU haben bis in die 80er Jahre hinein einen Großteil der Wählerinnen und Wähler an sich gebunden, nämlich bis zu 90 Prozent. Die Abstände zwischen den beiden Parteien waren dabei nicht so groß wie in anderen wenig fragmentierten Parteiensystemen, etwa in Bayern oder Baden-Württemberg.2 Auch in den Kommunen war das Land lange zwischen SPD und CDU aufgeteilt: Die großen Städte und Industrieregionen wurden von der SPD regiert, die ländlichen Bereiche von der CDU. SPD und CDU haben wie auch in anderen Bundesländern über Jahrzehnte das nordrhein-westfälische Parteiensystem dominiert; auch wenn ihr gemeinsamer Anteil geschrumpft ist, so kann man angesichts der Größenverhältnisse inner- halb des nun fünf Parteien umfassenden Landesparlaments von einer geringen Fragmentierung sprechen. Das heißt jedoch nicht, dass die Wählerschaft in NRW homogen wäre. Denn bis einschließlich der Landtagswahl 2005 hatten die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen nur eine Stimme, und es gilt eine Fünf-Prozent-Sperr- klausel.3 Beides begünstigte die großen Parteien und machte es kleinen Parteien

zwischen den im Parlament vertretenen Parteien zunimmt (vgl. dazu Oskar Niedermayer: Zur systematischen Analyse der Entwicklung von Parteiensystemen, in: O. Gabriel/J. W. Falter (Hg.): Wahlen und politische Einstellungen in westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1996, S. 19–49). 2 Vgl. Hans-Georg Wehling: Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft., Wies- baden 2004. 3 Vgl. Uwe Andersen/Wichard Woyke: Land Nordrhein-Westfalen, in: U. Andersen/W. Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutsch- land, Wiesbaden 2009, S. 377–384.

38 Das NRW-Parteiensystem im Wandel schwer, in den Landtag einzuziehen. Seit der Landtagswahl 2010 gilt jedoch ein anderes Wahlrecht, das den Wählerinnen und Wählern in NRW eine Erst- und Zweitstimme wie auf Bundesebene einräumt. In den letzten beiden Wahlen 2012 und 2010 haben sich dadurch zum ersten Mal Effekte wie strategisches Stimmensplitting ergeben.4 So gaben offenbar CDU-Wählerinnen und -wähler vermehrt ihre Zweitstimme der FDP, während die Grünen in vielen Wahlkreisen von Zweitstimmen der SPD-Anhängerschaft profitierten. Die letzten beiden Landtagswahlen haben gezeigt, dass die Wahlrechts- reform die Pluralisierung des Parteiensystems erleichtert: Die Linkspartei und die Piraten haben zum Teil davon profitiert, und die Grünen verdanken ihre sehr guten Ergebnisse in den beiden letzten Wahlen dem Umstand, dass viele SPD- Wählerinnen und -Wähler mit ihrer Zweitstimme »grün« wählten.5 Die Fragmentierung des NRW-Parteiensystems ist dadurch in den letzten Wahlen leicht angestiegen; inzwischen kommen SPD und CDU zusammen nur noch auf 63,6 Prozent der Stimmen. Trotz neuer Parteien ist das System insgesamt weiterhin wenig polarisiert. Das liegt an der breiten »Arbeitnehmer- allianz«, die sich schon frühzeitig in Nordrhein-Westfalen ausgebildet hatte.6 Die CDU übernahm nach 1945 die Orientierung der historisch starken katholischen Zentrumspartei an der sozialen Frage und der Arbeiterschaft.7 Stärker noch als auf Bundesebene präsentierten sich die Christdemokraten ebenso wie die SPD als »Sozialstaatspartei«. Anders als in den südlichen Bundesländern spielen die Freien Wähler auf Landesebene keine Rolle.8 Und rechtsextreme Parteien wie Pro NRW sind eher punktuell auf kommunaler Ebene als im Land erfolgreich.

4 Vgl. Information und Technik Nordrhein-Westfalen (Hg.): Landtagswahl 2012. Ergeb- nisse nach Wahlkreisen und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Heft 4, Düsseldorf 2012; Information und Technik Nordrhein-Westfalen (Hg.): Landtagswahl 2010. Ergebnisse nach Wahlkreisen und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Heft 4, Düsseldorf 2010. 5 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Mannheim 2012. 6 Vgl. Ulrich von Alemann/Patrick Brandenburg: Nordrhein-Westfalen. Ein Land entdeckt sich neu, Köln 2000. Siehe auch das Kapitel von Christoph Nonn in diesem Band. 7 Karl Rohe: Regionale (politische) Kultur: Ein sinnvolles Konzept für die Wahl- und Parteienforschung?, in: D. Oberndörfer/K. Schmitt (Hg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 17–37. 8 Vgl. Andreas Kost: Nordrhein-Westfalen. Vom Land aus der Retorte zum »Wir-Gefühl«, in: H.-G. Wehling (Hg.): Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Wies- baden 2004, S. 181–194.

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Der einzige große weltanschauliche Konflikt ist spätestens seit dem so genannten »Schulkonsens« zwischen SPD, CDU und Grünen im Juli 2011 bei- gelegt.9 In Geheimverhandlungen mit der CDU einigte sich die Koalition darauf, statt der von Rot-Grün favorisierten Gemeinschaftsschule eine so genannte »Sekundarschule« vorzusehen. In diesen Schulformen ist gemeinsames Lernen von der fünften bis zur zehnten Klasse möglich; eine eigene Oberstufe haben die Sekundarschulen jedoch nicht. Diese neue Schulstruktur soll bis 2023 nicht angetastet werden. In anderen für das Land zentralen Feldern wie der Energiepolitik haben sich seit dem Auslaufen der Kohlesubventionen die großen Konflikte ebenfalls erledigt. Da es in Nordrhein-Westfalen keine angeschalteten Atomkraftwerke gibt, war auch dieser Konflikt schon lange Zeit ruhiggestellt. Diese relativ geringe programmatische Polarisierung und die nur leicht gestiegene Fragmentierung haben gerade den beiden großen Parteien SPD und CDU genutzt. Keine von beiden konnte sich auf eine historisch geprägte Vor- machtstellung stützen. Doch die SPD löste bereits Ende der 60er Jahre die CDU als führende Regierungspartei ab. Ihre eigentliche Hochphase setzte zu Beginn der 80er Jahre ein, bevor schließlich die Erfolge der Grünen das nordrhein-west- fälische Parteiensystem veränderten. Die zwischenzeitigen Erfolge von Links- partei und Piratenpartei haben ebenfalls zur Polarisierung des Parteiensystems beigetragen, die jedoch nicht dramatisch angestiegen ist. Möglicherweise ist die parteipolitische Polarisierung sogar geringer als die gesellschaftliche. Zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ruhten die Blicke jedoch ganz auf den damaligen großen Volksparteien CDU und SPD. Vor allem die SPD drückte dem Parteiensystem ihren Stempel auf.

3. Stammland der Sozialdemokratie? Der Aufstieg der SPD zur »Staatspartei« zwischen 1980 und 1995 In der Rückschau ist die lange Vormachtstellung der nordrhein-westfälischen SPD seit 1980 vor allem mit einem Namen verbunden: Johannes Rau, der von 1970 bis 1978 Wissenschaftsminister in einer sozial-liberalen Koalition war und von 1978 bis 1998 Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Bereits bei seiner

9 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 19. Juli 2011: Neue Sekundarschule für Nordrhein-West- falen.

40 Das NRW-Parteiensystem im Wandel ersten Kandidatur als Spitzenkandidat gelang es der SPD 1980, die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zu erobern; die FDP hatte es nicht ins Parlament geschafft.10 Rau, der zwei Jahre zuvor während der Legislaturperiode das Minister- präsidentenamt in der rot-gelben Koalition von Heinz Kühn übernommen hatte, brauchte jetzt die Liberalen nicht mehr. Fünfzehn Jahre lang – von 1980 bis 1995 – stand er einer Alleinregierung der SPD vor, erst nach 1995 musste die SPD mit den Grünen koalieren. Nach seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur 1987 und seinem Rückzug aus der nordrhein- westfälischen Landesregierung 1998 wurde Johannes Rau nach einem ersten gescheiterten Versuch im Jahr 1994 schließlich 1999 zum Bundespräsidenten gewählt. Dieses Amt hatte er bis 2004 inne, für eine zweite Amtszeit kandidierte er nicht mehr. Allerdings markiert nicht der Beginn der Ministerpräsidentschaft von Johannes Rau die Trendwende für die Sozialdemokratie in NRW. Schließlich regierte mit Heinz Kühn bereits seit 1966 ein Sozialdemokrat das Land. Misst man es allein am Ministerpräsidentenamt, so war die SPD fast vierzig Jahre die führende Regierungspartei in NRW. Das wiegt fast ebenso schwer wie die Tatsache, dass mit Johannes Rau als Ministerpräsident die SPD fünfzehn Jahre lang sogar alleine regieren konnte. Beides ändert aber nichts daran, dass Nord- rhein-Westfalen historisch betrachtet kein Stammland der SPD ist, anders als etwa Hessen, wo sich die Sozialdemokratie langfristig zur Hegemonialpartei ent- wickelte.11 Nicht alles, aber vieles in der langen Phase sozialdemokratischer Allein- regierungen in Nordrhein-Westfalen hängt mit der Person Johannes Rau zusammen.12 Als Wissenschaftsminister war er zunächst noch umstritten, denn unter seiner Federführung wurden fünf Gesamthochschulen in Nordrhein-West-

10 Ulrich von Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985. 11 Vgl. Sigrid Koch-Baumgarten/Christoph Strünck: Hessen – von der historischen Hoch- burg über die lange Hegemonie der Sozialdemokratie zu einer offenen Parteienlandschaft, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 219–241; Christoph Strünck: Das Parteiensystem Hessens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 247–267. 12 Vgl. Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-West- falen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990–2006, Wiesbaden 2006.

41 Christoph Strünck falen gegründet.13 In dieser Reformphase zeigte er sich zugleich unnachgiebig gegenüber einigen stark links orientierten Hochschullehrerinnen und -lehrern, die auf die neuen Professuren strebten, und machte sich dadurch auch in den eigenen Kreisen nicht nur beliebt. Als Ministerpräsident gelang es Rau dann bald, sich selbst und damit auch die SPD als Symbol für Nordrhein-Westfalen zu etablieren und ein Image als »Landesvater« aufzubauen.14 Legendär ist der Landtagswahlkampf 1985, für den der damalige SPD-Landesgeschäftsführer Bodo Hombach den Slogan »Wir in NRW« kreierte, um die Partei mit dem Land zu identifizieren – und umgekehrt. Spätere Kampagnen konnten an diesen Erfolg nur noch bedingt anknüpfen.15 Bis 2000 lag die SPD trotz beständig schrumpfender Stimmanteile stets vor der CDU und stellte fortwährend den Regierungschef. Die Wahlergebnisse der Sozialdemokraten in NRW waren zwischen 1980 und 1990 im Schnitt zehn Pro- zent besser als im Bund.16 Wie lässt sich diese lange Phase sozialdemokratischer Hegemonie erklären? Historisch ist sie allemal ungewöhnlich und erklärungsbedürftig, denn die Regionen in NRW – auch das Ruhrgebiet – sind keine linken Hochburgen gewesen. Die Einwanderung vieler Bergarbeiter aus Polen hat vor allem den politischen Katholizismus gestärkt, und die agrarischen Gebiete in Ostwestfalen sowie die mittelständische Struktur in Südwestfalen waren sozial eher konservativ gefärbt.17 Tatsächlich konnte sich nach der Gründung der Bundesrepublik auch zunächst die CDU als stärkste Partei im neu gegründeten Nordrhein-Westfalen behaupten. Doch den Christdemokraten gelang es nicht, ihre wahlpolitischen Erfolge mit einer modernen Parteiorganisation zu flankieren. Stattdessen traten

13 Vgl. Gerhard Brunn/Jürgen Reulecke: Kleine Geschichte von Nordrhein-Westfalen. 1946–1996, Köln u. a. 1996. 14 Vgl. Karl-Rudolf Korte: Die Partei als Machtressource? Die SPD in den 1980er und 90er Jahren, in: J. Mittag/K. Tenfelde (Hg.): Versöhnen statt spalten. Johannes Rau: Sozial- demokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007, S. 123–135. 15 Vgl. Ulrich Sarcinelli/Heribert Schatz: Mediendemokratie im Medienland. Inszenierungen und Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien und Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2000, Opladen 2002. 16 Vgl. Hans Boldt (Hg.): Nordrhein-Westfalen und der Bund, Düsseldorf 1989. 17 Vgl. Karl Rohe/Walter Fehling: Nordrhein-Westfalen. Eine politische Landeskunde, Köln 1984.

42 Das NRW-Parteiensystem im Wandel die organisatorischen Schwächen – erst 1987 bildete die CDU einen einheit- lichen Landesverband – schon in den 60er Jahren deutlich zutage.18 Letztlich konnte die SPD seit dem frühen Eintritt in eine sozial-liberale Koalition im Jahr 1966 von der inhaltlichen, personellen und organisatorischen Schwäche der CDU profitieren. Auch die bis auf die Ära Möllemann eher randständige FDP in Nordrhein-Westfalen spielte der SPD in die Karten.19 Erst der Wahlsieg Jürgen Rüttgers 2005 verschaffte der CDU einen konzentrierten Modernisierungsschub und beendete vorerst die sozialdemokratische Ära. Warum konnten aber auch die Grünen nicht schon früher die Vormacht- stellung der Sozialdemokratie schleifen? Nach ihrer Gründung 1979 gelang es ihnen relativ schnell, vor allem in den Universitätsstädten des Landes allmählich Fuß zu fassen und der SPD Stimmen abzujagen. Doch in den urbanen Zentren Nordrhein-Westfalens – die inzwischen das wichtigste Wählerreservoir für die Grünen sind – war die SPD noch lange so stark verankert, dass die Grünen erst 1990 zum ersten Mal in den Landtag einzogen.20 Anders als auf der Bundes- ebene und in anderen Bundesländern – wo die Grünen vor allem im Wähler- Reservat der SPD wilderten und enttäuschte Sozialdemokratinnen und Sozial- demokraten abwerben konnten – blieb die SPD in NRW zunächst gegen diese Abwerbung weitgehend immun. Das lag unter anderem daran, dass unter ihren Anhängern – mit ihrer starken Bindung an Industriearbeiterschaft und Groß- unternehmen – erhebliche Vorbehalte gegen den links-ökologischen Kurs der Grünen bestanden.21 In kaum einem anderen Bundesland war die Distanz der Sozialdemokratie gegenüber den unkonventionell auftretenden Grünen so groß wie in NRW22; zugleich betrachtete man wehmütig und auch selbstkritisch einen Teil der

18 Vgl. Herbert Kühr: Die CDU in Nordrhein-Westfalen, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 91–120. 19 Vgl. Torben Lütjen/Franz Walter: Medienkarrieren in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und Jürgen W. Möllemann, in: U. v. Alemann/S. Marschall (Hg.): Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 390–419. 20 Vgl. Joachim Raschke/Gudrun Heinrich: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Frankfurt a. M. u. a. 1993. 21 Vgl. Franz Walter: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002. 22 Vgl. Stefan Bajohr: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge: die Wandlung der Grünen in Nordrhein-Westfalen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32/1 (2001), S. 146–170.

43 Christoph Strünck

Grünen-Sympathisanten als die »verlorenen Söhne und Töchter«.23 Als die SPD 1995 unter Johannes Rau zum ersten Mal in Nordrhein-Westfalen mit den Grünen eine Koalition einging, empfanden viele in der Partei das als regelrechten Kulturbruch24; der Verlust der Alleinherrschaft schmerzte dadurch besonders stark, aber dank der Grünen konnte die SPD noch bis 2005 als Regierungspartei weitermachen. Dabei waren die Schwächen der anderen Parteien neben der persönlichen Popularität von Johannes Rau eine zentrale Ursache für die Hegemonie der Sozialdemokratie zwischen 1980 und 1995. Es gab aber noch weitere Gründe: Die SPD unter Johannes Rau verfolgte einen Kurs der Industrie- und Wirtschafts- politik, der ihren Gestaltungswillen untermauern sollte. Mit Hilfe der landes- eigenen WestLB als Staatsbank und weiteren Förderinstrumenten wurden mit öffentlichen Geldern Infrastruktur, Stadtentwicklung und Projekte finanziert, Unternehmen unterstützt und Strukturpolitik betrieben.25 Unabhängig vom Urteil über die Legitimität, Effektivität und Effizienz dieser Maßnahmen lässt sich sagen, dass auf diese Weise die SPD die Exekutive und andere Landesinstitutionen als eine Art »Wirtschaftsregierung« für sich nutzte. Zusammen mit Raus Image als Landesvater mutierte die SPD mit ihrer konzertierten Strukturpolitik zur »Staatspartei«. Die traditionell enge Verbindung mit den großen Industriegewerkschaften, die in NRW viel Einfluss haben, unter- stützte diese Entwicklung.26 Das brachte der SPD neben einiger Kritik auch viel öffentliche Aufmerksam- keit und zusätzliche Unterstützung ein. Der insgesamt (groß-)industriefreund- liche Kurs und die betonte Distanz zu den Grünen banden auch eher konservativ gesinnte Wählerinnen und Wähler zeitweilig an die SPD. Diese Wählerklientel

23 Vgl. Hans-Georg Wehling: Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Wies- baden 2004. 24 Franz Walter: Die SPD. Biographie einer Partei, Reinbek 2011. 25 Vgl. Rolf G. Heinze/Christoph Strünck/Helmut Voelzkow: Die Schwelle zur globalen Welt. Silhouetten einer regionalen Modernisierungspolitik, in: U. Bullmann/R. G. Heinze (Hg.): Regionale Modernisierungspolitik. Nationale und internationale­ Perspektiven, Opladen 1997, S. 317–346. 26 Vgl. Karl-Rudolf Korte: Die Partei als Machtressource? Die SPD in den 1980er und 90er Jahren, in: J. Mittag/K. Tenfelde (Hg.): Versöhnen statt spalten. Johannes Rau: Sozial- demokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007, S. 123–135.

44 Das NRW-Parteiensystem im Wandel meinte auch der spätere Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, als er davon sprach, die »Johannes-Rau-Wähler« dauerhaft für die CDU gewinnen zu wollen.27

4. Das Ende sozialdemokratischer Alleinherrschaft: Der Aufstieg der Grünen pluralisiert das Parteiensystem Der exklusive Zugriff auf die exekutiven Ressourcen wurde jedoch schwieriger für die SPD, als sie die Macht erstmals nach langer Zeit wieder mit einem Koalitions- partner teilen musste, nämlich mit den Grünen ab 1995. Für die Sozialdemo- kraten und für Rau persönlich war der Verlust der absoluten Mehrheit nach fünf- zehn Jahren eine herbe Niederlage; das sensationell gute Ergebnis der Grünen von zehn Prozent hatte die SPD ihre Alleinherrschaft gekostet. Als Johannes Rau im Mai 1998 das Ministerpräsidentenamt an den Atom- kraftbefürworter übergab, wuchsen die Unstimmigkeiten zwischen SPD und Grünen noch. Clements Ansatz einer neuen Industrie- politik sahen viele Grüne als Hindernis auf dem Weg zu einer ökologischen Modernisierung des Landes.28 Zu starken Konflikten in der Koalition kam es, nachdem die SPD aus der Landtagswahl im Jahr 2000 erneut als stärkste Partei hervorging und Clement wieder eine Regierung gemeinsam mit den Grünen bildete. 2002 wechselte Clement dann in die rot-grüne Bundesregierung und wurde Arbeits- und Wirtschaftsminister unter Gerhard Schröder. Clements Nachfolger Peer Steinbrück, der die folgende Landtagswahl verlor, profilierte sich ähnlich wie Wolfgang Clement als wirtschaftsorientierter Sozial- demokrat, um sich von den vermeintlich linken Grünen abzugrenzen. Das zeigte besonders plakativ seine in aller Öffentlichkeit angestellte »Überlegung« im Jahr 2003, die Koalition unter Umständen aufzukündigen. Unter dem Eindruck dieser Drohung wurde mitten in der Legislaturperiode noch einmal neu über einige Punkte verhandelt. Das anschließend als eine Art Koalitionsvertrag auf Wieder- vorlage präsentierte »Düsseldorfer Signal« sollte vor allem zeigen, dass die SPD

27 Vgl. Dirk Graalmann/Jens Schneider: Unterwegs in eigener Sache. Jürgen Rüttgers pflegt sein Image als Arbeiterführer – und erregt Unmut bei der FDP, in: Süddeutsche Zeitung, 14.9.2007. 28 Vgl. Karl-Rudolf Korte: Wolfgang Clement, in: S. Gösmann (Hg.): Unsere Minister- präsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf 2008, S. 182–209.

45 Christoph Strünck weiterhin wichtige Industrien wie die Kohlewirtschaft unterstützte. Allerdings handelte sich Peer Steinbrück mit der inszenierten Konfrontation damals auch viel Ärger in der eigenen Partei ein, denn das Ganze nutzte eher den Grünen als der SPD.29 Die Grünen waren 1990 zum allerersten Mal in den Landtag eingezogen, mit einem Stimmenergebnis von fünf Prozent. Im Jahr der deutschen Wiederver- einigung wehte der Wind in ganz Deutschland den Grünen ins Gesicht.30 Die Ökologie wurde von der Ökonomie verdrängt: Die Aussicht auf ein wiederver- einigtes Deutschland war mit der Hoffnung auf neuen Wohlstand und Stabilität verknüpft. In gewisser Weise ist es daher kurios, dass es die Grünen in NRW 1990 erstmals ins Parlament schafften, während die Bundespartei an der Fünf-Prozent- Hürde scheiterte und nach zwei Legislaturperioden aus dem Bundestag flog. Der grüne Landesverband in NRW war vor allem in seiner Anfangsphase stark links orientiert.31 Die Grünen konnten daher lange Zeit nicht darauf hoffen, aus der eher konservativ und gewerkschaftsnah eingestellten SPD-­ Wählerschaft vermehrt Stimmen abzuziehen. Daher brauchten die Grünen in NRW einen längeren Anlauf als in anderen Bundesländern, um sich als neue, vierte – inzwischen dritte – Kraft zu etablieren. Allerdings hat den Grünen ihre Regierungsbeteiligung ab 1995 bei den Wahlen eher geschadet: Kamen sie 1995 noch auf 10,0 Prozent der Stimmen, so waren es im Jahr 2000 nur 7,1 Prozent und bei der Landtagswahl 2005 noch mal knapp ein Prozent weniger, nämlich 6,2 Prozent. Das hing allerdings unter anderem auch mit dem Ansehensverlust der rot-grünen Regierung auf Bundesebene zusammen; von dort kam mehr Gegenwind als Rückenwind.32 Inzwischen haben sich die Grünen vor allem in den Universitätsstädten des Landes zur führenden Partei entwickelt und das Parteiensystem weiter

29 Korte/Florack/Grunden. 30 Raschke/Heinrich. 31 Helmut Wiesenthal: Die Grünen in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Bedeutung, Programm und Willensbildung, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nord- rhein-Westfalen, Köln 1985, S. 146–161. 32 Vgl. Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen – das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 275–301.

46 Das NRW-Parteiensystem im Wandel pluralisiert.33 Das Wählerprofil gleicht weitgehend dem grüner Parteien in anderen Bundesländern: Auch in NRW punkten die Grünen im akademischen Milieu, bei Frauen und in Städten. Ihr größtes Defizit haben sie hingegen bei jungen Männern, wie überhaupt die Attraktivität der Grünen bei den Jungwählerinnen und Jungwählern abgenommen hat. Wahlsoziologisch sind die Grünen eine etablierte Partei geworden, bei denen die älteren Wählerinnen und Wähler inzwischen zur stärksten Gruppe gehören.34 Die Etablierungsphase als grüne Regierungspartei wurde hingegen unter- brochen, als es 2005 der CDU gelang, seit langer Zeit wieder die Landesregierung zu übernehmen, zusammen mit der FDP. Dieses Ereignis hatte vor allem bundes- politische Bedeutung: Die SPD verlor ihre Mehrheit im Bundesrat, Bundes- kanzler Gerhard Schröder führte daraufhin eine absichtlich verlorene Vertrauens- frage herbei, und die daraufhin angesetzten Neuwahlen beendeten auch im Bund die rot-grüne Regierung. Doch was bedeutet dieser Machtverlust der SPD nach Jahrzehnten sozialdemokratisch geführter Landesregierungen für das Parteien- system in NRW?

5. Trendwechsel? Der (vorübergehende) Wiederaufstieg der CDU an Rhein und Ruhr Das erdrutschartige Wahlergebnis von 2005 zeigte, dass die CDU ihre alten Schwächen in Nordrhein-Westfalen zumindest kurzzeitig überwunden hatte. Sie konnte nicht nur erfolgreich ihre Stammwähler mobilisieren, sondern erhebliche Anteile von Arbeitslosen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für sich gewinnen.35 Das war der Anlass für Ministerpräsident Rüttgers, sich zeitweilig als der »wahre Arbeiterführer« zu inszenieren; Rüttgers sah sich sehr zum Ärger der SPD bewusst in der Nachfolge von Johannes Rau und würdigte ihn demonstrativ

33 Vgl. Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 315–339. 34 Vgl. Solar. 35 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Mannheim 2005.

47 Christoph Strünck bei verschiedenen Gelegenheiten, womit er den Sozialdemokraten den Alleinver- tretungsanspruch auf das Erbe Raus streitig zu machen versuchte.36 Der Wahlerfolg des bürgerlichen Lagers verdankte sich aber auch der Schwäche der SPD, vor allem der großen Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit der rot-grünen Koalition in Berlin. Die CDU konnte sich um fast acht Pro- zent von 37 Prozent (Landtagswahl 2000) auf 44,8 Prozent der Stimmen steigern. Die FDP hingegen hatte sogar 3,6 Prozentpunkte verloren37; im Jahr 2000 hatte ihr die spektakuläre Kampagne von Jürgen W. Möllemann als Spitzenkandidat der Partei ein außergewöhnlich gutes Ergebnis von 9,8 Prozent beschert. Es war also vor allem die CDU, die von der Schwäche der Sozialdemokraten profitierte. Allerdings scheint es so, als hätte sich die CDU nicht dauerhaft neu aufgestellt im nordrhein-westfälischen Wählermarkt. Die Regierung hielt nur eine Legislaturperiode. Bei der nächsten Landtagswahl im Jahr 2010 sackte die CDU wieder ab und kam nur auf 34,6 Prozent, ihr schlechtestes Wahlergeb- nis seit der Gründung Nordrhein-Westfalens. Die SPD stand zwar mit 34,5 Pro- zent auch nicht besser da; doch dafür ritten die Grünen auf einer bundesweiten Erfolgswelle und fuhren in NRW bis dahin nie erreichte 12,1 Prozent ein. Die FDP hatte sich nur minimal auf 6,7 Prozent verbessert. Und die Linkspartei zog zum ersten Mal in den Landtag ein.38 Das und das gute Ergebnis der Grünen hatten vor allem die SPD Stimmen gekostet. Eine Phase weiterer Pluralisierung des Parteiensystems wurde eingeläutet. In der Rückschau wirkt daher der sensationelle Sieg der CDU im Jahr 2005 wie ein Strohfeuer. Es lässt sich noch nicht sagen, ob es wirklich nur eine Moment- aufnahme war oder ob sich strukturell sowohl bei der CDU als auch im Parteien- system ein signifikanter Wandel eingestellt hat. Das Desaster der CDU bei der Landtagswahl 2012 deutet nicht darauf hin, dass sich die Partei organisatorisch, personell und programmatisch konsolidiert hat (s. u.). Allerdings ist erkennbar, dass der gemeinsame Stimmenanteil von CDU und SPD dauerhaft gesunken ist; die Fragmentierung hat zugenommen. Nicht zuletzt auf die Grünen kommt es an, welche Koalitionen im Lande zustande kommen.

36 Vgl. Nico Grasselt/Karl-Rudolf Korte: Führung in Politik und Wirtschaft, Wiesbaden 2008. 37 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2005. 38 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Mannheim 2010.

48 Das NRW-Parteiensystem im Wandel

Dass sich das Parteiensystem insgesamt stärker pluralisiert hat, zeigte dann die schwierige Phase der Regierungsbildung nach der Wahl 2010. Sie bescherte Nord- rhein-Westfalen zum ersten Mal eine Minderheitsregierung in alt-bekannten Farben: Rot-Grün.

6. Keine Experimente? Die Neu-Auflage von Rot-Grün

Das Ergebnis der Landtagswahl im Jahr 2010 war eine Patt-Situation: Beiden Lagern fehlten Stimmen für eine eigene Mehrheit, Rot-Grün sogar nur eine ein- zige Stimme.39 Nachdem von den Parteien verschiedene Koalitionsoptionen durchgespielt und ausgelotet worden waren, einigten sich die sozialdemo- kratische Spitzenkandidatin Hannelore Kraft und die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann darauf, eine Minderheitsregierung zu bilden, zum ersten Mal in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Dafür gingen beide Parteien vor allem auf die Linkspartei zu, von der sie sich erhofften, in vielen politischen Fragen die fehlenden Stimmen im Landtag zu bekommen. Die Linkspartei hatte vor allem bei den Arbeitslosen mit ihrer Protesthaltung gepunktet; 17 Prozent der arbeitslosen Wählerinnen und Wähler hatten sich für die Linke entschieden.40 Die Rolle der erfolgreichen Protestpartei hatte die Linkspartei allerdings inzwischen an die Piratenpartei abgegeben (s. u.). Bemerkenswerterweise kam die wichtigste Unterstützung für die Minder- heitsregierung jedoch von der CDU. Denn mit den Christdemokraten verein- barten SPD und Grüne den so genannten »Schulkonsens« (s. o.), der mit der Einführung von Sekundarschulen und dem Ende der verfassungsrechtlichen Garantie für Hauptschulen einen vorläufigen Strich unter Jahrzehnte polarisierter Schulpolitik zog. Das Experiment der Minderheitsregierung hielt zwei Jahre, dann scheiterte die Koalition daran, eine Mehrheit für den Landeshaushalt zu bekommen. Die Ministerpräsidentin kündigte daraufhin Neuwahlen an, die am 13. Mai 2012 stattfanden. Die Wählerinnen und Wähler sahen die »Schuld« für das Scheitern der Koalition offenbar stärker bei der taktierenden Opposition: Rot-Grün ging gestärkt aus den Neuwahlen hervor und konnte eine Regierung mit klarer

39 Vgl. Landeswahlleiterin des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Landtagswahl, Düssel- dorf 2010. 40 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2010.

49 Christoph Strünck

Stimmenmehrheit bilden. Die Linkspartei flog aus dem Parlament, dafür zogen erstmals die Piraten mit 7,8 Prozent der Stimmen ein.41 Bei den Piraten ist bemerkenswert, dass 18 Prozent aller Arbeitslosen ihnen die Stimme gaben, mehr noch als den Grünen und der CDU, und deutlich mehr als der Linkspartei. 66 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler gaben an, mit den anderen Parteien unzufrieden zu sein.42 Das legt den Schluss nahe, dass die Piratenpartei nicht in erster Linie aufgrund ihrer spezifischen Themen gewählt wird, sondern eine Rolle als Protestpartei spielt, die damit teilweise im Terrain der Linkspartei »wildert«. Die CDU unter ihrem Spitzenkandidaten Norbert Röttgen erlebte ein Debakel: Sie kam nur auf 26,3 Prozent der Stimmen und Röttgen trat darauf- hin als Landesvorsitzender wie auch als Bundesumweltminister zurück.43 Die zuvor ruhig gestellten Konflikte zwischen Vertretern eines stärker urban-liberalen Profils, für das der 2012 gewählte NRW-Parteivorsitzende steht, und dem traditionellen Profil des Fraktionsvorsitzenden Karl-Josef Laumann brachen danach wieder los. Allerdings repräsentieren beide die nach wie vor stark sozialstaatliche Orientierung der nordrhein-westfälischen Christdemokratie. Das dramatisch schlechte Ergebnis der CDU bei der letzten Landtags- wahl hat die Fragmentierung im Parteiensystem zwischenzeitlich deutlich ver- stärkt, aber das ist nur eine Momentaufnahme. Den stärkeren Einfluss auf die Fragmentierung hat sicherlich das neue Wahlrecht, das seit 2010 gilt. Denn das erkennbare Stimmensplitting stärkt die kleineren Parteien auf Kosten der größeren, was man an den Ergebnissen der einzelnen Wahlkreise ablesen kann.44 Dass es auch in Nordrhein-Westfalen dauerhaft ein Fünf-Parteien-System geben wird, ist ebenfalls nicht sicher. Die Linkspartei hat in den westdeutschen Bundes- ländern nach wie vor nicht flächendeckend Fuß gefasst und die Piratenpartei zeigt bereits erste Auflösungserscheinungen. Allerdings haben sich einige ganz grundlegende soziale Veränderungen ergeben, die sich im Parteiensystem wider- spiegeln.

41 Vgl. Landeswahlleiterin des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Landtagswahl, Düssel- dorf 2012. 42 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Mannheim 2012. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Information und Technik Nordrhein-Westfalen 2012, 2010.

50 Das NRW-Parteiensystem im Wandel

7. Rückzug der Stammwähler? Die gesellschaftliche Verankerung der nordrhein-westfälischen Parteien

Auch Nordrhein-Westfalen hat sich längst zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Zwar haben nach wie vor bedeutende Industrieunternehmen in Nord- rhein-Westfalen ihren Sitz. Doch wahlpolitisch relevant ist in erster Linie der Beschäftigtenanteil, den die Industrie repräsentiert, nicht das Umsatzvolumen oder der Anteil am Bruttosozialprodukt. Und in dieser Hinsicht ist die Industrie klar ins Hintertreffen geraten. Inzwischen arbeiten drei Viertel aller Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen in Dienstleistungsbranchen.45 Wahlsoziologische Analysen zeigen, dass Angehörige von Dienstleistungs- berufen durchschnittlich anders wählen als die Industriearbeiterschaft; bei Angestellten ist die Gewerkschaftsbindung viel schwächer und die politische Orientierung stärker über die Parteien verteilt.46 Je stärker Dienstleistungen die Wirtschaftsstruktur prägen, desto mehr Frauen sind erwerbstätig und desto mehr von ihnen sind Akademikerinnen. Gerade akademisch ausgebildete, jüngere Frauen wählen tendenziell Mitte- Links-Parteien. Momentan gibt es hier eine klare Mehrheit für SPD und Grüne. Bei der vorgezogenen Landtagswahl 2012 haben 41 Prozent aller Wählerinnen ihr Kreuz bei der SPD gemacht und 13 Prozent bei den Grünen; nur 26 Prozent votierten für die CDU und 8 Prozent für die FDP.47 Neben der schleichenden Deindustrialisierung wirkt sich auch die Säkulari- sierung aus. Nicht einmal im einst stark katholisch geprägten Ruhrgebiet stellen die regelmäßigen Kirchgänger noch eine große Gruppe. Und das Ruhrgebiet ist auch besonders stark von einem weiteren Trend erfasst, der den Wählermarkt in Nordrhein-Westfalen beeinflusst: die Alterung der Gesellschaft.48 Der Anteil der älteren Wählerinnen und Wähler wächst stark auf Kosten der jüngeren. Das ist tendenziell ein Vorteil für Mitte-Rechts-Parteien.

45 Vgl. IT.NRW: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in NRW, online unter: www. it.nrw.de/statistik/b/daten/eckdaten/r543sba.html, Stand: 20.3.2013. 46 Vgl. Thorsten Faas: Wahlen und Wähler in der Bundesrepublik, Wiesbaden 2009; Rüdiger Schmitt-Beck: Wählen in Deutschland, Baden-Baden 2012. 47 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2012. 48 Vgl. Jörg Bogumil u. a.: Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet, Essen 2012.

51 Christoph Strünck

In Nordrhein-Westfalen zeigt sich jedoch, dass auch in der Gruppe der Älteren immer mehr Wechselwähler zu finden sind. So hatte die SPD beispielsweise 2012 mit 45 Prozent einen wesentlich höheren Stimmenanteil unter Wählerinnen und Wählern ab 60 als die CDU mit 34 Prozent.49 Zwei Jahre zuvor war das Bild noch ein ganz anderes: Bei der Landtagswahl 2010 hatten 44 Prozent der über 60-Jährigen die CDU gewählt und nur 39 Prozent die SPD. Bei der Landtags- wahl 2005 gaben sogar 52 Prozent der über 60-Jährigen der CDU ihre Stimme.50 Die Prozesse gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels haben in den letzten drei Jahrzehnten auch das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens ver- ändert. Das zeigt sich besonders beim Blick auf die schrumpfende Stammwähler- schaft der jeweiligen Partei. Für die SPD sind die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer nach wie vor eine Stammklientel. Deren Anteil an der Wählerschaft nimmt jedoch ab. Bei der für die SPD desaströsen Landtagswahl 2005 waren es nur noch 7 Prozent der- jenigen, die ihre Stimme der Sozialdemokratie gegeben hatten.51 Nach wie vor kann jedoch die SPD auf die städtischen Wählerinnen und Wähler vertrauen, zu denen viele Arbeiter und Angestellte zählen. Bei der CDU gehören die regelmäßigen Kirchgänger zum Wählerstamm. Doch auch diese Gruppe nimmt in ihrer Bedeutung dramatisch ab. Selbst bei ihrem Wahlerfolg 2005 konnte die Partei zwar 72 Prozent der Stimmen aus dieser Gruppe bekommen; doch deren Gesamtanteil an der CDU-Wählerschaft betrug nur noch 12 Prozent.52 Die Grünen haben als relativ junge Partei auch in NRW keine vergleich- bare Stammklientel. Allerdings haben sie inzwischen in den Universitätsstädten starke Wählergruppen für sich gewonnen. Dass die Grünen sich seit ihrem ersten Wahlerfolg 1990 klar konsolidiert haben, zeigt, dass sie inzwischen eine eigene Stammwählerschaft aufgebaut haben und ebenso in ländlichen Regionen zulegen.53 Auch in Nordrhein-Westfalen sind die Grünen zum Teil »verbürger- licht«. Generell waren die Grünen lange Zeit bei Jungwählern besonders erfolg- reich. Doch bei den letzten beiden Landtagswahlen lagen die Grünen mit 19 bzw.

49 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2012. 50 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2005. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Kranenpohl.

52 Das NRW-Parteiensystem im Wandel

16 Prozent in der Gruppe der unter 30-Jährigen deutlich hinter der SPD und auch hinter der CDU.54 Bei der FDP sind Angestellte und Selbstständige normalerweise über- repräsentiert. Die besondere Struktur des nordrhein-westfälischen Parteien- systems mit zwei relativ starken, programmatisch ähnlich orientierten Parteien macht allerdings der FDP das Leben schwer. Selbst bei den Selbstständigen erringt die SPD in der Regel doppelt so viele Stimmen wie die Freien Demo- kraten und bei den Angestellten teilten sich CDU und SPD bei den letzten drei Landtagswahlen den Löwenanteil.55 Die punktuellen Erfolge von Linkspartei und Piratenpartei, die teilweise ihre Wählerschaft austauschten, lassen bislang nur wenig wahlsoziologische Schluss- folgerungen zu. Es ist nicht einmal sicher, ob beide Parteien dauerhaft das Parteiensystem im Land ergänzen werden. In dieser Hinsicht erscheint das nordrhein-westfälische Parteiensystem nach wie vor relativ stabil. Aber ist es das auch wirklich, oder hat ein fundamentaler Wandel stattgefunden, der sich – bisher – nur in punktuellen Veränderungen und Verschiebungen an der Oberfläche des Parteiensystems zeigt?

8. Fragil oder stabil? Ein gefestigtes Parteiensystem im Wandel

Analysiert man die machtpolitischen Verschiebungen zwischen den Parteien und das Wahlverhalten genauer, so stellen sich einige markante Erkenntnisse heraus. Diese lassen sich zwischen den Eckpunkten von Kontinuität und Wandel einordnen. Zur Kontinuität im NRW-Parteiensystem gehören die folgenden Aspekte: – Trotz einiger punktueller Erfolge der CDU repräsentiert nach wie vor die SPD die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; – die CDU ist in den ländlichen Regionen nach wie vor deutlich stärker als die SPD; – es gibt keine eindeutige Parteidominanz und eine vergleichsweise geringe Asymmetrie zwischen den Lagern.

54 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2005. 55 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2005, 2010, 2012.

53 Christoph Strünck

Die folgenden Entwicklungen markieren hingegen Wandlungsprozesse, die das NRW-Parteiensystem bereits verändert haben: – Der gemeinsame Stimmenanteil von SPD und CDU sinkt, die Fragmentierung steigt; – die Grünen haben die FDP als dritte Kraft überflügelt; – der Anteil von Stammwählern schrumpft, die Zahl der Wechselwähler wächst.

Nordrhein-Westfalen ist mehr denn je ein Testlabor für die Zukunft der Parteien: Kann die CDU stärker zu einer urbanen Partei werden? Wie verhält sich die SPD zum eigenen Erbe der Agenda 2010, für das auch nordrhein-westfälische Sozial- demokraten wie Wolfang Clement oder Peer Steinbrück stehen? Kann die Links- partei die SPD aus ihrer Mitte-Orientierung locken? Wird die FDP sich wieder für sozial-liberale Koalitionen öffnen? Angesichts dieser Zukunftsfragen und des skizzierten Wandels wirkt die Gegenwart seltsam stabil, zumindest was die Regierungsbildung angeht. Obwohl sich das nordrhein-westfälische Parteiensystem stärker pluralisiert hat, bleiben die Koalitionskombinationen überschaubar: Seit 1980 gab es nur »Lager- Koalitionen«. Trotz einiger schwarz-grüner Koalitionen auf kommunaler Ebene und einem kurzen Flirt mit der Idee einer Ampel-Koalition nach der Landtags- wahl 2010 sind die Koalitionsmuster in Nordrhein-Westfalen einfach: Schwarz- Gelb oder Rot-Grün. Die kulturelle Kluft zwischen CDU und Grünen ist auf Landesebene nach wie vor groß. In Anbetracht der programmatischen Nähe zwischen CDU und SPD in Nordrhein-Westfalen mag es verwunderlich erscheinen, dass es selbst in der Patt- Situation 2010 nicht zu einer Großen Koalition gekommen ist. Doch letztlich überlagern auch hier Machtfragen die Sachfragen: Beide Parteien betrachten sich gegenseitig als Hauptkontrahenten, und in der Regel profitiert nur die Partei, die das Ministerpräsidentenamt bekommt. CDU und SPD mögen sich das Land über Jahrzehnte regional und kommunal aufgeteilt haben, inklusive einiger Proporz- regeln, über die Konsens herrschte. Sich allerdings in der Landesregierung die Macht zu teilen, birgt zu viele Risiken, zumal im größten und bundespolitisch bedeutsamen Bundesland. Und die kleineren Parteien? Die FDP scheint inzwischen von den Grünen überflügelt worden zu sein, aber sie hat es seit 1985 immer in den Landtag geschafft. Ob das auch für die neueren Parteien wie Linkspartei und Piraten gilt, darf bezweifelt werden. In seinem Kern hat sich das Parteiensystem seit 1990 als relativ stabil erwiesen.

54 Das NRW-Parteiensystem im Wandel

Letztlich kommt es aber bei wachsender Fragmentierung des Parteiensystems darauf an, ob sich die »kleineren« Parteien die Stimmenanteile gleichmäßig teilen oder die Grünen dauerhaft die dritte Kraft bleiben, in Zukunft vielleicht mit stärkeren Avancen an die CDU. Erst wenn es für Zweier-Konstellationen nicht mehr reicht, bricht wirklich die bunte, neue Welt in NRW an.

55

Heike Merten links: Heike Merten rechts: Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW NRW Von den Freiheiten der Landesverbände

1. Einführung Politische Parteien sind notwendige Bestandteile zur Verwirklichung eines demo- kratischen parlamentarischen Regierungssystems. Der verfassungsrechtliche Rahmen der Bundesrepublik Deutschland, mit der Installation eines starken parlamentarischen Regierungssystems und der Festlegung der Bundesstaatlich- keit, bestimmt die Aufgaben und Funktionen der politischen Parteien. Ausgangspunkt jedweder politischen Tätigkeit ist das Volk und damit jeder einzelne Bürger. Die normative Basis hierfür ist die Volkssouveränität: Nach Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz (GG) geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Da eine identitäre Form der Demokratie nicht möglich ist, soll die Entscheidungsfindung möglichst wirksam vom Willen der Bürger geleitet werden. Die politischen Parteien sind die wesentliche Organisationsform für die Willensbildung der Bürger und die Weiterleitung des Willens von den Bürgern hin zu den Ent- scheidungsträgern, damit letztlich in die Volksvertretungen. Durch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung als föderaler Bundesstaat finden sich neben der Volksvertretung auf Bundesebene weitere 16 Volksvertretungen und Regierungen auf Länderebene sowie unzählige kommunale Vertretungen. Die Handlungsfelder der politischen Parteien sind in einem föderal organisierten Staat mithin um ein vielfaches größer als in einem zentralstaatlichen Modell. Die Landes- und die kommunale Ebene unterliegen dabei zum einen dem bundes- verfassungsrechtlichen Rahmen, haben zum anderen aber durchaus auch eigene Zuständigkeiten. Der zentralen und vielschichtigen Bedeutung der politischen Parteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland trägt das Grundgesetz dadurch Rechnung, dass es die Parteien in Art. 21 mit einem eigenen Artikel bedenkt. Einerseits erkennt er die Parteien an und schützt diese, anderer- seits legt er bestimmte Rechte und Pflichten fest. Die Summe der Rechte und Pflichten, die von der Verfassung in Art. 21 begründet werden, kann man als Status der Freiheit, der Gleichheit, der Öffentlichkeit und der innerparteilichen Demokratie bezeichnen. Das Nähere wird dann in Abs. 3 bundesgesetzlichen

57 Heike Merten

Regelungen überlassen. Man spricht hier auch von einer ausschließlichen Gesetz- gebungskompetenz des Bundes im Sinne von Art. 71 GG. Weniger eindeutig zu bestimmen ist die sachliche Reichweite dieser Gesetzgebungskompetenz. Sie umfasst unstreitig den in Art. 21 Abs. 1 und 2 angesprochenen Themenkreis. Hinsichtlich des Wahlrechts verfügen der Bund und die Länder über eine je eigene Gesetzgebungszuständigkeit für die im Bereich ihres Hoheitsgebietes zu wählenden Volksvertretungen. Soweit den Parteien im Wahlrecht bestimmte Funktionen zugewiesen werden, fällt deren Regelung in die Zuständigkeit des Wahlrechtsgesetzgebers.1 Parteienrechtliche Regelungen unterliegen aber der Bundeskompetenz. Dem grundgesetzlichen Gestaltungsauftrag aus Art. 21 Abs. 3 GG ist der Bundes- gesetzgeber erstmals 1967 durch das Parteiengesetz (PartG) nachgekommen. Die Länder sind mangels einer Ermächtigung zu abweichenden Regelungen nicht befugt.2 Dies hat zur Konsequenz, dass der rechtliche Rahmen für Parteien in Nordrhein-Westfalen bundesgesetzlich vorgegeben ist und sich daher zunächst einmal von den 15 anderen Bundesländern nicht unterscheidet.3 Unterschiede und damit Besonderheiten ergeben sich lediglich dort, wo parteienrechtliche Materien geregelt werden, die – wie etwa das Landes- und Kommunalwahl- recht – der Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers unterliegen.4 Zu achten ist auch das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kommunen (Gemeinden und Kreise) nach Art. 28 Abs. 2 GG. Das Kapitel wird daher zum einen die wichtigsten landesrechtlichen Aus- wirkungen des Bundesparteiengesetzes und zum anderen die wichtigsten wahl- rechtlichen Besonderheiten für die politischen Parteien in NRW behandeln.

1 Vgl. BVerfGE 3, 383 (404). § 17 PartG beschränkt sich demgemäß auf eine Regelung, die der Thematik des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG zuzuordnen ist. 2 Martin Morlok: Art. 21, in: H. Dreier (Hg.): GG-Kommentar, Tübingen 2006, S. 327– 403, Rn. 161. 3 Siehe zu den rechtlichen Grundlagen der politischen Parteien Heike Merten: Recht- liche Grundlagen der Parteiendemokratie, in: F. Decker/V. Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2013, S. 77–110. 4 Konsequenterweise finden sich Erwähnungen der politischen Parteien in den Landesver- fassungen lediglich beiläufig. So hat Art. 32 Abs. 1 Verf. NRW lediglich ein Wahlverbot für Umstürzler statuiert, erwähnt aber an keiner Stelle der Verfassung die politischen Parteien.

58 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW

2. Allgemeine landesrechtliche Auswirkungen des Parteiengesetzes

Für die politischen Parteien in NRW ist, wie bereits oben näher erläutert, in erster Linie das Parteiengesetz der rechtliche Rahmen. Es trifft an einigen Stellen Regelungen, die durchgreifende Auswirkungen auf die Landes-, Kreis- und Orts- verbände der politischen Parteien haben.

2.1 Gliederung in Gebietsverbände und deren Autonomie

§ 7 PartG enthält ein an die Parteien gerichtetes Gebot, sich in Gebietsverbände zu gliedern. Damit hat der Gesetzgeber seinerzeit seine Ablehnung gegenüber einem nach einzelnen Gruppen oder Interessengruppen gegliederten politischen Willensbildungsprozess innerhalb der Partei zum Ausdruck gebracht.5 Durch die gebietliche Gliederung sollen die einzelnen Parteimitglieder die Möglichkeit zur politischen Einflussnahme erhalten, um ihre Mitgliedschaftsrechte6 effektiv ver- wirklichen zu können. Die Regelung stellt die organisatorische Konsequenz des in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG enthaltenen Gebots zur innerparteilichen Demokratie dar. Verlangt wird eine so weit ausgebaute Gliederung der Parteien, dass den einzelnen Mitgliedern eine angemessene Mitwirkung an der Willensbildung mög- lich ist. Um die geforderte Mitwirkung zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass der Einzelne über eine reale Mitentscheidungsmöglichkeit verfügt, mithin am innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess aktiv beteiligt sein kann. Ob und ab welcher Mitgliederzahl die Partei weitere Untergliederungen zu bilden hat, lässt sich nicht pauschal festlegen, sondern bedarf einer Betrachtung im Einzelfall.7 Wie ist nun aber das Verhältnis der Gebietsverbände untereinander und zur Gesamtpartei? Dazu ist zunächst ein kurzer Blick auf die Rechtsnatur von politischen Parteien notwendig. Als Vereinigungen von Bürgern sind Parteien in

5 Karl-Heinz Seifert: Politische Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1975, S. 200. 6 Siehe zu den allgemeinen Grundsätzen der rechtlichen Beziehungen zwischen Partei und Mitglied § 10 PartG. 7 Anders Seifert, S. 27, der einen berechtigten »Anspruch« auf die Bildung eines Gebietsver- bandes ab 1.000 Mitgliedern annimmt.

59 Heike Merten zivilrechtlicher Hinsicht Gesamtvereine. Mitglieder des Gesamtvereins sind nur die beigetretenen natürlichen Mitglieder der Untergliederungen, nicht jedoch die Untergliederungen selbst. § 7 Abs. 1 S. 3 PartG trifft in Bezug auf die Rechtsnatur der Gebietsverbände (rechtsfähiger oder nicht-rechtsfähiger Verein oder unselb- ständige Verwaltungsstelle) keine verbindliche Aussage. Allerdings stellt das PartG bestimmte Anforderungen an die Qualifikation einer Untergliederung als Gebietsverband. So sieht § 6 Abs. 1 S. 2 PartG vor, dass die Gebietsverbände ihre Angelegenheiten durch eigene Satzungen regeln, soweit die Satzung des jeweils nächsthöheren Gebietsverbandes hierfür keine Vorschriften enthält. Außerdem sind in § 8 Abs. 1 S. 1 PartG Mitgliederversammlung und Vorstand notwendige Organe der Gebietsverbände. Den Gebietsverbänden steht somit grundsätzlich Satzungs-, Personal-, Finanz-, Organisations- und auch politisch-programmatische Autonomie zu. Einschränkungen in diesen Bereichen müssen jedoch zugunsten der Parteieinheit und Funktionsfähigkeit hingenommen werden, solange die eigenständige Willensbildung und Tätigkeit der Gebietsverbände als Kern- bereich erhalten bleibt. Die Satzungen der Gebietsverbände dürfen sich nicht in Widerspruch zu höherrangigem Satzungsrecht setzen, gleichwohl können eigene Regelungsspielräume genutzt und Regelungslücken gefüllt werden. In Fragen der Programmatik dürfen die einzelnen Gliederungen durchaus eigene Schwerpunkte setzen und auch abweichende Ansichten vertreten. Diese Meinungsvielfalt ist in einer demokratischen Organisationsform nicht nur erlaubt, sondern gewünscht. Den Gebietsverbänden der Parteien kommt grundsätzlich eine umfassende finanzielle Selbständigkeit zu, um eigene Handlungsspielräume zu ermöglichen und Abhängigkeiten auszuschließen. Die Gebietsverbände müssen daher das Recht haben, über eigenes Vermögen zu verfügen und dies auch selbständig verwalten können. Die Parteisatzungen sehen dennoch einheitliche (Beitrags-) Finanzordnungen vor, die Rechenschaftspflichten und Kontrollrechte beinhalten und insoweit die Finanzautonomie der Untergliederungen begrenzen.8 Mit der Einschränkung der Finanzautonomie korrespondiert eine gesteigerte Verantwort- lichkeit der übergeordneten für die nachgeordnete Ebene. So finden sich in den Satzungen der Parteien häufig Bestimmungen über die finanzielle Ausstattungs-

8 Gem. § 11 der Satzung des Landesverbandes der Grünen in NRW ist etwa der Landes- finanzrat für die Koordination der Finanzverwaltung und -politik der Kreis- und Orts- verbände zuständig.

60 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW pflicht der übergeordneten für die nachgeordneten Verbände.9 Damit kommen die Parteien auch der durch § 22 PartG auferlegten Pflicht zur Durchführung eines parteiinternen Finanzausgleichs nach. Diese gesetzlich vorgeschriebene Ausgleichspflicht bezieht sich ausweislich des Wortlautes allein auf das Verhältnis von Bundes- und Landesebene untereinander. Die Untergliederungen unterhalb der Landesebene sind von der Vorschrift mithin nicht erfasst. Die zur Verwirklichung der verfassungsrechtlich geforderten innerparteilichen Demokratie zu gewährende Autonomie der Gebietsverbände ist daher im Ergeb- nis nur eine relative.

2.2 Parteienfinanzierung auf Landesebene

Politische Parteien benötigen zur Verwirklichung der ihnen von Verfassung wegen zugedachten Aufgaben eine finanzielle Ausstattung. Das Parteiengesetz sichert dies in den Finanzierungsvorschriften des Vierten Abschnitts (§§ 18–22 PartG). Auch auf der Landesebene gibt es daher zwei Quellen, aus denen die Parteien ihren Finanzbedarf decken können: die staatliche direkte Teilfinanzierung und die selbst erwirtschafteten Mittel, zu denen auch die Spenden zählen. Anspruch auf direkte staatliche Teilfinanzierung haben nach § 18 Abs. 4 PartG grundsätzlich diejenigen Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der jeweiligen letzten Europa- oder Bundestagswahl mindestens 0,5 Prozent oder bei der jeweils letzten Landtagswahl ein Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen für ihre Liste erreicht haben. Ist eine Liste für die Partei nicht zugelassen, entsteht ein Anspruch, wenn die Partei 10 Prozent der in einem Wahl- oder Stimmkreis abgegebenen gültigen Stimmen erreicht. Für die Verteilung der staatlichen Mittel sind zwei Vergabekriterien erheblich: die erzielten Wählerstimmen (Wähler- stimmenanteil) und die selbst eingeworbenen Zuwendungen (Zuwendungs- anteil). Der Wählerstimmenanteil ergibt sich daraus, dass jede für eine Parteiliste in einer Europa-, Bundestags- oder Landtagswahl abgegebene Stimme mit 0,70 € prämiert wird (§ 18 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 PartG). Dieses Geld wird aber nicht voll- umfänglich aus dem Bundeshaushalt an die Bundesparteien ausgezahlt. Gemäß § 19a Abs. 6 PartG wird von dem Gesamtbetrag für jede bei einer Landtagswahl erzielte gültige Stimme, die auf dem Stimmenkonto Berücksichtigung gefunden

9 Siehe etwa § 13 Abs. 7 S. 3 der Satzung des Landesverbandes der Partei DIE LINKE in NRW.

61 Heike Merten hat, 0,50 € an den entsprechenden Landesverband gezahlt. Aufgebracht werden diese Mittel gemäß § 21 PartG durch die entsprechenden Landeshaushalte. Es handelt sich mithin für diesen Teil um eine direkte staatliche Landesfinanzierung der Landesverbände der Bundesparteien.10 Dieses Phänomen der Parteien- finanzierung kann dazu führen, dass ein erfolgreicher Landesverband über deut- lich mehr staatliche Mittel verfügt als der Bundesverband, wie uns das Beispiel der NRW-Piraten gezeigt hat. Der Zuwendungsanteil besteht in einer Zahlung von 0,38 € für jeden Euro Zuwendung in Form von Mitglieds-, Mandatsträgerbeiträgen und rechtmäßigen Spenden natürlicher Personen bis zu einer Höhe von 3.300 € je Person und Jahr. Diese Zahlungen erfolgen an die Bundesparteien. Zur Entgegennahme der Spenden sind aber auch die Untergliederungen berechtigt, unter den Voraus- setzungen des § 25 PartG und mit den dort normierten Pflichten.11

2.3 Zugang zu öffentlichen Einrichtungen

Jede politische Partei hat einen Anspruch auf Zulassung zur Nutzung öffentlicher Einrichtungen, wie z. B. Stadthallen, Mehrzweckhallen, Kulturzentren, Wiesen und Plätze etc. in den Grenzen der Widmung und der Kapazitäten. Der Zulassungsanspruch ergibt sich in Nordrhein-Westfalen aus § 8 Abs. 2, 4 GO NRW.12 Bei der Realisierung dieser Ansprüche findet dann § 5 PartG Anwendung.13 Dieser statuiert ein System der abgestuften Chancengleichheit, mit dem der Grundsatz absoluter Gleichheit modifiziert wird. Danach kann der Umfang der Leistungsgewährung nach der Bedeutung der Parteien bis zu dem für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß abgestuft werden. Die Bedeutung der Parteien bemisst sich dabei insbesondere auch nach den Ergeb-

10 Dieser Teil unterliegt auch nicht der Kürzung durch das Überschreiten der absoluten Obergrenze gemäß § 19a Abs. 5 PartG. 11 Zu nennen ist hier die unverzügliche Anzeigepflicht bei Spenden über 50.000 € und die Weiterleitungspflicht bei unzulässigen Spenden gegenüber dem Präsidenten des Deutschen Bundestages. 12 Vergleichbare Regelungen finden sich in sämtlichen Gemeindeordnungen. 13 Siehe dazu im Einzelnen Sophie-Charlotte Lenski: Parteiengesetz und Recht der Kandidatenaufstellung, Baden-Baden 2011, § 5; Bernd Köster: Zugang der politischen Parteien zu öffentlichen Einrichtungen der Kommune, KommJur 2007, S. 244 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen.

62 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW nissen vorausgegangener Wahlen zu Volksvertretungen. Für eine Partei, die im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten ist, muss der Umfang der Gewährleistung mindestens halb so groß wie für jede andere Partei sein. Für Wahlkampfzeiten wird der Gleichbehandlungsgrundsatz dahingehend modifiziert, dass sich nur Parteien, die Wahlvorschläge eingereicht haben, auf die abgestufte Chancengleichheit berufen können (§ 5 Abs. 2 PartG). Die Dauer des Wahlkampfes definiert das Gesetz nicht. Allerdings kann man wohl davon ausgehen, dass damit die Zeit zwischen der Frist für die Einreichung von Wahl- vorschlägen14 bis zum Wahltag gemeint ist.

3. Wahlrechtliche Besonderheiten in NRW

Die Besonderheiten für politische Parteien in Nordrhein-Westfalen resultieren hauptsächlich aus den wahlrechtlichen Bestimmungen. Wahlen haben in der Demokratie eine entscheidende Bedeutung für die Legitimation staatlicher Macht. Durch sie wird die vom Volke ausgehende Staatsgewalt praktisch aus- geübt. In dem föderalen Staatsaufbau Deutschlands sind dies neben den Wahlen zum Bundestag auch die Wahlen zu den 16 Landtagen und die Kommunalwahlen. Die Abgeordneten des Nordrhein-Westfälischen Landtages werden gemäß Art. 31 Abs. 1 der Landesverfassung (Verf. NRW) in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer, geheimer und freier Wahl gewählt. Das Nähere bestimmt nach Art. 31 Abs. 3 Verf. NRW ein Gesetz und zwar das Landeswahlgesetz (LWG NRW). Die Ratsmitglieder werden gemäß § 42 Abs. 1 GO NRW ebenfalls nach diesen Wahlgrundsätzen gewählt. Das Nähere regelt hier das Kommunalwahl- gesetz.

3.1 Landtagswahlen

In Nordrhein-Westfalen werden die 181 Abgeordneten des Landtages im Rahmen einer personalisierten Verhältniswahl gewählt. Die Wahl erfolgt nach einem Zwei- Stimmen-System. Gemäß §§ 13, 14 LWG NRW werden 128 Abgeordnete mit der ersten Stimme auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen in Wahlkreisen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt; mit der zweiten Stimme werden

14 Siehe dazu unten 3.1.1 und 3.2.1.

63 Heike Merten die übrigen 54 Abgeordneten aufgrund von Landeswahlvorschlägen (Landes- listen) gewählt. § 33 LWG NRW regelt die Verteilung der Landeslistenplätze zunächst hinsicht- lich der Gesamtmandatszahlen im Verhältnis ihrer im Land insgesamt erreichten Zweitstimmen. Dabei werden gemäß § 33 Abs. 2 LWG NRW nur solche Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen gültigen Zweit- stimmen erreicht haben. Von der Anzahl der so auf jede Partei entfallenden Mandate werden die erfolgreich errungenen Direktmandate abgezogen. Das sind die Mandate, die die jeweiligen Kandidaten dadurch errungen haben, dass sie die relative Mehrheit auf den Wahlkreisvorschlägen, mit denen sie nominiert wurden, vereinigen konnten. Ist die Anzahl der Direktmandate größer als die Anzahl der der Partei zustehenden Mandate, so verbleiben diese Mandate der Partei als Überhangmandate. Für diese Überhangmandate werden gemäß § 33 Abs. 5 LWG NRW Ausgleichsmandate geschaffen. Dies kann zu einer deutlichen Vergrößerung des Landtages führen. Wahlvorschläge für Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sind bei den Kreiswahlleitern für die Wahlkreise und beim Landeswahlleiter für die Landes- listen einzureichen. Kreiswahlvorschläge können von Parteien, Wählergruppen und parteilosen Bewerbern eingereicht werden. Landeslisten können nur von Parteien eingereicht werden (sog. »Parteienprivileg«).

3.1.1 Kandidatenaufstellung Das Recht der Kandidatenaufstellung stellt die oben bereits erwähnte Schnittstelle zwischen Parteienrecht und Wahlrecht dar. Die Aufstellung von Wahlbewerbern und die Einreichung von Wahlvorschlägen gehört zu den verfassungsrechtlich in Art. 21 Abs. 1 GG und einfachgesetzlich in § 1 Abs. 2 PartG konkretisierten originären Aufgaben der Parteien. Gleichzeitig liegt in der Aufstellung von Wahl- bewerbern eine Wahlvorbereitungshandlung, in denen die Wahlrechtsgrundsätze Wirkung entfalten. Der Gesetzgeber hat sowohl bundes- als auch landesrecht- lich die Kandidatenaufstellung dem Wahlrecht und nicht dem bundesrechtlichen Parteienrecht zugeordnet. Lediglich das elementare Erfordernis der geheimen Kandidatenwahl ist in § 17 PartG normiert und damit auch auf Landesebene zwingendes Recht.

64 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW

Die Kandidatenaufstellung stellt eine der wichtigsten innerparteilichen Willensbildungsmaßnahmen der Parteien dar15 und wird daher nachfolgend näher beleuchtet. Mit der Aufstellung der Wahlvorschläge darf erst 15 Monate vor Ablauf der jeweils vorangehenden Wahlperiode begonnen werden.16 Die Kandidaten der Parteien oder Wählergruppen17 sind in einem demokratischen Verfahren in einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung der Partei bzw. Wählergruppe zu wählen. Ihnen muss aus innerparteilichen Chancengleichheitsgründen die Möglichkeit gegeben werden, sich vor der Wahlversammlung zu präsentieren (§ 18 Abs. 2 S. 4 LWG NRW). Das Nähere über die Wahlen der Vertreter für die Vertreterver- sammlung, Einberufung, Beschlussfassung, Wahl der Bewerber etc. regeln die Parteien durch ihre Satzung. Als Bewerber einer Partei kann nur gewählt werden, wer deren Mitglied ist und keiner anderen Partei angehört, oder wer keiner Partei angehört (§§ 18 Abs. 3, 20 Abs. 2 LWG NRW). Über die Wahl der Kandidaten ist eine Niederschrift mit den in §§ 18 Abs. 8, 20 Abs. 2 LWG NRW aufgelisteten Inhalten zu fertigen. Die Voraussetzungen, unter denen Parteien Wahlvorschläge für die Wahl zum Landtag einreichen können, sind unterschiedlich (§§ 19 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 1 S. 2 LWG NRW): Parteien, die im Landtag Nordrhein-Westfalen oder im Deutschen Bundestag aufgrund eines Wahlvorschlags aus dem Land seit deren letzter Wahl ununterbrochen vertreten sind (sog. »alte« Parteien), brauchen ihren Wahlvorschlägen weder Unterstützungsunterschriften noch Nachweise über ihre Satzung, ihr Programm und die demokratische Bildung ihres Vorstands hinzuzu- fügen. Diese Voraussetzungen treffen gegenwärtig nur auf CDU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die PIRATEN zu. Alle anderen Parteien (sog. »neue« Parteien) müssen ihren Wahlvorschlägen Unterstützungsunterschriften hinzufügen. Für Kreiswahlvorschläge sind mindestens 100 Unterschriften von Wahlberechtigten aus dem jeweiligen Wahl- kreis und für eine Landesliste mindestens 1.000 Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten aus dem Land erforderlich. Grundsätzlich müssen diese

15 Siehe auch Martin Morlok: Kleines Kompendium des Wahlrechts, NVwZ 2012, S. 913 ff. 16 §§ 18 Abs. 5, 20 Abs. 2 LWG NRW. 17 Siehe zum Problem der Abgrenzung von politischen Parteien und Wählergruppen Martin Morlok/Heike Merten: Parteien genannt Wählergemeinschaften, Die Öffentliche Ver- waltung (DÖV), 4/64 (2011), S. 125 ff.

65 Heike Merten

»neuen« Parteien auch den Nachweis erbringen, dass sie einen nach demo- kratischen Grundsätzen gewählten Vorstand, eine schriftliche Satzung und ein Programm haben. Hiervon ausgenommen sind allein Parteien, die im Deutschen Bundestag nur aufgrund von Wahlvorschlägen aus anderen Ländern oder im Landtag eines anderen Landes seit deren letzter Wahl vertreten sind, sowie Parteien, deren Parteieigenschaft bei der letzten Wahl zum Deutschen Bundes- tag festgestellt worden ist. Über die Zulassung der eingereichten Wahlvorschläge entscheidet der Landeswahlausschuss, ein Ausschuss des Landtages Nordrhein- Westfalen.18 Nach § 18 Abs. 2 S. 1 LWG NRW sind hinsichtlich der Kreiswahlvorschläge die Bewerber und die Vertreter für die Vertreterversammlungen in geheimer Wahl zu wählen. Dies gilt entsprechend hinsichtlich der Landeslisten (§ 20 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 18 Abs. 2 S. 1 LWG NRW). Das Gebot der geheimen Wahl ist etwa ver- letzt, wenn die Stimmabgabe, so bei handschriftlich in Schreibschrift von stimm- berechtigten Mitgliedern einer Nominationsversammlung auf Stimmzetteln ver- merkten Bewerbernamen, nachträglich bestimmten Stimmberechtigten durch Identifizierung der Handschrift zugeordnet werden kann.19 Die Möglichkeit einer solchen Zuordnung in bestimmten Fällen lässt sich regelmäßig nicht aus- schließen, es sei denn, die Stimmzettel werden vor der Abstimmung vermischt und danach zur Stimmabgabe wieder ausgegeben. Nach herrschender Meinung ist das Wahlgeheimnis unverzichtbar; auch die Stimmberechtigten können hierauf nicht verzichten. Gleiches gilt für die Wahl der Delegierten für Nominationsver- sammlungen. Bei Nichtbeachtung besteht das Risiko, dass Kreiswahlvorschläge und Landeslisten von Kreiswahlausschüssen bzw. vom Landeswahlausschuss wegen Verletzung zwingender Anforderungen des Landeswahlgesetzes gemäß § 21 Abs. 3 S. 2 LWG NRW zurückgewiesen werden.

18 Dieser besteht aus zehn Landtagsabgeordneten und dem Landeswahlleiter als Vor- sitzendem. 19 Vgl. Dieter Kallerhoff/Hans-Gerd von Lennep/Frank Bätge/Michael Becker/Otmar Schneider/Martin Schnell: Handbuch zum Kommunalwahlrecht in Nordrhein-West- falen, Köln/Kronach 2008, S. 50, mit Hinweis auf einen Beschluss des OVG NRW vom 23.4.1996.

66 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW

3.1.2 Wahlwerbung In Wahlkampfzeiten ist für die politischen Parteien die Möglichkeit zur Wahl- werbung ein vordringliches und oft umstrittenes Thema.20 Das Aufstellen von Werbeplakaten und Infoständen im öffentlichen Straßenraum ist eine sonder- nutzungserlaubnispflichtige Zurverfügungstellung von öffentlichen Leistungen. Ein Anspruch darauf ergibt sich, wie oben bereits dargelegt, aus § 8 GO NRW i. V. m. § 5 PartG. Durch einen gemeinsamen Runderlass des Verkehrs- und Innenministeriums wird für Lautsprecher- und Plakatwerbung eine ent- scheidungserhebliche Verwaltungspraxis festgeschrieben. Danach ist außerhalb geschlossener Ortschaften Plakatwerbung innerhalb von drei Monaten vor dem Wahltag grundsätzlich zugelassen. Lautsprecherwerbung außerhalb geschlossener Ortschaften ist in den letzten vier Wochen vor der Wahl, nicht aber am Wahltag zugelassen.21 Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Wahlwerbezeiten. Die Rundfunkan- stalten stellen den an der Wahl teilnehmenden Parteien oder Wählergruppen unter den Voraussetzungen des § 19 Rundfunkgesetz NRW Sendezeit – ent- sprechend der Bedeutung der Partei – für Wahlwerbespots zur Verfügung. Für die Inhalte der Werbespots sind die Parteien verantwortlich.

3.2 Kommunalwahlen

Im Kommunalwahlgesetz (KWahlG NRW) sind die Regelungen für die Durch- führung der Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage, der Bürgermeister und Landräte sowie der Bezirksvertretungen in den kreisfreien Städten enthalten. Die Größe der Kommunalparlamente hängt von der Einwohnerzahl der Kommune und vom Wahlergebnis ab. Dabei wird etwa die Hälfte der Vertreter in Wahl- bezirken durch Mehrheitswahl gewählt und die andere Hälfte (mindestens) über Reservelisten der Parteien. Erreicht eine Partei in den Wahlbezirken mehr Mandate, als ihr nach dem Verhältnis ihrer Stimmen zustehen würde, behält

20 Siehe zu den zahlreichen gerichtlichen Auseinandersetzungen die jährliche Zusammen- stellung von Alexandra Bäcker: Spiegel der Rechtsprechung, in: MIP 2000 bis 2013. 21 Lautsprecher- und Plakatwerbung aus Anlass von Wahlen, Volksbegehren und Volksent- scheiden in NRW, Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums für Verkehr, Energie und Landesplanung und des Innenministeriums vom 8.8.2003.

67 Heike Merten sie diese Mandate (Überhangmandate), und die anderen Parteien erhalten Aus- gleichsmandate. Entsprechend vergrößern sich die Parlamente. Jeder Wähler hat nur eine Stimme, mit der er den Vertreter im Wahlbezirk (§ 32 KWahlG NRW) und, soweit dieser von einer Partei oder Wählervereinigung aufgestellt ist, gleichzeitig auch die Partei oder Wählervereinigung wählt. So wird errechnet wie stark die Partei oder Wählervereinigung im Stadt- oder Gemeinde- rat bzw. Kreistag wird und welcher lokale Kandidat direkt einzieht. Gewählt ist derjenige Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei der Wahl von Bürgermeistern und Landräten ist gewählt, wer mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen erhält. Erhält keiner der Bewerber die absolute Mehrheit, findet gemäß § 46c Abs. 2 KWahlG NRW eine Stichwahl statt.22

3.2.1 Kandidatenaufstellung Das Verfahren für die Aufstellung der Wahlbewerber regeln, wie auf Landesebene für die Landtagswahl das Landeswahlgesetz, analog die Rahmenvorgaben des Kommunalwahlrechts. Wahlvorschläge können gemäß § 15 Abs. 1 S. 2 KWahlG NRW von politischen Parteien, mitgliedschaftlich organisierten Wählergemeinschaften und von Einzel- bewerbern eingereicht werden. Eine Wählergemeinschaft auf Kreisebene, in der sich Wählergruppen aus kreisangehörigen Gemeinden zusammengeschlossen haben, darf sich als solche – wegen der fehlenden individuellen Mitgliedschaft – nicht an der Wahl beteiligen. Die Wahl der Kandidaten muss in einer Versammlung der wahlberechtigten Mitglieder der Wählergruppe im Wahlgebiet (Mitgliederversammlung) oder in einer Versammlung der von den wahlberechtigten Mitgliedern der Wählergruppe im Wahlgebiet aus ihrer Mitte gewählten Vertretern (Vertreter- bzw. Delegierten- versammlung) erfolgen (§ 17 KWahlG NRW). Die Wahl der Vertreter und der Kandidaten ist geheim und muss demokratischen Grundsätzen genügen. Die Erfüllung dieser Anforderungen ist vom Versammlungsleiter sowie zwei von der Versammlung zu bestimmenden Teilnehmern gegenüber dem Wahlleiter an Eides statt zu versichern. Den Bewerbern ist Gelegenheit zu geben, sich und ihr Programm der Versammlung in angemessener Zeit vorzustellen.

22 Siehe zur Problematik der Stichwahl Julian Krüper: Kommunale Stichwahlen als demo- kratisches Wettbewerbsgebot, in: DÖV, 62/2 (2009), S. 758 ff.

68 Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW

Über die Mitgliederversammlung bzw. Vertreterversammlung zur Aufstellung der Kandidaten ist eine Niederschrift zu fertigen, die zusammen mit dem Wahl- vorschlag, der Versicherung an Eides statt, den Zustimmungserklärungen der Kandidaten und den Bescheinigungen der Wählbarkeit bei dem Wahlleiter ein- zureichen sind. Der Wahlvorschlag muss von der für das Wahlgebiet zuständigen Leitung der Wählergruppe unterzeichnet werden (§ 15 Abs. 2 S. 1 KWahlG NRW). Wählergruppen, die in der zum Zeitpunkt der Festsetzung des Wahl- termins durch den Innenminister laufenden Wahlperiode nicht ununterbrochen in der zu wählenden Vertretung, in der Vertretung des zuständigen Kreises, im Landtag oder aufgrund eines Wahlvorschlages aus dem Land im Bundestag ver- treten sind, müssen zudem nachweisen, dass sie einen nach demokratischen Grundsätzen gewählten Vorstand, eine schriftliche Satzung und ein Programm haben. In diesem Fall sind also eine Satzung und ein Programm nicht nur zweck- mäßig, sondern erforderlich. Darüber hinaus müssen solche Wählergruppen ihrem Wahlvorschlag Unterstützungsunterschriften hinzufügen. Die Anzahl der beizubringenden Unterstützungsunterschriften für einen Bewerber in einem Wahlbezirk, für eine Reserveliste oder für einen Bewerber für das Amt des (Ober-)Bürgermeisters oder des Landrats ist jeweils verschieden (§§ 15 Abs. 2 S. 3; 46d Abs. 1 S. 3 KWahlG NRW). Sie ist darüber hinaus von der Anzahl der Wahlberechtigten in einem Wahlbezirk bzw. im Wahlgebiet abhängig. Wahlvorschläge können bis zum 48. Tag vor der Wahl 18.00 Uhr bei dem ört- lichen Wahlleiter eingereicht werden (§ 15 Abs. 1 S. 1 KWahlG NRW). Schließen sich Parteien und/oder Wählergruppen zu neuen Gruppierungen zwecks Auf- stellung gemeinsamer Kandidaten zusammen, ist zu beachten, dass es sich, wenn keine Identität mit der bisherigen Gruppe gegeben ist, um neue Gruppen handelt, die die Privilegierung so genannter »alter« Parteien und Wählergruppen nicht in Anspruch nehmen können. Sie müssen Unterstützungsunterschriften beibringen sowie einen demokratisch gewählten Vorstand, Satzung und Programm nach- weisen. Um der Verwechslungsgefahr mit »alten« Parteien und Wählergruppen Rechnung zu tragen, wird eine unmissverständliche Bezeichnung verlangt, die sich für die Parteien bereits aus § 4 PartG ergibt. Für die Reihenfolge auf dem Stimmzettel kann die neue Gruppierung i. d. R. keine Berücksichtigung der Stimmenanzahl eines Teils der Gruppe aus der vorangegangenen Wahl in Anspruch nehmen. Demgegenüber ist aber nicht ausgeschlossen, dass eine Gruppierung auf einen eigenen förmlichen Wahlvorschlag verzichtet und statt- dessen öffentlich für den Wahlvorschlag einer anderen Partei oder Wählergruppe eintritt.

69 Heike Merten

4. Fazit

Dem rechtlichen Rahmen der politischen Parteien kommt eine zentrale Rolle zu, da er den politischen Wettbewerb der wesentlichen Akteure in einer Demokratie regelt. Wie die überblicksartig angelegte Darstellung zu den rechtlichen Rahmen- bedingungen der politischen Parteien in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat, gilt dies in besonderem Maße auch für die Landesebene. Hier wird der verfassungs- rechtlich verankerte Grundsatz der innerparteilichen Demokratie gelebt. Der Grundsatz verlangt einen gegliederten Aufbau der Partei von unten nach oben und legt damit die Vermutung nahe, dass eine spezifische nordrhein-westfälische Parteienkultur möglich und erwünscht ist. Die nähere Betrachtung befördert allerdings ein gewisses Dilemma zum Vorschein. Die Vorgaben des PartG geben den Landesverbänden und Gebietsgliederungen nur wenig Spielraum. Eine auto- nome Entwicklung der Gebietsgliederungen ist nur in den Grenzen der Partei- einheit möglich. Eigene Schwerpunktsetzungen und innerparteiliche Opposition finden dort ihre Grenzen. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Gebietsgliederungen und damit die Landesverbände nur unter relativer Freiheit agieren, reine Landes- parteien und Wählergemeinschaften dagegen deutlich einfacher eigene regional geprägte Akzente setzen und damit auch eine eigene, den regionalen Besonder- heiten Rechnung tragende Kultur entwickeln können.

70 Marcel Lewandowsky links: Marcel Lewandowsky rechts: Die Parteiorganisationen in Nordrhein-West- Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen falen

1. Zum Begriff der Parteiorganisation

Lange Zeit betrachtete die politikwissenschaftliche Forschung Parteien auf der nationalen Ebene und beobachtete zudem eine Homogenisierung des Parteien- wettbewerbs zwischen den einzelnen Bundesstaaten auf subnationaler Ebene.1 Zugleich führte auch die Dominanz von Rational-Actor-Theorien2 in der deutschsprachigen Forschung zur Herausbildung einer auf die Bundespolitik und die Bundesparteien fokussierten Perspektive, wohingegen die Bedeutung subnationaler Strukturen in der Forschung lange Zeit eher ein Schattendasein fristete.3 Erst seit den letzten Jahren interessiert sich die Parteienforschung ana- log zur Wahlforschung4 stärker für Parteien auf der regionalen Ebene.5 Insofern schließt das folgende Kapitel an einen noch relativ jungen Diskurs an. Im Grunde genommen betrachtet man Parteiorganisationen in den deutschen Bundesländern immer durch zwei Brillen zugleich. Man nimmt sie einerseits als regionale Körperschaften in den Blick und behält dabei im Auge, dass sie in ihre nationalen Parteiorganisationen eingeflochten sind. Sie sind also sowohl eigen-

1 Wilfried Swenden/Bart Maddens: Introduction: Territorial Party Politics in Western Europe. A Framework for Analysis, in: Dies. (Hg.): Territorial Party Politics in Western Europe, Basingstoke 2009, S. 4. 2 Anthony Downs: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968; Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart 1972. 3 Herbert Schneider: Parteien in der Landespolitik, in: O. W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 2001, S. 385. 4 Statt vieler Kerstin Völkl/Kai-Uwe Schnapp/Everhard Holtmann/Oscar W. Gabriel (Hg.): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008; Daniel Hough/Charlie Jeffery: Landtagswahlen: Bundestestwahlen oder Regionalwahlen?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 34/1 (2003), S. 79–94. 5 Z. B. Klaus Detterbeck: Multi-Level Party Politics in Western Europe, Basingstoke 2012; Wilfried Swenden/Bart Maddens: Territorial Party Politics in Western Europe, Basing- stoke 2009; Tània Verge/Raúl Goméz: Factionalism in multi-level contexts. When Party organization becomes a device, in: Party Politics, 18/2 (2012), S. 667–685.

71 Marcel Lewandowsky ständige Akteure als auch Bestandteile einer größeren Organisationseinheit.6 Das vorliegende Kapitel möchte dieser Doppelperspektive gerecht werden. Er möchte einerseits einen ersten Überblick über die Charakteristika der nord- rhein-westfälischen Parteiorganisationen hinsichtlich ihrer Größe und Struktur geben. Zum anderen wird er die Landesparteien im Kontext des deutschen Mehrebenensystems betrachten. Als Zugang dienen dabei zeitgenössische Typo- logien, die die Professionalisierung von Parteiorganisationen auf der nationalen Ebene in den Mittelpunkt stellen. Damit bietet sich erstens ein Konstrukt, das die nachfolgenden Überlegungen anleiten kann. Zweitens besteht die Möglich- keit, die Typologie daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie die Praxis der Partei- organisationen auf Landesebene tatsächlich abbildet.

2. Gestalt von Parteiorganisationen

Wenn man sich mit den Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen befassen will, kommt man nicht umhin, einige grundlegende Gedanken zu Partei- organisationen zu formulieren. Kurz gesagt ist zu überlegen, in welchem Zusammenhang die Organisation auf subnationaler Ebene mit den Typologien steht, die sich der Partei auf nationaler Ebene nähern. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um umfassende Beschreibungen zu handeln; zumindest dem Anspruch nach erfassen Parteientypologien ihren Gegenstand in Gänze. Dies könnte aber mit Blick auf Parteien in föderalen Systemen, wie dem der Bundesrepublik Deutschland, in Zweifel gezogen werden. Der Grund liegt in der Adaption des Staatsaufbaus durch die Parteien. Einerseits sind die subnationalen Gliederungen zwar in den Apparat auf der nationalen Ebene integriert.7 Auf der anderen Seite bilden die Landesparteien jeweils eigene Körperschaften, die das Organisationsformat auf der Bundesebene nachahmen. Legt man die von Katz und Mair herausgearbeiteten »drei Gesichter der Parteiorganisation« zugrunde8, dann zeigt sich, dass die Landesparteien jeweils über eigene Vor- stände und Geschäftsstellen (Party in Central Office), eigene, innerhalb der Gliederung organisierte Mitgliederbasen und Funktionärsmittelbauten (Party

6 Klaus Detterbeck: Parteien und Parteiensystem, Konstanz/München 2011, S. 86. 7 Ebd., S. 216. 8 Richard S. Katz/Peter Mair: The Evolution of Party Organization in Europe: The Three Faces of Party Organization, in: American Review of Politics, 14/4 (1993), S. 593–617.

72 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen on the Ground) und gegebenenfalls auch eigene Parlamentsfraktionen (Party in Public Office) verfügen. Setzt man also erstens die Einhegung der Landesparteien in die Gesamtpartei, zweitens die organisationale Autonomie der Gliederungen voraus, dann stellt sich die Frage, ob sich Typologien, die für die Parteien auf der nationalen Ebene entwickelt wurden, auch auf die Landesebene anwenden lassen.

2.1 Wandel von Parteiorganisationen

Dass sich die Parteiorganisationen seit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts verändert haben, ist bekannt.9 So handelte es sich bei Parteien in der ersten Phase um Zusammenschlüsse von Eliten, namentlich der Parlamentarier selbst.10 Ein komplexer organisatorischer Unterbau bildete sich erst mit der Ende des 19. Jahr- hunderts auftauchenden Massenpartei heraus. Vor allem die Sozialdemokratie brachte eine auf Grundlage sozialer Konfliktlinien im sozialmoralischen Milieu verwurzelte, durch Vorfeldorganisationen gestärkte Organisation hervor, die bis in die 1960er Jahre hinein existierte.11 Die politische Integration ebendieser Milieus kennzeichnet das Kernziel dieses Parteitypus. Parallel dazu schälte sich in den fünfziger Jahren allmählich ein Paradigma der wechselseitigen Konkurrenz um ähnliche Wählerklientelen heraus.12 Mit dem Typus der Allerweltspartei bzw. der Catch-All-Party lässt sich beschreiben, wie die Parteien auf die Per- zeption schwindender Klassenunterschiede reagierten. An die Stelle der, mit den Worten Otto Kirchheimers, »geistigen« und »moralischen« Eingliederung tritt die Konzentration auf die Wähler und den Wahlerfolg.13

9 Richard S. Katz/Peter Mair: Changing models of party organization and party democracy. The emerge of the cartel party, in: Party Politics, 1/1 (1995), S. 5–28. 10 Klaus von Beyme: Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massen- mitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: O. W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 2001, S. 323. 11 Ebd., S. 329. 12 Peter Mair: Populist Democracy vs. Party Democracy, in: Y. Mény/Y. Surel (Hg.): Democracies and the Populist Challenge, Basingstoke/New York 2002, S. 85. 13 Otto Kirchheimer: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6/1 (1965), S. 20–41, hier S. 27.

73 Marcel Lewandowsky

Dieses Prinzip setzt sich in Parteien des jüngsten Typus fort, der etwa von Uwe Jun als »professionalisierte Medienkommunikationspartei«14, von Angelo Panebianco ursprünglich als »professionelle Wählerpartei«15 bezeichnet wird. Der Unterschied zur Catch-All-Party besteht in der Qualität, wie die Wett- bewerbsorientierung unter den Bedingungen des modernen Mediensystems verwirklicht wird. Mit Blick auf die Organisation lassen sich drei wesentliche Merkmale dieses Parteientypus ausmachen16: Erstens lässt sich im Verhältnis von Parteiführung und Parteimitgliedern die Zentralisierung der Führung und die Entkopplung von Parteiführung und Parteibasis beobachten. Strategische Entscheidungen werden verstärkt durch eine Parteiführung beschlossen, die zum einen auf ihre Autonomie bedacht ist, zum anderen zu diesem Zwecke das mediale »Image« der Partei als Mittel der Disziplinierung nach innen nutzen kann. Der professionalisierte Parteitypus weist eine gegenüber der Mitglied- schaft gestärkte Parteiführung auf. Der Zwang, auf mediale Ereignisse rasch reagieren und zugleich das »Image« der Partei permanent aufrecht erhalten zu müssen, führt zu einem »klaren Reaktions- und Handlungsvorsprung [der Partei- führung] gegenüber der Parteiorganisation […], mit der Folge, dass Macht und Kompetenzen im Zentrum verankert sind und die Partei als Massenorganisation weniger bedeutsam wird«17. In diesem Zusammenhang kommt es zweitens ver- mehrt zur Integration externer Berater und Fachleute in die strategische Partei- führung.18 Aufgaben, die noch in den siebziger Jahren von den gewählten Parteieliten und dem hauptamtlichen Apparat wahrgenommen wurden, werden zunehmend in die Hände professioneller Kampagnenmanager gelegt. Drittens ändern sich die Kommunikationsstrukturen zwischen Parteien und Bürgern dahingehend, dass die Parteien in immer geringerem Maße direkt, also in Form vor Ort verankerter Funktionäre, Vorfeldgruppen und parteieigener Medien mit den Bürgern kommunizieren. Vielmehr vollzieht sich die Bewerbung politischer

14 Uwe Jun: Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich, Frankfurt a. M. 2004. 15 Panebianco: Political Parties. 16 Jun: Wandel von Parteien, S. 125 ff. 17 Ebd., S. 121. 18 Patrick Donges: Amerikanisierung, Professionalisierung, Modernisierung? Anmerkungen zu einigen amorphen Begriffen, in: K. Kamps (Hg.): Trans-Atlantik – Trans-Portabel? Die Amerikanisierungsthese in der politischen Kommunikation, Opladen 2000, S. 30 f.

74 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

Inhalte verstärkt über massenmediale Kanäle, die, mit Blick auf die Selektion von Ereignissen und die Präsentation von Nachrichten, Erfordernisse an Auf- bereitung und Inhalt des politischen Angebotes richten. Die Kommunikations- strategie der Parteien ist auf das Ziel gerichtet, ihre Präsenz auch angesichts kurz- lebiger Medienlogiken auf Dauer aufrecht zu erhalten.19 Somit zeichnet sich der professionalisierte Parteitypus durch die vermehrte Nutzung von Marketing- instrumenten zwecks zielgruppengerechter Ansprache aus. Diese Entwicklungen dürften sich allerdings nicht so grundlegend vollzogen haben, wie es die Idealmodelle suggerieren. Die Evolution der Parteitypen stellt sich nicht als Ablauf von Brüchen dar, sondern als Hinzufügen neuer Bestand- teile und Veränderungen gegebener Strukturen, während andere Elemente weiterexistieren. Betrachtet man einzelne Parteien im Zeitverlauf, so bestehen z. B. Typen moderner Wähler- und Medienparteien in Allerwelts- und Massen- parteien fort.20 Bezweifelt man eine lineare Organisationsentwicklung auf der Bundesebene, so stellt sich mit Blick auf die Landesparteien erneut die Frage, inwieweit auf Professionalisierung abstellende Typologien auf subnationale Gliederungen von Parteien in föderalen Systemen zutreffen. Bereits aufgrund geringerer Ressourcen, die die Verwendung moderner Instrumente und den Einbezug externer Profis bedingen21, liegt es nahe, eine kohärente Gestalt zu bezweifeln. Vielmehr können sich in unterschiedlichen Bundesländern verschiedene Strukturen und Praxen herausgebildet haben, die eine eindeutige Zuordnung der Parteien zu zeit- genössischen Typologien erschweren. Warum das so ist, soll im Folgenden ent- wickelt werden.

19 Thomas Meyer: Die Theatralität der Politik in der Mediendemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 53 (2003), S. 12–19, hier S. 14; Martin Thunert: Es ist immer Wahlkampf: Permanent Campaigning als moderner Regierungs- und Politikstil, in: M. Karp/U. Zolleis (Hg.): Politisches Marketing. Eine Einführung in das Politische Marketing mit aktuellen Bezügen aus Wissenschaft und Praxis, Münster 2004, S. 221–231. 20 Frank Decker: Parteien und Parteiensysteme in Deutschland, Stuttgart 2011, S. 96. 21 Josef Schmid/Udo Zolleis: Wahlkampf im Südwesten. Einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Dies. (Hg.): Wahlkampf im Südwesten. Parteien, Kampagnen und Landtagswahlen 2006 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Münster u. a. 2007, S. 371.

75 Marcel Lewandowsky

2.2 Parteien im föderalen System der Bundesrepublik

Oben wurde bereits angedeutet, dass Parteien in föderalen Systemen neben ihren nationalen Organisationen analog zum Staatsaufbau subnationale Körper- schaften ausbilden. Der Unterschied zwischen Parteien in Einheitsstaaten und in föderal aufgebauten Staatsgebilden besteht in der Rolle, die diesen subnationalen Organisationen innerhalb der Bundespartei zukommt, namentlich dem Grad der vertikalen Integration regionaler Verbände in die nationale Parteiorganisation.22 Zur Analyse lassen sich die vier folgenden Merkmale heranziehen23: – Strukturen der Mitgliederorganisation auf nationaler und subnationaler Ebene; – Verteilung der organisatorischen Ressourcen (Finanzen, Mitarbeiter); – Entscheidungsprozesse bei zentralen Aktivitäten der Partei (Kandidaten, Programme, Strategien); – Integration von nationalen und subnationalen Eliten der Partei (Führungs- gremien, Karrierewege).

Für die Bundesrepublik kommt man hier zu dem einleitend bereits angedeuteten Befund, dass die Landesparteien zwar auf der einen Seite in die Entscheidungs- prozesse der Bundespartei integriert sind (»shared-rule«). Andererseits verfügen sie über eine gewisse Autonomie (»self-rule«).24 Integriert sind sie etwa durch das gemeinsame Bundesparteiprogramm, das alle Ebenen in der Regel bindet und durch die Verteilung finanzieller Ressourcen, die sie anteilig auf Rechtsgrund- lage des Parteiengesetzes (§ 22 PartG) im Zuge des parteiinternen Finanzaus- gleiches erhalten. Die Eliten der Landesparteien verfolgen gewissermaßen einen doppelten Karriereweg. Zum einen bieten die Landesverbände selbst Karriere- optionen. Die Eliten auf der nationalen Ebene haben zum anderen in der Regel eine Laufbahn im eigenen Bundesland hinter sich – sei es innerhalb der Partei oder in den jeweiligen Landesregierungen.25 Dabei zeigen sich zwischen den Parteienfamilien keine bedeutenden Unterschiede: »Die Machtbalance zwischen

22 Detterbeck: Parteien und Parteiensystem, S. 213. 23 Ebd., S. 214. 24 Ebd., S. 226. 25 Sven Leunig: Länder- versus Parteiinteressen im Bundesrat. Realer Dualismus oder fiktive Differenzierung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50–51 (2004), S. 33–38.

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Bundes- und Landesebene der Parteien scheint dabei weniger von der Partei- familie abzuhängen als von dem Zugang zu Regierungsämtern und damit ver- bundenen Ressourcen«.26 Hinsichtlich der Entscheidungsprozesse zeigen sich zugleich Einhegung und Autonomie. Auf Bundesebene verfügen große Landes- verbände, insbesondere ihre Vorsitzenden, nicht nur über symbolische, sondern durch die mittelbare Kontrolle des regionalen Funktionärsmittelbaus und seiner Delegierten auf der Bundesebene auch über reale Macht. Die Organisations- struktur bildet bei den meisten Parteien eine Art nationale Ebene im Kleinen ab. Hier gilt, dass hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen und territorialen Ausdehnung größere Landesparteien komplexere Strukturen hervorbringen. Das Verhältnis zwischen der Bundespartei und ihren Landesverbänden ist in den jeweiligen Statuten der Bundespartei geregelt. Grundsätzlich ordnen die Landesverbände ihren Aufbau selbst. Im Vergleich lassen sich kaum Unter- schiede hinsichtlich der satzungsrechtlichen Integration in die Gesamtpartei erkennen. In der Union kommt den Landesverbänden der Rang der zweiten »Organisationsstufe« nach dem Bundesverband zu. Zudem regelt § 17 Abs. 1 des CDU-Statuts, dass Landessatzungen und -satzungsänderungen hinsichtlich ihrer rechtlichen Geeignetheit und Kompatibilität mit der Bundessatzung der Bestätigung durch den Bundesgeneralsekretär bedürfen. Auch die Satzung der FDP beschreibt in § 8 Abs. 1 die Parteiorganisation von den Landesverbänden her. Sie bilden die Gliederung der Partei; ihnen obliegt die Schaffung weiterer Untergliederungen. Ähnliches gilt für die LINKE (§ 12 Abs. 1 Bundessatzung DIE LINKE). Die Grünen wiederum schreiben in ihrer Satzung den einzel- nen Gliederungen einschließlich der Landesverbände »Satzungs-, Finanz- und Personalautonomie« zu (§ 10 Abs. 2). Die organisationsrechtliche Basis der SPD ist demgegenüber umgekehrt angelegt. Dort ist die »Grundlage der Organisation […] der Bezirk« (§ 8 Abs. 2 Organisationsstatut der SPD); der Zusammenschluss zu einem Landesverband ist laut Satzung auf den willentlichen Zusammenschluss mehrerer Bezirke zurück zu führen. So ist es zu erklären, dass der nordrhein-west- fälische Landesverband der SPD erst 1970 gegründet wurde und heute die vier Bezirke Westliches Westfalen, Niederrhein, Mittelrhein und Ostwestfalen-Lippe integriert.

26 Detterbeck: Parteien und Parteiensystem, S. 226.

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Ohnehin vollzog sich die Entwicklungsgeschichte der Parteien in der Bundes- republik nach 1945 nicht auf der sprichwörtlichen »grünen Wiese«. Vielmehr knüpften die Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg an ihre bestehenden, durch die deutschen Gliedstaaten geprägten Organisationstraditionen an, während sich auch zwischen Bundes- und Landesparteien immer engere Verflechtungen aus- bildeten.27 Auch im politischen Wettbewerb sind die Landesverbände mehr als lediglich regionale Verwaltungseinheiten ihrer Bundesparteien. Über die Teilnahme an Landtagswahlen, möglicherweise verbunden mit der Beteiligung an der Regierung, erlangen die Landesparteien öffentliche Aufmerksamkeit, die wiederum in die Bundespartei hineinstrahlt. Besonders deutlich wird das mit Blick auf die »Labor- funktion« der Länder für die Vorbereitung (oder das Verwerfen) neuer Koalitions- modelle auf der Bundesebene.28 Das erste rot-grüne Regierungsmodell wurde 1985, immerhin dreizehn Jahre vor der Koalition von SPD und Grünen auf der Bundesebene, unter Holger Börner in Hessen geschlossen. Umgekehrt offenbart gerade die bundespolitische Aufladung der Koalitionsbildung auf Länderebene innerparteiliche Konflikte. So haben die Bundesparteien ein Interesse daran, die Bündnissuche auf Landesebene mit Blick auf die nächste Bundestagswahl mit- zusteuern, während die »Landesfürsten« auf ihre Autonomie bestehen.29

3. Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

Nachdem in den vorangegangenen Ausführungen Parteientypologien auf nationaler Ebene mit Überlegungen zu den Spezifika von Parteiorganisationen auf subnationaler Ebene in Verbindung gebracht wurden, soll nun versucht werden, diese konzeptionellen Überlegungen auf Nordrhein-Westfalen zu übertragen. Es soll nun zunächst auf die Größe und Struktur der Landesverbände eingegangen werden. Im Anschluss daran folgt eine Darstellung der Professionalisierung der Landesverbände.

27 Gerhard Lehmbruch: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungs- lagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000, S. 82 f. 28 Thomas Bräuninger/Marc Debus: Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden 2012, S. 112. 29 Decker: Parteienwettbewerb, S. 96.

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3.1 Größe und Struktur der Parteiorganisationen

Mit Blick auf seine hohe Einwohnerzahl, seine unterschiedlichen politischen Kulturen und regionalen sowie sozio-ökonomischen Milieus wird Nordrhein- Westfalen gern als »eine Art Bundesrepublik im Kleinen«30 bezeichnet. Ein Stück weit lässt sich diese Beschreibung auch auf die Parteiorganisationen selbst über- tragen. Das beginnt bei der Größe der Landesverbände.31 Abgesehen von der LINKEN bilden die nordrhein-westfälischen Gliederungen die jeweils größten der Bundesparteien, wobei die CDU NRW den größten Landesverband in Nord- rhein-Westfalen bildet. Dass die LINKE hier hervorsticht, liegt daran, dass deren westdeutsche Landesverbände erst nach dem Zusammenschluss mit der Wahl- alternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) rapide an Mitgliedern gewannen. Außerdem handelt es sich bei der LINKEN, wie der verpasste Wieder- einzug in viele westdeutsche Landesparlamente 2012 und 2013 demonstrierte, nach wie vor eher um eine ostdeutsche Regional- denn um eine gesamtdeutsche Partei.32 Im Zeitverlauf betrachtet hält die Mitgliederentwicklung der Parteien in Nord- rhein-Westfalen keine sonderlich großen Überraschungen bereit.33 Der Trend entspricht jenem auf der Bundesebene. Während die beiden großen Parteien nahezu konstant Mitglieder einbüßen, gewinnen die Grünen hinzu. Dabei bleibt die FDP im Vergleich zu CDU und SPD relativ stabil. Auffällig ist, dass die LINKE im Jahr 2007 einen enormen Anstieg verzeichnen konnte. 2006 noch bei 1.913 Mitgliedern gelegen, vereinte sie nun 5.905 Personen.34 Dieser Sprung ist verständlich, da sie nach der Fusion mit der WASG auf deren Mitgliederbestand zurückgreifen konnte. Nicht nur die hohen Wahlergebnisse, auch die schieren Mitgliederzahlen des SPD-Landesverbandes brachten Nordrhein-Westfalen über Jahrzehnte hinweg den Ruf ein, die »Herzkammer« der bundesdeutschen Sozialdemokratie zu sein.35

30 Bräuninger/Debus: Parteienwettbewerb, S. 112. 31 Siehe das Kapitel von Karl-Rudolf Korte in diesem Band. 32 Siehe das Kapitel von Tim Spier in diesem Band. 33 Siehe die Entwicklung der Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 34 Niedermayer: Parteimitglieder. 35 Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen – das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.):

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Dabei wird, wie Viola Neu herausstellt, übersehen, dass die lange Regierungs- macht der SPD ab 1966 zum einen am Fehlen eines koalitionswilligen Partners für die Union lag, zum anderen, dass die Sozialdemokraten nach 1995 beständig schwindende Wahlergebnisse einfuhren.36 Im Jahr 2003 gelang es der Union erst- mals, die SPD in der Zahl ihrer Mitglieder im Landesvergleich zu überholen. Die SPD konnte diesen Trend bislang nicht umkehren. Im Gegenteil: Ihre Mit- gliederzahl ist inzwischen auf rund 128.000 geschrumpft. Zwischen 1990 und 2011 konnten die Grünen in NRW lediglich die Hälfte bis zwei Drittel der Mitglieder der Liberalen aufweisen. Im Vergleich dazu haben sie sich der FDP auf Bundesebene in den letzten zwanzig Jahren etwas angenähert. In NRW sahen sich die Grünen lange Zeit mit drei ungünstigen Voraussetzungen für die Etablierung einer flächendeckenden Parteiorganisation konfrontiert37: In anderen Bundesländern konnten die Grünen erstens auf Hochschulstandorte mit gewachsenen studentischen Milieus zurückgreifen, während sich diese ins- besondere im Ruhrgebiet erst mit der Neugründung von Universitäten in den siebziger Jahren herausbildeten.38 Zweitens hatten die Sozialdemokraten gerade in urbanen Milieus bereits Hochburgen etabliert. Hinzu kam drittens, dass die Grünen gerade in ihrer Anfangsphase nicht recht zum vorherrschenden Politik- stil in NRW zu passen schienen, da sie vor allem für linke Strömungen attraktiv waren.39 Erst mit der bundesweiten Etablierung der Partei und den einsetzenden Modernisierungsprozessen wandelten sich auch die Grünen in Nordrhein- Westfalen und konnten sich in Konkurrenz zur FDP dauerhaft als dritte Kraft Bild: Tab1 etablieren. Die Parteimitglieder finden in Nordrhein-Westfalen unterschiedlich stark entwickelte Organisationsstrukturen vor. Hier zeigt sich auch ein lange Zeit währender Organisationsvorteil der beiden großen Parteien, auch, wenn dieser Vorteil durch den Rückgang der Mitgliederzahlen in Frage gestellt wird. Zwar

Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 288 f. 36 Viola Neu: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005. Wahlanalyse der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2005, S. 11. 37 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wies- baden 2008, S. 323. 38 Ebd., S. 328. 39 Ebd.

80 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

Tabelle 1: Strukturdaten der Parteien in Nordrhein-Westfalen Mit- Kreis- Stadt- glieder Regional- ver- bezirks- Orts- 2011 verbände bände verbände verbände Distrikte CDU 150.257 8 54 78 ca. 1.700 ca. 480 SPD 127.765 4 54 k. A. ca. 1.400 ca. 180 Grüne 12.578 5 53 — ca. 360 — FDP 15.533 9 54 k. A. ca. 480 k. A. LINKE 8.123 — 53 — ca. 177 —

Quelle: Marcel Lewandowsky: Landtagswahlkämpfe. Annäherung an eine Kampagnenform, Wies- baden 2013, S. 123; Mitgliederzahlen: Niedermayer: Parteimitglieder. liegen die Parteien bei der Zahl der Kreisverbände allesamt annähernd gleich- auf. CDU und SPD verfügen aber jeweils über mehr als das Drei- bis Vierfache der Ortsverbände von FDP bzw. Grünen. Weniger Mitglieder sind also bei den kleineren Parteien auf höherer Ebene organisiert, während die Mitglieder von CDU und SPD in der Regel auf örtliche Strukturen in Stadtteilen und Stadt- bezirken zurückgreifen können. Was dies für die Parteien im Bundesland Nordrhein-Westfalen bedeutet, lässt sich anhand des Organisationsgrades der Landesverbände erkennen. Dieser beschreibt das Verhältnis der Anzahl der Parteimitglieder zur wahlberechtigten Bevölkerung. Abbildung 1 illustriert, dass bis auf Grüne und LINKE alle Parteien in NRW einen höheren, im Fall der beiden Großparteien sogar deutlich höheren Organisationsgrad aufweisen als die Parteien im Bundesschnitt (Westdeutsch- land). Bild: Abbildung 1: Auf Bundesebene sind die Zahlen rückläufig: Nachdem die deutschen Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, bis in die neunziger Jahre des 20. Jahr- hunderts hinein recht hohen Zulauf erfuhren, stellte sich seither Ernüchterung ein. So ist die Zahl der Mitglieder auf etwa 1,34 Millionen im Jahr 2011 zurück- gegangen, während den Parteien 1990 noch rund eine Million mehr Personen angehörten.40 Unter diesem Schwund hatten insbesondere die Sozialdemokraten

40 Niedermayer: Parteimitglieder.

81 Marcel Lewandowsky

Abbildung 1: Organisationsgrad der Parteien in Nordrhein-Westfalen und in West- deutschland

1,2 NRW 1,03 1,0 0,96 Westdeutschland 0,86 0,80 0,8

0,6

0,4

0,2 0,11 0,10 0,08 0,08 0,06 0,06 0,0 CDU SPD Grüne FDP LINKE Eigene Darstellung. Datengrundlage: Niedermayer: Parteimitglieder. zu leiden, die in demselben Zeitraum rund 440.000 Mitglieder verloren. Im Ver- gleich zu 1990 sind die Grünen die einzige der fünf aktuell im Bundestag ver- tretenen Parteien, die Mitglieder (rund 17.800) hinzugewinnen konnten.41 Dieser quantitative Niedergang der Parteien als Massenorganisationen in Deutschland ordnet sich in einen europaweiten Trend ein, aus dem lediglich Österreich und Zypern herausstechen.42 Mit Blick auf NRW wäre es wohl zu viel gesagt, daraus einen aus normativer Sicht höheren Akzeptanzgrad der Parteien zwischen Rhein und Ruhr abzuleiten. Möglicherweise spiegelt der Befund jene »Organisations- kultur« wider, die Dörner43 für das Bundesland als typisch identifiziert.

41 Ebd. 42 Ingrid van Biezen/Peter Mair/Thomas Poguntke: Going, Going, … Gone? The Decline of Party Membership in Contemporary Europe, in: European Journal of Political Research, 51/1 (2012), S. 24–56. 43 Andreas Dörner: Zwischen Organisationstreue und Bürgergesellschaft. Politische Kultur in NRW, in: U. Canaris/J. Rüsen (Hg.): Kultur in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Kirchturm, Förderturm & Fernsehturm, Stuttgart u. a. 2001, S. 70.

82 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

3.2 Professionalisierung der Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

Größe und Struktur allein sagen wenig über die Parteiorganisationen auf Landes- ebene im Kontext der Modernisierungsprozesse von Parteien. Tatsächlich liegt für die Untersuchung von Kampagnen auf der subnationalen Ebene noch weniger Literatur vor als für regionale Parteiorganisationen.44 In Abschnitt 2 wurden Überlegungen angestellt, die Typen »professionalisierter« Parteien mit den Eigenschaften von Parteiorganisationen auf subnationaler Ebene in Ver- bindung zu bringen. Demnach können zwei Merkmale herangezogen werden, um Professionalisierungsprozesse zu beschreiben. Diese bestehen zum einen in der (1) Zentralisierung der Parteiorganisation und der (2) Externalisierung von Kommunikationsaufgaben. Zum anderen rücken von der Partei in der Praxis verwendeten Kommunikationselemente in den Blickpunkt.45 Beide Merkmale bezeichnen Prozesse, keine abgeschlossenen Zustände. Das muss berücksichtigt werden, wenn man einen begrenzten zeitlichen Abschnitt heranzieht. Insofern stellen die folgenden Beschreibungen eine Momentaufnahme dar. Landtagswahl- kämpfe in den Blick zu nehmen, macht jedoch auch deshalb Sinn, weil sich hier seit den 1990er Jahren eine zunehmende Eigenständigkeit der Landesverbände erkennen lässt.46

3.2.1 Zentralisierung und Externalisierung Der Begriff der Zentralisierung stellt erstens auf die Konzentration von Auf- gaben innerhalb der Parteizentrale auf Landesebene ab, zweitens auf die Entscheidungsmodi zwischen der Parteizentrale und der Mitgliedschaft. Ein Merkmal von Zentralisierung besteht im personellen Ausbau der Parteizentralen. In der Tat weisen die Parteizentralen in NRW jeweils gut ausgebaute Stäbe auf (vgl. Tab. 2). Im Vergleich zu den anderen Landesverbänden bilden die nordrhein-west- fälischen Landesgeschäftsstellen die größten Parteizentralen, soweit Zahlen vor- liegen. In der Parteizentrale tätig bzw. eingegliedert sind jeweils Fachreferenten bzw. – im Falle der CDU – auch Abteilungen für PR, Kommunikation und

44 Swenden/Maddens: Introduction, S. 2; Lewandowsky: Landtagswahlkämpfe, S. 39 f. 45 Als Grundlage für die Darstellung sollen Befunde dienen, die der Autor an anderer Stelle für den NRW-Landtagswahlkampf 2010 herausarbeiten konnte (vgl. ebd.). 46 Detterbeck: Parteien und Parteiensysteme, S. 226.

83 Marcel Lewandowsky

Kampagnen. Bei der Nutzung externer Agenturen sind wiederum Unterschiede festzustellen. Zwar greifen alle Parteien auf Werbeagenturen zurück. Allerdings fungieren diese lediglich als Dienstleister; Entscheidungskompetenz innerhalb bzw. neben den gewählten Gremien kommt ihnen nicht zu.47 Auch der Bundes- verband spielt bei der Umsetzung der Kampagnen eine Rolle. Interessanterweise griff beispielsweise die LINKE im Landtagswahlkampf 2010 auf die Agentur DiG/ Plus zurück, die auch für den Bundesverband arbeitete, während die FDP NRW ein Auswahlverfahren auf Landesebene einsetzte.48 Eine etwas andere Form der Externalisierung betrieben die Grünen, die die Kampagnenorganisation an einen Wahlkampfmanager abgaben, der nicht Mitglied eines gewählten Gremiums war Bild: Tab2 und für einen begrenzten Zeitraum beschäftigt wurde.

3.2.2 Technisierung und Kampagnenorientierung Ein zweiter Aspekt betrifft nicht die Struktur der Organisation, sondern die praktische Umsetzung der Kampagnen. Hier geht es um die Frage, inwiefern die Parteien in Nordrhein-Westfalen moderne Kampagneninstrumente in ihre Kommunikation integrieren. Als Fall dient der Landtagswahlkampf im Jahr 2010. Bei der Adaption moderner Kommunikations- und Kampagneninstrumente weisen die Parteien zumindest im Wahlkampf 2010 eine gewisse Resistenz gegen- über diesen Instrumenten auf. Überprüft man die Kampagnenorganisationen hinsichtlich der Professionalisierungselemente, so zeigt sich, dass sie bei deren Nutzung zumindest im Wahlkampf 2010 ausnahmslos hinter den jeweiligen Bild: Tab. 3 Bundesparteien zurückstehen (vgl. Tab. 3).49 Die meisten Landesparteien weisen nicht einmal die Hälfte des Wertes der Bundesparteien auf. Bei den Grünen ist es genau umgekehrt: Sie stellen im Land- tagswahlkampf die nach diesem Index »professionellste« Partei dar, während sie in der Bundestagswahl 2005 die geringste Verwendung moderner Kampagnen- instrumente aufwies. Auf den ersten Blick ist das Gefälle zwischen Landes- und Bundesparteien leicht zu erklären. Die Parteien auf Landesebene haben weitaus weniger Personal- und Finanzmittel zur Verfügung, um von modernen Wahlkampfinstrumenten

47 Lewandowsky: Landtagswahlkämpfe, S. 280 f. 48 Ebd., S. 167. 49 Ebd., S. 297 ff.

84 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen

Tabelle 2: Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter der Landesgeschäftsstellen in den Bundesländern CDU SPD Grüne FDP LINKE Baden-Württemberg 12 17 14 6 Bayern 14 11 8 4 Berlin 14 3 Brandenburg 4 5 3 12 Bremen 4 Hamburg 10 6 3 Hessen 12 8 6 4 Mecklenburg-Vorpommern 6 4 3 5 Niedersachsen 10 7 7 6 6 Nordrhein-Westfalen 20 20 14 9 10 Rheinland-Pfalz 13 5 2 3 Saarland 3 2 Sachsen 7 4 Sachsen-Anhalt 6 5 Schleswig-Holstein 14 17 7 3 Thüringen 7 4 8

Quelle: Internetseiten der Landesparteien, Stand: 9.5.2013. Die Größen verstehen sich abzüglich der Vorsitzenden und Vorstandsmitglieder sowie der Praktikanten. Die Piraten sind hier ausgespart, da viele Geschäftsstellen durch Arbeitskreise (»Squads«) ehrenamtlich organisiert werden und damit keine genaue Mitarbeiterzahl ermittelt werden kann.

Gebrauch zu machen.50 Zum anderen kann ein Landtagswahlkampf auch mit weniger medialem Aufwand geführt werden. Dann besteht er zu großen Teilen aus der Distribution von Material im Straßenwahlkampf.

50 Schmid/Zolleis: Wahlkampf im Südwesten, S. 271.

85 Marcel Lewandowsky

Tabelle 3 a und b: Nutzung moderner Kampagneninstrumente bei der Landtagswahl 2010 und der Bundestagswahl 2005 nach dem »Index of Professional Campaigning« a) Werte der Parteien in der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2010 CDU SPD Grüne FDP LINKE NRW NRW NRW NRW NRW Telemarketing (—) 0 3 0 0 Direct Mail 3 0 0 3 0 Intranet 0 2 3 0 1 Email-Newsletter 3 3 2 2 2 Ausgelagerte (—) 0 2 1 2 Wahlkampfzentrale PR-/Medienberater 1 2 1 2 1 Datenbanken 1 2 0 1 3 Meinungsumfragen 1 0 3 1 0 Gegnerbeobachtung 1 1 1 0 1 Permanent 0 0 1 1 (—) Campaigning Gesamt (10) 10 16 10 (10)

Ein anderer Aspekt liegt in Selbstbeschreibungen, die zumindest in der Wahlkampfliteratur meist weniger Beachtung finden. Das bedeutet, dass man empirisch nicht nur heranziehen kann, welche Instrumente die Parteien ver- wenden, sondern auch, welche Begründungen die Akteure der Verwendung oder der Nicht-Verwendung von Instrumenten zugrunde legen. Hier können zwei wesentliche Faktoren ausgemacht werden. Zum einen beklagen die Vertreter der Parteien nahezu ausnahmslos – unabhängig von den realen Budgets der Wahl- kämpfe – ihre zu geringen Sach-, Finanz- und Personalmittel.51 Zum anderen wird die Verwendung moderner Kommunikationstechniken nicht in allen Wahl- kampfleitungen als Nonplusultra angesehen. Ob sie Anwendung finden, hängt

51 Lewandowsky: Landtagswahlkämpfe, S. 302 ff.

86 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen b) Werte der Parteien im Bundestagswahlkampf 2005 CDU SPD Grüne FDP Telemarketing 2 3 1 2 Direct Mail 2 3 1 3 Intranet 2 3 1 1 Email-Newsletter 3 3 1 2 Ausgelagerte 3 3 2 3 Wahlkampfzentrale PR-/Medienberater 3 3 2 2 Datenbanken 3 3 0 3 Meinungsumfragen 3 3 2 2 Gegnerbeobachtung 2 2 1 1 Permanent 1 1 2 2 Campaigning Gesamt 24 27 13 21

Quelle: Angaben der Parteien. Werte der Bundesparteien: Rachel K. Gibson/Kim Jucknat/ Andrea Römmele: Professionalisierte Kampagnenführung. Eine systematische Messung, in: O. W. Gabriel/B. Weßels/J. W. Falter (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundes- tagswahl 2005, Wiesbaden 2009. Der Wert ist jeweils umso höher, je größer die Reichweite der Kommunikationsinstrumente hinsichtlich der adressierten Personenkreise ist und je stärker die Nutzung in die jeweilige Kampagne eingebunden war. Siehe für eine ausführliche Erläuterung ebd., S. 461 ff. nicht allein vom Budget ab, sondern auch davon, ob die Akteure dies aus anderen Gründen für sinnvoll halten. Ein wesentliches Muster bei der Auswahl von Instrumenten besteht darin, dass die Mitglieder der Wahlkampfleitung sich dem Wählerpotenzial nicht wie unbekanntem Terrain nähern, sondern das Wissen aus vergangenen Wahlkämpfen sowie die Programmatik der Partei auf die Wähler projizieren. So wird auch die Auswahl von Instrumenten für die Erfassung sowie die Ansprache von Wählern in einem gewissen Sinne »politisch«.52 Damit hängt

52 Ebd.

87 Marcel Lewandowsky es dann zusammen, dass Instrumente, die eigentlich als »professionell« gelten – z. B. Wählerdatenbanken – etwa bei den NRW-Grünen keine Anwendung finden, weil sie den bürgerrechtlichen Positionen der Partei widersprechen.53 Ein anderer Aspekt besteht in der Organisation der Kampagnen. Entgegen dem, was viele Autoren vermuten54, werden Kampagnen nicht zwingend in kleinen Stäben organisiert. Vielmehr können die Mitglieder und der Funktionärs- mittelbau an strategischen Entscheidungen durchaus beteiligt sein. Während 2010 bei CDU, SPD und FDP die politische Wahlkampfleitung55 auf kleine Personenkreise an der Parteispitze konzentriert war, leisteten sich Grüne und LINKE größere Gremien, an denen sie Vertreter regionaler Gruppierungen und innerparteilicher Arbeitsgruppen beteiligten.

4. Schlussbetrachtung: Spezifika der Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen In der vorangegangenen Untersuchung wurde versucht, eine erste Übersicht über die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen. Dabei wurden zunächst die strukturellen Merkmale der Organisationen vorgestellt. Als Problem- stellung diente darüber hinaus die Überlegung, dass gegenwärtige Typologien, die die »Professionalisierung« von Parteiorganisationen in den Mittelpunkt stellen, sich mit der Organisation auf der Landesebene brechen. In der darauf folgenden Untersuchung wurden sowohl strukturelle Merkmale der Organisation als auch die Kampagnenpraxis einbezogen. Mögen sich auf der nationalen Ebene durchaus Prozesse bemerkbar machen, die steigende Professionalisierung der Parteien demonstrieren, so birgt der Blick auf die Landesverbände in Nordrhein-Westfalen ein differenziertes Bild. Die Landesparteien machen einerseits weniger starken Gebrauch von modernen Kampagneninstrumenten als die Parteien auf der Bundesebene. Zumindest für

53 Ebd., S. 304. 54 Bspw. Honza Griese: Von der Notwendigkeit des Wahlkampfmanagements, in: T. Berg (Hg.): Moderner Wahlkampf. Blick hinter die Kulissen, Opladen 2002, S. 86; Peter Grafe: Wahlkampf. Die Olympiade der Demokratie, Frankfurt a. M. 1994, S. 180. 55 Volker Hetterich: Von Adenauer zu Schröder – Der Kampf um Stimmen. Eine Längs- schnittanalyse der Wahlkampagnen von CDU und SPD bei den Bundestagswahlen 1949–1998, Opladen 2000, S. 44 f.

88 Die Parteiorganisationen in Nordrhein-Westfalen den Wahlkampf 2010 lassen sich neben den gängigen Zentralisierungseffekten auch andere Tendenzen erkennen, die auf die Einbindung der Parteibasis in die Kampagnen abzielen. Betrachtet man die Organisation der Parteien, ist aber das Bild der »kleinen Bundesrepublik« für Nordrhein-Westfalen56 nicht weit hergeholt. Die Partei- organisationen weisen gegenüber der Bundesebene viele Gemeinsamkeiten auf. So organisieren CDU und SPD mit Abstand die meisten Mitglieder, gefolgt von Grünen, LINKEN und FDP. Zugleich zeigen sich auch einige bedeutende Unterschiede. Die Parteien in NRW weisen im Allgemeinen einen höheren Organisationsgrad und dichte Mitgliederstrukturen auf; für kleinere Parteien birgt das Flächenbundesland jedoch auch Probleme in der Abdeckung der geo- grafischen Strukturen. Mit Blick auf zeitgenössische Parteientypologien lässt sich in Nordrhein-West- falen zumindest in der Momentaufnahme erkennen, dass die Organisationen auf Landesebene Instrumente moderner Kampagnen nicht einfach adaptieren. Eher zeigt sich, dass hier gewachsene, sich aus vorangegangenen Erfahrungen ergebende Praktiken reproduziert werden, und zwar jenseits des Umstandes, dass den Parteien auf Landesebene schlichtweg weniger Geld zur Verfügung steht als im Bund. Daran zeigt sich aber auch, dass die zuvor genannte Vermutung zur Regionalisierung von Landtagswahlkampagnen57 nicht nur eine politisch-inhalt- liche Dimension aufweist. Offensichtlich zeigt sich auch in der Verwendung von Instrumenten und in der organisatorischen Ausgestaltung eine gewisse Auto- nomie der Landesverbände. Welche spezifischen Merkmale die Parteien im Einzelnen entwickeln, wird in weiteren Studien zu klären sein.

56 Bräuninger/Debus: Parteienwettbewerb, S. 112. 57 Detterbeck: Parteien und Parteiensysteme, S. 226.

89

Jürgen Mittag links: Jürgen Mittag rechts: Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen

Neben Parteien und Medien stellen Interessenverbände die dritte zentrale Säule intermediärer Kommunikation in demokratisch verfassten politischen Systemen dar.1 Ausgehend von der klassischen Gegenüberstellung von Staat und Gesell- schaft wird Verbänden die Aufgabe zugeschrieben, vor allem an der Willens- bildung und Entscheidungsfindung zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen und staatlichen Organen, aber auch bei der Vermittlung und Implementation von politischen Entscheidungen mitzuwirken.2 Die Aktivitäten von Verbänden und Parteien im Rahmen der intermediären Kommunikation sind angesichts starker Wechselwirkungen oftmals miteinander verzahnt; bisweilen bilden Ver- bände sogar den organisatorischen Unterbau von Parteien. Strukturell und funktional unterscheiden sich Parteien und Verbände jedoch in wichtigen Merkmalen. Zu den wichtigsten strukturellen Unterschieden gehört, dass Ver- bände – auch wenn wie bei Parteien Individualmitgliedschaften möglich sind – sich in der Regel auf angeschlossene Mitgliedsorganisationen bzw. kooperative Mitglieder stützen. Anders als Parteien streben Verbände in funktionaler Hin- sicht idealtypisch kein (allgemein-)politisches Mandat und keine Regierungs- verantwortung an: Sie setzen stattdessen auf die Durchsetzung spezifischer sektoraler Interessen. Vor diesem Hintergrund sind Verbände stärker als Parteien an einzelne gesellschaftliche Interessen, Gruppierungen oder Milieus gebunden. Entsprechende (Partikular-)Interessen, die bisweilen in einem Spannungsverhält-

1 Vgl. als Überblicksliteratur zum Thema Ulrich von Alemann: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1989; Martin Sebaldt/Alexander Straßner: Ver- bände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004; Wichard Woyke (Hg.): Verbände, Schwalbach/Ts. 2005; Thomas von Winter/Ulrich Willems: Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden 2007. 2 Vgl. Ulrich von Alemann/Rolf G. Heinze (Hg.): Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Korporatismus. Analysen, Positionen, Dokumente, Opladen 1979; Wolfgang Streeck (Hg.): Staat und Verbände (PVS-Sonderheft 25), Wiesbaden 1995; Eberhard Schütt- Wetschky: Interessenverbände und der Staat, Darmstadt 1997; Michael Reutter: Verbände und Verbandsystem in Westeuropa, Opladen 2001; Werner Reutter (Hg.): Verbände und Interessengruppen in den Ländern der Europäischen Union, Wiesbaden 2012.

91 Jürgen Mittag nis zum Allgemeinwohl stehen, werden von Verbänden als Lobbyorganisationen in den politischen Entscheidungsprozess eingespeist, sie können aber auch in dauerhaften Konflikt- bzw. Kooperationsbeziehungen zu anderen organisierten Interessengruppen vertreten werden.3 Diese Kerncharakteristika im Verhältnis von Parteien und Verbänden sind grundsätzlich auch in Nordrhein-Westfalen auszumachen, dessen Verbandssystem von der wissenschaftlichen Forschung in den vergangenen zwei Dekaden keiner eingehenderen Analyse mehr unterzogen wurde.4 Mit Blick auf diese Ausgangsüberlegungen basiert das vorliegende Kapitel auf einer Verknüpfung von allgemeinen Ergebnissen der Verbandsforschung und spezifischen jüngeren Datenerhebungen zu Nordrhein-Westfalen.

1. Begriff und Abgrenzungen

Der BegriffVerband umspannt ein breites Spektrum von Interessenorganisationen und freiwilligen Vereinigungen, das sich bis heute auf keine eindeutige, klar abgrenzbare Definition stützt. Grundlegend werden auf Dauer angelegte, in der Regel auf freiwilliger Mitgliedschaft und festen Regularien (Satzungen, Statute) basierende Zusammenschlüsse von Körperschaften oder Individuen als Ver- bände bezeichnet, die das Ziel verfolgen, ihre Interessen nach außen geschlossen zu artikulieren sowie die ggf. divergierenden Einzelinteressen der Mitglieder nach innen abzustimmen und zu bündeln.5 Der Verbandsbegriff, der erst seit dem 19. Jahrhundert im heutigen modernen Sinn einer Interessenorganisation oder -vereinigung verwendet wird6, ist dabei nicht trennscharf von den Kate- gorien Verein, Soziale Bewegung, Non-Profit-Organisation (NPO) oder Non-

3 Siehe zu diesen Überlegungen auch Alexander Straßner: Funktionen von Verbänden in der modernen Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15–16 (2006), S. 10–17. 4 Vgl. für hilfreiche – mittlerweile allerdings tendenziell veraltete – Überblicke zu Nord- rhein-Westfalen Bodo Hombach (Hg.): Vereine und Verbände in Nordrhein-Westfalen. Ein Hand- und Lesebuch, Neuss 1990 und Ralf Kleinfeld/Frank Löbler: Verbände in Nordrhein-Westfalen. Eine Vorstudie zu Theorie und Empirie von Verbänden in der Landespolitik, Polis-Sonderheft, 1994. 5 Vgl. für eine problemorientierte Übersicht zu Definitionen und Ansätzen Annette Zimmer/Rudolph Speth: Verbändeforschung, in: V. Kaina/A. Römmele (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch, Wiesbaden 2009, S. 267–310, hier S. 268 ff. 6 Vgl. Hans-Peter Ullmann: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988 und Ralf Kleinfeld: Die historische Entwicklung der Interessenverbände in Deutschland,

92 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen

Governmental-Organisation (NGO) zu differenzieren, sodass die folgenden begrifflichen Erläuterungen als eine Annäherung im Sinne eines dominanten Begriffsverständnisses zu verstehen sind. Während Vereine als mitgliederbasierte Organisationen im allgemeinen Ver- ständnis primär auf lokaler Ebene tätig und auf die bedürfnisorientierten Angebote ihrer Mitglieder ausgerichtet sind7, bezieht sich der moderne Verbandsbegriff vornehmlich auf übergeordnete Zusammenschlüsse mit dem Ziel der kollektiven Interessenvertretung der Mitglieder in pluralistisch organisierten, funktional differenzierten Gesellschaften mit liberal-kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen. Neben der Einwirkung auf die Gesetzgebung und die Verteilung von Ressourcen intervenieren Verbände auch bei privatwirtschaftlichen Entscheidungsprozessen. Soziale Bewegungen besitzen demgegenüber weniger formelle Organisations- formen als Verbände, unterliegen starken Veränderungen und sind in der Regel nur auf eine begrenzte Dauer gestellt.8 Konstitutives Merkmal der Non-Profit- Organisationen ist wiederum ihre gemeinnützige Zielsetzung, während NGOs im internationalen Kontext tätig sind.9 Im Sinne einer engeren Definition sind organisierte Interessenverbände des Weiteren auch von solchen Vereinigungen zu unterscheiden, die staatliche Aufgaben wie zum Beispiel die Abnahme von Prüfungen übernehmen (z. B. Kammern) und deshalb von öffentlicher Seite aus besondere Zuwendungen oder Kompetenzen erhalten. Schließlich sind Verbände bei einer engeren Definition auch von Genossenschaften oder frei- willigen Zusammenschlüssen abzugrenzen, die primär als ökonomisch induzierte Produktions- und Solidargemeinschaften fungieren. Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Abgrenzungen kann Parteien und Verbänden eine gemeinsame übergeordnete Funktion zugeschrieben werden10,

in: U. Willems/A. Zimmer/R. Kleinfeld (Hg.): Lobbying. Strukturen. Akteure. Strategien, Wiesbaden 2007, S. 51–83. 7 Vgl. Annette Zimmer: Vereine – Basiselemente der Demokratie, Opladen 1996. 8 Siehe Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M./New York 2008. 9 Christiane Frantz/Kerstin Martens: Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Wiesbaden 2006. 10 Siehe zum Hintergrund auch Josef Schmid: Parteien und Verbände. Konstitution, Kontingenz und Koevolution im System der Interessenvermittlung, in: R. Czada/M. G. Schmidt (Hg.): Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit. Fest- schrift für Gerhard Lehmbruch, Opladen 1993, S. 171–190.

93 Jürgen Mittag die auch in Nordrhein-Westfalen zum Tragen kommt und entgegen der viel- fach erhobenen Kritik am Parteienstaat und der »Herrschaft der Verbände«11 eine erwünschte Option politischer Willensbildung zum Ausdruck bringt: Das politische System des Landes NRW stützt sich in erheblichem Maße auf Parteien und Verbände, die als vermittelnde Akteure – in gleichwohl unter- schiedlicher Form und Ausprägung – wesentlich zur politischen Entscheidungs- findung beitragen. Um die Vielfalt der Interessen der Bürger des Landes zu artikulieren bzw. um Konflikte zu regeln, bedarf es auch im größten deutschen Bundesland entsprechender Organisationen, die die politisch, gesellschaftlich, ökonomisch oder auch religiös geprägte Willensbildung und Entscheidungs- findung strukturieren.

2. Verbände in Nordrhein-Westfalen

Ähnlich breit gestreut wie die definitorischen Zuschreibungen sind auch die Erscheinungsformen der Verbände. Seitens der wissenschaftlichen Verbände- forschung ist mit dem Ziel einer Reduzierung der Vielfalt des Verbandwesens eine typologische Differenzierung in fünf Haupthandlungsfelder vorgenommen worden.12 Hierzu zählen: 1) die Interessenvertretung im Wirtschafts- und Arbeits- bereich, die u. a. von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften repräsentiert wird13; 2) die organisierten Interessen im sozialen Bereich, zu denen Wohlfahrts- verbände ebenso gehören wie Senioren- oder Ausländerverbände14; 3) der Frei- zeit- und Bildungsbereich, in dem beispielsweise Sportverbände und Heimat- vereine angesiedelt sind15; 4) die Interessenvertretung in den Feldern Religion,

11 Vgl. zur Kritik insbesondere Theodor Eschenburg: Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1963 und Ders.: Das Jahrhundert der Verbände. Lust und Leid organisierter Interessen in der deutschen Politik, Berlin 1989. 12 Diese Typologie basiert auf von Alemann: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 71. 13 Vgl. exemplarisch Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, Wiesbaden 2010. 14 Vgl. hierzu zahlreiche Beiträge in Britta Rehder/Thomas von Winter/Ulrich Willems (Hg.): Interessenvermittlung in Politikfeldern. Vergleichende Befunde der Policy- und Verbändeforschung, Wiesbaden 2009. 15 Siehe u. a. Burkhard Strob: Der vereins- und verbandsorganisierte Sport. Ein Zusammen- schluss von (Wahl)Gemeinschaften? Ein Analysemodell auf der Grundlage des Dritter-

94 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen

Kultur und Wissenschaft, für die u. a. Kirchen und wissenschaftliche Ver- einigungen stehen16; sowie 5) der gesellschaftspolitische Bereich, der zum Beispiel Menschenrechtsvereinigungen oder Umweltverbände umfasst.17 Neben dieser politikfeldorientierten Typologie bestehen noch zahlreiche weitere Ordnungs- möglichkeiten. So lassen sich Verbände auch hinsichtlich ihrer historischen Genese, ihrer Mitgliedschaft bzw. ihres Organisationsgrades, ihrer innerverband- lichen Struktur, ihrer Finanzierung, ihren Adressaten oder ihrer Organisations- form differenzieren.18 Mit Blick auf die letztgenannte Typologie kann so u. a. zwischen Massenorganisationen, Fachverbänden, Berufsverbänden und Standes- organisationen unterschieden werden. In Nordrhein-Westfalen, insbesondere entlang der Rhein- und Ruhrschiene, ist eine Großzahl von Verbänden aus allen fünf angeführten Handlungsfeldern angesiedelt. Dies lässt sich im Kern auf zwei Ursachen zurückführen: Zum einen hat der hohe Urbanisierung- und Industrialisierungsgrad der Ballungsräume Rheinland und Ruhrgebiet dazu geführt, dass sich hier besonders zahlreich Ver- bände angesiedelt haben. Zum anderen orientieren sich Verbände mit ihrem Sitz auch an den Standorten von Regierungen und Verwaltungen. Gerade Düssel- dorf und Bonn sowie das geografisch im Zentrum gelegene Köln waren bzw. sind infolgedessen Sitz zahlreicher Verbände. Die Verlegung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin führte jedoch zu einer Abwanderung von Interessen- organisationen aus NRW, so u. a. des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), der zwischen 1950 und 1999 seinen Sitz in Köln hatte, oder des Zentralver-

Sektor-Ansatzes, Münster u. a. 1999. 16 Vgl. zum Beispiel Antonius Liedhegener/Ines-Jacqueline Werkner (Hg.): Religion zwischen Zivilgesellschaft und Politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven, Wiesbaden 2011. 17 Vgl. etwa Jochen Roose: Auf dem Weg zur Umweltlobby. Zur Vertretung der Umwelt- interessen in Deutschland, in: T. Leif/R. Speth (Hg.): Die fünfte Gewalt, Bonn 2006, S. 270–287. 18 Vgl. Ralf Kleinfeld/Ulrich Willems/Annette Zimmer: Lobbyismus und Verbände- forschung. Eine Einleitung, in: U. Willems/A. Zimmer/R. Kleinfeld (Hg.): Lobbying. Strukturen. Akteure. Strategien, Wiesbaden 2007, S. 7–36 und Christoph Strünck: Die hohe Kunst des Non-Agenda-Settings. Framing als Instrument politischer Kommunikation von Interessengruppen, in: K. Kamps/J.-U. Nieland (Hg.): Regieren und Kommunikation. Meinungsbildung, Entscheidungsfindung und gouvernmentales Kommunikationsmanagement. Trends, Vergleiche, Perspektiven, Köln 2006, S. 196–215.

95 Jürgen Mittag bands des Deutschen Handwerks e. V., der im Jahr 1999 seinen Sitz von Bonn nach Berlin verlegte. Auch der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) siedelte im Jahr 1999 von Düsseldorf nach Berlin über. Ulrich von Alemann und Patrick Brandenburg haben für den Zeitraum um die Jahrtausendwende noch eine hohe Verbandsdichte für Nordrhein-West- falen mit rund 2.000 aktiven Verbänden ausgemacht.19 In Folge des Umzugs der Bundesregierung nach Berlin und vor dem Hintergrund soziodemografischer Veränderungen haben sich aber die Gewichte des nordrhein-westfälischen Ver- bandswesens in einigen Bereichen deutlich verschoben. Zählten zum Beispiel die im DGB vereinten Gewerkschaften in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1993 noch 2,3 Millionen und Ende 1998 noch zwei Millionen Mitglieder, so sind es 2012 nur noch knapp 1,6 Millionen Mitglieder. Dies entspricht einem Anteil von 25,6 Prozent der Gesamtzahl der Mitglieder im Bund.20 Bei der Mitgliederent- wicklung der nordrhein-westfälischen Gewerkschaften handelt es sich – auch infolge der wachsenden Bedeutung von Berufsgewerkschaften – zwar um einen markanten Sonderfall21, aber ähnlich wie Parteien haben auch andere Ver- bände mit rückläufigen Mitgliederzahlen zu kämpfen. So konstatierte der hier exemplarisch angeführte Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e. V., der durch drei Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag repräsentiert wird, für das Jahr 2011 bei 151.000 Mitgliedern einen Ver- lust von 13.362 Mitgliedern auf Bundesebene. Diese Entwicklung, die sich auch in zahlreichen weiteren nordrhein-westfälischen Verbänden widerspiegelt, hat zur Konsequenz, dass angesichts zunehmend knapper Budgets seitens der Mit- gliederorganisationen die Frage nach dem Nutzen der Mitgliedschaft gestellt wird und ein lange Zeit vorherrschender solidarischer Verbandsgeist in den Hinter- grund tritt. Die Kombination von sinkenden Einnahmen und Mitgliedern bei

19 Vgl. Ulrich von Alemann/Patrick Brandenburg: Nordrhein-Westfalen. Ein Land ent- deckt sich neu, Köln u. a. 2000, S. 135. Siehe auch Ralf Kleinfeld: Verbände, in: Landes- zentrale für politische Bildung NRW (Hg.): NRW-Lexikon: Politik, Gesellschaft, Wirt- schaft, Recht, Kultur, Opladen 2000. 20 Auffällig ist, dass die IG Metall in Nordrhein-Westfalen weniger Mitglieder als im Bundesschnitt hat, während ver.di die größte Einzelgewerkschaft in NRW darstellt. 21 Siehe hierzu etwa Anke Hassel: Gewerkschaften, in: T. von Winter/U. Willems (Hg.): Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 177 ff. und Wolfgang Schroeder/ Viktoria Kalass/Samuel Greef: Berufsgewerkschaften in der Offensive. Vom Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells, Wiesbaden 2012.

96 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen wachsendem Professionalisierungsdruck führt zudem bei kleineren Verbänden dazu, dass immer häufiger externe Agenturen und professionelle Lobbyisten mit der Interessenvertretung beauftragt werden.22

3. Instrumente und Strategien im intermediären Wechselspiel von Parteien und Verbänden Zwischen Parteien und Interessenverbänden bestehen zahlreiche Wechsel- beziehungen und Abhängigkeiten, die u. a. darin begründet sind, dass sich Parteien vor allem politische Unterstützung – nicht zuletzt bei Wahlen – durch ihnen nahestehende Interessenverbände erhoffen, während Verbände ihrer- seits versuchen durch Parteien Einfluss auf bestimmte politische Gesetzesvor- haben bzw. Entscheidungen zu nehmen. Für Parteien markiert ein möglichst hohes Maß an politischer Unterstützung eine grundlegende Notwendigkeit im System des Parteienwettbewerbs. Interessenverbände können die öffentliche Meinung zugunsten oder zuungunsten von Parteien beeinflussen. Infolge- dessen haben Parteien vor allem im Vorfeld von Wahlen erhebliches Interesse daran, dass Verbände Wahlaufrufe zu ihren Gunsten veranlassen oder Wahl- kampagnen durch finanzielle Zuwendungen unterstützen. Die politische Unterstützung kann aber auch jenseits von Wahlen erfolgen, so etwa im Zuge von umstrittenen Gesetzgebungsverfahren oder wenn eine Partei sich der Expertise eines Interessenverbandes im Vorfeld der innerparteilichen Fest- legung einer politischen Position bedient. Große Verbände wie der BDI sind regelmäßig auf den Landesparteitagen in NRW vertreten, auch bei Parteien wie Bündnis 90/Die Grünen, mit deren Politik eine eher begrenzte politische Übereinstimmung besteht. Aus Sicht der Verbände lassen sich im Rahmen ihrer Interaktion mit Parteien zwei Hauptstrategien unterscheiden: Der externen öffentlichen Mobilisierung mit unterstützender oder konfrontativer Zielsetzung steht die interne bzw. ver- handlungsorientierte Beeinflussung von Parteien gegenüber. Zu den typischen öffentlichkeitswirksamen Instrumenten zählt die Mobilisierung der Öffentlich- keit durch Informationen und Kampagnen, zu denen u. a. Anzeigen, Pressemit- teilungen oder so genannte offene Briefen zählen. Zwei typische Beispiele aus den

22 Siehe Sebaldt/Straßner, S. 268–275.

97 Jürgen Mittag

Jahren 2011/12 stellen in diesem Zusammenhang etwa die zustimmende Presse- mitteilung des Elternverbandes Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen in NRW zu einem CDU-Papier zur Inklusion in der Schule oder der kritische offene Brief des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz e. V. dar, der sich gegen Kürzungen der Fördermittel für die Denkmalpflege in Nordrhein-West- falen wendet. Dass Verbände in spezifischen Interessenkonstellationen zugleich sowohl zugunsten als auch gegen Regierungsparteien agieren, dokumentiert die im Juli 2011 von den NRW-Organisationen von DGB, IG Metall, IG Bergbau- Chemie-Energie (IG BCE) und Vereinter Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) gemeinsam mit der SPD-Landtagsfraktion vorgestellte Erklärung für einen »Masterplan zur Energiewende«. Dieser Erklärung stehen als konfrontative Mittel der Verbandspolitik, zu denen allgemein neben Kundgebungen und Demonstrationen auch Protest- oder Boykottaktionen zu zählen sind, exemplarisch die im März 2011 von der nordrhein-westfälischen Gliederung des DGB mit weiteren Gewerkschaften organisierten Demonstrationen vor dem Düsseldorfer Landtag anlässlich der Tarif- und Besoldungsrunde der Länder 2011 gegenüber. Besondere Bedeutung kommt im Zuge der öffentlich- keitswirksamen Instrumente auch der Versendung von Wahlprüfsteinen oder der Drohung des Entzugs von Wählerstimmen zu. So hat etwa im Vorfeld des NRW-Wahlkampfes 2012 der Bund der Richter und Staatsanwälte in Nordrhein- Westfalen e. V. ebenso Wahlprüfsteine aufgestellt und an die Parteien versendet wie der Deutsche Hanf Verband, der darüber hinaus auch eine Wahlempfehlung ausgesprochen hat. Als typische Instrumente der internen Einflussnahme von Verbänden auf die Parteien gelten demgegenüber die formale Mitwirkung bei Anhörungen im Rahmen von Gesetzgebungsinitiativen sowie informelle Kontakte zu Ent- scheidungsträgern in Parlamenten und Exekutiven bzw. die persönliche Ein- flussnahme in Gesprächen, die mit dem Austausch exklusiver Informationen verbunden sein können. Personalpolitik gehört ebenfalls zum Spektrum der internen Instrumente, dazu zählen das personelle Eindringen in Parteien bzw. formelle Doppelmitgliedschaften in Partei und Verband, aber auch die Ver- gabe von Verbandsposten an politische Entscheidungsträger. Zu den weiteren nach innen gerichteten Instrumenten gehören schließlich auch finanzielle Zuwendungen, darunter das Avisieren bzw. Verweigern von Investitionsent- scheidungen in einzelnen Branchen oder Regionen sowie die grundsätzliche Ver- gabe finanzieller Mittel, die von legalen Spenden und logistischer Unterstützung

98 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen bis hin zur Korruption und Bestechung reichen können.23 Wie unterschiedlich sich das Spendenaufkommen der Parteien in NRW darstellt, zeigen die Beispiele von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Während die FDP in ihrem Rechen- schaftsbericht für 2009 Spenden von »juristischen Personen« in Höhe von rund 455.000 Euro für NRW ausweist, was einem Anteil von etwa 5,4 Prozent der Einnahmen entspricht, führen die Grünen in NRW »Spenden von Nicht-Mit- gliedern und Firmen« in Höhe von bis zu 0,5 Prozent der Gesamteinnahmen für den gleichen Zeitraum an.24 Im Gegensatz zu den öffentlichkeitsbasierten Formen, bei denen der Kontakt zwischen Parteien und Verbänden zumeist indirekt erfolgt, besteht bei den ver- handlungsorientierten Varianten ein direktes Interaktionsverhältnis. Die Wahl der verschiedenen Instrumente schließt sich jedoch nicht gegenseitig aus, im Regel- fall werden Kombinationen von mehreren Instrumenten und Strategien genutzt. Der Einsatz der Mittel kann dabei durch die Machtverteilung im politischen System begründet sein und läuft in der Regel auf die Bereitstellung bzw. den Entzug von Informationen (Informationslogik) oder aber die Gewährung bzw. die Aberkennung von politischer Unterstützung (Unterstützungslogik) hinaus. Die verschiedenen hier skizzierten Formen der Einflussnahme von Verbänden werden unter dem Rubrum Lobbyismus zusammengefasst. Zurückzuführen ist dieser Begriff auf die englische Bezeichnung für die Wandelhalle des britischen Parlaments in Westminister, die (Central) Lobby, in der sich Abgeordnete, Bürger und Interessenvertreter zur politischen Diskussion trafen. Damit verweist der Begriff auf den ursprünglichen Bezugspunkt des Lobbyismus: das Parlament und die in ihm vertretenen politischen Parteien. Diese historische Orientierung hat jedoch ein Stück weit an Bedeutung verloren, da die Lobbyaktivitäten mittler- weile – ebenso wie die Interessenvermittlung allgemein – stärker auf die Exekutive ausgerichtet sind.25

23 Vgl. Ulrich Willems/Annette Zimmer/Ralf Kleinfeld: Lobbyismus und Verbände- forschung: Eine Einleitung, in Dies. (Hg.): Lobbying. Strukturen. Akteure. Strategien, Wiesbaden 2007, S. 7–34 und Sebaldt/Straßner, S. 156–158. 24 Vgl. hierzu den offiziellen, bei der Bundestagsverwaltung eingereichten Rechenschafts- bericht der FDP aus dem Jahr 2009 (www.fdp.de/files/688/Di4701101241347.pdf, Stand: 20.3.2013) sowie die Selbstauskunft von Bündnis 90/Die Grünen unter http://blog. gruene-nrw.de/2010/01/28/fakten-statt-vorurteile/, Stand: 20.3.2013. 25 Siehe zu Präferenzen und Prioritäten der Einflussnahme Sebaldt/Straßner, S. 158.

99 Jürgen Mittag

Anders als im angloamerikanischen Raum ist der Begriff Lobbyismus im deutschen Kontext weitgehend negativ konnotiert, da hiermit weniger die Informationsvermittlung und die legitime Artikulation von Interessen assoziiert wird, sondern eher der unbotmäßige Einfluss von Interessenverbänden. Die Frage, wie weit der Einfluss von Interessengruppen auf Parteien reichen darf, markiert infolgedessen eines der Kernthemen in Debatten über Interessenver- mittlung. Angesichts einer ungleichen Organisationsfähigkeit und erheblich divergierender Ressourcen wird vielfach ein negatives Bild von Interessengruppen gezeichnet. Kritisiert wird, dass die Ungleichheit zu divergierender Einflussstärke und damit auch zu ungleicher Repräsentation von Interessen führen kann. Bei- spiele der jüngsten Zeit haben die Kritiker dabei in ihren Bedenken bestärkt: Für größere Aufmerksamkeit hatte in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2010 die übliche Repräsentanz von Verbänden auf Parteitagen gesorgt, da in einigen Fällen von den Parteien nicht nur Ausstellungsfläche vermietet wurde, sondern auch Gesprächstermine mit Partei- bzw. Regierungsverantwortlichen bei ent- sprechender Zahlung offeriert wurden. Solche Vorgänge stellen demokratische Systeme vor beträchtliche Herausforderung, da es zur Bildung von Meinungs- eliten und Machtblöcken kommen kann, die politische Entscheidungsprozesse einseitig beeinflussen. Gerade ökonomische Interessen, so die Kritik, erhalten dadurch ein zu starkes Gewicht, sodass nicht mehr von einer legitimen Spannung zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl gesprochen werden kann. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Verhandlungs- und Austauschprozesse zwischen Interessenverbänden und Parteien. Bestimmte Interessengruppen, so die Kritik, haben ihre Machtposition gegenüber Parteien derart stark aus- gebaut, dass politische Entscheidungen im Sinne der Verbände getroffen, ihnen (Teil-)Kompetenzen überlassen und damit letztlich Abhängigkeiten geschaffen werden.26

26 Vgl. zu diesen Tendenzen Sebaldt/Straßner, S. 292–302.

100 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen

4. Die Verbandsfärbung des Landtags von Nordrhein-Westfalen

Eines der wichtigsten Merkmale der Interaktion von Parteien und Verbänden und zugleich eine der wenigen Kategorien, denen in diesem Problemfeld zumindest ein gewisses Maß an empirischer Nachvollziehbarkeit zugeschrieben werden kann, ist die so genannte Verbandsfärbung der Parlamente. Mit diesem Begriff wird die formelle Mitgliedschaft von gewählten Parlamentariern in einem Ver- band bezeichnet, die neben der Orientierung an allgemein- bzw. parteipolitischen Anliegen auch die Nähe der Abgeordneten zu spezifischen Interessen zum Aus- druck bringt. Da jedoch keine Pflicht zur Offenlegung der Verbandsmitgliedschaft besteht und für den nordrhein-westfälischen Landtag auch keine »Lobbyliste«27 wie beim Bundestag oder beim Landtag Rheinland-Pfalz vorliegt, beruht die folgende Darstellung auf den Selbstauskünften der 237 bei den Wahlen im Mai 2012 gewählten NRW-Parlamentariern in Parlamentshandbüchern und auf Web- seiten.28 Dass diese Selbstauskunft nur begrenzt verlässlich ist, zeigt exemplarisch die Mitgliedschaft in der Europa-Union, dem größten pro-europäischen Verband Deutschlands, und im ADAC, mit über 18 Millionen Mitgliedern eine der größten deutschen Interessen- und Serviceorganisationen. Auf den Seiten des Landtags und der einzelnen Abgeordneten wird eine Mitgliedschaft in der Europa-Union nicht ausgewiesen, obwohl der Verband selbst zumindest 14 NRW-Abgeordnete als Mit- glieder führt.29 Eine ADAC-Mitgliedschaft, der sowohl eine praktische Service- funktion als auch eine allgemeine Nähe zur Automobilindustrie zugrunde liegen kann, wird von den Abgeordneten ebenfalls nicht gesondert herausgestellt, am Beispiel der Abgeordneten der Piratenpartei – unter denen sechs von insgesamt 20 Abgeordneten Mitglieder des Automobilklubs sind30 – wird aber deutlich, welch

27 Offiziell wird diese als »Öffentliche Liste über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter« bezeichnet. Sie umfasste zum Jahresende 2012 annähernd 2.100 Organisationen. 28 Für die nachfolgende Darstellung wurden die Abgeordneten der 16. NRW-Wahlperiode, die unmittelbar nach den Wahlen ihr Mandat niedergelegt haben, nicht berücksichtigt, sondern die entsprechenden Nachrücker. 29 Vgl. hierzu die Darstellung der Europa-Union unter www.europa-union.net/ parlamentarier-landes.html, Stand: 20.3.2013. 30 Vgl. hierzu die Selbstauskunft zu Nebeneinkünften der Fraktion der Piratenpartei im NRW-Landtag, www.piratenfraktion-nrw.de/2012/12/nebeneinkunfte-der-20-piraten/, Stand: 20.3.2013.

101 Jürgen Mittag starke Repräsentanz der Verband im Landtag hat. Schließlich gilt des Weiteren auch noch zu berücksichtigen, dass Verbände nicht zwingend über Individual- mitglieder verfügen und Abgeordnete infolgedessen auch über Vereinsmitglied- schaften indirekt Verbandsinteressen repräsentieren können.31 Die stärkste Verbandsfärbung der im Landtag vertretenen Parteien besteht mit Blick auf die oben angeführte Typologie im Bereich Arbeit, der nament- lich durch die Gewerkschaften repräsentiert wird. Insgesamt 75 Parlamentarier, entsprechend einem Anteil von 32 Prozent aller NRW-Landtagsabgeordneten, gaben an, Mitglied einer deutschen Gewerkschaftsorganisation zu sein.32 Die mit Abstand größte Einzelgewerkschaft stellt dabei die Vereinte Dienstleistungs- gewerkschaft (ver.di) mit 42 Abgeordneten dar, gefolgt von der vor allem im Ruhrgebiet und im Rheinland stark vertretenen IG Bergbau-Chemie-Energie (16) und der IG Metall (14). In der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind weitere sechs Abgeordnete organisiert und in der Gewerkschaft der Polizei vier Abgeordnete. Die drei am stärksten im Landtag repräsentierten Gewerk- schaften verkörpern auch die drei größten Mitgliedsorganisationen des DGB, allerdings in anderer Reihenfolge: bundesweit liegt die IG Metall vor ver.di und der IG Bergbau-Chemie-Energie. Hinsichtlich der gewerkschaftlichen Verbands- färbung der im NRW-Landtag vertretenen Parteien liegt in absoluten Zahlen die SPD an der Spitze, aus deren Fraktion 65 Abgeordnete (von insgesamt 99) eine (oder mehrere) Gewerkschaftsmitgliedschaft(en) ausweisen. Dem stehen nur drei CDU-Abgeordnete (von insgesamt 67 Abgeordneten), drei Piraten-, zwei Grünen- und kein FDP-Parlamentarier mit Gewerkschaftsmitglied- schaft gegenüber. Die traditionelle Nähe zwischen SPD und Gewerkschaften spiegelt sich damit im NRW-Landtag in besonderer Form wider, die auch damit begründet werden kann, dass im Industrieland NRW dem Problemfeld Arbeits- beziehungen besondere Bedeutung zukommt. Erklärungsbedürftig ist aber, dass als Gegenpol zur starken Vertretung von Arbeitnehmerinteressen im Landtag die Repräsentation von Unternehmer- und Arbeitgeberverbänden – namentlich durch den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung

31 So zählt allein der in Duisburg ansässige übergreifende Landessportbund NRW 63 Sport- fachverbände und 54 Stadt- und Kreissportbünde, die sich wiederum auf 19.496 Vereine stützen (Stichtag 1.1.2012). 32 Zum Vergleich: In der aktuellen 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags sind 30 Pro- zent der Abgeordneten Gewerkschaftsmitglieder.

102 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) oder den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) bzw. ihrer entsprechenden Landesorganisationen – keine offensichtliche Bedeutung zukommt, da entsprechende Mitgliedschaften nicht explizit ausgewiesen werden. Die zweitgrößte Abteilung bei der Verbandsfärbung der NRW-Landtags- parlamentarier bildet der soziale und humanitäre Bereich. Dieser weit gestreckte Bereich, bei dem der Übergang zwischen Verbänden und Vereinen besonders fließend ist, umfasst beispielhaft den Paritätischen Wohlfahrtsverband, den Deutschen Mieterbund und den Verein PRO ASYL. Die beiden am stärksten unter den NRW-Abgeordneten vertretenen Verbände sind die Arbeiterwohlfahrt (AWO) (37 Abgeordnete) und der Deutsche Kinderschutzbund (fünf Abgeordnete). Die Mitgliedschaft in der Arbeiterwohlfahrt, die sich selbst als parteipolitisch und konfessionell unabhängige Hilfsorganisation beschreibt, konzentriert sich dabei – mit zwei Ausnahmen – ausschließlich auf die SPD. Die Nähe der CDU zu sozialen Fragen spiegelt sich hingegen in der Repräsentation von zwei weiteren Sozialverbänden wider: Drei Parlamentarier der CDU sind Mitglied der Christ- lich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und zwei Abgeordnete Mitglied der Katholischen Arbeitnehmerbewegung. Bemerkenswert – und wohl nicht alleine mit dem starken SPD-Anteil im Landtag erklärbar – ist, dass die Caritas, die sowohl auf Bundes- als auch auf NRW-Ebene mehr Mitglieder als die AWO auf- weist, lediglich durch zwei Abgeordnete im Landtag repräsentiert wird.33 Verbände im Bereich Sport und Freizeit spielen nur eine untergeordnete Rolle im nordrhein-westfälischen Landtag, da diesem Spektrum lediglich vier – bzw. unter Einbeziehung des Bildungsbereichs sechs – Parlamentarier zugeordnet werden können. Der Bereich Religion, Kultur und Wissenschaft besitzt mit 13 Abgeordneten ebenfalls keine sonderlich starke Repräsentanz. In diesem Feld streuen die weiteren Verbände weit und umfassen das Kolpingwerk ebenso wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft, die mit jeweils einem Abgeordneten vertreten sind.

33 Vgl. zu entsprechenden Veränderungen im Verbandssystem mit Blick auf NRW Patrick Brandenburg: Vom Sozialleistungsverband zum Dienstleistungsunternehmen? Wohl- fahrtsverbände in Nordrhein-Westfalen zwischen System- und Sozialintegration, in: P. Brandenburg/B. Frey/T. Kniwel (Hg.): Verbände zwischen Markt und Staat. Drei Bei- träge aus der Forschungsinitiative Verbände. Polis 40, Hagen 1998, S. 19–88.

103 Jürgen Mittag

Auch der gesellschaftspolitische Bereich weist eine erhebliche Bandbreite auf. Während Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder politische Organisationen wie der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte nur jeweils durch einen Parlamentarier vertreten werden, zählt das globalisierungskritische Netzwerk attac vier Mitglieder unter den Abgeordneten, verteilt auf SPD, Bündnis 90/Grüne und Piratenpartei. Am umfassendsten ist der Umwelt- und Naturschutzbereich repräsentiert, für den insgesamt 20 Abgeordnete eine Verbandsmitgliedschaft angeben. Während der Bund für Natur- und Umweltschutz Deutschland (BUND) vier Abgeordnete zählt (davon drei in der Piratenpartei), sind es beim Naturschutzbund Deutschland, den Natur- freunden, der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald und dem Landesverband Erneuer- bare Energien jeweils drei Abgeordnete. Insgesamt betrachtet ist die Verbandsfärbung bei der SPD – vor allem durch den hohen Anteil der Gewerkschaftsmitglieder – am stärksten ausgeprägt; die kleineren Parteien Bündnis 90/Grüne und FDP weisen hingegen eine vergleichs- weise geringe Verbandsfärbung auf. Ob der augenscheinlich höhere Verbandsgrad der Piratenpartei im NRW-Landtag auf eine entsprechende Nähe zu Verbänden oder eher auf einen stärkeren Transparenzanspruch zurückzuführen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Angesichts der starken gewerkschaftlichen Verbands- färbung der Sozialdemokratie, aber auch mit Blick auf ihre jahrzehntelange Regierungsverantwortung im Land, besteht für die SPD in besonderem Maße die Herausforderung, »die Logik des allgemeinen gesellschaftlichen Interessenaus- gleiches mit der Logik besonderer Interessen in Einklang oder gar zur Deckung zu bringen«.34 Gerade vor dem Hintergrund fundamentaler Veränderungen im Montanbereich und eines anhaltenden Strukturwandels, bei dem Arbeitnehmer- interessen nicht immer konfliktfrei mit Landesinteressen zu vereinbaren waren, ist es in der Vergangenheit in Nordrhein-Westfalen immer wieder zu Interessen- konflikten gekommen. Angesichts des Ausmaßes der Herausforderung sind diese jedoch, gerade auch im internationalen Vergleich, im Sinne eines übergreifenden Kompromisses gelöst worden.35

34 Siehe hierzu auch allgemein Herbert Hönigsberger: Der parlamentarische Arm. Gewerk- schafter im Bundestag zwischen politischer Logik und Interessenvertretung, Berlin 2008, S. 103. 35 Vgl. grundlegend zum Thema Stefan Goch: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen 1848–1975,

104 Parteien und Verbände in Nordrhein-Westfalen

Dass das Spannungsfeld von Partikular- und Allgemeininteressen nicht nur für den Gewerkschaftsbereich, sondern auch für andere Politikfelder eine Heraus- forderung darstellt, ist ebenso offensichtlich wie der Umstand, dass die Unter- stützung von Interessenverbänden für Parteien und Abgeordnete eine Option darstellt, die als Wahl- oder Karrierevehikel genutzt werden kann. Selbst wenn allgemein konstatiert wird, dass die Verbandsverbindungen der Abgeordneten im Zeitlauf geringer, schwächer und vielschichtiger geworden sind, stellt sich in diesem Zusammenhang einmal mehr die Frage nach den Abhängigkeiten der Parteien bzw. Abgeordneten von Verbänden, die insbesondere in finanziellen Zuwendungen ihren Ausdruck findet. Bereits seit einigen Jahren wird eine rege Debatte über die Offenlegung der Nebeneinkünfte der NRW-Landtags- abgeordneten geführt. Sollte eine entsprechende Regelung rechtlich verbindlich verankert werden, wird sie auch Einfluss auf das grundsätzliche Verhältnis von Parteien und Verbänden in Nordrhein-Westfalen haben. Daneben bleibt aber auch weiterhin der Einfluss der Verbände auf die Exekutive von Bedeutung, so etwa wenn Veranstaltungen der Landesregierung nicht nur zu Teilen, sondern vollständig mit Sponsorengeldern bestritten werden.

5. Fazit: Interessenvertretung und -moderation im Wandel

Interessenkonvergenzen und Interessenunterschiede sind in politischen Systemen auf allen Ebenen vorhanden. Das politische System des Landes Nordrhein- Westfalen ist dabei ebenso Schauplatz der Interessenvertretung wie Verstärker des Wandels, mit dem sich Parteien und Verbände bei der Interessenvertretung konfrontiert sehen. Sowohl Parteien als auch Interessengruppen befinden sich in einem anhaltenden Wandlungsprozess, der von einer Zunahme an Akteuren und Interessen, aber auch von wachsender Komplexität, Interdependenz und Internationalisierung gekennzeichnet ist. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf ganz unterschiedliche Ursachen: Eine zunehmende Individualisierung von Interessen und Lebensstilen kommt hier ebenso zum Tragen wie die Veränderung von Kommunikationswegen. Insgesamt betrachtet werden Interessen vielfältiger und heterogener – zugleich aber auch widersprüchlicher. Es wird für Parteien wie Verbände damit insgesamt

Düsseldorf 1990 und Ders. (Hg.): Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein- Westfalen, Münster 2004.

105 Jürgen Mittag schwieriger, das Spektrum der ausdifferenzierten Interessen der Mitglieder zu berücksichtigen, zu bündeln und verbindliche politische Entscheidungen im Sinne der Repräsentierten zu erzielen – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Verflechtungen des Mehrebenensystems und zunehmenden Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen. Gerade die Zunahme von Vertretern spezieller branchen- oder berufsbezogener Interessen, aber auch die Konkurrenz durch Lobbydienstleister und Politikberatungsagenturen wird die parteiliche und ver- bandliche Willensbildung bzw. Interessenvertretung absehbar erschweren. Damit aber scheint, nach den regen Debatten über Pluralismus und Korporatismus sowie deren »Überwindung« im Zuge von Ansätzen zu Netz- werken und zur Zivilgesellschaft36 eine neue Etappe wissenschaftlicher Verbands- und Parteienforschung bevorzustehen. Bislang wurde im Sinne eines Tausch- geschäftes dem (bisweilen überbordenden) Verbandseinfluss und den autonomen Steuerungsmöglichkeiten von Verbänden eine Inanspruchnahme der Interessen- organisationen durch den Staat im Rahmen der Kooperation mit Regierungen und Parteien gegenübergestellt. Der bisherige Tenor lautete dementsprechend: Verbände regieren nicht, aber sie regieren mit. Die skizzierten Veränderungs- prozesse weisen aber auf eine grundlegend veränderte Entwicklung hin, die nicht nur Debatten über die künftige strategische Ausrichtung des Verbands- wesens nach sich zieht, sondern im Hinblick auf die Funktion von Verbänden als Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen die Frage nach der künftigen Legitimationsgrundlage intermediärer Kommunikation aufwirft. Damit sind aber auch Auswirkungen auf die demokratische Willensbildung angesprochen, die grundlegend die Partizipations- und Selbststeuerungsmöglichkeiten der Gesellschaft sowie in letzter Konsequenz das Zusammenspiel von Parteien und Verbänden berühren.

36 Vgl. für einen konzisen Überblick zu den theoretischen Ansätzen Zimmer/Speth, S. 272– 294.

106 Melanie Diermann links: Melanie Diermann rechts: Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen Das Beziehungsgeflecht von Politik und Medien aus journalistischer und parteipolitischer Sicht

1. Erkenntnisinteresse und Vorgehensweise

In Nordrhein-Westfalen wird Politik für 18 Millionen Menschen gemacht. In der Regel verfügen diese weder über unmittelbare Kontakte zu Politiktreibenden, noch über Kapazitäten, politische Entscheidungsprozesse in Echtzeit mitzuver- folgen. Politik wird insofern nicht unmittelbar an der Stelle wahrgenommen, an der sie geschieht. Erst durch die mediale Vermittlung politischen Handelns erreicht Politik die Bürger, und Medien fungieren dabei als Bindeglied zwischen »gemachter« und »wahrgenommener« Politik. Dieser Prozess der medialen Politikvermittlung folgt eigenen Rationalitäten1, die nicht nur nicht immer den Rationalitäten der Politiktreibenden entsprechen, sondern ihnen zum Teil auch diametral widersprechen. Gerade auch deswegen ist das Verhältnis von Politik und Medien seit je her ein beliebter politik-, medien- und kommunikations- wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand.2 Ein wesentlicher Fokus in der politikwissenschaftlichen Erörterung lag dabei stets auf der Frage, wer – Politik oder Medien – als zentraler Taktgeber in diesem Beziehungsgeflecht gesehen werden kann. Heute wird diese Frage in der Regel mit dem Modell eines interdependenten, wechselseitigen Abhängigkeits- und Machtgefüges beantwortet.3 Dieses Beziehungsgeflecht für das Bundesland

1 Grundlegend zu den Gesetzmäßigkeiten politischer Berichterstattung und zur Wahrnehmung politischer Berichterstattung durch Rezipienten: Winfried Schulz: Politische Kommunikation, Wiesbaden 2008; sowie Rüdiger Schmitt-Beck: Politische Kommunikation und Wählerverhalten, Wiesbaden 2008. 2 Grundlegend zum Verhältnis von Politik und Medien: Ulrich Sarcinelli: Politische Kommunikation in Deutschland, Wiesbaden 2011. 3 Grundlegend zum interdependenten Verhältnis von Politik und Medien: Sarcinelli 2011: 122 ff.

107 Melanie Diermann

NRW genauer in Betracht zu nehmen, ist das Ziel des vorliegenden Kapitels. Nach einer deskriptiven Erörterung der relevanten Institutionen, Akteure und Akteurskonstellationen sollen dazu die Sichtweisen beider Seiten analysiert und miteinander verglichen werden. Die empirische Basis dafür wurde in leitfaden- gestützten Experteninterviews mit nordrhein-westfälischen Journalisten und Politikern erhoben, um eine vergleichende Analyse der parteipolitischen und der medialen Perspektive vornehmen zu können.4 Die auf diese Weise identifizierten Gemeinsamkeiten und Unterschiede bilden die Grundlage einer abschließenden Betrachtung des Beziehungsgeflechts von Politik und Medien in NRW.

2. Parteien und Medien in NRW: Akteure, Institutionen, Konstellationen Das Wort »Beziehungsgeflecht« verdeutlicht bereits auf der abstrakten Ebene, dass es sich um die Vernetzung von (mindestens) zwei Akteursgruppen (Beziehung) über mehrere Stränge auf verschiedenen Ebenen (Geflecht) handelt. Da Beziehungen zunächst zwischen Menschen stattfinden und weder Medien noch Politik eine homogene Gruppe von Menschen darstellen, bedarf es auf beiden Seiten zunächst einer Konkretisierung, die im Folgenden entlang einer Ausdifferenzierung der zentralen Akteure erfolgt. Aufseiten der Medien werden hier Journalisten aus den Redaktionen der Fernseh- und Radiosender und Zeitungen als Akteure betrachtet.5 Sie stehen in einem eigenen institutionellen Kontext, der durch die jeweilige Hauskultur und die redaktionelle Linie ihres

4 Interviewt wurden vier Journalisten (J1 bis J4), die für unterschiedliche Medien über Landespolitik in NRW berichten sowie vier Personen, die aufseiten der NRW-Parteien (auf unterschiedlichen Ebenen) mit Medienarbeit befasst sind (P1 bis P4). Allen Inter- viewten wurde zugesichert, dass Namen und Parteizugehörigkeiten im Kontext der Publikation nicht offen gelegt werden. Zur Sicherstellung wissenschaftlicher Sorgfältig- keitsanforderungen sind die Namen der Interviewten und die autorisierten Mitschriften der Interviews dem Herausgeber dieses Sammelbandes vorgelegt worden. Die Interviews erfolgten auf Basis eines Leitfadens, wurden aber als individuelle Gespräche geführt, bei denen sich Folgenachfragen aus dem jeweils individuellen Kontext ergaben. 5 Darüber hinaus gibt es in NRW diverse Internet-Blogs, die explizit über Landespolitik berichten. Siehe dazu auch das Kapitel von Bieber in diesem Band.

108 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen

Auftraggebers geprägt ist.6 Insofern ist bereits die Gruppe der medialen Akteure in sich nicht als homogen einzuschätzen. Idealtypisch ihr gegenüber im politisch- medialen Beziehungsgeflecht steht die Gruppe der Politiktreibenden, auf die hier unter dem Begriff »Parteien« fokussiert wird. Als relevante Akteure auf der partei- politischen Seite sind neben dem politischen Spitzenpersonal selber insbesondere auch die Sprecher der Parteiverbände, Landtagsfraktionen, der Landesregierung und der Ministerien zu nennen. Auch in ihrem Fall kann nicht von einer homo- genen Gruppe gesprochen werden, da es in der Natur der verschiedenen Parteien liegt, dass sie unterschiedliche inhaltliche und strategische Zielsetzungen ver- folgen, verschiedenen Netzwerkstrukturen angehören und auch nicht per se gleiche Arbeitsroutinen pflegen. Die hohe Binnenpluralität auf beiden Seiten des Beziehungsgeflechts lässt insofern generelle Aussagen über »die Politik« und »die Medien« nur in engen Grenzen zu. Als relevante Institutionen, die in NRW auf der Makroebene den Handlungs- korridor für die Akteure aus Politik und Medien vorformulieren7, sind die Verfassung der Bundesrepublik Deutschlands8, die Landesverfassung, das Landespressegesetz9,

6 Grundlegend zur Hauskultur und redaktionellen Linie im Kontext politischer Bericht- erstattung: Susanne Fengler/Bettina Vestring: Politikjournalismus, Wiesbaden 2008. 7 Hier wird insgesamt gemäß neo-institutioneller Prämissen davon ausgegangen, dass Institutionen wesentliche Taktgeber sind, da sie das Handeln der Akteure vorstrukturieren. 8 Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland regelt (in Art. 5) für das Verhältnis von Politik und Medien grundlegend: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten […] Eine Zensur findet nicht statt.« 9 Das Landespressegesetz NRW greift in § 1, § 2 und § 3 die Bestimmungen des Grund- gesetzes auf und regelt darüber hinaus (unter anderem): »Die Presse ist frei. Sie ist der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verpflichtet. Die Freiheit der Presse unter- liegt nur den Beschränkungen, die durch das Grundgesetz unmittelbar und in seinem Rahmen durch dieses Gesetz zugelassen sind. Sondermaßnahmen jeder Art, die die Pressefreiheit beeinträchtigen, sind verboten. […] Die Pressetätigkeit einschließlich der Errichtung eines Verlagsunternehmens oder eines sonstigen Betriebes des Pressegewerbes darf von irgendeiner Zulassung nicht abhängig gemacht werden. Die Presse erfüllt eine öffentliche Aufgabe insbesondere dadurch, dass sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung mitwirkt.« Zur Sorgfältigkeitspflicht der Presse heißt es weiter (in § 6): »Die Presse hat alle Nach- richten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen.« Darüber hinaus nimmt das Gesetz diverse Begriffs-

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der Rundfunkstaatsvertrag10, der Rundfunkrat11, die Landesanstalt für Medien12 Bild: Abbildung 1 und die Landespressekonferenz13 zu nennen. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Parteien und Medien in NRW auch durch die jeweilige machtpolitische Konstellation im Land institutionell vorgeprägt. Regierungs- oder Oppositionszugehörigkeiten formulieren dabei sowohl Erwartungshaltungen von journalistischer Seite, als auch kommunikative Ressourcen und Restriktionen auf politischer Seite. Abbildung 1 setzt die relevanten Akteure und Institutionen im Beziehungs- geflecht von Politik und Medien übersichtsartig in Relation zueinander. Zwei Ebenen der Interaktion – die formelle und die informelle – werden dabei unterschieden: Formal vollzieht sich die politische Alltagskommunikation mit

bestimmungen (etwa Druckwerke, Massenmedien) vor und erörtert die Bestimmungen zur Impressumspflicht, die Anforderungen an einen verantwortlichen Redakteur, straf- rechtliche Aspekte, die Frage nach dem Recht auf eine Gegendarstellung sowie Aus- kunftsrechte gegenüber Behörden. 10 Der Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (kurz Rundfunkstaatsvertrag oder RStV) regelt das Rundfunkrecht und ist insofern auch Grundlage für Fragen nach Programmgrundsätzen, der Aufsicht und der Finanzierung. 11 Die in der Verfassung gewährte grundlegende Unabhängigkeit der Medien wird kontrastiert von der Logik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dessen Steuerung über mit (partei-)politischen Akteuren besetzten Rundfunkräte erfolgt (grundlegend zur Rolle von Rundfunkräten: Barbara Hemkes: Spurensuche zwischen Rundfunkrat und Presse- mitteilung, in: H. Kleinsteuber/S. Nehls (Hg.): Media Governance in Europa, Wies- baden 2011, S. 197 ff.). 12 Die Landesanstalt für Medien NRW überwacht die Umsetzung gesetzlich vor- geschriebener Programmanforderungen, die den privaten Rundfunk betreffen (LfM NRW 2013). Ihre Aufgabe ist insbesondere die Sicherstellung einer angemessenen Berück- sichtigung der Meinungsvielfalt. Sie wurde auf der Grundlage des »Rundfunkgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen« (LRG NRW) 1987 mit Sitz in Düsseldorf gegründet. Sie ist als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts keine staatliche Einrichtung, insofern politisch unabhängig und finanziert sich gemäß einer Regelung des Rundfunkstaats- vertrages aus einem Anteil der in NRW erhobenen Rundfunkgebühr. Die Zulassung und Aufsicht über private Veranstalter, die Förderung der Medienkompetenz sowie die Überwachung der Internetangebote mit Sitz des Domaininhabers in NRW auf die Ein- haltung der gesetzlichen Vorschriften sind in diesem Zusammenhang zentrale Aufgaben der Landesanstalt für Medien. 13 Grundlegend zur Rolle der Landespressekonferenz in NRW: Fabienne Piepiora: Landes- korrespondenten bei regionalen Tageszeitungen, Duisburg 2011.

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Abbildung 1: Beziehungsgeflecht von Medien und Politik in NRW BEZIEHUNGSGEFLECHT ZWISCHEN POLITIK UND MEDIEN IN NRW

Institutionelle Rahmenbedingungen BRD Grundgesetz, Landespressegesetz, Landesanstalt f. Medien, landestypische politisch-mediale Umgangskultur etc.

Politische Akteure Beziehungsebene Mediale Akteure Landesverbände der Nachrichtenagenturen politischen Parteien Agenturmeldungen Pressesprecher Formelle Ebene Landespressekonferenz Fraktionen im NRW- Pressekonferenzen Journalisten Presseerklärungen Redakteure, freie Mitarbeiter, Landtag etc. Korrespondenten, Pauscha- Pressesprecher, MdLs listen etc. berichten in

Landesregierung Zeitungen Regional o. überreg. Regierungssprecher Informelle Ebene Bilaterale Absprachen Staatskanzlei Hintergrundgespräche TV und Radio und Büro der exkl. Öffentl-rechtl o. privat Ministerpräs. Vorabinformationen Pressesprecher Netzwerke Persönliche Kontakte Weblogs etc. Ministerien Medienvielfalt Pressesprecher unterschiedl. redaktionelle Linien u. Herangehensweisen Sonstige Rahmenbedingungen Politische Großwetterlage, Themen, Personen, Aufmerksamkeitskurven etc.

Quelle: Eigene Darstellung. medialen Akteuren aus parteipolitischer Sicht zunächst entlang zweier Routinen: Zum einen ist bei ankommenden Kommunikationsanliegen von journalistischer Seite bei den Parteilandesverbänden, Ministerien und Fraktionen der jeweilige Pressesprecher erster Ansprechpartner. Er verteilt Medienanfragen im Haus oder Landesverband und vermittelt Informationen oder Ansprechpartner. Für nach außen gerichtete Kommunikationsanliegen der politischen Akteure sind zum anderen Pressemitteilungen und Pressekonferenzen das wesentliche Standard- organ. Informationen zu aktuellen Themen und Anliegen der Partei werden auf diesem Weg routiniert an bestehende Verteiler vermittelt und erreichen so Journalisten, Redaktionen und Agenturen. Der puristischen Übersichtlichkeit des formalen Kommunikationsprozesses steht die Vielschichtigkeit informeller Kommunikationsstrukturen gegenüber.14 Insgesamt bauen informelle Prozesse –

14 Sie werden insbesondere im zweiten Teil des Beitrags genauer betrachtet.

111 Melanie Diermann anders als formale – vor allem auf persönliche Kontakte und Netzwerke.15 Die Kommunikation basiert auf Vertrauen und ist an einen bestimmten kleinen Personenkreis adressiert, der dann in seinem organisatorischen Kontext als Multiplikator funktionieren kann. Neben den Landesparteien selbst sind Land- tagsfraktionen, Landesregierung und Ministerien weitere Taktgeber der partei- politischen Kommunikation, die ihrerseits auch über eine eigene mediale Agenda verfügen. Die Kommunikation der Parteien muss nicht in allen Details mit den jeweils zugehörigen landespolitisch relevanten Akteuren abgestimmt werden; beide dürfen einander aber auch nicht diametral widersprechen.16 Auf der Seite der medialen Akteure berichtet zunächst der WDR als Anbieter von Fernseh- und Radioformaten über Landespolitik. Als WDR-Formate, die unmittelbar landespolitischen Inhalten gewidmet sind, sind insbesondere im Bereich Fernsehen die »Aktuelle Stunde«17 sowie das wöchentliche Magazin »Westpol«18 zu nennen. Im WDR-Radio wird ferner das Format »Westblick«19 (WDR 5) gesendet. Darüber hinaus bietet die Internetpräsenz des WDR die Rubrik »Politik« an, unter der Beiträge aus Radio und Fernsehen und Internet-

15 Grundlegend zur Unterscheidung von Formalität und Informalität: Martin Florack: Regierungszentralen, Wiesbaden 2011. 16 Grundlegend zum Verhältnis von Partei und Fraktion: Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2006. 17 Die »Aktuelle Stunde« ist als TV-Informationsmagazin angelegt und berichtet seit den 1980er Jahren täglich aus dem Düsseldorfer Funkhaus über die aktuelle Nachrichten- lage mit einem besonderen Fokus auf das Land Nordrhein-Westfalen. Wann immer die Sendezeit am Abend für die Berichterstattung über ein unvorhersehbares Ereignis nicht ausreicht, wird von der Redaktion das Format WDR-Extra eingesetzt. 18 Anders als die Aktuelle Stunde, die als Informations- und Nachrichtenmagazin angelegt ist, ist das WDR-Format »Westpol« direkt auf die Berichterstattung über Landes- politik ausgerichtet. Als aktuell, kritisch, hintergründig und unabhängig beschreibt die Redaktion auf der Internetseite des WDR ihre Arbeit, siehe www.wdr.de/tv/westpol/ zursendung/index.jsp, Stand: 20.3.2013. Seit dem Start 1992 wird das Format im WDR- Fernsehen am Sonntagabend ausgestrahlt und erreicht im Schnitt 800.000 Menschen, siehe www.wdr.de/tv/westpol/zursendung/index.jsp, Stand: 20.3.2013. 19 Das Radiomagazin Westblick läuft täglich um 17.05 Uhr auf WDR 5 und ist als Landes- magazin angelegt. Es kann insofern am ehesten als Radio-Gegenstück zur aktuellen Stunde verstanden werden »Was ist heute in Nordrhein-Westfalen passiert?« lautet die Leitfrage, die die Redaktion sich stellt, siehe www.wdr5.de/sendungen/westblick.html, Stand: 20.3.2013.

112 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen redaktion zusammengeführt und präsentiert werden. Landespolitik wird dabei unter der allgemeinen Rubrik »Politik« mit aufgeführt, die Themen werden nicht explizit entlang der föderalen Unterscheidung entwickelt: Politik ist Politik, egal ob sie auf der Landes-, Bundes- oder europäischer Ebene anzusiedeln ist. Ferner strahlen auch die privaten Fernsehsender RTL und Sat.1 täglich am späten Nachmittag regionale Formate aus, in denen unter anderem über landes- politische Themen berichtet wird. Eine weitere wesentliche Gruppe der medialen Akteure bilden die in NRW erscheinenden lokalen und regionalen Zeitungen.20 Darüber hinaus sind die Internet-Blogs zu nennen, die über landespolitische Aspekte berichten. Ihre Arbeit unterscheidet sich zum einen durch eine hohe Interaktivität – Beiträge können kommentiert und diskutiert werden – wie auch durch einen anderen Umgang mit den Gepflogenheiten der »political correctness« von den Webangeboten der etablierten Medien. So können besonders kontrovers anmutende Themen beispielsweise unter Pseudonymen veröffentlicht werden.21

20 Eine Übersicht der in NRW erscheinenden Tageszeitungen bietet das Projekt Zeitungs- zeit (2012) an. 21 Der Blog www.wir-in-NRW.de gibt etwa an, »für einen kritischen Journalismus im Netz« zu stehen und versteht sich insofern auch als schlagkräftiges Gegenüber in Zeiten, in denen »die Erträge der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage einbrechen, hunderte von Journalistenstellen in den Redaktionen gestrichen werden [und] die Politik mit neuen Mediengesetzen in Verlagen, Rundfunk- und Fernsehsendern immer stärker Einfluss nimmt.« »Unabhängig, klar und parteifern das aufzuschreiben, was wirklich passiert« sei insofern die zentrale Zielsetzung der eigenen Arbeit. Hinter dem Blog steht insbesondere der langjährige Stellvertretende Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) Alfons Pieper, der zuvor bereits als Chefkorrespondent im WAZ-Hauptstadtbüro aus Berlin berichtet hatte. Der Blog unterscheidet sich auch hinsichtlich des Grades der Kommerzialisierung von den etablierten Medien: Die Journalisten betreiben den Blog ehrenamtlich und ohne Honorar.

113 Melanie Diermann

3. Das politisch-mediale Beziehungsgeflecht aus journalistischer Sicht 3.1 Zur Recherche über Landespolitik in NRW

Zum Aspekt »Recherche über Landespolitik in NRW« wurden in den mit Journalisten geführten Interviews der »Stellenwert der Landespressekonferenz«, der »Stellenwert der politischen Pressestellen« und die »Relevanz von sozialen Netzwerken« angesprochen.22 Insgesamt wurde in den journalistischen Inter- views betont, dass sich das Blickfeld bei der Recherche NRW-bezogener Themen immer auf das gesamte Land richte und nicht nur auf Politik und Parlaments- arbeit.23 Der Stellenwert der Landespressekonferenz wird von den interviewten Journalisten zwar als formal bedeutsam, deren Relevanz gleichwohl als begrenzt eingeschätzt. »Die Landespressekonferenz ist ein Pflichttermin. Da geht man hin, weil da alle Kinder hingehen. Mehr nicht.«24 Insgesamt habe man am Ende des Tages ein Pensum an Berichterstattung über Landespolitik abzuliefern und gehe insofern schon rein vorsorglich zu den Terminen der Landespressekonferenz, für den Fall, dass am Ende des Tages nichts anderes verfügbar sei.25 Der zentrale Vorteil der Landespressekonferenz liege insbesondere in der Möglichkeit, offiziell verifizierte Statements erhalten und dazu auch Nachfragen stellen zu können.26 Dieser Vorteil werde jedoch gleich wieder relativiert durch die Tatsache, dass auch alle anderen Anwesenden die Frage und die Antwort hörten und es inso- fern passieren könne, dass ein anderes Medium damit an die Öffentlichkeit geht, noch bevor die eigene Recherche abgeschlossen sei (Problem der mangelnden Exklusivität).27 Die Themensetzung für die im Rahmen der Landespressekonferenz organisierten Pressekonferenzen erfolge beidseitig. Sowohl die Option, dass eine Pressekonferenz auf Initiative aus der Politik zustande käme, als auch die Situation

22 Das Verhältnis von Formalität und Informalität, das hier auch als zentral relevant thematisiert wurde, wird im Zuge von Kapitel 3.3 erörtert. 23 Zitiert aus Interview J2, J3, J4. 24 Zitiert aus Interview J3. 25 Zitiert aus Interview J2, J4. 26 Zitiert aus Interview J1, J2, L3. 27 Zitiert aus Interview J2, J3, J4.

114 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen einer medialen Initiative seien alltäglich.28 Die durchschnittliche Häufigkeit dieser Termine liege zwischen einmal pro Woche und einmal pro Monat und sei in Abhängigkeit zur allgemeinen Nachrichtenlage zu sehen.29 Es gäbe insgesamt in NRW ein von Journalisten und Politkern gleichermaßen akzeptiertes ungeschriebenes Gesetz, nichts vorab zu veröffentlichen, was in absehbarer Zeit als Gegenstand einer Landespressekonferenz vorgesehen ist. Falls es in Einzel- fällen dennoch dazu käme, fühle sich der Vorstand der Landespressekonferenz übergangen, was zu Ärger und Aufruhr führen und insofern auch das Verhältnis zwischen Politik und Medien in NRW temporär belasten könne.30 Die Landes- pressekonferenz sei insofern insgesamt von einer gewissen formalen Bedeutung, gleichwohl seien aber die persönlichen Kontakte zu Politikern als wesentlich bedeutsamer einzuschätzen, insbesondere was die Einordnung von offiziellen Zitaten, das Klären von Hintergründen sowie die politische Gewichtung von Geschichten beträfe.31 Wesentliche der bereits genannten Aspekte wurden auch hinsichtlich des Stellenwerts der politischen Pressestellen angeführt, insbesondere die Rolle von formalen Pressekonferenzen im Gegensatz zu bilateralen exklusiven Absprachen betreffend. Darüber hinaus sei hinsichtlich der Wertigkeit politischer Presse- stellen die Parteipressestelle (im Vergleich zu den Pressestellen von Regierung, Ministerien und Fraktion) ganz weit hinten einzuordnen.32 Lediglich nicht im Parlament vertretene Parteien bildeten hier eine Ausnahme.33 Die relevante »Musik« spiele vor allem in den Fraktionen.34 Bezüglich der den Minister- präsidenten stellenden Partei sei im Grunde nur das Büro des Ministerpräsidenten relevant.35 Insbesondere für frei arbeitende Journalisten seien offizielle Presse- formate wie Erklärungen, Agenturmeldungen oder Pressekonferenzen im Grunde kaum von Interesse, da ihr Fokus auf der Entwicklung exklusiver Geschichten

28 Zitiert aus Interview J2. 29 Zitiert aus Interview J2. 30 Zitiert aus Interview J2. 31 Zitiert aus Interview J1. 32 Zitiert aus Interview J2, J4. 33 Zitiert aus Interview J2. 34 Zitiert aus Interview J1, J2, J3. 35 Zitiert aus Interview J3.

115 Melanie Diermann liege.36 »Ich gehe generell ganz selten zu Pressekonferenzen«37 sagte einer der Interviewten in diesem Kontext. Darüber hinaus wurde auch die Bedeutung von online-basierten sozialen Netzwerken im Kontext der Recherche als wesentliche Seismographen genannt: »Ich entdecke Sachen häufig bei Facebook oder Twitter, oder werde dort gezielt auf Dinge aufmerksam gemacht.«38

3.2 Zur Berichterstattung über Landespolitik in NRW

Die journalistische Sichtweise auf die Besonderheiten der Berichterstattung über Landespolitik in NRW wurde in den Interviews entlang der Aspekte »Bericht- erstattung über Landespolitik im Vergleich zur Berichterstattung über bundes- und kommunalpolitische Themen«, »Verhältnis von Themen und Personen« und »Verhältnis von Sach- und Machtfragen« erörtert. Hinsichtlich der vergleichenden Einschätzung von landespolitischer zu kommunal- und bundespolitischer Berichterstattung wurde als wesentlicher Unterschied im Zeitungskontext zunächst berichtet, dass die Themen jeweils in verschiedenen Redaktionen bearbeitet und an anderen Stellen im Blatt behandelt würden.39 Der Stellenwert der drei Themenebenen wird von den befragten Journalisten im Vergleich unterschiedlich gewichtet: Die Spannweite der Ein- schätzungen reichte hier von »Es wird nicht so viel über Landespolitik berichtet, im Vergleich zu den beiden anderen«40 über die Zuschreibung eines etwa gleichen Stellenwertes, auch von der Textlänge her41 ist hier gleichermaßen die Rede, wie auch von einer klaren Dominanz.42 Einigkeit bestand hingegen in der Ein- schätzung, dass es insgesamt hauptsächlich jeweils bundesweit und lokalweit aus- gerichtete Medienprodukte gäbe, jedoch relativ wenig exklusiv landesbezogene.43 Darüber hinaus wurde von einer klaren Hierarchie gesprochen, bei der bundes-

36 Zitiert aus Interview J3. 37 Zitiert aus Interview J4. 38 Zitiert aus Interview J3. 39 Zitiert aus Interview J1. 40 Zitiert aus Interview J4. 41 Zitiert aus Interview J1. 42 Zitiert aus Interview J2. 43 Hierzu ist anzumerken, dass die Befragten das insbesondere auch für das Medium ein- geschätzt haben, für das sie arbeiten, und die diesbezüglichen Unterschiede zwischen einer regionalen und einer überregionalen Tageszeitung etwa liegen auf der Hand.

116 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen politische Themen vorrangig seien. »Bundesthemen musst du machen, Landes- themen kannst du machen«44, wurde dazu in einem der Interviews gesagt. Das Verhältnis von Themen und Personen als Gegenstand der Bericht- erstattung wurde insgesamt als symbiotisch eingeschätzt. Die Darstellung von Personen sei für die Berichterstattung unumgänglich.45 »Sie können nicht über Themen berichten ohne Personen und umgekehrt.«46 Gleichwohl ginge es bei der Personendimension vor allem um den Funktionsbezug des Befragten: »Mich interessiert, was die machen, und nicht, wie die sich fühlen.«47 Die Einschätzungen des Verhältnisses von Sach- und Machtfragen zeigen ein ähnliches Bild: »Wenn ich über Politik schreibe, bin ich mir darüber im Klaren, dass schon die Auswahl der Themen ein Kommentar ist. Objektivität kann es da nicht geben.«48 »Du recherchierst nie ergebnisoffen.«49 »Ich sehe die Trennung zwischen Sach- und Machtfragen [insofern auch] nicht. Jede Sachfrage ist immer auch eine Macht- frage.«50

3.3 Zur politisch-medialen Kultur in NRW

Zur Beurteilung der journalistischen Einschätzungen hinsichtlich der politisch- medialen Kultur in NRW wurde in den Interviews das »Verhältnis von Formalität und Informalität«, die »Bedeutung von Exklusivität« und Fragen zu »Besonder- heiten der politisch-medialen Kultur in NRW« angesprochen. Bezüglich des Ver- hältnisses von Formalität und Informalität teilen alle interviewten Journalisten die Einschätzung, dass formale Prozesse zwar wichtig, informelle Prozesse aber insgesamt in ihrer Bedeutung als klar dominant einzuschätzen sind.51 »Wenn um sechs Uhr Redaktionsschluss ist und irgendwo noch zwanzig Zeilen fehlen, dann macht man das auf der Basis von Agenturmeldungen oder Presseerklärungen. Da klöppelt man was zusammen und gut. Aber ansonsten ist das uninteressant.«52 Die

44 Zitiert aus Interview J3. 45 Zitiert aus Interview J1, J2, J3, J4. 46 Zitiert aus Interview J3. 47 Zitiert aus Interview J4. 48 Zitiert aus Interview J1. 49 Zitiert aus Interview J3. 50 Zitiert aus Interview J4. 51 Zitiert aus Interview J1, J2, J3, J4. 52 Zitiert aus Interview J3.

117 Melanie Diermann

Bedeutung der formalen Ebene ergebe sich insofern vor allem aus der Möglich- keit, öffentlich zitierfähige Äußerungen zu erhalten.53 Diese in einen Kontext einzuordnen sei dann das Ziel informeller Hintergrundgespräche.54 Insofern ist es nicht überraschend, dass insbesondere die Exklusivität von den interviewten Journalisten als wesentliches Ziel der eigenen Arbeit genannt wird. »Was mir vor- geworfen wird, ist im Grunde nicht von Interesse. Das persönliche Gespräch ist immer bedeutsamer, da es dort die Chance auf Exklusivität gibt. Ich will ja nicht das erzählen, was alle sagen.«55 Die journalistischen Einschätzungen der politisch-medialen Kultur in NRW weisen ebenfalls keine offensichtlichen Widersprüche auf. »Extreme Vernetzung, multidimensionale Politikverflechtung, extrem komplexes Diskursniveau«56 seien insgesamt kennzeichnend. Vor diesem Hintergrund wird von den inter- viewten Journalisten ein Bild des unaufgeregten professionellen Umgangs von medialen und politischen Akteuren miteinander unter verschiedenen informellen und formalen Konventionen gezeichnet. »Der Stellenwert von persönlichen Kontakten und Netzwerken ist hoch. Je besser der Draht zu relevanten Personen, umso besser für die Berichterstattung. Für beide Seiten übrigens.«57 Es gebe unterschiedliche parteipolitische Seil- schaften. Wer als Journalist nicht einzuordnen sei, habe es schwer. »Bei vielen ist jedoch von vorneherein klar, wo die gefüttert werden.«58 Auf dieser Basis ließe sich ferner auch erklären, warum es zu einer gewissen Ungleichbehandlung käme: »Ein Rückruf abends um halb sechs bringt beispielsweise gar nichts, da ist der Redaktionsschluss gelaufen – das wissen die [Politiker] schon ganz genau.«59 Hinsichtlich der wechselseitigen Abhängigkeit wurde darüber hinaus auch die Geschlossenheit des politisch-medialen Beziehungsgeflechts und seine über- schaubare Größe betont: »Aus journalistischer Perspektive ist es immer leichter, was Schlechtes über den französischen Regierungschef zu sagen als über den

53 Zitiert aus Interview J2. 54 Zitiert aus Interview J2. 55 Zitiert aus Interview J3. 56 Zitiert aus Interview J4. 57 Zitiert aus Interview J3. 58 Zitiert aus Interview J2. 59 Zitiert aus Interview J1.

118 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen

NRW-Landesvorsitzenden einer Partei. Man kennt sich im Land. Und man sieht sich immer zwei Mal.«60

4. Das politisch-mediale Beziehungsgeflecht aus politischer Sicht 4.1 Zur Plazierung von Themen in der Berichterstattung über Landespolitik in NRW

»Wie versuchen Sie, für ein eigenes Anliegen Aufmerksamkeit zu erzeugen?« lautete eine der Fragen, die in den Interviews mit Politikern erörtert worden ist. Ferner wurde unter dem Aspekt »Platzierung von Themen über Landes- politik in NRW« der Unterschied von Medienarbeit in Parteien, Fraktionen und Ministerien sowie der Stellenwert der Landespressekonferenz erörtert. »Tele- fonieren« lautete die zentrale Antwort auf die erst genannte Frage.61 Und zwar sowohl im agierenden als auch im reagierenden Kontext.62 »Wir laden zum Früh- stück ein, schaffen eine intime Atmosphäre.«63 Darüber hinaus sei insbesondere die Vernetzung von Informationen zu bedenken. Facebook, Twitter, Webseite, Presseerklärung müssten miteinander korrespondieren.64 »Wir sehen uns einmal pro Woche – und in Wahlkampfzeiten täglich – die Presselage im Team an. Unsere Arbeit ist da vor allem reaktiv, Parteien stehen ganz unten in der Nahrungskette.«65 Der Stellenwert der Parteiverbände wurde im Vergleich zu Ministerien und Fraktionen insgesamt als gering in den Inter- views eingeschätzt.66 Der Unterschied in der Pressearbeit liege auch darin, dass Pressestellen in den Landesverbänden der Parteien personell deutlich kleiner seien.67 »Die zwei, allenfalls drei Mitarbeiter dort müssen alles können und machen. In Ministerien und in den Fraktionen läuft das anders. Da gibt es deut-

60 Zitiert aus Interview J2. 61 Zitiert aus Interview P1, P2, P3 und P4. 62 Zitiert aus Interview P1. 63 Zitiert aus Interview P2. 64 Zitiert aus Interview P2, P3. 65 Zitiert aus Interview P2. 66 Zitiert aus Interview P1, P2, P4. 67 Zitiert aus Interview P1.

119 Melanie Diermann lich mehr personelle Ressourcen.«68 Dort würden Medienanfragen erst einmal nur entgegengenommen, während ihre Beantwortung durch den Pressesprecher dann auf der Basis einer Einschätzung aus den jeweiligen Fachreferaten erfolge. »Als Ministerium bist du eine öffentliche Instanz, eine Behörde. Du musst viel sach- und fachorientierter antworten, während bei deiner Partei klar ist, dass hinter dem, was du sagst, parteipolitische Interessen stehen.«69 Parteipressestellen hätten ihre Hochphasen insbesondere in Wahlkampfzeiten und würden in dieser Zeit auch personell aufgestockt.70 Während der Legislaturperiode seien sie dann im Grunde bedeutungslos, insbesondere, wenn sich die Partei in Regierungsver- antwortung befinde.71 »Es sei denn, es gibt einen Konflikt zwischen Partei und Fraktion. Dann steigt die Bedeutung sofort rapide.«72 In Oppositionszeiten ist der Landesverband natürlich wichtiger, weil der die einzige Anlaufstelle ist.73 Der Stellenwert der Landespressekonferenz wurde von den Politikern als grundlegend, informell aber eher irrelevant eingeschätzt: »Die Landespresse- konferenz ist wichtig für Fragen, die den Landtag betreffen.«74 »Die Presse- konferenzen sind ein Pflichttermin. Entscheidende Sachen werden bilateral am Telefon vorbesprochen oder bei einem Bier oder in anderen Hintergrundrunden. Zugfahrten sind hierfür auch besonders beliebt.«75

4.2 Zur Berichterstattung über Landespolitik in NRW

Zur »Berichterstattung über Landespolitik in NRW« wurden die hier inter- viewten Politiker »zum Unterschied von Berichterstattung über Landespolitik und bundes- oder kommunalpolitische Themen«, »zum Verhältnis von Personen und Themen im Kontext der Berichterstattung« sowie »zum Verhältnis von Sach- und Machtfragen« befragt. Zum »Unterschied von Berichterstattung über Landespolitik und bundes- oder kommunalpolitische Themen« wurde geäußert,

68 Zitiert aus Interview P1. 69 Zitiert aus Interview P1. 70 Zitiert aus Interview P1. 71 Zitiert aus Interview P1, P4. 72 Zitiert aus Interview P2. 73 Zitiert aus Interview P1, P2. 74 Zitiert aus Interview P4. 75 Zitiert aus Interview P1.

120 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen dass bundespolitische Themen vorrangig behandelt, auf der Landesebene aber unter landesspezifischen Gesichtspunkten interpretiert würden.76 Im Vergleich zur Kommunalpolitik werde über Landespolitik intensiver berichtet, zumal dafür neben den Zeitungen auch das [WDR-]Fernsehen, Radio und Weblogs zur Ver- fügung stünden.77 Kommunalpolitisch spielten die Landtagsfraktionen und die Landesverbände der Parteien gleichwohl eine untergeordnete Rolle.78 Auch die Stabilität der politischen Mehrheit im Land wurde als Faktor angeführt: »Insgesamt wurde in der Zeit der Minderheitsregierung mehr über Landespolitik berichtet, da die Mehrheiten knapp und Entscheidungsverfahren insofern spannender waren. Das Diskurspotenzial war größer. Heute [2013] stehen die Mehrheiten.«79 Das Verhältnis von Themen und Personen sowie der Stellenwert von Sachfragen gegenüber von Machtfragen wurden insgesamt von den interviewten Politikern als ambivalent eingeschätzt.80 Es gelte jeweils, »mit dem einen das andere [zu] versuchen.«81

4.3 Zur politisch-medialen Kultur in NRW

Bezüglich der politisch-medialen Kultur in NRW wurden die interviewten Politiker zu Einschätzungen bezüglich des »Verhältnisses von Formalität und Informalität« sowie zum generellen »Verhältnis von Journalisten und Politikern in NRW« befragt. Das Verhältnis von Formalität und Informalität wurde insgesamt so eingeschätzt, dass informelle Aspekte in der Bedeutung klar über formellen Prozessen zu sehen seien.82 »Formal kann man meistens vergessen. Die Prozesse und Strukturen haben sich so eingeschliffen. Es gehört zum guten Ton, da mit zu machen. Formale Sachen wie Presserklärungen und Pressekonferenzen sind auch teilweise nach innen gerichtet. Auch wenn das in den Medien keinen Menschen interessiert, kann so etwas für Teile der Partei von hoher Bedeutung sein. Die Parteimitglieder sehen dann, aha, die haben sich dazu geäußert. Bilaterale

76 Zitiert aus Interview P1, P2, P3, P4. 77 Zitiert aus Interview P2. 78 Zitiert aus Interview P2. 79 Zitiert aus Interview P1. 80 Zitiert aus Interview P1, P2, P3, P4. 81 Zitiert aus Interview P1. 82 Zitiert aus Interview P1, P2, P3, P4.

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Gespräche und informelle Vorabsprachen sind klar von größerer Bedeutung.«83 Entscheidende Sachen würden bilateral am Telefon vorbesprochen.84 Diese bilateralen informellen Absprachen würden überwiegend von Parteiseite initiiert, aber auch die andere Richtung komme vor.85 Ein Problem der informellen Kommunikation bestünde darin, dass die politisch-mediale Szene in NRW hin- sichtlich ihrer Größe so überschaubar sei, dass es immer wieder zu einem »Durch- sickern« von Informationen und Prozessverläufen käme.86 Zur generellen Einschätzung des Beziehungsgeflechts von Politik und Medien in NRW wurde in den Interviews darüber hinaus festgestellt, dass sich die politisch-journalistischen Interaktionen insgesamt an mehr oder weniger formalen Regeln orientierten, die von beiden Seiten berücksichtigt würden.87 »Was passiert, wenn man sich nicht an [diese Regeln zur] politischen Kultur hält, lässt sich an einem Beispiel aus dem Landtagswahlkampf von 2010 gut verdeut- lichen. Damals hatte [eine Partei explizit…] zu Pressegesprächen nur ausgewählte Journalisten eingeladen, von denen bekannt war, dass sie [ihr] wohl gesonnen waren. Das hat infolge dessen zu einer sehr negativen Grundstimmung bei allen anderen Journalisten geführt.«88 Ferner wurde geäußert, dass in NRW im Ver- gleich zu anderen Bundesländern insgesamt von einer großen Medienvielfalt aus- gegangen werden müsse und auch die bundespolitische Bedeutung des Landes im Vergleich mit kleineren Bundesländern größer sei.89 »Das Einstellen der NRW- Teile in der taz und der Süddeutschen hat diesbezüglich Lücken gerissen, in die dann unter anderem auch Blogs wie wir-in-nrw.de, ruhrbarone.de oder post-von- horn.de gegangen sind.«90

83 Zitiert aus Interview P2. 84 Zitiert aus Interview P1. 85 Zitiert aus Interview P1. 86 Zitiert aus Interview P1. 87 Zitiert aus Interview P1, P2, P3, P4. 88 Zitiert aus Interview P1. 89 Zitiert aus Interview P1. 90 Zitiert aus Interview P1.

122 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen

5. Zusammenfassung und Fazit

Das vorliegende Kapitel hat das Ziel verfolgt, das Beziehungsgeflecht zwischen Parteien und Medien in NRW zu beschreiben. Nach einer deskriptiven Erörterung der relevanten Institutionen, Akteure und Akteurskonstellationen (in Kapitel 2) wurden dazu (in Kapitel 3) Sichtweisen von politischer und journalistischer Seite angeführt, die unter qualitativen Prämissen in acht leit- fadengestützten Experteninterviews mit Journalisten und Politikern erhoben worden sind.91 Die Gesprächsführung in den Experteninterviews wurde entlang folgender Dimensionen entwickelt: (1) Recherche über Landespolitik in NRW aus journalistischer und Themensetzung aus parteipolitischer Sicht, (2) Bericht- erstattung über Landespolitik in NRW und (3) Politisch-mediale Kultur in NRW. Auf dieser Basis lassen sich folgende Erkenntnisse abschließend festhalten: Die Summe der journalistischen und politischen Antworten im Kontext von Analysedimension (1) »Recherche über Landespolitik in NRW aus journalistischer und Themensetzung aus parteipolitischer Sicht« ergab insgesamt ein einheit- liches Bild. Der Stellenwert der Landespressekonferenz wird von den inter- viewten Journalisten und Politikern gleichermaßen zwar als formal bedeutsam, insgesamt aber dennoch als begrenzt eingeschätzt. »Die Landespressekonferenz ist ein Pflichttermin. Da geht man hin, weil da alle Kinder hingehen. Mehr nicht.«92 Ähnlich schätzten die interviewten Journalisten und Politiker auch die Relevanz der Parteilandesverbände im Vergleich zu den Landtagsfraktionen und

91 Als relevante Institutionen, die in NRW den Handlungskorridor für das Beziehungs- geflecht von Politik und Medien grundlegend vorformulieren, sind die Verfassung der Bundesrepublik Deutschlands, die NRW-Landesverfassung, das Landespressegesetz, der Rundfunkstaatsvertrag, der Rundfunkrat, die Landesanstalt für Medien und die Landespressekonferenz angeführt worden. Die machtpolitische Konstellation im Land wurde dabei im Gegensatz zu formalen Institutionen als prägend für das Verhältnis zwischen Parteien und Medien in NRW beschrieben, da Regierungs- oder Oppositions- zugehörigkeiten sowohl auf der journalistischen als auch auf der parteipolitischen Seite kommunikative Ressourcen und Restriktionen formulieren. Zwei Ebenen der Inter- aktion – die formelle und die informelle – sind hier vor diesem Hintergrund unter- schieden worden. Der puristischen Übersichtlichkeit formaler Kommunikationsprozesse wurde dabei die Vielschichtigkeit informeller Kommunikationsstrukturen gegenüber- gestellt. 92 Zitiert aus Interview J3.

123 Melanie Diermann

Ministerien ein. »Parteien stehen ganz unten in der Nahrungskette.«93 Während der Legislaturperiode seien sie im Grunde bedeutungslos, insbesondere, wenn sich die Partei in Regierungsverantwortung befinde. Die Ressourcen für die Landes- verbände der politischen Parteien für aktives Agenda Setting wurde insofern auf beiden Seiten als stark begrenzt eingeschätzt. »Telefonieren« sei das Mittel der Wahl, und zwar sowohl im agierenden als auch im reagierenden Modus. Hinsichtlich Analysedimension (2) »Berichterstattung über Landespolitik in NRW« gingen die Einschätzungen im Vergleich dazu weiter auseinander. Ins- besondere der Stellenwert von landespolitischer Berichterstattung im Vergleich zu kommunal- und bundespolitischer Berichterstattung wurde von beiden Seiten uneinheitlich eingeschätzt. Einigkeit bestand des Weiteren hinsicht- lich der folgenden Aspekte: Bundespolitische Themen würden zwar vorrangig behandelt, allerdings unter landesspezifischen Gesichtspunkten interpretiert. Im Vergleich zur Kommunalpolitik werde über Landespolitik intensiver berichtet, zumal sich dafür neben den Zeitungen auch Fernseh- und Radiosender sowie Weblogs interessierten. Kommunalpolitisch spielten die Landtagsfraktionen und die Landesverbände der Parteien gleichwohl eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus wurde auch die Stabilität der politischen Mehrheit im Land als Faktor angeführt: Sei diese unklar oder instabil, steige die Aufmerksamkeit. Das Ver- hältnis von Themen und Personen sowie der Stellenwert von Sachfragen gegen- über von Machtfragen wurden insgesamt von den interviewten Journalisten und Politikern als ambivalent und in wechselseitiger Abhängigkeit zu einander stehend eingeschätzt. Es gelte jeweils »mit dem einen das andere [zu] versuchen.«94 »Jede Sachfrage ist [insofern] immer auch eine Machtfrage.«95 Bezüglich Analysedimension (3) waren die Einschätzungen der politisch- medialen Kultur in NRW insgesamt wieder einheitlich: Hinsichtlich des Verhält- nisses von Formalität und Informalität teilen alle interviewten Journalisten und Politiker die Sichtweise, dass formale Prozesse zwar wichtig, informelle Prozesse aber insgesamt hinsichtlich der Bedeutung als klar dominant einzuschätzen seien. Ein Problem der informellen Kommunikation bestünde darin, dass die politisch- mediale Szene in NRW hinsichtlich ihrer Größe so überschaubar sei, dass es immer wieder zu einem »Durchsickern« von Informationen und Prozessverläufen

93 Zitiert aus Interview P2. 94 Zitiert aus Interview P1. 95 Zitiert aus Interview J4.

124 Parteien und Medien in Nordrhein-Westfalen käme.96 »Extreme Vernetzung, multidimensionale Politikverflechtung, extrem komplexes Diskursniveau«97 seien darüber hinaus kennzeichnend. Vor diesem Hintergrund wird von allen Interviewten insgesamt ein Bild des unaufgeregten professionellen Umgangs miteinander gezeichnet, das verschiedenen informellen und formalen Konventionen folge. Abschließend kann insofern festgehalten werden, dass Politiker und Journalisten in NRW insgesamt gleichermaßen der Auffassung sind, sich an beid- seitig akzeptierten informellen Regeln zu orientieren, die das Beziehungsgeflecht grundlegend definieren und leiten. Darüber hinaus sind es vor allem die formalen Institutionen, die den Handlungskorridor der Akteure vorstrukturieren: »Ein Minister ist immer auch eingebunden in den Bezugskontext seines Ministeriums. Der kann ja nicht frei entscheiden, was er tut oder lässt. Die Minister kommen und gehen, die Verwaltung bleibt bestehen – da ist viel Wahres dran.«98

96 Zitiert aus Interview P1. 97 Zitiert aus Interview J4. 98 Zitiert aus Interview J4.

125

Christoph Bieber links: Christoph Bieber rechts: Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen

Für die Entwicklung des Internet zum politischen Kommunikations- und Aktionsraum haben in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre die Partei- organisationen zahlreiche Impulse und Beiträge geliefert – und zwar die oft als »technologiefeindlich« und »internet-kritisch« gescholtenen Mitgliederparteien im fluiden Fünf-Parteien-System, das sich seit der Wiedervereinigung auf Bundes- ebene etabliert hat. Die Piratenpartei hat seit ihrem Eintritt in die öffentliche Wahrnehmung mit der Bundestagswahl 2009 lediglich für eine Beschleunigung und Zuspitzung der Debatten um Netzpolitik, digitale Bürgerrechte, ver- netzte Öffentlichkeiten oder das vermeintliche Ende der Privatheit gesorgt. Über die Rolle der politischen Parteien als Triebkraft für eine Politisierung der einst wissenschaftlich, dann vor allem kommerziell genutzten Computernetze ist vieles bekannt – zumindest, wenn man die Ebene von Bundesparteien und Bundespolitik betrachtet.1 Auf der Landesebene jedoch bietet sich ein gänzlich anderes Bild: Unter- suchungen, die sich mit der Internet-Nutzung durch Parteien in einzelnen Bundesländern auseinandersetzen gibt es bislang nicht – sieht man einmal von zahlreichen kleinteiligen studentischen Projekt- und Abschlussarbeiten ab, die sich oft zeitnah mit den jeweiligen Aktivitäten im Umfeld von Landtagswahlen befassen. Insofern betritt dieses Kapitel Neuland und unternimmt einen Versuch zur systematischen Auseinandersetzung mit der Thematik. Im Mittelpunkt dieser Annäherung stehen daher verschiedene Leitfragen:

1 Zur Entstehung digitaler Parteienkommunikation und -organisation vgl. Christoph Bieber: Politische Projekte im Internet. Computervermittelte Kommunikation und politische Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1999; Rachel Gibson/Paul Nixon/Stephen Ward: Political Parties and the Internet: Net Gain?, London u. a. 2003; Eva Schweitzer: Normalisierung 2.0: Die Online-Wahlkämpfe deutscher Parteien zu den Bundestags- wahlen 2002–2009, in: C. Holtz-Bacha (Hg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Das Wahljahr 2009, Wiesbaden 2010, S. 189–244.

127 Christoph Bieber

– Inwiefern haben die Parteien in Nordrhein-Westfalen das Internet als politischen Kommunikationsraum genutzt und ggf. dessen politische Durch- dringung forciert? – Wurden dabei besondere Innovationen erprobt und wenn ja, konnten sie sich auch jenseits der Landesgrenzen etablieren? – Bringt die länderspezifische Perspektive besondere netzpolitische Themen hervor? – Wie organisiert sich ein eher bundespolitisch codiertes »Politikfeld in Gründung« auf der Landesebene?

Ausgehend von einer knappen Rekonstruktion der digitalen Parteienentwicklung in Nordrhein-Westfalen2 sollen nachfolgend wesentliche Grundannahmen über das sich entwickelnde Politikfeld »Netzpolitik« sowie mögliche Wechsel- wirkungen zwischen Themen, Akteuren und Prozessen auf Landes- und Bundes- ebene formuliert werden. Ein zentraler Ertrag des Kapitels ist damit ein Blick auf die »Tiefenstruktur« eines noch unfertigen Politikbereichs, der zugleich von sämtlichen Parteien als ein Schlüsselgebiet künftiger Parteientwicklung angesehen wird.3

2 Die Untersuchung beschränkt sich aus Gründen der Realisierbarkeit auf die nach den Wahlen von 2010 und 2012 im Düsseldorfer Landtag vertretenen Parteien. Für die Mit- hilfe bei den Recherchen dankt der Verfasser Andrea Licht und Christopher Schmidt. 3 Die Bedeutung des Internet für die Parteien drückt sich besonders im Blick auf mögliche Reformbestrebungen aus: die SPD denkt über »Online-Mitgliedschaften« nach (http:// internetundpolitik.wordpress.com/2011/06/30/demokratie-2011-analog-statt-digital/, Stand: 20.3.2013), die CDU wollte nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-West- falen 2012 die Beteiligungsplattform »LiquidFeedback« einführen, die FDP hat in Bayern mit »New Democracy« dafür eine eigene Software entwickeln lassen (www.fdp-bayern.de/ Online-Beteiligung-FDP-Bayern-startet-New-Democracy/13392c24501i1p30/index.html, Stand: 20.3.2013), die Grünen beobachten die Piratenpartei als möglichen Konkurrenten und Impulsgeber (www.boell.de/publikationen/publikationen-studie-empfehlungen-­ diskurs-piraten-15810.html, Stand: 20.3.2013) und auch die Linkspartei führt die interne »Parteidebatte« über künftige Ausrichtung via Internet (http://parteidebatte.die-linke.de/ uber-das-blog/, Stand: 20.3.2013).

128 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen

1. Die Politik und das Netz

Analog zur allgemeinen Entwicklung auf der Bundesebene fungieren auch auf der Länderebene Wahlkämpfe als zentrale Modernisierungsimpulse für politische Kommunikation.4 Dabei spielt die zeitliche Taktung der Wahltermine eine nicht unwesentliche Rolle für Nutzungsintensität und Innovationsimpulse durch die Parteien, sodass ganz unterschiedliche Phänomene bei der Aneignung neuer Kommunikationstechnologien entstehen können. Im Falle Nordrhein-West- falens wird durch die Wahlzyklen ein Entwicklungsnachteil deutlich: Die Land- tagswahlen im Mai 1995 fielen zwar in die Anfangsphase des World Wide Web, kamen jedoch einige Monate zu früh, um als Testumgebung für die Online- Kommunikation genutzt zu werden – die erste Website einer Partei auf Bundes- ebene ging erst im August 1995 online.5 In die Wahlkampfkommunikation wurde das Internet erst später eingebunden, ein sehr frühes Beispiel datiert auf die österreichischen Nationalratswahlen vom Dezember 1995 zurück, bevor der US-Präsidentschaftswahlkampf 1996 für eine weitere Politisierung der neuen Medienumgebung sorgte und 1998 der erste deutsche Bundestagswahlkampf im Internetzeitalter stattfand. Insofern überrascht es nicht, dass die Online-Präsenzen der Parteigliederungen auf Landesebene erst mit einer gewissen Verzögerung ein- gerichtet und in die offiziellen Kommunikationsstrategien eingebunden wurden.6

4 Vgl. Eva Schweitzer/Steffen Albrecht: Das Internet im Wahlkampf. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Die Rolle des Internet bei der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 9–65; Christoph Bieber: Von der Datenautobahn zum Social Web. Bundestagswahl- kämpfe in Zeiten des Internet, in: U. Andersen (Hg.): Bundestagswahl 2013 – Kontinui- tät und Wandel. Eine Analyse vor dem Hintergrund der bisherigen Bundestagswahlen, Schwalbach/Ts. 2013, S. 68–83 (i. E.). 5 Bieber, Politische Projekte, S. 100. 6 Die SPD ist mit ihrer Homepage unter www.nrwspd.de seit 1996 online, www.cdu-nrw.de folgte im Jahr 1997. Die Website www.gruene-nrw.de ging 1999 online, www.fdp-nrw.de im Jahr 2000, ebenso www.dielinke-nrw.de (zunächst noch als PDS, seit 2005 unter dem heutigen Domain-Namen). Das Angebot www.piratenpartei-nrw.de ist als vollständiger Online-Auftritt seit Mitte 2010 aktiv, zuvor verwies die Domain auf die Wikiseite der Piratenpartei NRW. Eigene Präsenzen in Sozialen Netzwerken unterhalten die Parteien seit 2009, einzig Bündnis 90/Die Grünen waren bereits 2008 aktiv, die Piratenpartei seit 2010 (alle Angaben wurden von den Parteien übermittelt).

129 Christoph Bieber

Die allmähliche Ausdifferenzierung politischer Online-Kommunikation von Parteien ist bis heute eng mit Wahlkampfkommunikation verzahnt und auch in Nordrhein-Westfalen zu beobachten – im Vorfeld von Wahlen werden neue Kommunikationsangebote erprobt, dadurch verändert sich die politische Öffentlichkeit teils punktuell, teils nachhaltig. Im Zeitverlauf ist dabei eine

»zyklische Bewegung zu konstatieren: Wesentliche Innovationsschübe gehen meist von Wahlkämpfen der Bundes- und späterhin auch der Landesebene aus […], während Legislaturperioden kaum wesentliche Veränderungen in den formalen Strukturen und Inhalten der Online-Kommunikation hervorbringen.«7

Der erste NRW-Landtagswahlkampf mit spürbarer Nutzung der Online- Kommunikation durch die Parteien datiert auf das Jahr 2000 zurück, in den dazu vorliegenden Untersuchungen lag der Fokus jedoch auf dem »traditionellen« Medienwahlkampf.8 Generell orientierten sich die Angebote jedoch an Erfahrungen aus dem Bundestagswahlkampf 1998, als vor allem die Partei- Homepages sowie einzelne Kandidaten-Websites als flankierende Angebote für klassische Plakat-Kampagnen sowie Kino- und TV-Spots eingesetzt worden waren. Im Jahr 2005 wirkte sich wiederum die »Blog-Konjunktur« auf die Angebote im damaligen Landtagswahlkampf aus, als neben den inzwischen zum Standard gewordenen Websites eigene Kampagnen-Seiten sowie vor allem Blog-Angebote einzelner Abgeordneter und Kandidaten Neuerungen für die digitale Wahlkampf- führung lieferten. Darüber hinaus wurde 2005 erstmals die von der Bundes- zentrale für politische Bildung entwickelte Online-Entscheidungshilfe »Wahl- O-Mat« in Nordrhein-Westfalen eingesetzt, womit eine weitere Aufwertung des Internets als Element der Wahlkampfkommunikation verbunden war. Erst in den Jahren 2010 und – trotz einer verkürzten Wahlkampfphase – 2012 hat in der NRW-Parteienlandschaft ein voll ausgebildeter Online-Wahl- kampf stattgefunden. Sämtliche Landtagsparteien sowie die im zweiten Anlauf

7 Schweitzer/Albrecht, S. 23. 8 Vgl. die Beiträge in Ulrich Sarcinelli/Heribert Schatz (Hg.): Mediendemokratie im Medienland? Inszenierungen und Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien und Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2000, Opladen 2002.

130 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen erfolgreiche Piratenpartei nutzten die traditionellen Plattformen wie Partei- und Kandidaten-Websites ebenso wie die neuen Arenen des Web 2.0 zur Wahl- werbung: Wenngleich längst nicht alle Kandidaten zur Landtagswahl eigene Profile in Sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter unterhalten haben, so war ein deutlicher Trend zur Diversifizierung der digitalen Medienpräsenz zu erkennen.9 Zentrale Gründe für diesen Trend sind auch im Wechselspiel mit den Ent- wicklungen auf der Bundesebene verortet. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 hatte es mit der »Zensursula-Kampagne« ein Signalereignis zur Entstehung eines eigenständigen Politikbereichs mit Fokus Internet gegeben, das zu einem Achtungserfolg der Piratenpartei geführt hatte. Seitdem entwickelte sich die Nutzung dieser Kommunikationsumgebung auch durch die etablierten Parteien dynamischer als durch den eher technologisch begründeten Fortschritt der Vor- jahre. Im Jahr 2012 begünstigte die durch den vorgezogenen Wahltermin verkürzte Kampagne die Einbettung der kurzfristig und flexibel aktivierbaren Online-Platt- formen in die Kommunikationsstrategien der Parteien; darüber hinaus hatten die Erfolge der Piratenpartei bei den Landtagswahlen im Frühjahr 201210 einen zusätzlichen Modernisierungsschub im gesamten Parteienspektrum ausgelöst.

2. Experimente und Innovationen digitaler Parteiorganisation

Zusätzlich zur Aneignung neuer politischer Kommunikationsformate im Zuge von Wahlkämpfen erscheint insbesondere der Bereich der »digitalen Partei- organisation« als relevante Untersuchungsdimension. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre haben sämtliche Parteien neben den eher kurzfristigen, kampagnen- orientierten Aktivitäten auch mit nachhaltigen Konzepten zur internen Nutzung digitaler Kommunikationsumgebungen experimentiert. Resultate waren zumeist innerparteiliche Netzwerke, die die Struktur sozialer Netzwerke vorwegnahmen, ohne jedoch die umfänglichen Funktionalitäten heutiger Angebote liefern zu können.

9 Eine detaillierte Auflistung der wahlkampfbezogenen Inhalte kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Berichte und Informationen zu Elementen des Online-Wahlkampfs sind archi- viert bei Online-Angeboten wie www.netzpolitik.org, www.politik-digital.de, www. pottblog.de oder www.ruhrbarone.de. 10 Siehe das Kapitel von Marcel Solar in diesem Band.

131 Christoph Bieber

2.1 Virtuelle Parteigliederungen

Einen ersten Schritt zur internen digitalen Vernetzung stellte die Einrichtung so genannter Intranets dar, die vor allem als Serviceangebot für Parteimitglieder und -funktionäre konzipiert waren. Neben diesen vor allem technologischen und auf die Bedarfe der Parteibürokratie zugeschnittenen Aktivitäten sind bereits in den 1990er Jahren Experimente mit »virtuellen Parteigliederungen« gemacht worden, die die Struktur der Parteiorganisationen mit Hilfe digitaler Medien modernisieren sollte.11 Während die SPD hier auf den »Virtuellen Ortsverein« gesetzt hatte, der als Arbeitskreis beim Bundesvorstand der Partei angesiedelt war, nahm bei der FDP die Debatte um den »Landesverband Net« (lvnet.fdp. de) ihren Ausgang in Nordrhein-Westfalen. Als Gründungsvorsitzender dieser Initiative fungierte von 2000 bis 2005 der nordrhein-westfälische Europa-Ab- geordnete Alexander Graf Lambsdorff. Ihrem Wesen nach überschreiten virtuelle Parteigliederungen zwar räumliche Begrenzungen, doch ist stets auch eine Rück- bindung an lokale Organisationsstrukturen relevant, denn es ist davon auszu- gehen, dass netzpolitische Themen dadurch auch stärker im »zuständigen« realen Landesverband präsent sind bzw. waren. Der »Landesverband Net« ermöglicht gemäß der Satzung die ortsunabhängige Beteiligung an der innerparteilichen Diskussion und steht auch Nicht-Mitgliedern offen.12 Dadurch wirkte die Organisation einerseits frühzeitig an der Auseinander- setzung mit den Möglichkeiten einer innerparteilichen Digitalisierung mit und stellte andererseits ein Zentrum für die Entwicklung netzpolitischer Standpunkte dar. Inzwischen hat der LV Net jedoch an Bedeutung eingebüßt, weitaus stärkere Impulse der netzpolitischen Debatte gehen inzwischen von den Mitgliedern der Bundestags-Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« aus. Hier ist allerdings die Ausstrahlung auf die landespolitische Ebene weitaus geringer, da der Fokus der Aktivitäten eindeutig auf der parlamentarischen Arbeit im Berliner Bundestag liegt. Eine ähnliche »Impulsfunktion« übernehmen inzwischen auch

11 Vgl. hierzu die Beiträge in Christoph Bieber (Hg.): Parteipolitik 2.0. Der Einfluss des Internet auf parteiinterne Kommunikations- und Organisationsprozesse. Friedrich- Ebert-Stiftung, Bonn 2001. 12 Vgl. die entsprechenden Bestimmungen in der Satzung des LV Net, online einsehbar unter http://lvnet.fdp.de/sitefiles/downloads/1243/Satzung2006.pdf, Stand: 20.3.2013.

132 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen parteipolitisch gebundene »Netzvereine« wie der SPD-nahe »D64«13 oder das christdemokratische »C-Netz«14, die allerdings ebenso meist die bundespolitische Ebene adressieren. Inhaltlich ähnlich gelagert, aber dezidiert landespolitisch aus- gerichtet sind dagegen die »Landesarbeitsgemeinschaft Medien & Netzpolitik«15 von Bündnis 90/Die Grünen oder das »Forum Netzpolitik«16 der nordrhein- westfälischen SPD. Auch innerhalb der Linkspartei formierte sich ein »Landes- arbeitskreis Linkes Netz NRW«, der bislang jedoch nur eine Facebook-Präsenz vorweist und noch nicht formell als Landesarbeitskreis geführt wird.

2.2 Digital unterstützte Verfahren der Kandidatenaufstellung

Das Aufkommen der Piratenpartei hat auch in Nordrhein-Westfalen zusätzlichen Vorschub für die Modernisierung innerparteilicher Organisationsstrukturen geleistet. Nach dem Ergebnis von 1,6 Prozent bei der Landtagswahl 2010 hat jedoch erst der letzte Wahlkampfzyklus 2012 für nennenswerte Impulse gesorgt. Neben den generell für die Piratenpartei geltenden Besonderheiten wie einem fehlenden Delegiertensystem, dem lediglich mit organisatorischen Befugnissen ausgestatteten Bundesvorstand und einem weitverzweigten Netzwerk aus Online- Plattformen zur internen Kommunikation, deutet vor allem der Prozess der Kandidatennominierung in Nordrhein-Westfalen ein besonderes Innovations- potenzial auf Parteiebene an.17 Bei der Nominierung der Listenkandidaten für die vorgezogene Landtags- wahl 2012 blieb vergleichsweise wenig Zeit für eine Personalauswahl, die dem umfassenden basisdemokratischen Anspruch der Partei entsprechen konnte. Gemäß ihrem Grundsatzprogramm setzt die Piratenpartei auf »Mehr Demo- kratie beim Wählen«18 und bringt anlassbezogen verschiedene Abstimmungsver- fahren zur Anwendung. Bei der nordrhein-westfälischen Kandidatenauswahl von

13 http://d-64.org, Stand: 20.3.2013. 14 www.c-netz.info, Stand: 20.3.2013. 15 http://gruene-lag-medien.de, Stand: 20.3.2013. 16 http://forumnetzpolitik.de, Stand: 20.3.2013. 17 Für eine ausführliche Betrachtung der Piratenpartei vgl. Christoph Bieber/Markus Lewitzki: Das Kommunikationsmanagement der Piratenpartei, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 101–124; sowie weitere Beiträge in Oskar Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012. 18 Piratenpartei Deutschland: Grundsatzprogramm. Online-Publikation 2012, S. 5.

133 Christoph Bieber

2012 wurde schließlich eine modifizierte Variante des »Akzeptanzwahlverfahrens« verwendet; dabei konnten die akkreditierten Mitglieder des Landesparteitags ebenso viele Stimmen vergeben wie Kandidaten im jeweiligen Wahldurchgang zur Auswahl standen.19 Die durch die Stimmabgabe entstehende Rangfolge wurde ergänzt um das Quorum einer »Minimalzustimmung« von 50 Prozent der Anwesenden. Ohne an dieser Stelle näher auf die Besonderheiten derartiger Methoden eingehen zu können, so korrespondiert das Verfahren durchaus mit dem Anspruch der Piratenpartei, möglichst basisorientierte, niederschwellige und wenig hierarchische Beteiligungsformen anzubieten.20 Weitere Besonderheiten der Kandidatenselektion zeigten sich auch schon im Vorfeld der Abstimmung. Interessenten für einen Listenplatz erhielten über die Partei-Website Informationen zum Auswahlverfahren, konnten dort die Antrags- unterlagen herunterladen und sich in eine Kandidatenliste eintragen.21 Möglich war dies auch für formal nicht wahlberechtigte Personen (z. B. Mitglieder eines anderen Landesverbandes, Nichtmitglieder sowie Mitglieder, die das passive Wahlalter von 18 Jahren noch nicht erreicht hatten). Die Reduzierung und Über- prüfung der Kandidatenliste erfolgte erst auf dem Parteitag. Darüber hinaus fand im Vorfeld des Landesparteitags auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kandidaten statt, das so genannte »Kandidatengrillen«. Dabei wurden zahlreiche Fragen gesammelt, die von den Kandidaten auf freiwilliger Basis beantwortet werden konnten. Auf diese Weise entstand ein umfangreiches Informationspaket, das neben persönlichen Fragen auch verschiedene Politikbereiche (z. B. Arbeits- markt, Familienpolitik, Bildung, Umweltschutz) adressierte.22 Der durch die Basis selbst organisierte »digitale Vorlauf« wurde auf dem Landesparteitag durch eine zeitlich stark begrenzte Kandidatenvorstellung und -befragung ergänzt.

19 Eine genauere Darstellung der unterschiedlichen Wahlverfahren sowie Hinweise zu den Besonderheiten der Akzeptanzwahl finden sich unter http://wiki.piratenpartei.de/ NRW:Landesparteitag_2012.1/Wahlordnung, Stand: 20.3.2013. 20 Vgl. dazu ausführlicher Bieber/Lewitzki 2012. 21 Vgl. http://wiki.piratenpartei.de/NRW:Landesparteitag_2012.1/Kandidaten, Stand: 20.3.2013. 22 Auch die Resultate des »Kandidatengrillens« wurden durch eine individuelle Mit- gliederinitiative in einer umfangreichen Matrix integriert: http://nrw.kandidatengrillen. milesmoeller.de/kandidatengrillen/index/alle, Stand: 20.3.2013.

134 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen

2.3 Exekutive und legislative Akteure im Bereich Netzpolitik

An die innerparteiliche Klärung von Personalfragen schließt auf einer abstrakten Ebene die inhaltliche und personelle Organisation internet-bezogener Arbeits- bereiche auf parlamentarischer Ebene bzw. innerhalb der Landesregierung an. Während bis zur Landtagswahl 2005 konkrete Forderungen zur organisatorischen Regelung netzpolitischer Belange in Programmpapieren oder Regierungs- erklärungen keine Rolle gespielt hatten, waren im Vorfeld der Landtagswahl 2010 erste Ansätze zu einer Verstetigung netzpolitischer Arbeitsstrukturen skizziert worden. Im damaligen Wahlprogramm hatte die SPD unter anderem die Benennung eines »Chief Information Officer« gefordert, der als Koordinator für zentrale Fragen im Bereich des E-Government fungieren sollte. Im Koalitions- vertrag umgesetzt wurde diese Forderung nicht, auch nach den Neuwahlen von 2012 findet sich ein solches Amt nicht im Personaltableau der Landesregierung. Organisatorisch verortet sind netzpolitische Fragen seitdem im Arbeitsbereich des Staatsekretärs Marc Jan Eumann (SPD). Im Ministerium für Bundesan- gelegenheiten, Europa und Medien nehmen Themen wie digitale Bürgerrechte, Offene Daten oder der Ausbau von Breitbandnetzen jedoch nur eine randständige Position neben »klassischen« Fragen der Medienpolitik und -regulierung ein.23 Auch im parlamentarischen Rahmen ist eine prominente Institutionalisierung bislang ausgeblieben – zwar verweist der Landtagsausschuss »Kultur und Medien« in seinem Arbeitsprogramm auf die gesellschaftliche Bedeutung des digitalen Medienwandels, doch handelt es sich hier nur um eine konventionelle Verortung innerhalb der üblichen, bereits vorhandenen Arbeitsstrukturen. Eine intensivere Auseinandersetzung mit Internet-bezogenen Themen hat zuletzt häufiger ihren Ausdruck in der Einrichtung spezialisierter Arbeitszusammenhänge und Gremien geführt, ein Beispiel auf der landespolitischen Ebene ist die Enquete-Kommission »Bürgerbeteiligung für eine starke Demokratie« in Rheinland-Pfalz – in Nord- rhein-Westfalen ist eine ähnliche Institutionalisierung bislang ausgeblieben.24

23 Organisatorisch ist der Bereich in der Gruppe »Medien- und Netzpolitik« angesiedelt. Der Arbeitsbereich »Medien- und Netzpolitik« ist dabei jedoch nicht ausschließlich auf das Thema Internet begrenzt, sondern umfasst auch Aspekte der Rundfunkdigitalisierung, die Vergabe von Hörfunk- und TV-Frequenzen sowie der Medienwirtschaft. 24 http://enquete-rlp.de/, Stand: 20.3.2013.

135 Christoph Bieber

2.4 Digitale Parlamentskommunikation

Im Bereich der digitalen Parlamentskommunikation kristallisieren sich die Landtagsfraktionen als potenzieller Innovationsmotor für die innerparteiliche Auseinandersetzung mit dem Internet heraus. Sämtliche im Landtag ver- tretenen Parteien unterhalten inzwischen umfangreiche Informationsangebote, die neben die Homepages der Landesverbände getreten sind. Darüber hinaus werden zunehmend auch die Sozialen Netzwerke als neue Kommunikations- kanäle genutzt, dabei werden vor allem die Aktivitäten der Fraktionen in diese neuen Arenen politischer Kommunikation vermittelt: das parlamentarische All- tagsgeschäft scheint geeigneter für eine Diskussion in den neuen Strukturen politischer Öffentlichkeit als die Entwicklungen auf der Ebene der Landesver- bände.25 Vor allem die Piratenfraktion26 nimmt hier eine Vorreiterrolle ein und experimentiert mit neuen Formaten zur Begleitung und Dokumentation der parlamentarischen Arbeit. Kernstück sind dabei Live-Übertragungen von Fraktions- und Arbeitsgruppensitzungen, die dem umfassenden Transparenz- Gebot der Piratenpartei folgen. Ergänzt werden die Übertragungen durch Protokolle, die als Online-Dokumente zugänglich und kommentierbar gemacht werden. Darüber hinaus bietet die Piratenfraktion auch Mitmach-Angebote wie die so genannte »Antragsfabrik«27 an, über diese Online-Plattform können Fragen an die Abgeordneten gestellt oder Vorschläge für parlamentarische Anfragen eingereicht werden. Ein weiteres interaktives Format stellt die »Piraten- stunde« dar; hier berichten Abgeordnete über aktuelle Themen der Landtags- arbeit und beantworten Bürgerfragen.28 Auch wenn die neuen Angebote bislang nicht auf große Resonanz zu stoßen scheinen, deutet sich hier eine

25 Vgl. hierzu ausführlicher Christoph Bieber: politik digital. Online zum Wähler, Salz- hemmendorf 2010. 26 www.piratenfraktion-nrw.de/, Stand: 20.3.2013. 27 www.piratenfraktion-nrw.de/antragsfabrik/, Stand: 20.3.2013. 28 Dokumentiert werden die monatlich stattfindenden Piratenstunden ebenfalls auf der Website der Fraktion, vgl. für Januar 2013 unter www.piratenfraktion-nrw.de/2013/01/ piratenstunde-mit-simone-brand-und-oliver-bayer-vom-28-januar-2013, Stand: 20.3.2013. Einem ähnlichen Muster folgt auch das »Fraktions-Mumble«, das seit Februar 2013 angeboten wird. Technische Grundlage ist hier eine offene Software zur Durchführung von Sprachkonferenzen, die Beantwortung der Fragen durch die Piraten-Abgeordneten

136 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen

Öffnung parlamentarischer Arbeitsprozesse mit Hilfe digitaler, interaktiver Kommunikationsformate an.

3. Netzpolitik als Querschnitts-Policy

Eine weitere Beschreibungsdimension für den Zusammenhang von Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen stellen programmatische Schwerpunkt- setzungen dar. Die allmähliche Orientierung der Parteien entlang zentraler netzpolitischer Inhalte und Diskussionen lässt sich recht gut an den jeweiligen programmatischen Standpunkten der Parteien ablesen. An dieser Stelle geht es jedoch nicht um die Dokumentation unterschiedlicher Policy-Positionen in der nordrhein-westfälischen Parteienlandschaft, sondern lediglich um die Ent- stehung einer allgemeinen Wahrnehmung netzpolitischer Themen, die zu einer Verarbeitung im Rahmen der Programmfunktion politischer Parteien geführt hat. Ganz allgemein gilt der Bereich der Netzpolitik als ein Querschnittsbereich mit Berührungspunkten zu zahlreichen »klassischen« Politikfeldern. Schünemann nennt in seinem Klärungsversuch mehrere »offensichtlich grundlegende politische Fragen […], Fragen der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der staatlichen und inter- nationalen Regulierung, des Rechts und der Rechtssicherheit.«29 Darüber hinaus sind auf einer materiellen Ebene auch technologie-, wirtschafts- oder standort- politische Themen relevant, die in bisweilen sehr konkrete programmatische Aus- sagen transformiert werden können. Aus der Perspektive der Policy-Forschung fällt neben dem inhaltlichen Querschnittscharakter des noch im Entstehen befindlichen Politikfelds auf, dass normative Aspekte (z. B. Netzzugang, informationelle Selbstbestimmung, Transparenz, Zensur) und Sachentscheidungen (z. B. Netzausbau, Verbraucher- schutz, Urheberrecht, Offene Daten) häufig mehrere administrative Ebenen überschneiden: Diskussions- und Regelungsbedarfe entstehen sowohl auf Landes-, Bundes- wie auch supranationaler Ebene. Bender weist zu Recht darauf

wurde gefilmt und steht als Video bereit (vgl. www.piratenfraktion-nrw.de/2013/02/das- 1-fraktionsmumble-im-bild-und-ton, Stand: 20.3.2013). 29 Wolf J. Schünemann: E-Government und Netzpolitik – eine konzeptionelle Einführung, in: Ders./S. Weiler (Hg.): E-Government und Netzpolitik im europäischen Vergleich, Baden-Baden 2012, S. 9–38, hier S. 24.

137 Christoph Bieber hin, dass in den 1990er Jahren mit der Verabschiedung des Informations- und Kommunikationsdienstegesetzes (IuKDG) sowie dem Mediendienste-Staatsver- trag (MDStV) wichtige Pfadentscheidungen für den Verlauf politischer Positions- und Interessenkonflikte gefallen sind.30 Auf der Länderebene sind die Parteien unmittelbar betroffen; zentrale Kristallisationspunkte netzpolitischer Debatten (im Jahr 2012 etwa die Diskussion um Urheber- und Leistungsschutzrechte) entziehen sich einer Bearbeitung auf der landespolitischen Ebene, da sie durch Bundesgesetze geregelt werden sollen. Umgekehrt verdeutlicht die im Vorfeld einer Abstimmung im Bundesrat ver- hinderte Entscheidung über die Neuregelung des Jugendmedienschutz-Staatsver- trags (JMStV)31 den vorhandenen Anschluss zur Ebene der Landespolitik, da die zugehörigen Debatten in den einzelnen Länderparlamenten stattgefunden haben. Formal handelte es sich hierbei zunächst um ein Teilgebiet föderaler Medien- politik, das über das typische Instrument des Medienstaatsvertrags geregelt wird. Dieses aus der Tradition der herkömmlichen Medienregulierung stammende Verfahren stößt einerseits auf Grenzen angesichts der Undurchsetzbarkeit techno- logischer Regelungsverfahren und dokumentiert andererseits die netzpolitische Bedeutung der Landespolitik. Jenseits des vertrackten Verlaufs der nordrhein-west- fälischen Debatte um den Jugendmedienschutz – der Vertragsentwurf stammte noch aus der Zeit der schwarz-gelben Koalitionsregierung unter Jürgen Rüttgers, im Dezember 2010 hatte jedoch die CDU-Fraktion gegen die Verabschiedung gestimmt und der rot-grünen Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft die erste Niederlage im Parlament zugefügt – ist hier die Wirkung auf föderaler Ebene relevant: durch das letztlich einstimmige Votum gegen die Novellierung des Staatsvertrags in Nordrhein-Westfalen blieb ein Regulierungseingriff seitens der Politik vollständig aus, der alte Jugendmedienschutz-Staatsvertrag von 2003 ist noch immer in Kraft. Ein Blick auf den Entscheidungsprozess zeigt, dass

30 Vgl. Marvin Bender: Gegenstände und Akteure eines sich formierenden Politikfelds (Arbeitstitel), in Vorbereitung als Working Paper für Regierungsforschung.de, 2013. 31 Der JMStV ist von besonderer netzpolitischer Relevanz, da entlang der geplanten Novellierungsansätze ein breites Unverständnis grundlegender digitaler Kommunika- tionsprozesse zu erkennen war. Geplante Regelungsmechanismen wie etwa Alterskenn- zeichnungen von Online-Inhalten oder der Einsatz von Filtersoftware wären weder technisch realisierbar gewesen, noch hätten sie zu einer Stärkung des Jugendschutzes geführt. Deutlich sichtbar wurde dabei der Wunsch nach einer Kontinuität der Medien- regulierung aus der Perspektive der »alten« Massenmedien (Hörfunk, Fernsehen, Film).

138 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen hier verschiedene Akteure innerhalb des neuen Politikbereichs aktiv geworden sind. So hatten sich parteiübergreifend die Jugendorganisationen aller Landtags- parteien gegen die Ratifizierung ausgesprochen, zudem hatten Fachpolitiker von der Bundesebene aus Empfehlungen in Richtung Düsseldorf gegeben (z. B. Björn Böhning (SPD) und (Grüne)).32 Die netzpolitische Programmformulierung vollzieht sich nur ausschnitt- haft auf der Ebene der Landesverbände und schließt dabei vornehmlich solche Themenkreise ein, die einen möglichst direkten Bezug zu landespolitischen Problemen und Diskursen haben. Üblicherweise sind dies Aspekte der Ver- waltungsmodernisierung (E-Government und Open Data), Fragen der Schul- und Bildungspolitik (Medienkompetenz, freie Bildungsinhalte) oder internet- bezogene Aspekte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkversorgung. Noch am ehesten finden sich in den Programmpapieren der Parteien Aussagen zum Aus- bau der Netzinfrastruktur (Breitbandzugang im ländlichen Raum) oder Ansätze einer internet-bezogenen Wirtschafts- und Standortförderung. Einen recht guten Überblick zu den Standpunkten ausgewählter Parteien in Nordrhein-Westfalen liefern die netzpolitischen »Wahlprüfsteine« von Wikimedia Deutschland: die »Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens« hatte sich im Vorfeld der Landtags- wahl 2012 mit konkreten Fragen direkt an die Parteien gewandt.33 Für die aktuelle 17. Legislaturperiode des Bundestages deutet sich an, dass etwa bei der Debatte um die Einführung eines Leistungsschutzrechts für Presse- verlage auch landespolitische Perspektiven eine Rolle spielen – am Medienstand-

32 Dieser abgebrochene Novellierungsprozess dokumentiert gut die Schwierigkeiten bei einer Entscheidungsfindung im Bereich der Netzpolitik. Leider ist das Verfahren aus einer konsequent politikwissenschaftlichen Perspektive bislang noch nicht untersucht worden, es dominieren rechtswissenschaftliche Kommentierungen sowie deskriptive Darstellungen zum Verlauf des Verfahrens. Vgl. hierzu stellvertretend Holger Bleich/ Jürgen Kuri: Novellierung des Jugendmedienschutzes kippt, online unter: www.heise.de/ newsticker/meldung/Novellierung-des-Jugendmedienschutzes-kippt-4-Update-1153084. html, Stand: 20.3.2013. 33 Dokumentiert sind die Antworten online unter: https://meta.wikimedia.org/wiki/ Wikimedia_Deutschland/Wahlpr%C3 %BCfsteine/NRW_2012, Stand: 20.3.2013. Vgl. dazu auch mit einer kurzen Einordnung der jeweiligen parteipolitischen Positionen Andre Meister: Landtagswahl in NRW: Wahlprüfsteine von Wikimedia Deutschland, online unter: https://netzpolitik.org/2012/landtagswahl-in-nrw-wahlprufsteine-von-wikimedia- deutschland-cdu-fur-2-strikes-plus/, Stand: 20.3.2013.

139 Christoph Bieber ort Nordrhein-Westfalen dürften vor allem die Interessen der ansässigen Verlage und Medienhäuser dafür sorgen, dass dieses Thema auch in den Parteigremien auf Landesebene diskutiert wird. Gerade dieser Prozess deutet an, warum die Etablierung netzpolitischer Expertise auf der landespolitischen Ebene besondere Herausforderungen für die Vertreter der Parteien bietet: Auf der bundes- politischen Bühne – etwa in den Arbeiten der Enquete-Kommission »Inter- net und digitale Gesellschaft« oder in den parteibegleitenden »Netzvereinen« (vgl. Abschnitt 2.1) – wird die Thematik breit diskutiert sowie mit Experten und Betroffenen verhandelt. Auf Landesebene sehen sich die Politiker mit den konkreten Auswirkungen vor Ort konfrontiert, die dort häufig viel stärker als Fragen der Wirtschaftsförderung oder Standortsicherung gerahmt sind. Für die »Beziehung« zwischen Parteien und dem Internet in Nordrhein-Westfalen sind die Folgen ambivalent: Die parteiinterne Verarbeitung erfolgt zum einen durch die noch junge Garde der »Netzpolitiker«, die sich zumeist in Berlin als neue Sachverständige positionieren und zum anderen durch die Arbeit der »betroffenen« Landes- und Kommunalpolitiker vor Ort. Dies unterstreicht den Querschnittscharakter netzpolitischer Fragen, der eine klassische arbeitsteilige Auseinandersetzung innerhalb der Parteistrukturen (Ausschüsse, Arbeitsgruppen, Fachpolitiker, Jugend- und Vorfeldorganisationen) erschwert.

4. Digitale Mediendemokratie im Medienland NRW?

Entlang des Verfahrens um die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsver- trags zeigt sich auch eine weitere Besonderheit der netz- und parteipolitischen Verflechtungen in Nordrhein-Westfalen. Eingebunden in das Verfahren um die Neuregelung des Jugendmedienschutzes sind neben politischen Parteien, Landtagsfraktionen und der Regierungskoalition weitere Akteure der Landes- medienpolitik34: Regelmäßig überprüft wird die Einhaltung der Regeln zum Jugendmedienschutz im Internet von den zuständigen Landesmedienanstalten;

34 Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) ist von einer näheren Betrachtung an dieser Stelle ausdrücklich ausgenommen, da dessen Arbeitsschwerpunkte trotz des Angebots von Online-Inhalten im Bereich der »alten Massenmedien« liegen. Eine Verbindung zu den nordrhein-westfälischen Parteien besteht – ähnlich den nachfolgend vorgestellten Körperschaften – in der Struktur der Aufsichtsorgane, die über den Landtag an die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt rückgekoppelt sind. Insofern bildet das »Gesetz über

140 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen für das Bundesland Nordrhein-Westfalen fällt diese Aufgabe der Landesanstalt für Medien (LfM)35 zu. Diese Anstalt öffentlichen Rechts existiert seit 1987 auf Basis des Rundfunkgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LRG NRW), dient der Aufsicht über private Medienveranstalter und führt auch eigenständige Forschungstätigkeiten durch. Darüber hinaus »überwacht die LfM Internetan- gebote mit Sitz des Domaininhabers in NRW auf die Einhaltung der gesetz- lichen Vorschriften.«36 Schließlich verdeutlicht mit der seit 2011 eingerichteten Projektinitiative »NRW digital« ein eigenständiger Arbeitszusammenhang die Bedeutung des digitalen Medienwandels für die Politik.37 Perspektivisch ist hier von einer Ausweitung der internet-orientierten Tätig- keitsschwerpunkte der LfM auszugehen – dies ist insofern relevant, da sich auf- grund der bereits in Abschnitt 2.3 skizzierten eher schwachen Strukturen in Parla- ment und Regierung hier ein Schauplatz parteipolitischer Konkurrenz um netz- politische Themen und Projekte zu entwickeln scheint. Die Vertreter der Parteien finden sich in der Medienkommission wieder, die die Landesmedienanstalt beauf- sichtigt. Insofern können über die LfM netzpolitische Themen begleitend zur parlamentarischen Arbeit aufgegriffen und thematisiert werden; eine Spiegelung parteipolitischer Gegensätze scheint dabei wahrscheinlich.38 Neben der LfM existieren mit der Film- und Medienstiftung NRW und dem Grimme-Institut weitere Einrichtungen, die durchaus im Einzugsbereich einer sich gerade erst entwickelnden netzpolitischen Akteurslandschaft einzuordnen sind. Die Film- und Medienstiftung ist mit einem Jahresbudget von etwa 35 Millionen Euro die größte ihrer Art in Deutschland und setzt die Schwerpunkte der Arbeit

den Westdeutschen Rundfunk Köln« eine Art Blaupause für die Organisation einer Medienlandschaft, die sich allmählich auch in deren digitaler Erweiterung fortsetzt. 35 www.lfm-nrw.de, Stand: 20.3.2013. 36 Vgl. www.lfm-nrw.de/lfm/der-auftrag.html, Stand: 20.3.2013. 37 Grundlage für die Einrichtung der Projektinitiative ist die so genannte »Experimentier- klausel« nach § 27 des Landesmediengesetzes von 2007. Darin ist ein Entwicklungs- auftrag festgeschrieben, der der LfM Kompetenzen für eine Betätigung jenseits der »klassischen« Rundfunkangebote aus Hörfunk und Fernsehen zuweist. 38 Aktuelle Kommissionsvorsitzende ist Dr. Frauke Gerlach, die zugleich Justiziarin der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ist. Die Landesregierung ist über den Posten des Medien-Staatssekretärs im Europaministerium, Marc Jan Eumann (SPD), mit der Arbeit der LfM verbunden, sodass die Koalitionsparteien hier über gute Schnittstellen in Parlament und Regierung verfügen.

141 Christoph Bieber auf TV- und Kinoproduktionen. Allerdings findet seit der Umbenennung zum »integrierten Förderhaus für Film und Medien« im Jahr 201139 auch verstärkt eine Orientierung auf digitale Medienangebote und Innovationsförderung statt. Die Verbindung zu den politischen Parteien vollzieht sich ein weiteres Mal über die Aufsichtsgremien; durch eine vielfach vernetzte Beteiligungsstruktur haben auch hier die Akteure der jeweiligen Regierungsparteien einen besseren Stand als die Parteien der Opposition. Generell ist dabei jedoch nicht von einer Instrumentalisierung der Strukturen durch parteipolitische Interessen auszu- gehen, doch erhalten die in den Gremien repräsentierten Vertreter der Parteien einen besseren Einblick in die aktuellen Entwicklungen im Bereich des digitalen Medienwandels. Das stärker forschungsorientierte Grimme-Institut mit Sitz in Marl40 scheint am weitesten entfernt von parteipolitischen Verflechtungen, wenngleich auch hier über die Beteiligungsstruktur eine Rückbindung an die wesentlichen Akteure der Medienpolitik auf Landesebene gegeben ist. Das Land Nordrhein-Westfalen ist ebenso Gesellschafter der gemeinnützigen Trägerorganisation wie der Landes- anstalt für Medien sowie der Film- und Medienstiftung NRW. Ähnlich wie bei LfM und Filmstiftung sind das Internet und multimediale Inhalte noch ver- gleichsweise junge Gegenstände der Aktivitäten des Grimme-Instituts. Auch ein nur kursorischer Blick auf die medienpolitischen Strukturen in Nordrhein-Westfalen deutet an, dass auch jenseits klassischer Orte wie Wahl- kampf, Parteienwettbewerb und der parlamentarischen Arena einige Schnitt- stellen zu den Aktivitäten politischer Parteien bestehen. Zwar legen die gesetz- lichen Rahmenbedingungen eine weitgehend neutrale Positionierung der zuvor skizzierten Akteure nahe, doch bieten sich entlang von Forschung, Förderung oder Entwicklung netzpolitischer Themen und Projekte immer wieder Berührungs- flächen zur Ebene der Parteipolitik.

39 Vgl. www.filmstiftung.de/ueber-uns, Stand: 20.3.2013. 40 Vgl. www.grimme-institut.de, Stand: 20.3.2013.

142 Parteien und Internet in Nordrhein-Westfalen

5. Zusammenfassung und Ausblick

Die Konturierung des Beziehungsverhältnisses zwischen den nordrhein-west- fälischen Parteien und dem Internet deutet an, dass hier allmählich eine neue Dimension der »Mediendemokratie im Medienland«41 entsteht, die sich eben- falls im Einflussbereich der Parteien befinden dürfte. Zu unterscheiden sind dabei zunächst jene auf die Parteiorganisation selbst gerichteten Modernisierungsprozesse, die einerseits die aktive Auseinandersetzung mit neuen Plattformen und Werkzeugen politischer Online-Kommunikation betreffen, andererseits die Nutzung des Internet zur Erprobung und Realisierung neuer Organisationsmodelle oder Verfahren der innerparteilichen Entscheidungs- findung betonen. Die Landesverbände der »etablierten« NRW-Parteien voll- ziehen diese Entwicklung seit der Landtagswahl 2012 mit einem Blick auf die Piratenpartei, orientieren sich dabei aber auch an den korrespondierenden Schritten in den jeweiligen Bundesparteien, sowie an neuen, externen Akteuren wie den so genannten »Netzvereinen«. Die Landesverbände innerhalb der eigenen Organisation spielen dagegen nur selten eine Rolle. Die Entfaltung einer netzpolitischen Agenda ist eine zweite Entwicklungslinie, die ebenfalls einer doppelten Dynamik folgt: Wie an den langsam, aber stetig um netzpolitische Themen und Positionen ergänzten Wahlprogrammen zu erkennen ist, unternehmen die Parteien den Versuch, entlang ihrer programmatischen Profile »passende« Perspektiven für einen neuen Politikbereich zu entwickeln. Daran sind neue interne Gremien (z. B. Arbeitsgruppen, Arbeitskreise, Themen-Platt- formen) beteiligt, außerdem wirken hier die so genannten »Netzpolitiker« als neue Experten auf Landesebene mit. Als vorteilhaft dürfte sich in diesem Prozess der Zugriff auf netzpolitische Gremien und Institutionen erweisen, da hier ein Transfer aus der parlamentarischen Arena in Richtung der innerparteilichen Auseinander- setzung wahrscheinlich ist. Gleichermaßen wird die Ebene der Landespolitik bei netzpolitischen Entscheidungen jedoch stets auch von bundespolitischen Entwicklungsdynamiken beeinflusst; dies liegt vor allem in der Entstehung der Netzpolitik aus der föderal organisierten »klassischen« Medienpolitik begründet. In beiden Dimensionen – sowohl der organisationsbezogenen Modernisierung wie auch der thematischen Entwicklung – nimmt die NRW-Piratenpartei

41 Sarcinelli/Schatz.

143 Christoph Bieber nach dem Wahlerfolg von 2012 eine besondere Stellung ein. Als eine von bis- lang bundesweit nur vier Landtagsfraktionen der Piraten kann sie als ein ressourcenstarkes regionales Machtzentrum dieser noch jungen und instabilen Partei gelten – daher ist parteiintern mit nordrhein-westfälischen Impulsen für die Bundesebene zu rechnen. Durch den intensiven Einsatz der Techniken politischer Online-Kommunikation im parlamentarischen Alltag fordert sie die übrigen Parteien auf Landesebene heraus, was mittelfristig zu weiteren Experimenten mit neuen Plattformen und Werkzeugen jenseits der Piraten- partei führen dürfte. Zugleich ist davon auszugehen, dass die programmatische Orientierung der Piratenpartei eine intensivere parlamentarische Behandlung netzpolitischer Themen zur Folge hat, als dies in Länderparlamenten ohne Piratenbeteiligung der Fall ist. Inwiefern sich diese Impulswirkung auch in den formalen Strukturen niederschlägt, die sich der parlamentarischen Verarbeitung netzpolitischer Themen widmen, wird erst eine Untersuchung zum Ende der laufenden Legislaturperiode zeigen können. Es deutet sich somit an, dass eine Auseinandersetzung mit dem Beziehungs- verhältnis »Parteien und Internet« lediglich eine einführende Bestandsaufnahme darstellen kann – und dass sich dabei zahlreiche weitere Fragen formulieren lassen, die über Nordrhein-Westfalen hinaus weisen. Sind auch in anderen Bundesländern ähnliche Prozesse der Modernisierung (Kommunikation, Organisation) und Ver- flechtung (Akteursnetzwerke, Bundespolitik) zu beobachten? Entwickelt sich der Bereich der Netzpolitik als Fortsetzung der klassischen, föderal strukturierten Medienpolitik oder erfordert die besondere »Vernetztheit« der Thematik einen anderen Regulierungsansatz? Verläuft die »Digitalisierung der Parteienland- schaft« anders, wenn die Piratenpartei als parlamentarische Kraft aktiv ist? Und tragen die Parteien neben einer »politischen« auch zu einer »gesellschaftlichen Digitalisierung« bei? »Die Politik in NRW war oftmals Trendsetter für Koalitionsbildungen, Regierungsstile und Grundströmungen des Parteienwettbewerbs«42 – für eine Einschätzung, ob auch im Bereich der Digitalisierung eine ähnliche Vorreiterrolle konstatiert werden kann, ist es noch zu früh. Allerdings ist eine ganze Reihe von Kontextfaktoren gegeben, die NRW durchaus als ein föderales Gegengewicht zu einer Bundes-Netzpolitik wirken lassen.

42 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2006, S. 10.

144 Andreas Kost links: Andreas Kost rechts: Direkte Demokratie und Parteien in Nord- Direkte Demokratie und Parteien rhein-Westfalen in Nordrhein-Westfalen Ein Nullsummenspiel?

1. Einleitung – Hinwendungen und Einschränkungen

In der Wirklichkeit moderner Staaten bezeichnet »direkte Demokratie« alle durch Verfassung und weitere Rechtsvorschriften ermöglichten Verfahren, durch die die stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger eines Staates, eines Bundes- landes oder einer Kommune politische Sachfragen durch Abstimmung selbst und unmittelbar entscheiden bzw. auf die politische Agenda setzen. Direkte Demo- kratie ist dabei in der Regel eine Ergänzung und Erweiterung des politischen Ent- scheidens in repräsentativen Demokratien, in denen politisch verbindliche Ent- scheidungen im Rahmen der Verfassungsordnung von gewählten Repräsentanten getroffen werden.1 Nach einer politikwissenschaftlich relevanten Definition sind wiederum Parteien »auf Dauer angelegte gesellschaftliche Organisationen, die Interessen ihrer Anhänger mobilisieren, artikulieren und bündeln und diese in politische Macht umzusetzen suchen – durch die Übernahme von Ämtern in Parlamenten und Regierungen«2. Parteiendemokratie und direkte Demokratie werden dabei meistens in einem Spannungsverhältnis zueinander gesehen, das weitgehend in der Form eines Nullsummenspiels funktioniert; in dem Kontext findet die These häufig Anklang, mehr direkte Demokratie schwäche die Parteien.3

1 Andreas Kost: Direkte Demokratie, Wiesbaden 2013, S. 10. 2 Ulrich von Alemann: Parteien, Reinbek 1995, S. 9. 3 Andreas Paust: Wirkungen der direkten Demokratie auf das kommunale Parteiensystem, in: T. Schiller/V. Mittendorf (Hg.): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 218 und Andreas Ladner/Michael Brändle: Does Direct Democracy Matter for Political Parties? An Empirical Test in the Swiss Canton, in: Party Politics, 5/3 (1999), S. 283–302.

145 Andreas Kost

Die gesellschaftliche Hinwendung zu Formen direktdemokratischer Politik- entscheidungen – auch in Nordrhein-Westfalen – kann auf relevante Prozesse des Wertewandels, veränderte Politik- und Lebensstile und damit korrespondierend auf neue Prioritätensetzungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie gesellschaft- lichen Gruppen zurückgeführt werden. Schließlich wirkte schon seit den 1960er Jahren in der »alten Bundesrepublik« eine Vielzahl von basisdemokratischen Initiativen und Bewegungen informell an der politischen Willensbildung mit. Zumindest begünstigend für die Einführung von direktdemokratischen Politikentscheidungen war auch die friedliche Revolution 1989/90 in der ehe- maligen DDR – verbunden mit der kritischen und beharrlichen Forderung der Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise selbst organisierter Bürgerbewegungen nach erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten. Denn Demokratie lebt von der aktiven Mitwirkung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dies korrespondierte mit der – nicht immer ganz freiwilligen – Einsicht der parlamentarisch Verantwortlichen bzw. der politischen Parteien, primär die Gemeindeordnungen und teilweise auch Landesverfassungen im Hinblick auf mehr Bürgerbeteiligung reformieren zu müssen und dabei dem Partizipationsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen beziehungsweise auf diesem Wege einer befürchteten Verdrossenheit an den etablierten Parteien und Politikern entgegenzuwirken. Die durch diese Sachverhalte angestoßene Entwicklung wurde in den verschiedenen Gemeindeordnungen und Landes- verfassungen, so ebenfalls geschehen in Nordrhein-Westfalen, schließlich institutionell gefasst. Zu den wichtigsten Instrumenten der direkten Demokratie mit Sachbezug zählen auf Landesebene das (Verfassungs-)Referendum, die Volksinitiative, das Volksbegehren und der Volksentscheid, auf der kommunalen Ebene ein- geschränkt der Einwohner- oder Bürgerantrag sowie insbesondere das Bürger- begehren und der Bürgerentscheid. Allerdings darf bei den Beteiligungsmöglichkeiten mit Sachbezug – sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene – nicht übersehen werden, dass sie nur unter Ausschluss verschiedener Themen und mit Anbindung an spezifische Quoren realisiert werden können. Denn die regierenden Parteien respektive politischen Entscheidungsträger auf der NRW-Landesebene behielten und behalten sich vor, welche Themen sie zulassen und wie hoch die Hürden dafür sind. Hier liegt im Grundsatz über viele Jahrzehnte, von einigen inhaltlichen Abweichungen der verschiedenen Parteien abgesehen, ein parteiübergreifender Konsens vor.

146 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen

2. Historische Entwicklungen

Obwohl die politischen Entscheidungsträger nach dem Zweiten Weltkrieg von einem tiefen Misstrauen gegenüber der demokratischen Reife des Volkes erfüllt waren, enthielt auch die nordrhein-westfälische Landesverfassung schon in der Ursprungsversion in Art. 2 und 68 das Volksbegehren und den Volksentscheid. Damit wurde der Bevölkerung die Möglichkeit eingeräumt, unmittelbar an der Gesetzgebung teilzunehmen. Bemerkenswert ist dabei: Sogar schon vor Erlass der Landesverfassung waren beide Instrumente durch Entschließung der britischen Militärregierung mit Gesetz vom 27. Juli 1948 eingeführt worden. Die Ein- führung plebiszitärer Elemente war im Düsseldorfer Landtag allerdings durchaus umstritten, aber es gelang einer ursprünglichen Minderheit sich durchzusetzen und ein positives Votum dafür zu erzielen. Schließlich hatten sich die im Landtag vertretenen Parteien auch über weitere Inhalte der Verfassung, wie die Schulfrage und die Staatsqualität des Landes, bereits dermaßen zerstritten, dass sie es gerade noch schafften den Entschluss zu fassen, ihre Verabschiedung auf die Zeit nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zu verschieben. Folglich trat die »verspätete Ver- fassung« erst 1950 und nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft.4 In der dritten Lesung am 5./6. Juni 1950 sprachen sich in knapper Mehrheit 110 Abgeordnete der CDU und des Zentrums für den vorgelegten Gesamtent- wurf der Verfassung aus, während 97 Landtagsmitglieder von SPD, KPD und FDP dagegen stimmten. Durchgesetzt hatte sich letztlich der Verfassungsentwurf des seit 1947 amtierenden Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU). In einem in der Abschlusssitzung festgelegten Volksentscheid am 18. Juni 1950 – bemerkens- werterweise bisher nur der einzige von »oben« eingesetzte und durchgeführte Volksentscheid in Nordrhein-Westfalen – wurde die Verfassung endgültig mit 3.627.054 zu 2.240.674 bei 496.555 ungültigen Stimmen angenommen. Am 11. Juli 1950 trat die Landesverfassung für Nordrhein-Westfalen in Kraft. Für die Verfassungspraxis des Landes war immerhin von Bedeutung, dass Volksbegehren und Volksentscheid 1950 in Art. 2 an hervorgehobener Stelle ver- ankert wurden. Das Verfahren für die Zulassung und die Durchführung eines

4 Uwe Andersen/Rainer Bovermann: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, in: S. Mielke/W. Reutter (Hg.): Landesparlamentarismus. Geschichte – Struktur – Funktionen, Wiesbaden 2012, S. 401.

147 Andreas Kost

Volksbegehrens ist in Art. 68, allerdings nur in seinen Grundzügen, geregelt. Die Einzelheiten sind in dem nach Absatz 5 Satz 2 erlassenen Gesetz über das Verfahren bei Volksbegehren und Volksentscheid vom 3. August 1951, in der dazu ergangenen Durchführungsverordnung und in den entsprechend anzu- wendenden Vorschriften des Landeswahlgesetzes enthalten. Bislang fanden in Nordrhein-Westfalen tatsächlich aber erst zwei konkrete Anträge unmittelbarer Volksgesetzgebung in Form von Volksbegehren statt. Wie konnte es zu dieser geringen Zahl kommen? Die Antwort soll im Folgenden noch gegeben werden. Ebenfalls erlaubt auch die seit 1994 reformierte Gemeindeordnung in Nord- rhein-Westfalen den Bürgerinnen und Bürgern eine stärkere und effektivere Mitwirkung – hier an der Kommunalpolitik. Hervorzuheben sind insbesondere die Partizipationsinstrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (§ 26 GO NRW), mit denen die Bürgerschaft selbst unmittelbare Sachentscheidungen herbeiführen kann. In der bis zum 16.10.1994 gültigen nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung war es den Bürgern dagegen nicht möglich, Sachentscheidungen selber herbeizu- führen. Dieser Umstand wurde immer wieder thematisiert und als Reformdefizit kritisiert. Als Lösung wurde die Einführung des Bürgerbegehrens bzw. Bürger- entscheides vorgeschlagen.5 Die Regelungen in der baden-württembergischen Gemeindeordnung galten dabei allgemein als Vorbild. Einen Schub in der Reformdiskussion löste sicher die deutsche Vereinigung aus, in der auch die »innere Gemeindeverfassung« auf den Prüfstand kam und Bürgerbegehren und Bürgerentscheide als wichtige demokratische Anliegen erklärt wurden. Die Aufnahme starker plebiszitärer Elemente in die Gemeinde- ordnungen der neuen (und weiterer alter) Bundesländer entwickelte eine Sog- wirkung, der sich auch Nordrhein-Westfalen nicht entziehen konnte. So wurde in dem Gesetzentwurf der damaligen nordrhein-westfälischen Landes- regierung vom 4. Februar 1993 und ergänzenden Änderungsanträgen der SPD- Fraktion Bürgerbegehren und Bürgerentscheid aufgenommen. Insbesondere der damalige Innenminister Herbert Schnoor (SPD) hatte sich in dieser Zeit – gegen

5 Vgl. z. B. Hans Herbert von Arnim: Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene, in: DÖV, 43/3 (1990), S. 85–97 oder Hans-Georg Wehling: Politische Partizipation in der Kommunalpolitik, in: Archiv für Kommunalwissenschaften (AfK I), 1989, S. 110–119.

148 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen manchen politischen Widerstand – für die Einführung direkter Demokratie auf kommunaler Ebene eingesetzt. Die Erweiterung von Mitentscheidungsrechten auf kommunaler Ebene sollte das Interesse an kommunalen Fragen bzw. der Kommunalpolitik stärken und stellte rechtlich eine Ergänzung des repräsentativ- demokratischen Systems der Gemeindeordnung um ein Element unmittelbarer plebiszitärer Ausformung dar. Auf jeden Fall rechtfertigt die Aufnahme von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in die ab dem 17. Oktober 1994 gültige Gemeindeordnung (neben der Abschaffung der kommunalen Doppelspitze und der Direktwahl des hauptamtlichen Bürgermeisters), von einer wirklichen Kommunalverfassungsreform zu sprechen. Die Ausgestaltung mit Initiativ- und Entscheidungs-Quoren sowie einem Negativkatalog in § 26 GO lassen aber den Schluss zu, dass die damals amtierende SPD-Landesregierung den Bürgern die neuen Partizipationsmöglichkeiten mit einer gewissen Vorsicht nahebringen wollte. Hier waren sich insbesondere die »alteingesessenen« Landtagsfraktionen der SPD, der CDU und der FDP einig, dass bestimmte institutionelle Zulässig- keitsvoraussetzungen bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid notwendig seien. Ähnliche Auffassungen vertraten der Städtetag NRW und der Nordrhein- Westfälische Städte- und Gemeindebund. Die Grünen hatten dagegen einen basisorientierteren Standpunkt, da sie beispielsweise ein Entscheidungs-Quorum ablehnten und eine Negativliste für kontraproduktiv hielten.6 Schließlich kam auf der Landesebene im Rahmen des durchaus kontrovers diskutierten Gesetzes vom 5. März 2002 mit der Volksinitiative (Artikel 67 a) ein weiteres Instrument hinzu, welches eine unmittelbare Teilnahme der nord- rhein-westfälischen Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung eröffnet. Ziel der Volksinitiative ist unter anderem, den Volkswillen nachhaltiger als durch Petitionen sowie außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens einbringen zu können. Die Befassung des Landtags mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung, die durch die Bürgerinnen und Bürger in Form von Unterschriftenaktionen initiiert werden müssen, kann hierbei durch Ein- reichung eines ausformulierten und mit Gründen versehenen Gesetzesentwurfs geschehen. Der ursprüngliche Gesetzentwurf (LT-Drs. 13/462) sah für die Volks- initiative dieselben Einschränkungen vor, die auch für Volksbegehren gelten. So sollte sich eine Volksinitiative nicht auf Finanzfragen, Abgabengesetze und

6 Andreas Kost: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Genese, Programm und Wirkungen am Beispiel Nordrhein-Westfalen, Schwalbach/Ts. 1999.

149 Andreas Kost

Besoldungsordnungen beziehen dürfen. Eine Anhörung im Hauptausschuss des Landtags brachte dann jedoch bei den Parteien das Ergebnis, auf bestimmte Ein- schränkungen zu verzichten, weil sich das Parlament mit den entsprechenden Gesetzen ohnehin regelmäßig intensiv zu befassen hat. Weitere Kritik an der mangelnden Praxistauglichkeit des Instruments führte im nordrhein-west- fälischen Landtag im Juli 2004 (LT-Drs. 13/5686) zu einer weitergehenden Reform des Verfahrens der Volksinitiative (s. u.).

3. Direkte Demokratie in der Praxis: Die Landesebene 3.1 Volksinitiativen in Nordrhein-Westfalen

Die Zulässigkeit einer Volksinitiative hängt von dem thematischen Gegenstand ab, welcher in der Entscheidungszuständigkeit des Landtags liegen muss. Somit kann durch die Volksinitiative der Landtag nicht veranlasst werden, sich bei- spielsweise mit bundespolitischen Themen auseinanderzusetzen. Seit Einführung dieses Partizipationsinstruments 2002 wurden in Nordrhein- Bild: Tab. 1 Westfalen diverse Volksinitiativen auf den Weg gebracht (vgl. Tab. 1).

Tabelle 1: Volksinitiativen 2002–2007 in NRW Thema Ziel Ergebnis/Status 2002 Forensik Verhinderung neuer Forensik-Kliniken Unterschriften- sammlung gescheitert 2004 Jugend braucht Gesetzliche Absicherung der Landtag ver- Zukunft öffentlichen Förderung der Kinder- abschiedet und Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit Jugendförder- gesetz 2005 Sonntagsöffnung Erlaubnis zur Sonntagsöffnung für vom Landtag der Videotheken Videotheken abgelehnt Diätenreform Reform der Diätenversorgung der vom Landtag Landtagsabgeordneten übernommen

150 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen

Thema Ziel Ergebnis/Status 2006 Gegen grüne für gesicherten Umgang mit gen- Volksinitiative Gentechnik technisch veränderten Organismen nicht eingereicht Sichere Verhinderung des Verkaufs der Landes- Volksinitiative Wohnungen entwicklungsgesellschaft NRW und der gescheitert und Arbeits- Aufhebung der Kündigungssperrfrist- plätze verordnung NRW 2006 Verhinderung von Kürzungen der vom Landtag Landesförderung bei Kindern, Jugend- abgelehnt lichen und Familien Jugend braucht Wiederaufstockung der finanziellen vom Landtag Vertrauen Ausstattung der Jugendeinrichtungen abgelehnt in NRW; Rücknahme der 2004 ent- sprechend vorgenommenen Kürzungen 2007 Mehr Demo- für ein demokratischeres Kommunal- Unterschriften- kratie beim wahlrecht mit Kumulieren (= Auf- sammlung seit Wählen häufen mehrerer Stimmenbei einem dem 21. März Kandidaten) und Panaschieren (= Ver- 2007 teilen mehrerer Stimmen auf unter- schiedliche Parteilisten)

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: Februar 2013.

Auch wenn unstrittig ist, dass die Volksinitiative es ermöglicht, eine spezi- fische Ausdrucksform unmittelbarer politischer Willensbildung in den nord- rhein-westfälischen Landtag hinein zu transportieren, weist respektive wies sie einige besondere institutionelle Hürden auf. Bis Juli 2004 hatten in Nordrein- Westfalen Vertreter beziehungsweise Initiatoren von Volksinitiativen kein Recht auf Anhörung im Landesparlament. Nachdem in anderen Bundesländern dieses Anhörungsrecht in den Landtagen längst existierte, hatten alle im Parlament befindlichen Parteien in Nordrhein-Westfalen ein Einsehen und reformierten am 15. Juli 2004 das Verfahren der Volksinitiative. Unter anderem wird dadurch

151 Andreas Kost der Landtag nach einer erfolgreichen Unterschriftensammlung zur Anhörung der Initiatoren verpflichtet. Durch ein solches Recht wird im Landtag quasi ein weiterer »Kommunikationskanal« geöffnet, der den Vertretern einer Volks- initiative eine potenzielle Medienpräsenz zugesteht. Kritikwürdig war auch die ursprüngliche Regelung, dass die Unterschriftensammlung nicht frei, sondern als recht aufwändiges Verfahren der Amtseintragung an die Rathäuser gebunden war, obwohl durch den eigentlichen Akt der Volksinitiative letztlich keinerlei Handlungszwang für den Landtag entsteht. In der Neufassung der Regelungen über die Volksinitiative kann nun die Unterschriftensammlung frei statt amtlich erfolgen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Mobilisierungsaufwand für eine Volksinitiative vergleichbar mit dem eines Volksbegehrens ist. So steht die Frage im Raum, ob nach einer Ablehnung durch den Landtag die Volksinitiative nicht auch als Antrag auf ein Volksbegehren gelten könnte. Diese gestufte Vorgehens- weise wird bereits in anderen Ländern praktiziert und würde in Nordrhein- Westfalen das Partizipationsinstrument durch eine solche (bisher noch nicht existierende) Verknüpfung direktdemokratisch aufwerten. Die Volksinitiative zeigt zwar in Nordrhein-Westfalen politische Wirkung, aber in der vorliegenden Form ist der instrumentelle Charakter aufgrund der existierenden Hürden für die Bürgerinnen und Bürger immer noch relativ schwer handhabbar. Zudem scheint die fehlende Entscheidungsverbindlichkeit ein zunehmendes Desinteresse zu erzeugen. So hat es seit 2008 keine Volksinitiative in Nordrhein-Westfalen mehr gegeben. Von neun Volksinitiativen war nur die des Bundes der Steuerzahler für eine Reform der Diätenversorgung der Landtags- abgeordneten erfolgreich.

3.2 Volksbegehren und Volksentscheid in Nordrhein-Westfalen

Durch ein Volksbegehren erhalten die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens die Möglichkeit, sich per Antrag (zunächst) an die Landes- regierung zu wenden, mit dem Ziel ein Gesetz zu erlassen, zu ändern oder gar aufzuheben. Gegenstand eines Volksbegehrens muss dabei immer ein förmliches Gesetz sein, für welches das Land Nordrhein-Westfalen die Gesetzeszuständig- keit besitzt. Allerdings ist ein Volksbegehren nicht bei allen in die Zuständigkeit des Landes fallenden Fragen zulässig; ausgeschlossen sind Volksbegehren über Abgaben (Gebühren, Steuern), Besoldungsordnungen, Finanzfragen sowie über Staatsverträge. Ausgangspunkt eines initiierten Volksbegehrens muss ein aus- gearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf sein, wobei dieser Ent-

152 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen wurf bei eventuell vorliegenden rechtstechnischen Mängeln das Volksbegehren aber nicht automatisch unzulässig macht. Seit der Volksabstimmung zur Annahme der Verfassung 1950 hat in Nord- rhein-Westfalen kein einziger Volksentscheid mehr stattgefunden, weder nach einem Volksbegehren noch als durch Regierung oder Parlament veranlasstes Referendum. Allerdings wurden drei Volksbegehren zugelassen, von denen jedoch nur zwei durchgeführt wurden (vgl. Tab. 2). Bild: Tab. 2

Tabelle 2: Volksbegehren in NRW Jahr Initiator Ziel Ergebnis/Status 1969 »Aktion gegen die Eingemeindung das Volksbegehren wurde selbständiges der Stadt Beuel nach zugelassen, aber nicht Beuel« Bonn durchgeführt 1974 »Aktion gegen kommunale das Volksbegehren Bürgerwille« Gebietsreform/Gründung erreichte zu wenig eines Kommunalver- Unterschriften (ca. 6 %, bandes »Ruhr« Quorum = 20 %) 1978 »Bürgeraktion gegen die Kooperative das Volksbegehren kam Volksbegehren Schule rechtswirksam zustande gegen die (29,9 %, Quorum = kooperative 20 %); der Landtag Schule« ­übernahm das Anliegen

Quelle: Eigene Darstellung, Stand: Februar 2013.

Das erste Volksbegehren war 1969 die »Aktion selbständiges Beuel«, welches sich gegen die Eingemeindung der damals selbständigen Stadt Beuel nach Bonn wandte. Obwohl das Begehren als zulässig eingestuft wurde, hatte es aufgrund seines begrenzten regionalen Charakters keine Erfolgsaussicht, die notwendigen Stimmenanteile aus dem gesamten Land zu erhalten. Diese ernüchternde Erkenntnis führte bei den Initiatoren zu der Einsicht, letztlich auf eine Durch- führung zu verzichten. 1974 folgte dann die sog. »Aktion Bürgerwille« gegen die kommunale Gebietsreform im Ruhrgebiet mit der Eingemeindung kleinerer Gemeinden in größere Kommunen (»Wattenscheid-Gesetz«). Sie verfehlte mit etwa sechs Prozent die zum damaligen Zeitpunkt noch geforderte Anzahl von

153 Andreas Kost einem Fünftel der Stimmberechtigten recht deutlich.7 Als Erfolg war hingegen das Volksbegehren gegen die Einführung der Kooperativen Schule zu bewerten, für das sich im Februar 1978 29,9 Prozent der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger aussprachen. Das gegen eine Gesetzesinitiative der damaligen SPD/FDP- Koalition gerichtete Begehren wurde von einer »Bürgeraktion Volksbegehren gegen die Kooperative Schule« angeführt, die sich aus Eltern- und Lehrerver- bänden zusammensetzte, dabei von der damaligen Oppositionspartei CDU massiv unterstützt wurde und auch in weiten Teilen der Bevölkerung erkennbare Zustimmung erhielt. Auf Empfehlung der Landesregierung hob daraufhin der Landtag das Gesetz zur Einführung dieses Schultyps auf, sodass kein Volksent- scheid notwendig war; das Volksbegehren wurde als Vorwegnahme des Volksent- scheids gewertet. In der Rückschau wird diesem Volksbegehren eine beachtliche politische Wirkung zugesprochen, weil der Streit um die Kooperative Schule das Ende der sozialliberalen Regierung Kühn einläutete. Bereits im November 1976 hatten die Koalitionsfraktionen von SPD und FDP den Gesetzentwurf zur Kooperativen Schule vorgelegt. Dies geschah jedoch gegen den Willen des Ministerpräsidenten Heinz Kühn (SPD) und der meisten Landesminister. Insbesondere die SPD-Linke in der Landtagsfraktion wollte sich mit dem »Abflauen« der bildungspolitischen Reformen nicht abfinden. Sie war darüber verärgert, dass die integrierte Gesamt- schule in Nordrhein-Westfalen nicht zur Regelschule werden, sondern nur Versuchsschule bleiben sollte. Die Kooperative Schule war daher der »Hebel«, aufgrund sinkender Schülerzahlen einen neuen bildungspolitischen Anlauf zu nehmen. Den Kommunen als Schulträgern sollte unter bestimmten räum- lichen und personellen Voraussetzungen gestattet werden, Haupt-, Realschulen und Gymnasien für die Sekundarstufe I (Klassen fünf bis zehn) in einem Schul- zentrum mit gemeinsamer Leitung zu einer Kooperativen Schule zusammen- zufassen. Dieses »Koop«-Modell führte jedoch im ganzen Lande zu zahlreichen und wütenden Protesten, was SPD und FDP (mit Zustimmung von Minister- präsident Kühn) zu der erheblichen Änderung veranlasste, die Kooperative Schule nur noch als Angebotsschule einzuführen. Aber es war bereits zu spät, das Volksbegehren »Stopp Koop« ließ sich nicht mehr aufhalten. Mit einer erzielten

7 An dieser Stelle verdient noch der Umstand Erwähnung, dass der Eintragungszeitraum in Nordrhein-Westfalen in die Karnevalszeit fiel und die Aussichten auf einen höheren Stimmenanteil damit etwas schmälerte.

154 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen

Beteiligung von über 3,6 Mio. Unterschriften wurde dieses Volksbegehren das erfolgreichste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; eine solche Zustimmung ist seitdem nicht mehr erzielt worden. Kühn trat sechs Monate nach dem für ihn als persönliche Niederlage zu wertenden Volksbegehren als Ministerpräsident zurück. Seit dieser Zeit hat kein weiteres Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen mehr stattgefunden. Allerdings führte zumindest ein als unzulässig eingestuftes Volks- begehren der Bürgerinitiative »Mehr Demokratie e. V.« 1999 zu einem politischen Anstoß, der letztlich in einen realen Teilerfolg mündete. Das Volksbegehren »Mehr Demokratie in NRW: Faire Volksentscheide in die Verfassung« hatte zum Ziel, eine Senkung der Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide zu erwirken. Die Landesregierung erklärte jedoch den Zulassungsantrag im Juli 1999 mit der Begründung für unzulässig, dass Volksbegehren mit dem Ziel der Änderung der Landesverfassung nicht erlaubt seien. Gegen diese Begründung leitete »Mehr Demokratie« Beschwerde beim nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof ein. Doch der Versuch eines Volksbegehrens zur direkten Demokratie durch die Bürgerinitiative hatte mittlerweile im Landtag und auch in der Öffentlichkeit eine Diskussion über eine Reform der Volksgesetzgebung in Nordrhein-West- falen herbeigeführt. Die Diskussionen mündeten am 1. März 2002 in einigen Verfassungsänderungen: – Absenkung der Unterschriftenhürde für Volksbegehren von 20 Prozent in zwei Wochen auf acht Prozent in acht Wochen, – Zulassung verfassungsändernder Volksbegehren, – Einführung der Volksinitiative.

Die erkennbare Bewegung im Landtag veranlasste dann auch »Mehr Demo- kratie« zwischenzeitlich dazu, die Verfassungsklage zurückzuziehen. Hier kam in einem gewissen Maße auch die antizipative Wirkung von direkter Demokratie zum Tragen, weil die öffentliche Meinung und auch direktdemokratische Ent- wicklungen in anderen Ländern nicht einfach ignoriert werden konnten. Es gab in der Geschichte des Landes weitere von der Landesregierung als unzulässig eingestufte Volksbegehren (Auflösung des Landtags, Bürgerinitiative Ausländerstopp I, Bürgerinitiative Ausländerstopp II, Aktion Volksbegehren NRW gegen Atomanlagen), die neben der formellen Unzulässigkeit teilweise auch politisch fragwürdig waren. Darüber hinaus sind Volksbegehren im politischen Alltag auch als Möglichkeit ins Spiel gebracht worden, um die jeweilige Landes- regierung unter Druck zu setzen, so z. B. bei der Reform der Kommunalver-

155 Andreas Kost fassung und hier insbesondere im Zusammenhang mit Einführung des haupt- amtlichen Bürgermeisters und seiner Anfang der 1990er Jahre noch heftig dis- kutierten Direktwahl. Ferner wurden im Rahmen einiger politischer Aktionen die erforderliche Anzahl von Unterschriften für ein Volksbegehren gesammelt (z. B. Nichtraucherschutz in Gaststätten oder Gegen Rauchverbot in Gaststätten), die jedoch aus verschiedenen Gründen dann nicht offiziell eingereicht wurden. Die geringe Zahl von zwei tatsächlich durchgeführten Volksbegehren seit Bestehen des Landes Nordrhein-Westfalen hat einerseits den niedrigen Nutzungs- grad dokumentiert sowie andererseits die Hoffnungen der Befürworter direkter Demokratie wohl enttäuscht, dass sich die Zahl der unmittelbar Beteiligten an der Landespolitik durch dieses Partizipationsinstrument signifikant erhöhen ließe. Gründe für die geringe Umsetzungsquote sind durchaus zu identifizieren: Das Quorum beim Volksbegehren ist trotz Absenkung auf acht Prozent (vormals 20 Prozent) für ein Flächenland, zumal das bevölkerungsreichste, immer noch recht hoch. Bei insgesamt ca. 13 Mio. Stimmberechtigten in NRW auf Landesebene müssen für ein Volksbegehren ungefähr 1.040.000 Stimmen zusammengetragen werden – dies erfordert eine erhebliche Organisationsfähigkeit der Initiatoren. Mittlerweile wurde aber die Eintragungsfrist durch die aktuell amtierende Landes- regierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen von acht Wochen auf ein Jahr verlängert. Auch beim Volksentscheid müssen Hürden genommen werden: Das Zustimmungsquorum für einen Entscheid bei einfachen Gesetzen beträgt 15 Pro- zent (also knapp zwei Mio. Stimmen) und erfordert bei Verfassungsänderungen eine Beteiligung von 50 Prozent (ca. 6,5 Mio. Stimmen) sowie eine Zwei-Drittel- Zustimmung. Aufgrund dieser Zulassungsbeschränkungen scheinen Volks- begehren und -entscheide immer noch nur in Ausnahmefällen möglich zu sein.

4. Direkte Demokratie in der Praxis: Die kommunale Ebene

Der renommierte Schweizer Direkte-Demokratie-Forscher Silvano Möckli bewertet die Nutzung direktdemokratischer Instrumente folgendermaßen: Diese »dienen den Parteien als Werkzeuge, unliebsame Entscheidungen zu ver- hindern bzw. eigene Forderungen wenigstens teilweise durchzusetzen«8. Positiver

8 Silvano Möckli: Direkte Demokratie. Ein Vergleich der Einrichtungen und Verfahren in der Schweiz und Kalifornien, unter Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Australien, Berlin/Stuttgart/Wien 1994, S. 233.

156 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen ausgedrückt erhalten die Bürger auf kommunaler Ebene von den verantwort- lichen Entscheidungsträgern vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung (z. B. Ein- wohnerantrag, teilweise Bürgerhaushalt, Bürgergutachten oder Mediationsver- fahren). Doch können diese Beteiligungsinstrumente aufgrund ihres informellen Charakters keine verbindlichen politischen Entscheidungen erzwingen. Wenn unmittelbare bürgerschaftliche Entscheidungsrechte zur Geltung kommen sollen, bei denen politische und administrative Entscheidungen direkt gefällt werden, können auf kommunaler Ebene nur Bürgerbegehren und Bürgerent- scheid als einzige Elemente direkter Demokratie in der deutschen Selbstver- waltungsorganisation in Frage kommen. Nur durch diese Instrumente wird den Bürgerinnen und Bürgern bei wichtigen kommunalen Angelegenheiten (z. B. über die Nutzung öffentlicher Einrichtungen oder die Erstellung von Verkehrs- konzepten) ein unmittelbares Mitspracherecht eingeräumt. Aufgrund dieser unmittelbaren und exklusiv möglichen Entscheidungswirksamkeit wird auch bei der weiteren Betrachtung direkter Demokratie in Nordrhein-Westfalen eine Konzentration auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheid vorgenommen. In Nordrhein-Westfalen wurden beispielsweise seit 1994, bzw. seit Einführung dieses Partizipationsinstruments, bis Ende 2011 628 Bürgerbegehren eingereicht, davon 615 von Bürgerinnen und Bürgern initiiert.9 Damit kommen weniger als ein Zehntel der Gemeinden und Städte in Nordrhein-Westfalen jährlich mit einem offiziellen Bürgerbegehren in Berührung. Außerdem wurden ca. 37 Pro- zent dieser Bürgerbegehren für unzulässig erklärt. Die tatsächliche Anzahl von Bürgerentscheiden aufgrund von Bürgerbegehren lag in Nordrhein-Westfalen für den identischen Zeitraum bei 170. Diese abfallende Tendenz im Vergleich zu den Bürgerbegehren ergibt bei den Bürgerentscheiden eine Auslastungsquote für alle Kommunen (= 396) von etwas mehr als zwei Prozent pro Jahr. Mit anderen Worten: Durchschnittlich gut zwei Prozent der Kommunen haben in Nord- rhein-Westfalen bisher pro Jahr einen Bürgerentscheid durchgeführt. Etwas über 30 Prozent der Bürgerentscheide in Nordrhein-Westfalen waren dabei im Sinne der Bürgerbegehren erfolgreich. Ihr Ziel verfehlten allerdings rund die Hälfte der Entscheide schon deswegen, weil die Mehrheit nicht mindestens 20 Prozent (bis März 2000 25 Prozent) der Abstimmungsberechtigten ausmachte. Mit dieser hohen Unzulässigkeitsquote lag Nordrhein-Westfalen in einem negativen Sinne

9 Vgl. Bürgerbegehrensbericht 2012 von Mehr Demokratie e. V.

157 Andreas Kost mit an der Spitze eines Ländervergleichs. Auch Ende 2011 betrug der Anteil der gescheiterten Bürgerentscheide immer noch 48,8 Prozent.10 Wie bereits eine empirische Untersuchung vor einigen Jahren zeigte11, ist das Abstimmungs- quorum bzw. die erforderliche Zahl von Teilnehmern, neben dem Negativ- katalog und dem Zwang eines Vorschlags zur Kostendeckung, eine beacht- liche »institutionelle Hürde« bei der Realisierung eines Bürgerbegehrens bzw. eines Bürgerentscheids. Hinzu kommt, dass auch diese direktdemokratischen Partizipationsinstrumente grundsätzlich aus dem parlamentarischen System der Demokratie hervorgegangen sind und sich in ihrer institutionellen Logik daran ausrichten. Im Dezember 2011 reagierte daher der nordrhein-westfälische Landtag und vereinfachte die Durchführungsbestimmungen für Bürgerbegehren. Die damalige Minderheitsregierung, bestehend aus SPD und Grünen (und in diesem Fall unterstützt von den Linken), änderte die Gemeindeordnung und ermöglichte bspw. die bis dato ausgeschlossene Einleitung von Bauleitplanverfahren. Damit ließen sich nun auch erstmalig Begehren über den Bau von Einkaufszentren oder die Ausweisung von Gewerbegebieten realisieren. Zudem wurde der Zwang des Kostendeckungsvorschlags durch die einfachere Kostenschätzung ersetzt, die nunmehr die Kommunalverwaltungen selbst erstellen müssen. Die dabei von den Verwaltungen errechneten Kosten müssen die Initiatoren von Bürgerbegehren dann nur noch auf ihre Unterschriftenliste übernehmen. Nicht zu unterschätzen war auch die Änderung bzw. Einführung einer gestaffelten Abstimmungshürde bei Bürgerentscheiden. So liegt in Städten mit über 50.000 Einwohnern die Pro- zent-Hürde nur noch bei 15 Prozent und in Kommunen mit über 100.000 Ein- wohnern bei zehn Prozent. Auf diese Weise hat Nordrhein-Westfalen deutlich anwendungsfreundlichere Regelungen für Bürgerbegehren und Bürgerent- scheid erhalten und nimmt damit einen Spitzenplatz unter den Flächenländern gemeinsam mit Bayern und Hessen ein. Wie verhalten sich die kommunalen Parteien vor Ort in der Praxis bei Bürger- begehren und Bürgerentscheiden? Aggregatdatenuntersuchungen haben für Nordrhein-Westfalen bestätigt, dass in 70 Prozent aller Bürgerentscheide Parteien

10 Ebd. 11 Andreas Kost: Demokratie von unten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in NRW, Schwalbach/Ts. 2002.

158 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen aktiv in den verschiedenen Phasen eines Bürgerbegehrens involviert waren.12 Dabei spielt die Parteizugehörigkeit keine Rolle, vielmehr hängt die Haltung respektive Unterstützung davon ab, ob sich eine Partei in der Opposition befindet oder ob sie Mehrheitspartei ist.13 Diese Beobachtung bestätigt auch grundsätz- lich die These Ulrich von Alemanns, dass »auch eine Verstärkung der direkten Demokratie […] die Parteien durchaus nicht arbeitslos machen [würde], denn sie würden sich sicher ebenfalls dieses Instruments bedienen«14. Allerdings sind die Parteien bei der Mehrzahl der Bürgerbegehren nicht die eigentlichen Initiatoren. Für Hessen und Bayern ist festgestellt worden, dass jeweils nur gut ein Viertel aller Bürgerbegehren von Parteien initiiert wurden15 und auch Daten aus Nordrhein- Westfalen haben das bestätigt.16 Zusätzlich ließ sich für Nordrhein-Westfalen noch konstatieren, dass Parteien, die sich zunächst eher zurückhaltend verhielten, im späteren Verlauf eines Bürgerbegehrens in hohem Maße als Unterstützer auf- traten.17 Insgesamt hat sich gezeigt, dass von einem pauschalen Bedeutungsver- lust der Parteien oder einer Schwächung des kommunalen Parteiensystems durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid nicht die Rede sein kann, da Parteien dadurch neue Möglichkeiten der politischen Einflussnahme und die Chance erhalten haben, ihre alten Funktionen zu revitalisieren.18 Dennoch ist in Nordrhein-Westfalen zu beobachten, dass diese Partizipationsinstrumente überwiegend auf den Widerstand der Gemeinderäte und der Kommunalverwaltungen stoßen, obwohl weder die Verantwortung der gewählten Ratsvertreter plebiszitär ausgehebelt wurde, noch in der Regel diffuse Sachthemen bei Bürgerentscheiden zur Abstimmung gelangen. Die überschau- bare Anwendung von 170 Abstimmungen bis Ende 2011 (bei 396 Kommunen

12 Kost: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, S. 123. 13 Vgl. Andreas Paust: Direkte Demokratie in der Kommune. Zur Theorie und Empirie von Bürgerbegehren, Bonn 1999, S. 83. 14 Ulrich von Alemann: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000, S. 203. 15 Vgl. Frank Rehmet/Tim Weber/Dragan Pavlovic: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein, in: T. Schiller (Hg.): Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Frankfurt a. M. 1999, S. 147. 16 Vgl. Kost: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, S. 112. 17 Vgl. Kost: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, S. 114 f. 18 Vgl. Paust: Wirkungen der direkten Demokratie auf das kommunale Parteiensystem, S. 229.

159 Andreas Kost in Nordrhein-Westfalen) bestätigt den Ausnahmecharakter der Gemeinde- paragraphen über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Aus den bisherigen empirischen Erhebungen lassen sich auf der thematischen Seite der Bürger- begehren und der Bürgerentscheide gewisse inhaltliche Schwerpunkte erkennen. In Nordrhein-Westfalen dominieren Begehren über öffentliche Einrichtungen (insbesondere Schulen und Schwimmbäder) sowie Verkehrs- und Wirtschafts- projekte. Obwohl diese Partizipationsinstrumente kaum zum kommunalpolitischen Alltagsgeschäft gehören, haben nicht nur Parteien, sondern gerade auch Bürger- initiativen und einzelne bzw. sich zusammenschließende aktive Bürger diese Form der unmittelbaren Bürgerbeteiligung für sich entdeckt. Auch wenn die allermeisten Entscheidungen weiterhin in den Gemeinderäten fallen, ist die beschworene Gefahr einer elitären Gegenmobilisierung durch stärker institutionalisierte Akteure – wie Parteien oder Verwaltungen – geringer aus- gefallen als zunächst vermutet werden konnte. Allerdings fungierten die Parteien häufiger als »Trittbrettfahrer«, indem sie ein Bürgerbegehren erst dann unter- stützten, wenn der Entscheidungsprozess durch unterschiedliche Akteure bereits eingeleitet war. Insgesamt wurden Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, nicht zuletzt wegen der vorhandenen Zulässigkeitsvoraussetzungen, von den aktiven Bürgern und Interessengruppen dosiert angewendet. Die politische Relevanz von Bürger- begehren und Bürgerentscheiden ist in den vergangenen Jahren aber deutlich gestiegen, und knapp 30 Prozent aller Begehren konnten im Sinne der Initiatoren zumindest als Teilerfolg verbucht werden (unabhängig von einer Wertung der Einzelergebnisse). Hin und wieder erinnerte diese Form der unmittelbaren Bürgerbeteiligung die kommunalpolitisch Verantwortlichen daran, dass ihre Handlungssouveränität inhaltlich und zeitlich begrenzt ist und der Bürgerstatus im Hinblick auf eine ausgeweitete Dimension von politischer Partizipation an Einfluss gegenüber (möglicher) Uneinsichtigkeit und Ignoranz gewonnen hat. Ein Mehr an direkter Demokratie kommt durch das geschaffene institutionalisierte Partizipationsinstrument jedoch bloß tendenziell zustande. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten können direktdemo- kratische Instrumente wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als Korrektiv das politische System aber entlasten, um auch die repräsentative Demokratie differenzierter zu beurteilen und konsensorientierte Entscheidungsprozesse leichter herbeizuführen. Input- als auch Output-Seite des politischen Systems erfahren damit ein Mehr an politischer Legitimation.

160 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen

5. Fazit

Prinzipiell belebt die Anwendung verschiedener Partizipationsinstrumente die politische Szene in Nordrhein-Westfalen. Die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, sich zu kommunal- und landespolitischen Einzelthemen artikulieren zu können und darüber hinaus direkte Entscheidungen zu treffen, stellen durchaus eine wirksame Form unmittelbarer Demokratie dar. So haben die Partizipations- instrumente zu einer Stärkung direktdemokratischer Politik geführt, ohne jedoch wirklich ein starkes Gegengewicht zum Landtag oder den kommunalen Volks- vertretungen bilden zu können und eine systematische Machtkontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger darzustellen. Auf der »Haben-Seite« stehen aber Grund- voraussetzungen für eine beteiligungsfreundliche Landes- und Kommunal- verfassung: Schaffung von Transparenz, Förderung von Minderheiten sowie Erleichterung von Initiativen. Das Repräsentationsprinzip des Landtags sowie die Wahrnehmung der kommunalen Selbstverwaltung blieben dabei im Grundsatz unangetastet. Die institutionalisierte Bürgerbeteiligung entpuppte sich tatsäch- lich als relativ sparsam und gezielt genutzter Seismograph für Stimmungslagen zu bestimmten Sachfragen mit insgesamt geringen Auswirkungen auf die politische Machtbalance. Insbesondere die überschaubare Durchführung von nur zwei Volksbegehren seit Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen bestätigt den Ausnahmecharakter dieses Partizipationsinstruments, wobei die institutionell- strukturellen Zulässigkeitsbeschränkungen sowie die sachliche Eingrenzung auf nur bestimmte Themengebiete dieser geringen Anzahl Vorschub geleistet haben. Die relativ neu eingeführte Volksinitiative wäre sicher noch bürgerfreundlicher, wenn die hohe Unterschriftenhürde abgesenkt würde und die Initiative gleich- zeitig als Antrag auf ein Volksbegehren genutzt werden könnte. Es sollte zu denken geben, dass seit 2008 keine Volksinitiative mehr auf den Weg gebracht wurde. Positiver im Hinblick auf direktdemokratische Anwendungsmöglich- keiten schaut es auf der kommunalen Ebene aus, wo sich die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid 1994 bewährt hat. Auch wenn bei diesen Partizipationsinstrumenten weiterhin zentrale Themen ausgeschlossen sind, hatten die politisch Verantwortlichen die eingeführten Regelungen bereits 2000 und insbesondere 2011 noch einmal nachgebessert. Weitere Veränderungen, z. B. die Erweiterung des Themenkatalogs bei Bürger- begehren und Volksbegehren, sind zweifellos vorstellbar und die verantwortlichen Landespolitiker lassen hier auch eine gewisse Reformbereitschaft erkennen. So

161 Andreas Kost geben sich alle momentan oder bis vor kurzem im Landtag vertretenen Parteien in Nordrhein-Westfalen grundsätzlich beteiligungsfreundlich. Die SPD tritt als führende Regierungspartei für eine Stärkung der Bürgerbeteiligung ein und will nach den Verbesserungen auf kommunaler Ebene bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als nächstes die Hürden für Volksbegehren und -entscheide auf Landesebene senken. Auch die CDU, aktuell größte Oppositionspartei, bekennt sich zu einer »modernen Bürgerbeteiligung« und will ebenfalls die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide senken sowie Beteiligungsverfahren für infrastrukturelle Großprojekte ermöglichen. Bündnis 90/Die Grünen, die am intensivsten seit ihrem Erscheinen auf der politischen Bühne in Nordrhein-West- falen Forderungen nach mehr direkter Demokratie stellten, wollen weiterhin kommunale Bürgerbegehren und landesweite Volksbegehren erleichtern. Zudem fordern sie bei Änderungen der Landesverfassung ein bisher nicht existierendes obligatorisches Referendum durch die Bürgerinnen und Bürger. Schaut man auf das aktuelle Wahlprogramm der liberalen FDP, finden sich zwar Hinweise auf die Bedeutung von Bürgerrechten, alternative Vorschläge zur direkten Bürger- beteiligung blieben aber außen vor. Eine treibende Rolle spielen die Liberalen hier nicht. Anfang 2013 brachte die FDP allerdings Reformvorschläge zur Ver- besserung der Prüfung von Unterschriften bei Bürgerbegehren in den Landtag ein. Beteiligungsfreundlich zeigen sich die gegenwärtigen Landtagsneulinge, die Piraten, die eine Politik wollen, »bei der jeder mitmachen kann«. Dazu wollen sie Bürgerentscheide, Volksinitiativen und -begehren vereinfachen, d. h. die Unter- schriftenhürde für direktdemokratische Elemente absenken, die Sammelfristen verlängern und Themenausschlüsse streichen. Bei Verfassungsänderungen wollen sie, ähnlich den Grünen, dass Volksentscheide obligatorisch werden. Die Linke, die nicht mehr im Landtag vertreten ist, gibt sich ebenfalls beteiligungsfreund- lich und will das Verfahren für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide insgesamt vereinfachen und Themenausschlüsse streichen. Zudem fordert sie verpflichtende Referenden bei »wichtigen Themen« auf Landesebene. Konkret will sie noch die Unterschriftenhürde für die Volksinitiative auf 30.000 Unterschriften reduzieren (bisher ca. 66.000). Die Parteien versuchen durchaus, neue soziale Interessen aufzunehmen und Bemühungen einer verstärkten Integrationsfähigkeit an den Tag zu legen, nicht zuletzt eben auch im Hinblick auf die Öffnung des politischen Systems für die direktdemokratische Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess. Zweifel- los stellt die Erweiterung von Mitentscheidungsrechten politisch und rechtlich eine Ergänzung des repräsentativen-demokratischen Systems der Landesver-

162 Direkte Demokratie und Parteien in Nordrhein-Westfalen fassung und der Gemeindeordnung um Elemente unmittelbarer plebiszitärer Ausformungen dar. Sollten dadurch zusätzliche politische Handlungsspiel- räume geöffnet werden, könnte daraus eine vermehrte bürgerschaftliche Mit- arbeit erwachsen und vielleicht sogar dadurch verloren gegangenes Vertrauen in die Politik wieder zurückgewonnen werden. Dieses wäre dann letztlich auch in einem normativen Sinne mehr als ein reines Nullsummenspiel zwischen direkter Demokratie und den Parteien.

163

Karl-Rudolf Korte links: Karl-Rudolf Korte rechts: NRW-Parteien auf Bundesebene NRW-Parteien auf Bundesebene

1. Nordrhein-Westfalen im Bundesstaat

Politische Erdbeben gingen häufig von Nordrhein-Westfalen aus. Bonn und Berlin blieben nie unbeeindruckt von Düsseldorf. Ein markantes Beispiel aus dem Jahr 2005 ist der 22. Mai, als am Abend der Landtagswahl die Niederlage der SPD in Düsseldorf zur Gewissheit wurde. Die Abwahl der Regierung Steinbrück, nach 39 Jahre währender SPD-Vorherrschaft, veranlasste Bundeskanzler Gerhard Schröder in Berlin zur Ankündigung von vorgezogenen Bundestagswahlen. Es ist nicht allein die schiere Größe des Bundeslandes, die im parteipolitischen Wettbewerb alles, was in NRW geschieht, mit bundespolitischen Vorzeichen ver- sieht. Nordrhein-westfälische Landtagswahlen wurden schon immer als »kleine Bundestagswahlen« ausgerufen. Der Kampf um die nächste Bundestagswahl begann in der Regel in NRW.1 Auch qualitativ war NRW für den Parteien- wettbewerb Trendsetter: Neue Koalitionsmuster, veränderte Lagerlogiken, innovative Regierungsformate und moderne Wahlkampfstrategien zeigten sich häufig zuerst im bevölkerungsreichsten Bundesland. Fast könnte man von einer hegemonialen Stellung der politischen Machtlandschaft in NRW im Hinblick auf Schrittmacher-Funktionen im Bund sprechen. Zumindest galt dies über viele Jahrzehnte. Sichtbarer Ausdruck dieser Besonderheit war immer auch die alte Bundeshauptstadt Bonn. In der Bonner Republik spielte schon allein aus geo- grafischen Gründen der Düsseldorfer Parteienwettbewerb für Verhandlungen in der Bundeshauptstadt eine Sonderrolle. In den ersten Jahrzehnten der Bundes- republik Deutschland fanden fast alle Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene im Vorfeld der Regierungsbildungen in den jeweiligen Bonner NRW-Landesver- tretungen der CDU- bzw. der SPD-geführten Landesregierungen statt.

1 Vgl. Dieter Oberndörfer/Gerd Mielke/Ulrich Eith: Der Kampf um die nächste Bundes- tagswahl hat begonnen, in: Frankfurter Rundschau vom 19.5.2000; Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Schwalbach/Ts. 2013; Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Deutschland, Bonn 2013.

165 Karl-Rudolf Korte

Als nostalgische Reminiszenz an diese Zeit konnten auch die Sondierungen und Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP nach der Bundes- tagswahl 2009 gewertet werden, denn Ministerpräsident Jürgen Rüttgers brachte in »seiner« Berliner Landesvertretung die Verhandlungspartner der sich formierenden neuen christlich-liberalen Bundesregierung an den Verhandlungs- tisch. Der unmittelbare Bezug zu den Landtagswahlen in NRW, die nur wenige Monate später im Mai 2010 folgen sollten, war bereits durch diesen Ent- scheidungsort in gewisser Weise präjudiziert.2 Auch bei den Vorbereitungen wichtiger Gesetzesinitiativen im Bund wurde in der Bonner Republik stets auf den Sachverstand der großen Ressorts der NRW- Landesregierungen zurückgegriffen.3 Düsseldorf war insofern als naheliegende politische Metropole immer auch Startpunkt politischer Initiativen sowie Maß- stab für Konstellationen auf Bundesebene. Das hat sich in der Berliner Republik deutlich verändert. Aus der geo- grafischen Distanz wurde ein politischer Abstand. Düsseldorfer Landtagswahlen bleiben sicherlich immer noch ein wichtiger Gradmesser für bundespolitische Gewichtungen. Doch Deutungsmacht geht schon lange nicht mehr von NRW aus. Wie die nachfolgenden Analysen und die Interpretationen der Machtmöglich- keiten dokumentieren, folgt aus der reinen Größe kein politisches Gewicht mehr. Andere Bundesländer wie z. B. Niedersachsen oder Baden-Württemberg geben eindeutig stärker den Ton an, wenn es um die Auswahl und Besetzung des politischen Spitzenpersonals oder inhaltliche Initiativen geht.4 Das hängt auch mit einer generellen Einflussminderung zusammen, die alle Landesregierungen gleichermaßen trifft. Die föderale Grundstimmung hat in der Berliner Republik der letzten Jahre nachgelassen. Bundespolitik scheint im Hin- blick auf Komplexität, Schnelligkeit und Kommunikation immer weniger mit Landespolitik kompatibel zu sein. Eine Eigenwelt mit spezifischen Eigenlogiken

2 Stefan Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 2012, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/3 (2012); Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen; Karl-Rudolf Korte: Die Bundestagswahl 2009, in: Korte (Hg.): Die Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2010. 3 Wolfgang Ismayr: Der Deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012, S. 224 ff.; Uwe Andersen/ Rainer Bovermann: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, in: S. Mielke/W. Reutter (Hg.): Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004. 4 Günter Bannas: Wechselnde Regierungen bei bleibendem Gewicht, in: Frankfurter All- gemeine Zeitung vom 21.1.2013.

166 NRW-Parteien auf Bundesebene hat sich ausdifferenziert, der Parteienwettbewerb im föderalen Bundesstaat ist zunehmend von Friktionen und Asymmetrien geprägt.5 Das Scheitern vieler Landesgrößen in bundespolitischer Verantwortung ist Legion. Welcher Minister- präsident steht heute überhaupt als Reservekanzler zur Verfügung – unabhängig von den jeweiligen Parteifarben? Dieser generelle Einfluss- und Machtverlust der Länder und der Ministerpräsidenten-Demokratie6 gegenüber dem Bund trifft mit voller Wucht vor allem NRW – und damit die Parteien des Landes. Die NRW-Parteien befinden sich insofern in einem zum Machtabstieg neigenden föderalen Geleitzug. Davon sind die Düsseldorfer Parteien besonders betroffen. Denn die Maßstäbe, die die NRW-Parteien über Jahrzehnte vorgaben, waren auf der Bundesebene stets politisch stilbildender und dominanter als die von anderen Bundesländern. Die nachfolgende Analyse folgt drei Pfaden, um den aktuellen und zukünftigen Möglichkeitsraum zwischen Bundes- und Landespolitik zu vermessen: Sie unter- sucht den bundespolitischen Einfluss auf Landtagswahlen, die bundespolitische Bedeutung der Landesparteien und deren Mitglieder sowie die bundespolitische Bedeutung der Koalitionsbildung auf Landesebene.

2. Bundespolitische Einflüsse der NRW-Landesparteien 2.1 »Wahlverflechtung« im Föderalismus

Die Politikverflechtung zwischen Bund und den Ländern überträgt sich in eine »Wahlverflechtung«7. Landespolitiker versuchen, die Zustimmung oder den Unmut über die Bundespolitik in Wählerstimmen bei Landtagswahlen umzumünzen. Nordrhein-westfälische Landtagswahlkämpfe sind von bundes-

5 Klaus Detterbeck/Wolfgang Renzsch: Symmetrien und Asymmetrien im bundesstaat- lichen Parteienwettbewerb, in: M. Haas/U. Jun/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008. 6 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2006, S. 87 ff. 7 Korte/Florack/Grunden, S. 43 ff.; Martin Florack/Markus Hoffmann: Die Bundesrepublik in der ›Wahlverflechtungsfalle‹, in: C. Derichs/T. Heberer (Hg.): Wahlsysteme und Wahl- typen, Wiesbaden 2006.

167 Karl-Rudolf Korte politischen Streitfragen überlagert worden und das Wahlverhalten kann die (Un-) Zufriedenheit mit der Bundespolitik reflektieren.8 Tatsächlich lässt sich eine Tendenz zum »Midterm-Effekt« bis in die 1980er Jahre nachweisen, demzufolge eine auf Bundesebene regierende Partei bei Land- tagswahlen umso schlechter abschneidet, je weiter der Wahltermin von Bundes- tagswahlen entfernt liegt.9 Besonders für NRW finden sich aber auch Beispiele, die den »Oppositionseffekt«, also dass Parteien, die im Bund regieren, auf Landes- ebene abgestraft werden, auch in kurzer zeitliche Entfernung zwischen den Wahlen nahelegen10: Bereits wenige Monate nach Bildung der schwarz-gelben Bundesregierung (2009) war es für Rüttgers in NRW (2010) nicht leicht, dem »Oppositionseffekt« zu entgehen. Zuvor, 2005, profitierte Rüttgers von der weit- verbreiteten Unzufriedenheit mit der rot-grünen Bundesregierung und konnte so die Wahl in NRW für sich entscheiden und Steinbrück ablösen.11 Allerdings kann man nicht von einem monokausalen Wirkungszusammen- hang zwischen bundespolitischer Stimmung und länderspezifischem Wählerver- halten ausgehen. Zum einen gibt es zahlreiche Ausnahmen von der Regel und zum anderen erfassen der »Midterm-« und »Oppositionseffekt« nicht die lang- fristige Dominanz einzelner Parteien in bestimmten Länderparteiensystemen. Landtagswahlen sind eben nicht nur kleine Bundestagswahlen, sondern gleichfalls Entscheidungen über Themen und Personen der Landespolitik. Prioritär kann

8 Wolfgang Bick: Landtagswahlen in NRW 1947–1985, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in NRW, Köln 1985; Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein- westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41/4 (2010); Uwe Andersen/Rainer Bovermann: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, in: S. Mielke/W. Reutter (Hg.): Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004; Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl; Korte: Wahlen in Nordrhein-West- falen. 9 Frank Decker/Julia von Blumenthal: Die bundespolitische Durchdringung der Land- tagswahlen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 33/1 (2002); Detterbeck/Renzsch: Parteienwettbewerb. 10 Ursula Feist/Klaus Liepelt: Volksparteien auf dem Prüfstand, in: D. Oberndörfer/K. Schmitt (Hg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 194 f.; Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein- Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 330. 11 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 22. Mai 2005, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 37/1 (2006).

168 NRW-Parteien auf Bundesebene dabei über Bildung, Hochschulpolitik, Schule, Polizei, innere Sicherheit, Energie und Umwelt im Hinblick auf eine landespolitische Agenda entschieden werden. Dies führt zu einer Abkopplung von Landes- und Bundesebene – auch bei den Parteien und ihren Landesverbänden. Die Regionalisierung der Landesparteien seit den 1990er Jahren – gerade in Abgrenzung zu den Bundesparteien12 – ist auch daran zu erkennen, dass sich die inhaltlichen Positionen in dem sozioöko- nomischen sowie dem innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Politikfeld zunehmend unterscheiden.13 In der ebenenübergreifenden »Wahlverflechtung« werden nicht nur Land- tagswahlen von der Bundesebene geprägt; auch die Bundestagswahlen werden in NRW mitentschieden. Rund ein Fünftel der Wahlberechtigten bei Bundes- tagswahlen lebt im bevölkerungsreichsten Bundesland.14 SPD, CDU, FDP und Grüne erhalten etwa ein Viertel ihrer Gesamtstimmen in NRW. Im Bundestags- wahlkampf des Jahres 2002 hieß es angesichts dessen aus dem Lager der SPD, dass mindestens fünf Millionen Stimmen aus NRW die Vorbedingung für die Rettung der Regierung Schröder sein würden. NRW war in diesem Zusammen- hang aber nicht viel mehr als eine Chiffre für das Ruhrgebiet. Hier lag der Schwer- punkt der sozialdemokratischen Mobilisierungskampagne. Drei Jahre später waren es wieder die Wähler in NRW, die diesmal indirekt über das Schicksal der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung entschieden. Als am Abend des 22. Mai 2005 die Niederlage der SPD bei der Landtagswahl Gewissheit wurde, sah Bundeskanzler Schröder keine Perspektive mehr für seine Regierung und kündigte Neuwahlen an.15 Dabei waren die Revierstädte die letzten sozialdemo-

12 Melanie Haas/Uwe Jun/Oskar Niedermayer: Die Parteien und Parteiensysteme der Bundesländer, in: M. Haas/U. Jun/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 20 f. 13 Marc Debus: Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung in den deutschen Bundes- ländern, in: M. Haas/U. Jun/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 74; vgl. für die Landtagswahl 2010: Marvin Bender/Matthias Bianchi/Andreas Jüschke/Jan Treibel: Der Duisburger NRW-Wahl- Index, Duisburg-Essen 2010. 14 Kranenpohl, S. 330. 15 Michael Feldkamp: Chronik der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 und der Auflösung des Deutschen Bundestages am 21. Juli 2005, in: Zeitschrift für Parla- mentsfragen 37/1 (2006); Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen.

169 Karl-Rudolf Korte kratischen Hochburgen gewesen. Doch der Vorsprung des Ruhrgebiets war nicht mehr ausreichend für den Machterhalt im Bund. Seit den 1990er Jahren sind systematische Abhängigkeiten zwischen Landtags- und Bundestagswahlen nicht mehr nachweisbar – außer bei der Wahlbeteiligung, die höher ausfällt, wenn beide Wahlen zusammenfallen. Gleichwohl bedeutet in der Regel eine höhere Wahlbeteiligung auch eine höhere Beteiligung der Wähler des Lagers der so genannten »nicht-bürgerlichen Parteien«16. Traditionell bürgerliche Wähler sind Regelwähler. Für alle anderen gilt, dass es besonderer Polarisierungen bedarf, um die Chancen der Wahlteilnahme zu erhöhen. Deshalb votieren einige Parteien für eine zeitliche Zusammenlegung von Landtagswahlen und Bundestagswahlen – was aber in NRW nie stattgefunden hat. Insgesamt ist die Wahlbeteiligung in NRW bei Landtagswahlen eher mittelmäßig. Sie liegt etwa zehn Prozent unter der bei Bundestagswahlen.17

2.2 Bundespolitische Bedeutung der Landesparteien und deren Mitglieder

Politische Parteien sind als »fragmentierte Organisationen«18 keine monolithischen Blöcke, sondern zeichnen sich durch eine ausgeprägte interne Differenzierung aus. In der vertikalen Dimension gliedern sie sich in Orts-, Kreis- und Landes- verbände sowie den Bundesverband und spiegeln insofern den föderalen Aufbau des deutschen Bundesstaates wider.19 Die deutschen Parteien sind vor diesem Hintergrund als »Mehrebenenorganisationen« zu begreifen.20

16 Gerd Mielke: Auf der Suche nach Mehrheiten, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 25/3 (2012). 17 Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen. 18 Uwe Jun: Politische Parteien als fragmentierte Organisationen im Wandel, in: U. Jun/B. Höhne (Hg.): Parteien als fragmentierte Organisationen, Opladen 2010. 19 Karl-Rudolf Korte/Manuel Fröhlich: Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn 2009, S. 147. 20 Haas/Jun/Niedermayer: Parteien und Parteiensysteme, S. 16; Kris Deschouwer: Political Parties as Multi-Level Organizations, in: R. Katz/W. Crotty (Hg.): Handbook of Party Politics, London 2009; Klaus Detterbeck: Parteien in föderalen Systemen, in: K. Detterbeck/S. Schieren/W. Renzsch (Hg.): Föderalismus in Deutschland, München 2010.

170 NRW-Parteien auf Bundesebene

2.2.1 Bedeutungsraum nach empirischen Daten Der Einfluss der nordrhein-westfälischen Landesverbände innerhalb dieser Mehrebenenstrukturen kann zunächst anhand markanter empirischer Kenn- ziffern erfasst werden. Dabei ist Größe in der Regel nicht gleichbedeutend mit politischem Einfluss, denn sonst hätten die kleineren Landesverbände der Parteien ein permanentes Handicap. Tabelle 1 zeigt den Anteil an der Gesamtmitgliederzahl der Bundesparteien.21 Für fast alle NRW-Parteien außer Die Linke gilt, dass sie gemessen an der Mit- gliederzahl und den Delegiertenstimmen in den jeweiligen Bundesorganisationen im Vergleich zu anderen Landesverbänden besonders bedeutsam sind, allen voran bei der CDU und der SPD. Im Zeitverlauf ist allerdings erkennbar, dass die Mitgliedschaftsanteile der NRW-Parteien im Verhältnis zu Gesamtpartei schrumpfen.22 Bild: Tab 1 Die Stärke der NRW-Landesverbände spiegelt sich auch im Anteil der nord- rhein-westfälischen Delegierten bei den Bundesparteitagen der fünf großen Parteien (vgl. Tab. 2). Bild: Tab 2

Tabelle 1: Anteil nordrhein-westfälischer Parteimitglieder an der Gesamtmitglieder- zahl CDU SPD FDP Grüne Linke Piraten Mitglieder­ 489.896 489.638 63.123 59.074 69.458 33.724 zahl (­insgesamt) NRW 150.257 127.765 15.533 12.578 8.123 6.413 Anteil 30,67 % 26,09 % 24,61 % 21,29 % 11,69 % 19,02 % (in Prozent)

Quelle: Vgl. für CDU, SPD, FDP, Grüne und Linke: Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2012, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 19, Berlin 2012 (Stand: 31.12.2011). Bezug CDU: Bundesgebiet außer Bayern; Piratenpartei: Eigenauskunft (Stand: Gesamtmitgliederzahl vom 1.1.2013; Landesverbandsmitglieder vom Oktober 2012). Eigene Dar- stellung.

21 Die empirischen Daten in diesem Teilkapitel wurden weitgehend von Julia Staub, Susanne Steitz und Steffen Bender (Forschungsgruppe Regieren) recherchiert. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle besonders bedanken. 22 Kranenpohl, S. 331.

171 Karl-Rudolf Korte

Tabelle 2: Anteil nordrhein-westfälischer Delegierter an Bundesparteitagen23 CDU SPD FDP Grüne Linke Insgesamt 1.001 600 660 800 550 NRW 301 151 155 160 64 Anteil 30,07 % 25,17 % 23,48 % 20,00 % 11,64 % (in Prozent)

Quelle: Eigene Recherche. Angaben beziehen sich auf: CDU 25. BPT Hannover (16.–18.11.2012), SPD außerordentlicher BPT Hannover (09.–11.12.2012); FDP 63. BPT Karlsruhe (20.–22.4.2012); Grüne 34. BDK Hannover (3.–5.12.2012); Linke 3. BPT Göttingen (2.–3.6.2012). Eigene Dar- stellung.

Überdies sind Politiker aus NRW in der Bundespolitik, in den Parteispitzen und der Regierung stets prominent vertreten gewesen. Für die NRW-SPD nahmen vor allem Johannes Rau und Franz Müntefering wichtige Führungsaufgaben in ihrer Bundespartei wahr. Wolfgang Clement wurde unter Kanzler Schröder zum »Superminister« für Arbeit und Finanzen. Der Spitzenkandidat für den Bundes- tagswahlkampf 2013 ist der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück. Ihn holte ebenfalls die Bundespartei ins Kabinett der Großen Koalition – als Bundesfinanzminister. Die Koordinatorin der so genannten A-Länder (SPD) im Bundesrat ist inzwischen die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Eine gleichermaßen wichtige politische Ahnengalerie kann man für die zweite große Volkspartei, der CDU, jedoch nicht aufzeigen.24

23 Die Piraten haben kein Delegiertensystem. Daher ist die Anzahl der anwesenden Mit- glieder aus den jeweiligen Landesverbänden stark vom Austragungsort des Parteitags abhängig. Beim vorletzten Parteitag der Piratenpartei in Neumünster (10. BPT, 2012.1) lag der Anteil der NRW-Mitglieder an der Gesamtzahl der Teilnehmer mit 196 von 1.491 bei lediglich 13,15 Prozent, wobei der Anteil der NRW-Mitglieder der Piratenpartei zum Zeitpunkt des Parteitags in Neumünster bei 17,38 Prozent lag. 24 Welchen Einfluss Parlamentarier in Berlin entwickeln, hängt auch immer von der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer Landesgruppe im Deutschen Bundestag ab. Wenn- gleich in der Öffentlichkeit diese Landesgruppen auf wenig Resonanz stoßen, bleiben sie wirkungsmächtig im informellen Hintergrund – vor allem bei anstehenden Personalent- scheidungen und dem zeitlichen Agendasetting von Bundesgesetzen.

172 NRW-Parteien auf Bundesebene

Tabelle 3: Anteil des NRW-Landesverbandes am Gesamtfinanzaufkommen der Parteien Gesamteinnahmen durch Landes­ Anteil Partei Gesamteinnahmen verband NRW (in Prozent) CDU 138.050.074,87 € 33.335.707,55 € 24,15 % SPD 147.186.628,05 € 26.871.745,82 € 18,26 % Grüne 31.240.990,72 € 7.489.201,55 € 23,97 % FDP 34.350.968,37 € 7.875.016,56 € 22,93 % Linke 27.851.633,38 € 3.520.048,69 € 12,64 % Piratenpartei 1.255.147,87 € 159.772,59 € 12,73 %

Quelle: Rechenschaftsberichte der Parteien für das Kalenderjahr 2010. Eigene Darstellung.

Zuletzt sollen noch die Finanzflüsse zwischen Landes- und Bundespartei dokumentiert werden (vgl. Tab. 3). Auch hierbei zeigt sich, dass die NRW-Parteien Bild: Tab. 3 eine wichtige Rolle einnehmen, um die finanzpolitischen Verpflichtungen der Bundespartei sicherzustellen.

2.2.2 Bedeutungsraum nach politischer Gewichtung Wie gezeigt wurde, nehmen die nordrhein-westfälischen Landesverbände im innerparteilichen Machtgefüge nahezu aller Bundesparteien allein aufgrund ihrer relativen Größe eine bedeutende Rolle ein. Allerdings folgt daraus nicht in allen Fällen zwangsläufig ein entsprechender politischer Einfluss, wie im Folgenden für die einzelnen Parteien beleuchtet wird.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Wie jede Partei muss auch – und gerade – die SPD mit publizistischen Stereo- typen leben. Sie werden immer wieder erneuert, weitergegeben und still- schweigend unterstellt, ohne überprüft oder hinterfragt zu werden.25 Ein

25 Vergleiche zu den nachfolgenden Überlegungen Timo Grunden, der durch seinen Beitrag Die SPD: Zyklen der Organisationsgeschichte und Strukturmerkmale inner- parteilicher Entscheidungsprozesse, in: K.-R. Korte/J. Treibel 2012, S. 93–120 pointierte

173 Karl-Rudolf Korte zentraler SPD-Stereotyp ist die Vorstellung einer mentalen Oppositionspartei, die an der Regierungsverantwortung leidet. Der »linke« Mittelbau der Partei – mehr noch als die Basis – mache es der Führung schwer bis unmöglich, »Real- politik« zu betreiben. Linke Wunschvorstellungen zerschellten regelmäßig an der »Wirklichkeit«, was die SPD aber immer ihrer eigenen Führung zu Last lege. Am Ende scheiterten sozialdemokratische Regierungen stets an ihrer notorisch unzufriedenen und zerstrittenen Partei. Das ist – wenn überhaupt – allerdings immer nur die halbe Wahrheit gewesen und für keine Landespartei treffen diese Vorurteile weniger zu als für die nordrhein-westfälische SPD. Die NRW-SPD war nie eine »mentale Oppositionspartei«. Sie hat das Land 41 der letzten 46 Jahre regiert (am Ende der aktuellen Legislaturperiode im Jahr 2017 werden es sogar 46 von 51 Jahren sein). In NRW Regierungspartei zu sein, gehört insofern zu ihrem Selbstverständnis, wie es sonst nur bei der CSU in Bayern oder bei der CDU in Baden-Württemberg der Fall ist. In den 1980er und 1990er Jahren verstand sich die SPD gar als Staatspartei an Rhein und Ruhr. Regierungsmacht auszuüben ist für sie mindestens genauso wichtig wie eine programmatische Identitätsstiftung (auf der Seite der »Guten« zu sein). Dass es der Sauerländer und NRW-Politiker Franz Müntefering war, der diesen Machtanspruch auch im Bewusstsein der Bundespartei verankern wollte (»Opposition ist Mist«), ist somit kein Zufall. Wenn es galt, Regierungsmacht zu erwerben oder zu erhalten, konnte sich jede Bundesspitze auf den NRW-Landesverband verlassen. Aus NRW wird der Machtwillen der Bundes-SPD zu großen Teilen gespeist. Auch anderen SPD- Hochburgen kommt diese Rolle zu, beispielsweise Hamburg und in den 1990er Jahren auch Niedersachsen und Brandenburg sowie früher Hessen (Nord). Ohne einen deutlichen Stimmenvorsprung in NRW gewinnt die Bundes- SPD keine Wahlen. NRW ist zwar nicht alles, aber ohne NRW wird kein Sozial- demokrat Kanzler. Die Bedeutung des Landes für bundespolitische Macht- konstellationen wird immer wieder deutlich: Nirgendwo mischt sich die Bundes- partei so stark ein wie hier. Das rot-grüne Regierungsbündnis musste nach der Landtagswahl 1995 geschlossen werden, um sich diese Machtoption auch für den Bund zu erschließen; 2002/2003 verhinderten Schröder und Clement einen Koalitionsbruch, weil sonst auch die Koalition im Bund gescheitert wäre; 2010 drängte Gabriel auf die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung.

Anregungen, Ideen und Textfragmente für dieses Teilkapitel über die Gewichtung der politischen Bedeutung von der NRW SPD lieferte.

174 NRW-Parteien auf Bundesebene

Die NRW-SPD ist diszipliniert und führungsorientiert. Flügelkämpfe und öffentlicher Streit sind weitgehend unbekannt. Das ist neben dem Selbstver- ständnis als Regierungspartei auch eine Folge ihrer Verwurzelung als »Gewerk- schaftspartei«: Gerade die Industriegewerkschaften sind für ihre hierarchischen Organisationsrealitäten bekannt und diese Kultur übertrug sich auf die NRW- SPD. Der Aufstieg der SPD zur Dauer-Regierungspartei begann mit dem Wandel zur »Gewerkschaftspartei«. Ihr relativer Abstieg ist vor diesem Hintergrund auch auf die Organisationsschwäche der Industriegewerkschaften zurückzuführen.26 Doch noch heute ist die NRW-SPD im Hinblick auf Wähler und Mitglieder mehr als jeder andere Landesverband eine Gewerkschaftspartei (und natürlich eine Partei des Öffentlichen Dienstes, aber das gilt für alle Landesverbände). Das hat zwei Konsequenzen: Auf der einen Seite üben die Gewerkschaften über die NRW-SPD großen Einfluss auf das allgemeine sozialpolitische Programm der SPD aus. Auf diesem Feld vertritt sie »traditionelle« Positionen. Übersehen wird aber oft der zweite Aspekt: Als Gewerkschaftspartei ist die SPD in NRW auch automatisch eine »Wirtschaftspartei«, oder genauer eine »Industriepartei«. Knapp ein Drittel der deutschen DAX-Unternehmen haben ihren Sitz in NRW. Als Regierungspartei wird jede Partei so schnell zu deren Anwältin. Aber gerade die Einzelgewerkschaften vertreten über ihre Vernetzung zur SPD auch die Interessen ihrer Branchen und Unternehmen (das Paradebeispiel ist die Energiepolitik unter Schröder/Clement). Denn nur, wenn es diesen wirtschaftlich gut geht, lassen sich Jobs erhalten und höhere Löhne durchsetzen. Die Einzelgewerkschaften besitzen in NRW großen Einfluss, der auf die Bundesebene weitergeleitet wird. Die Melange aus Regierungspartei auf kommunaler Ebene und auf Landes- ebene einerseits sowie Gewerkschafts- bzw. Wirtschaftspartei andererseits prägt das politisch-kulturelle Selbstverständnis der NRW-SPD. Die Kerngruppen in Mitglied- und Wählerschaft (insbesondere im Ruhrgebiet) würden sich nicht in erster Linie als »links« oder als »Linke« bezeichnen, was hier eher mit post- materialistischen – also »grünen« – bzw. mit sozialistischen Positionen assoziiert wird. Sozialdemokratisch zu sein heißt in NRW viel mehr, pragmatische »Kümmer-Politik« für Jobs und soziale Gerechtigkeit zu betreiben. In der Ver- kehrspolitik, in der Umweltpolitik, aber auch bei der Inneren Sicherheit ver-

26 Korte/Florack/Grunden, S. 47 ff.

175 Karl-Rudolf Korte tritt die NRW-SPD traditionell eher konservative Positionen. Dieses politisch- kulturelle Selbstverständnis erklärt auch zum Teil die erbitterten Auseinander- setzungen zwischen Grünen und SPD in den 1990er und frühen 2000er Jahren, nicht nur auf Landesebene, sondern auch in den Kommunen des Landes. Mehr als sonst in Deutschland ist die NRW-SPD eine Großstadtpartei – ein Pfund, mit dem die Partei wuchern kann, denn die durchschnittliche Größe der NRW-Kommunen ist mit 50.000 Einwohnern fünfmal so groß wie in Bayern oder Baden-Württemberg. Die ländlichen Gebiete am Niederrhein, um Bonn und in Ost-Westfalen sind zwar fest in CDU-Hand. Aber die wahlentscheidenden Ballungsräume sind weithin sozialdemokratisch geprägt, wenn auch längst nicht mehr mit absoluten Mehrheiten. Die Partei ist hier mit gesellschaft- lichen Problemen konfrontiert, die als Schlüsselprobleme in Deutschland gelten können: Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Migration und Integration, Bildungsgefälle, demografischer Wandel, Gentrifizierung usw. Hier treten all diese Probleme früher und zusätzlich in verschärfter Form auf. Diese Konstellation fördert ein politisches Denken in pragmatischen Reformschritten. In NRW entsteht angesichts dessen ein Erfahrungsschatz – im Guten wie im Schlechten – den sich die Gesamt-Partei für ihre programmatische Arbeit zu Nutze machen kann. NRW diente der SPD immer wieder als Gegenprojekt zu schwarz-gelben Bundesregierungen und als Vorzeigeprojekt für sozialdemokratische Politik: Struktur- und Bildungspolitik unter Johannes Rau in den 1980er Jahren, heute die »vorbeugende Sozialpolitik« unter Ministerpräsidentin Kraft.

Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) Anders als bei der SPD ist die Bedeutung der Landes-CDU für die Bundespartei eher gering, was mit organisatorischen, inhaltlichen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen zusammenhängt.27 Der nachlassende Einfluss gilt vor allem für die letzten Jahrzehnte. In der Frühphase der Bonner Republik leitete die nord- rhein-westfälische CDU ihr Gewicht aus ihrem besonderen Stellenwert ab. Aus- gehend von der föderalen Tradition der CDU28 können spezifische historisch

27 Vergleiche zu den nachfolgenden Überlegungen Oliver D’Antonio und Christian Werwath, die durch ihren Beitrag zur CDU, in: K.-R. Korte/J. Treibel 2012, S. 35–62 pointierte Anregungen, Ideen, Textfragmente für dieses Teilkapitel lieferten. 28 Josef Schmid: Die CDU, Opladen 1990.

176 NRW-Parteien auf Bundesebene gewachsene Kulturmuster in den Landesverbänden der Partei ausgemacht werden.29 Die föderale Prägung und die landesspezifischen Besonderheiten sind bei der CDU stärker ausgeprägt als bei anderen politischen Parteien. Während in Nordrhein-Westfalen das Sozialkatholische immer wieder neue Renaissancen erfährt, findet sich in Baden-Württemberg ein stärker wirtschaftsliberaler und gesellschaftspolitisch eher konservativer Einschlag. Die landsmannschaftlichen Begebenheiten in Niedersachsen wiederum prägen bis heute zwei fast eigen- ständige Landesverbände im Dachverband der niedersächsischen CDU. Die nordrhein-westfälische CDU weist neben der traditionell starken sozial- katholischen Dimension und dem historisch großen Einfluss der Christlich- Demokratischen Arbeiterschaft (CDA) im Landesverband (z. B. , Hans Katzer und Karl-Josef Laumann) noch weitere Besonderheiten auf. Denn der Schutzherr der sozialen Marktwirtschaft, , und der erste Bundes- kanzler, Konrad Adenauer, entstammten diesem Verband. Diese personellen Überschneidungen sorgten für zusätzliche informelle – machtpolitische – Pfad- abhängigkeiten zwischen der Bundesebene und ihren Institutionen (Bundesvor- stand, Geschäftsstelle, Kanzleramt, Fraktion) und dem Landesverband. Hinzu kommt: Je nach Mitgliederzahl der Landesverbände sowie nach Verhältnis der Zweitstimmen bei Bundestagswahlen für die Landesliste werden Delegierte auf die Bundesparteitage entsandt. Der CDU-Landesverband Nordrhein-West- falen entsendet die meisten Delegierten und hat dementsprechend einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung (vgl. Tab. 2). Das Bundesland mit der größten Einwohnerzahl galt traditionell auch für die CDU als wahlpolitisch besonders bedeutsam. Katholizismus und Arbeiterschaft, großindustrielle Urbanität und agrarische Regionen prallten hier aufeinander. »Das Land der CDU, die Stadt der SPD« galt einige Jahrzehnte als Faustformel jeder Wahlanalyse. NRW benötigte aufgrund seiner Heterogenität immer eine besondere Ansprache und Identitätsbildung. Unter Karl-Josef Laumann und auf Basis des Parteitagsbeschlusses von 2011 zum Mindestlohn, aber auch schon früher aufgrund des Arbeitnehmerzulaufs zur CDU bei der Landtagswahl 2005, kann ein Wiederaufleben der CDA-Tradition der NRW-CDU gesehen werden. Rüttgers versuchte als »soziales Gewissen« die

29 Franz Walter/Christian Werwath/Oliver D’Antonio: Die CDU, Baden-Baden 2011.

177 Karl-Rudolf Korte

CDU zu positionieren, was aber bei den Wahlen zum stellvertretenden Bundes- vorsitzenden auf dem Bundesparteitag 2006 zu einem Negativergebnis führte.30

Freie Demokratische Partei (FDP) Die Liberalen in NRW stellen eindeutig ein Machtzentrum für die Bundes- partei dar.31 Innerparteiliche und programmatisch-strategische Kontroversen der Bundespartei zeigten sich wie im Brennglas markant in NRW. Das Personal der Bundespartei ist ohne NRW-Bezug nicht denkbar. Fünf der 13 Bundesvor- sitzenden der FDP kamen aus NRW: , , Hans-Dietrich Genscher, und Guido Westerwelle. Auch andere wichtige Funktionsträger stammen aus NRW, ebenso viele der ehemaligen Bundesvor- sitzenden der 1980 in Bonn gegründeten Jungen Liberalen (JuLis): Guido Wester- welle, Michael Kauch, Daniel Bahr, Johannes Vogel. Der NRW-Einfluss auf die Bundespartei scheint bei der FDP am größten.32 Auch das neue Grundsatzprogramm von 2012 trägt eindeutig die Hand- schrift des NRW-Parteivorsitzenden Christian Lindner, der dies als General- sekretär mitgestaltete. Ohne NRW-Engagement wären auch die abweichenden Flügelmeinungen zum Euro nicht erklärbar, denn der so genannte »Liberale Aufbruch« von Frank Schäffler, der zum Mitgliederentscheid führte, hat seinen Nährboden in NRW. Legendär ist mittlerweile die »Wahlkampfstrategie 18« aus den Möllemann-Zeiten. Auch historisch betrachtet war NRW immer schon Hauptkampffeld von innerparteilichen und programmatisch-strategischen Aus- einandersetzungen der Bundespartei.33

Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) Die Grünen verfügen über einen föderalen Gründungsmythos, der für die Landesverbände einen nur sehr indirekten Einfluss auf Bundesebene zulässt. Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte der Grünen verfügen die Landesver-

30 Kranenpohl, S. 331. 31 Vgl. im Folgenden v. a. Jan Treibel: Die FDP, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie ent- scheiden Parteien?, Baden-Baden 2012. 32 Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern, München 2010, S. 296. Siehe auch das Kapitel von Treibel in diesem Band. 33 Kranenpohl, S. 331.

178 NRW-Parteien auf Bundesebene bände bei Bündnis 90/Die Grünen über weit reichende Autonomie.34 Allgemein sind die Steuerungsmöglichkeiten der Parteizentrale im Bund begrenzt und die Landesverbände positionieren sich gegenüber der Bundespartei als selbstbewusste Akteure.35 Vor allem bei Gründung und Etablierung der Partei spielten die NRW- Grünen eine einflussreiche Rolle. Nicht nur war der Landesverband nach kurzer Zeit der mitgliederstärkste der ganzen Partei, sondern auch in der Bundes- tagsfraktion bildeten die Abgeordneten aus NRW eine große Gruppe: In der ersten Fraktion kamen acht von 28 Abgeordneten aus NRW, in der zweiten elf von 44. Hinzu kam, dass durch die schwache Parteiorganisation in NRW und die fehlende Landtagsfraktion sich viele aktive und engagierte Grüne entweder für die Kommunen oder die Bundesebene als Betätigungsfeld entschieden.36 Erleichtert wurde Letzteres sicherlich nicht zuletzt dadurch, dass die Hauptstadt Bonn geografisch günstig in NRW lag. Einzelne grüne NRW-Politiker hatten in der Folge erhebliche Bedeutung für die Entwicklung der Bundespartei, beispiels- weise , Ludger Volmer oder Kerstin Müller. Auch eine programmatische Einflussnahme findet sich – so etwa beim Sindelfinger Programm, bei dem die NRW-Grünen einen wesentlichen Beitrag zur Verankerung eines gemäßigten Kurses in der Wirtschaftspolitik lieferten.37 Auf der elektoralen Ebene zeichnet sich in Hinsicht auf den Zusammenhang von NRW und Bundesebene ein wechselhaftes Bild. Entsprechend der fehlenden Repräsentation im Landtag erzielten die Grünen bei Bundestagswahlen in NRW zunächst Ergebnisse unterhalb des Bundesschnitts. Parallel zur Regierungs- beteiligung in der rot-grünen Landesregierung von 1994 bis 2002 fielen die

34 Vgl. zu den nachfolgenden Überlegungen Niko Switek, der durch seinen Beitrag zu den Grünen, in: K.-R. Korte/J. Treibel 2012, S. 121–154 pointierte Anregungen, Ideen und Textfragmente für dieses Teilkapitel über die Gewichtung der politischen Bedeutung von der NRW Grünen lieferte; Kranenpohl, S. 331. 35 Siehe Switek in diesem Band. 36 Joachim Raschke: Die Grünen, Köln 1993. 37 Helmut Wiesenthal: Die Grünen in Nordrhein-Westfalen, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 158; Niko Switek: Wach- hund oder Schoßhund? Die Rolle der Parteibasis vor und nach der Wahl, vor und nach der Koalitionsbildung, in: F. Decker/E. Jesse (Hg.): Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2013 (i. E).

179 Karl-Rudolf Korte

Resultate besser aus als im Bund. Bei den Wahlen 2005 und 2009 lagen sie aber wieder unter dem Bundesschnitt. Die besondere Stellung der nordrhein-westfälischen Grünen lässt sich daran ablesen, dass Ereignisse in NRW immer Konsequenzen für andere Landesver- bände oder die Gesamtpartei hatten. So beschäftigte der verfehlte Einzug in den Landtag 1985 alle grünen Gremien38: Man diskutierte, inwieweit das für eine Kurzfristigkeit des grünen Parteiprojekts stehe und ein Ende der Erfolgsgeschichte bedeute. Gleichzeitig ergab sich dadurch ein Anstoß, Fragen der Organisation, des Programms und des Personals zu überdenken. Dasselbe galt mit umgekehrten Vorzeichen für die 1995 gebildete erste rot- grüne Landesregierung in NRW. Das Bündnis sollte ein positives Signal aus- senden, man erhoffte sich von der Regierungsbeteiligung Rückenwind für einen Regierungswechsel im Bund für die Bundestagswahl 1998: Erstens sollte der Öffentlichkeit Rot-Grün als attraktives Koalitionsmodell präsentiert werden und zweitens setzten die Akteure auf Lernprozesse zur Vorbereitung einer ent- sprechenden Bundesregierung. Dabei hatte das Bündnis in der Regierungspraxis alles andere als Modellcharakter – die Fortsetzung der Zusammenarbeit 2000 erforderte bei beiden Parteien deutlichen Druck von der Bundespartei.39 Auch bei der Entscheidung für das Experiment einer Minderheitsregierung nach der Landtagswahl im Jahr 2010, die gerade auch auf Druck der Grünen zustande kam, bestand eine enge Abstimmung zwischen den NRW-Grünen und der Bundespartei.40 Das Beispiel zeigt, dass die in Anfangsjahren wichtige und in Anspruch genommene Autonomie inzwischen einer professionalisierten Ver- flechtung gewichen ist. Man koordiniert sich eng und bedenkt Konsequenzen für andere Gliederungen sowie strategische Fragen mit. Zwar gab es stets Schwankungen, aber die Parteimitglieder der Grünen in NRW machen in der Regel ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft aus (vgl. Tab. 1). Nach dem anfänglich hohen Einfluss sind sie jedoch inzwischen auf Bundes- ebene – was wichtige Ämter in der Partei und im Bundestag angeht – eher

38 Wiesenthal, S. 160. 39 Switek: Wachhund oder Schoßhund; Niko Switek: Grüne Partnerwahl: Innerparteiliche Entscheidungsprozesse und Koalitionsoptionen bei Bündnis 90/Die Grünen auf Länder- ebene, Baden-Baden 2013 (i. E.). 40 Switek: Bündnis 90/Die Grünen; Karl-Rudolf Korte: Labilität wagen, in: Die Zeit vom 2.9.2010.

180 NRW-Parteien auf Bundesebene unterrepräsentiert. Der letzte NRW-Grüne in einem Parteivorsitzenden-Amt war Ludger Volmer 1994. Die NRW-Grüne Kerstin Müller war von 1994–2002 Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion; aktuell ist der Kölner Grüne Parlamentarischer Geschäftsführer. Ein Minister auf Bundesebene konnte bisher nicht gestellt werden, allerdings war Ludger Volmer unter Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Im Bundestag sind in der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 nur noch 14 von 68 Abgeordneten aus NRW.

DIE LINKE (Linke) Die Linke hat mit dem Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag im Jahr 2010 ihren Prozess der Parteiwerdung und Westintegration gefeiert. Aber nach nur einer – verkürzten – Wahlperiode schied sie bereits 2012 wieder aus dem Landtag aus. Zwei Hauptströmungen prägen die innerparteilichen Auseinandersetzungen: die Reformer und die Orthodoxen.41 Durch die WASG-Gründungsgeschichte sammelten sich die Orthodoxen in NRW, die auch maßgeblich zur WASG- Entstehung beigetragen hatten. Die Reformer organisieren sich weitgehend über die ehemalige PDS, die als ostdeutsche Volkspartei gilt. Die Linke ist durch die starke Vertretung im Osten in NRW eher marginalisiert. Durch die Fusion von WASG und PDS bleibt es sehr schwer, einen Einfluss von NRW auf die Gesamt- partei festzustellen. Hervorgehoben sind eher einzelne Spitzenfunktionäre, wie z. B. Sarah Wagenknecht, die im Jahr 2013 auch NRW-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl ist.

Piratenpartei (Piraten) Ebenso wie bei der Linken hatte der Einzug der Piraten in den Landtag von Düsseldorf im Jahr 2012 Signalwirkung. Die NRW-Piraten zählen im Vergleich zu anderen Verbänden zu den großen Einheiten.42 Durch ihre Präsenz in vier Landesparlamenten schält sich auch der Charakter einer Fraktionspartei neu heraus, den es bislang weder virtuell noch real bei den Piraten gab. Ob sich hier- durch tatsächlich Machtveränderungen messen lassen, ist zur Zeit noch nicht erkennbar. Welche Akzente von NRW für die Bundespartei ausgehen, ist gegen-

41 Torsten Oppelland/Hendrik Träger: DIE LINKE, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, Baden-Baden 2012, S. 189 ff. 42 Christoph Bieber/Markus Lewitzki: Die Piratenpartei, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien?, Baden-Baden 2012, S. 219 ff.

181 Karl-Rudolf Korte wärtig ebenso wenig analysierbar. Ob Personen aus NRW eine Chance haben, in der Bundespartei zu reüssieren, ist angesichts der Größenordnung des Landes- verbands zwar nicht unwahrscheinlich, bleibt jedoch im Moment Spekulation.

2.3 Bundespolitische Bedeutung der Koalitionsbildung

Auch die Koalitionsbildung auf der Ebene der Länder wird von Entwicklungen auf der Bundesebene beeinflusst, denn die Meinungsbildungsprozesse in Landes- parteien sind nicht von denen auf der Bundesebene abgekoppelt.43 Zudem wirken sich Koalitionsbildungen auf Länderebene auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat aus. Dies kann weitreichende Konsequenzen für die Handlungsfähig- keit der im Bund regierenden Koalition haben.44 Immerhin verfügt NRW über sechs Stimmen im Bundesrat. Zudem hat Nordrhein-Westfalen mit der Minister- präsidentin Hannelore Kraft mittlerweile die Koordination der A-Länder von Rheinland-Pfalz übernommen. Daraus zu schlussfolgern, die Koalitionsbildung in Bund und den Ländern sei einer »fulminanten Gleichschaltungspolitik«45 unterworfen, geht jedoch an der landespolitischen Realität vorbei. Das kann schon deshalb nicht der Fall sein, »weil bei aller Verschränkung die Parteien- systeme in den Ländern keine ›Blaupause‹ des Parteiensystems auf Bundesebene darstellen. Sie unterscheiden sich von diesem durch die politischen Kräftever- hältnisse, die Strukturen der Parteien und das in Koalitionen geregelte Verhältnis zueinander«46. Die Bildung von Koalitionen in den Ländern, die jenseits bekannter Koalitionsmodelle auf Bundesebene erfolgt, dient oft als Experiment mit dem Ziel, »Innovationen für den Bund vorzubereiten«.47 So galten die Bildung der sozial-liberalen Koalition 1966 und die der rot-grünen Koalition 1995 in Düssel- dorf als Testläufe für die nachfolgenden Regierungswechsel auf Bundesebene.48

43 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2006, S. 43 f.; Detterbeck/Renzsch. 44 Timo Grunden: Nach dem Machtwechsel der Politikwechsel?, Duisburg 2004, S. 76 ff. 45 Joseph Anton Völk: Regierungskoalitionen auf Bundesebene, Regensburg 1989, S. 123. 46 Herbert Schneider: Parteien in der Landespolitik, in: O. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 391. 47 Schneider, S. 391 f. 48 Kranenpohl, S. 332.

182 NRW-Parteien auf Bundesebene

Gleiches galt für die Minderheitsregierung von 201049; unter den Bedingungen von Vielparteien-Parlamenten, Multioptionswahlkämpfen und der Stärkung der Ministerpräsidenten-Demokratie schien dies eine Option mit bundespolitischem Testcharakter zu sein.

3. Fazit

In der Bonner Republik war der Einfluss der NRW-Parteien und des Parteien- wettbewerbs auf bundespolitische Herausforderungen größer als in der Berliner Republik.50 Insgesamt spielen in den bundesdeutschen parteipolitischen Macht- landschaften die Parteien aus NRW dennoch eine wahrnehmbare Rolle. Das hängt verständlicherweise mit der Einwohnerzahl des Landes zusammen. Aber, wie die Analyse gezeigt hat, bleibt dies nicht auf bloße Quantitäten beschränkt. Auch die Qualität des Parteienwettbewerbs und ihres differenzierten Personals hat bundespolitische Auswirkungen. Doch bleiben die Konsequenzen überschau- bar und punktuell, was in der Gesamtgeschichte der Bundesrepublik Deutsch- land für NRW durchaus einem Machtabstieg gleichkommt.

49 Korte: Labilität wagen; Niko Switek: Wieder einmal Trendsetter?, Duisburg 2011. 50 Korte/Fröhlich.

183

Uwe Andersen links: Uwe Andersen rechts: Parteien auf der kommunalen Ebene in Nord- Parteien auf der kommunalen Ebene rhein-Westfalen in Nordrhein-Westfalen

In dem für Deutschland geltenden politischen Mehrebenensystem – mit den mindestens vier Ebenen Kommunen, Land, Bund, Europäische Union (EU) – wird die kommunale Ebene zu Recht als die basisnächste, also der Bevölkerung besonders nahestehende Ebene angesehen. Diese »Nähe« betrifft unterschiedliche Dimensionen1: – räumliche Nähe: Im Vergleich zu den höheren politischen Entscheidungs- ebenen liegt hier zweifellos ein Vorteil, der allerdings im Hinblick auf die Größe der Gemeinde zu relativieren ist, sodass etwa in den Großstädten keines- wegs mehr die räumliche Vertrautheit der Bürgerschaft mit ihrer Kommune insgesamt vorausgesetzt werden kann; – sachliche Nähe: In dieser Dimension wird mit einer größeren Problemnähe sowohl der Entscheidungsebene Kommune – also Kenntnis der besonderen Bedingungen »vor Ort« – als auch der Bürgerschaft argumentiert. Auch wenn der Hinweis auf größere Eigenerfahrung und darauf gestützt bessere Urteils- fähigkeit der Bürgerschaft in kommunalen Fragen einen zutreffenden Kern enthält, bleibt er differenzierungsbedürftig. Häufig ist die angenommene größere Sachnähe der Bürgerschaft mehr Schein als Sein, da komplexe Probleme wie Stadtplanung sich keineswegs allein unter Rückgriff auf Alltags- erfahrung bewältigen lassen; – soziale und politisch-personelle Nähe: Damit wird zum einen das soziale Klein- klima, eine besondere Vertrautheit im gegenseitigen Verhalten gemeint, zum anderen aber auch der davon mit beeinflusste Stil der politischen Diskussion und die politische Einflusschance der Bürgerschaft angesprochen. In der Regel ist der Kontakt zu den politischen Repräsentanten auf der Gemeindeebene leichter herstellbar und die Gefahr der Entfremdung zwischen Repräsentanten

1 Uwe Andersen: Gemeinden/kommunale Selbstverwaltung, in: U. Andersen/W. Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 7. Auf- lage, Wiesbaden 2013, S. 241 f.

185 Uwe Andersen

und »Basis« geringer, zumal das Spektrum der politischen Partizipations- formen größer ist; – emotionale Nähe: Häufig wird eine größere Identifikations- und Engagements- bereitschaft der Bürgerschaft auf der kommunalen Ebene angenommen. Auch hier gilt aber, dass die Bindungskraft von Gemeinden und Städten von vielen Faktoren beeinflusst wird, z. B. hohe Mobilität sich tendenziell negativ aus- wirken dürfte.

Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass auch die kommunale Selbstverwaltung nicht »unpolitisch« ist, das heißt nicht allein verwaltungstechnische Fragen des »wie«, sondern auch politische Fragen des »ob« getroffen und verantwortet werden müssen. Umstritten ist gleichwohl, ob für die kommunale Ebene in Deutschland das auf den höheren Ebenen anzutreffende Modell der mehrheitsorientierten Konkurrenzdemokratie oder das Modell der konsensorientierten Konkordanz- demokratie mit starker Stellung der Verwaltungsexekutive geeigneter ist. Diese Kontroverse berührt zentral die Frage, welche Rolle Parteien und Parteien- konkurrenz auf der kommunalen Ebene spielen sollten und spielen, wobei sich wiederum die Größe der Kommune als wichtiger Einflussfaktor erweist.2 Die kommunale Ebene ist in Deutschland traditionell sehr stark. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war sie die einzige noch halbwegs funktions- fähige Verwaltungsebene und die alliierten Siegermächte haben bewusst versucht die politische Demokratie »von unten«, von der kommunalen Ebene als eine Art »Schule der Demokratie« her, wieder aufzubauen. Auf diese Ausgangssituation hatten sich die Parteien einzustellen und wurden von ihr mitgeprägt. Dabei hatten sie besondere Rahmenbedingungen für die Kommunalpolitik in NRW3 zu berücksichtigen.

2 Für die Rolle der Parteien auf der kommunalen Ebene vgl. Jörg Bogumil: Parteien in der Kommunalpolitik, in: D. Gehne/T. Spier (Hg.): Krise oder Wandel der Parteiendemo- kratie?, Wiesbaden 2010. 3 Für einen jüngeren Überblick für Nordrhein-Westfalen vgl. Andreas Kost: Kommunal- politik in Nordrhein-Westfalen, in: A. Kost/H.-G. Wehling (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2010.

186 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen

1. Spezifische kommunale Rahmenbedingungen in NRW

Die Organisation und die Arbeit der Parteien auf lokaler Ebene werden in hohem Maße von der Bevölkerungsgröße und nachrangig auch von der Flächengröße und Siedlungsstruktur der jeweiligen Gemeinde/Stadt geprägt. Ab Mitte der 60er Jahre hat in allen Flächenländern der alten Bundesrepublik eine kommunale Gebietsreform stattgefunden, die auf eine erhebliche Bevölkerungsvergrößerung durch Zusammenlegung gerade der kleinen Gemeinden und »Eingemeindung« in größere Gemeinden zielte, um ihre administrative und finanzielle Kraft an die Aufgabenvermehrung und zunehmende Leistungserwartungen anzupassen. NRW ist dabei am weitesten gegangen. Gegen teils heftigen Widerstand der Bevölkerung – z. B. bei der Eingliederung auch großer Städte wie Wattenscheid in Bochum und Wanne-Eickel in Herne – ist im Schulterschluss von SPD und CDU bis 1976 eine Gebietsreform durchgesetzt worden, die die Zahl der Gemeinden von 2.362 auf 396 und damit auf ein Sechstel verringert hat (nur drei Ausnahmen für Gemeinden unter 5.000 Einwohner). Die Zahl der Kreise ist von 57 auf 31 geschrumpft und ist damit fast halbiert worden. Auch wenn die Masse der nordrhein-westfälischen Städte und Gemeinden sich mit je etwa einem Drittel in den Größenklassen 10.000–20.000 und 20.001–50.000 befindet, ist das bevölkerungsreichste Bundesland NRW stärker großstädtisch geprägt. Mehr als ein Drittel der deutschen Großstädte liegt in NRW, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes lebt. Durch die Gebietsreform ist die Zahl der ehrenamtlichen Gemeinderatsmitglieder in NRW auf etwa die Hälfte reduziert worden, auch wenn durch die höhere Mandatszahl in den einzelnen Räten und bei den Großstädten durch die verpflichtende Einrichtung von Bezirksver- tretungen gegengesteuert worden ist. Mit der Gebietsreform verbunden werden sollte eine Funktionalreform – also eine Neuregelung der den Gemeinden zugeordneten Aufgaben –, aber sie hat sich bis heute als »unendliche Geschichte« mit wiederkehrenden halbherzigen Anläufen erwiesen. Als einflussreicher für das Agieren der Parteien dürften die laufenden Versuche einer Verwaltungsreform – Stichwort: »Neues Steuerungs- modell« – einzuschätzen sein.4 Sie zielen auf eine klarere Abgrenzung, Effizienz- steigerung und Kontrolle zwischen dem hauptamtlichen Verwaltungsstab und

4 Für einen Überblick vgl. Jörg Bogumil/Lars Holtkamp/Leo Kißler/Sabine Kuhlmann/ Christoph Reichard/Karsten Schneider/Hellmut Wollmann (Hg.): Perspektiven kommu­ ­

187 Uwe Andersen dem ehrenamtlichen Element der kommunalen »Selbstverwaltung« in Form des Gemeinde-/Stadtrates und zudem auf eine größere Bürgernähe. Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für das Handeln der kommunalen Parteien ist die Kommunalverfassung. Sie wird von der Landesebene (Landtag) vorgegeben, weshalb die kommunale Ebene in staatsrechtlicher Betrachtung auch Teil des Landes mit eng begrenzter Selbstverwaltungshoheit ist. Diese wird allerdings in Art. 28 GG auf der höchsten Ebene der Bundesverfassung garantiert und umfasst auch die Wahl einer Volksvertretung auf Gemeinde- und Kreisebene. Die Gemeindeverfassung in NRW ist lange durch das von der britischen Besatzungsmacht entsprechend eigener Tradition eingeführte Modell geprägt worden, das allerdings im deutschen Umfeld und vor dem Hintergrund eigener Traditionslinien eine deutliche Umwertung erfahren hat. Der als »norddeutsche Ratsverfassung« bezeichnete Typus war charakterisiert durch die Dominanz des Rates und eine Doppelspitze aus ehrenamtlichem (Ober-)Bürgermeister als dem Vorsitzenden des Rates und einem hauptamtlichen vom Rat gewählten (Ober-) Stadt-/Gemeindedirektor als Chef der hauptamtlichen Verwaltung. Ende der 80er Jahre verdichtete sich die Kritik an der norddeutschen Ratsverfassung – im Kern starke Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit u. a. mit der Folge mangelnder Effizienz – und 1994 kam es zu einer »Verfassungs- revolution«, die allerdings überwiegend erst mit der Kommunalwahl 1999 wirk- sam wurde. Die am Typus »süddeutsche Ratsverfassung« orientierte, gleichwohl eigenständige Lösung (insbesondere stärkere Rolle des Rates mit weitgehendem »Rückholrecht« von an den Verwaltungschef delegierten Entscheidungen) ist durch eine neue Leitungsstruktur geprägt, vor allem durch einen direkt von der Bürgerschaft gewählten hauptamtlichen (Ober-)Bürgermeister als Vorsitzenden des Rates und Chef der hauptamtlichen Verwaltung.5 Mit der grundlegenden Verfassungsreform verbunden war eine Partizipations- reform. Auf der Angebotsseite wurde die Palette der Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürgerschaft erheblich erweitert sowohl bei Elementen der direkten Demo-

naler Verwaltungsmodernisierung. Praxiskonsequenzen aus dem Neuen Steuerungsmodell,­ Berlin 2007. 5 Zu Einzelheiten vgl. Uwe Andersen: Die kommunale Verfassungsrevolution – die neue nordrhein-westfälische Gemeindeordnung, in: U. Andersen (Hg.): Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen im Umbruch, Köln 1998.

188 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen kratie (Bürgerbegehren und -entscheid)6 als auch der repräsentativen Demokratie (Wahl des (Ober-)Bürgermeisters als höchstem Repräsentanten der Gemeinde). Auf Wahlrechtsänderungen wird bei den Kommunalwahlen eingegangen.

2. Die Doppelrolle der Parteien auf der kommunalen Ebene

Klassische Parteien, die im Folgenden analysiert werden sollen, versuchen auf unterschiedlichen Ebenen (EU, Bund, Länder und Kommunen) politisch Ein- fluss zu nehmen und kandidieren daher meist auf allen diesen Ebenen bei den jeweiligen Wahlen. Die Ortsvereine dieser Parteien spielen eine Doppelrolle, insofern sie einerseits im Rahmen der innerparteilichen Demokratie die Basis der Willensbildung einer Partei auch für die Politik auf den »höheren« Ebenen wie Land und Bund darstellen, andererseits ein Fast-Monopol für die Willensbildung der Partei in der Kommunalpolitik besitzen. Im Folgenden werden die wechsel- seitigen Bezüge beispielhaft am Verhältnis von Landes- und Kommunalpolitik diskutiert. Die Delegierten für die Landesparteitage, die insbesondere über die Sach- politik in Form von Grundsatz- und Wahlprogrammen entscheiden, aber auch über das Spitzenpersonal und gegebenenfalls nach Verhandlungen auch über die Regierungsbeteiligung und den Koalitionsvertrag, werden in den Ortsvereinen bestimmt. Idealtypisch verläuft die Willensbildung im Rahmen innerparteilicher Demokratie primär von unten nach oben. Der politische Wille der Ortsvereine auch für die Landespolitik wird über die Delegierten nach oben transportiert, auch wenn diese über ein freies Mandat verfügen. Alle Erfahrungen sprechen allerdings dafür, dass nur in wenigen kontroversen Fragen eine intensive inhalt- liche Willensbildung in den Ortsvereinen stattfindet und von den Delegierten auch nur selten Rechenschaft für ihr Stimmverhalten auf Landesparteitagen gefordert wird. Ein wahrscheinlich gewichtigerer Einflusskanal »nach oben« ist die Wahl der direkten Wahlkreiskandidaten für die höheren Ebenen. Der Einfluss z. B. der Landesparteiführung auf die Auswahl der Direktkandidaten zum Landtag ist gering, da sich die Parteibasis in den Ortsvereinen – die allerdings entsprechend dem Wahlkreiszuschnitt »gebündelt« werden muss – diese Entscheidung selten

6 Siehe hierzu das Kapitel von Andreas Kost in diesem Band.

189 Uwe Andersen aus der Hand nehmen und Kandidaten von oben aufdrängen lässt. Das heißt auch, dass ein direkt gewählter Abgeordneter sich leichter eine von der Fraktions- mehrheit abweichende Meinung/Stimmabgabe leisten kann, wenn er auf Rück- halt bei seiner Parteibasis im Wahlkreis rechnen darf und daher nicht mit dem Verlust seines Mandates bei der Kandidatenaufstellung zur nächsten Wahl kalkulieren muss. Abgeordnete im Landtag, die ihr Mandat auch in der nächsten Legislaturperiode ausüben möchten, sind gut beraten, die Basis in ihrem Wahl- kreis und speziell ihre lokale Parteibasis intensiv zu pflegen. In diesem Fall haben sie bei der Kandidatenkür zur nächsten Wahl allerdings klare Wettbewerbsvor- teile gegenüber eventuellen parteiinternen Herausforderern. Im Zentrum der Aufmerksamkeit in den Ortsvereinen steht allerdings die Kommunalpolitik, und auch hier ist zu berücksichtigen, dass in der Regel nur eine Minderheit von Parteimitgliedern aktiv in dem Sinne ist, dass sie mehr oder minder regelmäßig an Aktivitäten ihres Ortsvereins teilnimmt. Die Kommunal- politik ist das Hauptgeschäft der Ortsvereine. Dabei ist im Blick zu behalten, dass die kommunale Ebene bei kreisangehörigen Gemeinden mit Gemeinde und Kreis sowie in Großstädten zwingend mit Bezirken und Stadt jeweils zweistufig aufgebaut ist, was sich auch in der Parteiorganisation spiegelt. Alle klassischen Parteien haben versucht, ihre Kommunalpolitik und -politiker überkommunal zu organisieren, und zwar sowohl auf der Landes- als auch der Bundesebene. Vorreiter war die CDU, die bereits 1948 die Kommunal- politische Vereinigung (KPV) gegründet und ihr erstes kommunalpolitisches Grundsatzprogramm verabschiedet hat. Die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) wurde auf Bundesebene 1978 ins Leben gerufen, die Vereinigung Liberaler Kommunalpolitiker (VLK) 1982, wobei auffällt, dass die jeweiligen NRW-Landesverbände der SPD und FDP eine Vorreiterrolle gespielt haben (Gründung 1972 bzw. 1978). Auch jüngere Parteien, wie z. B. die Grünen, haben sich – teils in eigenständiger Organisationsform wie »Grüne/Alternative in den Räten Nordrhein-Westfalens e. V. (GAR NRW)« – kommunalpolitische Foren geschaffen. Diese kommunalpolitischen Organisationen bieten vor allem Dienst- leistungen: Information, Beratung, Weiterbildung, Wahlkampfvorbereitung und -hilfe, insbesondere unter Rückgriff auf eine eigene landesspezifische Zeit- schrift, Publikationen und Seminare. Mit kommunalpolitischen Programmen wird versucht ein einheitliches kommunalpolitisches Profil der Partei landes- und bundesweit zu entwickeln und damit auf die Kommunalpolitik »vor Ort« ein- zuwirken. Gleichwohl bleibt die Umsetzung und Konkretisierung auf die spezi- fischen Probleme und Bedürfnisse der eigenen Kommune in der Hand der ört-

190 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen lichen Basis. Umgekehrt versuchen die kommunalpolitischen Vereinigungen der Parteien auch für kommunalpolitische Belange in der Landes- und Bundespolitik innerparteilich zu werben und Druck auszuüben und wirken insofern als inner- parteiliche Interessengruppen zugunsten der Kommunalpolitik. Überparteilich wird diese Aufgabe von den drei auf Bundes- wie auf Landes- ebene organisierten kommunalen Spitzenverbänden, dem Deutschen Städte- tag (organisiert vor allem die Großstädte), dem Städte- und Gemeindebund (kleine und mittlere Städte und Gemeinden) und dem Deutschen Landkreis- tag, wahrgenommen.7 Es scheint allerdings, dass der innerparteiliche Einfluss der Kommunalpolitiker tendenziell nachgelassen hat. Dazu mag beigetragen haben, dass der traditionelle innerparteiliche Karriereweg zum Abgeordneten- mandat, der früher an eine kommunalpolitische Bewährung als Ratsmitglied und damit auch kommunalpolitische Erfahrungen gebunden war, zunehmend durch Abkürzungen unter Umgehung der Kommunalpolitik gekennzeichnet ist. Auch die Änderungen der Kommunalverfassung spielen eine Rolle. So sind Doppel- mandate, insbesondere als Bürgermeister und Landtagsabgeordneter nach dem Übergang zum hauptamtlichen Bürgermeister nicht mehr möglich. Vor allem in den 50er Jahren wurde der fraktionsübergreifende Einfluss der »Bürgermeister- fraktion« im Landtag zugunsten kommunalpolitischer Interessen auf Landes- ebene als hoch eingeschätzt.

3. Die Rolle der kommunalen Wählergemeinschaften

Die kommunalen Wählergemeinschaften (KWG), deren Interesse grundsätzlich nur der kommunalen Ebene gilt, werden deshalb auch als »Rathausparteien« bezeichnet.8 Juristisch sind sie keine »Parteien«, da dieser Begriff in § 2 des Parteiengesetzes so definiert wird, dass Parteien insbesondere »an der Vertretung

7 Vgl. dazu Hans-Günter Henneke: Die Rolle der kommunalen Spitzenverbände in Bund und Ländern, in: S. Schieren (Hg.): Kommunalpolitik, Schwalbach/Ts. 2010. 8 Die KWG, die auch unter dem Begriff »freie Wähler« firmieren, galten lange wissenschaft- lich als »terra incognita«, haben aber in den letzten Jahren mit ihrer wachsenden Bedeutung und dem versuchten »Aufstieg« auch auf die höheren politischen Ebenen zunehmend wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen. Für einen Überblick vgl. Jens Walther/ Thomas Poguntke: Freie Wähler, in: U. Andersen/W. Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 7. Auflage, Wiesbaden 2013; ein breit angelegter Sammelband ist Martin Morlok/Thomas Poguntke/Jens Walther (Hg.):

191 Uwe Andersen des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen«. In ihrem Selbstverständnis versuchen sich KWG von den klassischen Parteien abzu- grenzen und charakterisieren sich gern durch ein Bündel positiv besetzter Eigen- schaften: überparteilich, unabhängig, ideologiefrei, sachorientiert, bürgernah, persönlichkeitsbezogen, transparent.9 Damit versuchen sie auch, in Teilen der Bürgerschaft vorhandene Antiparteienaffekte gerade auf der kommunalen Ebene für sich zu nutzen. In ihrem Agieren in der praktischen Kommunalpolitik unter- scheiden sie sich allerdings kaum von den konkurrierenden Parteien. Die Ursachen für die Entstehung von KWG sind vielfältig. Häufig gründen sie sich als Abspaltungen von existierenden Parteien aufgrund sachlicher und/ oder personeller Konflikte oder als erweiterte Bürgerinitiative in Reaktion auf ein besonders umstrittenes lokales Projekt.10 Aber auch wenn sie im Kontext eines beherrschenden Themas entstanden sind, bleiben sie meist keine Ein-Themen- Gruppierung, sondern entwickeln, wenn sie sich nicht als Eintagsfliege erweisen, auch aufgrund des Wettbewerbs mit den lokalen Parteien ein breites lokales Politikprogramm und betätigen sich im Rat selten als Fundamentalopposition. In seltenen Fällen nutzen auch (rechts)extreme Gruppierungen den Schirm einer KWG als eine Art »Parteiersatz«. KWG sind auch in NRW keine Seltenheit mehr, sondern sind in dem meisten Gemeinden/Städten wie auch zunehmend in den Kreisen aktiv und treten bei Kommunalwahlen an. Bei der Kommunalwahl 2009 warben 470 KWG um die Stimmen der Wähler, wobei in vier von fünf Gemeinden/Städten in NRW mindestens eine KWG antrat und in den kreisfreien großen Städten mit 96 Pro-

Politik an den Parteien vorbei – Freie Wähler und Kommunale Wählergemeinschaften als Alternative, Baden-Baden 2012; und für die Ergebnisse eines Sonderforschungs- bereichs »Parteifrei im Parteienstaat: Kommunale Wählergemeinschaften – Elektorale Verankerung und soziales Profil im Ost-West-Vergleich«, in dessen vergleichende vier Länderstudien auch NRW einbezogen war, vgl. insbesondere Stefan Göhlert: Wähler- gemeinschaften in Deutschland, in: E. Holtmann/S. Göhlert/M. Reiser/A. Krappidel (Hg.): Parteifrei im Parteienstaat, Jena/Halle 2008. 9 Vgl. Marcel Winter/Patrick Hintze: Kommunale Wählergemeinschaften, St. Augustin 2010, S. 40. Es handelt sich im Kern um die sehr interessanten Ergebnisse einer schrift- lichen Befragung nahezu aller KWG in NRW mit einer beachtlichen Rücklaufquote von 43 Prozent ergänzt um weitere Elemente wie Wahl- und Wahlkampfanalyse, die im Rahmen der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde. 10 Nach der Umfrage jeweils etwa ein Drittel. Vgl. Winter/Hintze, S. 13.

192 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen zent sogar fast eine Vollabdeckung erreicht wurde. Gleichwohl zeigt sich ins- besondere bei den im nächsten Kapitel zu diskutierenden Wahlergebnissen, dass im Ländervergleich die nordrhein-westfälischen KWG schlecht abschneiden. Die Spitzenregionen für die KWG liegen im Süden (insbesondere Bayern und Baden-Württemberg) und im Osten (insbesondere Thüringen) Deutschlands. Im zeitlichen Verlauf hat die Zahl der sich an den Kommunalwahlen beteiligenden KWG in NRW von 281 1999 (Abdeckungsgrad 63 Prozent) über 406 2004 (72 Prozent) und 470 2009 (81 Prozent) in beachtlichem Maße zugenommen.11 Ihre Mitgliederzahl ist für 2009 auf 24.000 geschätzt worden.12 Damit würden die KWG in NRW im Vergleich weit hinter den Großparteien CDU und SPD, aber noch deutlich vor der FDP und den Grünen den dritten Platz besetzen.13 Der Schwerpunkt liegt dabei mit jeweils einem Viertel bei KWG mit 31–50 und 51–100 Mitgliedern. Der Anteil der auch zwischen den Wahlen aktiven Mitglieder wird auf der Basis der genannten Befragung – und damit als Selbst- einschätzung vermutlich mit Tendenz zur »Überhöhung« – mit mehr als ein Drittel (37 Prozent) angegeben.14 Bei den Mandatsträgern der KWG dominieren geschlechtsbezogen eindeutig die Männer (82 Prozent), in der Altersstruktur die älteren Jahrgänge (nur zehn Prozent »unter 40«, die stärksten Altersgruppen mit

11 Auf der Basis der Befragung ist der Anteil der besonders alten, seit mehr als 25 Jahren existierenden KWG (gegründet zwischen 1952 und 1984) mit rund einem Viertel angegeben worden. Vgl. Winter/Hintze, S. 12. 12 Hochrechnung auf Basis der Befragung. Aufgrund des starken Wachstums der KWG kann im Gegensatz insbesondere zu den großen Parteien mit weiter wachsenden Mit- gliederzahlen gerechnet werden, schon weil die jüngeren KWG meist noch deutlich niedrigere Mitgliederzahlen aufweisen als die älteren, daher also noch Wachstums- potenzial besitzen dürften. Vgl. Winter/Hintze, S. 16. 13 Siehe die Entwicklung der Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 14 Winter/Hintze, S. 15. Dieses Ergebnis kontrastiert mit den von von Alemann m. E. realistisch geschätzten 10 bis 15 Prozent aktiver Parteimitglieder und auch mit der Angabe eines Anteils von gut einem Viertel (15 von durchschnittlich 56 Mitgliedern) Aktiver in KWG im Sonderforschungsbereich. Vgl. Ulrich von Alemann: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000, S. 138; Marion Reiser/Adrienne Krappidel: Parteien ohne Parteilichkeit?, in: E. Holtmann/S. Göhlert/M. Reiser/A. Krappidel (Hg.): Parteifrei im Parteienstaat, Jena/Halle 2008, S. 80. Zu berücksichtigen ist auf jeden Fall, dass kleinere Ortsvereine von Parteien wie KWG in der Regel einen höheren Anteil aktiver Mitglieder aufweisen dürften als mitgliederstarke.

193 Uwe Andersen jeweils 35 Prozent »50 bis unter 60« und »über 60«) und berufsbezogen die hoch- qualifizierten Berufe (53 Prozent der Berufstätigen).15 Auch wenn sich die KWG primär dadurch von den Parteien abheben, dass sie sich auf die kommunale Ebene konzentrieren, gibt es doch verbreitet eine überkommunale Kooperation und inzwischen durchgängig auch Organisationen auf Landes- und Bundesebene als »Freie Wähler«. Darüber, ob die Landes- organisationen sich auf Informationsaustausch, Weiterbildung etc., also auf Dienstleistungen, beschränken oder sich auch an Landtagswahlen beteiligen sollten, wird kontrovers diskutiert. Während in den südlichen Hochburgen der bayerische Landesverband 2008 erstmals die Fünf-Prozent-Hürde bei einer Landtagswahl überwunden hat und mit 10,2 Prozent in den bayerischen Land- tag eingezogen ist, hat sich die Landesorganisation in Baden-Württemberg strikt gegen eine Wahlbeteiligung auf der Landesebene entschieden und ist deshalb aus der Bundesorganisation ausgeschieden. Die meisten Landesorganisationen sind, allerdings keineswegs mit Unterstützung aller KWG, inzwischen bei Landtags- wahlen angetreten und durchweg – mit der genannten Ausnahme Bayerns – an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert. Der Bundesverband Freie Wähler hat sich sogar an der Europawahl 2009 beteiligt (1,7 Prozent der Stimmen), und die als eigenständige Organisation 2010 gegründete »Bundesvereinigung Freie Wähler« hat ihre Beteiligung an der Bundestagswahl 2013 beschlossen.16 In NRW ist die dominante Landesorganisation der »Landesverband der Freien und Unabhängigen Bürger- und Wählergemeinschaften Nordrhein-Westfalen e. V.«, der 1980 gegründet wurde (Vorläuferorganisation bereits 1952). Gemäß den Ergebnissen der erwähnten Befragung gehörten ihm hochgerechnet etwa ein Drittel (34 Prozent) aller KWG in NRW an und weitere 20 Prozent zeigten sich offen für einen eventuellen späteren Beitritt.17 Der Landesverband hat sich bis- her gegen eine Beteiligung an der Landtagswahl entschieden. Dagegen ist die auf individueller Mitgliedschaft beruhende »Landesvereinigung Freie Wähler Nord- rhein- Westfalen« als Untergliederung der Bundesvereinigung Freie Wähler erst-

15 Winter/Hintze, S. 17 f. 16 Walther/Poguntke, S. 35 f. 17 Auf der Homepage (www.freiewaehler-nrw.de, Stand: 20.3.2013) wird die aktuelle Mit- gliederzahl mit 132 angegeben. Bei einer geschätzten aktuellen Gesamtzahl von 490 KWG (auf der Basis der bisherigen Wachstumsrate) errechnet sich ein etwas niedrigerer Anteil von 27 Prozent.

194 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen mals bei der Landtagswahl 2012 angetreten, allerdings mit dem kläglichen Ergeb- nis von 0,2 Prozent.18

4. Kommunalwahlen

Die Kommunalwahlen und die aus ihnen folgenden Tätigkeiten im Gemeinde-/ Stadtrat/Kreistag steht im Zentrum des Interesses und der Aktivitäten der Parteien und KWG auf der kommunalen Ebene. Eine wissenschaftlich kontrovers dis- kutierte, interessante Frage ist dabei, ob es so etwas wie ein besonderes Wähler- verhalten auf der kommunalen Ebene gibt.19 Schon das Kommunalwahlrecht zeichnet sich im Vergleich zu den höheren politischen Ebenen durch Besonderheiten aus. Die wohl wichtigste ist, dass es seit der Kommunalwahl 1999 keine Fünf-Prozent-Hürde mehr zu überwinden gilt und damit auch kleinere Parteien und KWG Chancen haben, in den Räten vertreten zu sein. Der Verfassungsgerichtshof für das Land NRW hat in seinem Urteil vom 6.7.1999 die Fünf-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt und sie aufgehoben. Kernargument der Richter war, dass nur zwingende Gründe, etwa eine ersthafte Funktionsstörung der kommunalen Räte, Abweichungen von dem Gebot der Gleichheit jeder Stimme und der Chancengleichheit politischer Wahl- wettbewerber rechtfertigen könnten. Eine zentrale Rolle in der Argumentation spielte die veränderte Kommunalverfassung mit der Direktwahl der Bürger- meister als die Hauptverwaltungsbeamten durch das Wahlvolk, womit sich die nordrhein-westfälische Kommunalverfassung dem Typ der süddeutschen Ratsver- fassung angenähert habe. In den süddeutschen Ländern gebe es aber keine Fünf- Prozent-Hürde auf der kommunalen Ebene, ohne dass es zu Funktionsproblemen in den Räten gekommen sei.20 Bereits 1960 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in das Wahlrecht zugunsten der KWG eingegriffen. Diese waren seit

18 Eine bei den Landtagswahlen 2010 und 2012 aufgetretene Konkurrenzliste »Freie Bürger- Initiative/Freie Wähler«, die personell auf Paderborn konzentriert ist, erreichte 2012 sogar nur 0,1 Prozent. 19 Vgl. Rainer Bovermann: Kommunales Wahlverhalten zwischen Partei-, Themen- und Kandidatenorientierung, in: U. Andersen/R. Bovermann (Hg.): Im Westen was Neues, Opladen 2002, S. 116 ff. 20 VerfGH 14/98, 15/98. In einem späteren Urteil v. 13.2.2008 (2BvL4/05) hat auch das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Klausel für die Wahl zu den kommunalen Vertretungen ohne zwingende Begründung anhand einer Klage aus Schleswig-Holstein

195 Uwe Andersen dem Kommunalwahlgesetz von 1952 in NRW massiv behindert, da Wahlvor- schläge nur von Parteien zulässig waren. In einem Urteil vom 12.7.1960 – Aus- gangspunkt war die Klage gegen eine identische Wahlbestimmung im Saarland – erklärte der Zweite Senat diese Bestimmung für verfassungswidrig: »1. Die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl beziehen sich auch auf das Vorschlagsrecht. 2. Aus der Garantie der kommunalen Selbstver- waltung folgt, dass in einem Kommunalwahlgesetz auch ortsgebundene, ledig- lich kommunale Interessen verfolgende Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) das Wahlvorschlagsrecht und deren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein muss.«21 Dagegen hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine finanzielle Bevorzugung der lokalen Parteien angegriffen wurde, weil sich die staatliche Parteienfinanzierung an einem Mindesterfolg allein bei Landtags- und Bundes- tagswahlen orientiere, wegen fehlender »substanzieller Begründung« nicht zur Entscheidung angenommen. Gleichwohl wird ein Unbehagen der Richter in einer früheren Entscheidung zur Parteienfinanzierung22 deutlich, in der sie den Gesetzgeber aufgefordert hatten, die Lage der mit den Parteien auf der kommunalen Ebene konkurrierenden KWG zu bedenken. Das Kommunalwahlrecht in NRW kennt nur geschlossene Kandidatenlisten. Anders als in den süddeutschen Bundesländern kann die Wählerschaft keinen Einfluss auf die Kandidatenauswahl und Listenrangfolge der Parteien und KWG nehmen (z. B. durch Kumulieren, d. h. Anhäufen von Stimmen auf bestimmte Kandidaten oder Panaschieren, d. h. Wahl von Kandidaten aus verschiedenen Listen), die somit allein den politischen Gruppierungen vorbehalten ist. Die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen bleibt erfahrungsgemäß deut- lich hinter der bei Bundestagswahlen und auch der bei Landtagswahlen zurück, was auch ein Indikator für die Einschätzung begrenzter Bedeutung seitens der Wählerschaft und/oder die geringere Fähigkeit der politischen Gruppen ist, ihre Wähler für diese Ebene zu mobilisieren. In NRW erreichte die Wahlbeteiligung auf der kommunalen Ebene mit 78,2 Prozent 1961 ihren Spitzenwert, um dann fast kontinuierlich abzusinken auf magere 52,4 Prozent bei der Kommunalwahl

für nichtig erklärt und in der Begründung wiederum stark auf die veränderte Situation mit der Direktwahl des Hauptverwaltungsbeamten abgehoben. 21 BVerfGE 11,286 Leitsätze. 22 2BvE2/89 v. 9.4.1992.

196 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen

2009. Ausreißer waren nur die Kommunalwahlen 1975 (86,4 Prozent) und 1994 (81,7 Prozent), die im ersten Fall zusammen mit der Landtagswahl, im zweiten zusammen mit der Bundestagswahl stattfanden. Im zeitlichen Längsschnitt seit 1946 zeigt sich, dass die im Bundestag ver- tretenen Parteien auch bei den nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen das Bild bestimmen.23 Die Führung wechselte zwischen CDU und SPD, aber in ihrer Hochphase 1969–79 erreichten beide Parteien zusammen in den kreisfreien Städten und den Kreisen über 90 Prozent der Wählerstimmen. Dabei lag der Schwerpunkt der SPD in den Großstädten, der der CDU in den Kreisen. Das Bild wird noch deutlicher, wenn man einen Blick auf die in der Regel kleineren kreisangehörigen Städte und Gemeinden wirft.24 Bei den kreisangehörigen Gemeinden steht eindeutig die CDU an der Spitze, die regelmäßig zwischen 40 und 50 Prozent der Stimmen erhalten hat (1999 sogar 50,9 Prozent). In beiden Fällen zeigt sich, dass die »Sonstigen«, unter denen sich kleine Parteien und KWG verbergen, nach relativ starker Stellung zu Beginn (KPD z. B. 1946 9,4 und 1948 7,8 Prozent in kreisfreien Städten und Kreisen) bis 1975 fast kontinuierlich abfallen, seitdem aber wieder an Bedeutung gewinnen. Zweifellos hat der Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel dazu beigetragen, dass mehr »Splitterparteien« und KWG in die Räte eingezogen sind, darunter vereinzelt auch rechtsextremistische Gruppierungen. Eine Analyse der KWG zeigt, dass sie im Vergleich insbesondere zu den süd- lichen Bundesländern, wo sie 40–50 Prozent der Kommunalmandate erobern, in NRW eine bescheidene, in den letzten Jahren aber wieder wachsende Rolle spielen. Ihr Stimmenanteil stieg von 7,0 Prozent bei der Kommunalwahl 1999 über 9,8 Prozent 2004 auf 10,5 Prozent 2009. Der wachsende Stimmenanteil – insbesondere der Sprung von 1999 auf 2004 – ist primär der deutlich höheren Zahl der KWG geschuldet, die bei Kommunalwahlen antraten. Konkurrieren mehrere KWG in der gleichen Stadt/Gemeinde miteinander, führt dies nicht notwendigerweise zu einem deutlich höheren gemeinsamen Stimmenanteil.25 Bemerkenswert ist, dass auch in NRW der Wahlerfolg der KWG stark beeinflusst wird von der Größe der Kommune. So stieg z. B. bei der Kommunalwahl 2009

23 Siehe die Kommunalwahlergebnisse im Anhang A in diesem Band. 24 Auch für diese Wahlergebnisse siehe Anhang A in diesem Band. 25 Vgl. Winter/Hintze, S. 20.

197 Uwe Andersen der Mittelwert der KWG von den größten Städten beginnend (über 250.000 Ein- wohner 4,7 Prozent) bis zu den kleinsten Gemeinden hin (unter 10.000 Ein- wohner 14,0 Prozent) fast kontinuierlich an.26 Auch beim Wahlerfolg sind die kleineren Gemeinden und Städte (bis 50.000 Einwohner) das Glanzstück und Zentrum der KWG. Sie sprechen in der Regel vorrangig »bürgerliche« Wähler- schichten an und erhöhen insofern den Konkurrenzdruck auf der lokalen Ebene insbesondere für die CDU und die FDP.27 Neben der Wahl der kommunalen Räte stehen nach der Änderung der Kommunalverfassung seit 1999 die direkt gewählten Bürgermeister28/Landräte im Mittelpunkt des Interesses auch der lokalen Parteien und KWG. Die recht- lichen Rahmenbedingungen sind mehrfach geändert worden, insbesondere die Amtszeit, die Zusammenlegung von Rats- und Bürgermeisterwahl und ob es einen Wahlgang gibt oder eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen anberaumt wird, wenn im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht. Die zwischenzeitlich abgeschaffte Stichwahl ist für die Kommunalwahl 2014 wieder eingeführt worden, und die rot-grüne Landes- koalition plant, die von der CDU-FDP-Koalition geschaffenen unterschiedlichen Amtszeiten von Rat/Kreistag (fünf Jahre) und Bürgermeister/Landrat (sechs Jahre) wieder auf fünf Jahre zu vereinheitlichen, um damit mittelfristig wieder gemeinsame Wahltermine zu erreichen. Verbunden damit ist die Hoffnung auf eine höhere Wahlbeteiligung, auf die auch der gemeinsame Wahltermin mit der Europawahl im Frühjahr 2014 zielt. Ein gemeinsamer Wahltermin für Rat und Bürgermeister – wie auch die Stichwahl – beeinflusst das Wahlkalkül der Wähler

26 Vgl. Winter/Hintze, S. 21. 27 Z. B. hat die CDU bei der Kommunalwahl 2009 mit 42,1 Prozent der Stimmen landes- weit fast zehn Prozentpunkte gegenüber der Kommunalwahl 1999 eingebüßt, während sie in den Kommunen ohne die Konkurrenz einer KWG »nur« acht Prozentpunkte ver- loren hat. Vgl. Winter/Hintze, S. 21. 28 Vgl. den Sammelband von Jörg Bogumil/Hubert Heinelt (Hg.): Bürgermeister in Deutschland, Wiesbaden 2005; mit zwei Beiträgen im Ländervergleich NRW vs. Baden- Württemberg zur Rolle der Bürgermeister (Jörg Bogumil/Lars Holtkamp: Die Macht- position der Bürgermeister im Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Nordrhein- Westfalen) und zum Verhältnis von Fraktionsvorsitzenden und Bürgermeister (David Gehne/Lars Holtkamp: Fraktionsvorsitzende und Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) sowie die Monografie zur Rolle der Bürgermeister in NRW: David H. Gehne: Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2008.

198 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen und entsprechend Kandidatenauswahl und Wahlkampf der lokalen Parteien und KWG. Bei gemeinsamer Wahl wie auch bei der Stichwahl ist z. B. der Anreiz auch für kleinere politische Gruppierungen, mit einem eigenen, wenn auch chancen- losen Bürgermeisterkandidaten aufzutreten, deutlich höher, um nicht bereits im Wahlkampf an Beachtung zu verlieren. Die Ergebnisse der ersten gemeinsamen Wahl von Rat und Bürgermeister 200929 zeigen, dass sich in der Regel die Ergebnisse der Ratswahl auch bei der persön- lichkeitsorientierten Bürgermeisterwahl spiegeln. Anders als in anderen Bundes- ländern dominierten die von CDU und SPD aufgestellten Bewerber bei der Wahl der Oberbürgermeister in allen kreisfreien Städten und bei der Wahl der Landräte in nahezu allen Kreisen (Ausnahme: ein unabhängiger Kandidat im Kreis Eus- kirchen). Nur in einer Minderheit von kleineren Städten und Gemeinden setzten sich auch Bewerber kleinerer politischer Gruppierungen, eine etwas größere Zahl von »Mischbewerbern« (die von mehreren politischen Gruppierungen nominiert worden waren) sowie von »unabhängigen« Einzelbewerbern durch, wobei letztere teilweise auch von »bunten« Unterstützerkoalitionen (bis hin zur Verbindung von CDU und SPD) profitierten.30 Bei der Auswahl der Bürgermeisterkandidaten durch die lokalen politischen Gruppierungen wie auch im Wahlverhalten zeigte sich eine starke Orientierung an Ortsbindung und Qualifikationen im engeren Verwaltungs- und Politikbereich, sodass es kaum Experimente mit überlokal bekannten Kandidaten aufgrund von Meriten in anderen Lebensbereichen (z. B. Sportler, Schauspieler, Unternehmer, Wissenschaftler31) gab.

29 Vgl. die auf einem Forschungsprojekt mit landesweiter Umfrage und Fallstudien in vier Kommunen in NRW beruhende Studie Andersen/Bovermann. 30 Von den 378 Bürgermeistern, die 1999 gewählt wurden und die 2013 noch im Amt waren, entfielen 198 (53 Prozent) auf die CDU und 100 (27 Prozent) auf die SPD. 27 wurden von »gemischten« Gruppierungen nominiert. Drei Bürgermeister entfielen auf die übrigen Parteien (je einer auf FDP, Grüne und die Jugendpartei PETO) und vier auf KWG. Die drittstärkste Gruppe bilden die »unabhängigen« Einzelbewerber, zu der 46 (12 Prozent) Bürgermeister zählen, d. h. die Mehrheit der nicht auf die großen Parteien entfallenden Positionen. Eigene Darstellung auf Basis der Recherche von Jens Walther. 31 Z. B. kandidierte bei der Kommunalwahl 1999 der Rektor der Universität Duisburg.

199 Uwe Andersen

5. Ausblick

Die territoriale Gliederung der Parteien von der – ansatzweise – europäischen über die Bundes- und Landes- bis zur kommunalen Ebene bedingt, dass die Ortsvereine die Basis der Parteien darstellen. Im Hinblick auf die demokratisch erwünschte politische Willensbildung »von unten nach oben« zeigen sich bei der Basis der Ortsvereine allerdings deutliche Defizite. Deren Interesse gilt primär der Kommunalpolitik, für die sie ein weitgehendes Monopol besitzen. Zudem wird das örtliche Parteileben insbesondere außerhalb von Wahlzeiten von einer kleinen Minderheit von Parteiaktivisten getragen. Angesichts rückläufiger Mitglieder- zahlen gibt es in allen Parteien Experimente, Mitglieder und Sympathisanten zu aktivieren. Dazu gehören auch Versuche, neben der territorialen Basis der Ortsvereine Online-Gruppen als Foren des politischen Austauschs einzurichten. Abzuwarten bleibt, ob davon, aber auch von neuen politischen Parteien wie der besonders netzorientierten und -affinen Piratenpartei, erfolgreiche Innovationen angestoßen werden, die die neuen technologischen Möglichkeiten und damit verbundene veränderte Verhaltensweisen und Einstellungen insbesondere im jüngeren Teil der Bürgerschaft nutzen. Im Vergleich der Bundesländer ist NRW auch aufgrund seiner Bevölkerungs- struktur und der begrenzten Zahl der Kommunen weiterhin durch ein starkes Parteiensystem mit hohem Durchdringungsgrad charakterisiert. Ihm gegenüber tun sich die lokal konzentrierten KWG trotz Zunahme an Zahl und Wähler- anteil schwer. Dies gilt auch für die seit 2009 landesweit geltende stärker persön- lichkeitsorientierte Direktwahl der (Ober)Bürgermeister und Landräte, bei denen Kandidaten der beiden Großparteien CDU und SPD bisher eindeutig dominieren. Vor dem Hintergrund der veränderten Kommunalverfassung und einer Verwaltungsreform haben sich auch die Anforderungen an das Quali- fikationsprofil für Ratsmitglieder erhöht, zumal nur auf dieser politischen Ebene ehrenamtliche »Laien« hauptamtliche Verwaltungsprofis im Rahmen der kommunalen »Selbstverwaltung« politisch zu führen und zu kontrollieren haben. Berücksichtigt man die schrumpfende und überalterte Parteimitgliedschaft, könnte es für die politischen Gruppierungen zukünftig schwieriger werden, geeignete Ratskandidaten zu finden. Die wachsende Globalisierung und die mit ihr verbundenen Probleme haben bei vielen Menschen eine dialektische Gegenbewegung ausgelöst, eine Ent- wicklung, die begrifflich als »Glokalisierung« gefasst worden ist. Gerade in Zeiten der Globalisierung bekommt die kleinräumige, besser überschaubare gesellschaft-

200 Parteien auf der kommunalen Ebene in Nordrhein-Westfalen liche Einbindung der Bürger im Sinne von »Heimat« wieder erhöhte Bedeutung. Insofern könnten die kommunale politische Ebene und die auf ihr agierenden politischen Akteure auch in NRW wieder wichtiger werden, auch wenn die periodisch wiederkehrende Hoffnung auf eine Reform des politischen Systems »von unten« überzogen erscheint.

201

Andreas Blätte und Karina Hohl links: Andreas Blätte und Karina Hohl rechts: Europäisierung der Parteien in Nordrhein- Europäisierung der Parteien Westfalen in Nordrhein-Westfalen

1. Einleitung Im Rahmen der Beschäftigung mit Politik im europäischen Mehrebenensystem ist es längst gängig, Regionen als europapolitische Akteure zu sehen. Gemeint sind damit allerdings in aller Regel nicht die Parteien in den Regionen: Europa- politik gilt als Handlungsfeld der Exekutive. Dies trifft dem ersten Anschein nach auch für Nordrhein-Westfalen zu. Die Landesregierung verfügt mit der in der Staatskanzlei angesiedelten Europaabteilung und der Landesvertretung in Brüssel über die organisatorischen Ressourcen für eine nordrhein-westfälische Europapolitik. Auch nordrhein-westfälische Europapolitik ist exekutivlastig.1 Damit gerät die Rolle der Landesparteien im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess fast vollständig aus dem Blick. Doch schon allein normativ verdient ihre Rolle im Prozess der »Europa-Werdung«2 Beachtung. Trotz der maßgeblichen Rolle der Exekutive in der Europapolitik haben die nord- rhein-westfälischen Parteien bzw. ihre Fraktionen im Landesparlament einen auch auf Europa3 bezogenen Gestaltungswillen.4 Dies lässt sich mit einer Ana- lyse konkreter Entscheidungsprozesse nachvollziehen. Dem vorgeschaltet sind allerdings die Fragen: Welchen Stellenwert haben Europa und Europapolitik im politischen Wahrnehmungshorizont der Parteien? Inwieweit sind die Parteien in Nordrhein-Westfalen im Bundesländervergleich europäisiert? Welche Ver-

1 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 315–339, hier S. 333. 2 Timm Beichelt: Deutschland und Europa: Die Europäisierung des politischen Systems, Wiesbaden 2009, S. 15. 3 Die Autoren verwenden die Begriffe Europa und EU hier synonym im Sinne des europäischen Institutionengefüges. 4 Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Kommunalwahl – Landtagswahl – Bundestagswahl – Europawahl, Schwalbach/Ts. 2010, S. 187.

203 Andreas Blätte und Karina Hohl

änderungen des europäischen Bewusstseins der Parteien in Nordrhein-Westfalen sind im Zeitverlauf feststellbar? Als Grundlage einer Beschäftigung mit der Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen führt dieses Kapitel in einem ersten Schritt den Europäisierungsbegriff ein. In einem zweiten Schritt zeigt eine Analyse der Plenardebatten des nordrhein-westfälischen Landtags seit 1995, inwiefern es eine Präsenz des Themas Europa im Bewusstsein der NRW-Parteien gibt und welchen Veränderungen diese unterworfen ist. Der Blick ist damit erstens auf die parlamentarische Organisation von Parteien als Fraktionen gerichtet. Zweitens steht die Perspektive der Europäisierung des politischen Geschehens vor Ort in Nordrhein-Westfalen im Vordergrund.

2. Europäisierung – Konturen eines unscharfen Begriffes

Die Entstehung der supranationalen europäischen Institutionen, die Entwicklung der politischen Tätigkeitsfelder der Europäischen Gemeinschaft (EG) und später der Europäischen Union (EU) und die damit verbundenen normativen Herausforderungen wurden kontinuierlich politikwissenschaftlich begleitet.5 Bei den Bemühungen, europäische Integration zu erfassen und zu erklären, stand zunächst die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel im Zentrum der Auf- merksamkeit.6 Die klassische Perspektive einer solchen, auf den Integrations- prozess gerichteten Forschung wird mittlerweile um eine Perspektive ergänzt, die sich für die Rückwirkungen der europäischen Integration auf den Nationalstaat interessiert. Diese Perspektive ist mit dem Europäisierungsbegriff gemeint. Es besteht natürlich ein Zusammenhang zwischen der Entstehung des politischen Systems der Europäischen Union (durch den Integrationsprozess) und den Rück- wirkungen auf den Nationalstaat (Europäisierungsprozess), doch ist zwischen den beiden Begriffen und Perspektiven deutlich zu differenzieren.

5 Pars pro toto Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hg.): Europäische Integration, Wiesbaden 2003. 6 Heinrich Pehle/Roland Sturm: Die Europäisierung der Regierungssysteme, in: O. W. Gabriel/S. Kropp (Hg.): Die EU-Staaten im Vergleich, Wiesbaden 2008, S. 155–178, hier S. 155.

204 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

Europäisierung steht unter dem Verdacht, ein »Modethema«7 zu sein. Es gibt einen »Europäisierungsboom«8 im politikwissenschaftlichen Schrifttum. Institutionalistische Ansätze bilden dabei einen Schwerpunkt.9 Ein geklärtes Begriffsverständnis wurde gleichwohl nicht erreicht: Verschiedene Definitionen und Verständnisse prägen nach wie vor den Europäisierungsdiskurs.10 Einigkeit besteht darin, dass Europäisierungsforschung die Etablierung von supranationalen Institutionen, Normen und Regulierungen voraussetzt und deren Auswirkungen auf den Nationalstaat bzw. auf die Regionen analysiert.11 Claudio Radaelli konkretisiert diese Auswirkungen im Sinne eines »political change« und spricht in einer Begriffsbestimmung verschiedene Dimensionen der Europäisierung an:

»Europeanisation consists of processes of a) construction, b) diffusion and c) insti- tutionalisation of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ›ways of doing things‹ and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the EU policy process and then incorporated in the logic of domestic (national and subnational) discourse, political structures and public policies.«12

Radaellis Definition versteht Europäisierung als einen Veränderungsprozess der nationalen politischen Handlungslogik in Form von Diskursen, Normen und Politiken.13 Europäisierung hat verschiedene Dimensionen. Die Entstehung

7 Katrin Auel: Europäisierung nationaler Politik, in: H.-J. Bieling/M. Lerch (Hg.): Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2005, S. 293–316, hier S. 293. 8 Heinz-Jürgen Axt/Antonio Milosoki/Oliver Schwarz: Europäisierung – ein weites Feld. Literaturbericht und Forschungsfragen, in: Politische Vierteljahresschrift, 48/1 (2007), S. 136–149, hier S. 136. 9 Institutionalistische Zugänge zur Erklärung von Europäisierung verwenden u. a. die Arbeiten von Tanja A. Börzel: Kooperation statt Wettbewerb. Regionen vor der Heraus- forderung der Europäisierung, in: T. Conzelmann/M. Knodt (Hg.): Regionales Europa – Europäisierte Regionen, Frankfurt a. M. 2002, S. 123–139 und Kevin Featherstone/ Claudio M. Radaelli (Hg.): The Politics of Europeanization, Oxford 2003. 10 Axt/Milosoki/Schwarz, S. 145. 11 Ebd.: S. 137.; vgl. auch Maarten Vink: What is Europeanization? And Other Questions on a New Research Agenda, in: European Political Science, 3/1 (2003), S. 63–74, hier S. 72. 12 Claudio Radaelli: Europeanisation: Solution or problem? European integration online papers (EIoP), 8/16 (2004), S. 4. 13 Auel, S. 298.

205 Andreas Blätte und Karina Hohl eines europäischen Bewusstseins ist dabei eine Dimension der Europäisierung.14 So spricht Beate Kohler-Koch der wahrgenommenen Salienz Europas den Status eines »Europäisierungssymptoms« zu, indem sie Europäisierung als »die Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts und des politischen Handlungsraumes um die europäische Dimension«15 fasst. Konzeptionell geht Europäisierung damit über eine bloße Wirkung, Reaktion und Anpassung der Nation bzw. der Region auf Brüssel hinaus, sondern meint vielmehr den kognitiven Prozess der »Europa-Werdung«: »Europäisierung beruht […] auf der Diffusion von Ideen und Politik-Paradigmen«.16 Europäisierungsprozesse in dieser Betrachtungs- weise aus einer rein statischen top-down Perspektive zu erklären, wäre ebenso ver- kürzt wie eine Überakzentuierung der Nation bzw. der Region im Rahmen einer bottom-up Betrachtung.17 Weite Teile der Europäisierungsforschung sehen policies als zentralen Gegen- stand der Europäisierung. Dies ist eine selbstverständlich wichtige Forschungs- perspektive, da je nach Nationalstaat oder Region die Wandlungsprozesse innerhalb der Policy-Felder erheblich variieren.18 Mit der politics-Dimension von Politik in Form prozessualer Analysen von Verhandlungs- und Gestaltungs- prozessen beschäftigen sich hingegen schon weniger Arbeiten.19 Nur selten setzen sich Analysen mit Europäisierungstendenzen nationaler Institutionen, Parla- mente und Parteien, auseinander. Analysen zu Europäisierungstendenzen von Landesparteien bleiben bisher aus.20 Betrachtet man das politikwissenschaftliche Schrifttum zur Europäisierung nationaler Parteien, so stellt Mair einen begrenzten Einfluss der europäischen

14 Beichelt, S. 14. 15 Beate Kohler-Koch: Europäisierung: Plädoyer für eine Horizonterweiterung, in: M. Knodt/B. Kohler-Koch (Hg.): Deutschland zwischen Europäisierung und Selbst- behauptung, Frankfurt a. M. 2000, S. 11–31, hier S. 22. 16 Auel, S. 301. 17 Kohler-Koch, S. 20. 18 Zu diesem Ergebnis kommen u. a. Adrienne Héritier/Dieter Kerwer/Christoph Knill/ Dirk Lehmkuhl/Michael Teutsch/Anne-Cécile Douillet: Differential Europe. The European Union Impact on National Policymaking, Lanham 2001. 19 Axt/Milosoki/Schwarz, S. 139. 20 Ebd.; vgl. auch Thomas Poguntke/Nicholas Aylott/Robert Ladrech/Elisabeth Carter/ Kurt Richard Luther (Hg.): The Europeanization of National Political Parties: Power and Organizational Adaptation, London/New York: 2008.

206 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

Integration auf die Parteiensysteme der europäischen Nationalstaaten fest, wobei er breit gefasst alle Reaktionen auf europabedingte Veränderungsprozesse als »Europäisierungssymptome« versteht21 und die Frage nach der Formation einer pro- vs. anti-europäischen Dimension des Parteienwettbewerbs stellt. Ladrech führt neben dem europabezogenen Parteienwettbewerb die inhaltliche Aus- richtung von Parteien, der Parteiorganisation, der exekutiven Einbindung der Partei und der überstaatlichen Verflechtung von Parteien als weitere Indikatoren für die Bestimmung der Europäisierungstendenz nationaler Parteiensysteme an.22 Entsprechend Kohler-Kochs Definition von Europäisierung als Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts um die europäische Dimension ist aber auch die Intensität, mit der Parteien »Europa« thematisieren relevant. Dementsprechend verwenden Kritzinger und Michalowitz in ihrer Studie zur Europäisierung von Parteien in Österreich, Schweden und Finnland die generelle Salienz, die eine Partei der EU beimisst, als Gradmesser der Europäisierung. Die Häufigkeit, mit der die Parteien europäische Themen behandeln und aufgreifen, dient dabei als Indikator für Europäisierung.23 Diesem Strang der Europäisierungsforschung folgend dient hier die Aufmerksamkeit, welche Parteien der EU und europa- politischen Themen entgegenbringen, als Gradmesser für die Europäisierung einer Partei.

21 Peter Mair: The limited impact of Europe on national party systems, in: West European Politics, 23/4 (2000), S. 27–51; vgl. auch Robert Ladrech: Europeanization of Political Parties: Towards a Framework of Analysis, in: Party Politics 8/4 (2002), S. 389–403, hier S. 395. 22 Ladrech, Europeanization of Political Parties, S. 395. Sicherlich bieten die von Ladrech identifizierten Parameter der Europäisierungsmessung ein Modell, um Europäisierung von Parteien auf allen politischen Ebenen messbar zu machen. Das vorliegende Kapitel wird hingegen ausschließlich die inhaltlichen Ausrichtungen der Parteien betrachten, wobei diese sicherlich mit exekutiven bzw. legislativen Funktionen der Parteien gekoppelt ist. 23 Sylvia Kritzinger/Irina Michalowitz: Party Position Changes Through EU Membership? The (Non-) Europeanisation of Austrian, Finish and Swedish Political Parties, in: Politique européenne, 16/2 (2005), S. 19–51, hier S. 27. Auch Ladrech stellt die Salienz des Themas Europa in den Mittelpunkt einer Untersuchung: Robert Ladrech: Europeanization and political parties, in: Living Reviews in European Governance, 4/1 (2009), S. 1–23, hier S. 8.

207 Andreas Blätte und Karina Hohl

3. Europa im Wahrnehmungshorizont der Parteien in Nordrhein-Westfalen

Das nordrhein-westfälische Parteiensystem war nie eingefroren oder gar statisch, es gab immer wieder mehr oder weniger erfolgreiche Parteigründungen.24 Europaskeptische Parteigründungsversuche blieben allerdings in Nordrhein- Westfalen aus – anders als etwa in Bayern, wo die »Anti-Euro-Partei« 1994 durch den ehemaligen Kabinettschef der EG-Kommission Manfred Brunner gegründet wurde.25 Umso mehr richtet sich der Blick auf die Frage, wie sehr die EU den Wahrnehmungshorizont der in Nordrhein-Westfalen parlamentarisch etablierten Parteien prägt. Dies wird mittels der Salienz auf Europa bezogener Problemwahr- nehmungen in Äußerungen analysiert, die den nordrhein-westfälischen Parteien zurechenbar sind. Auf diese Weise soll untersucht werden, inwiefern sich eine Europäisierung erkennen lässt, wie sich die Parteien dabei unterscheiden und welche Veränderungen feststellbar sind. Als Datengrundlage dient das »PolMine«-Plenardebattenkorpus, das alle 486 Plenardebatten des nordrhein-westfälischen Landtages von der 12. bis zur 15. Legislaturperiode, also den Zeitraum von Juni 1995 bis zum März 2012 umfasst (Stand: März 2013).26 Weil in der 15. Legislaturperiode in 2012 nur sechs Plenar- sitzungen des nordrhein-westfälischen Landtages stattfanden und der verfügbare Materialumfang für dieses Jahr für belastbare Aussagen zu gering ist, werden für 2012 im Folgenden keine Ergebnisse dargestellt. Die Analyse beruht auf Plenar- protokollen und bezieht sich damit auf die party in public office.27 Weiterführende

24 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen: Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006, Wiesbaden 2006, S. 46. Siehe das Kapitel von Katharina Hanel und Nadja Wilker in diesem Band. 25 Florian Hartleb: Euroskeptische Parteienfamilie, in: U. Jun/B. Höhne (Hg.): Parteien- familien. Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett?, Opladen 2012, S. 302–325. 26 Informationen zum Plenardebattenkorpus finden sich auf der Homepage des »PolMine«- Projekts (www.polmine.de, Stand 20.3.2013); vgl. auch Andreas Blätte: Unscharfe Grenzen von Policy-Feldern im parlamentarischen Diskurs. Messungen und Erkundungen durch korpusunterstützte Politikforschung, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 22/1 (2012), S. 35–68. 27 Richard S. Katz: The Internal Life of Parties, in: K. R. Luther/F. Müller-Rommel: Political Parties in the New Europe. Political and Analytical Challenges, Oxford 2002, S. 88–118, hier S. 91.

208 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

Untersuchungen zur politischen Kommunikation von Parteien außerhalb des parlamentarischen Kontextes wären zweifellos relevant und aufschlussreich. Wahl- programme wären eine klassische Materialart. Der Vorteil des parlamentarischen Geschehens ist demgegenüber eine Kontinuität der Textproduktion, die stetigere Informationen zu den Salienzen und Positionen der Parteien bietet, als dies bei- spielsweise Wahlprogramme leisten können.28 So argumentieren auch Bernauer und Bräuninger: »using speeches certainly is advantageous as compared to party manifestos […]. Finally, the speeches […] in parliament cover all issues of inter- est«.29 Die Analyse umfasst die in Nordrhein-Westfalen etablierten Parteien SPD, CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die Parteien Die Linke, die nur dem 15. nordrhein-westfälischen Landtag (von Juni 2010 bis März 2012) angehörte sowie die Piraten werden nicht in der Analyse berücksichtigt, da ihre kurze Parlaments- zugehörigkeit keine Aussagen zur Entwicklung der europäischen Dimension ihres Wahrnehmungshorizonts zulässt. Als Messkonzept für eine Europäisierung, die als Salienz einer europäischen Dimension des politischen Handelns im politischen Wahrnehmungshorizont verstanden wird, dient hier die normalisierte Frequenz von Wörtern, die einen Europabezug herstellen, d. h. es wurde nach Jahr und Fraktion differenziert die addierte Häufigkeit von Wortverwendungen mit Europabezug durch die Gesamtzahl der Wörter dividiert. Dies entspricht im Grundsatz gängigen Verfahren der computerunterstützten Inhaltsanalyse.30 Als Diktionär wurden alle mit »europ« beginnenden Wortbildungen sowie »Brüssel«, »EU«, »Vertrag von Nizza« und »Vertrag von Lissabon« verwendet.

28 Tosun/Debus verwenden zur Europäisierungsmessung von Parteien Wahlprogramme, Regierungserklärungen und Koalitionsvereinbarungen, vgl. Jale Tosun/Marc Debus: Parteien, Regierungen und Europäische Integration: Welche Faktoren bestimmen die europapolitischen Positionen nationaler politischer Akteure?, in: Österreichische Zeit- schrift für Politikwissenschaft, 37/3 (2008), S. 315–335, hier S. 316. 29 Julian Bernauer/Thomas Bräuniger: Intra-Party Preference Heterogeneity and Faction Membership in the 15th German Bundestag: A Computational Text Analysis of Parliamentary Speeches, in: German Politics, 18/3 (2009), S. 385–402, hier S. 392. 30 Werner Früh: Inhaltsanalyse, Konstanz/München 2011, S. 286 ff.

209 Andreas Blätte und Karina Hohl

3.1 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen: Europa im Schatten der Exekutive?

Die im nordrhein-westfälischen Parlament vertretenen Parteien unterscheiden sich hinsichtlich der Häufigkeit, mit der sie auf die europäische Dimension politischen Handelns verweisen. Um eine extrem ausgeprägte Parteiendifferenz handelt es sich dabei allerdings nicht. Eine erste Erkenntnis der Analyse ist eine konvergierende Grundkonjunktur Bild: Abb. 1). des Sprachgebrauchs der Fraktionen ohne extreme Ausreißer (vgl. Abb. 1). Damit ist nicht gemeint, dass Europa im Wahrnehmungshorizont der Parteien immer gleichermaßen präsent (oder abwesend) wäre. Zentrale europapolitische Ent- wicklungen finden in Form gesteigerter Frequenzen der Wörter des verwendeten Diktionärs ihren Niederschlag in den Debatten des nordrhein-westfälischen Landtages. Der Vertrag von Nizza (2000/2001) und die Diskussion der Lissabon-

Abbildung 1: Europabezüge in Reden von Fraktions- und Regierungsmitgliedern im Landtag Nordrhein-Westfalen (1995–2011)

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210 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

Strategie (ab 2000), der Vertrag von Lissabon (2005–2007) sowie die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise (ab 2008) führten jeweils fraktionsübergreifend zu einer gesteigerten Salienz Europas. Besonders im Kontext der Ratifizierung des Lissabon-Vertrags wurde das Thema Europa in der 13. und 14. Legislaturperiode von allen Fraktionen akzentuiert. Das landespolitische Interesse am Vertrag von Lissabon war nicht nur allgemeiner Art: Die von der EU angestrebte Einbindung der Strukturfonds in die Zielsetzung des Lissabon-Vertrags entsprach den Interessen Nordrhein-Westfalens an einer Förderung des Strukturwandels.31 Mit dem Fortschreiten und dem Abschluss des langwierigen Ratifizierungsprozesses ist – abgesehen von den durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelösten Aus- schlägen der Europabezüge 2008/2009 – eine parteiübergreifende zunehmende »Europamüdigkeit« im Zeitverlauf feststellbar. Auf diesen längerfristigen Trends bauen kurzfristige Konjunkturzyklen auf. So ist ein Rückgang der Aufmerksam- keit für die europäische Dimension zum Ende aller Legislaturperioden erkenn- bar. Besonders deutlich lässt sich dieser Effekt im Vorlauf des Wahlkampfes 2010 erkennen.32 Zu vermuten ist, dass die Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag landespolitische Themen (im Verhältnis zu europäischen) stärker in den Blick nehmen, wenn Landtagswahlen anstehen. Zwei weitere generelle Tendenzen lassen sich der Zeitreihe entnehmen. Der analysierte Zeitrahmen deckt die »Lagerpolarisierungsphase«33 des nordrhein- westfälischen Parteiensystems von 1995 bis 2010 ab. Das rot-grüne sowie das christlich-liberale Lager standen sich in der analysierten Phase als alternative Regierungskoalitionen gegenüber.34 Auch bei der Analyse der Bezugnahmen zur EU zeigen sich die Lagerpolarisierung und eine Nähe der jeweiligen Koalitions-

31 Herbert Jakoby: NRW und die europäische Strukturpolitik, in: U. v. Alemann/C. Münch (Hg.): Landespolitik im europäischen Haus. NRW und das dynamische Mehrebenen- system, Wiesbaden 2005, S. 189–208, hier S. 206. 32 Gegen Ende des Landtagswahlkampfes spitzte sich die griechische Finanzmarktkrise zu, sodass auch Griechenland und die EU im Wahlkampf thematisiert wurden – allerdings geschah dies zunehmend in der Endphase des Wahlkampfes und damit außerhalb des Parlaments. 33 Korte/Florack/Grunden, S. 55; vgl. auch Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen – das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 275–302, hier S. 290. 34 Korte/Florack/Grunden, S. 55.

211 Andreas Blätte und Karina Hohl

partner. Zweitens machen die Ergebnisse der Analyse eine Differenzierung der These der europapolitischen Exekutivlastigkeit in Nordrhein-Westfalen erforder- lich.35 Die Häufigkeit der europäischen Bezugnahmen der Regierungsvertreter im Parlament liegt stets im Mittelfeld der Begriffskonjunktur. Allerdings stellen in allen Legislaturperioden die Sprecher regierungstragender Fraktionen häufiger jene Bezüge her, die auf eine Europäisierung des Wahrnehmungshorizonts hin- weisen als Sprecher aus den Reihen der Oppositionsfraktionen. Die Regierungs- verantwortung einer Partei führt offenkundig zu einer stärkeren Berücksichtigung Europas in den Plenardebatten. Prägender als eine reine Exekutivlastigkeit ist somit der »Neue Dualismus« von Regierungsmehrheit und Opposition: Regierungstragende Parteien in Nordrhein-Westfalen beziehen sich häufiger auf die EU. Diese Parteien sind stärker europäisiert, wie der folgende Blick auf die Parteien im Einzelnen zeigt.

3.2 Die Europäisierung der Parteien

Der Europäisierungsgrad der Parteien in Nordrhein-Westfalen lässt sich durch einen Vergleich mit anderen Landesverbänden der gleichen Partei bzw. der Schwesterpartei in anderen Ländern und im Bund besser einordnen. Im Folgenden sollen die europäischen Bezugnahmen der NRW-Parteien mit denen der Bundespartei und dem Mittelwert aller Landesverbände verglichen werden Bild: Abb. 2 (vgl. Abb. 2). Die SPD hat in Nordrhein-Westfalen den europäischen Integrationsprozess lange als Regierungspartei begleitet, von 2005 bis 2010 wechselte sie nach 39 Jahren Regierungsverantwortung in die Opposition. Im Untersuchungszeit- raum zeigen sich zunächst bis 2002 nur geringe Abweichungen der NRW-SPD bei den europäischen Bezugnahmen gegenüber der SPD in anderen Landesparla- menten. Dann vollzieht sie zunächst – stärker als die SPD in anderen Land- tagen – eine Phase deutlicherer Europäisierung auf Bundesebene. Ab 2005 stellt sich dann eine abnehmende Europäisierung in den Redebeiträgen der sozial- demokratischen Landesparlamentarier in Nordrhein-Westfalen ein. Dieser Trend findet sich so nicht bei CDU und FDP nach deren Übernahme der Regierungs- verantwortung. Er entspricht auch nicht der gleichbleibenden Tendenz bei der

35 Kranenpohl, S. 333.

212 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

SPD in anderen Ländern, und er ist gegenläufig zur Bundesebene. Dort stellt sich ab 2008 ein Trend zunehmender Europäisierung der Redebeiträge ein. Für die Grünen in Nordrhein-Westfalen, SPD-Koalitionspartner von 1995 bis 2005, zeichnet sich ein in Grundzügen synchrones Bild. Mit dem Wechsel in die Opposition 2005 stellt sich zumindest in den Debatten eine Bedeutungsabnahme von Europa ein. Die nordrhein-westfälischen Grünen, deren europäische Bezug- nahmen vor 2004 ausgeprägter waren als die der Grünen in anderen Landtagen, sind nun unterdurchschnittlich europäisiert. Als ein Grund dafür erscheint der Verlust der Regierungsverantwortung im Jahr 2005. Alle nordrhein-westfälischen Parteien verlieren zwar Europa ab 2005/06 zunehmend aus dem Blick. Dies gilt jedoch stärker für die Grünen und die SPD in der Opposition als für CDU und FDP. Gerade der Europäisierungstrend, den die Bundespartei der Grünen mit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise seit 2008 konsequent vollzieht, macht dies im Kontrast deutlich. Inwiefern der Wiedereintritt in eine Landesregierung in 2010 eine Tendenzwende hervorruft, bedarf noch der weiteren Untersuchung. Die CDU ordnet sich in die allgemeinen Europäisierungstrends der nord- rhein-westfälischen Landespolitik ein. Auch hier nehmen die europäischen Bezugnahmen langfristig tendenziell ab, obschon diese auf Bundesebene zunehmen und in anderen Landtagen mehr oder weniger konstant bleiben. Die Europäisierung der Bundespartei ist wie bei den anderen Parteien ausgeprägter als die Europäisierung der Landesverbände. Die Reaktionen auf die Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses sind auf Bundesebene intensiver. Auch bei der NRW-CDU zeigt sich eine starke Abhängigkeit der Europäisierung von der parlamentarischen Rolle: Bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung in 2005 liegen die Europabezüge von Rednern der CDU-Fraktion im Düssel- dorfer Landtag unter dem Mittelwert der Bezugnahmen aller anderen CDU- Landtagsfraktionen. Sie liegen auch praktisch durchgehend unter jenen der Regierungsparteien SPD und Grüne (vgl. Abb. 1). Ab 2005 beziehen sich die nordrhein-westfälischen Christdemokraten im Parlament häufiger auf Europa, als die anderen Parteien. Es zeigt sich: Die CDU ist in Nordrhein-Westfalen nicht durchgängig Europapartei. Sie wird dies erst durch Regierungsverantwortung. Der Europäisierungseffekt durch Regierungsbeteiligung ist schließlich auch bei der FDP erkennbar. Die Europäisierung der Liberalen in Nordrhein-West- falen entspricht den allgemeinen Landestrends – gerade auch im Vergleich zum Bundestrend – und lässt wie bei der CDU von 2005 bis 2010 eine durch die Regierungsbeteiligung verursachte stärkere Europäisierung erkennen. Für Nord-

213 Andreas Blätte und Karina Hohl

Abbildung 2: Europabezüge in den einzelnen Redebeiträgen der Parteien im Vergleich zu allen Landtagsfraktionen und den Bundestagsfraktionen SPD 0,0030

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214 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen

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215 Andreas Blätte und Karina Hohl rhein-Westfalen ergibt sich die These: Mit der Regierungsbeteiligung einer Partei nehmen die Europabezüge in den parlamentarischen Redebeiträgen zu.

4. Fazit: Europäisierungseffekte der Regierungsbeteiligung

Die Analyse der parlamentarischen Redebeiträge der Parteien in Nordrhein- Westfalen zeigt die Präsenz Europas im politischen Diskurs Nordrhein-West- falens. Die These von der Exekutivlastigkeit der Europäisierung findet als solche bei den europabezogenen Wahrnehmungen keine Bestätigung: Es fällt auf, dass die Europabezüge in den Reden von Regierungsmitgliedern gerade nicht häufiger sind, als im Sprachgebrauch von Fraktionsmitgliedern in ihrer Rolle als Abgeordnete. Die Auswertungen auf Grundlage des Plenarprotokollkorpus zeigen allerdings, dass die regierungstragenden Parteien in Nordrhein-West- falen einen kontinuierlichen Europäisierungsvorsprung zu den oppositionellen Fraktionen haben. Als exekutivnahe Akteure im Neuen Dualismus kommen sie einer gewissen Reaktionspflicht auf Europa nach. Das Übergewicht der Europabezüge bei den regierungstragenden Parteien kann im Kontext des Ringens nationaler und regionaler Exekutiven um politische Handlungsfähigkeit und politische Legitimität im europäischen Mehrebenen- system verstanden werden.36 Für regierende Parteien sind die europäischen Handlungsmöglichkeiten der Exekutive ein naheliegender Begründungs- zusammenhang politischen Handelns. Auf diesen nehmen sie Bezug. Während die Opposition vornehmlich Kritik an den in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien übt, können die Regierungsparteien Bezugnahmen zur EU plausibel herstellen, das eigene Regierungshandeln damit begründen oder auch Misserfolge durch den Verweis auf Europa relativieren. Der Vergleich mit der Bundesebene und gerade mit den anderen Bundes- ländern zeigt aber auch: Es gibt in NRW eine Tendenz zum Schwund Europas aus dem Wahrnehmungshorizont der Fraktionen, die gegenläufig ist zum parlamentarischen Geschehen in Berlin. Eine Enteuropäisierung der parlamentarischen Debatten ist auch nicht für die anderen Bundesländer fest- stellbar. Natürlich gibt es die theoretische Möglichkeit, dass die Parteien jenseits der Deutungsdimension des politischen Handelns europäisierte Entscheidungs-

36 Pehle/Sturm, S. 156.

216 Europäisierung der Parteien in Nordrhein-Westfalen prozesse praktizieren. Die Einbeziehung etwa von Europaabgeordneten in die Willensbildung im Landesverband wäre denkbar; eine Analyse sich durch Europäisierung verändernder Entscheidungsnetzwerke wurde hier allerdings nicht geleistet. Jedenfalls für die Ebene der Wahrnehmungen kann gesagt werden: Die Parteien in Nordrhein-Westfalen sind, insofern ihre parlamentarischen Äußerungen ihre Ausrichtung repräsentieren, nicht europäisierter als die anderer Bundesländer – die gegenteilige Tendenz ist feststellbar.

217

II. Parteienprofile

219

Sebastian Bukow links: Sebastian Bukow rechts: Die SPD in Nordrhein-Westfalen Die SPD in Nordrhein-Westfalen Aus der Diaspora zur temporären Hegemonialmacht

1. Einleitung Die Sozialdemokratie an Rhein und Ruhr1 ist mit über vierzig Jahren Regierungs- erfahrung die prägende Regierungspartei im Land. Gegenwärtig ist sie zudem eine der elektoral erfolgreichsten SPD-Landesparteien. Hannelore Kraft, Minister- präsidentin und Landesvorsitzende der NRWSPD, führt die Beliebtheitsliste der SPD-Politiker bundesweit an.2 Auch innerparteilich ist die NRWSPD eine spürbare Größe: Jeder vierte Genosse ist Mitglied der NRWSPD, der SPD-­ Kanzlerkandidat 2013 war zuvor u. a. Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und die beiden bisherigen Bundespräsidenten der SPD kamen aus der NRWSPD. Es überrascht also nicht, dass Nordrhein-Westfalen den Ruf genießt, Stamm- land der SPD zu sein. Allerdings zeigt eine genaue Betrachtung, dass es sich dabei um einen Mythos handelt.3 Historisch gesehen war Nordrhein-Westfalen lange Zeit ein sozialdemokratisches »Armenhaus«, das sich erst spät (und eher vorübergehend) zur »Wagenburg« entwickelte.4 Eine Dominanz, wie sie die Unionsparteien in Bayern oder Baden-Württemberg lange Jahre hatten, hat die SPD in Nordrhein-Westfalen nie erreicht. Wie konnte es also zu diesem Mythos

1 »Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Landesverband Nordrhein-Westfalen, abgekürzt: NRWSPD« (§ 2 Satzung NRWSPD). In diesem Kapitel wird der offiziellen Kurzbenennung gefolgt. 2 Tagesschau/Infratest Dimap: Deutschlandtrend (03/2013), Hamburg 2013. 3 Uwe Andersen/Rainer Bovermann: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, in: S. Mielke/​ W. Reutter (Hg.): Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 312; Jan Treibel: Wahlen zum Landtag Nordrhein-Westfalen, in: N. Grasselt/M. Hoffmann/J.-V. Lerch (Hg.): Der Landtag Nordrhein-Westfalen, Opladen u. a. 2011, S. 52; Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen – das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern, München 2010, S. 276. 4 Karl Rohe: Vom sozialdemokratischen Armenhaus zur Wagenburg der SPD, in: Geschichte und Gesellschaft, 13/4 (1987).

221 Sebastian Bukow kommen, und wie hat sich die NRWSPD vom Armenhaus nach oben gearbeitet? Dies zu klären ist Gegenstand der nachfolgenden Analyse.

2. Gründung und historische Genese

Die Wurzeln der SPD reichen parteiengeschichtlich bis ins Kaiserreich.5 So überrascht es nicht, dass die SPD bei ihrer Gründung organisatorisch und personell an ihre Vergangenheit, insbesondere an die Weimarer Zeit, anknüpft.6 Organisatorisch erfolgt die Parteigründung 1945 auf Bezirksebene, in den vier Bezirksverbänden Oberrhein (ab 1948: Mittelrhein), Niederrhein, Westliches Westfalen und Östliches Westfalen (ab 1947: Ostwestfalen-Lippe). Damit beginnt bei der SPD die Parteiarbeit auf der mittleren Ebene zwischen Orts- und Landes- gliederungen. Erst im Anschluss folgt eine Reaktivierung des Parteilebens auf lokaler Ebene.7 Die Landesparteiorganisation wird sogar erst 1970 gegründet. Trotz des Vorteils, an alte Strukturen anknüpfen und auf erfahrene Genossen in der Parteiarbeit zurückgreifen zu können – zu Beginn ist keineswegs ausgemacht, dass die SPD später einmal temporär zur nordrhein-westfälischen Hegemonial- macht aufsteigen würde. Denn die SPD ist in der Weimarer Republik in den Gebieten, die 1946 auf Beschluss der britischen Besatzungsmacht zu Nordrhein- Westfalen zusammengeführt wurden, in einer strukturell schwierigen Situation. Der Parteienwettbewerb strukturierte sich dort in der Weimarer Zeit entlang der ökonomischen und religiösen Konfliktlinie, sodass das heutige Nordrhein-

5 U. a. Rohe; Arno Klönne: Die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985. 6 Politische Parteien bedurften in den Jahren 1945–1950 der Lizenzierung durch die Besatzungsmacht, wobei die Gründung im Bereich der westlichen Besatzungsmächte von unten nach oben erfolgen sollte (Gert-Joachim Glaeßner: Politik in Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 442–443). In Nordrhein-Westfalen erfolgten im liberal-bürgerlichen Spektrum Parteineugründungen (CDU, FDP), im (eher) linken Spektrum wurden dagegen alte Traditions- bzw. Organisationslinien wieder aufgenommen (SPD, KPD, Zentrumspartei). Zur SPD-Verankerung vgl. Klönne; zudem u. a. Solar, S. 280–285. Für eine personelle Kontinuität stehen u. a. Kurt Schumacher (SPD-Vorsitzender für die britische Zone) sowie die ersten Bezirksvorsitzenden Carl Severing, Fritz Henßler, Ernst Gnoß und Robert Görlinger; vgl. Solar, S. 281. 7 Solar, S. 281.

222 Die SPD in Nordrhein-Westfalen

Westfalen vor allem eine Hochburg des politischen Katholizismus war.8 Diese Strukturierung wirkte sich für die SPD zum Nachteil aus. Die sozialdemo- kratisch relevanten Milieus, insbesondere die Arbeiterschaft, organisierten sich in der katholischen Zentrumspartei.9 Diese erzielte dadurch weitaus bessere Wahl- ergebnisse als die SPD, selbst dann noch, als am Ende der Weimarer Republik die Zustimmung zum Zentrum zurückging.10 Auffallend stark war auch die KPD, die in den Gebieten des späteren Nordrhein-Westfalens überdurchschnitt- liche Ergebnisse erzielte.11 Dafür war eine starke Wählerwanderung weg von der SPD hin zur USPD, dann KPD, ursächlich. Diese wurde ausgelöst durch »das Scheitern der sozialen Bewegungen an Rhein und Ruhr 1919/1920 und die Enttäuschung über die Rolle, die in diesem Zusammenhang die (Mehrheits-) Sozialdemokratie gespielt hatte.«12 Die territorialen Vorläufer von Nordrhein- Westfalen waren damit eine »sozialdemokratische Diaspora«.13 Sieht man von wenigen Gebieten ab (Bergisches Land; später auch das Ruhrgebiet), so war die SPD keineswegs die erste Wahl der Arbeiterschaft im historischen Nordrhein- Westfalen. Die SPD wurde vielmehr von links (KPD; nichtkatholische Arbeiter- schaft) wie rechts (Zentrum; katholische Arbeiterschaft) bedrängt. Dennoch gelang ihr, dies zeigt der nachfolgende Abschnitt, nach dem Zweiten Weltkrieg ein deutlicher Sprung nach oben in der Wählergunst. Dies war für die spätere temporäre Hegemonie von zentraler Bedeutung.

8 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wies- baden 2008, S. 315. 9 Siehe das Kapitel von Ute Schmidt in diesem Band. 10 Solar, S. 279. 11 Siehe das Kapitel von Till Kössler in diesem Band. 12 Klönne, S. 75. 13 Solar, S. 279.

223 Sebastian Bukow

3. Entwicklung: Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligung

Die Entwicklung von Parteien erfolgt nicht unabhängig von ihrer Umwelt. Daher ist es notwendig, die elektorale Entwicklung der nordrhein-westfälischen SPD in Zusammenhang mit der Parteiensystementwicklung zu sehen.14 Nach- folgend soll dabei nicht auf Koalitions- oder Amtsperioden abgestellt werden, es interessieren vielmehr wesentliche Phasen im Parteienwettbewerb, weshalb Wahlergebnisse, Fragmentierung und Asymmetrie des Parteiensystems betrachtet werden. Letzteres ist schon deshalb sinnvoll, weil die SPD stets im Wechselver- hältnis zur CDU zu sehen ist. Nur diese beiden Parteien stehen in Deutsch- land normalerweise im Wettbewerb um die Regierungsführung.15 Zudem ist für Nordrhein-Westfalen kennzeichnend, dass nur SPD und CDU von Beginn an und bis heute ununterbrochen im Landtag vertreten sind. Diese beiden Parteien haben das politische Geschehen sowie das nordrhein-westfälische Parteiensystem geprägt, wobei deren Verhältnis zueinander nicht nur durch einen harten Wett- bewerb, sondern auch – im Sinne der Kartellparteienthese – durch gegenseitige Proporz- und Ausgleichsregelungen gekennzeichnet ist.16 In der Literatur finden sich unterschiedliche Vorschläge zur Periodisierung der nordrhein-westfälischen Parteiensystementwicklung.17 Ohne die Unter- schiede an dieser Stelle im Detail auszuführen, lassen sich gleichwohl etwas ver- allgemeinert vier Phasen herausstellen: (1) Gründungs-/Konsolidierungsphase, (2) Zweieinhalbparteiensystem-/Polarisierungsphase, (3) Hegemonialphase, (4) Lagerpolarisierungs-/Fragmentierungsphase. Dabei stellt sich das nord- rhein-westfälische Parteiensystem insgesamt als wenig spektakulär dar.18 Die Fragmentierung ist gering, die Mobilisierungsleistung der beiden Großparteien

14 Zur Parteien- und Parteiensystementwicklung in NRW insb. Ulrich von Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985; Andersen/Bovermann; Karl- Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen, Wies- baden 2006; Kranenpohl; Solar; Rohe. Zur Periodisierung von Parteiensystemen: Ulrich von Alemann/Philipp Erbentraut/Jens Walther: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2010, S. 46. 15 Wenke Seemann/Sebastian Bukow: Große Koalitionen in Deutschland, in: S. Bukow/W. Seemann (Hg.): Die große Koalition, Wiesbaden 2010. 16 Ulrich von Alemann/Patrick Brandenburg: Nordrhein-Westfalen, Köln 2000, S. 122–123. 17 Bspw. Andersen/Bovermann; Korte/Florack/Grunden; Kranenpohl; Solar. 18 Kranenpohl, S. 318.

224 Die SPD in Nordrhein-Westfalen lange Zeit hoch19 und die Asymmetrie zwischen CDU und SPD moderat (vgl. Tab. 1). Charakteristisch für NRW ist die Hegemonie der beiden Groß- parteien, erst der CDU, dann der sich verspätet durchsetzenden SPD.20 Seit 2010 haben sich mit der rot-grünen Minderheitsregierung (bis 2012) und der moderat gestiegenen Fragmentierung (2010–2012 Linke, seit 2012 Piraten im Landtag) neue, etwas spektakulärere Entwicklungen eingestellt. Bild: tab 1

Tabelle 1: Wahl- und Regierungsdaten SPD in Nordrhein-Westfalen (1947–2012) 1947 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1975 Wahlbeteiligung 67,3 72,3 72,6 76,6 73,4 76,5 73,5 86,1 SPD (Prozent)* 32,0 32,3 34,5 39,2 43,3 49,5 46,1 45,1 CDU (Prozent)* 37,6 36,9 41,3 50,5 46,4 42,8 46,3 47,1 Ministerpräsident CDU CDU CDU CDU CDU SPD SPD SPD SPD Asymmetrie** –5,6 –4,6 –6,8 –11,3 –3,1 6,7 –0,2 –2,0 Fragmentierung*** 3,36 3,22 2,74 2,27 2,28 2,30 2,22 2,29

1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012 Wahlbeteiligung 80,0 75,2 71,8 64,0 56,7 63,0 59,3 59,6 SPD (Prozent)* 48,4 52,1 50,0 46,0 42,8 37,1 34,5 39,1 CDU (Prozent)* 43,2 36,5 36,7 37,7 37,0 44,8 34,6 26,3 Ministerpräsident CDU SPD SPD SPD SPD SPD SPD SPD Asymmetrie** 5,2 15,6 13,3 8,3 5,8 –7,7 –0,1 12,8 Fragmentierung*** 1,99 2,19 2,42 2,42 2,81 2,56 3,34 3,51

1954–1958: Regierungswechsel 1956 (Arnold, CDU zu Steinhoff, SPD); * LTW 2010/2012: Zweit- stimmen; kursiv: absolute Mehrheit im Parlament (Mandate); **Asymmetrie: SPD–CDU (negatives Vorzeichen: CDU stärker als SPD); ***Fragmentierung: Effektive Parteienzahl (Parlament) nach Laakso/Taagepera (1979); eigene Berechnungen; Datengrundlage: Landeswahlleiter NRW.

19 Wobei auch das Einstimmenwahlrecht (bis 2005) einer Fragmentierung entgegengewirkt haben dürfte, vgl. Kranenpohl, S. 319. 20 Andersen/Bovermann, S. 328.

225 Sebastian Bukow

Betrachtet man die Parteiensystementwicklung mit dem elektoralen Blick der SPD, so ist schon der (Wieder-)Einstieg in den Parteienwettbewerb für die SPD sehr erfolgreich. Die SPD beginnt »in der Bundesrepublik auf einem Niveau, das zwei- bis dreimal höher liegt als ihr Niveau zu Zeiten der Weimarer Republik.«21 Dabei kann die SPD in Nordrhein-Westfalen vor allem dort Gewinne verbuchen, wo sie zu Weimarer Zeiten besonders schlecht abgeschnitten hat. Die Stimmen- gewinne der SPD in Nordrhein-Westfalen entstammen unterschiedlichen Quellen. So steht zu vermuten, dass Teile der ehemaligen NSDAP-Wähler nach deren Verbot – nun wieder parteilich ungebunden – für die SPD stimmten.22 Entscheidender für den Aufstieg der SPD ist jedoch der Niedergang der beiden Hauptkonkurrenten KPD und Zentrum. Die KPD, zentralistisch von Berlin aus gesteuert, vertrat eine radikalere Politik als die SPD.23 Sie erzielt zwar in Nordrhein-Westfalen zu Beginn noch vergleichsweise gute Ergebnisse, aber in den 1950er-Jahren setzt auch dort der Niedergang ein. Das Angebot einer (frei- willigen) Vereinigung von KPD und SPD nach Vorbild der SED lehnt die SPD ab. Stattdessen gelingt es der SPD, die Wählerschaft der KPD für sich zu gewinnen, und zwar schon vor dem höchstrichterlichen KPD-Verbot­ 1956. Vom Nieder- gang des Zentrums, 1954 letztmalig elektoral erfolgreich, profitiert zunächst die CDU. Sie knüpft unter Ministerpräsident Arnold an die Tradition des Sozial- katholizismus an und wirbt erfolgreich um die katholische Arbeiterschaft. Mittel- fristig profitiert jedoch vor allem die SPD vom Niedergang des Zentrums, denn damit verschwindet ein zuvor starker Mitbewerber im Arbeitermilieu von der Bildfläche. So gelingt es der SPD in den Folgejahren, die Arbeiterschaft doch noch für sich zu gewinnen und vom Niedergang des Zentrums zu profitieren.24 Entscheidend für die erfolgreiche Einbindung zuvor kommunistischer und sozialkatholischer Wähler ist die »Sozialdemokratisierung des Reviers«.25 Es gelingt der SPD, wichtige Linkages zu festigen, insbesondere im gewerkschaft- lichen Bereich: »Die Hinwendung großer Teile der Arbeiterschichten […] zur SPD in den 50er Jahren geschah nicht voraussetzungslos. […] die SPD [war …]

21 Rohe, S. 514. 22 Klönne, S. 78–85. 23 Solar, S. 282. 24 Klönne, S. 83. 25 Klönne, S. 81; auch Andersen/Bovermann, S. 313.

226 Die SPD in Nordrhein-Westfalen die ›Fortsetzung der Einheitsgewerkschaft mit anderen Mitteln‹«.26 Doch trotz dieser relativen Erfolge und steigender Wahlergebnisse: Die SPD kann bis 1966 in keiner Wahl an der CDU vorbeiziehen. Die Übernahme der Regierung in Folge einer Wahl ist ihr nicht möglich. Eine kurze, vom Wähler jedoch nicht honorierte Regierungsphase war gleichwohl möglich, als SPD und FDP bundes- politisch beeinflusst Ministerpräsidenten Karl Arnold durch ein Misstrauens- votum stürzten und Fritz Steinhoff zum Ministerpräsidenten wählten (1956– 1958).27 Allen Bemühungen der SPD zum Trotz: Die CDU, u. a. gestärkt durch den oben beschriebenen Niedergang des Zentrums, hat bis in die 1960er Jahre hinein eine dominante elektorale Stellung in Nordrhein-Westfalen. Seit 1966 ist die SPD mit einer Unterbrechung (2005–2010) die Regierungs- partei Nordrhein-Westfalens.28 Den Ausgangspunkt bildet aber nicht die Land- tagswahl 1966: In dieser liegt die SPD zwar erstmals vor der CDU, sie verpasst aber knapp die absolute Mehrheit. Da die FDP ihrem Koalitionspartner CDU die Treue hält, fehlt der SPD im Dreiparteienparlament ein Mehrheitsbeschaffer. Die unterlegene CDU bleibt in der Regierung, der Wahlgewinner SPD in der Opposition. Diese Konstellation ist jedoch nicht von Dauer, denn in Folge der bundespolitischen Entwicklung – die Große Koalition wird im Bund auf den Weg gebracht – kommt es in der FDP zum Umdenken. In Sorge vor einem Machtverlust entscheidet sie sich für einen Partnertausch, sodass die SPD in die Regierungsverantwortung gelangt.29 Der FDP kommt damit für die Ent- wicklung der SPD Nordrhein-Westfalens zur Regierungspartei eine Schlüssel- rolle zu. Die Koalitionspräferenz der FDP sichert der SPD darüber hinaus vor allem bei den nachfolgenden Wahlen den Machterhalt, bei denen die NRWSPD nicht zuletzt aus bundespolitischen Gründen der CDU elektoral unterliegt (1970, 1974). Im Wettstreit der beiden Großparteien um die Vormachtstellung an Rhein und Ruhr ist damit festzustellen: Zwischen SPD und CDU besteht bis Anfang der 1980er Jahre ein »strukturelles Patt«.30 Es gelingt der SPD in den 1960/70er- Jahren nicht, sich von der CDU elektoral abzusetzen.

26 Klönne, S. 83. 27 Die SPD war zudem bis 1950 an der Regierung beteiligt, stellte jedoch nicht den Ministerpräsidenten. 28 Siehe die Aufstellung der Ministerpräsidenten im Anhang B in diesem Band. 29 Korte/Florack/Grunden, S. 51. 30 Korte/Florack/Grunden, S. 51; Kranenpohl, S. 317.

227 Sebastian Bukow

Bei der Landtagswahl 1980 – die FDP scheitert denkbar knapp an der Fünf- Prozent-Hürde – erreicht die SPD erstmals eine absolute Mehrheit, die sie 1985 und 1990 verteidigen kann. Sie erreicht damit unter Johannes Rau, der als Ministerpräsident zwanzig Jahre lang das Land regiert (1978–1998), eine dominante Stellung.31 Der Erfolg der SPD in dieser Phase ist dabei vorrangig der Person Rau geschuldet. Ihm gelingt es, als »Landesvater« breite Wählerschichten zu erreichen und zudem eine Landesidentität aufzubauen.32 Die SPD erzielt auf Landesebene – und nur auf dieser – weit überdurchschnittliche Ergebnisse.33 Trotz des zunächst großen Vorsprungs der SPD bleibt die Asymmetrie des Parteienwettbewerbs im Vergleich zu den unionsdominierten Ländern Bayern und Baden-Württemberg letztlich moderat34, auch wenn die SPD zeitweise Züge einer »besonderen Form von ›Staatspartei‹«35 annimmt. Die Stärke der NRWSPD resultiert dabei zum einen aus der Schwäche der Union, die sich im innerparteilichen Konflikt zerreibt.36 Die NRWSPD profitiert aber zum anderen auch von der industriellen Transformation, die Ende der 1980er Jahre zu massiven Arbeitsplatzverlusten im Ruhrgebiet führt. Da die sozialdemokratischen Milieus aber in diesem Zeitraum noch intakt bleiben, verdankt die NRWSPD »der Krise der traditionellen Industrien […] die maximale Mobilisierung ihrer ver- unsicherten Kernwählerschaft«.37 So kann die NRWSPD ihren elektoralen Vor- sprung vor der CDU halten. Allerdings reduziert sich dieser ab 1985 kontinuier- lich. Denn der Strukturwandel, der zunächst noch einmal der NRWSPD zu ungeahnter Stärke verholfen hatte, trägt mittelfristig zum elektoralen Niedergang der NRWSPD bei. Die NRWSPD findet letztlich keine Antwort auf die Erosion des industriellen Milieus und der dort verankerten Vorfeldorganisationen. Die neue Konfliktlinie (»neue« vs. »alte Politik«) verändert den Parteienwettbewerb

31 Rau wurde im Zuge der Regierungsbildung 1966 SPD-Fraktionsvorsitzender (ab 1967), war dann u. a. ab 1970 Minister für Wissenschaft und Forschung und Vorsitzender der NRWSPD (1977–1998). Dazu kommen weitere Ämter und Funktionen auf lokaler und bundespolitischer Ebene (u. a. zum Abschluss seiner politischen Karriere Bundes- präsident, 1999–2004). 32 Korte/Florack/Grunden, S. 28–30. 33 Solar, S. 289. 34 Kranenpohl, S. 319. 35 Solar, S. 289. 36 Kranenpohl, S. 317; Solar, S. 289. 37 Korte/Florack/Grunden, S. 54.

228 Die SPD in Nordrhein-Westfalen und ermöglicht letztlich den parlamentarischen Erfolg der Grünen.38 Doch auch die Ermüdung der NRWSPD nach einer überlangen Regierungsphase und widrige bundespolitische Verhältnisse haben an der Machterosion einen Anteil. Dazu kommen Schwächen in der Personalisierung: Weder Wolfgang Clement, der einige Jahre nach seiner Amtszeit die Partei im Streit verlässt, noch der spätere Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück erreichen die Beliebtheit Raus. So wird 1995 eine rot-grüne Koalition erforderlich, die im Jahr 2000 noch ein- mal – bei weiter rückläufigen SPD-Wahlergebnissen – die Mehrheit erkämpfen kann. Bei der Landtagswahl 2005 gelingt dies jedoch nicht mehr. Die SPD hat sich von ihren Kernmilieus entfremdet, nicht zuletzt in Folge einer schon zuvor ein- setzenden, elektoral wenig erfolgreichen marktliberaleren Policy-Orientierung.39 Damit endet die fast vierzig Jahre dauernde SPD-Regierungszeit, die gleichwohl nur in den 1980er-Jahren mit einer Dominanz der SPD einherging. Der lang- jährige SPD-Erfolg war dabei keineswegs absehbar, er basiert vielmehr auf der parteilichen Aufbauarbeit in den 1950/1960er-Jahren40 – auch wenn in einigen Gebieten der Wahlerfolg zumindest in der Neugründungsphase »in der Tat ›naturwüchsig‹ auf die SPD zulief«41 – und auf der Popularität von »Übervater« Johannes Rau. Dazu kommen für die SPD vorteilhafte Rahmenbedingungen. Johannes Rau verdankt es die SPD jedoch, dass sie sich trotz einsetzender Erosionserscheinungen über Jahrzehnte an der Regierung halten kann und so das Fundament für den Mythos vom SPD-Stammland legt. Eben dieser Anspruch, die natürliche Regierungspartei in Nordrhein-Westfalen zu sein, wird im Jahr 2010 deutlich. Bei der Wahl hat die SPD zwar, gemeinsam mit dem grünen Wunsch- partner, keine parlamentarische Mehrheit und das seit über 50 Jahren schlechteste Ergebnis. Es gelingt den beiden Parteien trotzdem, eine Minderheitsregierung mit Hannelore Kraft an der Spitze durchzusetzen.42 Nicht zuletzt durch ihre Popularität als »Landesmutter« und durch massive Fehler im CDU-Wahlkampf

38 Siehe dazu das Kapitel von Niko Switek in diesem Band. 39 Korte/Florack/Grunden, S. 56–57. 40 Korte/Florack/Grunden, S. 40. 41 Rohe, S. 521. 42 Niko Switek: Wieder einmal Trendsetter?, Duisburg-Essen 2011; Ursula Feist/Hans- Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010, in: Zeit- schrift für Parlamentsfragen, 41/4 (2010).

229 Sebastian Bukow kann Kraft dann bei der vorzeitigen Neuwahl 2012 das Wahlergebnis der SPD steigern, sodass sie in etwa das Niveau von 1958 erreicht. Die 40-Prozent-Marke, die die SPD zwischen 1962 und 2000 stets überschritt, erreicht die SPD jedoch nicht. Gemeinsam mit den Grünen gewinnt die rot-grüne Koalition eine eigene Mehrheit, mit der sie seit 2012 regiert.43 Die SPD schöpft ihre elektorale Kraft dabei vor allem aus der Gruppe der älteren Wähler (über 45 Jahre); hier erzielt sie Ergebnisse von deutlich über 40 Prozent. Entscheidend ist bei der Wahl 2012, dass die SPD alte, fast verloren geglaubte Linkages wiederbeleben kann: Die SPD wurde 2012 »wieder zur Partei der Arbeitnehmer und vor allem der Arbeiter. Mehr als die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder wählte Hannelore Kraft.«44 Dabei gewinnt die SPD vor allem in den Großstädten, sie liegt aber selbst in kleineren Gemeinden (bis 100.000 Einwohner) vor der CDU.

4. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation

Die NRWSPD ist nicht nur elektoral durch einen späten Erfolg geprägt. Auch die Parteiorganisation entstand verspätet: Erst im Zuge der Entwicklung zur »Catch- All Party«45 und in Zeiten eines massiven Mitgliederaufwuchses wurde 1970 die Landesparteiorganisation NRWSPD gegründet, wobei bereits ab 1963 ein Landesvorstand tätig war.46 Zuvor waren die vier Bezirke, die lange Zeit noch die innerparteilich dominierenden Akteure waren, die zentrale Ebene. Die Bezirke wurden, u. a. in Folge des Kommunalwahl-Desasters 199947 und als Reaktion auf den Mitgliederrückgang, im Jahr 2001 abgeschafft.48 Damit übernimmt der

43 Stefan Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 2012, in: Zeit- schrift für Parlamentsfragen, 43/3 (2012). 44 Bajohr, S. 558 (Herv.i. O.). 45 Otto Kirchheimer: The Catch-All Party, in: P. Mair (Hg.): The West European Party System, Oxford 1990, S. 50–60. 46 Friedhelm Farthmann: 40 Jahre SPD-Landtagsfraktion, in: K. J. Denzer (Hg.): 40 Jahre Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1986, S. 134. 47 Kranenpohl, S. 329. 48 Zu den Bezirken siehe bspw. Thomas Poguntke: Parteiorganisationen in der Bundes- republik Deutschland: Einheit in der Vielfalt?, in: O. W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997, S. 265; zur Abschaffung selbiger siehe Ulrich von Alemann/Christoph Strünck/Ulrich Wehrhöfer: Die alten Parteien in der neuen Gesellschaft, in: Berliner Republik, 6 (2001), S. 72; Alexander

230 Die SPD in Nordrhein-Westfalen

Landesverband die Rolle der Bezirke gemäß Bundessatzung (§ 8 Abs. 2 OrgStatut SPD): Der Landesverband ist »Grundlage der Organisation der SPD in Nord- rhein-Westfalen« (§ 1 Satzung NRWSPD). Funktional wurde die Untergliederung jedoch nicht aufgegeben, die Landespartei hat nunmehr vier Regionen gebildet, die gemäß Satzung die Arbeit der 54 Unterbezirke unterstützen und koordinieren und zur Erfüllung ihrer Aufgaben u. a. über eigene Delegiertenkonferenzen ver- fügen (»Regionalkonferenzen«; vgl. § 14 Satzung NRWSPD). So sind die Bezirks- traditionen zumindest teilweise weiterhin existent.49 Der formale Aufbau der SPD ist durch Pfadabhängigkeiten geprägt; es sind im Zuge einiger Parteireformen aber auch Angleichungen an die Strukturen der Mit- bewerber zu erkennen. Der Aufbau folgt normativ-institutionellen Vorgaben50 und lässt eine klare Orientierung am Mitgliederpartei-Modell erkennen51, wobei sich die NRWSPD selbst als »Mitglieder- und Volkspartei«52 versteht. Wie alle etablierten deutschen Parteien ist die NRWSPD in ihren Entscheidungsstrukturen repräsentativdemokratisch strukturiert53, wozu die NRWSPD drei Organe in der Satzung verankert hat: Landesparteitag, Landesparteirat und Landesvorstand. Der Landesparteitag ist die oberste Beschlussinstanz der Partei (§ 5 Satzung NRWSPD). Dem Mitgliederparteimodell folgend, orientiert sich das Berechnungs­verfahren für die 450 Delegierten der Unterbezirke ausschließlich an der lokalen Mitgliederstärke (dazu kommen stimmberechtigt die gewählten Mit- glieder des Landesvorstands). Der ordentliche Parteitag kommt, den parteien- rechtlichen Mindestvorgaben folgend, alle zwei Jahre zusammen und ist die oberste Wahlinstanz (bei innerparteilichen Ämtern der Landespartei, insb. Vorstand) sowie für zentrale politische Beschlussfassungen zuständig (bspw. Wahlprogramm). Die Aufstellung von Landeslisten für öffentliche Ämter über-

Troche/Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Der Aufbau der Parteien SPD und CDU, Berlin 2002, S. 5–6; Martin Gorholt: Parteireform und Mitgliederent- wicklung (Vortrag), Berlin 2007. 49 Sebastian Bukow: Die professionalisierte Mitgliederpartei, Wiesbaden 2013, S. 118–119. 50 Sebastian Bukow: Parteiorganisationsreformen zwischen funktioneller Notwendigkeit und institutionellen Erwartungen, in: U. Jun/O. Niedermayer/E. Wiesendahl (Hg.): Die Zukunft der Mitgliederpartei, Leverkusen 2009. 51 Bukow: Die professionalisierte Mitgliederpartei. 52 Vgl. www.nrwspd.de/html/4/welcome/index.html, Stand: 20.3.2013. 53 Sebastian Bukow/Thomas Poguntke: Innerparteiliche Organisation und Willensbildung, in: O. Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienfoschung, Wiesbaden 2013.

231 Sebastian Bukow nimmt eine Landesdelegiertenkonferenz, die sich analog zum Landesparteitag zusammensetzt (§ 8 Satzung NRWSPD). Der Landesparteirat stellt faktisch einen kleinen Parteitag dar und ist zwischen den Landesparteitagen das höchste Gremium der NRWSPD. Ihm gehören 100 Delegierte der Unterbezirke an, dazu kommen weitere beratende Mitglieder (Landesvorstand, Parteigeschäftsführer u. a.). Er soll vor allem den Landesvorstand beraten, an der innerparteilichen Willensbildung mitwirken und im Rahmen der ihm zugewiesenen Aufgaben Beschlüsse fassen (§ 10 Satzung NRWSPD). Dazu tritt er in der Regel vierteljährlich zusammen. Im politischen Tagesgeschäft der Parteiorganisation kommt dem Landes- vorstand und der Parteizentrale eine wichtige Rolle zu.54 Der Landesvorstand leitet die Landespartei (§ 9 Satzung NRWSPD). Mit einer Größe von bis zu 37 stimmberechtigten Mitgliedern und weiteren beratenden Mitgliedern ist er für die tagtägliche Parteisteuerung deutlich zu groß. Die NRWSPD verfügt dazu über ein Präsidium (geschäftsführender Vorstand), das mit bis zu 13 Mitgliedern (ex officio sowie aus der Mitte des Landesvorstands gewählt; in seiner Gesamtheit quotiert und unter Berücksichtigung der Regionen) immer noch vergleichsweise groß ist. Ihm gehört auch die Ministerpräsidentin qua Regierungsamt an, wobei Hannelore Kraft als Landesvorsitzende der NRWSPD bereits Präsidiumsmitglied ist. Faktisch unverzichtbar für die Parteiorganisation ist ein professioneller Partei- apparat. Die Parteizentrale sieht sich als »Wahlkampfzentrale und Servicebüro« der Partei, in der »die Politik der NRWSPD in die Praxis umgesetzt und Service für Mitglieder« bereitgestellt wird.55 Dabei ist die Parteizentrale wie bei allen deutschen Parteien mit knapp 20 Mitarbeitern/Referenten56 im Vergleich zur Parlamentsfraktion und dem Regierungsapparat schwach ausgestattet.57 Die rückläufige Organisationsstärke führte auch bei der NRWSPD zur Notwendig- keit, Personal – etwa auf der Unterbezirksebene – abzubauen.

54 Der Fokus liegt hier auf dem Kern der vereinsartigen Mitgliederparteiorganisation. Nicht betrachtet wird daher die »Party in Public Office« (Regierung, Fraktion und jew. Mitarbeiter), auch wenn dieser bei der Policy-Formulierung/Durchsetzung eine zentrale Rolle zukommen dürfte. 55 Vgl. www.nrwspd.de/html/18738/welcome/Partei.html, Stand: 20.3.2013. 56 Vgl. www.nrwspd.de/html/7/welcome/Geschaeftsstelle.html, Stand: 20.3.2013. 57 Sebastian Bukow: Politik als Beruf – auch ohne Mandat, in: M. Edinger/W. J. Patzelt (Hg.): Politik als Beruf. (PVS Sonderheft 44), Wiesbaden 2011; Bukow: Die professionalisierte Mitgliederpartei.

232 Die SPD in Nordrhein-Westfalen

Die SPD versteht sich selbst als »Mitgliederpartei«.58 Wie die formale Organisation zeichnet sich auch die vereinsartige Mitgliederorganisation durch eine verspätete Entwicklung aus. In den Anfangsjahren war die SPD weder in ihrer Mitgliederstruktur noch in ihrer Personaldecke auf die Wahlerfolge vor- bereitet. Große Mitgliederzuwächse sind – wie bei SPD und CDU bundesweit – erst Ende der 1960er und in den 1970er Jahren zu verzeichnen, also nach den frühen Wahlerfolgen der SPD auf dem Weg zur Volkspartei.59 Dabei ist eine Akademisierung der Partei nicht zu übersehen, insbesondere im Parteiapparat und bei den höheren Funktionären/Mandatsträgern. Die SPD entwickelt sich in dieser Wachstumsphase, dem gesellschaftlichen Wandel entsprechend, von der Arbeiter- zur Arbeitnehmerpartei.60 Dem Mitgliederzuwachs folgt jedoch schon bald eine Phase des Mitglieder- rückgangs. Seit dreißig Jahren verliert die SPD fast kontinuierlich Mitglieder, wobei der Mitgliederschwund eine international zu beobachtende, parteiüber- greifende Entwicklung ist.61 Die Verluste der NRWSPD sind jedoch deut- lich stärker als die der Gesamtpartei: Zwischen 1990 und 2011 verlor die SPD 48,1 Prozent (943.402 zu 489.638), die NRWSPD 55,5 Prozent ihrer Mitglieder (287.130 zu 127.765).62 Damit ist die SPD zwar weiterhin der mit Abstand größte SPD-Landesverband, im Land selbst musste sich die SPD jedoch der CDU geschlagen geben. Seit 2003 ist die CDU die mitgliederstärkste Partei in Nord- rhein-Westfalen (2011: 150.257 Mitglieder).

58 Zum Begriff Mitgliederpartei siehe Elmar Wiesendahl: Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006, S. 20–22. 59 Rohe, S. 521–522. 60 Vgl. für die frühere NRWSPD Horst Becker/Bodo Hombach u. a.: Die SPD von innen. Bestandsaufnahme an der Basis der Partei. Auswertung und Interpretation empirischer Untersuchungen in der SPD Nordrhein-Westfalen, Bonn 1983, S. 59–63. Eine aktuelle Bestandsaufnahme über Parteimitglieder in Deutschland bietet Tim Spier/Markus Klein/Ulrich von Alemann/Hanna Hoffmann/Annika Laux/Alexandra Nonnenmacher/ Katharina Rohrbach: Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011. 61 U. a. Ingrid van Biezen/Peter Mair/Thomas Poguntke: Going, Going, … Gone? The Decline of Party Membership in Contemporary Europe, in: European Journal of Political Research, 51/1 (2012). 62 Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2012. Zum Mitglieder- verlust in NRW siehe exemplarisch auch Nicolai Dose/Nathalie Golla/Anne-Kathrin Fischer: Mitgliederschwund bei der SPD, Duisburg 2012.

233 Sebastian Bukow

Die rund 128.000 nordrhein-westfälischen SPD-Mitglieder können sich in etwa 1.400 Ortsvereinen engagieren.63 Allerdings lassen die Befunde einer bundes- weiten SPD-Ortsvereinsbefragung 2010 vermuten, dass längst nicht alle Ortsver- eine tatsächlich aktiv sind.64 Als vereinsartige Mitgliederparteiorganisation steht auch die NRWSPD vor der Herausforderung, eine schrumpfende, überalterte Organisation zu sein. Dabei ist gegenwärtig noch nicht zu beurteilen, in welchem Umfang die NRWSPD auf die damit verbundenen Herausforderungen reagieren wird. Abzuwarten bleibt insbesondere, in welchem Umfang die mit der bundes- weiten SPD-Parteireform 2011 beschlossenen Maßnahmen zur Erneuerung der Mitgliederpartei, die u. a. auf eine stärkere Beteiligung der Parteimitglieder im innerparteilichen Entscheidungsprozess zielen, umgesetzt werden.65

5. Programmatisches Profil

Die nordrhein-westfälische SPD versteht sich, an ihr Weimarer Profil anknüpfend, von Beginn an als »Interessenvertretung der Industriearbeiterschaft«, mit dem Ziel einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft, »die auf einer Umgestaltung der Produktionsverhältnisse beruhen sollte«.66 In den 1950er-Jahren justiert die SPD ihre Position neu. Ohne die KPD als Konkurrenz zur Linken und im Werben um die ehemaligen Zentrum-Wähler sucht die SPD eine Position, mit der es ihr möglich sein sollte, die Regierungsmehrheit zu erlangen. Das Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses ist auf Bundesebene das Godesberger Programm. Die SPD entwickelt sich von der Klassenpartei zur »Catch-All Party«.67 Dennoch, für die NRWSPD bleibt »eine starke Orientierung in Richtung auf Arbeit- nehmerinteressen und damit auch an die Tradition der Gewerkschaften im Sinne der alten Arbeiterbewegung«68 typisch. Sie hat im Vergleich zur Bundespartei

63 Vgl. www.nrwspd.de/html/4/welcome/Aufbau.html, Stand: 20.3.2013. 64 SPD/PolisSinus: Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der SPD-Ortsvereine, Berlin 2010. 65 Vgl. Sebastian Bukow: Die SPD-Parteiorganisationsreform 2009–2011: Mit Primaries und verstärkter Basisbeteiligung auf dem Weg zur »modernsten Partei Europas«?, in: U. Münch/U. Kranenpohl/H. Gast (Hg.): Parteien und Demokratie. Innerparteiliche Demokratie im Wandel, Baden-Baden 2013 (i. E.). 66 Solar, S. 281–282. 67 Kirchheimer. 68 Alemann/Brandenburg, S. 124.

234 Die SPD in Nordrhein-Westfalen eine stärker sozialstaatliche Ausrichtung.69 Gleichwohl ist die NRWSPD kein »linker« Landesverband innerhalb der SPD. Dabei bestehen durchaus Unter- schiede zwischen den Regionen in NRW, es dominiert im Ergebnis aber eine moderate Ausrichtung. Harte ideologische Konflikte bestehen nicht und eine eher pragmatische Politikausrichtung, bei der innerparteiliche Konflikte nicht eskalieren, kennzeichnet die NRWSPD.70 In Nordrhein-Westfalen ist lange Zeit das Modell des »rheinischen Kapitalis- mus« politisch-kulturell prägend, also die Ablehnung eines rein marktwirtschaft- lichen Kapitalismus in Verbindung mit einer ausgeprägten sozialpolitischen Orientierung.71 Dies erklärt, warum gerade die NRWSPD unter Clement und Steinbrück den elektoralen Auflösungsprozess nicht stoppen kann und warum dann im Zuge der bundespolitischen Agenda-Politik die Regierungsmehrheit 2005 in Nordrhein-Westfalen verloren geht. Der Versuch der NRWSPD, auf Krise und Strukturwandel mit einer veränderten Politikausrichtung zu reagieren, schlägt in Nordrhein-Westfalen elektoral deutlich fehl: »Der Modernisierungs- rhetorik der Rau-Nachfolger Clement und Steinbrück mangelte es an Anschluss- fähigkeit für die an Verteilungsgerechtigkeit orientierten Normen und Werte ihres Wählerpotenzials. […] Die Wählerkoalition mit den Mittelschichten ist zerbrochen.«72 Als Reaktion auf die elektorale Schwäche versucht die SPD seit einigen Jahren eine moderate Neuausrichtung ihrer Programmatik. Anhand der in den beiden jüngsten Landtagswahlprogrammen (2010, 2012) formulierten Parteipositionen ist es möglich, die NRWSPD auf den zentralen Konfliktachsen Sozialstaatlichkeit vs. Marktliberalität und Modernisierung vs. Traditionalisierung zu verorten.73 Eine parteienvergleichende Analyse zeigt, dass sich NRWSPD und Grüne (und Linke) inhaltlich nur gering und in einzelnen Aspekten unterscheiden. Vor allem bei der Wahl 2012 lassen sich die Programme klar gegen CDU und FDP abgrenzen – es zeigt sich hinsichtlich der Wahlprogrammatik eine deutliche Lagerbildung. Diese spiegelt sich auch in den 2012 vorab bekundeten Koalitionspräferenzen

69 Andersen/Bovermann, S. 328. 70 Alemann/Brandenburg, S. 124; Klönne, S. 88. 71 Korte/Florack/Grunden, S. 31. 72 Korte/Florack/Grunden, S. 57. 73 Marvin Bender/Matthias Bianchi/Andreas Jüschke/Jan Treibel: Der Duisburger NRW- Wahl-Index, Duisburg-Essen 2010.

235 Sebastian Bukow und damit im Parteienwettbewerb wider. Der Wahlkampf 2012 selbst war dahingegen vor allem personenzentriert – die Programmatik spielte eine unter- geordnete Rolle.74 SPD und Grüne finden sich dabei gleichauf deutlich links auf der sozialpolitischen Achse positioniert. Möglicherweise datenbedingt sind beide Parteien 2012 (im Vergleich zu 2010) programmatisch leicht zur Mitte gerückt, sie verbleiben jedoch deutlich links der Mitte. Im Programm 2010 vertreten SPD und Grüne dabei eine klare Modernitätsorientierung.75 Im Ergebnis steht die NRWSPD für sozialstaatlich geprägte, eher moderne Programmaussagen.76 Inwieweit sich diese Programmausrichtung auch auf die Regierungspolitik aus- wirkt, wird am Ende der Legislaturperiode zu bewerten sein. Die aktuellen Herausforderungen – insbesondere der Strukturwandel und die angespannte Finanzsituation bei Land und Kommunen – dürften in Konflikt zu einer eher sozialpolitik- und damit ausgabenorientierten Politikgestaltung stehen. Abzu- warten ist, inwieweit die inhaltlichen Herausforderungen und Konflikte elektoral zum Tragen kommen: Der Wahlkampf 2012 hat gezeigt, dass die SPD gerade mit Hannelore Kraft – ganz im Stile Johannes Raus – nicht nur auf Programm- inhalte, sondern durchaus erfolgreich vor allem auch auf die Spitzenkandidatin in einem stark personalisierten Wahlkampf setzt. Zudem wurde mit dem 2011 beschlossenen »Schulfrieden« eines der wenigen originär landespolitischen, stark umstrittenen und ideologisch aufgeladenen Politikfelder vorerst »befriedet«.

6. Perspektiven

Die NRWSPD ist parteiorganisational eine spät entstandene, gleichwohl erfolg- reiche Landespartei der SPD, die auf eine lange Vergangenheit zurückblickt. Zwar kann bei der SPD keineswegs vom nordrhein-westfälischen Stammland gesprochen werden, dennoch hat sich die NRWSPD eine gute Position im

74 Bajohr, S. 549; Marvin Bender/Matthias Bianchi/Karina Hohl/Andreas Jüschke/Jan Schoofs/Jan Treibel: Der Duisburger NRW-Wahl-Index 2012, Duisburg-Essen 2012, S. 2; dies betrifft auch das SPD-Wahlprogramm, was zu Datenproblemen für die Programm- analyse führt (Karina Hohl: Die NRWSPD, Duisburg-Essen 2012.). 75 Für das SPD-Programm 2012 ist die Datenlage in diesem Punkt problematisch, dazu Marvin Bender/Matthias Bianchi/Karina Hohl/Andreas Jüschke/Jan Schoofs/Jan Treibel: Der Duisburger NRW-Wahl-Index 2012, Duisburg-Essen 2012, S. 6. 76 Marvin Bender/Matthias Bianchi/Andreas Jüschke/Jan Treibel: Der Duisburger NRW- Wahl-Index, Duisburg-Essen 2010, S. 13.

236 Die SPD in Nordrhein-Westfalen

Parteienwettbewerb erarbeitet. Dies ist allerdings nicht nur der Partei selbst anzu- rechnen, auch verschiedene Rahmenbedingungen und die anderen Parteien haben daran einen Anteil. So hat der bislang einzige Mitbewerber um die Regierungs- spitze, die CDU, der SPD durchaus auch den Weg zur Macht (mit-)bereitet, zunächst durch die Marginalisierung der Zentrumspartei und später durch ihre Selbstmarginalisierung in Folge innerparteilicher Konflikte und Skandale. So hat die CDU ihre Führungsrolle 1966 für lange Zeit verloren und diese auch 2005 bis 2010 nicht nachhaltig wiedererlangt. Allerdings ist die NRWSPD vom Status einer Hegemonialpartei, die sie zumindest kurzzeitig unter Johannes Rau war, weit entfernt. Es ist nicht erkennbar, dass sie diese Rolle zurückerobern kann. Zwar steht ihr auf der Angebotsseite mit Hannelore Kraft eine der beliebtesten Politiker/‑innen des Landes vor, die durchaus an die Popularität Johannes Raus anknüpfen kann. Der gesellschaftsstrukturelle Wandel hat aber den Parteienwett- bewerb auf der Nachfrageseite grundlegend verändert. Vor allem die Grünen haben sich als relevante Kraft in Nordrhein-Westfalen elektoral und gesellschaft- lich nachhaltig verankert. Dies allein macht eine künftige absolute Mehrheit für die SPD unwahrscheinlich. Dazu kommt, dass zumindest in den letzten beiden Wahlen mit der Linken bzw. den Piraten jeweils eine weitere, dem linken Spektrum zuzuordnende Partei in den Landtag einziehen konnte. Ein erneuter Erfolg dieser beiden Parteien ist jedoch gegenwärtig in Nordrhein-Westfalen nicht absehbar – zumal die SPD aus den elektoralen Kosten ihrer Agenda-Politik gelernt haben dürfte und, dies zeichnet sich ab, für das rot-grüne Regierungs- handeln entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hat. Die Ausgangsbasis für weitere elektorale Erfolge der NRWSPD ist damit, trotz eines zunehmend fluiden und gegenwärtig stärker fragmentierten Parteiensystems, günstig.

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Martin Florack links: Martin Florack rechts: Die CDU in Nordrhein-Westfalen Die CDU in Nordrhein-Westfalen Zwischen elektoraler Dominanz und landespolitischer Marginalisierung

Die CDU in Nordrhein-Westfalen zeigt sich als ambivalente Partei: Erstens trat sie 1945 zwar als christliche »Weltanschauungspartei ins Leben«1 und das »große C« dient auch heute noch als wichtiger ideologischer Bezugsrahmen der Partei, aber die Union gab sich im politischen Tagesgeschäft immer betont pragmatisch. Als »bürgerliche Volkspartei«2 vereinigt sie unter ihrem Dach liberale, konservative und christlich-soziale Strömungen. Die Union definiert sich jedoch trotz dieser innerparteilichen Vielfalt nicht als diskussionsfreudige Programmpartei, sondern vielmehr über ihre konkrete Regierungstätigkeit in Kommunen, Land und Bund.3 Zweitens war die Union nach ihrer Gründung über viele Jahre hinweg die dominante politische Kraft in Nordrhein-West- falen, aber angesichts einer fast vierzigjährigen Oppositionszeit von 1966 bis 2005 herrscht in der allgemeinen Wahrnehmung der Eindruck einer dauerhaften landespolitischen Marginalisierung vor. Drittens betont die CDU in der Selbst- beschreibung ihren Charakter als »einzig verbliebene Volkspartei« auf Bundes- wie Landesebene, sieht sich jedoch genau wie die SPD seit mehr als 20 Jahren mit einem anhaltenden Mitgliederschwund, dem stetigen Altern ihrer verbliebenen Mitglieder und sinkender Mobilisierungsfähigkeit konfrontiert. Überdies gelang es ihr faktisch erst in den 1980er Jahren, überhaupt zu einer »echten« Landes- partei zu werden. Bis 1986 spiegelte die Union den »Bindestrich-Charakter«4

1 Hans-Otto Kleinmann: Geschichte der CDU. 1945–1982, Stuttgart 1993, S. 18. 2 Frank Bösch: Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), in: F. Decker/V. Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 201–219, hier S. 201. 3 Herbert Kühr: Die CDU in Nordrhein-Westfalen. Von der Unionsgründung zur modernen Mitgliederpartei, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein- Westfalen, Köln 1985, S. 91–120, hier S. 105. 4 Hierzu ausführlicher Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990–2006, Wiesbaden 2006, S. 26 ff.; Ulrich von Alemann/Patrick Brandenburg: Nordrhein-Westfalen. Ein

239 Martin Florack des Landes Nordrhein-Westfalen durch die parallele Existenz zweier eigen- ständiger Landesverbände Rheinland und Westfalen-Lippe wider, die sich vor allem durch Konkurrenz und mangelnde Kooperation auszeichneten. Viertens zeigte sich die NRW-CDU trotz ihrer schieren Mitgliederstärke mit Blick auf den bundespolitischen Einfluss als politischer »Scheinriese«. Nicht zuletzt aufgrund der aus der katholischen Arbeiterbewegung herrührenden christlich-sozialen Tradition agierte die Landespartei oftmals als »linker Flügel« der Bundespartei5 und geriet angesichts dieser Rolle wiederholt in Opposition zur Bundespartei. Programmatische und personelle Kontroversen, die auf die Landespolitik aus- strahlten, waren die Folge und ließen den fast ein Drittel aller CDU-Mitglieder stellenden Landesverband hinsichtlich seines Einflusses im Bundesverband der Union deutlich schrumpfen. Diese offenen Widersprüche prägen auch die weiteren Perspektiven für die CDU in NRW. Dem Wahlerfolg von 2005 und der daraus resultierenden Regierungsübernahme zusammen mit der FDP folgte 2010 der erneute Macht- wechsel und bei der Landtagswahl 2012 gar das schlechteste Wahlergebnis der Union seit der Gründung Nordrhein-Westfalens. Ob der Union damit erneut »verlorene Jahre« und »30 Jahre Schweden« bevorstehen6 oder ob sie in der Landespolitik zu neuer Stärke findet, bleibt abzuwarten.

Land entdeckt sich neu, Köln u. a. 2000; Karl Rohe: Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe. Zur politischen Kultur Nordrhein-Westfalens, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Nordrhein-Westfalen. Eine politische Landeskunde, Köln u. a. 1984, S. 14–34. 5 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wies- baden 2008, S. 315–339, hier S. 319 f.; Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen. Das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 276–301, hier S. 295. 6 Guido Hitze bewertet insbesondere die Oppositionsphase 1975–1995 als »verlorene Jahre« der Union (Guido Hitze: Verlorene Jahre? Die nordrhein-westfälische CDU in der Opposition 1975–1995, Düsseldorf 2010) und CDU-Ministerpräsident hatte schon nach dem Verlust der Regierungsmacht 1966 orakelt, der CDU drohten in NRW 30 Jahre sozialdemokratische Dominanz nach schwedischem Muster (zit. nach Stefan Marx: Franz Meyers (1908–2002), in: S. Gösmann (Hg.): Unsere Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düssel- dorf 2008, S. 98–125, hier S. 120).

240 Die CDU in Nordrhein-Westfalen

1. Gründung

Die Gründung der CDU im Jahr 1945 als »bürgerliche Sammlungspartei«7 erfolgte sowohl in inhaltlicher und organisatorischer Anknüpfung an als auch in Abgrenzung von der katholischen Zentrumspartei.8 Anders als das Zentrum sollte die Union als »politische Sammlungsbewegung die traditionelle konfessionelle Spaltung im politischen Bereich« überwinden und stellte insofern als interkonfessionelle Neugründung eine »parteihistorische Neuerscheinung« dar.9 Gleichwohl bildete das christliche Wertefundament den fundamentalen Bezugsrahmen für die neue Partei.10 Dies trug dem historischen Umstand Rechnung, dass auf dem Gebiet des 1946 gegründeten Landes NRW traditionell weniger sozioökonomische, sondern stärker konfessionell-religiöse Konfliktlinien eine wichtige Rolle gespielt und die Entwicklung des Parteiensystems seit dem Kaiserreich geprägt hatten. Somit war Nordrhein-Westfalen historisch betrachtet keineswegs ein sozialdemokratisches Stammland, sondern vielmehr eine »Hoch- burg des politischen Katholizismus«11. Wenngleich die CDU sich in expliziter Abgrenzung vom katholischen Zentrum als interkonfessionelle Neugründung verstand, so war sie »lange Zeit in Teilen des Landes nicht sehr viel anderes als eine Fortführung des Zentrums ›mit Einmischung anderer Mittel‹«.12 Dies hatte insbesondere mit dem Verlauf des Gründungsprozesses und seinen Protagonisten zu tun. Die Parteigründung in NRW erfolgte nicht nach einem einheitlichen Plan, sondern dezentral »von unten«.13 Sowohl im Rheinland als auch in West- falen dominierten dabei ehemalige Zentrumspolitiker und Vertreter christ- licher Gewerkschaften den Gründungsprozess. Zahlreiche »Gründungskreise« auf lokaler Ebene entstanden, die sich in ihrer jeweiligen programmatischen, sozialstrukturellen Ausrichtung und entlang der politischen Traditionslinien

7 Bösch, S. 201. 8 Siehe das Kapitel von Ute Schmidt in diesem Band. 9 Kühr, S. 93. 10 So Kleinmann, S. 18. 11 Kranenpohl, S. 315. 12 Karl Rohe: Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen, Parteien, politische Kultur, Essen 1986, S. 98; vgl. Josef Schmid: Die CDU. Organisationsstrukturen, Politiken und Funktions- weisen einer Partei im Föderalismus, Opladen 1990, S. 102. 13 Kleinmann, S. 18 f.

241 Martin Florack zum Teil deutlich unterschieden und untereinander kaum vernetzt waren.14 In Düsseldorf erwies sich der Gewerkschafter Karl Arnold von Beginn an als einer der Protagonisten und Befürworter einer Neugründung, wohingegen Konrad Adenauer in Köln zunächst einen gewissen Abstand zur neuen Partei hielt. Allerdings übernahm er im Februar 1946 den Vorsitz des inzwischen gegründeten rheinischen Landesverbandes und wurde kurze Zeit später zudem zum Vor- sitzenden der CDU in der britischen Zone gewählt.15 Von Beginn an hatten einige Gründungsinitiativen an eine nicht auf ihren Landesteil beschränkte, sondern die gesamte britische Zone umfassende christliche Volkspartei gedacht. Ergebnis dieser Bemühungen waren schließlich zeitlich koordinierte Gründungs- versammlungen in Köln und Bochum am 2. September 1945, bei denen die zwei Landesverbände Rheinland und Westfalen-Lippe gegründet wurden. Die Namensgebung als Christlich Demokratische Union betonte dabei den über- konfessionellen Charakter der neuen Partei. Die regionale Aufteilung in zwei Verbände wiederum orientierte sich beinahe zwangsläufig an den vormaligen historischen Provinzgrenzen, da die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen in seiner späteren Form zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht absehbar war.16 Im Rheinland und in Westfalen gelang es der CDU, sich schnell als neue Kraft zu etablieren. Im Frühjahr 1946 existierten bereits 82 Kreisverbände mit insgesamt etwa 112.000 Mitgliedern.17

2. Entwicklung und Wahlergebnisse

Die elektorale Performanz der CDU lässt sich in Anlehnung an die allgemeine Entwicklung des nordrhein-westfälischen Parteiensystems in Phasen einteilen.18 Ihr bestes Ergebnis erzielte die Union dabei im Jahr 1958, als sie mit 50,5 Prozent

14 Ebd., S. 23; Solar, S. 283. 15 Kühr, S. 97 f.; ausführlich Hans-Peter Schwarz: Der Aufstieg. 1876–1952, München 1986. 16 Zur »Operation Marriage« Gerhard Brunn/Jürgen Reulecke: Kleine Geschichte von Nordrhein-Westfalen. 1946–1996, Köln 1996; Christoph Nonn: Geschichte Nordrhein- Westfalens, München 2009. 17 Kleinmann, S. 33 f. 18 Die nachfolgende Phaseneinteilung des Parteiensystems orientiert sich an Korte/Florack/ Grunden, S. 46 ff.; Kranenpohl, S. 315 ff.; Wolfgang Bick: Landtagswahlen in Nordrhein- Westfalen 1947–1985. Trends und Wendepunkte in der politischen Landschaft, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 189–210.

242 Die CDU in Nordrhein-Westfalen der Stimmen die absolute Mehrheit errang. Ihr schlechtestes Ergebnis musste sie bei der Landtagswahl im Jahr 2012 hinnehmen, bei der sie mit nur 26,3 Pro- zent nochmals deutlich gegenüber der Wahl 2010 geschwächt wurde. Beide Pole bilden den Rahmen für sehr unterschiedliche Phasen in der Entwicklung der CDU. Diese spannen einen Bogen vom Status einer hegemonialen Volkspartei hin zu einer landespolitisch marginalisierten Oppositionskraft.19 In der Konzentrations- und Konsolidierungsphase des Parteiensystems (1947–1962) erreichte die CDU schrittweise eine »hegemoniale Stellung« im Parteiensystem Nordrhein-Westfalens.20 War angesichts der Wiedergründung des Zentrums zunächst ein direkter Konkurrent in ihren potenziellen Wähler- milieus entstanden, welcher bei der ersten Landtagswahl 1947 mit 9,8 Prozent ein sehr gutes Ergebnis erreichen konnte, so trug die schrittweise Erosion und das daraus resultierende Ausscheiden des Zentrums aus dem Landtag 1954 zu einem Konzentrationsprozess bei, von dem die CDU profitierte. Der seit 1947 als Ministerpräsident der Union amtierende Karl Arnold trug dazu maßgeblich bei, indem er die strukturellen Vorteile der »Ministerpräsidentendemokratie«21 für die CDU erschloss. Den Kulminationspunkt dieser Entwicklung stellte die Land- tagswahl 1958 dar, bei der die CDU nicht nur ihre vorübergehende Dominanz durch das Erreichen der absoluten Mehrheit stabilisierte, sondern erstmals nur noch drei Parteien (CDU, SPD und FDP) im Landtag vertreten waren.22 Die NRW-CDU trat angesichts einer betont christlich-sozialen Ausrichtung als Arbeitnehmerpartei auf und bildete als »katholische SPD« gewissermaßen den linken Flügel der Bundes-CDU.23 Die 1950er und 1960er Jahre bildeten die »Glanzzeit der christlichen Demokratie« – in NRW, wie auch auf der Bundes- ebene.24 Die CDU profitierte dabei von der Verbindung der Gründungsmythen der Bundesrepublik mit der Union, die mit Konrad Adenauer seit 1949 den

19 Siehe die Wahlergebnisse im Anhang A in diesem Band. 20 Solar, S. 285 f. 21 Korte/Florack/Grunden, S. 87 ff. 22 Horst Becker/Walter Ruhland: Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 1947–1990, Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen, Band 6, Düsseldorf 1993, S. 50; Kühr, S. 119 f. 23 Kranenpohl, S. 319 f. 24 Hierzu nachfolgend Franz Walter/Christian Werwath/Oliver D’Antonio: Die CDU. Entstehung und Verfall christdemokratischer Geschlossenheit, Baden-Baden 2011, S. 15–33; auch Kühr, S. 108 f.

243 Martin Florack

Bundeskanzler stellte und als »Partei des Wirtschaftswunders« und des Wieder- aufbaus glänzend da stand. Hinzu kam das identitätsstiftende »Bindemittel« des christlichen Wertefundaments, was in NRW gar dazu führte, dass die katholische Kirche bis 1966 in ihren Hirtenbriefen explizit zur Wahl der CDU aufrief und damit wichtige Unterstützung leistete.25 Die gleichwohl pragmatische Grund- haltung der Union ermöglichte die Anschlussfähigkeit an wichtige Wähler- milieus und der die Adenauer-Jahre prägende Antisozialismus wirkte als »Leim« für den innerparteilichen Zusammenhalt bei gleichzeitiger Heterogenität einer wachsenden Volkspartei. Die anschließende Polarisierungsphase (1962–1980) des nordrhein-west- fälischen Parteiensystems jedoch setzte die CDU schrittweise unter Druck. War es ihr bis zu Beginn der 1960er Jahre erfolgreich gelungen, neue Wählergruppen zu erschließen und zugleich die traditionellen Unterstützer zu binden26, so brachte die Erosion dieser ursprünglichen Milieus die SPD in Schlagdistanz. Die Bedeutung des organisierten Katholizismus schwand und auch die Mobilisierung der Union geriet ins Stocken.27 1962 konnte die SPD den Rückstand auf die Union auf vier Prozentpunkte verringern und wurde bei der Landtagswahl 1966 erstmals stärkste Kraft im Land. Die Gründe für die versiegenden Ressourcen der CDU als Hegemonialpartei waren vielfältig.28 Zum einen machten sich die gesellschaft- lichen Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesse bemerkbar. Hinzu kam die für die Union negative bundespolitische Stimmungslage unter der Kanzler- schaft Ludwig Erhards, die nachlassende Bindungswirkung des Antikommunis- mus, ein Schrumpfen der katholischen Vorfeldorganisationen, die veränderte Positionierung der SPD in Folge des »Godesberger Programms« und eine die politische Konkurrenz bevorteilende demographische Entwicklung. Die CDU in NRW unternahm zwar Bemühungen, eine innerparteiliche Professionalisierung voranzutreiben und sich als kampagnenfähige Mitgliederpartei zu etablieren, aber nicht zuletzt personelle und institutionelle Querelen zwischen den beiden Landesverbänden schwächten die Position der CDU zugleich.29 Nichtsdestotrotz

25 Brunn/Reulecke, S. 157. 26 Thomas Bräuninger/Marc Debus: Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden 2012, S. 112. 27 Kranenpohl, S. 321. 28 Nachfolgend Walter/Werwath/D’Antonio, S. 69 ff. 29 Kleinmann, S. 289 ff.

244 Die CDU in Nordrhein-Westfalen erreichte die Union weiterhin Spitzenergebnisse bei Landtagswahlen. 1975 konnte sie unter ihrem Spitzenkandidaten Heinrich Köppler mit dem zweitbesten Ergeb- nis die Position der stärksten Partei im Land zurückerobern. Dies reichte jedoch nicht mehr für eine Regierungsübernahme, stand die FDP doch seit 1966 sowohl im Bund als auch im Land als Koalitionspartner fest an der Seite der SPD.30 Die nachfolgende Hegemonialphase der SPD (1980–1995) stellte für die Union wiederum »verlorene Jahre« dar.31 Nach der Dominanz der Christdemo- kraten in den 1950er und 1960er Jahren und der anschließenden Polarisierung zwischen SPD und CDU, bei der die FDP mit ihrer Koalitionspräferenz als »Königsmacher« agierte, rutschte die Union in eine Phase der landespolitischen Marginalisierung. Einen »Wendepunkt in der Geschichte der CDU in Nord- rhein-Westfalen«32 stellte die Landtagswahl 1985 dar. 36,5 Prozent der Stimmen bedeuteten einen Absturz in der Wählergunst, während die SPD mit 52,1 Pro- zent die absolute Mehrheit errang. Die CDU war demoralisiert und konnte in der Folge bei den Landtagswahlen bis 2005 nicht nennenswert zulegen. Nicht zuletzt die fortgesetzten internen Auseinandersetzungen zwischen Rheinländern und Westfalen in der CDU gaben den Ausschlag für diese Schwächung. Hinzu kam ein fehlender Gleichklang zwischen Landes- und Bundespartei, der sich in wiederholten Personalwechseln in wichtigen Funktionen manifestierte. Das Resultat dieser Entwicklungen war der »völlige Zerfall der einst so starken CDU- Position an Rhein und Ruhr«.33 Zugleich wirkte das Wahlergebnis von 1985 als Katalysator für die schließlich 1986 erreichte Fusion der Landesverbände zu einer »echten« nordrhein-westfälischen Landespartei. Die Rückkehr zu einer Phase der Lagerpolarisierung (1995–2010) war gleich- wohl nur zum Teil auf eine erneute Stärkung der CDU, als vielmehr auf eine deut- liche Schwächung der SPD zurückzuführen.34 Den Sozialdemokraten erwuchs mit den Grünen und schließlich der Partei Die Linke neue Konkurrenz. Hatte sich die bundespolitische Stimmung angesichts der CDU-Spendenaffäre im Jahr 2000 noch zu Lasten der CDU ausgewirkt, so führte die Landtagswahl 2005 zu

30 Stefan Marx: CDU Nordrhein-Westfalen. Geschichte des Landesverbandes, www.kas.de/ wf/de/71.8671/, Stand: 20.3.2013. 31 Hitze. 32 Marx. 33 Kleinmann, S. 381; auch Solar, S. 289. 34 Ebd., S. 292.

245 Martin Florack einem klaren Regierungswechsel. Allerdings erwies sich dieser Wahlerfolg nur als Zwischenetappe. Bei der Landtagswahl 2010 wurden SPD (34,5 %) und CDU (34,6 %) zwar nahezu gleich stark. Anders als in den 1970er Jahren waren nun aber insgesamt fünf Parteien im Landtag vertreten und die beiden Volksparteien insgesamt deutlich geschwächt. Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse führte das Wahlergebnis schließlich erstmals zur Bildung einer Minderheits- regierung in NRW aus SPD und Grünen, während die CDU mit der erneuten Oppositionsrolle vorlieb nehmen musste. Daran änderte auch die Landtagswahl 2012 nichts, wenngleich noch offen ist, ob damit eine neue Phase in der Entwicklung des Parteiensystems eingeleitet wurde. Die CDU erzielte mit 26,3 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergeb- nis im Land und ist damit zumindest vorübergehend erneut landespolitisch marginalisiert.

3. Regierungsbeteiligungen

Regierungsbildungsprozesse in NRW wirken immer über die Landesgrenzen hinaus. So wurde NRW vielfach zum Vorboten bundespolitischer Ent- wicklungen; Koalitionen im Land wurden immer auch mit Blick auf die Bundes- ebene geschlossen. NRW war gewissermaßen »Trendsetter«.35 Wenngleich die Bundesrepublik 1946 noch nicht gegründet war, zeigte sich diese Form der Politikverflechtung bereits bei der Ernennung der ersten nordrhein- westfälischen Landesregierung 1946. Ein Memorandum des britischen Regional- kommissars vom 1. August 1946 sah die Bildung einer Allparteienregierung vor, der Karl Arnold für die CDU als stellvertretender Ministerpräsident angehören sollte. Sein innerparteilicher Gegenspieler Konrad Adenauer, der bereits eine erkennbare bundespolitische Rolle spielte, legte jedoch Widerspruch ein, fürchtete er doch Arnolds programmatische Ausrichtung auf einen »christlichen Sozialismus«. Ver- hindern konnte er jedoch den Eintritt der CDU in die Regierung nur vorüber- gehend und Arnold wurde schon im Dezember 1946 Mitglied des Kabinetts unter Führung des parteilosen Ministerpräsidenten Rudolf Amelunxen.36

35 Korte/Florack/Grunden, S. 9 f.; Kranenpohl, S. 332. 36 Detlev Hüwel: Karl Arnold (1901–1958), in: S. Gösmann (Hg.): Unsere Minister- präsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf 2008, S. 42–69, hier S. 49 f.

246 Die CDU in Nordrhein-Westfalen

Kam die erste Landesregierung noch aufgrund der Ernennung durch die britische Militärregierung zustande, so führte die erste freie Landtagswahl im Jahr 1947 zur Bildung einer CDU-geführten Regierung, der mit Ausnahme der FDP alle Landtagsfraktionen angehörten. Für die Union übernahm Karl Arnold das Amt des Ministerpräsidenten, das er bis zu seiner Ablösung durch ein konstruktives Misstrauensvotum 1956 innehatte. Er sah sich jedoch im Anschluss an die Landtagswahl 1950 erneutem Druck des inzwischen zum Bundeskanzler gewählten Adenauer ausgesetzt, ein Bündnis mit der FDP zu bilden. Arnold präferierte eigentlich eine Große Koalition mit der SPD, die ihm programmatisch näher stand. Mit dieser Position konnte sich der »führende Vertreter des christ- lich-sozialen Flügels in der CDU«37 und »Antipode Adenauers«38 jedoch nicht durchsetzen, aber auch Adenauer hatte ob der schließlich aus CDU und Zentrum gebildeten Koalition das Nachsehen.39 Erst 1954 wurde ein Gleichklang der Koalitionsformate in Land und Bund durch die Beteiligung der FDP her- gestellt. Gleichwohl zementierte Arnold die programmatische Grundausrichtung der CDU-Landespartei. Sein Diktum, NRW müsse das »soziale Gewissen der Bundesrepublik« sein, zeigte dauerhaft Wirkung. Die Ablösung Arnolds als Ministerpräsident 1956 war erneut maßgeblich auf Bonner Einflüsse zurückzuführen. Die Vorschläge der CDU zur Einführung eines Grabenwahlsystems im Bund stießen auf den vehementen Widerstand der FDP, die in Düsseldorf als Konsequenz ein Bündnis mit der SPD schloss. Nachfolger Arnolds wurde mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums Fritz Steinhoff (SPD).40 Allerdings sollte es bei einem zweijährigen Intermezzo bleiben, bevor die CDU wieder die Regierungsverantwortung übernahm. Bei der Landtagswahl 1958 konnte sie ihre hegemoniale Stellung im Land voll ausspielen und erreichte die absolute Mehrheit. Karl Arnold jedoch kehrte nicht ins Amt des Ministerpräsidenten zurück. Kurz vor der Landtagswahl verstarb er überraschend und im innerparteilichen Konkurrenzkampf um seine Nachfolge konnte sich der vormalige CDU-I- nnenminister des Landes, Franz Meyers, durchsetzen.41 Dieser bildete nach dem

37 Marx. 38 Schmid, S. 103. 39 Becker/Ruhland, S. 39. 40 Kühr, S. 106 ff. 41 Marx, S. 106.

247 Martin Florack

Verlust der absoluten Mehrheit 1962 erneut ein Bündnis mit der FDP. Wenngleich es anschließend innerhalb der CDU in NRW zu Friktionen zwischen Meyers und der Landtagsfraktion kam, führte doch vor allem die bundespolitische Ent- wicklung zum vorläufigen Ende christdemokratischer Regierungen in NRW vier Jahre später. Zwar konnte die CDU zusammen mit der FDP bei der Landtags- wahl 1966 noch eine hauchdünne Mehrheit von 101 zu 99 Sitzen erringen, aber schon ein halbes Jahr später schloss die FDP in Folge der Bildung einer Großen Koalition im Bund ein Bündnis mit der SPD.42 Die Prophezeiung Meyers von 1966, es drohe eine lange Phase der Opposition für die CDU (»30 Jahre Schweden«), sollte sich bewahrheiten. Erst 2005 gelang es der CDU unter ihrem Landesvorsitzenden Jürgen Rüttgers wieder, den Minister- präsidenten zu stellen. War Rüttgers bei seinem ersten Anlauf im Jahr 2000 unter dem Eindruck der Spendenaffäre der Bundes-CDU noch gescheitert, erzielte er fünf Jahre später bei seiner zweiten Chance ein sehr gutes Ergebnis und bildete mit der FDP eine Koalition.43 Rüttgers betonte in Anlehnung an Arnold die christlich-soziale Komponente der CDU und steuerte die Partei angesichts einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den SPD-Ministerpräsidenten Johannes Rau in eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite sollte die Neuauflage des Bünd- nisses mit der FDP als Vorbote eines ebenfalls schwarz-gelben Bündnisses auf der Bundesebene dienen, hatte doch der Regierungswechsel in NRW noch am Wahlabend zu vorgezogenen Bundestagswahlen geführt. Auf der anderen Seite betonte Rüttgers in Abgrenzung von der Bundes-CDU und seinem liberalen Koalitionspartner die sozialpolitische Dimension. Aber weniger dieser inhaltliche Spagat, als vielmehr die bundespolitische Stimmungslage beendete die CDU-R- egierungszeit im Land nach nur fünf Jahren wieder: Das Stimmungstief der seit 2009 im Bund regierenden CDU-FDP-Koalition strahlte auf NRW aus, und die Landtagswahl 2010 führte zu einem Patt, welches schließlich durch die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung aufgelöst wurde.44

42 Ebd., S. 116 f. 43 Hierzu Korte/Florack/Grunden, S. 327 ff.; Martin Florack: Transformation der Exekutive. Eine institutionentheoretische Analyse der nordrhein-westfälischen Regierungs- organisation nach dem Regierungswechsel 2005, Wiesbaden 2013 (i.E). 44 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010. Vom Abwarten zur Kehrtwende, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41/4 (2010), S. 766–787.

248 Die CDU in Nordrhein-Westfalen

4. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation

Im Selbstverständnis der Union ist der Status der Volkspartei eng an das ergänzende Charakteristikum einer Mitgliederpartei gebunden. Zu einer solchen wurde die CDU jedoch erst im Laufe der 1970er Jahre. Bis dahin glich sie angesichts einer nur in Ansätzen ausgebildeten Parteiorganisation sowie der starken Fokussierung auf ihre Rolle als Regierungspartei in Land und Bund stark den traditionellen Mustern einer Honoratiorenpartei. Ab Beginn der 1970er Jahre konnte die Union bundesweit allerdings einen rasanten Anstieg ihrer Mitgliederzahl von etwa 250.000 auf über 700.000 zu Beginn der 1980er Jahre verzeichnen.45 Dieser Trend kehrte sich jedoch schon einige Jahre später wieder um. Die Mit- gliederentwicklung der Union in NRW seit 199046 entspricht dabei weitgehend dem Bundestrend.47 Besaß die Union im Jahr 1990 noch 233.656 Mitglieder an Rhein und Ruhr, so verlor sie bis 2011 35,7 Prozent der Mitglieder: Der Landes- verband umfasste 2011 nur noch ca. 150.000 Mitglieder. Zudem setzten die damit einhergehenden Verschiebungen innerhalb der Mitgliedschaft die CDU unter Anpassungsdruck. Der Anteil älterer Parteimitglieder ist seit 1990 kontinuierlich angestiegen. Auch das identitätsstiftende »große C« spielte hinsichtlich der Mit- gliederstruktur eine kleiner werdende Rolle. Erhalten hat sich das Übergewicht im Anteil katholischer Mitglieder, aber die Zahl konfessionsloser oder Partei- mitglieder anderen Bekenntnisses ist insgesamt angestiegen. Trotz der negativen Entwicklungsdynamik bei der Mitgliederzahl gelang es der CDU allerdings, die SPD als mitgliederstärkste Partei in NRW zu verdrängen. Auch an der Rolle der nordrhein-westfälischen Union als mitgliederstärkster Landesverband innerhalb der CDU hat sich angesichts des analogen Bundestrends bei der Mitgliederent- wicklung nichts getan. Baden-Württemberg folgt als nächstgrößter Landesver- band mit großem Abstand (ca. 71.000 Mitglieder). Gegenüber anderen Landesverbänden hatte die Union in NRW jedoch zunächst einen organisatorischen Nachteil: Bis 1986 existierte sie überhaupt nicht als »echte« Landespartei, sondern bestand aus den zwei organisatorisch

45 Kleinmann, S. 495. 46 Siehe die Entwicklung der Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 47 Zur Mitgliederentwicklung Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland. Version 2012, Berlin 2012, www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/ schriften/Arbeitshefte/ahosz19.pdf, Stand: 20.3.2013.

249 Martin Florack weitgehend unabhängigen Landesverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe. Wiederholte Versuche einer engeren Koordination schlugen weitgehend fehl.48 Erst der vorübergehende Verlust der Regierungsmacht 1956 führte zur Bildung eines gemeinsamen Landespräsidiums, nicht zuletzt um Karl Arnold nach dem Verlust des Ministerpräsidentenamtes eine landespolitische Bühne zu bieten.49 Nach der Rückkehr der CDU in Regierungsverantwortung zwei Jahre später erwies sich aber auch diese Einrichtung als politisch wenig nachhaltig. Die nicht zuletzt durch die Mitgliederentwicklung angestoßene Professionalisierung der Partei führte dann ab 1967 zu einer Wiederbelebung des Präsidiums. Hinzu kamen die Bildung einer gemeinsamen Landesversammlung und die Durch- führung eines ersten gemeinsamen Parteitages beider Landesverbände im April 1970.50 Gleichwohl blieben die »landsmannschaftlichen Differenzen«, die Konkurrenz der innerparteilichen Vereinigungen und die »Klüngelwirtschaft schon fast sprichwörtlich« prägende Strukturelemente für die Union in NRW.51 Die »ver- lorenen Jahre« der CDU bezogen sich folglich nicht alleine auf das Abschneiden bei Wahlen, sondern auch auf die innerparteiliche Personal- und Organisations- entwicklung.52 Hinzu kamen personelle Differenzen, Misstöne zwischen Landes- und Bundespartei und inhaltliche Differenzen über die Ausrichtung der Union im Land.53 Erst die Wahlniederlage von 1985 führte schließlich zur Initiative, beide Landesverbände zu fusionieren und damit die strukturellen Hemmnisse langfristig zu beseitigen. Die am 8. März 1986 in Düsseldorf vollzogene Fusion zur NRW-CDU zielte folglich vor allem darauf ab, »die alten Macht- und Konflikt- strukturen zu zerbrechen oder zumindest in ihren blockierenden Einflüssen zu reduzieren.«54 Als regionale Untergliederungen wurden acht Bezirke geschaffen, wovon man sich zugleich erhoffte, die bislang dominierende Rolle der inner- parteilichen Vereinigungen zu relativieren.

48 Marx. 49 Hüwel, S. 65. 50 Hierzu Kleinmann, S. 289–299; Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Kleine Geschichte der CDU, Stuttgart 1995, S. 268; Marx; Kranenpohl, S. 328. 51 Schmid, S. 104. 52 Hitze, S. 13. 53 Ebd.; auch Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), S. 268 ff. 54 Schmid, S. 104.

250 Die CDU in Nordrhein-Westfalen

Gleichwohl setzten sich die innerparteilichen Auseinandersetzungen zunächst fort. Erst die »Bundeslösung« an der Spitze der neuen Landespartei, als Bundes- arbeitsminister Norbert Blüm 1987 zum neuen Landesvorsitzenden gewählt wurde, brachte eine gewisse innerparteiliche Stabilisierung mit sich.55 Allerdings konnte diese nicht in eine verbesserte elektorale Performanz umgemünzt werden. Gemeinsam mit dem ebenfalls neu berufenen Generalsekretär Herbert Reul leitete dieser personelle Wechsel an der Parteispitze jedoch den schrittweisen Wandel von einer Gremien- zu einer Mitgliederpartei ein.56 Die Mitglieder- befragung zur Bestimmung des CDU-Spitzenkandidaten 1995, bei der sich der CDU-Fraktionsvorsitzende Helmut Linssen durchsetzen konnte, war ein Aus- druck dieses Prozesses. Gleiches galt für die ebenfalls indirekt über Mitglieder- befragungen herbeigeführten Entscheidungen über die Besetzung des Landesvor- sitzes 1999 und 2010. 1999 konnte sich Jürgen Rüttgers als Nachfolger Norbert Blüms durchsetzen. 2010 fand erneut eine »Bundeslösung« eine Mehrheit: Norbert Röttgen errang den Landesvorsitz, nachdem er sich in einer Mitglieder- befragung gegen Armin Laschet durchsetzen konnte. Anders als der Bundespartei gelang es jedoch der Landespartei auch nach der Fusion weniger gut, die unterschiedlichen »Kraftfelder«57 der Partei mit- einander in Einklang zu bringen. Die die Bundespartei prägenden Elemente der »Repräsentation über ein ausgeklügeltes, zunächst vor allem konfessionelles Proporzsystem, aber auch Strategien der Mediation, des Aushandelns und der Kompromissbildung«, die eine »Kultur des Informellen« bildeten58, etablierten sich nur langsam in NRW. Hinsichtlich der formalen Organisationsmuster wurde die Union gleich- wohl ab Beginn der 1990er Jahre zu einer »normalen« Landespartei. Neben den acht Bezirksverbänden prägten 54 Kreisverbände die Parteistruktur.59 Auf-

55 Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), S. 270. 56 So die Einschätzung von S. Marx. 57 Hitze, S. 14. 58 Oliver D’Antonio/Christian Werwath: Die CDU. Innerparteiliche Willensbildung zwischen Gremienarbeit und Grauzone, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie ent- scheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland, Baden- Baden 2012, S. 35–61, hier S. 43. 59 Hierzu Jan Treibel: Wahlen zum Landtag Nordrhein-Westfalen, in: N. Grasselt/M. Hoff- mann/J.-V. Lerch (Hg.): Der Landtag Nordrhein-Westfalen. Funktionen, Prozesse und Arbeitsweise, Opladen u. a. 2011, S. 43–68, hier S. 52.

251 Martin Florack gabe der in den Kreisverbänden hauptamtlich tätigen Geschäftsführer sowie der Geschäftsstellen wurde vor allem »die administrative Steuerung der Partei« und Wahlkampforganisation »vor Ort«.60 Diese professionalisierte Struktur auf der lokalen Ebene stellte folglich einen wichtigen Macht- und Einflussfaktor inner- halb der Landespartei dar. Oberstes Beschlussorgan wurde nach der Fusion der in der Regel einmal jährlich tagende Landesparteitag. Die organisatorische und politische Arbeit des Landesverbandes oblag fortan dem vom Landesparteitag gewählten Landesvorstand. Der aus diesem Kreis gebildete Geschäftsführende Landesvorstand stellte dabei das faktische Machtzentrum der Landespartei dar, wenngleich die Bezirksvorsitzenden ebenfalls die Entscheidungsfindung auf Landesebene mitprägten.61 Dennoch galt es, zusätzlich innerparteiliche Proporzerwägungen zu beachten, die sich unmittelbar aus der Entwicklungsgeschichte der Landespartei ergaben. Mit der Übernahme des Landesvorsitzes durch Jürgen Rüttgers im Jahr 1999 gelang es diesem unter Beachtung dieser Rahmenbedingungen, die Union weiter landespolitisch zu stabilisieren. Allerdings zeigten sich spätestens angesichts der öffentlich gewordenen Querelen rund um die Landesgeschäftsstelle vor der Land- tagswahl 2010 organisatorische Defizite im Parteimanagement. Die während der Regierungsjahre 2005 bis 2010 erreichte Stabilisierung der Landespartei wurde spätestens nach dem desaströsen Wahlergebnis 2012 und den anschließenden Personaldiskussionen wieder grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Parameter der Parteiorganisation strahlten auch auf die Rolle der Landes- partei innerhalb der CDU insgesamt aus. Zwar gehört eine betont eigenständige Rolle der Landesverbände zum Selbstverständnis einer »föderal organisierten Volkspartei«62, insbesondere wenn man die Gründungsgeschichte der CDU hinzunimmt. Angesichts der Größe des nordrhein-westfälischen Landesver- bandes wäre eine wichtige bundespolitische Rolle zu erwarten gewesen. Gleich- wohl »blieb die NRW-CDU trotz ihres wachsenden zahlenmäßigen Gewichts […] relativ einflusslos« in der Bundespartei.63 Da der Einfluss der Landesver-

60 CDU NRW: Parteiaufbau, www.cdu-nrw.de/organisation/partei/parteiaufbau.html, Stand: 20.3.2013. 61 Grundsätzlich hierzu Arijana Neumann: Die CDU auf Landesebene. Politische Strategien im Vergleich, Wiesbaden 2012. 62 D’Antonio/Werwath, S. 40. 63 Kranenpohl, S. 331.

252 Die CDU in Nordrhein-Westfalen bände »tendenziell immer konjunkturbedingt«64 war und nicht zuletzt vom Ansehen konkreter Personen abhing, war diese untergeordnete Rolle der NRW- CDU gewissermaßen von Beginn an angelegt. Die innerparteiliche Frontstellung zwischen Arnold und Adenauer legte den Grundstein und die daraus resultierende dominante Rolle der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) in NRW unterstrich dies langfristig, bildete diese Tradition doch nur eines der prägenden Fundamente der Gesamtpartei. Die Union in NRW kam über die all- gemeine Einschätzung, den »linken Flügel« der CDU zu bilden, kaum hinaus.65 Nicht zufällig agierten wiederholt nordrhein-westfälische Unionsvertreter als Vorsitzende der CDA (Arnold, Katzer, Laumann). Die herausgehobene Stellung der CDA für die Union im Land war insofern Ausdruck für »eine eindeutige ideen- und sozialgeschichtliche Prägung« des Landesverbandes.66 Folglich geht mit dieser organisatorischen Schwerpunktsetzung auch ein entsprechendes programmatisches Profil des Landesverbandes einher.

5. Programmatisches Profil

Das Selbstverständnis der Union als »bürgerliche Volkspartei« mit liberalen, konservativen und christlich-sozialen Grundlagen67 prägen folgende programmatische Leitbilder: Zum christlichen Menschenbild tritt ein Verständ- nis des Staates, der sich als föderaler Rechts- und Sozialstaat begreift, aber keine umfassende staatliche Lenkung, sondern bestenfalls korrigierende Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur vornimmt. Nicht alleine als wirtschafts-, sondern gewisser- maßen als übergreifendes gesellschaftspolitisches Leitbild dient darüber hinaus die Soziale Marktwirtschaft.68 Angesichts der besonderen föderalen Tradition der CDU zeichnen sich die Landesverbände durch »relativ starke programmatische Unterschiede und einen nicht unbeträchtlichen Eigensinn in ihrem Auftreten aus«.69 Dies zeigte sich hin- sichtlich der programmatischen Schwerpunktsetzungen im Zuge des Gründungs-

64 D’Antonio/Werwath, S. 44. 65 Solar, S. 295; so auch Kleinmann, S. 219 ff. 66 D’Antonio/Werwath, S. 51. 67 Bösch, S. 201. 68 Kühr, S. 105. 69 Bösch, S. 214.

253 Martin Florack prozesses in NRW: Wenngleich es im Zuge des dezentralen Gründungsprozesses zunächst kein einheitliches Programm der NRW-Christdemokraten gab, so ent- wickelten sich doch aus regionalen und lokalen Entwürfen schnell übergreifende »Leitsätze«.70 Die »Kölner Leitsätze« aus dem Jahr 1945 dienten als erster wichtiger Referenzpunkt und betonten die Grundsätze der christlichen Soziallehre. Als Stichwort fand hier auch die Vorstellung eines »christlichen Sozialismus« Auf- nahme. Die anschließenden Programmdiskussionen mündeten in das »Ahlener Programm« (1947). Dieses bildete einerseits die Grundlage für die anschließende Gründung eines Wirtschafts- und Sozialausschusses der rheinischen CDU und stellte andererseits auf der Grundlage der christlichen Soziallehre und sozialistischer Elemente eine grundsätzliche Neuordnung des Wirtschaftssystems in den Mittelpunkt. Protagonist dieser programmatischen Fokussierung war Karl Arnold, der jedoch auf Widerstand durch Konrad Adenauer stieß. Dieser sah die christlich-sozialistische Haltung Arnolds kritisch und konnte sich bei der Erarbeitung der »Düsseldorfer Leitsätze« im Jahr 1949 im Grundsatz behaupten. Hiermit wurde das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zum zentralen Leit- bild der Bundes-Union erhoben und damit zugleich der dezentrale Programm- diskurs der Gründungsjahre zusammengefasst. Gleichwohl blieb es bei der aus- geprägt christlich-sozialen Tradition des NRW-Landesverbandes und der daraus resultierenden dominanten Rolle der CDA an Rhein und Ruhr. So erklärte Karl Arnold bei seiner Regierungserklärung 1950: »Das Land Nordrhein-West- falen will und wird das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein«.71 Geradezu sprichwörtlich wurde diese christlich-soziale Grundierung der nordrhein-west- fälischen Christdemokraten durch das Modell des »Rheinischen Kapitalismus«, der wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit in einen untrennbaren Zusammenhang stellte.

70 Nachfolgend ebd., S. 96–105; auch Axel Birkenkämper: Der Kampf um das »Stamm- land«. Anmerkungen zur Lage der CDU im nordrhein-westfälischen Parteiensystem, in: R. T. Baus (Hg.): Parteiensystem im Wandel. Perspektiven, Strategien und Potenziale der Volksparteien, Sankt Augustin 2012, S. 67–72, hier S. 68; Rüdiger Voigt: Die Landes- verfassung, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hg.): Nord- rhein-Westfalen. Eine politische Landeskunde, Köln u. a. 1984, S. 56–84, hier S. 67 f.; Solar, S. 283 f. 71 Zit. nach Birkenkämper, S. 71.

254 Die CDU in Nordrhein-Westfalen

Diese programmatische Ausrichtung erwies sich als langfristig stabil und prägte sowohl die Beiträge der nordrhein-westfälischen Union zur parteiinternen Programmdebatte auf Bundesebene als auch die landespolitische Schwerpunkt- setzung der CDU in NRW.72 Insbesondere in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht zeigt eine Analyse der CDU-Positionen in NRW seit 1990, dass sich die Christdemokraten in NRW deutlich »linker« positionieren als andere Landes- verbände. Diese eklatanten Unterschiede lassen das Postulat Arnolds noch heute aktuell und die NRW-CDU mithin als »soziales Gewissen der CDU insgesamt« erscheinen.73 Zugleich zeichnete sich die CDU auf Landesebene in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht durch vergleichsweise große Schwankungen ihrer Positionierung aus, misst man dies entlang der klassischen Rechts-Links-Skala. Im Vorfeld der Landtagswahl 2000 vertrat die CDU gar »linkere« Positionen als SPD und Grüne und auch im Jahr 2010 war kaum eine nennenswerte Policy-Differenz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu diesen beiden Parteien zu verzeichnen.74 Die öffentliche Reaktion Jürgen Rüttgers nach der gewonnenen Landtagswahl 2005, in der er die CDU als »die Arbeiterpartei« in NRW bezeichnete, war symbolischer Ausdruck dieses tradierten Selbstverständnisses.75 In gesellschaftspolitischer Hinsicht erwies sich das programmatische Profil der NRW-CDU seit 1990 als weniger auffällig. Zum einen waren die Unterschiede zu den anderen Landesverbänden deutlich geringer und die Christdemokraten in Düsseldorf zeichnen sich im Vergleich weder durch eine besonders progressive noch eine betont konservative Grundhaltung aus.76

6. Perspektiven

Der Regierungswechsel 2005 und die damit verbundene Rückkehr der CDU in Regierungsverantwortung nach 39-jähriger Oppositionszeit wurden als Vor- bote einer neuen christdemokratischen Glanzzeit in NRW gesehen. So führte nach Einschätzung einiger Beobachter an der Union »in Nordrhein-Westfalen

72 Nachfolgend Bräuninger/Debus. 73 Ebd., S. 165. 74 Ebd., S. 116 f. 75 Korte/Florack/Grunden, S. 327 ff. 76 Bräuninger/Debus, S. 166.

255 Martin Florack auf absehbare Zeit kein Weg vorbei«.77 Rückblickend erwies sich die Regierungs- zeit Jürgen Rüttgers jedoch nur als landespolitisches Intermezzo. Derzeit sieht sich die CDU in NRW sowohl mit gravierenden innerparteilichen, wählersozio- logischen und koalitionsstrategischen Herausforderungen konfrontiert, die eher auf eine erneute Phase landespolitischer Marginalisierung hindeuten: Erstens zeigten sich erneut bereits die bisherige Parteigeschichte prägende, offene Personalfragen. Die CDU schwankte bei der Nachfolge Jürgen Rüttgers’ zwischen einer »Bundes-« (Norbert Röttgen 2010) und eine »Landeslösung« (Armin Laschet 2012). Die 2012 vollzogene Trennung von Partei- und Fraktions- führung zwischen Armin Laschet und Karl-Josef Laumann setzt die Tradition personalpolitischer Akkommodation fort, wenngleich offen bleibt, ob sich dies als Notlösung oder als sinnvolle Arbeitsteilung entpuppt. Die strukturellen Probleme sinkender Mitgliederzahlen und vergleichsweise geringer Einfluss- möglichkeiten des Landesverbandes auf Bundesebene bleiben zudem erhalten. Zweitens konnte die CDU weder bei der Landtagswahl 2010 noch im Jahr 2012 an elektorale Glanzzeiten anknüpfen.78 Neben die schon chronische Schwäche in den Großstädten des Landes und im Ruhrgebiet trat nun auch eine deutliche Schwächung in den vormaligen ländlichen Hochburgen. Auch sonst deuten die demoskopischen Analysedaten nicht auf eine schnelle Erholung der Union hin. Drittens schließlich stellt sich die Frage nach den koalitionsstrategischen Optionen für die künftige Regierungsfähigkeit. Die zwischenzeitlichen koalitions- politischen Lockerungsübungen, die 2010 durchaus auch ein Bündnis mit den Grünen ermöglicht hätten, sind erneut einer Phase der Lagerpolarisierung gewichen, wenngleich die Zwischenphase der Minderheitsregierung in NRW die politischen Frontstellungen gelockert hat. Ob die Union unter diesen Bedingungen einer erneuten Lagerbildung neue Bündnisoptionen ausloten kann, erscheint fraglich. Darauf wird sie jedoch angewiesen sein, will sie in absehbarer Zeit wieder eine gestalterische Rolle in der Landespolitik spielen.

77 So Volker Kronenberg: Laboratorium der Erneuerung. Die Volkspartei CDU in Nord- rhein-Westfalen, in: V. Kronenberg/T. Mayer (Hg.): Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg i. Br. 2009, S. 60–81, hier S. 76. 78 Vgl. Feist/Hoffmann; Stefan Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 2012: Von der Minderheit zur Mehrheit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/3 (2012), S. 543–563.

256 Niko Switek links: Niko Switek rechts: Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-West- Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen falen Der lange Marsch in die Mitte

Die Landesverbände haben bei Bündnis 90/Die Grünen einen besonderen Stellenwert. Die grüne Bundespartei gesteht ihren Untergliederungen ausdrück- lich Programm-, Satzungs-, Finanz- und Personalautonomie zu.1 Das überrascht nicht, wenn man sich die Gründungsgeschichte der Partei vergegenwärtigt: Die Bildung der Grünen vollzog sich von unten nach oben – die Bundespartei ent- stand als Föderation von Landesverbänden, die selbst wiederum ein Amalgam aus kommunalen Wahllisten und lokalen Initiativen sowie verschiedenen Kleinparteien bildeten.2 Darüber hinaus war die Selbständigkeit der Unter- gliederungen ideologisch begründet: Die enge Verknüpfung der Grünen mit den Neuen Sozialen Bewegungen führte zu einer Verankerung der Basisdemo- kratie als programmatisches Grundprinzip.3 Für den aus Nordrhein-Westfalen stammenden grünen Politiker Ludger Volmer prägte dieser Anspruch das inner- parteiliche Geschehen: »Eine ausgeprägte Praxis des Föderalismus gehörte zum Wesenskern einer unangepassten Anti-Parteien-Partei«.4 Nun haben sich die Grünen in den mehr als 30 Jahren ihrer Parteigeschichte gewandelt und auch angepasst. Mit der Etablierung und Professionalisierung der Partei wuchsen die Ressourcen der Parteizentrale im Bund wie die Steuerungs-

1 So lange sich diese im Rahmen des Grundkonsenses der Bundesorganisation bewegen; Satzung von Bündnis 90/Die Grünen: www.gruene.de/fileadmin/user_upload/ Dokumente/satzung_des_bundesverbandes.pdf, Stand: 20.3.2013. 2 Rudolf van Hüllen: Ideologie und Machtkampf bei den Grünen: Untersuchung zur programmatischen und innerorganisatorischen Entwicklung einer deutschen »Bewegungs- partei«, Bonn 1990; Joachim Raschke: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Frankfurt a. M. 1993. 3 Lothar Probst: Bündnis 90/Die Grünen, in: F. Decker/V. Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 182. 4 Ludger Volmer: Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei – Eine Bilanz, München 2009, S. 153.

257 Niko Switek möglichkeiten des Bundesvorstands.5 Dennoch bilden die Landesverbände weiterhin eine zentrale innerparteiliche Gliederungseinheit. Beispielhaft zeigen die Experimente mit neuen Koalitionsmodellen wie in Hamburg oder im Saar- land, dass die in der Satzung zugestandene Autonomie durchaus in Anspruch genommen wird. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden der nordrhein-westfälische Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen systematisch entlang der Punkte Parteigründung, Entwicklung und Wahlergebnisse, Regierungsbeteiligungen, Mitgliederstruktur und Parteiorganisation sowie programmatisches Profil dar- gestellt.

1. Gründung: Nicht rechts, nicht links, sondern ökologisch

Bei der Gründung der Grünen fanden sich Akteure aus unterschiedlichen Richtungen zusammen. In Nordrhein-Westfalen waren das zum einen Vertreter ökologisch ausgerichteter Kleinparteien, wie der Grünen Liste Umweltschutz (GLU) oder der Grünen Aktion Zukunft (GAZ) um den ehemaligen CDU- Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl, die sich als wertkonservative Natur- schützer verstanden und sich bei der Europawahl im Juni 1979 im Umfeld der Sonstigen Politischen Vereinigungen/Die Grünen engagiert hatten.6 Hinzu kamen Aktivisten örtlicher Wahlbündnisse in Form von alternativen und bunten Listen sowie grüne Wählergemeinschaften, die bei den Kommunalwahlen im September 1979 überraschende Erfolge erzielt hatten.7 Der Übergang zu den Neuen Sozialen Bewegungen war bei diesen Gruppierungen fließend und sie verband weniger eine einheitliche programmatische Zielrichtung als vielmehr die Mobilisierung durch lokale Probleme. Schließlich wirkte der Erfolg der grünen Bewegung anziehend auf die »Zerfallsprodukte« der Studentenbewegung, die als Neue Linke ein Spektrum

5 Sebastian Bukow/Stephan Rammelt: Parteimanagement vor neuen Herausforderungen. Die Notwendigkeit strategischer Steuerung sowie Anforderungen an parteiinterne Organisation und externe Kommunikation für moderne (Regierungs-)Parteien am Bei- spiel der Grünen, Münster 2003. 6 Ein formaler Parteistatus war für die Teilnahme an der Europawahl nicht vorgeschrieben. 7 Helmut Wiesenthal: Die Grünen in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Bedeutung, Programm und Willensbildung, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nord- rhein-Westfalen, Köln 1985, S. 151.

258 Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen von Sozialdemokratie bis zu orthodoxem Kommunismus bildete. So ergab sich durch den Niedergang der zahlreichen K-Gruppen und den zeitgleichen Erfolg grüner Listen ein regelrechter Sog in die sich formierenden Grünen.8 Diese Heterogenität (»Ein ganz bunt gemischtes Völkchen«9) sorgte für eine turbulente Gründungsveranstaltung des NRW-Landesverbandes am 16. Dezember 1979 in Hersel bei Bonn. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Ausrichtung des grünen Landesverbandes drohte zeitweise der Auszug der wertkonservativen Ökologen, der letztlich mit der Kompromissformel, sich vom Rechts-Links-Spektrum zu lösen und sich als neue Kraft im Parteiensystem zu definieren, abgewendet wurde: »Alle hatten die einmalige Chance der Gründung einer ökologischen Partei erkannt, die daran Interessierte aus einem breiten Spektrum zusammenfasst«.10 Die Vielfalt fand ihren Ausdruck in innerparteilichen Strömungen. Gruhl und seine Mitstreiter legten mit ihrer pragmatisch-reformorientierten Haltung das Fundament für den realpolitischen Flügel (»Realos«); nachdem sie doch noch die Partei verließen, stütze sich diese Strömung vorrangig auf ehemalige K-Gruppen- Mitglieder.11 Nach den Gründungswirren formierte sich als Gegenpol zu den Realos ein zahlenmäßig stärkerer, sozialistisch-orientierter »fundamentalistischer« Flügel (»Fundis«), der in der fragmentierten Partei aber keine dominante Stellung erlangte: »Die Mehrheit war heterogen und inkohärent, sie bestand aus ideologisch gehärteten und diffusen, radikaleren und pragmatischeren, undogmatischen und orthodoxen Linken«.12 Im Flächenland Nordrhein-Westfalen variierte die Stärke der neugegründeten Partei je nach Region: Waren die Groß- und Universitätsstädte Hochburgen,

8 Michael Steffen: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Berlin 2002, S. 307. 9 Bärbel Höhn: 25 Grüne Jahre in NRW, in: Heinrich-Böll-Stiftung NRW (Hg.): 25 Grüne Jahre in NRW. Dokumentation des 8. Böll Forums am 9. Juli 2004, Düsseldorf 2004, S. 3. 10 : Erinnerungen an Hersel, in: Heinrich-Böll-Stiftung NRW (Hg.): 25 Grüne Jahre in NRW. Dokumentation des 8. Böll-Forums am 9. Juli 2004, Düsseldorf 2004, S. 16. 11 »Als die Partei sich in Linke und Realos ausdifferenzierte, bildeten Ex-KPD/AOler [Kommunistische Partei Deutschlands/Aufbauorganisation] den Kern der NRW- Realos.« Volmer, S. 155. 12 Raschke, 361.

259 Niko Switek blieben die Grünen in ländlichen Regionen schwach bis nicht existent. Im Ruhr- gebiet hatten sie trotz der günstigen Rahmenbedingungen von Urbanisierung und Tertiarisierung aufgrund der Dominanz der SPD sowie deren engen Ver- flechtung mit Gewerkschaften, Großbetrieben und kommunalen Institutionen einen schweren Stand.13

2. Entwicklung und Wahlergebnisse: Von der Kommunal- zur Regierungspartei Die erste Belastungsprobe für den neuen grünen Landesverband ließ nicht lange auf sich warten – nur knapp fünf Monate nach der Parteigründung standen Landtagswahlen an. Allerdings gestaltete sich die Ausgangslage günstig: Nach dem Achtungserfolg bei der Europawahl zog bei der Bremer Bürgerschaftswahl im Oktober 1979 erstmals eine grüne Partei in ein Landesparlament ein. Nur einige Wochen vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen meisterten zudem die baden-württembergischen Grünen den Einzug in den Landtag.

2.1 Landtagswahlen von 1980 bis 2012: Nachholende Entwicklung

Trotz des Rückenwinds kamen die nordrhein-westfälischen Grünen bei ihrer ersten Landtagswahl 1980 nur auf drei Prozent.14 Dabei erfuhren hausgemachte Gründe eine Verstärkung durch bundespolitische Einflüsse: Da in Nordrhein- Westfalen die Machtfrage der kommenden Bundestagswahl mitschwang, mussten sich die Grünen gegen den Vorwurf wehren, zu einer Schwächung der SPD und damit indirekt zu einer Stärkung Franz Josef Strauß’ beizutragen.15 Hinzu kam, dass durch das damals in Nordrhein-Westfalen angewandte Einstimmenwahl- recht mit Landesergänzungsliste ein »Eingangswiderstand« für neue Parteien bestand.16

13 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wies- baden 2008, S. 339. 14 Für die Wahlergebnisse siehe Anhang A in diesem Band. 15 Ursula Feist/Klaus Liepelt: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 11. Mai 1980. Ein politischer Erdrutsch, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/11 (1980), S. 244. 16 Kranenpohl, S. 319.

260 Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen

Programmatische oder organisatorische Konsequenzen als Reaktion auf den Misserfolg ergaben sich nicht. Weiterhin nahmen im fragmentierten Landes- verband Flügelkämpfe großen Raum ein. Im Mai 1983 eskalierte ein Streit über die Parteifinanzen mit dem geschlossenen Rückzug des Landesvorstands – die erste einer anhaltenden Folge von Krisen im Landesverband.17 Im Jahr vor der Landtagswahl 1985 artikulierten führende Landespolitiker offen die organisatorische Schwäche der Landespartei: »[…] wir stehen immer noch in der Phase des Zusammenwachsens, verfügen nur über eine schwach entwickelte innerparteiliche Informationsstruktur (fast ohne Wirkungen nach ›außen‹) und haben keine parlamentarischen Erfahrungen oberhalb der Kommunalebene«.18 Zwar steigerten die Grünen ihr Ergebnis 1985 im Vergleich zu 1980 um 1,6 Pro- zentpunkte, blieben jedoch mit 4,6 Prozent wieder unter der entscheidenden Fünf-Prozent-Marke. In ihren Hochburgen, wie der Rheinschiene (5,3 %), dem Münsterland (5,1 %) und dem Raum Bielefeld (5,2 %), überschritten sie diese Hürde – aufgehoben wurde das durch Schwächen in der Region Eifel/Aachen (3,8 %) sowie im Sieger- (3,5 %) und Sauerland (4,0 %).19 Zu der schwachen Parteiorganisation und dem innerparteilichen Streit gesellte sich ein über die eigene Stammwählerschaft hinaus wenig attraktives Personalangebot, da sich bei der Besetzung der Landesliste die Fundamentalisten fast vollständig gegenüber den Realpolitikern durchgesetzt hatten.20 Entsprechend konstatierte die NRW- Grüne Antje Vollmer: Hätte man »alle Grünen in NRW auf Urlaub geschickt, wären wir wahrscheinlich in den Landtag gekommen«.21 Anders als noch 1980 hatte diese Niederlage Konsequenzen. In der Folge stellte man landespolitische Themen heraus und konzentrierte sich auf umwelt- politische Fragen sowie die besonderen Struktur- und sozialen Probleme in Nord-

17 Robert Camp: Zu den Aktenbeständen der nordrhein-westfälischen Grünen, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Grünes Gedächtnis 2011, Berlin 2011, S. 76. 18 Gabriel Falkenberg/Erhard Müller/Helmut Wiesenthal: Vor den Landtagswahlen: NRW-Grüne. Chancen, Perspektiven, Strategien, in: Kommune: Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, 11 (1984), S. 48. 19 Ursula Feist/Hubert Krieger: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 12. Mai 1985. Stimmungstrend überrollt Sozialstrukturen oder: Die Wende ist keine Kaffeefahrt, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 16/3 (1985), S. 365. 20 Feist/Krieger, S. 359. 21 Antje Vollmer zitiert nach Raschke, S. 360.

261 Niko Switek rhein-Westfalen.22 Das Wahlprogramm 1990 fokussierte klassische grüne Themen wie Umweltschutz, Müllvermeidung und -verwertung, Verkehrsberuhigung und Gleichstellung der Frauen.23 Damit gelang der langersehnte Einzug in den Land- tag – allerdings mit einer Punktladung von exakt 5,0 Prozent (man übertraf die Fünf-Prozent-Hürde um etwa 4.500 Stimmen24). Die NRW-Grünen gehörten damit zu den letzten Landesverbänden, die in ein westdeutsches Landesparla- ment einzogen. In der Parlamentsarbeit gelang eine Einhegung der Strömungskonflikte und ein pragmatischer Politikstil herrschte vor.25 Wie in anderen Bundesländern oder im Bund beförderte die Einbindung in den parlamentarischen Alltag die Ent- radikalisierung und Kompromissbereitschaft.26 Für die Arbeit der grünen Abgeordneten sprach, dass sich das Wahlergeb- nis bei der darauffolgenden Wahl 1995 verdoppelte. Weitere Gründe für den Erfolg waren das Anwachsen parteiaffiner Milieus sowie die gelungene Vorort- Mobilisierung über ökologische Konflikte.27 Da die SPD eine absolute Mehr- heit verfehlte, benötigte sie einen Koalitionspartner – und inzwischen war eine Übernahme von Regierungsverantwortung innerhalb der Grünen mehrheits- fähig. Das erste rot-grüne Regierungsbündnis in Nordrhein-Westfalen zahlte sich an der Wahlurne allerdings nicht aus: Bei der Landtagswahl 2000 verloren die Grünen knapp drei Prozentpunkte und auch nach der Fortsetzung der rot-grünen Koalition ging ihr Ergebnis bei der Wahl 2005 um knapp einen Punkt zurück. Zugleich ergab sich eine Mehrheit für CDU und FDP, die für die Grünen den Wechsel auf die Oppositionsbänke bedeutete. Augenscheinlich gelang ihnen dort die Regeneration, denn bei der Wahl 2010 erzielten die Grünen mit 12,1 Prozent

22 Dagmar Biegler/Birgit Frey/Ralf Kleinfeld: Nordrhein-Westfalen, in: J. Hartmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bundesländer, Frankfurt a. M. 1997, S. 418. 23 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 1990: In dramatischer Zeit ein Votum der Normalität, in: Zeitschrift für Parla- mentsfragen, 21/3 (1990), S. 435. 24 Ebd., S. 440. 25 Biegler/Frey/Kleinfeld, S. 418. 26 Für die grüne Bundestagsfraktion etwa Josef Boyer/Helge Heidemeyer: Die GRÜNEN im Bundestag: Sitzungsprotokolle 1983–1987, Düsseldorf 2008. 27 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffman: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14. Mai 1995: Rot-Grün unter Modernisierungsdruck, in: Zeitschrift für Parlaments- fragen, 27/2 (1996), S. 268.

262 Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen ihr bislang bestes Ergebnis. Da das Wahlergebnis weder dem schwarz-gelben noch dem rot-grünen Lager eine Mehrheit bescherte und mehrere Sondierungsrunden fehlschlugen, wagten Sozialdemokraten und Grüne das Risiko einer Minder- heitsregierung. Kaum hatte man sich an das ungewöhnliche Regierungsmodell gewöhnt, kam mit einer Abstimmungsniederlage über den Haushalt 2012 das überraschende Ende. Die anschließenden Neuwahlen im Mai 2012 verschafften Rot-Grün eine stabile Mehrheit. Trotz eines leichten Verlustes bei den Grünen wuchs aufgrund der Ausgleichsmandatsregelung des nordrhein-westfälischen Wahlsystems die Landtagsfraktion um sechs Abgeordnete. Nimmt man die letzten Wahlergebnisse genauer in den Blick, so bestätigt eine Analyse die von anderen Wahlen bekannten Befunde: Die Grünen schneiden in Nordrhein-Westfalen bei jungen und weiblichen Wählern überdurchschnitt- lich gut ab, schlecht sind ihre Ergebnisse bei älteren Wählern.28 Bei den Berufs- gruppen machen Arbeiter seltener ihr Kreuz bei den Grünen, bei Angestellten und Beamten sind die Werte leicht überdurchschnittlich; 2012 fanden zudem viele Erwerbslose zu den Grünen.29 Die Grünen-Wähler haben ein ausgeprägt akademisches und urbanes Profil. Mehr als ein Drittel verfügen über einen Hoch- schulabschluss, ein weiteres gutes Viertel über das Abitur.30 In Großstädten hat die Partei teilweise den Charakter einer »urbanen Volkspartei«31 angenommen: In einigen städtischen Wahlkreisen erreicht sie ein Fünftel bis ein Viertel der Wähler und ist zweitstärkste Kraft hinter der SPD.32

2.2 Kommunalwahlen von 1984 bis 2009: Erfolge in der lokalen Politik

Aufgrund der einflussreichen Rolle kommunaler Wählervereinigung sowie des programmatisch verankerten Grundprinzips der Basisdemokratie lohnt ein ergänzender Blick auf die Kommunalwahlen. Die Grünen konnten in Nord-

28 Stefan Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 2012: Von der Minderheit zur Mehrheit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/3 (2012), S. 558. 29 Ebd., S. 559. 30 Kranenpohl, S. 323. 31 Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen – das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost/W. Rellecke/R. Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 298. 32 Zum Beispiel in den Wahlkreisen Köln I, Köln II, Köln IV oder Bielefeld I, Landeswahl- leiterin NRW (www.wahlergebnisse.nrw.de, Stand: 20.3.2013).

263 Niko Switek rhein-Westfalen auf kommunaler Ebene früher und umfassender reüssieren als auf Landesebene – allerdings auch weil Wähler dort neuen Parteien eher eine Chance geben.33 Der Fokus auf lokale politische Arbeit hatte zur Folge, dass die Themen- profilierung des Landesverbands lange über besonders aktive Kreisverbände lief (Bielefeld, Düsseldorf, Köln, Mülheim und Münster).34 Das machte sich bei der Kommunalwahl 1984 mit einem guten landesweiten Ergebnis von 8,2 Prozent bezahlt.35 Bei der Wahl 1994 gelang mit 10,2 Prozent erstmals ein zweistelliges Resultat. Aufmerksamkeit zogen in der Folge vor allem die 20 schwarz-grünen Kooperationen auf sich, die nach der Wahl geschlossen wurden.36 Die Schwierig- keiten der Regierungsbeteiligung auf Landesebene wirkten sich auch auf die kommunale Ebene aus, doch gelang in den Kommunen früher eine Umkehr des Trends. 2004 befand man sich im Hinblick auf den Stimmanteil wieder auf dem gleichen Niveau wie 1994. 2009 wurde das Kommunalwahlergebnis landesweit noch einmal gesteigert.37 Ohne Zweifel sind die Grünen in Nordrhein-Westfalen eine starke Kommunalpartei.

3. Regierungsbeteiligung: Erst widerwillig, dann wagemutig

Die Frage nach dem Umgang mit Regierungsbeteiligungen sorgte bei den Grünen in den achtziger Jahren für grundsätzliche und leidenschaftliche Diskussionen.38 Dabei stellte sich die Frage in Nordrhein-Westfalen freilich zunächst nicht. Die SPD erreichte bei der Landtagswahl 1980 eine absolute Mehrheit, die sie in den beiden darauffolgenden Wahlen verteidigen konnte. Zugleich fehlte eine rot- grüne Lageridentität als Ergebnis gemeinsamer Oppositionserfahrungen.39

33 Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Schwalbach/Ts. 2009, S. 50 ff. 34 Wiesenthal, S. 153. 35 Siehe die Wahlergebnisse im Anhang A in diesem Band. 36 Jürgen Hoffmann: Schwarz-grüne Bündnisse in den Kommunen: Modell für Bund und Länder?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 28/4 (1997). 37 Andreas Kost: Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: A. Kost/H.-G. Wehling (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2010, S. 252 f. 38 Biegler/Frey/Kleinfeld, S. 159 f. 39 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen: Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990–2006, Wiesbaden 2006, S. 107.

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3.1 Grüne Regierungsbeteiligung 1995–2005: Kooperation mit Hindernissen

Nach ihrer langen Dominanz fiel es den Sozialdemokraten schwer, 1995 den Verlust der absoluten Mehrheit zu verarbeiten.40 Noch im Wahlkampf hatte Ministerpräsident Rau sich gegen eine Koalition mit den Grünen ausgesprochen. Allerdings übte die SPD-Bundesspitze Druck aus, da man sich von einem rot- grünen Bündnis in Düsseldorf ein positives Momentum für einen Regierungs- wechsel 1998 im Bund versprach. Bei den Koalitionsverhandlungen sorgten basis- demokratische Gepflogenheiten der Grünen für Irritationen bei der SPD: »Die Grünen hatten eine Methode: die ließen sich über Fax von ihren Ortsvereinen Forderungen schicken. Die wurden in die Verhandlungen eingewoben […]. Das war ein sehr mühsames Geschäft«.41 Zwar gelang in einem vierwöchigen Verhandlungsmarathon die Einigung, allerdings wurden im Koalitionsvertrag der zentrale Konflikt über den Kohletagebau Garzweiler II ausgeklammert und weitere Streitpunkte durch unverbindliche Formulierungen entschärft. In der Folge musste in der Legislaturperiode über viele Punkte »gefeilscht« werden.42 Dabei schwächte die innerparteiliche Fragmentierung die Verhandlungsposition der Grünen – sie benötigten einen eigenen, rein grünen Koalitionsausschuss zur Abstimmung zwischen Partei, Fraktion und Regierungsmitgliedern.43 Streit zwischen den Koalitionären entzündete sich vor allem an Fragen der Infrastruktur- und Verkehrspolitik44, auch wegen der Minderheitsposition der

40 Stefan Bajohr: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge: Die Wandlung der Grünen in Nordrhein-Westfalen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32/1 (2001), S. 146. 41 Johannes Rau, zitiert nach Markus Hoffmann: Regierungsstile von Ministerpräsident Johannes Rau: 1990–1998. Versöhnen als Machtinstrument, Marburg 2006, S. 91. 42 »Die SPD-Seite zieht ihre ›bewährte Politik‹ wie zu Zeiten der Alleinregierung durch«, Manfred Busch/Ingrid Fitzek/Daniel Kreutz/Alexandra Landsberg: Das Beispiel NRW – Erfahrungen und Perspektiven mit Rot-Grün, in: Andere Zeiten, 1 (1997), S. 36. 43 Martin Florack: Institutionalisierung eines dosierten Parteienwettbewerbs – eine institutionentheoretische Analyse des Koalitionsmanagements in Nordrhein-Westfalen 1995–2010, in: J. Oberhofer/R. Sturm (Hg.): Koalitionsregierungen in den Ländern und Parteienwettbewerb, München 2010, S. 162. 44 Zum Beispiel Autobahnbau, Ausbau Dortmunder Flughafen, Nachtflugverbot Flug- hafen Köln/Bonn, M. Hoffmann, S. 98 ff.

265 Niko Switek sozialökologischen Reformer innerhalb der NRW-SPD.45 Der Koalitionsbruch drohte, als Wirtschaftsminister Clement (SPD) einen Rahmenbetriebsplan für Garzweiler II genehmigte. Die Grünen berieten auf einem außerordentlichen Parteitag in Jüchen kontrovers über die Aufkündigung der Koalition, am Ende sprachen sich aber zwei Drittel der Delegierten für eine Fortsetzung aus.46 Der linke Parteiflügel der Grünen sah sich durch diese Erfahrungen bestätigt: »Mit der SPD ist ein Regierungswechsel, aber kein Politikwechsel möglich«.47 Wegen der konfliktbehafteten Zusammenarbeit war nach der Landtags- wahl 2000 erneut Überzeugungsarbeit durch die Bundesparteien nötig, um eine Fortführung sicherzustellen. Diese wurde vor allem durch das Liebäugeln von Clement mit einer sozialliberalen Koalition erschwert.48 Nach harten Koalitions- verhandlungen fand man zwar eine gemeinsame Grundlage, aber wie schwer sich die Grünen mit der Regierungsbeteiligung taten, zeigte die Abstimmung auf dem Landesparteitag: Fast fiel der Koalitionsvertrag durch; nur knapp 57 Pro- zent der Delegierten sprachen sich für die Weiterführung des rot-grünen Bünd- nisses aus.49 Die Zusammenarbeit stabilisierte sich zunächst, bis der Wechsel im Ministerpräsidentenamt zu Peer Steinbrück eine erneute Koalitionskrise herauf beschwor.50 Steinbrück ging auf Konfrontationskurs zu den Grünen und forderte eine Generalrevision des Regierungsbündnisses.51 Da er allerdings mit diesem Vorstoß keine Unterstützung innerhalb der SPD fand und sich die Auseinandersetzung mehr um Inszenierung als um Substanz drehte, beinhaltete das zur Beilegung des Streits ausgehandelte »Düsseldorfer Signal« keine wirk- liche Neuausrichtung.52 Obwohl weiterhin der Konflikt um Garzweiler II die Zusammenarbeit dominierte, gelang es den Grünen, der Regierungspolitik in einigen Bereichen einen grünen Stempel aufzudrücken (etwa beim Naturschutz oder in der Verkehrsstrukturpolitik).53

45 Bajohr: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge, S. 153. 46 Camp, S. 77. 47 Kerstin Müller zitiert nach Bajohr: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge, S. 154. 48 Korte/Florack/Grunden, S. 248 ff. 49 Bajohr: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge, S. 147. 50 Korte/Florack/Grunden, S. 293 ff. 51 Florack, S. 165. 52 Korte/Florack/Grunden, S. 303 ff. 53 M. Hoffmann, S. 95–103.

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3.2 Grüne Regierungsbeteiligung seit 2010: Ein Experiment zahlt sich aus

2010 hatte sich die Situation um hundertachtzig Grad gedreht: Nach der Abwahl 2005 und mit der Übernahme des SPD-Landesvorsitzes durch Hannelore Kraft besserte sich das Klima zwischen den beiden Parteien deutlich; beide Seiten wünschten sich eine rot-grüne Zusammenarbeit54 – nur fehlte nun die Mehrheit. Die Landtagswahl 2010 stürzte zwar die amtierende schwarz-gelbe Regierung, Rot-Grün fehlte aber ein Sitz zur absoluten Mehrheit, die auch die gemeinsam von SPD und Grünen geführten Sondierungsgespräche mit den Liberalen sowie der Linkspartei über ein Dreierbündnis nicht herbeiführen konnte. Spielte die NRW-SPD zunächst kurzzeitig mit dem Gedanken, CDU und FDP als geschäfts- führende Regierung im Amt zu belassen, waren es vor allem die Grünen, die auf das Experiment einer Minderheitsregierung drängten.55 Die eigentlichen Koalitions- verhandlungen waren nach den umfangreichen Sondierungen nur noch Form- sache, größere Konflikte gab es nicht. Aufgrund ihres guten Ergebnisses forderten und erhielten die Grünen ein drittes Ministerium (vgl. Tab. 1). Der Koalitions- vertrag formulierte als Ziel eine Koalition der Einladung.56 Obwohl es anfangs nach einer Tolerierung der Minderheitsregierung durch die Linkspartei aussah, gelang es in der Folge tatsächlich, für verschiedene Vorhaben wechselnde Mehr- heiten im Landtag zu organisieren. Ein Beispiel hierfür war die Einigung mit der CDU auf einen »Schulkonsens«, bei der die grüne Schulministerin Löhrmann eine wichtige Rolle spielte.57 Weniger diese Erfolge, sondern mehr die Rahmen- bedingungen waren jedoch ausschlaggebend, dass die Minderheitsregierung

54 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010: Vom Abwarten zur Kehrtwende, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41/4 (2010), S. 784 f. 55 Niko Switek: Wieder einmal Trendsetter? Koalitionstheoretische Annäherung an die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, www.regierungsforschung.de/dx/public/ article.html?id=112, Stand: 20.3.2013. 56 »Wir laden alle politischen Kräfte im Parlament, die Öffentlichkeit und die Menschen in unserem Land ein, die Politik in den kommenden fünf Jahren mit zu gestalten«, Gemeinsam neue Wege gehen. Koalitionsvertrag zwischen der NRW-SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen NRW, www.gruene-nrw.de/koalitionsvertrag2010.html, Stand: 20.3.2013. 57 Janina Latzke: Macht ohne Mehrheit? Eine mikropolitische Analyse der Einigung zum Schulkonsens zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU in Nordrhein-West-

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zwei Jahre amtieren konnte: »Die relative Stabilität der Landesregierung beruhte darauf, dass die Opposition ihre Mehrheit nicht in einem konstruktiven Miss- trauensvotum gegen die Ministerpräsidentin bündeln konnte und mit Blick auf ihre Umfragewerte kein Interesse hatte, Neuwahlen herbeizuführen«.58 Als die Minderheitsregierung überraschend an einer Haushaltsabstimmung scheiterte, stand deren Fortführung für SPD und Grüne nicht in Frage.59 Die Bild: tab 1 Wähler belohnten das Experiment mit einer stabilen Mehrheit für beide Parteien.

Tabelle 1: Regierungsbeteiligung Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen Ministerpräsident Minister Jahr Koalition (SPD) (Grüne) 1995– SPD, Johannes Rau Michael Vesper: Bauen und 2000 ­Bündnis 90/ Wohnen; stellv. Ministerpräsident Die Grünen Wolfgang Clement Bärbel Höhn: Umwelt, Raum- ordnung und Landwirtschaft 2000– SPD, Wolfgang Clement Michael Vesper: Städtebau und 2005 ­Bündnis 90/ Wohnen, Kultur und Sport; Die Grünen Peer Steinbrück stellv. Ministerpräsident Bärbel Höhn: Umwelt, Natur- schutz, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz 2010– SPD, Hannelore Kraft Sylvia Löhrmann: Schule und 2012 ­Bündnis 90/ Weiterbildung, stellv. Minister- Die Grünen präsidentin Johannes Remmel: Klimaschutz, Seit Umwelt, Landwirtschaft, Natur- 2012 und Verbraucherschutz Barbara Steffens: Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter

Quelle: Eigene Darstellung.

falen, Unveröffentlichte Master-Arbeit am Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, 2012. 58 Bajohr: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl, S. 543. 59 Die Grünen warben gewissermaßen parteiübergreifend für Kraft und Löhrmann, indem sie auf die Wahlplakate »Schön, wenn Frauen wieder den Haushalt machen« schrieben.

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4. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation: Wachstum und Angleichung

Der nordrhein-westfälische Landesverband ist der mitgliederstärkste der Partei. Mit aktuell knapp 13.000 Mitgliedern – dem bislang höchsten Wert – stellt er ein Viertel der grünen Gesamtmitgliedschaft.60 Im Gründungsjahr 1979 zählte man 700 Mitglieder, vier Jahre später waren es bereits 5.000.61 Die Abspaltung eines großen Teils des radikal-linken Flügels nach dem Bundesparteitag in Neumünster 1991, auf dem weitreichende Organisationsreformen beschlossen wurden, führte auch in Nordrhein-Westfalen zu einer Austrittswelle.62 Nach 1992 stiegen die Zahlen jedoch erneut, bis 1998 wuchs der Landesverband auf 11.771 Mitglieder an. Ein erneuter Mitgliederschwund ergab sich sowohl nach dem Eintritt in die rot-grüne Bundesregierung 1998 sowie nach deren Ende 2005. Seit 2007 steigt die Zahl der Parteimitglieder wieder kontinuierlich an. Die grüne Parteiorganisation in Nordrhein-Westfalen stellte nach ihrer Gründung aufgrund der regionalen Schwerpunkte lange »eine Ansammlung von starken Kreisverbänden«63 dar, zumal die ausgehend von den basisdemokratischen Idealen implementierten organisatorischen Instrumente (z. B. Rotation, Ehren- amt, Trennung Amt und Mandat)64 einer Stabilisierung der Partei entgegen- wirkten. Mit der Zeit haben allerdings nur wenige organisatorische Besonder- heiten überlebt: Weiterhin existiert bei den NRW-Grünen eine strikte Frauen- quote; alle Gremien und Organe auf Landesebene sind zur Hälfte mit Frauen zu besetzen. Ein Erbe des »Bewegungshintergrunds« sind die Ökofonds, die aus Spenden der Abgeordneten gespeist werden und mit denen die Partei alternative Projekte fördert. Schließlich steht dem Landesverband weiterhin eine Doppel- spitze vor, eine Trennung von Amt und Mandat gilt aber nur noch abgeschwächt: Nicht mehr als ein Drittel der Vorstandsmitglieder dürfen Abgeordnete sein.65

60 Angaben der grünen Landes- bzw. Bundesgeschäftsstelle. 61 Biegler/Frey/Kleinfeld, S. 418. 62 Siehe die Entwicklung der Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 63 Ludger Volmer zitiert nach Raschke, S. 363. 64 Thomas Poguntke: Basisdemokratie als grünes Gegenmodell?, in: Der Bürger im Staat, 4/39 (1989). 65 Satzung von Bündnis 90/Die Grünen NRW, 2011, www.gruene-nrw.de/fileadmin/user_ upload/gruene-nrw/partei/Satzung_GRUENE_NRW_2011.pdf, Stand: 20.3.2013.

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Ansonsten ähneln die grünen Organisationsstrukturen in weiten Teilen denen anderer Parteien. Höchstes Gremium der Landespartei ist die mindestens ein- mal jährlich tagende Landesdelegiertenkonferenz, die Satzung und Programm beschließt sowie den Landesvorstand wählt. Der Vorstand amtiert für zwei Jahre und setzt sich aus 20 Mitgliedern zusammen; ihm stehen zwei gleichberechtigte Vorsitzende (zurzeit Monika Düker und Sven Lehmann) vor. Gemeinsam mit dem politischen Geschäftsführer und dem Landesschatzmeister bilden diese den geschäftsführenden Landesvorstand. Zwar wuchs bei den Grünen im Prozess der Etablierung und Professionalisierung der Einfluss der Parteiführung gegenüber dem Parteitag, doch hat sich in der grünen Organisationskultur eine gewisse Unberechenbarkeit der Parteiversammlungen erhalten.66 Hinzu kommt, dass der Landesführung aufgrund der – zumindest teilweise – untersagten Verschränkung mit der Fraktion, diese als eigenes innerparteiliches Machtzentrum gegenüber- steht. Eine koordinierende Funktion erfüllt der Landesparteirat, der den Landes- vorstand berät und die Aktivitäten von Kreisverbänden, Vorstand und Fraktion vernetzt. Für die programmatische Arbeit kennt die Partei 25 thematische Landesarbeitsgemeinschaften (»Grüne Denkfabriken«). Zentral, in der Satzung aber nicht aufgeführt, sind darüber hinaus die fünf Bezirksverbände, die etwa bei der Aufstellung von Wahllisten mitreden und dabei eine angemessene regionale Repräsentation einfordern.67 Auf unterster Ebene gliedern sich die Grünen in Nordrhein-Westfalen in 53 Kreis- und 362 Ortsverbände. Schließlich existiert mit der Grünen Jugend eine eigenständige Jugendorganisation, die ihre Interessen im Landesverband aktiv vertritt.68

66 Niko Switek: Bündnis 90/Die Grünen: Zur Entscheidungsmacht grüner Bundes- parteitage, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien? Prozesse inner- parteilicher Willensbildung in Deutschland, Zeitschrift für Politikwissenschaft, Sonder- band 2012. 67 Benjamin Höhne: Rekrutierung von Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Organisation, Akteure und Entscheidungen in Parteien, Opladen 2013. 68 Alexander Stock: Neumitglieder im Visier. Das Rekrutierungsmanagement der politischen Nachwuchsorganisationen am Beispiel der NRW-Landesverbände, Marburg 2008.

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5. Programmatisches Profil: Ökologie als Bindeglied und Kernkompetenz

Die den grünen Landesverbänden zugestandene Programmautonomie war aufgrund der in den Gründungsjahren hohen innerparteilichen Heterogeni- tät zentral: Die Bandbreite reichte von sozialistisch orientierten Hamburgern bis zu liberal-reformerisch auftretenden Baden-Württembergern.69 Bei den NRW-Grünen führte die dominante Stellung des linken Flügels zunächst zu einer fundamentalistisch-ökosozialistischen Positionierung. Die Existenz konkurrierender Deutungsangebote hatte allerdings zur Folge, dass grüne Programme in der Regel einem »enzyklopädischen Kompromiss« glichen – so kam das Landesprogramm 1985 auf 527 Seiten.70 Bindeglied und Kernkompetenz war stets die Ökologie, weswegen Schwerpunkte auf Politikfeldern wie Umwelt, Landwirtschaft, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik sowie Energiepolitik lagen. Dabei sahen sich die Grünen in Nordrhein-Westfalen als industriebewusstem und umweltbelastetem Bundesland mit höheren Aufmerksamkeitsbarrieren der Medien gegenüber »grünen« Themen konfrontiert.71 Mit der Vertretung im Landtag ergab sich eine Konvergenz zu pragmatischen Reformpositionen. So lässt sich sowohl bei wirtschaftspolitischen wie bei gesellschaftspolitischen Positionen eine deutliche Bewegung der Grünen in die Mitte des nordrhein-westfälischen Parteiensystems feststellen.72 Dennoch bleiben die NRW-Grünen im Spektrum der grünen Landesverbände auf der sozioökonomischen Konfliktlinie eine linke Landespartei (nur die Grünen in Bayern und Berlin positionieren sich weiter links), während sie sich bei gesellschaftspolitischen Fragen im Mittelfeld grüner Positionen verorten lassen.73 Wie bei der Bundespartei finden sich bei den NRW- Grünen immer wieder erkennbare Versuche, sich hinsichtlich einer Kompetenz- zuschreibung über ökologische Fragen hinaus zu profilieren: So zuletzt mit dem »Green New Deal«, der eine Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie im Sinne

69 Wiesenthal, S. 146. 70 Ebd., S. 156. 71 Ebd., S. 146. 72 Thomas Bräuninger/Marc Debus: Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden 2012, S. 117 f. 73 Ebd., 165 f.

271 Niko Switek einer »grünen Marktwirtschaft« leisten sollte.74 Ziel ist dabei wohl nicht nur die Vergrößerung des Wählerpotenzials, sondern die Positionierung als »Scharnier- partei« mit zusätzlichen Anknüpfungspunkten an CDU und FDP.75 Allerdings zeigt die Analyse der Programme zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2010 klare programmatische Lager auf: Grüne, SPD und Links- partei standen CDU und FDP gegenüber.76 Entsprechend scheiterten die Sondierungen zu einem rot-rot-grünen Bündnis weniger an inhaltlichen Differenzen als aufgrund mangelnder Kompromissbereitschaft sowie Zweifeln von SPD und Grünen an der Verlässlichkeit der Linkspartei.77 Zugleich bietet die programmatische Nähe von SPD und Grünen einen Erklärungsfaktor für die gemeinsame Experimentierfreudigkeit und die Stabilität der Minderheits- regierung. Gerade bei einer Regierung ohne eigene Mehrheit ist ein hohes Maß an inhaltlicher Kohäsion entscheidend für die Handlungsfähigkeit.78

6. Perspektiven: Öffnung für neue Bündnisse

Nordrhein-Westfalen spielt als bevölkerungsreichstes Bundesland für die Bundes- politik seit jeher eine große Rolle und fungierte bereits mehrmals als eine Art »Testlabor«79. Mit der Minderheitsregierung testeten Sozialdemokraten und Grüne eine mögliche kreative Antwort auf die neue Unübersichtlichkeit des Parteiensystems aus. Aber auch ein anderer Ausweg zeichnet sich ab: Durch gemeinsame Oppositionserfahrungen auf kommunaler Ebene gegenüber einer hegemonialen SPD näherten sich Grüne und Union an – in Nordrhein-West- falen bildeten sich in Städten und Gemeinden viele schwarz-grüne Bündnisse

74 Bärbel Höhn: Ein grüner New Deal, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 (2009). 75 Melanie Haas: Statt babylonischer Gefangenschaft eine Partei für alle Fälle? Bündnis 90/ Die Grünen nach der Bundestagswahl 2005, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2008, S. 128. 76 Marvin Bender/Matthias Bianchi/Andreas Jüschke/Jan Treibel: Der Duisburger NRW- Wahl-Index, Duisburg-Essen 2010. 77 Switek: Wieder einmal Trendsetter?. 78 Timo Grunden: Düsseldorf ist nicht Magdeburg – oder doch? Zu Stabilität und Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, www.regierungs- forschung.de/dx/public/article.html?id=100, Stand: 20.3.2013. 79 Kranenpohl, S. 330 ff.

272 Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen und die Zusammenarbeit wurde in vielen Fällen von beiden Seiten als erfolg- reich bewertet.80 Die Gräben zwischen den Parteien sind geschrumpft, zumal die NRW-CDU sich in der Integrationspolitik den Grünen angenähert hat und mit dem Schulkompromiss ein zentraler Konflikt ausgeräumt wurde. Eine gewisse Ventilfunktion erfüllt die strikte Abgrenzung zur FDP.81 Einerseits versichert sich die grüne Partei damit, keine Beliebigkeit bei der Partnerwahl zu zeigen. Anderer- seits entspricht das strategisch dem Kampf um die Stellung als drittstärkste Kraft hinter CDU und SPD. Als mögliches Dreierbündnis bleibt damit nur die rot- rot-grüne Variante. Nicht nur ist die programmatische Nähe gegeben, die Linken innerhalb der Grünen hegen Sympathien gegenüber dieser Option.82 Allerdings gerierte sich die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen radikal und kompromisslos, zudem ist sie stark fragmentiert – mit ihrem verpassten Wiedereinzug in den Landtag 2012 stellt sich die Frage ohnehin zunächst nicht mehr. Die Fünf-Pro- zent-Hürde übersprungen haben auf Anhieb die Piraten, die von den Grünen skeptisch beäugt und als ernsthafte Konkurrenz verstanden werden.83 Bei deren Wählern finden sich ähnliche Herkunftsmilieus, zugleich hält der Neuankömm- ling den Grünen den Spiegel vor: Die Piraten kultivieren eine Unangepasstheit, die vorher noch den Grünen zugeschrieben wurde. Allerdings sinkt der Stern der Piraten zurzeit so schnell, wie er aufgestiegen ist. Die Grünen befinden sich aktuell in Nordrhein-Westfalen in einer komfortablen Situation: Sie sind mit einem zweistelligen Ergebnis drittstärkste Partei. Sie regieren in einem rot-grünen Bündnis, das für sie ein etabliertes und – in der konkreten personellen Konstellation – stabiles Koalitionsmodell darstellt. Darüber hinaus zeichnet sich deutlich die Möglichkeit ab, bei anderen Mehr- heitsverhältnissen die Koalitionsflexibilität auszutesten und sich für neue Farb- konstellationen zu öffnen.

80 Niko Switek: Kommunales Bündnis mit Signalwirkung. Die schwarz-grüne Koalition in Köln 2003–2004, in: V. Kronenberg/C. Weckenbrock (Hg.): Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden 2011; J. Hoffmann. 81 Niko Switek: Grüne Partnerwahl – Innerparteiliche Entscheidungsprozesse und Koalitionsoptionen bei Bündnis 90/Die Grünen auf Länderebene, Baden-Baden 2013 (i. E.). 82 Ebd. 83 Veit Medick/Annett Meiritz: Konkurrenz um Platz drei: Grüne rüsten zum Kampf gegen die Piraten, in: Spiegel Online, www.spiegel.de/politik/deutschland/umfragehoch-der- piraten-irritiert-gruene-a-826563.html, Stand: 20.3.2013.

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Jan Treibel links: Jan Treibel rechts: Die FDP in Nordrhein-Westfalen Die FDP in Nordrhein-Westfalen Multikoalitionsfähige Partei des programmatischen Wandels

Die FDP in Nordrhein-Westfalen prägte die Landespolitik im bevölkerungs- reichsten Bundesland der Republik seit ihrer Gründung entscheidend mit. Als multikoalitionsfähige Partei war sie insgesamt 28 Jahre lang mit unterschied- lichen Partnern an der Regierung beteiligt. Das vorliegende Parteienprofil wirft nicht nur einen analytischen Blick auf die historische und programmatische Ent- wicklung der Partei, sondern skizziert auch die besondere Organisationsstruktur der NRW-Liberalen und arbeitet ihren Einfluss auf Entscheidungsprozesse der Bundespartei heraus.

1. Gründung

Die Gründung der FDP erfolgte in Nordrhein-Westfalen von der kommunalen Ebene aufwärts und knüpfte an die Tradition der liberalen Parteien des Kaiser- reichs und der Weimarer Republik an. Bis 1945 hatten in Deutschland mindestens zwei, meist sogar deutlich mehr liberale Parteien existiert. Die beiden wichtigsten waren die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die national- liberale Deutsche Volkspartei (DVP).1 In den Regionen Westfalens und der nördlichen Rheinprovinz lagen für die Liberalen im Vergleich zu den (Neu-) Gründungen der parteilichen Wettbewerber ungünstigere sozioökonomische Bedingungen vor2: Die weitgehend katholische Bevölkerung im Rheinland und in Westfalen, sowie das industriell geprägte Ruhrgebiet waren klassisch die Hoch-

1 Heino Kaack: Die F. D. P. Grundriß und Materialien zu Geschichte, Struktur und Programmatik, Meisenheim 1979, S. 10–11. 2 Dieter Hein: Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung. Gründung, Entwicklung und Struktur der Freien Demokratischen Partei 1945–1949, Düsseldorf 1985, S. 133–157; Jörg Michael Gutscher: Die Entwicklung der FDP von ihren Anfängen bis 1961, Meisenheim 1967, S. 15–17.

275 Jan Treibel burgen des Zentrums bzw. der KPD. Dennoch wurden in Westfalen 1945 auf der lokalen Ebene in Hagen, und Bielefeld liberale Parteien von ehe- maligen DDP- und DVP-Politikern gegründet, die sich am 9. November 1945 in Dortmund zu einem Landesverband zusammenschlossen. Programmatisch verfolgte die Liberal-Demokratische Partei Westfalens zunächst eine homo- gen linksliberale Ausrichtung. Im Rheinland war dies anders, denn die ersten zwölf liberalen Parteigruppen besaßen unterschiedliche programmatische und konzeptionelle Ausrichtungen: Die Gründungen in Düsseldorf-Mettmann, Krefeld, Moers, Neuss und Wuppertal standen in der Tradition der DDP, eher wirtschaftsliberal formierten sich hingegen die Liberalen in Essen, Mülheim und Remscheid. In Duisburg-Hamborn, Mönchengladbach, Aachen, Rheydt und Viersen entstanden dezidiert sozialliberale Parteien. In Gummersbach und Opladen wiederum wurden bürgerliche Sammlungsparteien als Zusammen- schluss von liberalen und konservativen Gruppen gegründet. Unter Feder- führung des Opladener entstand am 4. Dezember 1945 in Düsseldorf ein Landesverband Nordrhein. Eine Fusion zu einem gemeinsamen Landesverband der Freien Demokratischen Partei Nordrhein-Westfalen erfolgte erst im Mai 1947 nach Gründung des Landes ein Jahr zuvor. Damit war zwar die historische Spaltung in links- und nationalliberale Parteien an Rhein und Ruhr überwunden, doch die konkrete politische Ausrichtung blieb ungeklärt.3

2. Entwicklung und Wahlergebnisse

Die FDP erreichte bei den bisherigen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Ergebnisse zwischen vier (1995) und zwölf (1950) Prozent.4 Zweimal verpassten die Liberalen aufgrund des Unterschreitens der Fünf-Prozent-Hürde den Ein- zug in den Landtag: 1980 (mit 4,98 % nur denkbar knapp) und 1995. Im Land- tag profilierten sich die Freien Demokraten sowohl als multikoalitionsfähige Regierungspartei mit unterschiedlichen Partnern (1954–56, 1962–66, 2005– 2010 mit der CDU sowie 1956–58 und 1966–1980 mit der SPD), als auch als Oppositionsfraktion. Die historische Entwicklung des Landesverbandes wird

3 Marcel Solar: Nordrhein-Westfalen. Das Erbe des politischen Katholizismus und der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland, in: A. Kost (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 276–301, hier S. 284 f. 4 Siehe die Wahlergebnisse im Anhang A in diesem Band.

276 Die FDP in Nordrhein-Westfalen schlaglichtartig entlang zentraler Ereignisse deutlich, die besonders die enge Ver- flechtung zur Bundespartei illustrieren. Der 1947 gewählten Allparteienkoalition verweigerten sich die Liberalen noch als einzige politische Kraft im Landtag. Unter dem Fraktionsvorsitzenden Friedrich Middelhauve, der ab August 1947 auch den Landesvorsitz der Partei übernahm, bekamen die rechtsliberalen Kräfte im ursprünglich heterogenen Landesverband immer mehr Einfluss. Den unrühmlichen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die »Naumann-Affäre«5: Am 15. Januar 1953 wurde ein konspirativer Kreis von sechs ehemaligen Nationalsozialisten um den früheren Staatssekretär im Reichspropagandaministerium Werner Naumann mit dem Vorwurf von der britischen Besatzungsmacht verhaftet, die FDP-NRW unter- wandert und so eine neue Machtergreifung geplant zu haben. Fast alle zentralen Schlüsselpositionen der Geschäftsführung des Landesverbandes, besonders die von der Landespartei eingesetzten Außendienstgeschäftsführer in den Kreis- und Bezirksverbänden, waren zu diesem Zeitpunkt mit ehemaligen National- sozialisten besetzt.6 Der nationalliberale Flügel ging geschwächt aus der »Naumann-Affäre« hervor. Der Landesvorsitzende Middelhauve zog sich aus der Politik zurück. Stattdessen übernahm eine jüngere Politikergeneration um Erich Mende, Willi Weyer, Walter Scheel und Wolfgang Döring das Ruder.7 Die in Anlehnung an eine Reform- bewegung im türkischen Militär von den Medien bezeichneten »Jungtürken« fädelten im Februar 1956 einen überraschenden Machtwechsel im Düsseldorfer Landtag ein, als der Sozialdemokrat Fritz Steinhoff durch ein konstruktives Misstrauensvotum mit den Stimmen von SPD und FDP zum neuen Minister- präsidenten gewählt wurde.8 Die Liberalen, die zuvor mit der CDU unter Karl Arnold die Landesregierung gebildet hatten, machten mit ihrer Entscheidung zum Regierungswechsel den Weg für die erste sozialliberale Koalition der Bundes-

5 Jörg D. Krämer: Das Verhältnis der politischen Parteien zur Entnazifizierung in Nord- rhein-Westfalen, Frankfurt a. M. 2001, S. 361–371; Gerhard Papke: Unser Ziel ist die unabhängige FDP. Die Liberalen und der Machtwechsel in Nordrhein-Westfalen 1956, Baden-Baden 1992, S. 95–107; Gutscher, S. 151–159. 6 Siehe das Kapitel von Lazaros Miliopoulos in diesem Band. 7 Jürgen Dittberner: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Ein- führung, Wiesbaden 2010, S. 37. 8 Papke, S. 203–206.

277 Jan Treibel republik frei.9 Bei den folgenden Landtagswahlen lieferten sich CDU und SPD ein Kopf-an-Kopf-Rennen, während sich die Freien Demokraten als dritte Kraft und Mehrheitsbeschaffer etablierten. Im zweieinhalb-Parteiensystem der 1960er und 1970er Jahre entschied ihre Präferenz, wer in Düsseldorf regierte10: Von 1962 bis 1966 waren es die Christdemokraten, von 1966 bis 1980 die Sozialdemo- kraten. 1980 war diese komfortable Rolle als Königsmacher plötzlich beendet: Denk- bar knapp verfehlten die Liberalen mit 4,98 Prozent der Stimmen den Einzug in den Landtag. 1985 und 1990 schafften die Freien Demokraten dann zwar wieder den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde, doch die Mehrheitsverhältnisse hatten sich zu Gunsten der SPD verschoben, die ohne die FDP mit absoluter Mehrheit regieren konnte.11 Zudem etablierte sich mit den Grünen eine vierte Partei, die den Liberalen den Status als dritte Kraft streitig machte. Während die »Öko- partei« 1995 mit zehn Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis einfuhr und die Alleinregierung der Sozialdemokraten brechen konnte, verpassten die Freien Demokraten erneut den Einzug in den Landtag. Unter ihrem Landesvorsitzenden Jürgen Möllemann, von 1987 bis 1993 Bundes- minister in Bonn, schaffte die FDP 2000 das Comeback. Dank einer unkon- ventionellen, zielgruppenspezifischen Wahlkampfstrategie mit provozierenden Plakatmotiven, programmatischer Schwerpunktsetzung auf die Themen Bildung und Verkehr, klarer Personalisierung sowie dem Verzicht auf eine Koalitions- aussage12 schafften die Liberalen mit 9,8 Prozent nicht nur den Wiederein- zug in den Landtag, sondern übertrafen ihr ehrgeiziges Ziel von acht Prozent deutlich. Es reichte aber nicht für eine Regierungsbeteiligung, weil die SPD unter Wolfgang Clement der Fortsetzung der rot-grünen Koalition aus bundes-

9 Jörg Engelbrecht: Fritz Steinhoff, in: S. Gösmann (Hg.): Unsere Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf 2008, S. 70–97, hier S. 82. 10 Solar, S. 288; Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 313–339, hier S. 316 f. 11 Solar, S. 290. 12 Fritz Goergen: Skandal FDP. Selbstdarsteller und Geschäftemacher zerstören eine politische Idee, Köln 2004, S. 50–73.

278 Die FDP in Nordrhein-Westfalen politischen Gründen den Vorzug vor einer SPD-FDP-Koalition gab.13 Gestärkt durch den Wahlerfolg wollte Möllemann auch die Bundespartei mit einer ähn- lichen Strategie bei der Bundestagswahl 2002 zum Sieg führen14: Diesmal sollten 18 Prozent als Ziel ausgegeben werden. Zudem sollte auf eine Koalitionsaussage verzichtet und ein eigener Kanzlerkandidat aufgestellt werden. Guido Wester- welle ließ sich überzeugen und setzte die Strategie schließlich in die Tat um – die Rolle des Kanzlerkandidaten, die Möllemann eigentlich für sich vorgesehen hatte15, übernahm der Bundesvorsitzende aber selbst. Im Düsseldorfer Landtag versuchte der NRW-Landesvorsitzende, die knappe Mehrheit der rot-grünen Landesregierung zu brechen. Deshalb wurde der aus der grünen Landtagsfraktion ausgetretene Abgeordnete Jamal Karsli am 24. April 2002 in die FDP-Fraktion aufgenommen.16 Nachdem bekannt geworden war, dass Karsli der israelischen Armee »Nazi-Methoden« im Umgang mit den Palästinensern vorgeworfen hatte, kritisierte auch Möllemann Israel und den Zentralrat der Juden heftig. Westerwelle reagierte zögerlich und wirkte erst spät auf den nordrhein-westfälischen Landesverband ein, Karsli aus der Partei wieder auszuschließen. Trotzdem gerieten Möllemann und die FDP insgesamt in Ver- dacht, durch das Aufgreifen rechtspopulistischer Ressentiments Stimmen am »rechten Rand« fischen zu wollen, um das ehrgeizige Ziel von 18 Prozent erreichen zu können.17 Nachdem im Sommer 2002 die Flutkatastrophe in Ostdeutschland den unkonventionellen Wahlkampf der FDP von der Agenda verdrängt hatte, legte Möllemann eine Woche vor dem Wahltermin nach: Ohne Abstimmung mit der Berliner Parteispitze ließ er ein Flugblatt an alle Haushalte in Nordrhein- Westfalen verteilen. Darin wurden der Vizepräsident des Zentralrats der Juden Michel Friedman und der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon scharf angegriffen.18

13 Karl-Rudolf Korte/Martin Florack/Timo Grunden: Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006, Wiesbaden 2006, S. 246 ff. 14 Marco Michel: Die Bundestagswahlkämpfe der FDP 1949–2002, Wiesbaden 2005, S. 255. 15 Christoph Greiner: Der Mensch und Politiker Jürgen W. Möllemann. Eine wissenschaft- liche Analyse, Stuttgart 2010, S. 340. 16 Majid Sattar: »… und das bin ich!«. Guido Westerwelle. Eine politische Biografie, München 2009, S. 167–171. 17 Hans Vorländer: Die FDP – Ein Lehrstück medialen Illusionstheaters, in: Forschungs- journal Neue Soziale Bewegungen, 16/1 (2003), S. 89–92, hier S. 91. 18 Greiner, S. 411 ff.

279 Jan Treibel

Mit 7,4 Prozent verfehlte die FDP bei der Bundestagswahl das selbstgesteckte Wahlziel von 18 Prozent deutlich. Für die Parteispitze diente Jürgen Möllemann als Sündenbock für das enttäuschende Ergebnis. Zudem geriet der Landes- vorsitzende wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung der Wahlkämpfe 2000 und 2002 unter Druck.19 Im März 2003 kam Möllemann einem Parteiaus- schluss zuvor und trat aus der Partei aus. Zwei Monate später stürzte der FDP- Politiker bei einem Fallschirmsprung in den Tod.20 Unter der Regie des neuen Parteivorsitzenden Andreas Pinkwart kehrte die FDP-NRW zur Seriosität zurück und arbeitete in der 13. Wahlperiode in der

Tabelle 1: Regierungsbeteiligungen der FDP in Nordrhein-Westfalen Zeit Koalition FDP-Ministerien 1946–1947 CDU, SPD, FDP, Finanzen (Franz Blücher) Zentrum, KPD 1954–1956 CDU, FDP, Wirtschaft (Friedrich Middelhauve), Zentrum ­Wiederaufbau (Willi Weyer) 1956–1958 SPD, FDP, Zentrum Finanzen (Willi Weyer), Wirtschaft (Hermann Kohlhase), Landwirtschaft (Josef Effertz), Kultur (Paul Luchtenberg) 1962–1966 CDU, FDP Innen (Willi Weyer), Wirtschaft (Gerhard Kienbaum) 1966–1980 SPD, FDP Innen (Willi Weyer, ), ­Wirtschaft (Gerhard Kienbaum, ­Horst-Ludwig Riemer, ), Wohnungsbau (Hermann Kohlhase) 2005–2010 CDU, FDP Innen (Ingo Wolf), Wissenschaft (Andreas Pinkwart)

Quelle: Eigene Darstellung; Kranenpohl, S. 318; Internetpräsenz Landtag NRW: www.landtag.nrw. de/portal/WWW/GB_II/II.2/Archiv/mdldat/Landesregierungen/0000_Landesregierungen.jsp, Stand: 20.3.2013.

19 Dittberner, S. 99; Greiner, S. 421 ff. 20 Dittberner, S. 103.

280 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

Opposition eng mit der CDU zusammen.21 Bei der Landtagswahl 2005 war es in erster Linie dem schwachen Abschneiden der SPD und dem Erstarken der Union zu verdanken, dass die FDP – trotz klarer Verluste von 3,6 Prozent- punkten – gemeinsam mit der CDU die rot-grüne Landesregierung ablösen konnte. Im Kabinett von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers übernahmen die Liberalen das Innen- und das Wissenschaftsressort, welches der stellvertretende Ministerpräsident Pinkwart zum ersten Innovationsministerium in Deutsch- land umbaute.22 Obwohl die FDP bei der Landtagswahl 2010 ihr Stimmen- ergebnis leicht verbessern konnte, wurde die schwarz-gelbe Landesregierung abgewählt. Nach langwierigen Regierungsbildungsprozessen, in denen die FDP auch zusammen mit SPD und Grünen über die Möglichkeit eines Ampelbünd- nisses sprach, entstand eine rot-grüne Minderheitsregierung unter der Minister- präsidentin Hannelore Kraft23, die zwei Jahre später bei vorgezogenen Neuwahlen eine parlamentarische Mehrheit erhielt. 2012 schafften die Liberalen – trotz deutlichem Stimmungstief auf der Bundesebene – mit ihrem neuen Landesvor- sitzenden Christian Lindner mit 8,6 Prozent überraschend souverän den Wieder- einzug in den Landtag. Bild: tab 1

3. Mitgliederstruktur und Parteienorganisation

Die wie in jeder deutschen Partei vertikal und horizontal fragmentierte Organisationsstruktur24 des NRW-Landesverbandes wird entlang jener Akteursgruppen skizziert, die in Parteien handeln.25 Als weitere Analysekate- gorie werden zentrale Entscheidungsorte, in denen die innerparteilichen Akteure

21 Solar, S. 292. 22 Korte/Florack/Grunden, S. 349. 23 Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010. Vom Abwarten zur Kehrtwende, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41/4 (2010), S. 766–787, hier S. 784 f. 24 Uwe Jun/Benjamin Höhne (Hg.): Parteien als fragmentierte Organisationen. Erfolgs- bedingungen und Veränderungsprozesse. Parteien in Theorie und Empirie, Opladen 2010; Elmar Wiesendahl: Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisations- wirklichkeit politischer Parteien, Opladen 1998. 25 Jan Treibel: Innerparteiliche Entscheidungsprozesse, in: K.-R. Korte/T. Grunden (Hg.): Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2013 (i. E.).

281 Jan Treibel miteinander interagieren und so die Willensbildung des Landesverbandes strukturieren26, vorgestellt:

3.1 Parteispitze

An der Spitze der FDP-NRW steht der geschäftsführende Landesvorstand mit dem Landesvorsitzenden, seinen zwei Stellvertretern, dem Generalsekretär, dem Schatzmeister und dem Landesgeschäftsführer. Er übernimmt Führungs- und Lenkungsaufgaben für den Landesverband. Organisatorisch unterstützt wird er dabei von der Landesgeschäftsstelle im Wolfgang-Döring-Haus in Düsseldorf. Im Sinne einer »party in central office«27 übernimmt die Landesgeschäftsstelle neben der Vorbereitung und Planung der Landesvorstandssitzungen das Organisieren der Wahlkämpfe, die Mitgliederverwaltung, die Pressearbeit des Landesverbandes und kommuniziert mit anderen Gliederungen der Parteiorganisation wie der Bundespartei oder den Bezirks- und Kreisverbänden. Der gesamte Landesvorstand umfasst zusätzlich 27 vom Landesparteitag gewählte Beisitzer und 17 weitere kooptierte Mitglieder und Gäste.28 20 der insgesamt 33 gewählten Vorstandsmitglieder üben öffentliche Funktionen als Abgeordnete im Landtag, Bundestag oder im Europäischen Parlament aus. 13 Mit- glieder sind ehrenamtlich aktiv. Sie vertreten als mittlere Parteieliten die Interessen einflussreicher Bezirks- oder Kreisverbände bzw. Vorfeldorganisationen wie die Jungen Liberalen (JuLis) im Landesvorstand. Auffällig ist die hohe personelle Überschneidung von Partei- und Fraktionsführung. Nicht nur die Ämter des Partei- und Fraktionsvorsitzes sind traditionellerweise in einer Person gebündelt; auch alle anderen Personen des Fraktionsvorstands sind Mitglieder im Landes- vorstand: Wenn sie nicht sowieso schon in das Gremium gewählt worden sind, werden sie als Ex-officio-Mitglieder kooptiert. Das gleiche gilt für Landes- und

26 Jan Treibel: Was bedeutet innerparteiliche Willensbildung? Forschungsstand und theoretische Zugänge, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland, Baden-Baden 2012, S. 7–34, hier S. 15 ff. 27 Richard S. Katz/Peter Mair: The Evolution of Party Organizations in Europe. The Three Faces of Party Organization, in: American Review of Politics, 14 (1993), Special Issue, S. 593–617. 28 Internetpräsenz Landesvorstand: www.fdp-nrw.de/webcom/show_article.php/_c-965/_ nr-12594/_lkm-1000/i.html, Stand: 20.3.2013.

282 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

Bundesminister, sowie den Bundesvorsitzenden der Partei, sofern diese aus NRW kommen.29 Die starke Verzahnung der »party in central office« und der »party in public office« ist typisch für die Führungsgremien der Landespartei, aber auf der Bundesebene sogar noch stärker ausgeprägt.30

3.2 Mittlere Parteieliten

Die lokalen Vorstände der Bezirks- und Kreisverbände bilden die mittlere Ebene der Landespartei. Diese steuern und leiten nicht nur die Basisgliederungen der FDP, sondern sind als lokale Eliten auch als Delegierte des Landesparteitags oder als Landtagsabgeordnete an den Entscheidungsprozessen der Landespartei beteiligt. Fast alle der 22 Landtagsabgeordneten haben Führungsämter in den lokalen Gliederungen der Partei inne und kombinieren ihre Abgeordnetentätig- keit im Landtag mit Mandaten in den kommunalen Parlamenten. Als weitere zentrale Organisation der mittleren Ebene der Landespartei fungieren die Jungen Liberalen. Rein rechtlich gehören sie als eingetragener Ver- ein nicht zur Parteiorganisation31; als Vorfeldorganisation der Partei üben sie über ihre zahlreichen Mitglieder, die sich gleichzeitig auch intensiv in der Partei engagieren, und ihre effektive interne Organisation Einfluss auf Entscheidungs- prozesse in der FDP aus.32 Der Bundesverband, erst seit 1983 offizieller Jugend- verband der Partei, wurde 1980 in Bonn gegründet. Nicht nur viele Mitglieder, auch zahlreiche ehemalige JuLi-Vorsitzende stammen aus NRW: Guido Wester- welle, Michael Kauch, Daniel Bahr und Johannes Vogel. Unter den 22 Landtags- abgeordneten befinden sich derzeit gleich zwei JuLis: die ehemaligen Landesvor- sitzenden Henning Höhne und Marcel Hafke.

29 § 21 Abs. 1 Landesverbandssatzung FDP-NRW. 30 Jan Treibel: Die FDP. Entscheidungsprozesse zwischen hierarchischer Führung, Konsens- suche und Mehrheitsentscheidungen, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland, Baden-Baden 2012, S. 155–187, hier S. 159 f.; Dieter Herzog: Die Führungsgremien der Parteien: Funktions- wandel und Strukturentwicklungen, in: O.W. Gabriel/O. Niedermayer/R. Stöss (Hg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 301–322, hier S. 316 f. 31 Alexander Stock: Neumitglieder im Visier. Das Rekrutierungsmanagement der politischen Nachwuchsorganisationen am Beispiel der NRW-Landesverbände, Marburg 2008, S. 42. 32 Treibel: Die FDP. Entscheidungsprozesse, S. 166.

283 Jan Treibel

Auch die Flügel oder Strömungen der Partei können als horizontale Fragmentierung der Parteiorganisation der mittleren Ebene zugeordnet werden. Allerdings sind diese in der FDP weniger formalisiert als in anderen Parteien.33 Dennoch besteht eine inhaltliche Konfliktlinie zwischen einem strikten wirtschafts- und einem strikten bürgerrechtsliberalen Verständnis, wobei weniger Gegensätze in konkreten inhaltlichen Positionen zu beobachten sind, sondern vielmehr strittig ist, welche der beiden liberalen Grundpositionen bei politischen Entscheidungen oberste Priorität besitzt.34 Gerade in den letzten Jahren bildeten sich weitere, neue Strukturen in der Bundespartei mit starken nordrhein-westfälischen Einflüssen heraus35: Zum einen der von dem Bundestagsabgeordneten und Landesvorstandsmitglied Frank Schäffler gegründete »Liberale Aufbruch« – vom Selbstverständnis her eine partei- interne Graswurzelbewegung mit libertärem, radikal-liberalen Profil, auf dessen Initiative der im Herbst 2011 durchgeführte Mitgliederentscheid zum Euro- Rettungsschirm ESM zurückging. Die meisten Anhänger dieser Gruppierung, die auf Landes- und Bundesparteitagen immerhin rund ein Drittel der Delegierten stellen, gehören dem Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe an, dem Schäffler vorsitzt. Zum anderen der linksliberale »Dahrendorf-Kreis«, der von mehreren Europa- und Bundestagsabgeordneten gegründet wurde, darunter auch NRW- Landesvorstandsmitglied Alexander Alvaro. Diese Gruppe will organisatorisch und programmatisch den »Freiburger Kreis« revitalisieren, der bis Ende der 1990er Jahre durch seine Vertreter , Burkhard Hirsch, Hildegard Hamm- Brücher und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger versuchte als parteioffene Plattform mit bürgerrechtsliberalen Ideen die FDP-Politik zu beeinflussen.36

33 Matthias Trefs: Faktionen in westeuropäischen Parteien. Italien, Großbritannien und Deutschland im Vergleich, Baden-Baden 2007, S. 256. 34 Frank Decker: Noch eine Chance für die Liberalen?, in: Berliner Republik, 5 (2011). 35 Treibel: Die FDP. Entscheidungsprozesse, S. 167. 36 Dittberner, S. 231.

284 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

3.3 Parteibasis

Die Basis des Landesverbandes bilden die auf der kommunalen Ebene ehrenamt- lich aktiven bzw. inaktiven Mitglieder. Mit ca. 15.500 Mitgliedern37 ist der nord- rhein-westfälische Landesverband zwar der mit Abstand größte der Bundespartei; trotzdem muss im Vergleich mit den parteipolitischen Konkurrenten von einer traditionellen Organisationsschwäche der FDP an Rhein und Ruhr gesprochen werden.38 Die Situation in Nordrhein-Westfalen spiegelt die bundesweite Mit- gliederentwicklung wider: So verlor die FDP seit der Bundestagswahl 2009 kontinuierlich Mitglieder; in NRW betrug der Mitgliederschwund zwischen 2010 und 2011 acht Prozent.39 Die Mitgliederstruktur der NRW-Liberalen folgt ähnlichen Mustern wie die der Bundespartei.40 Frauen sind bei den Freien Demokraten in Nordrhein-West- falen mit nur rund 23 Prozent unterrepräsentiert. Eine interne Quotenregelung zur Förderung von Frauen, wie es alle anderen etablierten Parteien kennen41,

Tabelle 2: Mitglieder der FDP-NRW nach Alter und Geschlecht Alter männlich weiblich gesamt bis 29 Jahre 13,0 10,8 12,5 Bis 39 Jahre 17,9 13,0 16,5 Bis 49 Jahre 21,0 17,9 20,3 Bis 59 Jahre 16,0 20,4 17,0 60 Jahre und älter 32,4 37,9 33,7 Gesamt 76,8 23,2 100,0

Quelle: Eigene Darstellung nach FDP NRW: Geschäftsbericht 2008–2009, Düsseldorf 2010, Stand: 31.12.2009.

37 Siehe die Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 38 Kranenpohl, S. 329; Peter Lösche/Franz Walter: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunfts- zweifel, Darmstadt 1996, S. 168 ff. 39 Niedermayer, S. 9. 40 Jan Treibel: Die FDP. Prozesse innerparteilicher Führung, Baden-Baden 2013 (i. E.). 41 Markus Klein: Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt?, in: T. Spier/M. Klein/U. v. Alemann/H. Hoffmann/A. Laux/A. Nonnenmacher/K. Rohrbach (Hg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 39–59, hier S. 41 f.

285 Jan Treibel

Tabelle 3: Mitglieder und Gliederungen der FDP-NRW Bezirksverband Mitglieder Kreisverbände Aachen 1.264 5 Düsseldorf 2.230 6 Köln 4.205 7 Münsterland 1.979 5 Niederrhein 1.816 6 Ostwestfalen-Lippe 2.376 7 Ruhr 1.609 9 Westfalen-Süd 1.183 4 Westfalen-West 1.238 5

Quelle: Eigene Darstellung, nach FDP NRW: Geschäftsbericht 2008–2009, Düsseldorf 2010, Stand: 31.12.2009.

lehnt eine Mehrheit der Parteimitglieder weiterhin als »unliberal« ab.42 Neben der ungleichen Repräsentation der Geschlechter fällt auch eine Überalterung der Mitgliedschaft auf (die bei CDU und SPD aber noch deutlicher ausfällt): Ein Bild: Tab. 2 Drittel aller FDP-Mitglieder ist älter als 60 Jahre (vgl. Tab. 2). Organisatorisch gliedert sich der Landesverband in neun Bezirksverbände, 54 Kreisverbände und rund 460 Ortsverbände auf,43 wenngleich die FDP nicht Bild: Tab. 3 flächendeckend lokale Parteigliederungen besitzt (vgl.Tab. 3). In zahlreichen Regionen ist somit die Kreisebene die unterste Organisationseinheit der FDP. Blickt man auf die kommunalen Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen, liegen die Hochburgen der FDP im Rheinland, während die Liberalen im Ruhrgebiet deutlich schwächer organisiert sind. Einflussreichster und mitgliederstärkster Bezirksverband ist Köln, der die politische Heimat zahlreicher bekannter FDP- Politiker ist: Guido Westerwelle, Christian Lindner, Andreas Pinkwart, Gerhard

42 Teresa Nentwig/Christian Werwath: Die FDP. Totgesagte leben bekanntlich länger, in: F. Butzlaff/S. Harm/F. Walter (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Göttinger Studien zur Parteienforschung, Wiesbaden 2009, S. 95–128, hier S. 107. 43 FDP NRW: Geschäftsbericht 2008–2009, Düsseldorf 2010.

286 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

Papke, Hans-Dietrich Genscher, Gerhart Baum und Walter Scheel stammen aus diesem Bezirksverband.

3.4 Entscheidungsorte

Der Landesparteitag ist formal das oberste Organ des Landesverbandes44 und somit der zentrale Entscheidungsort der FDP-NRW. Er kommt in der Regel ein- mal im Jahr zusammen, um den Landesvorstand, Delegierte für den Bundes- parteitag und weitere Personen zu wählen, sowie die Programmatik der Landes- partei zu beraten und zu beschließen. Er besteht aus 400 Delegierten, die nach einem auf Mitgliederzahl und Wahlergebnissen beruhenden Delegiertenschlüssel von den neun Bezirksverbänden gewählt und entsendet werden.45 Die Landtagsfraktion ist ein weiterer Entscheidungsort der FDP-NRW, wenn- gleich sie formal nicht zur Parteiorganisation gehört. Jedoch bestehen große personelle und inhaltliche Verflechtungen mit dem Landesverband. Seit der Landtagswahl 2012 umfasst die FDP-Fraktion 22 Abgeordnete. Die Abgeordneten werden in ihrer alltäglichen Arbeit von einem im Vergleich zur Landesgeschäfts- stelle deutlich größeren Mitarbeiterstab unterstützt.46 Ist die FDP an der Landesregierung beteiligt, kann diese auch als Ent- scheidungsort identifiziert werden. Denn von den fachlichen Kompetenzen der Landesministerien, die von FDP-Ministern geleitet werden, kann die Partei indirekt profitieren. Dies galt von 2005 bis 2010 besonders für das Innovations- ministerium unter Andreas Pinkwart. Die Landesgruppe der nordrhein-westfälischen Abgeordneten im Bundestag ist als zentrales Bindeglied des Landesverbandes zur Bundespolitik und Bundes- partei ein weiterer zentraler Entscheidungsort. Mit 20 Bundestagsabgeordneten ist die NRW-Landesgruppe nicht nur die größte in der FDP-Bundestagsfrak-

44 § 13 Abs. 1 Landesverbandssatzung FDP-NRW. 45 Ebd. 46 29 Mitarbeiter hat die Fraktion angestellt, darüber hinaus beschäftigt jeder Abgeordnete in der Regel noch einen persönlichen Referenten. In der Landesgeschäftsstelle arbeiten hingegen nur sieben Mitarbeiter. Internetpräsenz Landtagsfraktion: www.fdp-fraktion- nrw.de/webcom/show_page.php/_c-707/_nr-24/_lkm-758/i.html; Internetpräsenz Landesgeschäftsstelle: www.fdp-nrw.de/webcom/show_page.php/_c-402/_nr-17312/_ lkm-921/i.html, Stand jeweils: 20.3.2013.

287 Jan Treibel tion47, sondern sie prägt, personalisiert über ihre Vorsitzende Gisela Pilz, gleich- zeitig stellvertretende Landesvorsitzende, auch die Entscheidungsprozesse des Landesverbandes entscheidend mit. Die enge Verbindung zwischen der FDP- NRW und den nordrhein-westfälischen Bundestagsabgeordneten stärkte der 2012 gewählte Landesvorsitzende Christian Lindner zusätzlich, indem er mit Marco Buschmann erstmals einen Bundestagsabgeordneten zum Generalsekretär des Landesverbandes berief.

4. Programmatisches Profil

Die Programmatik der FDP zeichnet sich durch folgende Grundprinzipien aus: Freiheit wird höher bewertet als Gleichheit und Sicherheit; das Individuum hat tendenziell Vorrang vor dem Kollektiv; privatwirtschaftliche Lösungen werden staatlichen vorgezogen. Das liberale Freiheitsverständnis wird mit dem Begriff der »Verantwortung« verbunden, die jeder Bürger in der liberalen Bürgergesell- schaft übernehmen muss. Einen Liberalen zeichnet eine gewisse Grundskepsis gegenüber dem Staat aus, der sich deshalb so wenig wie möglich in die privaten und wirtschaftlichen Belange der Bürger einmischen soll. Die soziale Marktwirt- schaft soll als liberale Werteordnung durch die Prinzipien Wettbewerb, Toleranz, Leistung, Innovation und sozialer Ausgleich wirtschaftliches Wachstum sichern. Privateigentum und Urheberrechte sollen garantiert werden. Der liberale Sozial- staat soll bei Eigenvorsorge das Existenzminimum sichern und vor Lebensrisiken schützen. Der Rechtsstaat wird als Schützer und Garant der Bürgerrechte betont. Nur durch Innovation und Technologie soll der gesellschaftliche Fortschritt dauerhaft gesichert werden können.48 Auf der sozioökonomischen Dimension des Parteienwettbewerbs positionieren sich die Liberalen somit von allen Parteien im nordrhein-westfälischen Landtag am weitesten in Richtung des Pols der Marktfreiheit, während die FDP hinsichtlich des soziokulturellen Grund- konflikts zwischen modernen und traditionellen Orientierungen eine mittlere Position einnimmt.49

47 Treibel: Die FDP. Prozesse innerparteilicher Führung. 48 Ebd. 49 Thomas Bräuninger/Marc Debus: Parteiensysteme und Parteienwettbewerb in den Bundesländern 1990–2010, Wiesbaden 2012, S. 115 ff.; Marvin Bender/Matthias Bianchi/ Andreas Jüschke/Jan Treibel: Der Duisburger NRW-Wahl-Index, Duisburg-Essen 2010;

288 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

Konkret war die Programmatik der FDP-NRW im Zeitverlauf einigen Ver- änderungen unterworfen. Oftmals waren programmatische Vorarbeiten von Liberalen aus Nordrhein-Westfalen Ausgangspunkt für programmatische Ver- änderungen der Bundespartei: – Die Freiburger Thesen wurden 1971 von der Partei verabschiedet. Der Bundes- vorsitzende Walter Scheel aus Nordrhein-Westfalen hatte Generalsekretär Karl-Hermann Flach damit beauftragt, die sozialliberale Koalition mit einem neuen Grundsatzprogramm auch programmatisch zu begründen. Die Thesen galten als Neuvermessung des Liberalismus-Verständnisses der FDP. Als sozialliberale Grundprinzipien werden Fortschritt, Emanzipation und Toleranz entwickelt.50 Im zweiten Abschnitt des Programms werden konkrete Positionen zu zentralen Fragen der 1970er Jahre wie Mitbestimmung, Eigen- tumsordnung, Vermögensbeteiligung und Umweltpolitik formuliert. – Die Wiesbadener Grundsätze lieferten die programmatische Begründung des FDP-Handelns der 2000er Jahre. Mit dem damaligen Generalsekretär Guido Westerwelle hat auch in diesem Fall ein Liberaler aus Nordrhein-Westfalen das 1997 beschlossene Programm maßgeblich geprägt. Die strikt neoliberal ausgerichteten Grundsätze kritisieren staatsgläubiges Handeln als »Gefällig- keitspolitik«51 und machen sich für einen umfangreichen Bürokratieabbau in sämtlichen Bereichen stark. Das Programm fordert eine weitgehende Deregulierung, Dezentralisierung und Privatisierung des Staates, was konkret in die plakative Forderung der FDP-Wahlkämpfe 2005 und 2009 nach einem »einfacheren, niedrigen und gerechten Steuersystem« mündete. So wurde die Partei von den Wählern im Sinne von »issue ownership«52 in erster Linie mit

Marvin Bender/Matthias Bianchi/Karina Hohl/Andreas Jüschke/Jan Schoofs/Jan Treibel: Der Duisburger NRW-Wahl-Index 2012, Duisburg-Essen 2012. 50 Karl-Hermann Flach/Werner Maihofer/Walter Scheel: Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972, S. 60. 51 Freie Demokratische Partei: Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft, in: G. Westerwelle/W. Maihofer (Hg.): Von der Gefälligkeitspolitik zur Verantwortungs- gesellschaft. Wiesbadener Grundsätze – für die liberale Bürgergesellschaft, München 1998, S. 181–225, hier S. 183. 52 John R. Petrocik: Issue Ownership in Presidential Elections with a 1980 Case Study, in: American Journal of Political Science, 40/3 (1996), S. 825–850, hier S. 827.

289 Jan Treibel

dem Thema der Steuersenkung verbunden und mehrheitlich auch dafür 2009 gewählt.53 – Die Karlsruher Freiheitsthesen – seit 2012 das geltende Grundsatzprogramm der FDP – wurden inhaltlich stark von Christian Lindner beeinflusst, dem heutigen NRW-Landesvorsitzenden.54 Das Programm knüpft einerseits inhaltlich an die Wiesbadener Grundsätze an, versucht andererseits mit der Betonung von Prinzipen wie Fairness, Toleranz, Solidarität und Emanzipation auch neue programmatische Schwerpunkte in Richtung eines »mitfühlenden Liberalismus«55 zu entwickeln. Die Thesen fordern die zügige Entschuldung der öffentlichen Haushalte durch das Instrument der Schuldenbremse und als Antwort auf die globale Finanzkrise eine bessere Regulierung der weltweiten Finanzmärkte. Das Programm entwickelt im Verständnis eines aktivierenden, aufstiegsorientierten Sozialstaats das »liberale Bürgergeld«, welches alle steuer- finanzierten Transferleistungen in einem System bündelt. Soziale Transfer- leistungen werden als negative Einkommensteuer mit der Steuerschuld ver- rechnet.56 Ferner sprechen sich die »Freiheitsthesen« für die Trennung von Kirche und Staat und die gesetzliche Gleichstellung von gleichgeschlecht- lichen Lebenspartnerschaften mit der Ehe aus.

Die Karlsruher Freiheitsthesen wirken somit wie eine zeitlich aktualisierte, programmatische Synthese der sozialliberalen Freiburger Thesen und der markt- liberalen Wiesbadener Grundsätze. Eine generelle Verschiebung der in den 2000er Jahren noch priorisierten sozioökonomischen wieder hin zu einer stärkeren Ein- beziehung soziokultureller Positionen in die FDP-Programmatik deutet sich im Agieren der FDP-Fraktion im Düsseldorfer Landtag bereits an.

53 Tatjana Rudi: Sachthemen und politische Streitfragen, in: H. Rattinger/S. Roßteutscher/R. Schmitt-Beck/B. Weßels (Hg.): Zwischen Langeweile und Extremen: Die Bundestags- wahl 2009, Baden-Baden 2011, S. 179–190, hier S. 188. 54 Jan Treibel: Regierungspartei ohne Kurs und Führung, in: Die Politische Meinung – Monatsschrift zu den Fragen der Zeit, 515/57 (2012), S. 14–18. 55 Der Begriff wurde ursprünglich von Philipp Rösler und Christian Lindner gemeinsam in einer Publikation zur Programmdiskussion in der FDP entwickelt: Philipp Rösler/ Christian Lindner: Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt. Liberale Beiträge zu einer Werte- diskussion, Wiesbaden 2009. 56 Freie Demokratische Partei: Karlsruher Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürger- gesellschaft, Berlin 2012, S. 55.

290 Die FDP in Nordrhein-Westfalen

5. Perspektiven

Nach der erfolgreichen Landtagswahl im Mai 2012, als die FDP trotz der andauernden Vertrauenskrise der Bundespartei souverän den Wiedereinzug in den Landtag schaffte, profiliert sich die liberale Fraktion unter der neuen Führung von Christian Lindner als starke Oppositionskraft gegenüber der rot-grünen Landesregierung. Auch wegen ihres Vorsitzenden spielen die traditionell einfluss- reichen nordrhein-westfälischen Liberalen im Wahljahr 2013 eine noch zentralere Rolle in der Richtungsdiskussion über Personal, Strategie und Programmatik der kriselnden Bundespartei.57 So wird Christian Lindner, zwischen 2009 und 2011 bereits zwei Jahre Generalsekretär der Bundespartei in Berlin, zugetraut, zumindest mittelfristig Bundesvorsitzender seiner Partei zu werden und die FDP auch auf der Bundesebene aus der Krise zu führen. Lindner rückte bisher von seiner Ankündigung aus dem Landtagswahlkampf 2012, als Fraktions- und Parteivorsitzender zumindest die gesamte Wahlperiode in Düsseldorf zu verbleiben, aber nicht ab.58 Statt sich in die Personaldebatte um den angeschlagenen Parteivorsitzenden Philipp Rösler einzumischen, legte er mit seinem Generalsekretär Marco Buschmann im Oktober 2012 ein Strategie- papier vor, welches die »verantwortungsbereite Mitte« als zentrale Wählergruppe der FDP formuliert.59 Die Autoren fordern einen neuen Stil ein, üben Selbst- kritik (wir standen »uns manchmal auch selbst im Wege«) und fordern, dass die Partei ihr Programm besser kommunizieren müsse. Diese indirekte Kritik an Stil, Programmatik und Strategie der Bundespartei verfolgte die FDP-NRW bereits im Landtagswahlkampf 2012. Mit dem Slogan »Das ist meine FDP!« setzte man sich erfolgreich von der sich im Umfragetief verharrenden Bundespartei ab. So lässt sich 2013 eine gewisse Rivalität zwischen dem Landesverband NRW und der Bundespartei ausmachen. Das Lindner/Buschmann-Papier skizziert zudem eine Strategie der Eigen- ständigkeit, woraus sich auch eine neue Offenheit in Koalitionsfragen ergeben

57 Treibel: Regierungspartei ohne Kurs und Führung. 58 Tobias Blasius: Lindner arbeitet an der neuen FDP-Strategie, in: Westdeutsche All- gemeine Zeitung (WAZ), 21.12.2012. 59 Christian Lindner/Marco Buschmann: Für die verantwortungsbereite Mitte. Strategische Überlegungen für Landesvorstand, Landtagsfraktion und Landesgruppe im Deutschen Bundestag zur Positionierung der nordrhein-westfälischen FDP, Düsseldorf 2012.

291 Jan Treibel könnte: Da die CDU in Nordrhein-Westfalen aufgrund ihrer Zuneigung zu schwarz-grünen Bündnissen in dem Papier explizit kritisiert wird, während programmatische Gemeinsamkeiten in der Energie-, Gesellschafts- und Infra- strukturpolitik mit der SPD benannt werden60, scheint eine Neuauflage einer sozialliberalen Koalition in Nordrhein-Westfalen mittelfristig wieder möglich zu sein. Damit würden die Liberalen an die zweijährige Phase der rot-grünen Minderheitsregierung von 2010 bis 2012 anknüpfen, als sie gleich sechs gesell- schaftspolitische Gesetzesvorhaben der Landesregierung unterstützten.61 Ins- gesamt präsentiert sich die FDP-NRW im Frühjahr 2013 wieder deutlich offener gegenüber anderen Bündnissen als Schwarz-Gelb und scheint damit zu ihrer traditionellen Multikoalitionsfähigkeit vergangener Jahrzehnte zurückzukehren.

60 Ebd. 61 Steffen Ganghof/Christian Stecker/Sebastian Eppner/Katja Heeß: Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/4 (2012), S. 887–900.

292 Marcel Solar links: Marcel Solar rechts: Die Piraten in Nordrhein-Westfalen Die Piraten in Nordrhein-Westfalen Newcomer an Rhein und Ruhr zwischen Transparenz und Protest

Die Partei in Nordrhein-Westfalen, die die rasanteste Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit durchlaufen hat, sind die Piraten. Nach der Gründung des Landes- verbandes im Juni 2007 vergingen nicht einmal fünf Jahre bis zum Einzug in den Düsseldorfer Landtag. Der Weg dorthin war allerdings nicht gradlinig. Auf das Erringen der ersten Stadtratssitze bei den Kommunalwahlen 2009 und den ersten Mitgliederaufschwung folgten ein enttäuschendes Ergebnis bei den Land- tagswahlen im Mai 2010 und eine Phase der Stagnation. Im Zuge der Erfolge der Piraten in Berlin, im Saarland und in Schleswig-Holstein profitierten die NRW-Piraten dann aber von den überraschenden Neuwahlen auf Landesebene und übersprangen die Fünf-Prozent-Hürde. Dem bisherigen Erfolg liegen dabei weniger politische Inhalte als vielmehr das Aufgreifen einer Proteststimmung gegenüber den etablierten Parteien sowie der Versuch, ein niedrigschwelliges und basisdemokratisches Beteiligungsangebot bereitzustellen, zugrunde. Im Vergleich zu den übrigen Parteien will man vor allem eines sein: anders.

1. Gründung

Bei der Piratenpartei handelt es sich um einen vollkommenen Neuling in der deutschen Parteienlandschaft. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Piraten nicht an gesellschaftliche Strömungen und Ideen anknüpfen, die bereits länger Bestandteil des politischen Diskurses in der Bundesrepublik und darüber hinaus sind. Nimmt man die inhaltlichen Kernpunkte des auf der Gründungs- versammlung der Piratenpartei Deutschlands am 10. September 2006 ver- abschiedeten Parteiprogramms (Reform des Urheberrechts, Wahrung der Privat- sphäre, informationelle Selbstbestimmung, Transparenz und Open Access), so reichen die Auseinandersetzungen darüber bis in die ›Prä-Internet-Zeit‹ zurück. Dobusch und Gollatz verweisen etwa auf die ersten Bemühungen von Software- entwicklern und Programmierern aus den USA um Freie bzw. Open-Source- Software seit den 1980er Jahren, mit denen die gängige Urheberrechtspraxis

293 Marcel Solar problematisiert wurde.1 Aber auch in Deutschland spielten etwa der Daten- schutz oder das Recht auf Privatsphäre immer wieder eine Rolle, z. B. in den Debatten um die Volkszählung in den 1980er Jahren oder später um den großen Lauschangriff. Dabei wurden entsprechend kritische Positionen durchaus auch von politischen Parteien wie den Grünen oder der FDP eingebracht. Daneben entstanden aber Gruppen und Vereine, die die Themen abseits der Parteipolitik vorantrieben. Bereits früh gründete sich der Chaos Computer Club (1981), es folgten etwa FoeBuD e. V.2 (1987) oder später der AK Vorrat (2005). Die Piraten- partei ist dabei allerdings weniger als parlamentarischer Arm dieser Strömungen zu sehen, wie es die Grünen mit Blick auf die Neuen Sozialen Bewegungen waren.3 Dagegen spricht allein die in ihrem Selbstverständnis ausdrücklich betonte Überparteilichkeit der Initiativen. Allerdings wird in den ersten Diskussionen über die Gründung einer deutschen Piratenpartei deutlich, dass man durchaus an die Arbeit und die Themen vom CCC und anderen anschließen wollte. Die Debatte um den Status der Gruppierung entschieden letztlich die Befürworter einer Parteigründung für sich, mit dem Argument, die Themen unmittelbarer in parlamentarische Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen.4 Auch wenn die Parteigründung kein Projekt der zuvor bestehenden Strömungen war, so zeigten und zeigen sich doch einige Überschneidungen zwischen ihnen und den Piraten bei Mitgliedern und Inhalten.5

1 Leonhard Dobusch/Kirsten Gollatz: Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen, in: C. Bieber/C. Leggewie (Hg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012, S. 26. 2 Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e. V., seit November 2012 umbenannt in digitalcourage e. V. 3 Roland Roth/Dieter Rucht: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 32. 4 Siehe die Forumsdebatten unter www.iphpbb.com/board/ftopic-42149007nx42665-2. html und http://forum.piratenpartei.de/viewtopic.php?f=1&t=2&start=30, Stand jeweils: 20.3.2013, auf die der Autor in einem Mailverkehr mit Mitgliedern des Landesvorstandes der Piratenpartei NRW aufmerksam gemacht wurde. 5 Zum Verhältnis der Piraten zu Initiativen und Vereinen Tobias Neumann: Die Piraten- partei Deutschland. Entwicklung und Selbstverständnis, Berlin 2011, S. 24 f., der allerdings den Vergleich zu den Grünen weniger kritisch sieht; sowie zum einen Einschätzungen von Mitgliedern des Landesvorstandes sowie das Interview vom 13.9.2011 mit dem damaligen Sprecher des Chaos Computer Club Andreas Bogk, der kurze Zeit später selber stellver-

294 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen

Den konkreten Anlass für die Gründung der deutschen Piratenpartei stellten jedoch Gründung und erste Erfolge der schwedischen Piratenpartei zu Beginn des Jahrtausends dar. Infolge heftiger Debatten um die Nutzung von Tausch- börsen war es dort zu Verschärfungen des Urheberrechtes im Sinne der Unter- haltungsindustrie gekommen. Diese hatte zuvor ein so genanntes ›Antipiraten- büro‹ gegründet, um sich in der Auseinandersetzung mit den ›Filesharern‹ zu koordinieren. So erklärt sich auch die Namensgebung der Partei, die am 1. Januar 2006 gegründet wurde, um ihre Opposition zu signalisieren: die ›Piratpartiet‹. Im Laufe ihres Gründungsjahres fand die schwedische Piratenpartei immer größeren Zulauf und Aufmerksamkeit.6 Auch in anderen Ländern wurde die Idee, eine Partei ins Leben zu rufen, die sich explizit mit Fragen des Urheberrechts und der Bürgerrechte in Zeiten des Internets auseinandersetzt, aufgegriffen.7 So erfolgte die Gründung der deutschen Piratenpartei im September 2006, kurz darauf wurden die ersten Landesverbände gegründet. In Nordrhein-Westfalen lassen sich die ersten »Piraten-Aktivitäten« auf die Treffen einer Handvoll Aktiver in Dortmund seit August 2006 zurückverfolgen, die, wie z. B. der spätere Bundesvorsitzende Jens Seipenbusch, aber auch am Gründungsprozess der Piratenpartei auf der Bundesebene beteiligt waren.8 Die Vorbereitungen für die Gründung des Landesverbandes in Nordrhein-Westfalen fanden im Rahmen dieser unregelmäßigen Treffen, aber auch online, z. B. in Chatforen der Bundespartei, statt.9 Nach der Arbeit an einem Entwurf für eine Gründungssatzung und weiteren organisatorischen Vorbereitungen luden die Mitglieder der Gruppe aus Dortmund offiziell zu einer Gründungsversammlung

tretender Pressesprecher des Piraten-Bundesverbandes wurde, online unter: www.n-tv.de/ politik/30-Jahre-Chaos-Computer-Club-article4288126.html, Stand: 20.3.2013. 6 Ausführlich bei Henning Bartels: Die Piratenpartei. Entstehung, Forderungen und Perspektiven der Bewegung, Berlin 2009, S. 8–56. 7 Für Deutschland, siehe FN 4. 8 Die Protokolle der ersten Treffen finden sich online unter: https://wiki.piratenpartei.de/2006- 08-31_-_Dortmund, https://wiki.piratenpartei.de/2006-09-08_-_Dortmund sowie https:// wiki.piratenpartei.de/2007-05-05_-_Protokoll_3._traditioneller_Piratenstammtisch _NRW, Stand jeweils: 20.3.2013. 9 Etwa bei den wöchentlichen virtuellen Treffen der Arbeitskreise der Bundespartei, den so genannten Piratensonntagen, die zumindest im Jahr 2007 regelmäßig abgehalten wurden, Protokolle online unter: https://wiki.piratenpartei.de/Piratensonntag, Stand: 20.3.2013.

295 Marcel Solar der nordrhein-westfälischen Piraten ein.10 Diese fand am 9. Juni 2007 in Essen statt, anwesend waren insgesamt 14 Mitglieder. Zum ersten Vorsitzenden wurde der Politikstudent Carsten Kaefert gewählt.11

2. Entwicklung und Wahlergebnisse

In der Zeit nach der Gründungsphase spielte die Partei in der Öffentlichkeit zunächst keine Rolle, auch zogen die NRW-Piraten keine nennenswerte Anzahl an Mitgliedern an. Zumindest wurden aber die formellen Hürden genommen, um bei den Europawahlen am 7. Juni 2009 anzutreten. Diese verlief insgesamt wenig erfolgreich, mit 0,8 Prozent der Stimmen blieben die NRW-Piraten leicht unter dem Bundesdurchschnitt (0,9 Prozent). Dennoch bedeuteten die Wahlen zum Europäischen Parlament den Auftakt zu einer »zweiten Gründungsphase« der Piratenpartei.12 Gründe für den Aufschwung waren der Einzug der schwedischen Piratpartiet mit einem Abgeordneten in das Europäische Parlament. Zudem entbrannte in der Bundesrepublik eine Debatte um das so genannte ›Zugangs- erschwerungsgesetz‹, in deren Verlauf Familienministerin Ursula von der Leyen als ›Zensursula‹ zum Sinnbild mangelnder Responsivität der etablierten Parteien in Fragen der Netzpolitik wurde.13 Angeheizt durch die Petition der Berlinerin Franziska Heine, die sich gegen das Gesetzesvorhaben wandte, und die lavierenden Positionen der kleineren Oppositionsparteien im Bundestag im Laufe der Verabschiedung des Gesetzes, entwickelten sich die Piraten zu einer als glaubwürdig wahrgenommenen politischen Alternative für die Netzgemeinde.14 Die nordrhein-westfälischen Piraten vermochten dies bei den Kommunalwahlen im August 2009 für sich zu nutzen, bei denen sie zwar nur in Aachen und Münster antraten, dort aber jeweils direkt mit einem Kandidaten in die Stadt-

10 https://wiki.piratenpartei.de/2007-06-05_-_Einladung_zur_Mitgliederversammlung_ der_Piratenpartei_Deutschland_Landesverband_Nordrhein-Westfalen, Stand: 20.3.2013. 11 Gründungsprotokoll der NRW-Piraten, online unter: http://wiki.piratenpartei.de/ NRW:Landesparteitag_2007.1/Protokoll, Stand: 20.3.2013. 12 Christoph Bieber: Die Unwahrscheinlichkeit der Piratenpartei, in: Ders./C. Leggewie (Hg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012, S. 12. 13 Ausführlich bei Bartels: Die Piratenpartei, S. 57–130. 14 Oskar Niedermayer: Die Piraten im parteipolitischen Wettbewerb, in: Ders. (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 35 ff.

296 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen räte einzogen. Bei den Bundestagswahlen am 27. September 2009 verbuchten die Piraten ein Achtungsergebnis von 2,0 Prozent auf der Bundesebene; das Ergeb- nis der NRW-Piraten lag unter dem Bundesergebnis (1,7 %). Dennoch ging der Landesverband, beflügelt durch einen erheblichen Mitgliederschub, erwartungs- voll in den Wahlkampf zur Landtagswahl im darauf folgenden Frühjahr. Ent- sprechend enttäuschend fiel das Ergebnis am 9. Mai 2010 aus. Mit 1,6 Prozent der Zweitstimmen verfehlte man den Einzug in den Landtag deutlich.15 Eine erneute Bewährungschance bot sich unerwartet bald. Nach der Auflösung des nordrhein-westfälischen Landtags am 14. März 2012 blieb den Piraten zwar nur ein kurzes Zeitfenster, um den anstehenden Wahlkampf auf die Beine zu stellen, die Voraussetzungen waren dieses Mal aber günstiger. Mit den Erfolgen in Berlin, im Saarland und in Schleswig-Holstein im Rücken übersprangen die Piraten bei der Landtagswahl am 13. Mai 2012 mit 7,8 Prozent der Zweitstimmen deutlich die Fünf-Prozent-Hürde und zogen mit insgesamt 20 Abgeordneten ins Parla- ment ein (vgl. Abb. 1). Bild: Abb. 1 Anhand der Analysen zur Landtagswahl 2012 lässt sich auch ein Blick auf die Zusammensetzung der Wählerschaft der Piraten werfen. Ähnlich wie bei den vorherigen Landtagswahlen16 schnitten auch die nordrhein-westfälischen Piraten bei Männern und bei jüngeren Wählern deutlich überdurchschnittlich ab. Nach Angaben der offiziellen Wahlstatistik wählten 10,3 Prozent der männ- lichen Wähler die Piraten, während nur 5,8 Prozent der Wählerinnen ihr Kreuz bei den Piraten setzten. Gleichzeitig sinken mit dem Alter die Stimmenanteile für die Piraten: die höchsten Werte finden sich hier bei den 18- bis 25-Jährigen (16,4 %) und den 25- bis 35-Jährigen (15,7 %), während der Stimmenanteil bei den Über-60-Jährigen (2,7 %) weit unter dem Gesamtergebnis liegt.17 Mit Blick auf das Berufsspektrum der Wähler fällt auf, dass die Piraten mit Abstand am stärksten bei den Arbeitslosen abschnitten (17 %); auch bei Arbeitern (13 %) und

15 Marcel Solar: Klarmachen zum Kentern? Die Piratenpartei bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2010, in: Regierungsforschung.de, Parteien- und Wahlforschung, Parteien- und Wahlforschung, online unter: www.regierungsforschung.de/data/270910_ regierungsforschung.de_solar_piratenpartei.pdf, Stand: 20.3.2013. 16 Oskar Niedermayer: Die Wähler der Piratenpartei: wo kommen sie her, wer sind sie und was bewegt sie zur Piratenwahl?, in: Ders. (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 68 f. 17 Information und Technik NRW: Landtagswahl 2012. Heft 5. Ergebnisse nach Alter und Geschlecht in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2012, S. 41.

297 Marcel Solar

Abbildung 1: Wahlergebnisse der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen

7,8 8

7

6

5

4

3

2 1,7 1,6

0,8 1 0,0 0 Europawahl Kommunalwahl Bundestagswahl Landtagswahl Landtagswahl 2009 2009 2009 2010 2012 Quelle: Landeswahlleiterin NRW, online unter: www.wahlergebnisse.nrw.de; eigene Zusammen- stellung; Kommunalwahl 2009: Wahlen zu den Vertretungen der kreisfreien Städte und Kreise; Bundestagswahl und Landtagswahlen: jeweils Zweitstimmenergebnisse.

Selbstständigen (12 %) konnten überdurchschnittliche Ergebnisse eingefahren werden. Bedeutend weniger Rückhalt findet die Partei bei Beamten (5 %) und Rentnern (3 %).18 Während die NRW-Piraten bei der Bundestagswahl 2009 ihre besten Ergeb- nisse noch ausschließlich in Hochschulstädten einfuhren, fand die Partei bei der Landtagswahl 2012 die größte Unterstützung vor allem im Ruhrgebiet und nach wie vor in Aachen sowie im Aachener Umland. Bei der Herkunft der Stimmen

18 Analyse von Infratest dimap zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/2012-05-13-LT-DE-NW/umfrage-job.shtml, Stand: 20.3.2013.

298 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen

Tabelle 1: Wählerwanderungen zur Piratenpartei bei der Landtagswahl 2012 in Nordrhein-Westfalen verlorene ­Stimmen Zweitstimmenanzahl Zustrom von… an Piraten LTW NRW 2010 in Prozent Linke 80.000 435.627 18,36 Andere 40.000 321.002 12,46 Grüne 80.000 941.162 8,50 FDP 40.000 522.229 7,66 SPD 90.000 2.675.818 3,36 CDU 60.000 2.681.700 2,24 Nichtwähler 70.000 5.396.640 1,30

Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von Daten zur Wählerwanderung bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012 von Infratest dimap (online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/ 2012-05-13-LT-DE-NW/analyse-wanderung.shtml, Stand: 20.3.2013) sowie Angaben der Landes- wahlleiterin NRW, online unter: www.wahlergebnisse.nrw.de. mit Blick auf die ›politische Landschaft‹ zeigt sich, dass die Piraten von allen anderen Parteien Wähler gewinnen konnten, ebenso wie aus der Gruppe der Nichtwähler (vgl. Tab. 1).19 Auf die Ergebnisse der Landtagswahl 2010 bezogen Bild: Tab. 1 fällt dabei auf, dass insbesondere die Linkspartei erhebliche Teile ihrer Wähler- schaft an die Piraten verloren hat.20 Der hohe Zustrom ehemaliger Linken-Wähler deutet auf ein durchaus wesent- liches Motiv vieler Piraten-Wähler hin: der Protest gegen die etablierten Parteien. So stimmten bei Wahltagsbefragungen 68 Prozent aller Befragten sowie 93 Pro- zent der befragten Piratenwähler der Aussage zu, dass die Piratenpartei besser für

19 Analyse von Infratest dimap zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/2012-05-13-LT-DE-NW/analyse-wanderung. shtml, Stand: 20.3.2013. 20 Bei den Landtagswahlen in Berlin und dem Saarland hatten die Grünen am stärksten unter den etablierten Parteien Wähler an die Piraten verloren, siehe Niedermayer: Die Wähler der Piraten, S. 66.

299 Marcel Solar

Protestwähler geeignet sei als die Linkspartei.21 In einer anderen Umfrage wurde eine Zustimmung von 88 Prozent zur Aussage ermittelt, dass die Piratenpartei hauptsächlich wegen der Unzufriedenheit mit den anderen Parteien gewählt werde. Blickt man auf die Zustimmung allein unter den Piratenwählern, so sinkt der Wert zwar; immerhin 66 Prozent geben dies aber als Hauptmotivation ihrer Piratenwahl an.22 Insofern hatte der Erfolg der Piraten bei der Landtagswahl auch einiges mit der Unzufriedenheit vieler Wähler mit den übrigen Parteien zu tun, und die Piraten in NRW können somit durchaus als »Protestpartei« aus Sicht der Wähler bezeichnet werden. Allerdings richtet sich der Protest nicht gegen das politische System, sondern vor allem gegen die Entscheidungsstrukturen in den übrigen Parteien. Die Piraten belassen es aber nicht ausschließlich bei der Kritik. Sie versuchen durch ihre Strukturen ein Beteiligungsangebot zu geben, welches sich tatsächlich sehr stark von dem der anderen Parteien unterscheidet und welches im nächsten Abschnitt bezogen auf den NRW-Landesverband dar- gestellt werden soll.

3. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation

Der NRW-Landesverband der Piraten ist über die letzten Jahre enorm gewachsen, allerdings nicht kontinuierlich (vgl. Abb. 2). Bieber unterteilt insgesamt vier Ent- wicklungsphasen mit Blick auf die Bundespartei, die sich aber auch in Nord- rhein-Westfalen identifizieren lassen23: Auf eine längere Gründungsphase erfolgte eine etwa dreimonatige erste Wachstumsphase, die in die Zeit zwischen Europa- wahl und Bundestagswahl 2009 fiel. Der Landesverband der NRW-Piraten wuchs in dieser Zeit auf etwa 1.200 Mitglieder an. Darauf schloss sich eine Phase der Stagnation und Stabilisierung an, die bis September 2011 dauern sollte. Mit dem Erfolg bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl setzte dann aber eine zweite

21 Analyse von Infratest dimap zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/2012-05-13-LT-DE-NW/umfrage-aussagen.shtml, Stand: 20.3.2013, sowie Angaben an den Autor von Infratest dimap. 22 Analyse der Forschungsgruppe Wahlen zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: http://wahltool.zdf.de/__html5/indexc.html?, Stand: 20.3.2013. 23 Christoph Bieber/Markus Lewitzki: Die Piratenpartei: Organisieren ohne Organisation?, in: K.-R. Korte/J. Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland, Sonderband der Zeitschrift für Politikwissenschaft, Baden-Baden 2012, S. 227 f.

300 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen

Abbildung 2: Mitgliederentwicklung der NRW-Piraten

7.000 Mitglieder stimmberechtigte Mitglieder 6.000

5.000

4.000

3.000

2.000

1.000

0

Quelle: Angaben der Partei, online zusammengestellt unter: https://raw.github.com/sbeyer/ Piratistiken/master/LV-NRW.txt, Stand: 20.3.2013.

Wachstumsphase ein, die den NRW-Piraten einen enormen Mitgliederschub einbrachte. Seit Juli 2012 stagniert die Mitgliederzahl wiederum, allerdings auf einem hohen Niveau: Aktuell gibt es 6.158 nordrhein-westfälische Piraten.24 Dabei handelt es sich um alle registrierten Mitglieder. Interessanter ist der Blick auf die regelmäßig Beiträge zahlenden Mitglieder, denn nur diese sind stimm- berechtigt und dürfen somit an allen formalen Entscheidungen verbindlich mit- wirken. Im Vergleich zu anderen Parteien ist dieser Wert die sinnvollere Bezugs- größe.25 Hierbei liegt der im Dezember 2012 durch die Partei angegebene Wert

24 Mitgliederzahlen der Piraten NRW, online unter: https://raw.github.com/sbeyer/ Piratistiken/master/LV-NRW.txt, Stand: 20.3.2013. 25 Oskar Niedermayer: Organisationsstruktur, Finanzen und Personal der Piratenpartei, in: Ders. (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 93.

301 Marcel Solar

bei 3.988 Mitgliedern.26 Damit sind die Piraten, was die Mitgliederstärke betrifft, Bild: abb 2 die fünftgrößte Partei in Nordrhein-Westfalen. Zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Mitgliedschaft gibt es nur wenige Informationen, die aber Überschneidungen zur Wählerschaft zeigen. Die Mitglieder sind vergleichsweise jung, das Durchschnittsalter der NRW-Piraten liegt bei 39,35 Jahren.27 Offizielle Angaben zum Anteil weiblicher Mitglieder gibt es nicht, da für die Mitgliederstatistiken das Merkmal des Geschlechts nicht erhoben wird. Neu- mann ermittelte für die Gesamtpartei bei einer (nicht repräsentativen) Online-Be- fragung von 2.237 Mitgliedern im Frühjahr 2011 einen Frauenanteil von 8,7 Pro- zent.28 Im Vergleich zu den übrigen im Landtag vertretenen Parteien verfügen die Piraten damit über eine bedeutend jüngere und von Männern quantitativ dominierte Mitgliedschaft.29 Das Hauptabgrenzungsmerkmal der Piraten zum Rest der Parteienlandschaft stellt allerdings weniger die Mitgliederstruktur als vielmehr die Organisation der Partei dar. Zu Recht weist Bieber darauf hin, dass die Organisationsform für die Piraten von größerer Bedeutung ist als die politische Programmatik.30 Die Art und Weise, wie Entscheidungen in der Partei getroffen werden sollen, orientiert sich dabei an zwei Grundprinzipien: einer umfassenden Beteiligung der Parteibasis sowie vollständiger Transparenz.31 So postulieren die NRW-Piraten: »Die Piratenpartei ist eine Selbst- und Mitmachpartei. Bei uns wird Wert darauf gelegt, dass alle Piraten an dem Aufbau und der Arbeit in der Partei beteiligt sind.«32 Durch die zahlreichen rechtlichen Vorgaben, die den Rahmen für Partei- gründungen setzen, zeigen sich aber erst einmal Strukturen im Landesverband

26 Mitgliederzahlen der Piraten NRW, online unter: https://raw.github.com/sbeyer/ Piratistiken/master/LV-NRW.txt, Stand: 20.3.2013. 27 Daten wurden dem Autor von Seiten des Landesverbands zur Verfügung gestellt. 28 Neumann, S. 190; Auch in anderen Veröffentlichungen wird ein Anteil in diesem Umfang als wahrscheinlich eingeschätzt, siehe Jasmin Siri/Paul-Irene Villa: Piratinnen – Fehlanzeige Gender?, in: C. Bieber/C. Leggewie (Hg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012; Manuela Kulick: Die Piratenpartei und die Genderproblematik, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012. 29 Siehe die anderen Parteienprofile in diesem Band. 30 Bieber, S. 12. 31 Bieber/Lewitzki, S. 223 f. 32 Online unter: https://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Mitmachen, Stand: 20.3.2013.

302 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen der NRW-Piraten, die denen anderer Parteien ähneln. Auf der Landesebene sind mit dem Landesparteitag, dem Landesvorstand und dem Landesschiedsgericht die drei zentralen Organe der Partei in der Satzung festgehalten. Dazu wird in § 5 Abs. 1 festgelegt, dass sich der Landesverband in Bezirks-, Kreis- und Orts- verbände gliedert.33 Die aus anderen Parteien bekannte regionale Gliederung spielt in der Praxis allerdings eine untergeordnete Rolle. Die beiden zwischen- zeitlich existierenden Bezirksverbände Arnsberg und Köln wurden mittlerweile wieder aufgelöst34 und insgesamt finden sich in ganz Nordrhein-Westfalen ledig- lich 21 Kreisverbände und ein Ortsverband.35 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Partei mit Blick auf ihre Sach- und Personalentscheidungen keine zwingenden Delegationsmechanismen vorsieht.36 Die Landesparteitage sind immer Vollver- sammlungen, die der gesamten Mitgliedschaft offen stehen. Neben die regionalen Gliederungen treten weitere Gruppen, in denen sich Mitglieder vernetzen und an Projekten oder Inhalten arbeiten können. Darunter fallen Arbeitskreise, Arbeits- und Projektgruppen sowie Stammtische. Eine Besonderheit stellen so genannte »Crews« dar, die eine weniger formalisierte Alternative zu Kreis- oder Ortsverbänden bieten und von denen zurzeit 37 in Nordrhein-Westfalen registriert sind. Crews können von drei Piraten-Mitgliedern gegründet werden, um vor Ort oder virtuell an Projekten zu arbeiten, sind dabei eher lose vernetzt und kommen ohne Ämter und festgefügte Strukturen aus. Nach Aussagen der Partei nimmt die Bedeutung der Crews allerdings ab, wichtiger werden dagegen so genannte Piratenbüros. Diese übernehmen in Regionen ohne Kreisverbände Koordinations- und Verwaltungsfunktionen, verfügen dabei aber auch über eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse.37 Die Niedrigschwelligkeit des Beteiligungsangebots wird dadurch verstärkt, dass in allen Gliederungen und Arbeitsgruppen auch Nichtmitglieder mitarbeiten können.38

33 Satzung der NRW-Piraten, online unter: www.piratenpartei-nrw.de/landesverband/ satzung/, Stand: 20.3.2013. 34 Angaben im Piratenwiki zu Bezirksverbänden, online unter: https://wiki.piratenpartei. de/Bezirksverbände, Stand: 20.3.2013. 35 Angaben des Landesvorstandes der Piraten NRW. 36 Bieber/Lewitzki, S. 225. 37 Auskünfte zu Crews und Piratenbüros von Seiten des Landesvorstands, weitere Informationen unter http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Crews und http://wiki. piratenpartei.de/Piratenbüro, Stand: 20.3.2013. 38 Online unter: https://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Mitmachen, Stand: 20.3.2013.

303 Marcel Solar

An die Seite der ›Offline‹-Organisation treten vielfältige Online-Werkzeuge, mittels derer an der Parteiarbeit teilgenommen werden kann. Zentral ist dabei zum einen das Piratenwiki, in dem z. B. gemeinsam an Programmvorschlägen oder Anträgen gearbeitet werden kann. Gleichzeitig bildet das Wiki eine Art »digitales Gedächtnis der Partei«39, da hier Programmdebatten, Protokolle und anderweitige Informationen rund um die Partei in ihrem Entstehungsverlauf nachvollzogen werden können. Ein anderes Online-Instrument ist die Software ›LiquidFeedback‹, die auch von den NRW-Piraten eingesetzt wird.40 Damit können Meinungsbilder und Abstimmungen über inhaltliche Anträge ermittelt werden, die als Grundlage für Parteientscheidungen dienen können. Zusätzlich werden alle Gesetzesvorhaben aus dem nordrhein-westfälischen Landtag hier ein- gestellt, um kollaborativ eine Position der Partei zu entwickeln. LiquidFeedback steht ausschließlich Parteimitgliedern zur Verfügung. Diese können ihre Stimmen bei der Online-Abstimmung über einen Vorschlag auf andere Mitglieder über- tragen, wenn sie diese als kompetenter einschätzen oder selber keine Zeit oder kein Interesse haben, die Entwicklung eines Antrags weiter zu verfolgen. Insofern gibt es doch auch ein Element ›freiwilliger Delegation‹ in der Partei, allerdings nicht mit Blick auf endgültige Entscheidungen, denn die Ergebnisse der Online- Meinungsbildung binden weder den Landesparteitag noch die Abgeordneten.41 Neben dem Wiki und LiquidFeedback werden in der Partei viele weitere Online- Kanäle genutzt, sei es zur Information (Homepage, Mailing-Listen) oder zur Diskussion (Foren, Chats, Online-Sprachkonferenzen).42 Insgesamt wird deutlich, dass die Online-Angebote nicht nur für politische Marketingzwecke

39 Bieber/Lewitzki, S. 231. 40 LiquidFeedback-Portal der NRW-Piraten, online unter: https://lqpp.de/nw/, Stand: 20.3.2013. 41 So wird in der Satzung der NRW-Piraten darauf verwiesen, dass die Aufstellung von Landeslisten (§ 7) sowie Änderungen an und Aufstellung von Satzungen und Programmen (§ 8) nur durch Entscheidungen des Landesparteitags getroffen werden können (online unter: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Satzung#.C2.A7_6a_.E2.80.93_Der_Landes​ parteitag, Stand: 20.3.2013). In der Satzung der Fraktion der Piraten im nordrhein-west- fälischen Landtag wird zudem auf das freie Mandat der Abgeordneten hingewiesen, die sich in ihren Entscheidungen allerdings an Ergebnissen aus LiquidFeedback-Ab- stimmungen orientieren sollen (§ 13, online unter www.piratenfraktion-nrw.de/satzung/, Stand: 20.3.2013). 42 Online unter: http://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Mitmachen, Stand: 20.3.2013.

304 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen genutzt werden, sondern eng in die innerparteilichen Entscheidungsprozesse integriert werden. So werden etwa mittels so genannter »Antragsfabriken« über das Parteiwiki die Landesparteitage vorstrukturiert und zentrale Anträge im Vor- hinein selektiert. Auch im Rahmen der Aufstellung von Wahllisten stellen sich die Kandidaten bereits vorher online den Fragen von Mitgliedern und Interessierten, um den Parteitag nicht noch stärker zu überfrachten.43 Insgesamt manifestiert sich der Anspruch der basisdemokratischen Beteiligung der Piraten darin, dass alle Parteimitglieder an allen Entscheidungen mitwirken können. Der Landesvorstand ist eher als Koordinationsgremium zu verstehen. Abseits der beschlossenen Parteilinie darf er hingegen nicht agieren, was von der Basis auch kritisch verfolgt wird. Seine eher schwache Stellung zeigt sich auch in der Tatsache, dass der Landesvorstand bisher über keine festangestellten Mitarbeiter verfügt.44 Dem Anspruch der Transparenz soll dadurch genügt werden, dass einerseits alle Entscheidungsprozesse über die Online-Instrumente dokumentiert werden; andererseits sind die Veranstaltungen auf allen Ebenen grundsätzlich öffentlich. Angesichts des stark angewachsenen Landesverbandes wird es interessant sein zu beobachten, wie den beiden Leitlinien auch in Zukunft nachgekommen wird. Zudem stellt sich auch die Frage, ob informelle inner- parteiliche Machtzentren entstehen, etwa durch einen technischen Wissensvor- sprung einiger Mitglieder im Rahmen der umfangreichen Online-Infrastruktur oder auch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Partei und Landtags- fraktion.45

4. Programmatisches Profil

Die Parteiprogrammatik der Piraten war in der Gründungsphase, beeinflusst von der Schwerpunktsetzung der schwedischen Piratpartiet, noch sehr fokussiert auf Fragen des Urheberrechts und des Datenschutzes. In der Präambel des Gründungsprogrammes vom 10. September 2006 wurde zudem festgehalten, dass »[d]ie Piratenpartei […] sich auf die im Programm genannten Themen konzentrieren [will], da wir nur so die Möglichkeit sehen, diese wichtigen

43 Bieber/Lewitzki. 44 Zurzeit läuft eine Ausschreibung für eine Vollzeit-Stelle, die die Arbeit des Landes- vorstands unterstützen soll. 45 Bieber/Lewitzki, S. 233.

305 Marcel Solar

Forderungen in Zukunft durchzusetzen«46. Bewusst sollte auf die Besetzung von Themen verzichtet werden, für die keine Expertise in der Partei vorhanden war. Diese Formulierung steht auch im Parteiprogramm vom November 2012. Das zugrunde liegende Programm ist jedoch thematisch seit 2006 stark ausgeweitet worden. Zwar wurden die Piraten vor dem Hintergrund ihres Durchbruchs im Rahmen der Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz auch in der Öffentlich- keit mit dem Label der ›Internet-Partei‹ versehen47. Doch bereits im Programm zur Bundestagswahl 2009 wurde ein größerer Schwerpunkt auf die Frage nach weitergehenden Auswirkungen der Digitalisierung auf Bürgerrechte und die Transparenz des politischen Systems gelegt.48 Seitdem wurde das Parteiprogramm der Piraten stetig erweitert: in Hamburg 2009 um das Kapitel Bildung, in Bingen 2010 um Forderungen nach Wahlrechtsreformen oder in Offenbach 2011 um die Unterstützung eines bedingungslosen Grundeinkommens und ein Kapitel zur Drogenpolitik. Jüngst wurden in Bochum u. a. Beschlüsse zur Wirtschafts-, Europa-, Außen-, Gesundheits- und Rentenpolitik in die Programmatik auf- genommen.49 Auch in Nordrhein-Westfalen zeigt sich, dass die Piraten mittlerweile ein recht breites Themenspektrum in ihre Forderungen aufgenommen haben. Zwar besteht das NRW-Grundsatzprogramm aus dem Jahre 2011 lediglich aus zwei Programmpunkten (Drogen- und Umweltpolitik).50 Die Programme zu den Landtagswahlen 2010 und 2012 waren jedoch bedeutend umfangreicher. Neben ›klassischeren‹ Themen wie dem Bürgerrechtsschutz und der Forderung nach Open Access, nehmen bildungspolitische Positionen (Abschaffung des drei- gliedrigen Schulsystems, Inklusion, etc.) und das Thema Verbraucherschutz einen prominenten Platz ein; zudem finden sich Forderungen zu so diversen Politik- feldern wie Arbeit und Soziales, Gesundheit, Wirtschaft, Rundfunk, Kultur oder

46 Gründungsprogramm der Piratenpartei Deutschland, online unter: http://wiki.piraten- partei.de/Parteiprogramm, Stand: 20.3.2013. 47 Neumann, S. 197. 48 Henning Bartels: Die Vorgeschichte: die Urheberrechtsdebatte und die schwedische Piratpartiet, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 26. 49 Übersicht im Piratenwiki, online unter: http://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm, Stand: 20.3.2013. 50 Grundsatzprogramm der NRW-Piraten: https://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:​ Grund​satzprogramm, Stand: 20.3.2013.

306 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen

Verkehr im Programm von 2012.51 Die anfängliche, innerparteiliche Debatte um die thematische Aufstellung der Partei haben insofern die Befürworter einer programmatischen Ausweitung deutlich für sich entschieden. Eine Klassifizierung als ›Ein-Themen-Partei‹ ist daher nicht (mehr) angebracht. Dennoch lässt sich ein Schwerpunkt der politischen Programmatik der Piratenpartei ausmachen. Bereits im Gründungsprotokoll der Partei wird in diesem Zusammenhang auf den Begriff der »weichen Themenpartei«52 zurück- gegriffen: Auch wenn die programmatische Basis verbreitert wird, liegt die Konzentration weiterhin auf der Digitalisierung von Gesellschaft und Politik.53 Niedermayer verweist auf eine Schwerpunktverlagerung von der Netzpolitik auf die Themen Transparenz und Beteiligung.54 Tatsächlich sind es die Forderungen nach politischer Teilhabe, dem Zugang zu Informationen und der Transparenz des Staatswesen, die nicht nur eigene Kapitel im Parteiprogramm darstellen, sondern auch als Blaupause für die übrigen Parteipositionen dienen sowie grund- legend für die Organisation der Parteiarbeit sind. Nicht von ungefähr befassen sich die ersten Gesetzesentwürfe der Piraten-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag mit der Einführung eines obligatorischen Verfassungsreferendums, einer Wahlrechtsreform und einer Stärkung der akademischen Selbstverwaltung an den Hochschulen.55 Die Piraten werden auch von den nordrhein-westfälischen Wählern als die Partei eingestuft, die am ehesten für Transparenz und Offen- heit sorge.56 Ansonsten spielt aber wie gezeigt das programmatische Angebot der Partei bei den Piraten-Wählern nur eine untergeordnete Rolle. Einer Einordnung in das politische Spektrum versucht sich die Piratenpartei zu entziehen. Auch die NRW-Piraten postulieren: »Wir sind nicht links oder

51 Wahlprogramm zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: https:// wiki.​piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_2012, Stand: 20.3.2013. 52 Gründungsprotokoll der Piratenpartei Deutschland, online unter: http://wiki.piraten- partei.de/Gründungsprotokoll, Stand: 20.3.2013. 53 Stefan Marschall: Single Issue – Null Chance?, in: C. Bieber/C. Leggewie (Hg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012, S. 217. 54 Niedermayer: Die Piraten im parteipolitischen Wettbewerb, S. 32. 55 Zusammenstellung der Gesetzesentwürfe der Piraten-Fraktion in NRW, online unter: www.piratenfraktion-nrw.de/category/politik/gesetzesentwuerfe, Stand: 20.3.2013. 56 Analyse von Infratest dimap zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2012, online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/2012-05-13-LT-DE-NW/umfrage-kompetenz.shtml, Stand: 20.3.2013.

307 Marcel Solar rechts, sondern vorne.«57 Nichtsdestoweniger kann auf Basis von Umfragedaten und Programmanalysen der Versuch einer Verortung der Partei auf den klassischen Konfliktlinien des deutschen Parteiensystems unternommen werden. So zeigt sich in Umfragen zunächst, dass die Piratenpartei auf einer Links-Rechts-Achse von den Befragten dem linken Lager zugeordnet und dabei zwischen Grünen und der SPD einsortiert wird. Die Anhänger der Piratenpartei positionieren die Partei zwar selber stärker in der Mitte des politischen Spektrums, allerdings bedeutend näher an der SPD als an der CDU.58 Dass es nicht nur aus der Sicht der Bevölkerung, sondern auch auf Basis politischer Inhalte größere Überschneidungen mit dem linken politischen Lager gibt, zeigt auch Faas in einer Analyse der Positionen der Parteien im Wahl-O-Mat zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2012. Die höchsten Übereinstimmungswerte weisen die Piraten dabei mit den Positionen der Linkspartei auf, gefolgt von Grünen und der SPD.59 Eine differenziertere Ana- lyse ergibt sich durch die Einbeziehung sowohl der sozio-ökonomischen, als auch der sozio-kulturellen Konfliktachse. Debus und Faas zeigen dabei, dass sich die Piraten, auf Basis ihrer Wahl- und Grundsatzprogramme, gesellschaftspolitisch sehr progressiv positionieren, z. B. durch ihre Forderungen nach Transparenz und Demokratisierung. Damit befinden sie sich auf dieser Achse im Spektrum von Grünen und der Linkspartei. Wirtschaftspolitisch sind die Piraten hingegen moderater eingestellt und näher an der Positionierung der FDP. Insgesamt besetzen die Piraten damit einen Platz im deutschen Parteiensystem, der bisher eher ver- nachlässigt wird. Allerdings kann die Verortung der Partei dadurch relativiert werden, dass die Platzierung der Partei auf der sozio-ökonomischen Konfliktachse auf für die Partei nur wenig salienten Punkten beruht; die sozio-kulturellen Fragen sind für die Partei von wesentlich größerer Bedeutung.60

57 Selbstverständnis der NRW-Piraten, online unter: www.piratenpartei-nrw.de/politik/, Stand: 20.3.2013. 58 Stefanie Haas/Richard Hilmer: Backbord oder Steuerbord: Wo stehen die Piraten politisch?, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 76 f. 59 Thorsten Faas: Tour de Wahlomat 2012, heute: NRW und die Rückkehr der Sozialliberalen (zumindest ein bisschen), online unter: http://blog.zeit.de/zweitstimme/2012/05/10/ tour-de-wahlomat-2012-heute-nrw-und-die-ruckkehr-der-sozialliberalen-zumindest- ein-bisschen/, Stand: 20.3.2013. 60 Marc Debus/Thorsten Faas: Die Piratenpartei in der ideologisch-programmatischen Parteienkonstellation Deutschland: Das Füllen einer Lücke?, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012, S. 194 ff.

308 Die Piraten in Nordrhein-Westfalen

5. Perspektiven

Blickt man auf die wechselvolle Entwicklung der NRW-Piraten in den ver- gangenen Jahren zurück, so muss man an dieser Stelle festhalten, dass es kaum möglich ist, eine Prognose über die Perspektiven der Partei abzugeben. Nach der Landtagswahl im Mai 2010 hätten die Wenigsten damit gerechnet, dass die Piraten bereits zwei Jahre später in den Landtag einziehen würden. Nun stellt die Partei 20 Landtagsabgeordnete und hat ihre Mitgliederzahlen beinahe verdreifacht. In die kommenden Jahre starten die Piraten also von einer komfortableren Position aus als zuvor. Das starke Wahlergebnis deutet aber auch auf mögliche Probleme hin, mit denen der Landesverband in Zukunft konfrontiert werden könnte. Zum einen sind mit dem Einzug in den Landtag natürlich auch die Erwartungen der Wähler, wie auch der eigenen Mitgliedschaft, an die Partei gestiegen, Gestaltungs- macht haben die Abgeordneten als Opposition im parlamentarischen Regierungs- system aber nur wenig. Und Aufmerksamkeit bescherten den Piraten bisher eher verbale Fehltritte einzelner Abgeordneter und interne Streitigkeiten, auf die sich die Medien jeweils bereitwillig stürzten. Auf der organisatorischen Ebene haben die Piraten Strukturen geschaffen, die sich in dieser Form bei ihrer Konkurrenz nicht finden. Hier steht allerdings die Frage im Raum, wie dieses Potenzial genutzt und in die politische Willensbildung eingespeist werden soll. Bisweilen mutet es an, als werde hier auch Transparenz um der Transparenz willen geschaffen – ein- fach weil es technisch möglich ist. Es ist aber nicht durchweg erkennbar, dass die der gesamten Mitgliedschaft und darüber hinaus zur Verfügung gestellten Informationen und Rückkopplungskanäle tatsächlich genutzt werden, um die Partei auf der inhaltlichen Ebene weiterzuentwickeln bzw. Politikalternativen zu erarbeiten. Eine weitere Profilierung mit Blick auf die Programmatik wie auch auf das Personal wird aber von erheblicher Bedeutung sein, denn gerade der hohe Anteil an Wählern, die eher aus Protest gegen die anderen Parteien ihr Kreuz bei den Piraten gesetzt haben, können nicht als Stammwähler eingeplant werden. Auch wenn die Bandbreite an politischen Forderungen bei den Piraten durchaus vielfältig ist, bedarf es noch einiger Arbeit, um dies den Wählern zu vermitteln und sich auch als inhaltliche Alternative zu präsentieren. Der jüngste Dämpfer bei den Wahlen zum niedersächsischen Landtag im Januar 2013, bei denen der Einzug in das Parlament deutlich verfehlt wurde, hat der Erfolgsphase, die im Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen kulminierte, zumindest vorerst ein Ende gesetzt.

309

Tim Spier links: Tim Spier rechts: Die Linke in Nordrhein-Westfalen Die Linke in Nordrhein-Westfalen Zu links, um erfolgreich zu sein?

Es ist nicht besonders fernliegend zu vermuten, dass Nordrhein-Westfalen mit seiner industriell geprägten Wirtschafts- und Sozialstruktur günstige Bedingungen für pointiert linke Parteien liefert. Und in der Tat: In der Weimarer Republik konnte die SPD-Linksabspaltung USPD insbesondere im Rheinland, aber auch im etwas konservativeren Westfalen weit überdurchschnittliche Wahl- ergebnisse erzielen.1 Die KPD beerbte die USPD in dieser Hinsicht im weiteren Verlauf der Weimarer Jahre. Selbst in der frühen Bundesrepublik konnten die Kommunisten in Nordrhein-Westfalen noch mit die bundesweit besten Wahl- ergebnisse erzielen – wenn auch in beträchtlich geringerem und stetig sinkenden Umfang. Bereits vor dem KPD-Verbot von 1956 war die Partei elektoral irrelevant geworden2, und auch die verschiedenen Sammlungs- und Neugründungsver- suche der kommunistischen Linken konnten in Nordrhein-Westfalen nur bedingt reüssieren: Sowohl die DFU wie auch die DKP blieben in ihren Ergebnissen hinter anderen Bundesländern zurück, die SPD konnte hingegen den größten Teil des einst an Rhein und Ruhr gespaltenen Arbeitermilieus wieder auf sich vereinen. Ob die Linke in NRW, die 2010 für eine bisher nur kurze Episode von zwei Jahren in den nordrhein-westfälischen Landtag einzog, zukünftig noch eine Chancen hat, sich als Kraft links von SPD und Grünen zu etablieren, bleibt daher fraglich. Der vorliegende Beitrag soll die Entstehung und Entwicklung der Linken in Nordrhein-Westfalen, ihre Mitglieder- und Organisationsstruktur sowie ihr programmatisches Profil in den Blick nehmen, um die künftigen Erfolgsbedingungen dieser Partei besser beurteilen zu können.3

1 Vgl. Jörg Engelbrecht: Nordrhein-Westfalen in historischer Perspektive, in: W. Künzel/W. Rellecke (Hg): Geschichte der deutschen Länder, Münster 2005, S. 271. 2 Vgl. hierzu das Kapitel von Till Kössler in diesem Band. 3 Der Verfasser dankt den beiden ehemaligen Landessprechern der Linken, Ulrike Detjen und Wolfgang Zimmermann, die für ein Experteninterview zum Gründungsprozess der Linken in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung standen.

311 Tim Spier

1. Gründung

Der Landesverband der Linken in Nordrhein-Westfalen wurde am 20. Oktober 2007 auf einem Parteitag in Gladbeck gegründet, nachdem bereits am 16. Juni 2007 auf Bundesebene die Partei Die Linke aus einer Fusion der früheren Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)4 und der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) hervorgegangen war. Der formelle Gründungs- akt schloss damit einen Prozess ab, der sich deutschlandweit spätestens im Vor- feld der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 abgezeichnet hatte5 und in zweierlei­ Hinsicht Folge der Landtagswahl am 22. Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen war: Einerseits hatte der konkurrierende Wahlantritt der WASG (2,2 %) und der PDS (0,9 %) für den Düsseldorfer Landtag zwar bewiesen, dass es ein Potenzial für linke Parteien in diesem nach wie vor industriell grundierten Flächenland im Westen der Republik gab, dieses aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde aber kaum ausreichen würde, um zwei konkurrierenden linken Parteien einen Einzug in das Landesparlament zu sichern. Andererseits löste die Landtagswahl das Ende der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder aus: Jeg- licher Perspektive auf eine rot-grüne Bundesratsmehrheit beraubt, suchte der bis- her stets erfolgreiche Wahlkämpfer Schröder sein Glück in einer vorgezogenen Bundestagswahl, auch wenn die Aussichten hierfür eher schlecht aussahen.6 Unter dem zeitlichen Druck der vorgezogenen Neuwahlen gelang es dem ehe- maligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine mit seinem Angebot, eine neue Linkspartei in den Bundestagswahlkampf zu führen, Widerstände in Teilen der PDS und der WASG zu überwinden und langwierige Verhandlungen um einen gemeinsamen Wahlantritt zu vermeiden.7 Insofern ist die Gründung der Bundes- partei Die Linke nicht zuletzt eine Folge der Ereignisse in Nordrhein-Westfalen.

4 Die PDS hatte sich als »aufnehmende« Partei des Fusionsprozesses bereits vor der Bundes- tagswahl 2005 in Linkspartei.PDS umbenannt. 5 Vgl. Franz Walter/Tim Spier: Viel Lärm um nichts? Zu den Erfolgsaussichten einer neuen Linkspartei, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 55/6 (2004), S. 328 ff. 6 Vgl. Ulrich von Alemann/Tim Spier: Doppelter Einsatz, halber Sieg? Die SPD und die Bundestagswahl 2005, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2007, S. 42 ff. 7 Vgl. Oliver Nachtwey/Tim Spier: Political Opportunity Structures and the Success of the German Left Party in 2005, in: Debatte. Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, 15/2 (2007), S. 144; Felix Butzlaff: Als David gegen die Goliaths? Der Wahlkampf

312 Die Linke in Nordrhein-Westfalen

Eine Geschichte der heutigen Linken in Nordrhein-Westfalen muss jedoch mit der Gründung eines PDS-Landesverbandes 1989/90 beginnen. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung beteiligte sich die PDS der DDR zunächst daran, in Westdeutschland ein unabhängiges Partnerbündnis unter dem Namen Linke Liste/PDS aufzubauen, das die diversen Strömungen der damaligen west- deutschen Linken – von den K-Gruppen über ehemalige DKP-Mitglieder und Anhänger der SPD-Abspaltung Demokratische Sozialisten bis hin zu einstigen Mitglieder des ökosozialistischen Flügels der Grünen – sammeln sollte.8 Die Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts im Vorfeld der Bundestagswahl 1990, die Fünf-Prozent-Hürde in West- und Ostdeutschland separat anzuwenden und Listenverbindungen nicht zuzulassen, führte jedoch dazu, dass die ostdeutsche PDS die neue Partei aufforderte, sich aufzulösen und als Landesverbände der PDS neu zu konstituieren.9 Dies erwies sich als folgenreiche Entscheidung, die viele Austritte zu Folge hatte und eine substanzielle Westausdehnung der PDS nach- haltig erschwerte: In den Teilen der westdeutschen Linken, die prinzipiell zu einer Zusammenarbeit mit der PDS bereit waren, bestätigte sich die Befürchtung, die PDS würde ihren Führungsanspruch unter allen Umständen bewahren wollen, während in der PDS ob der Reaktion auf ihre Westausdehnung der Eindruck entstand, dass ein großer Teil des linken Spektrums in Westdeutschland nicht kooperationsfähig und -willig sei.10 Eine tragfähige Mitgliederbasis ließ sich so kaum aufbauen: In Nordrhein-Westfalen fanden sich in den ersten Jahren kaum

der Linkspartei zwischen Protest und Alternative, in: T. Spier/F. Butzlaff/M. Micus/F. Walter (Hg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wies- baden 2007, S. 242 ff. 8 Vgl. Meinhard Meuche-Mäker: Die PDS im Westen 1990–2005. Schlussfolgerungen für eine neue Linke, Berlin 2005, S. 14. 9 Vgl. Meuche-Mäker, S. 16; Michael Koß: Durch die Krise zum Erfolg? Die PDS und ihr langer Weg nach Westen, in: T. Spier/F. Butzlaff/M. Micus/F. Walter (Hg.): Die Links- partei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden 2007, S. 121. 10 Vgl. Gero Neugebauer: Hat die PDS bundesweit im Parteiensystem eine Chance?, in: M. Brie/M. Herzig/T. Koch (Hg.): Die PDS. Postkommunistische Kaderorganisation, ost- deutscher Traditionsverein oder linke Volkspartei? Empirische Befunde und kontroverse Analysen, Köln 2005, S. 43.

313 Tim Spier mehr als 100 PDS-Mitglieder; erst 1999 gelang es, die Parteiorganisation auf über 1.000 Mitglieder auszubauen.11 Die nordrhein-westfälische PDS konnte bei Bundestagswahlen dann noch nicht einmal an die Ergebnisse der stärkeren westlichen Bundesländer Anschluss finden (1990: 0,3 %, 1994: 1,0 %, 1998: 1,0 %, 2002: 1,2 %), geschweige denn an die weit stärkeren Landesverbände in den neuen Bundesländern. Bei Landtags- wahlen trat man erst im Jahr 2000 das erste Mal an – und auch nur mit äußerst bescheidenen Erfolg (1,1 %). Die PDS in Nordrhein-Westfalen konzentrierte sich vor allem auf die Kommunalpolitik, wo es ihr gelang, ihre Mandatszahlen auf niedrigem Niveau auszubauen (1999: ca. 55 Mandate, 2004: ca. 120 Mandate).12 Angesichts des geringen Mitgliederbestandes konnte eine echte Parteiorganisation kaum aufgebaut werden. Eine flächendeckende Organisationsstruktur, sei es auch nur auf Kreisebene, ließ sich nicht etablieren, Landesparteitage wurden als Mit- gliederversammlungen durchgeführt.13 Die vermeintliche Aussichtslosigkeit der Organisationsbemühungen im Westen ließen Teile der ostdeutschen Parteieliten sogar grundsätzlich daran zweifeln, ob man überhaupt Ressourcen für den »Auf- bau West« zur Verfügung stellen sollte.14 Im Frühjahr 2004 entstanden vor dem Hintergrund des Protestes gegen die »Agenda 2010« der rot-grünen Bundesregierung relativ unabhängig voneinander zwei bundesweite Initiativen, die den Wahlantritt einer – wie auch immer gearteten – linken Partei bei der nächsten Bundestagswahl zum Ziel hatten: Die Initiative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (ASG), ein vergleichsweise homogenes Bündnis vor allem süddeutscher Gewerkschafter mit SPD-Parteibuch, und die »Wahlalternative 2006«, ein ungleich pluralerer Zusammenschluss unterschied- licher Akteure, die teilweise schon bei der SPD, den Grünen und der PDS Politik gemacht hatten, aber vor allem auch in sozialen Bewegungen wie Attac verankert waren.15 Im Laufe des Jahres 2004 gründeten die beiden Initiativen vor dem

11 Vgl. Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland. Version 2011, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 18, Berlin 2011, S. 12. 12 Vgl. Meuche-Mäker, S. 59. 13 Vgl. Meuche-Mäker, S. 29 f. 14 Vgl. Meuche-Mäker, S. 24. 15 Vgl. Oliver Nachtwey: Im Westen was Neues? Die Entstehung der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit, in: T. Spier/F. Butzlaff/M. Micus/F. Walter (Hg.): Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden 2007, S. 164 ff.

314 Die Linke in Nordrhein-Westfalen

Hintergrund eines großen Medieninteresses und vieler Interessenten den Verein Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), der im Januar 2005 in eine neue, gleichnamige Partei überführt wurde. Parallel dazu wurde der Aufbau des Landesverbandes in Nordrhein-Westfalen vorangetrieben, mit dem erklärten Ziel, bereits bei der Landtagswahl am 22. Mai 2005 in diesem Bundesland anzutreten. Am 23. Januar 2005 gründete man den Landesverband der Partei, wählte einen neuen Vorstand und stellte eine eigene Liste zur Landtagswahl auf. Ganz bewusst nahm man in Kauf, in Konkurrenz zur PDS in die Landtagswahl zu ziehen: Einerseits erschien den nordrhein-west- fälischen WASGlern ihre Partei als die ungleich dynamischere, die mit medialem Rückenwind weit bessere Chancen habe als die im Westen ungeliebte PDS.16 Eine Rolle dürfte damals auch schon gespielt haben, dass man für den Fall einer späteren Kooperation der beiden Parteien deutlich machen wollte, dass die WASG die stärkere Formation sei. Andererseits beharrten auch die Mitglieder der PDS mehrheitlich auf einer Kandidatur bei der Landtagswahl, obwohl etwa die langjährige PDS-Landessprecherin Ulrike Detjen vorschlug, auf einen eigen- ständigen Antritt zu verzichten.17 Das Ergebnis der Landtagswahl am 22. Mai 2005 war deutlich: Mit 0,9 Pro- zent scheiterte die PDS schon an der wichtigen Hürde von 1,0 Prozent, bei der die staatliche Parteienfinanzierung greift, während die WASG mit 2,2 Prozent der Stimmen in den Genuss dieser Mittel kam. Auch wenn man damit noch weit von der Fünf-Prozent-Hürde entfernt war, so wurde dies in Anbetracht der Tatsache, dass die WASG erst wenige Monate vorher gegründet worden war und in einem Flächenland antrat, als Achtungserfolg gewertet. Aus pragmatischen Gründen trat jedoch die PDS, nicht die WASG, bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 bundesweit an: Sie benannte sich in Linkspartei.PDS um, öffnete ihre Listen für etliche Kandidaten der WASG und konnte so die Vor- teile nutzen, die eine bereits im Bundestags vertretene Partei durch den Wegfall nötiger Unterstützungsunterschriften und die Positionierung auf dem Stimm- zettel hat. Aus taktischen Gründen platzierte man das »Zugpferd« Lafontaine als Spitzenkandidat auf der nordrhein-westfälischen Landesliste. Die 5,2 Pro- zent, die die Liste in Nordrhein-Westfalen erzielte, lagen zwar nur im Mittelfeld der westdeutschen Länder, ermöglichten aber den Einzug von sieben Landes-

16 So Wolfgang Zimmermann im Interview mit dem Verfasser. 17 So Ulrike Detjen im Interview mit dem Verfasser.

315 Tim Spier listenkandidaten in den Bundestag, darunter drei von der PDS und drei aus den Reihen der WASG. Die Fusion der beiden Landesparteien erfolgte dann bis Ende 2007 weitgehend auf gleicher Augenhöhe: Die WASG brachte ihren höheren Mitgliederbestand in den Zusammenschluss ein, während die PDS für kommunale Mandatsträger und bestehende Organisationsstrukturen sorgte. Formal juristisch löste sich jedoch die WASG auf und wurde in die Linkspartei.PDS überführt, die sich in Die Linke umbenannte. Der neue Landesvorstand wurde von Ulrike Detjen (PDS) und Wolfgang Zimmermann (WASG) paritätisch geführt. Im Prozess des Zusammenschlusses verlor die WASG in Nordrhein-Westfalen zwar einen Teil ihrer Mitglieder, jedoch führte die Vereinigung nicht wie etwa im Landesverband Berlin zur Abspaltung eines größeren Teils der Partei. Dies wurde sicherlich auch durch die Tatsache begünstigt, dass bereits viele Mitglieder der einen Partei auch Mitglied der anderen geworden waren und ein guter Teil der heutigen Mitglieder ohnehin erst nach der Fusion der Linken beitrat.

2. Entwicklung und Wahlergebnisse

Die neugegründete Partei stand in Nordrhein-Westfalen nun vor der Heraus- forderung, einen möglichst starken Landesverband aufzubauen, um bei der bevorstehenden Landtagswahl im Jahr 2010 die Fünf-Prozent-Hürde zu über- springen. Anders als beim eiligen Wahlantritt der WASG bei der nordrhein-west- fälischen Wahl 2005 hatte man genug Vorbereitungszeit – die drei Jahre von der Fusion bis zur Landtagswahl sorgten jedoch auch für das Aufbrechen alter wie neuer Konflikte innerhalb der Partei. Zunächst profitierte die Partei jedoch von der Aufbruchsstimmung im Zuge der Gründung: Sie konnte ihre Mitgliedschaft rapide ausbauen, von rund 1.900 PDS-Mitgliedern 2006, auf 6.000 Mitglieder nach der Fusion der beiden Parteien 2007, bis hin zu über 8.500 in den folgenden Jahren. Bis 2010 wurde sie damit zum bundesweit drittstärksten Landesverband der Linken.18 Die Kommunalwahl am 30. August 2009, die weithin als Testfall für die Landtagswahl 2010 angesehen wurde, war dann auch von großen Erwartungen

18 Vgl. Gero Neugebauer: Quo vadis? Wie die Linke versucht, sich als Partei und für sich eine Position im Parteiensystem zu finden, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 158.

316 Die Linke in Nordrhein-Westfalen geprägt. Wolfgang Zimmermann, damals Landessprecher der Linken, legte die Zielmarke der Partei recht hoch: 600 Kommunalmandate wollte man erringen, vor allem auch im Ruhrgebiet, wo sich die Partei zweistellige Ergebnisse ver- sprach.19 Diese Hoffnung erfüllte sich nur bedingt: Landesweit kam die Partei, die immerhin 3.500 Kandidaten aufgestellt hatte, auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte auf 4,4 Prozent. Lediglich im Ruhrgebiet sowie in Wuppertal und Düsseldorf konnte die Partei Ergebnisse zwischen 5 und 10 Prozent erzielen. Die Zahl der Kommunalmandate blieb mit 367 deutlich hinter den Erwartungen zurück, bedeutete aber immerhin eine Verdreifachung der Sitze im Vergleich zum Antreten der PDS bei der Kommunalwahl 2004.20 Der folgende Landtagswahlkampf wurde durch Probleme der Linken auf Bundes- wie Landesebene überschattet, die eine kritische Medienland- schaft bereitwillig aufgriff: Bereits 2008 war der Versuch der hessischen SPD- Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti gescheitert, sich mit den Stimmen der neu in den Landtag eingezogenen Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Dies führte zu einer heftigen und überwiegend ablehnenden Diskussion über Kooperationen zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.21 Der Bundesvorsitzende Lafontaine zog sich Ende 2009 aufgrund einer Krebs- erkrankung zeitweise aus dem politischen Geschäft zurück. Anfang 2010 eskalierte zudem ein Konflikt zwischen ihm und dem Bundesgeschäftsführer der Partei, Dietmar Bartsch, die den prominenten Realpolitiker der Partei zum Rücktritt von seinem Amt veranlasste. Aber auch auf Landesebene ergaben sich Probleme: Das am 8. November 2009 auf einem Parteitag in Hamm verabschiedete Landtagswahlprogramm enthielt Forderungen nach der Verstaatlichung von Großbetrieben und der öffentlichen Daseinsfürsorge, der Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und der Legalisierung von weichen Drogen, die von den Ver- tretern aller anderen Parteien zum Anlass genommen wurden, die Realitäts- und

19 Vgl. o. V.: Linke peilt bei NRW-Kommunalwahl 600 Mandate an, in: Kölner Stadt-An- zeiger vom 12.1.2009. 20 Vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kommunalwahl 2009, Heft 3 (Endgültige Ergebnisse in Nordrhein-Westfalen), Düsseldorf 2009, S. 124 ff. 21 Vgl. Tim Spier: L’impossible alliance. Le SPD face à Die Linke, in: L. Clouet/H. Stark (Hg.): Radioscopies de l’Allemagne 2010, Paris 2010, S. 43 ff.

317 Tim Spier

Regierungsfähigkeit der Linken in Nordrhein-Westfalen in Frage zu stellen.22 Das Ergebnis der Landtagswahl am 9. Mai 2010 fiel dann auch für die Linke relativ enttäuschend aus: Zwar gelang es ihr, mit 5,6 Prozent in den Landtag einzuziehen und eine Fraktion mit elf Abgeordneten zu bilden. Angesichts der Tatsache, dass die Partei bereits in den norddeutschen Flächenländern Schleswig- Holstein (6,0 %) und Niedersachsen (7,2 %) trotz ungleich ungünstigerer Sozial- struktur bessere Landtagswahlergebnisse erzielt hatte – ganz zu schweigen von den 21,3 Prozent, die Lafontaine 2009 im Saarland geholt hatte –, war dies für den mit weitem Abstand mitgliederstärksten Landesverband im Westen ein ver- gleichsweise mageres Resultat. Zudem bildete sich im Landtag von Nordrhein-Westfalen ein »strukturelles Patt«23, ähnlich der Situation in anderen deutschen Parlamenten, in denen weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb eine eigenständige Mehrheit erzielen konnte, sodass die Linke für Koalitionen und Tolerierungen interessant wurde. Ein solches strukturelles Patt hatte sich bereits bei der Bundestagswahl 2005 realisiert, was aufgrund der klaren Absage der SPD gegenüber der Linken jedoch durch eine Große Koalition gelöst wurde. In Hessen scheiterte Ypsilanti 2008 mit dem Versuch, durch eine Tolerierung durch die Linke dieses Patt zu überwinden – was jedoch vor allem darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie im Wahlkampf die Option einer Zusammenarbeit mit der Linken kategorisch ausgeschlossen hatte. Diese Festlegung vermied die SPD im nordrhein-westfälischen Wahl- kampf, auch wenn ihre Spitzenkandidatin Hannelore Kraft der Linken mehr- fach vorgeworfen hatte, sie sei weder regierungs- noch koalitionsfähig.24 Der Spitzenkandidat der Linken, Wolfgang Zimmermann, ließ unmittelbar nach der Wahl vernehmen, dass die Linke an einer bloßen Tolerierung nicht interessiert sei; um stabile Verhältnisse zu schaffen sei man bereit, eine Koalition mit SPD

22 Vgl. o. V.: Linke in Nordrhein-Westfalen will Betriebe verstaatlichen. SPD: Zur Zeit weder regierungs- noch koalitionsfähig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.11.2009. 23 Vgl. Tim Spier: Das Ende der Lagerpolarisierung? Lagerübergreifende Koalitionen in den deutschen Bundesländern 1949–2009, in: K.-R. Korte (Hg.): Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2010, S. 298 f. 24 Vgl. o. V.: Linke in Nordrhein-Westfalen will Betriebe verstaatlichen. SPD: Zur Zeit weder regierungs- noch koalitionsfähig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.11.2009.

318 Die Linke in Nordrhein-Westfalen und Grünen einzugehen, solange es keinen Stellenabbau im öffentlichen Dienst, keine Privatisierung von Landeseigentum und keinen Sozialabbau gäbe.25 Von den weitgehenden Forderungen des Landtagswahlprogramms der Linken war keine Rede mehr. Die nordrhein-westfälische SPD und die Grünen führten in der Folge Sondierungsgespräche mit der Linken, die jedoch schon am 24. Mai 2010 beendet wurden – Zimmermann sprach davon, dass es sich lediglich um »Schein- gespräche«26 gehandelt habe, bei denen es vor allem darum gegangen sei, die Linke dazu zu bringen, die DDR als »Unrechtsstaat« zu bezeichnen; Kraft und die Verhandlungsführerin der Grünen, Sylvia Löhrmann, ließen hingegen ver- künden, die Linke habe zu viel Relativierendes zur DDR verlauten lassen.27 Nachdem auch Gespräche mit FDP und CDU gescheitert waren, beschlossen SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen, eine Minderheitsregierung ohne Tolerierungsabkommen mit einer weiteren Partei zu bilden. Am 14. Juli 2010 wurde schließlich Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt – zwar ohne die Stimmen der Linken, allerdings nicht ohne ihre Hilfe; denn im zweiten Wahl- gang enthielt sich die komplette Fraktion der Linken und ermöglichte es Kraft so, eine relative Mehrheit der Landtagsstimmen zu erringen, die ab dem zweiten Wahlgang ausreichend ist. Die Linke hatte im weiteren Verlauf der Legislaturperiode vor allem damit zu kämpfen, dass sie über nur wenig parlamentarische Erfahrung verfügte und zunächst mit dem Aufbau parlamentarischer Strukturen beschäftigt war. Als Erfolge schreibt sie sich vor allem die vorgezogene Abschaffung der Studien- gebühren, die Veränderungen des Personalvertretungsgesetzes sowie die Lockerung der Residenzpflicht für Flüchtlinge zu, die nur auf ihren Druck in dieser Form zustande gekommen seien.28 Ob man in diesen Punkten über- haupt Druck auf die rot-grüne Minderheitsregierung ausüben musste, mag

25 Vgl. Reinhard Bingener/Reiner Burger: Hinter den Rollläden in Düsseldorf, in: Frank- furter Allgemeine Zeitung vom 11.5.2010. 26 Vgl. Reiner Burger: ›Sondierung war Scheingespräch‹. Nordrhein-Westfalens Linkspartei attackiert SPD und Grüne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.5.2010. 27 Vgl. o. V.: Kraft: ›Es hat keinen Sinn, weiter mit den Linken zu reden‹. DDR-Vergangen- heit relativiert/SPD will jetzt in Düsseldorf mit CDU sondieren, in: Frankfurter All- gemeine Zeitung vom 21.5.2010. 28 So Wolfgang Zimmermann im Interview mit dem Verfasser.

319 Tim Spier dahingestellt bleiben. Jedenfalls ermöglichte die Linksfraktion im Landtag mit ihrer Zustimmung jeweils eine parlamentarische Mehrheit für diese Vorhaben. Auch verhalf sie der Minderheitsregierung durch einzelne Ja-Stimmen bzw. Enthaltungen zur Verabschiedung des Nachtragshaushalts 2010 und des Haus- halts 2011.29 Die Minderheitsregierung von Hanelore Kraft scheiterte jedoch im März 2012 an der Verabschiedung des Landeshaushalts. Die Linke, die offenbar aufgrund gescheiterter Haushaltsgespräche verstimmt war, kündigte an, gegen den Haushalt zu stimmen. Und auch die FDP, die grundsätzlich bereit war, mit der Landesregierung über einen Haushalt zu sprechen, ließ den Entwurf in der zweiten Lesung durchfallen. Daraufhin kündigten SPD und Grüne, wohl vor allem auch motiviert durch die günstige Aussicht, eine eigenständige Mehrheit erzielen zu können, vorgezogene Neuwahlen für Nordrhein-Westfalen an. Der folgende Wahlkampf fiel mit weniger als zwei Monaten zwischen Land- tagsauflösung und Neuwahl kurz aus. Die Linke kürte die Landessprecherin Katharina Schwabedissen und den Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Zimmer- mann als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl und verabschiedete ein im Vergleich zu 2010 nur leicht überarbeitetes Wahlprogramm unter dem Titel »Original sozial – konsequent solidarisch«.30 Schon der Wahlkampf ließ ob der schlechten Aussichten – in Umfragen wurde die Linke zwischen drei und vier Prozent gesehen – eine größere Dynamik vermissen. Schließlich fiel Zimmer- mann aufgrund einer schweren Erkrankung noch in den letzten Wochen vor der Landtagswahl aus. Am Wahlabend des 13. Mai 2012 stand fest, dass die Linke nicht wieder im Düsseldorfer Landtag vertreten sein würde: Mit 2,5 Prozent der Zweitstimmen hatte sie ihr Ergebnis bei der Vorwahl mehr als halbiert. Den Wählerstromanalysen zufolge ging rund ein Drittel der Verluste an die SPD, ein weiteres Drittel an die neu in den Landtag eingezogenen Piraten.31

29 Vgl. Reiner Burger: Düsseldorfer Feinarbeiten. In Nordrhein-Westfalen beginnt wieder das Nachdenken über eine Neuwahl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.9.2011. 30 Vgl. Die Linke Nordrhein-Westfalen: Original sozial – konsequent solidarisch. Das Landeswahlprogramm 2012, Bochum 2012. 31 Vgl. Viola Neu/Michael Borchard: Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 13. Mai 2012 (Tabellenanhang), Berlin 2012, S. 12.

320 Die Linke in Nordrhein-Westfalen

3. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation

Die Linke in Nordrhein-Westfalen ist im Vergleich zu den anderen im Landtag vertretenen Parteien eher mitgliederschwach. Bis zur Fusion mit der WASG kam die PDS in dem bevölkerungsreichsten Bundesland über 1.500 Mitglieder kaum hinaus.32 Erst mit der Fusion beider Parteien wuchs die Mitgliedschaft im Laufe weniger Jahre auf nahezu 9.000 Mitglieder an, um dann wieder auf aktuell rund 6.800 abzusinken. Zum Vergleich: Bündnis 90/Die Grünen kommt in Nord- rhein-Westfalen auf weit über 10.000 Mitglieder, die FDP sogar auf rund 15.000. Nur die Piraten sind mit derzeit etwa 6.200 Mitgliedern schwächer organisiert.33 Dabei konzentriert sich die Mitgliedschaft der Linken vor allem auf die großen Städte an Rhein und Ruhr, während die ländlichen Gebiete Nordrhein-West- falens einen deutlich schwächeren Organisationsgrad aufweisen. Auf Basis der Daten der Deutschen Parteimitgliederstudie 2009 lassen sich Aussagen über die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Mitgliedschaft treffen34: Ähnlich wie andere westdeutsche Landesverbände ist die Linke in Nordrhein-Westfalen eine männlich dominierte Partei. Nur etwa 20 Prozent der Mitglieder sind Frauen, während die Linke in Ostdeutschland auf einen Frauen- anteil von etwa 40 Prozent kommt. Dafür ist das Durchschnittsalter der Mit- glieder in Nordrhein-Westfalen deutlich geringer als in den östlichen Landesver- bänden der Linken: Es liegt bei rund 50 Jahren, während die Mitglieder in den neuen Bundesländern durchschnittlich zwischen 65 und 70 Jahre alt sind. Mehr als 40 Prozent der Mitglieder in Nordrhein-Westfalen gehören der Altersgruppe zwischen 50 und 65 Jahren an, jener Generation, die in den Jahren wohlfahrts- staatlicher Expansion der 1960er und 1970er Jahre politisch sozialisiert wurde. Das Profil einer sozialstaatsaffinen Mitgliedschaft, das sich vor allem aus den Reihen der abhängig Beschäftigten rekrutiert, zieht sich auch durch andere sozialstrukturelle Merkmale: Jeweils rund ein Viertel der Mitglieder in Nord- rhein-Westfalen sind Arbeiter und Angestellte in der Wirtschaft – dabei ist ins- besondere der Arbeiteranteil ausgeprägt hoch, sowohl im Vergleich zur Gesamt-

32 Siehe die Entwicklung der Parteimitgliederzahlen im Anhang C in diesem Band. 33 Die Parteimitgliederzahlen beruhen auf Angaben der Parteien. 34 Auch im Folgenden eigene Berechnung auf Basis der Deutschen Parteimitgliederstudie 2009, vgl. Tim Spier/Markus Klein/Ulrich von Alemann/Hanna Hoffmann/Annika Laux/Katharina Rohrbach: Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011.

321 Tim Spier partei wie auch zu anderen Parteien. Die sonst in politischen Parteien dominante Gruppe der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst ist in der NRW- Linken nur vergleichsweise schwach vertreten – was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die günstigen Karrierechancen, die eine passende Partei- mitgliedschaft im öffentlichen Dienst nach wie vor eröffnen kann, im Falle einer Mitgliedschaft in der Linken kaum gegeben ist. Hingegen waren rund 15 Prozent der Mitglieder in Nordrhein-Westfalen zum Zeitpunkt der Befragung arbeits- los. Diese in Parteien sonst kaum vertretene Gruppe – über alle Parteien hinweg bundesweit gerade einmal rund 2 Prozent der Mitglieder – findet hier also eine gewisse politische Heimat. Fast 40 Prozent der Mitglieder stufen sich zudem selbst in einem subjektiven Schichtenschema in die Unterschicht bzw. die untere Mittelschicht ein. Auch dies ist sowohl im Vergleich zur Gesamtpartei wie auch vor allem zu anderen Parteien, die hier regelmäßig auf Werte zwischen 10 und 15 Prozent kommen, eine starke Abweichung. Konsequenterweise ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Mitglieder auch hoch und die subjektive Ver- bundenheit mit den Gewerkschaften sehr stark ausgeprägt. Ob dieses sozialstrukturellen Profils verwundert es kaum, dass sich die Mit- glieder der Linken auch ideologisch weit links verorten. Nimmt man das sicher unterkomplexe, aber nach wie vor von den meisten Bürgern problemlos anwend- bare Links-Rechts-Schema zum Maßstab, so verorten sich die Mitglieder der NRW-Linken auf einer Skala von 0 bis 10 mit einem mittleren Wert von 1,8 deut- lich am linken Pol des politischen Spektrums. Dies ist natürlich für die Linke an sich wenig verwunderlich. Interessant ist aber, dass die Mitgliedschaft der Landes- partei in NRW damit von allen Landesverbänden der Linken noch am weitesten zur Mitte tendiert – bundesweit liegt die mittlere Links-Rechts-Positionierung von Mitgliedern dieser Partei bei 1,4 – und auch die größte ideologische Spann- weite aufweist. Dies steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zur dominanten Wahrnehmung, dass der NRW-Landesverband ein linker innerhalb der Linken ist.35 Allerdings bezieht sich diese Interpretation vor allem auf die Programmatik und die in Flügeln organisierten Eliten der Partei. Die Mitgliedschaft ist in Nord- rhein-Westfalen, wie auch in anderen von gewerkschaftsorganisierten Arbeit- nehmern dominierten Landesverbänden wie dem Saarland und Rheinland-Pfalz,

35 Vgl. Rainer Burger: ›Ihr müsst bei den Grundsätzen bleiben‹. Erstmals will die Linkspartei in den Landtag in Düsseldorf einziehen. Helfen soll ihr dabei auch Oskar Lafontaine, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.2010.

322 Die Linke in Nordrhein-Westfalen ideologisch weniger radikal verortet. Die Divergenz zwischen einer vergleichs- weise moderaten Parteibasis aus der gewerkschaftsnahen Arbeitnehmerschaft und einer ideologisch radikaleren Parteielite mit Organisationserfahrung in diversen linken Splittergruppen mag auch ein erster Erklärungsansatz für die starken Mit- gliederverluste der letzten Jahre sein. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass die für innerparteiliche Entscheidungen wichtige Frage der Zugehörigkeit zu den etablierten Strömungen der Linken bezogen auf die gesamte Mitgliedschaft ein Oberflächenphänomen ist: Gefragt nach ihrer subjektiven Selbstzuordnung zu einer Strömung oder einem Flügel, geben nur 27 Prozent der Mitglieder in NRW überhaupt etwas an. Von den drei wichtigsten bundesweiten Strömungen der Linken, dem Forum Demokratischer Sozialismus (FDS), der Sozialistischen Linken (SL) und der Antikapitalistischen Linken (AKL), ist vor allem das FDS, das insbesondere von ostdeutschen, aus der PDS stammenden Vertretern eines auf Regierungsbeteiligung ausgerichteten Kurses unterstützt wird, in Nordrhein-Westfalen organisatorisch sehr schwach. Stark hingegen ist in Nordrhein-Westfalen insbesondere AKL und SL, wobei die radikalere Antikapitalistische Linke zumindest bis zur Landtagswahl 2012 dominant gewesen sein dürfte. Dies zeigt sich auch daran, dass mit Schwabedissen und Zimmermann zur Landtagswahl gleich beide Spitzenkandidaten der Linken dieser Strömung entstammten.

4. Programmatisches Profil

Ein programmatisches Profil der Linken in Nordrhein-Westfalen lässt sich im Wesentlichen nur auf zwei Dokumente stützen, den beiden Landtagswahl- programmen der Partei von 2010 und 2012.36 Aufgrund der vorgezogenen Wahl von 2012 ist das zweite Programm zudem nur eine überarbeitete Version des ersten. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt dieser Programme ganz eindeutig im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Prägend ist dabei das übergreifende Leitmotiv »Öffentlich vor Privat«, das die verschiedenen programmatischen Forderungen in ganz unterschiedlichen Politikfeldern inhaltlich miteinander ver-

36 Vgl. Die Linke Nordrhein-Westfalen: Original sozial – konsequent solidarisch. Das Landeswahlprogramm 2010, Düsseldorf 2010; Die Linke Nordrhein-Westfalen: Original sozial – konsequent solidarisch. Das Landeswahlprogramm 2012, Bochum 2012.

323 Tim Spier

klammert.37 Ausdruck dieser Umkehrung des liberalen Mottos »Privat vor Staat« sind die Forderung nach Ausweitung des öffentlichen Beschäftigungssektors, Stärkung öffentlicher Banken, Rekommunalisierung der Betriebe der Daseinsvor- sorge, Verstaatlichung der großen Energieversorger und ihrer Stromnetze sowie eine Absage an die Privatisierung von Bildungseinrichtungen. Ergänzt wird dies durch Forderungen nach einer Ausweitung sozialstaatlicher Absicherung, etwa durch Einführung einer Mindestrente, eines Mindestlohns und eines einklag- baren Rechts auf Wohnraum. Hinzu kommen wirtschaftspolitische Forderungen wie die nach stärkerer betrieblicher Mitbestimmung, der Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und des Zurückdrängens prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Finanziert werden soll diese expansiv wohlfahrts- staatliche Politik vor allem mithilfe einer umverteilenden Steuerpolitik. Während die Linke im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik im politischen Spektrum Nordrhein-Westfalens eine besonders pointierte Position aufweist, unterscheiden sich die gesellschaftspolitischen Forderungen der Partei von denen der SPD und der Grünen eher im Detail. Eine gebührenfreie Bildung von der Kindertagesstätte bis zum Hochschulstudium ist etwa eine Forderung der Linken, die in der Tendenz auch von Sozialdemokraten und Grünen getragen wird. Allerdings fordert die Linke eine gemeinsame »Schule für alle« bis zur 10. Klasse, was zumindest dem 2011 zwischen SPD, Grünen und CDU beschlossenen »Schulkonsens« widerspricht, der die Dreigliedrigkeit des weiter- führenden Schulsystems prinzipiell erhält.38 In Fragen der Innen- und Rechts- politik steht die Partei – vergleichbar mit den Grünen – für bürgerrechtliche Positionen, so etwa eine Einschränkung der Eingriffsbefugnisse der Polizei, einen verbesserten Datenschutz und eine Stärkung direktdemokratischer Partizipations- möglichkeiten. Die Forderung der Auflösung des Verfassungsschutzes ist hin- Bild: Abb 1 gegen ein »Alleinstellungsmerkmal« der Linken. Wie lässt sich nun die Linke in NRW programmatisch im Vergleich zu den Landesverbänden der anderen Parteien oder der Linken in anderen Bundesländern verorten? Für diese komparative Einordung bietet es sich an, quantitative Partei- positionen zu verwenden, da diese die gleichen, objektivierbaren Maßstäbe an alle Wahlprogramme anlegen. Hier verwendet werden die mithilfe des Wordscore-

37 Vgl. Jan Schoofs: Die Linke NRW. Kurzanalyse des Landtagswahlprogramms, Duisburg 2012, S. 3 ff. 38 Vgl. Schoofs, S. 5.

324 Die Linke in Nordrhein-Westfalen

Abbildung 1: Programmatische Position der Parteien in NRW bei der Landtagswahl 2010

20

18

16

14

12

10 CDU NRW

8 SPD NRW FDP NRW 6 Linke Ost Grüne NRW 4 Linke NRW Linke West Piraten NRW Gesellschaftspolitisch links-rechts Gesellschaftspolitisch 2

0 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Wirtschaftspolitisch links-rechts

Quelle: Eigene Darstellung, Rohdaten bei Bräuninger/Debus, S. 225 ff.

Verfahrens auf Basis der Landtagswahlprogramme geschätzten Parteipositionen von Bräuninger und Debus39, wobei auf die Daten für die Landtagswahl 2010 bzw. die unmittelbar vorausgegangenen Landtagswahlen für die übrigen Landes- verbände der Linken zurückgegriffen wird. Abbildung 1 zeigt einen politischen Raum, der durch zwei Konfliktdimensionen gekennzeichnet ist: Die wirtschafts- politische Konfliktlinie zwischen den Positionen »soziale Gerechtigkeit« (Umver- teilung, staatliche Eingriffe etc.) und »freie Marktwirtschaft« (Steuersenkungen, keine staatlichen Eingriffe etc.) sowie die gesellschaftspolitische Konfliktlinie

39 Vgl. Thomas Bräuninger/Marc Debus: Parteienwettbewerb in den deutschen Bundes- ländern, Wiesbaden 2012.

325 Tim Spier zwischen libertären und autoritären Positionen in Themenfeldern wie dem Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität oder Sterbehilfe. Hier wird zunächst deutlich, dass die Linke in Nordrhein-Westfalen mit ihren wirtschaftspolitischen Forderungen sehr deutlich links verortet ist und damit das Gegenstück zur FDP bildet, die in der wirtschaftspolitischen Dimension am pointiertesten marktwirtschaftliche Positionen vertritt. In einem Bundesland, in dem aufgrund der betont sozialen Programmatik der CDU nur geringe Unter- schiede in der Wirtschaftspolitik zwischen Union, SPD und Grünen bestehen, bieten Linke und FDP dem Wähler jeweils klare Alternativen. In der gesellschafts- politischen Programmatik steht die Linke in NRW zwar auch klar am »linken«, besser: libertären, Ende der Konfliktachse, jedoch nimmt sich hier der Unter- schied zu den Grünen oder auch den Piraten nicht besonders groß aus. Interessant ist auch der Vergleich des NRW-Landesverbandes mit anderen Landesverbänden der Linken, wobei hier vom Verfasser aufgrund der großen Differenzen die Ver- bände in den alten und neuen Bundesländern jeweils gruppiert wurden. Während die Ost-Landesverbände der Linken in etwa Positionen einnehmen, die in Nord- rhein-Westfalen denen von SPD und Grünen nahekommen, positioniert sich die Linke in den westlichen Bundesländern in beiden Konfliktdimensionen deutlich weiter links. Der Linken in Nordrhein-Westfalen kommt dabei die Besonder- heit zu, dass sie in der wirtschaftspolitischen Programmatik von allen Landesver- bänden die pointierteste Position einnimmt und sich deutlich am linken Pol ver- orten lässt. Dies ist keine Besonderheit der Linken – auch etwa bei den Grünen und der CDU finden sich in Nordrhein-Westfalen aktuell die Landesverbände der jeweiligen Partei, die am weitesten links ausgerichtet sind.

5. Perspektiven

Politikwissenschaft ist keine Prophetie und die Erfahrungen der Vergangenheit lassen sich nur sehr eingeschränkt in die Zukunft fortschreiben. Dennoch lassen sich aufgrund der hier vorgenommenen Analyse einige Vermutungen anstellen, die den weiteren Weg der Linken in Nordrhein-Westfalen betreffen. Wichtig zu betonen ist zunächst, dass das Schicksal der Linken in Nordrhein-Westfalen in ganz entscheidendem Maße von der Entwicklung auf der Bundesebene abhängt. Die Linke profitierte seit 2005 von einer günstigen Gelegenheitsstruktur auf Bundesebene: Durch die Agenda-Politik der Bundesregierung Schröder gab die SPD einen Teil ihrer Traditionswählerschaft frei, die sich enttäuscht von der Sozialdemokratie abwendete. Begünstigt durch eine hohe mediale Aufmerk-

326 Die Linke in Nordrhein-Westfalen samkeit, die charismatische Führungsfigur Lafontaine und eine Große Koalition auf Bundesebene konnte die Linke sich zwischenzeitlich auch in den meisten westlichen Bundesländern parlamentarisch verankern. Diese günstigen Rahmen- bedingungen auf Bundesebene sind geschwunden: Die SPD positioniert sich seit 2009 in der Opposition neu und versucht, die alten Traditionswähler zurück- zugewinnen. Gleichzeitig verzichtet die Bundespartei bei der Bundestagswahl 2013 auf ihr größtes Zugpferd Lafontaine. Aufgrund des nachlassenden bundes- politischen Rückenwindes kann es nicht weiter verwundern, dass die Linke – mit der bezeichnenden Ausnahme des Saarlandes – mehrere Landtagswahlen in west- lichen Bundesländern in Folge verloren hat. Hinzu kommen landesspezifische Probleme, die der Linken in Nordrhein- Westfalen zu schaffen machen: Während in Nordrhein-Westfalen aufgrund der industriell geprägten Sozialstruktur für linke Parteien prinzipiell günstige Bedingungen bestehen, die durch die Probleme des Strukturwandels und die Überschuldung der Kommunen noch verstärkt werden, und die Partei mittler- weile auch über eine für Westdeutschland vergleichsweise große Mitgliederbasis verfügt, wirkt sich die pointiert linke Ausrichtung der Spitze des Landesverbandes sicherlich eher hemmend auf die Wahlergebnisse aus. Während ein guter Teil der Mitglieder wie sicherlich auch der größte Teil der Wähler sich eine gewerk- schaftsnahe Sozialstaatspartei wünschen, die eine Lücke in der Repräsentation sozialstaatsaffiner Einstellungen füllt, die – zumindest zeitweise – durch die Agenda-Politik der SPD eröffnet wurde, dominieren im Landesverband linke Strömungen, die gerade auch in der Programmatik recht dogmatische und wenig realistische Positionen durchgesetzt haben. Inwiefern es die nordrhein-west- fälische Linke vermag, sich besser auf ihre elektorale Zielgruppe auszurichten und sich ein Potenzial zu erarbeiten, das ihr zukünftig eine dauerhafte Vertretung im Landtag sichert, bleibt abzuwarten.

327

Till Kössler links: Till Kössler rechts: NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde Die KPD/DKP

1. Einleitung Die Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Nord- rhein-Westfalen wurde sehr wesentlich durch die konfliktreiche Stellung der Partei zwischen den beiden entstehenden deutschen Staaten bestimmt.1 Der nordrhein-westfälische Landesverband der KPD stellte faktisch eine regionale Unterorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) dar. Er blieb von der ostdeutschen Staatspartei auch nach der Gründung einer formal eigenständigen westdeutschen Parteiorganisation 1948 eng in die Organisationsstruktur der SED eingebunden. In der politischen Praxis bedeutete dies, dass die westdeutschen Kommunisten kaum Einfluss auf die politische Ausrichtung, die personale Zusammensetzung der Parteileitungen und die Organisationsstruktur der Partei nehmen konnten, jedoch politische Anweisungen der Ost-Berliner Führung umzusetzen und personelle wie organisatorische Eingriffe seitens der Zentrale hinzunehmen hatten.2 Politik wie Niedergang der KPD in Nordrhein-Westfalen müssen vor

1 Zur Geschichte der KPD in der Bundesrepublik siehe vor allem: Till Kössler: Abschied von der Revolution. Kommunismus und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968, Düsseldorf 2005; Patrick Major: Death of the KPD. Communism and Anti-Communism in West-Germany, London 1997; Dietrich Staritz: Die Kommunistische Partei Deutsch- lands, in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutsch- land 1945–1980, Opladen 1983, S. 1663–1809. 2 Till Kössler: Einleitung. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und kleinere Parteien des linken Spektrums, in: J. Boyer/T. Kössler (Hg.): SPD, Die Grünen und kleine Parteien des linken Spektrums 1945–1990. Ein statistisches Handbuch zur Mit- gliedschaft und Sozialstruktur, Düsseldorf 2005, S. 739–789. Siehe auch: Ders.: Kader- partei oder Milieupartei? Die KPD in Westdeutschland 1945–1960, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2004, S. 131–155; Heike Amos: Die Westpolitik der SED 1948/49–1961. »Arbeit nach Westdeutschland« durch die Nationale Front, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und das Ministerium für Staatssicherheit,

329 Till Kössler dem Hintergrund dieser Doppelstruktur der Partei als westdeutscher wie ost- deutscher Organisation verstanden werden. Daneben beeinflusste in Form der antikommunistischen Politik von Bund und Land ein weiterer Faktor die Parteientwicklung. Die KPD war in den ersten Nach- kriegsjahren zunächst von den westlichen Besatzungsmächten und den demo- kratischen Parteien im Rahmen eines Wiederaufbaukonsenses und aus taktischer Rücksichtnahme auf die Interessen der Sowjetunion geduldet worden. Nachdem die SED jedoch seit dem Herbst 1949 eine neue Politik der aggressiven Werbung und Mobilisierung in der Bundesrepublik eingeläutet hatte, um in einem ver- zweifelten Versuch ihren Einfluss in Westdeutschland auszubauen, einigten sich die wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik darauf, mit aller Macht gegen die KPD und ihre Nebenorganisationen vorzu- gehen.3 Bundes- und Landesregierung beschlossen in enger Abstimmung mit den Kommunen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zwischen 1950 und 1952 eine ganze Reihe von Maßnahmen und Gesetzen, die eine öffentliche politische Betätigung im Sinne der KPD weitgehend kriminalisierten und dadurch den politischen Spielraum der KPD einschränkten. Die politische Isolierung der Partei und die strafrechtliche Verfolgung vieler aktiver Mitglieder führten schon vor dem Verbot der Partei zu einer weitgehenden Verdrängung der Kommunisten aus der Landespolitik und der politischen Öffentlichkeit in Nordrhein-Westfalen. Der Erfolg dieser Ausgrenzungspolitik beruhte aber auch darauf, dass sich die KPD in innerparteilichen Kämpfen aufrieb und entscheidend schwächte.

2. Wiedergründung und Mitgliederstruktur

Der rasche Wiederaufbau der Parteistrukturen und die Rhetorik der Geschlossen- heit, mit der die Partei nach 1945 wieder an die Öffentlichkeit trat, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die KPD in den Nachkriegsjahren hinsichtlich der politischen Erfahrungen, Hoffnungen und Interessen ihrer Mitglieder und

Berlin 1999; Michael Lemke: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961, Köln 2001. 3 Siehe hierzu mit weiteren Literaturhinweisen: Till Kössler: Die Grenzen der Demokratie. Antikommunismus als politische und gesellschaftliche Praxis in der frühen Bundes- republik, in: S. Creuzberger/D. Hoffmann (Hg.): Antikommunismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2013 (i. E.).

330 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

Funktionsträger eine heterogene Organisation darstellte. Die Erfordernisse des Neuaufbaus der Partei und die enthusiastische Überzeugung, im zukünftigen Deutschland eine wesentliche politische Rolle zu spielen, überdeckten jedoch zunächst die politischen Differenzen. Die KPD zeichnete sich 1945 zunächst durch eine hohe personelle und organisatorische Kontinuität zur Weimarer Zeit aus. Altkommunisten, die bereits vor 1933 Mitglied der KPD geworden waren, bildeten das Rückgrat der Partei und versuchten nach Kriegsende den Weimarer Kommunismus wieder- zubeleben. Gerade in ihren ehemaligen Hochburgen in den Industriestädten des Ruhrgebiets, des Bergischen Lands und des Rheinlands konnte die KPD ihre durch den Nationalsozialismus zerstörten Organisationsstrukturen nach Kriegsende rasch wieder aufbauen und sich erneut als einflussreiche politische Kraft etablieren. Ihre Stärke wurzelte dabei vor allem in ihrem Einfluss in vielen Industriebetrieben der Montanbranche. Anders als die überwiegende Mehrheit der Funktionsträger der Weimarer Partei, die verfolgt und oft ermordet wurden oder ins Exil flohen, hatten viele einfache Mitglieder im Rheinland und West- falen zwischen 1933 und 1945 zwar vielfache Schikanen im Alltag erlebt; sie waren jedoch als Industriearbeiter weiterhin eng in die Arbeits- und Lebenswelt der Großbetriebe und Zechen eingebunden gewesen und hatten untereinander rudimentäre politische Beziehungen gepflegt. Nach 1945 spielte diese »Weimarer Generation« eine dominierende Rolle in den Ortsverbänden und Betriebs- gruppen. Ihre Bedeutung spiegelt sich auch in einem Alterungsprozess der Partei gegenüber den 1920er Jahren: War die KPD in der Weimarer Republik noch eine ausgesprochen junge Partei gewesen, so waren im Jahr 1947 bereits 27 Prozent der Mitglieder in Nordrhein-Westfalen älter als 50 Jahre.4 Die KPD blieb auch nach 1945 eine Partei männlicher Industriearbeiter. Keine andere wichtige Partei in Nordrhein-Westfalen wies hinsichtlich der Berufsstruktur ihrer Mitglieder eine solche Homogenität auf wie die KPD. Im Mai 1947 arbeiteten 84 Prozent der Mitglieder entweder als Industriearbeiter oder gehörten als Rentner oder Hausfrauen Arbeiterfamilien an. Frauen blieben auch nach 1945 in der Mitgliedschaft deutlich unterrepräsentiert, sie stellten durch- gängig nur etwa ein Fünftel aller Mitglieder, wobei es sich bei ihnen in der Regel um die Ehefrauen oder Töchter von Kommunisten handelte. Nur wenige Frauen

4 Alle statistischen Angaben sind entnommen: Tabellen. Kommunistische Partei Deutsch- lands (KPD) und kleinere Parteien des linken Spektrums, in: Boyer/Kössler, S. 795–941.

331 Till Kössler

übernahmen Parteiämter. Auf einer großen Funktionärskonferenz im Oktober 1950 waren beispielsweise von den 497 Teilnehmern nur 59 Frauen (12 Prozent).5 Diese Elemente von Kontinuität dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Mitgliedschaft nach 1945 im Zuge eines Zustroms neuer Mitglieder bald deutlich veränderte. Nach Kriegsende traten mehr Personen auf dem Gebiet des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen der KPD bei als jemals zuvor. Die Beitrittswellen führten dazu, dass die Mitgliederhöchststände der Weimarer Republik bald deutlich übertroffen wurden. Während die drei Bezirke, die in der Landesorganisation Nordrhein-Westfalen aufgingen, vor 1933 zusammen nie mehr als etwa 78.000 Mitglieder umfasst hatten, zählte der neue Landes- verband im Mai 1947 120.000 Mitglieder. Der Zustrom an Neumitgliedern ließ die Altmitglieder zu einer innerparteilichen Minderheit werden. Sie stellten in Nordrhein-Westfalen im März 1949 nur mehr knapp 30 Prozent aller Mitglieder. Die Beitrittswelle pluralisierte die innerparteilichen Debatten und politischen Positionen. Die meisten neuen Anhänger kannten die Weimarer KPD zumeist nur vom Hörensagen und waren kaum mit den Denkmustern und der Partei- kultur der »alten« KPD vertraut. In der Partei stießen nach 1945 sehr unterschied- liche Interessen und Erwartungen aufeinander. Zwar einte alle Anhänger eine scharfe Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsform, wie sie sich in der Arbeits- welt der Industriebetriebe niederschlug, doch existierten jenseits dieser Kritik sehr widersprüchliche Ansichten. So gab es, um hier nur ein Beispiel zu nennen, viele Parteimitglieder, die die Sowjetunion kritisch betrachteten und die Partei zu einer distanzierten Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei der Sowjet- union (KPdSU) drängten.6 Und während die meisten Altmitglieder weiterhin für einen militant revolutionären Kurs plädierten, sahen viele Neumitglieder die KPD eher als eine linkssozialistische Reformkraft und radikale Anwältin von Arbeiterinteressen. Vor Ort bildeten diese Differenzen oft den Ausgangspunkt

5 Statistik der Teilnehmer an der Parteiaktivkonferenz in Forst Zinna, 23.–24.10.1950, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO/BA), BY 1/529. 6 Siehe als Beispiele nur: Political Supplement to Forthnightly CI Report No. 26, 31.1.1946, Public Record Office (PRO), London, FO 1005/1698; Kreis Resident Officer Gelsen- kirchen, Monthly Report, April 1949, PRO, FO 1013/507.

332 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde für erbitterte Fraktionskämpfe zwischen Mitgliedergruppen, die zumeist in den Austritt oder Ausschluss vieler Anhänger mündeten.7 Wie die allgemeine Mitgliedschaft so wandelte sich auch das Funktionärs- korps nach 1945. Dies war zunächst eine unmittelbare Folge der hohen Verluste durch die Verfolgungen zwischen 1933 und 1945 und der Abwanderung vieler ehemaliger Funktionsträger der wichtigen Parteibezirke Ruhrgebiet-Westfalen, Mittelrhein und Niederrhein in die sowjetische Zone, wo sich ihnen zahlreiche Karrieremöglichkeiten im Staatsapparat der DDR boten.8 Zugleich förderte die Ost-Berliner Parteizentrale jedoch massiv auch junge Funktionäre, von denen sie sich weniger Widerstände gegen die Umsetzung der neuen »nationalen« Partei- linie versprach, die das sozialrevolutionäre Vokabular der Weimarer Republik ver- abschiedete und die KPD für neue Bevölkerungsgruppen öffnen wollte.9 Eine besondere Bedeutung kam in diesem Kontext einer kleinen Gruppe ehemaliger Wehrmachtssoldaten zu, die sich in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern dem Kommunismus angeschlossen hatten. Aufgrund ihres engen Kontakts mit der sowjetischen Politik und den aktuellen Parteivorgaben besaßen sie besonders gute Karrierechancen in der KPD und besetzten bald wichtige Parteiämter. Dem acht- köpfigen Essener Kreissekretariat gehörten 1950 beispielsweise mindestens zwei ehemalige Kriegsgefangene an. Sie wurden allerdings von den Altkommunisten zumeist misstrauisch beäugt und abgelehnt.10 In der Partei stießen somit nach 1945 sehr unterschiedliche politische Programme aufeinander, deren Vermittlung

7 Siehe etwa: Political Supplement to Forthnightly CI Report No. 28 und No. 29, Februar/ März 1946, PRO, FO 1005/1698, Zur Lage in der britischen, amerikanischen und französischen Zone, 16.12.1946, SAPMO/BA, NY 4036/646. 8 Norman Naimark: The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945–1949, Cambridge/Mass. 1995, S. 42 f.; Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000, S. 220; Hermann Weber: Geschichte der DDR, München 1986, S. 119. 9 Zur neuen Programmatik der Partei siehe etwa: Michael Klein: Antifaschistische Demo- kratie und nationaler Befreiungskampf. Die nationale Politik der KPD 1949–1953, Berlin 1986; Wolfgang Pfeifer: Die »nationale« Politik der KPD/SED 1945–1952, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. 5, Baden-Baden 1995, S. 1967–2014. 10 Zusammensetzung des Kreissekretariats Essen, o. D. (1950), SAPMO/BA, BY 1/988. Zur Bevorzugung von Mitgliedern, die aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrten vgl. Klaus Weigle: Vom Sturmgrenadier zum KPD-Landesvorsitzenden. Eine autobio- graphische Skizze (1946/50), in: Demokratische Geschichte, 7 (1992), S. 213–241.

333 Till Kössler

äußerst schwierig war. Der Konflikt zwischen ihnen wurde mit hohen Kosten ab 1948 von der Ost-Berliner Parteiführung autoritär beendet und zu Gunsten der neu eingesetzten, führungsloyalen Funktionäre entschieden.

3. Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligung

Die Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen blieben von Anfang an deutlich hinter den Erwartungen der KPD zurück. Lediglich in den ersten, durch eine massive Versorgungskrise beeinflussten Landtagswahlen im Frühjahr 1947, in der sie 14,0 Prozent der abgegebenen Stimmen und drei Direktmandate erreichte, konnte die Partei in ihren Hochburgen noch einmal annäherungsweise an die Erfolge am Ende der Weimarer Republik anknüpfen. Diese Ergebnisse blieben jedoch eine Ausnahme. In der Folge verlor die Partei die Gunst der Wähler. Nachdem sie 1949 mit 5,7 Prozent der Stimmen knapp in den Ersten Bundes- tag eingezogen war, schaffte sie 1953 mit einem Wahlergebnis von 2,2 Prozent den Wiedereinzug in das Bundesparlament nicht. Auf der Ebene der Länder ist eine ähnliche Entwicklung zu verfolgen. Bei ihrem Verbot 1956 war die KPD nur noch in den Landtagen von Bremen und Niedersachen (keine Fünf-Pro- zent-Klausel) sowie im Parlament des Saarlands vertreten.11 Die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen folgte dem Bundestrend. Bei den Landtagswahlen 1950 erreichte die Partei noch einmal 5,5 Prozent der Stimmen, schied aber bei den darauf folgenden Wahlen 1954 mit 3,8 Prozent der Stimmen aus dem Landtag aus. Bei den Kommunalwahlen 1946 erhielt die Partei im Landesschnitt 9,4 Pro- zent, 1948 7,8 Prozent und 1952 4,5 Prozent der Stimmen. Die Wahlergebnisse unterschieden sich deutlich nach Landesteilen. Während die Partei in den ländlichen Gebieten des Rheinlands und Westfalens kaum Wähler fand, konnte sie in den Industriestädten des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes in den ersten Nachkriegsjahren einen wichtigen Teil der Arbeiterschaft als Wähler gewinnen. In diesen Kommunen erreichte die Partei bei den Landtags- wahlen 1947 sogar noch einmal zwischen 20 und 30 Prozent der Stimmen und konnte, wenngleich auf niedrigem Niveau, eine parlamentarische Vertretung auf kommunaler Ebene bis zum Verbot 1956 bewahren. In den Städten des Ruhr- gebiets erzielte die KPD bei den Kommunalwahlen 1952 zwischen sechs und

11 Zu den einzelnen Zahlen siehe: Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss: Wahlen in Deutsch- land 1946–1991. Ein Handbuch, München 1991, S. 147, S. 166 f.

334 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde neun Prozent der abgegebenen Stimmen. Die ungleiche räumliche Verteilung der Anhängerschaft zeigt sich deutlich daran, dass die KPD 1946 zwar in 33 von 37 kreisfreien Städten, aber nur in 25 der 57 Landkreise parlamentarische Sitze erkämpfen konnte. Nach den Kommunalwahlen 1952 setzte sich die Konzentration auf wenige Hochburgen weiter fort. Die Partei errang nur mehr in 19 von 37 kreis- freien Städten und nur noch in fünf von 57 Landkreisen Kommunalmandate.12 Die relativen Erfolge bei den ersten Nachkriegswahlen und die örtliche Stärke der Partei führten dazu, dass die Besatzungsmächte die KPD an den ersten parteiübergreifenden Landesregierungen Nordrhein-Westfalens beteiligten. Den ersten, noch nicht durch Landtagswahlen legitimierten Kabinetten von Minister- präsident Rudolf Amelunxen gehörten seit Juni 1946 der mit Abstand populärste kommunistische Politiker der Nachkriegszeit und ehemalige Essener Oberbürger- meister Heinz Renner (nur bis Dezember 1946) als Sozialminister und Hugo Paul als Minister für den Wiederaufbau an. Nach der Landtagswahl 1947 blieb dieser im ersten überparteilichen Kabinett Arnold zunächst im Amt, während Renner erneut, diesmal als Verkehrsminister, in die Regierung eintrat. Beide Minister entfalteten jedoch keinen nachhaltigen Einfluss auf die Landespolitik. Dies beruhte nicht zuletzt auf ihrem frühen Ausscheiden aus ihren Ämtern. Sie wurden am 5. April 1948 von Arnold, auch aufgrund von Anregungen der britischen Besatzungsmacht, entlassen, weil sie im Zuge des sich verschärfenden Kalten Krieges nicht bereit waren, sich von radikalen Stellungnahmen der kommunistischen Landtagsfraktion zu distanzieren.13 In der Folgezeit setzten sich in der KPD die politischen Kräfte durch, die für eine radikale Fundamental- opposition gegen die westdeutsche Staatsgründung und den bundesdeutschen Staat eintraten. Die Regierungsbeteiligung blieb Episode.

12 Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen: Die Kommunalwahlen in Nordrhein- Westfalen, 9.11.1952, Düsseldorf 1953. 13 Discussions between the Military Governor and German Political and Administrative Authorities at Hannover, 26.1.1948 and Düsseldorf 27.1.1948, PRO, FO 1030/27.

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4. Organisatorische und programmatische Entwicklung

Die Organisationsentwicklung, Programmatik und Politik der KPD in Nordrhein- Westfalen wurden wesentlich durch die Parteiführung der SED in Ost-Berlin bestimmt. Landesspezifische Themen und Interessen spielten demgegenüber nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die Parteigliederungen im Westen blieben auch nach der formalen Trennung von SED und West-KPD und der Gründung eines eigenen Parteivorstands der KPD Anfang 1948 eng in die Organisationsstruktur der ostdeutschen Staatspartei eingebunden. Die Trennung der Parteien stellte lediglich ein formales Zugeständnis an die politischen Rahmenbedingungen der staatlichen Teilung Deutschlands dar, bedeutete aber keineswegs mehr politische Eigenständigkeit für die Westkommunisten.14 Im Gegenteil, die SED-Führung intensivierte zur gleichen Zeit ihre Bestrebung, die westlichen Parteigliederungen fest an sich zu binden.15 Die Westkommission/Westabteilung der SED fungierte als eigentliche Parteileitung der KPD und anders als in der unmittelbaren Nach- kriegszeit standen der Ost-Berliner Zentrale nun nicht nur ein ausgedehnter Parteiapparat, sondern auch umfangreiche personelle und materielle Ressourcen zur Einflussnahme im Westen zur Verfügung.16 Für die Landesorganisation Nordrhein-Westfalens – wie auch für die Bundes- partei – bedeutete die organisatorische und personelle Abhängigkeit von der SED-Führung, dass sie kaum in der Lage oder auch nur Willens war, ein eigen- ständiges politisch-programmatisches Profil zu entwickeln und sich als auto- nomer Akteur in der Landespolitik zu etablieren. Die zunächst durchaus beein- druckenden Mitgliederzahlen und der nicht unerhebliche Wählerzuspruch in den ersten Nachkriegsjahren wurden nicht zum Aufbau einer politisch sichtbaren und profilierten Landespartei genutzt. Einzelne Versuche hochrangiger Landes- politiker und Gewerkschaftsfunktionäre wie Heinz Renner, die Partei nicht nur auf eine bedingungslose Unterstützung der Sowjetunion und der im Entstehen begriffenen DDR festzulegen, sondern ihr auch ein eigenständiges westdeutsches

14 Vgl. hierzu mit Belegen Major, S. 64–67. 15 Dies zeigt sich, um hier nur ein Beispiel zu geben, in dem Bericht: Auswertung der Mit- gliederkontrolle, o. D. (Mai 1949), SAPMO/BA, BY 1/573. 16 Die innere Konsolidierung der SED beschreibt detailliert: Malycha.

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Profil als radikalreformerische Arbeitnehmerpartei zu geben, wurden immer wieder durch die SED-Führung unterbunden.17 Um die heterogenen Ansichten, Forderungen und Initiativen an der Mit- gliederbasis in ihrem Sinne zu vereinheitlichen und die KPD zu einem willigen Instrument der DDR-Deutschlandpolitik zu gestalten, griff die SED immer wieder massiv in die Organisations- und Personalstruktur der KPD ein. Schon früh setzte sie eine Auflösung der traditionellen Bezirksstruktur zugunsten einer einheitlichen Organisation nach Landesverbänden und der Unterbezirke zugunsten neuer Kreisverbände durch. In Nordrhein-Westfalen wurden die drei alten Bezirke Mittelrhein, Niederrhein und Ruhrgebiet-Westfalen im Ver- lauf des Jahres 1946 in die neue Landesorganisation überführt.18 Damit war der organisatorische Umbau jedoch keineswegs abgeschlossen. In den kommenden Jahren suchte die SED immer neue Wege, um ihre organisatorische Herrschaft über die Westverbände durch Organisationsreformen zu festigen. Insbesondere betrieb sie eine Bürokratisierung der Parteiarbeit. Eine detaillierte Planung und Aufgabenstellung für die untergeordneten Leitungen, die persönliche Haftbar- machung einzelner Funktionäre für die Umsetzung von Beschlüssen sowie die Kontrolle der Parteiarbeit durch ein umfangreiches Berichtswesen sollten eine bessere Umsetzung der Beschlüsse der SED-Führung bewirken.19 Dem gleichen Ziel diente der Ausbau des Instrukteurswesens seit 1949, der es der Parteispitze und den von ihnen abhängigen Landesleitungen ermöglichte, durch ihnen unmittelbar unterstellte Mittelsmänner direkt in die Geschehnisse vor Ort ein- zugreifen.20 Ein weiteres wichtiges Element der Ost-Berliner Machtpolitik war der periodische Austausch des Führungspersonals auf allen Leitungsebenen bis hinunter auf die Ebene der Kommunen. Um eine Loyalität gegenüber den

17 Zu einigen Fragen der Tätigkeit der KPD – Zonenleitung der britischen Zone, 23.3.1947, SAPMO/BA, NY 4036/646. 18 Entwurf: Richtlinien für Parteiaufbau und Mitgliederwerbung [1945], SAPMO/BA, NY 4036/360. 19 Siehe zu den einzelnen Punkten: Zusammenfassung der wichtigsten Organisations- Probleme der Partei, 25.2.1949, SAPMO/BA, BY 1/573; Sekr. des PV der KPD, Richt- linien. Die Rolle und der Aufbau der KPD, 4.1.1950, SAPMO/BA, DY 30 IV 2/5 246; A. Zeidler, Bericht über die Lage in der Parteiorganisation, 8.2.1951, SAPMO/BA, BY 1/566. 20 Beitrag Max Reimann, 4. PV-Sitzung, 16.–28.8.1948, SAPMO/BA, BY 1/425; Bericht über Lage im Westen und die Rolle der KPD, 6.4.1948, SAPMO/BA, BY 1/563.

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Ost-Berliner Vorgaben zu erzwingen, wurden Kommunisten der »Weimarer Generation« durch Jungkommunisten ersetzt, die die Vorgaben der SED und besonders ihre »nationale« Politik bereitwilliger unterstützten.21 In Nordrhein- Westfalen tauschte die Parteizentrale in einer großen Säuberungsaktion Anfang 1951 neun von zehn Mitglieder des Landessekretariats und 36 von 39 Vorstands- mitglieder der Landespartei aus. Lediglich der Landesvorsitzende Josef Ledwohn blieb auf seinem Posten.22 Die Interventionen blieben nicht auf die Landes- ebene beschränkt. So setzte die Führung in der Kreisorganisation Essen, obwohl erst kurz vorher ein neues Kreissekretariat gewählt worden war, zwischen März 1951 und Mai 1952 zweiundzwanzig neue Sekretäre ein; allein der Erste Sekretär wechselte in dieser Zeit viermal.23 Insgesamt veränderte sich die Zusammen- setzung der Landes- und Kreisleitungen so häufig, dass eine längerfristige Etablierung markanter Persönlichkeiten und politischer Programme auf landes- politischer Ebene unmöglich wurde. Landespolitische Zielsetzungen traten völlig in den Hintergrund. Die SED gestaltete die KPD am Ende der 1940er Jahre zu einer Kampagnen- organisation um, deren vorrangiges Ziel die Mobilisierung der westdeutschen Bevölkerung gegen die politischen Entscheidungsträger im Westen und für die deutschlandpolitischen Initiativen der Sowjetunion und DDR war. Alle Energien und Ressourcen der KPD wurden darauf gelenkt, die Westintegration der ent- stehenden Bundesrepublik zu verhindern und gleichzeitig den Aufbau der DDR im Westen propagandistisch abzustützen.24 Die einzelnen Kampagnen sollten

21 Siehe auch: Herbert Mayer: Durchsetzt von Parteifeinden, Agenten, Verbrechern …? Zu den Parteisäuberungen in der KPD (1948–1952) und der Mitwirkung der SED, Berlin 1995; Ulrich Mählert: ›Die Partei hat immer recht!‹ Parteisäuberungen als Kaderpolitik in der SED (1949–1953), in: Ders./H. Weber (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998, S. 351–457. 22 Vgl. die Aufstellung bei Major, S. 209. 23 Bericht über die organisationspolitische Arbeit, o. D. (1953), SAPMO/BA, BY 1/567. Siehe auch: Mayer, S. 22 f. 24 Siehe exemplarisch das Protokoll Nr. 28 der Westkommissionssitzung vom 16.1.1950, das detaillierte Anweisungen für die zukünftige Tätigkeit der KPD enthält: SAPMO/BA, NY 4036/949. Siehe auch ebd. die Protokolle der folgenden Sitzungen. Vgl. auch: Gerhard Wettig: Die KPD als Instrument der sowjetischen Deutschland-Politik. Festlegungen 1949 und Implementierungen 1952, in: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 816–829, hier S. 819 f.; Staritz, S. 1700–1704; Major, S. 123–148.

338 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde dem »Volkswillen« im Westen zum Ausdruck verhelfen und gleichzeitig einen Prozess der »politischen Aufklärung« in der Bevölkerung einleiten. Die mög- lichst öffentlichkeitswirksame Abhaltung von Kongressen und Unterschriften- sammlungen, die Verabschiedung von Resolutionen und die Entsendung von Delegationen zu bundesdeutschen Entscheidungsträgern und in die DDR bestimmten die politische Tätigkeit der KPD. Die Funktionsträger des Landesverbandes verwandten nach 1948 fast ihre gesamte politische Kraft darauf, die Untergliederungen für die zahlreichen Kampagnen zu mobilisieren, die sich in schneller Folge ablösten. Allein 1950/51 führte die KPD in Nordrhein-Westfalen drei große Unterschriftensammlungen gegen die Remilitarisierung, für die Ächtung der Atombombe und für den Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland durch.25 Selbst die Industrie- und Sozialpolitik, die traditionell im besonderen Fokus der Kommunisten an Rhein und Ruhr stand, wurde den deutschlandpolitischen Kampagnen unter- geordnet. Lohn- und sozialpolitische Forderungen sollten in die Argumentations- schemata der deutschlandpolitischen Initiativen eingebunden werden.26 Es gelang der Ost-Berliner Führung unter großen Anstrengungen, ihren Einfluss auf die Westpartei formal aufrecht zu erhalten, doch scheiterte sie mit ihrem Anspruch einer umfassenden Mobilisierung der Parteimitgliedschaft. Die Kampagnen stießen auf deutliche Widerstände in der Mitgliedschaft, die sich den Forderungen der Ost-Berliner Parteiführung zunehmend verweigerte. Die deutschlandpolitische Programmatik der SED und ihre »nationale« Politik waren in der Westmitgliedschaft unpopulär. Die meisten Kommunisten in Nord- rhein-Westfalen waren nur in einem sehr begrenzten Umfang bereit, diese gegen massive Anfeindungen der westdeutschen Öffentlichkeit und der Drohung straf- rechtlicher Verfolgung zu propagieren. Der innerparteiliche Machtzugriff der SED stieß auf deutliche Grenzen. Die SED sicherte sich die absolute Herrschaft über die westdeutschen Verbände um den hohen Preis einer zunehmenden Ent- fremdung, Resignation und Abwendung weiter Teile der westdeutschen Mit- gliedschaft von der Partei.27

25 Siehe z. B. die unterschiedlichen Berichte in der Akte Tätigkeitsberichte der Landes- leitung Nordrhein-Westfalen 1950–1951: SAPMO/BA, BY 1/973. 26 Siehe die Instrukteursberichte in: SAPMO/BA, BY 1/987. Vgl. auch Volker Sieger: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der KPD 1945–1956, Frankfurt a. M. 2000. 27 Vgl. Kössler, Abschied, Kap. 4.

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Dennoch änderte sich an der Organisationspolitik der SED bis 1956 wenig. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Organisationswirklichkeit vergrößerte sich bis zum Verbot der Partei 1956 weiter. Vor diesem Hintergrund lässt sich Anfang der 1950er Jahre eine Aufspaltung der Gesamt- wie Landespartei in einen aktiven Kern von Funktionsträgern, die als Manager der DDR-Interessen im Westen tätig waren, und der Mehrheit der Mitglieder feststellen. Eine kleine Kerngruppe nordrhein-westfälischer Funktionäre begann Anfang der 1950er Jahre ein Leben am Rande der Illegalität zwischen Ost- und Westdeutschland zu führen, während der Großteil der Mitgliedschaft die Parteiforderungen entweder ignorierte oder aus der Partei austrat.28 Dem raschen Anstieg der Mitgliederzahlen folgte am Ende der 1940er Jahre ein ebenso rascher Rückgang. Von 1947 bis Dezember 1954, dem letzten Datum, zu dem verlässliche Zahlen vorliegen, verließen drei von vier Mitgliedern den nordrhein-westfälischen Landesverband; der Mitgliederstand sank auf 33.853. Der deutliche Anstieg des Altersdurchschnitts der Parteimitglieder innerhalb weniger Jahre deutet darauf hin, dass gerade die älteren, langjährigen Mitglieder der Partei treu blieben, während viele derjenigen, die nach 1945 beigetreten waren, bald wieder ausschieden. Zwischen 1947 und Ende 1954 stieg der Anteil der Über-50-Jährigen von 22 auf 47 Prozent.29 Die KPD wurde in den Kommunen Nordrhein-Westfalens soziokulturell immer mehr zu einem eingeschworenen, sich gegenüber der Außenwelt abkapselnden Traditionsverein, dessen Basis die Erinnerung an die Kampfzeiten der späten Weimarer Republik und die Ver- folgungserfahrungen im Nationalsozialismus bildete und der wesentlich auf familiären Netzwerken beruhte. Die politisch weiterhin aktiven Parteimitglieder konzentrierten sich zunehmend auf eine Tätigkeit als Betriebsrat oder die Mit- arbeit in überparteilichen Protestbewegungen und entfernten sich im politischen Alltag immer weiter von der SED.30

28 Zu der klandestinen Tätigkeit siehe den Bericht eines Funktionärs der mittleren Ebene: Ernst Schmidt: Vom Staatsfeind zum Stadthistoriker. Rückblick auf mein bewegtes Leben, Essen 1998. 29 Organisationsbericht der KPD, o. D. (1947) SAPMO/BA, BY 1/573; Stand Juni 1954: Mitgliederstatistik 30.6.1954 (Abschrift 28.12.1954), SAPMO/BA, BY 1/574. 30 Mit vielen Belegen: Kössler, Abschied, Kap. 8.

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5. Illegalität und die Gründung der DKP

Das Parteiverbot von 1956 bedeutete einen wichtigen Einschnitt, jedoch keine fundamentale Zäsur in der Geschichte der KPD.31 Der Partei gelang es, mit Hilfe eines kleinen, aber sehr aktiven Funktionärsstamms, organisatorische Netzwerke in Westdeutschland aufrecht zu erhalten. Allerdings verharrte die kommunistische Aktivität in Nordrhein-Westfalen auf niedrigem Niveau und der nun illegalen KPD gelang es kaum, Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit zu gewinnen. So scheiterte in Nordrhein-Westfalen der Versuch, über die Einzelkandidatur hoch- rangiger Kommunisten in den Wahlen nach 1956 kommunistische Forderungen in weitere Bevölkerungskreise zu tragen, da die Kandidaturen verboten wurden.32 Erst nachdem gegen Mitte der 1960er Jahre der Druck der Strafverfolgungsbe- hörden auf die illegalen Nachfolgeorganisationen nachließ und sich zudem ein wachsender Teil der öffentlichen Meinung gegen eine Weiterführung der antikommunistischen Strafverfolgungen aussprach, konnten die verbliebenen Kommunisten offener auftreten und für eine Wiederzulassung der KPD werben.33 Tatsächlich ließ die Bundesregierung 1968 im Zuge der neuen Entspannungs- politik gegenüber dem Ostblock die Wiedergründung einer kommunistischen Partei im Bundesgebiet zu und entkriminalisierte die politische Betätigung der verbliebenen kommunistischen Anhängerschaft.34

31 Zum Parteiverbot vgl. Gerd Pfeiffer/Hans-Georg Strickert: KPD-Prozeß. Dokumentar- werk zu den Verfahren über den Antrag der Bundesregierung zur Feststellung der Ver- fassungswidrigkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichtes (3 Bde.), Karlsruhe 1955/56. 32 Der Bundesminister des Inneren: Die kommunistische Tätigkeit im Jahre 1964, Berlin 1965; Bericht des Bundesinnenministers des Inneren über die kommunistische Tätig- keit in der Bundesrepublik im Jahre 1965, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 20 (1966), zitiert nach Günter Judick/Josef Schleifstein/Kurt Steinhaus: Einleitung, in: Dies. (Hg.): KPD 1945–1968. Dokumente, Bd. 1, Neuss 1989, S. 109. 33 Georg Fülberth: KPD und DKP 1945–1990. Zwei kommunistische Parteien in der vierten Periode kapitalistischer Entwicklung, Heilbronn 1990, S. 92–116; Judick/Schleif- stein/Steinhaus, S. 82–115. Vgl. auch als Fallstudie: Hendrik Bunke: Die Bremer KPD in der Illegalität. Organisation und politische Tätigkeit 1956–1968, in: Bremer Arbeiter- bewegung, 9 (1994), S. 15–21. 34 Michael Roik: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968–1984, Paderborn 2006, S. 58–96; Siegfried Heimann: Die Deutsche Kommunistische Partei, in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Opladen

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Trotz hochgespannter Erwartungen seitens ihrer Gründer gelang es der am 4./5. Mai 1968 in Essen ins Leben gerufenen DKP jedoch nie, größere Bevölkerungsschichten als Mitglieder oder Wähler für sich zu gewinnen. Ihre Mitgliederzahl überstieg bundesweit zu keinem Zeitpunkt die Größe von 40.000 – und lag damit noch einmal deutlich unter der Mitgliederzahl der KPD zum Zeitpunkt ihres Verbots. Der Kreis ihrer Wähler ging kaum über ihre engere Mitgliedschaft hinaus.35 In Nordrhein-Westfalen erzielte die Nachfolgepartei der KPD 1970 mit 0,9 Prozent ihr bestes Ergebnis, bei den folgenden Landtagswahlen erreichte sie nur 0,5 Prozent (1975) und 0,3 Prozent (1980) der abgegebenen Stimmen. Auch bei Bundestagswahlen stimmten stets weniger als ein Prozent der Wähler für die DKP.36 Allerdings führte die umfangreiche finanzielle und logistische Unterstützung der SED dazu, dass die Partei weitaus intensiver propagandistisch wirken konnte, als es die geringe Zahl ihrer Mitglieder anderenfalls erlaubt hätte. Auf die politische Entwicklung in Nordrhein-Westfalen konnte sie dennoch nur sehr indirekt über die Unterstützung und Mitarbeit in den neuen sozialen Bewegungen Einfluss nehmen.37 Die DKP in Nordrhein-Westfalen trug sozialstrukturell das Gesicht einer »Doppel-Partei«.38 Ihre Mitgliedschaft rekrutierte sich zum einen wesentlich aus den Reihen der illegalen, in den alten Industriearbeitermilieus verwurzelten KPD, die weitgehend in der DKP aufging. In den Führungsämtern der Partei auf Länder- und Bundesebene dominierten eindeutig Vertreter der »FDJ-Generation«.39

1983, S. 901–981. Vgl. auch Fülberth, S. 107–116; Helmut Bilstein/Sepp Binder/Manfred Elsner/Hans-Ulrich Klose/Ingo Wolkenhaar: Organisierter Kommunismus in der Bundesrepublik Deutschland. DKP – SDAJ – MSB-Spartakus, Opladen 1972, S. 11–13. 35 Die Zahlen sind den Berichten des Bundesverfassungsschutzes sowie der Parteitags- protokolle der DKP entnommen. Leider lassen sich derzeit keine gesonderten Angaben für die Landesorganisation Nordrhein-Westfalen machen. 36 Siehe Uwe Backes/Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und Frankfurt a. M. 1993, S. 156. Ihr bestes Ergebnis bei Land- tagswahlen erreichte die DKP 1971 mit 3,1 Prozent im Bundesland Bremen: Heimann, S. 958 f. 37 Roik, S. 253–366. 38 Fülberth: KPD, S. 117. 39 Siehe Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 19.4.1969: Die ›FDJ-Generation‹ ist führend in der DKP. Den Begriff gebrauchen auch Heimann, S. 973; Fülberth, S. 139.

342 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

Diese Funktionäre waren zumeist in kommunistisch orientierten Familien nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen und hatten Anfang der 1950er Jahre über die Mitgliedschaft in der kommunistischen Jugendorganisation FDJ zur Partei gefunden. Viele von ihnen siedelten nach dem Parteiverbot in die DDR über, um dort eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Sie bewegten sich mental fest in der Parteitradition der alten KPD und waren geprägt durch die Erfahrungen der Verfolgung und Illegalität in den 1950er Jahren und durch das DDR-Exil.40 Neben dieser Gruppe gelang es der DKP jedoch zum anderen auch, in einem gewissen Umfang jüngere Menschen an sich zu binden, vor allem junge Intellektuelle und Studenten, die durch die außerparlamentarische Bewegung der 1960er Jahre geprägt worden waren. Letztere waren vor allem im »Marxistischen Studentenbund Spartakus« (MSB Spartakus) organisiert, der an vielen Hoch- schulen über einen gewissen Einfluss in der Studentenschaft verfügte. Neben den traditionellen Arbeiterstadtteilen- und gemeinden bildeten Universitätsstädte relative Hochburgen der DKP.41

6. Perspektiven

Mit dem Zusammenbruch der DDR zerfiel auch die DKP, die auf finanzielle Unterstützung aus der DDR angewiesen war. Ein Teil der Mitgliedschaft schloss sich in den 1990er Jahren der PDS und dann der Linkspartei an, die somit zu einem Teil das politische Erbe von KPD und DKP in Nordrhein-Westfalen ver- waltet42, auch wenn die DKP als Splitterpartei mit wenigen hundert Mitgliedern weiterhin existiert. Geprägt haben KPD/DKP die Landespolitik vor allem mittel- bar. Das Scheitern einer linkssozialistischen Alternative zur SPD trug mit dazu bei, dass Nordrhein-Westfalen und besonders das Ruhrgebiet zu Hochburgen der Sozialdemokratie werden konnten, nachdem sie in der Region vor 1933 auf- grund der Konkurrenz von KPD und Zentrum unterdurchschnittlich erfolgreich

40 Fülberth, S. 139–143. Zur Überführung der illegalen KPD in die DKP siehe Ernst N. Ehrenberg: Die Bündnispolitik der Deutschen Kommunistischen Partei mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund, Würzburg 1977, S. 43 f. 41 Torsten Kram: Vom Debattierclub zur Stadtratspartei. Die DKP Oppenheim und ihre kommunalen Erfolge zwischen 1974 und 1989, in: Archiv für Sozialgeschichte, 35 (1995), S. 291–324. 42 Siehe das Kapitel von Tim Spier in diesem Band.

343 Till Kössler gewesen war.43 Zahlreiche ehemalige Kommunisten schlossen sich zudem nach ihrer Abkehr von der KPD der Sozialdemokratie an und stärkten den Arbeit- nehmerflügel in der Partei. Der Niedergang des organisierten Kommunismus in Nordrhein-Westfalen war dabei keine historische Zwangsläufigkeit. Es waren nicht nur ein in seiner Reich- weite schwer zu bestimmender Antikommunismus und die Wohlstandsgewinne der 1950er Jahre, sondern wesentlich auch die widersprüchliche Stellung der Partei zwischen den vielfältigen Forderungen der Mitgliederbasis und breiteren Wählerschaft einerseits und deutschlandpolitischen Interessen der DDR anderer- seits, die für den Niedergang der KPD und den ausbleibenden Erfolg der DKP in Nordrhein-Westfalen verantwortlich waren.

43 Karl Rohe: Vom sozialdemokratischen Armenhaus zur Wagenburg der SPD. Politischer Strukturwandel in einer Industrieregion nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft, 13 (1987), S. 508–534; Rainer Bovermann: Das »rote« Rathaus. Die »Sozialdemokratisierung« des Ruhrgebiets am Beispiel Dortmund 1945–1964, Essen 1995.

344 Ute Schmidt links: Ute Schmidt rechts: NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde Die Deutsche Zentrums-Partei

1. Einleitung1 Mit der Wiedergründung der Deutschen Zentrums-Partei (DZP, kurz auch: Zentrum) am 14. Oktober 1945 in Soest/Westfalen nahmen ehemalige Zentrums- mitglieder die Tradition ihrer 1870 gegründeten Partei, die sich am 5. Juli 1933 selbst aufgelöst hatte, wieder auf. In der Konkurrenz mit der neu entstandenen interkonfessionell-christlichen CDU, die auch vom katholischen Klerus unter- stützt wurde, schrumpfte die Zentrumspartei zu einer nur noch in den ehe- maligen Zentrumshochburgen in Westfalen, im Rheinland und in Niedersachsen verankerten Regionalpartei. Mitglieder- und Wählerschwund, Überalterung sowie das Ziel, ihre bundespolitische Existenz zu sichern, zwangen die Partei in den 1950er Jahren nicht nur zu Wahlabkommen mit der CDU auf Landes- und Bundesebene, sondern auch zu Fraktionsgemeinschaften und Fusionen mit anderen Regional- und Kleinparteien. Diese Bündnisse trugen jedoch dazu bei, das politische Profil der Zentrumspartei weiter zu verwischen, und konnten ihren kontinuierlichen Bedeutungsverlust nicht aufhalten. Bis Anfang der 1950er Jahre war das Zentrum eine traditionsgebundene konfessionelle Partei mit teiloppositionellen Zügen. In ihrer Führung agierten sowohl katholische »Zentrumstraditionalisten« als auch Exponenten des linken Zentrumsflügels der Weimarer Zeit. Obwohl die DZP in ihrer Programmatik versuchte, Alternativen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie

1 Dieses Kapitel basiert auf folgenden Publikationen: Ute Schmidt: Die Deutsche Zentrums- Partei, in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutsch- land 1945–1980. Band 1: AUD bis EFP, Opladen 1983, S. 1192–1242; Dies.: Die Deutsche Zentrums-Partei, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-West- falen, Köln u. a. 1985, S. 166–170; Dies.: Zentrum oder CDU. Politischer Katholizismus zwischen Tradition und Anpassung, Opladen 1987; Dies.: Zentrumspartei oder Union – Zur Archäologie eines Parteienkonflikts nach 1945, in: M. Frese/M. Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 649–665.

345 Ute Schmidt zur Wiedervereinigungs- und Verteidigungspolitik der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung unter Konrad Adenauer zu entwerfen, verengte sie sich später zunehmend zu einer konservativ-katholisch vorgeprägten und mittel- ständisch orientierten Kommunalpartei. Da sich aber das katholische Milieu, das sie repräsentierte, in den fünfziger und sechziger Jahren weiter auflöste, verlor die Partei auch in ihren einstigen Hochburgen bald jegliche politische Resonanz.

2. Gründung 2.1 Vorgeschichte und Bedingungen der Neugründung

Die Entwicklung der historischen Zentrumspartei war eng verbunden mit der Geschichte des politischen Katholizismus in Deutschland. In den Jahren des »Kulturkampfs« hatte sie sich im »kleindeutschen« Reich Bismarck’scher Prägung unter der Führung von Ludwig Windthorst als das wichtigste politisch- organisatorische Instrument kirchlich-katholischer Interessenvertretung und als Sprachrohr der katholischen Bevölkerung profiliert. Als konfessionsgebundene, aber klassenübergreifende und regionale Unterschiede überbrückende »Volks- partei« stellte das Zentrum in der deutschen Parteienlandschaft des Kaiser- reichs einen neuen Typus dar. Mit Hilfe der in den 1890er Jahren gegründeten außerparlamentarischen christlichen Massenorganisationen (»Volksverein für das katholische Deutschland«, »Katholische Arbeitervereine« und »Christliche Gewerkschaften«) entwickelte es sich zur »Massen- und Integrationspartei«. Die Hochburgen der Partei lagen in den katholischen Regionen West- und Süddeutschlands sowie in Oberschlesien. Im Gebiet des heutigen Nordrhein- Westfalens gewann die Zentrumspartei bei der Reichstagswahl 1874 sogar einen Stimmenanteil von 38,3 Prozent, d. h. zehn Prozent mehr als im Reichsdurch- schnitt.2 Die Zentrumspartei war eine bedeutende politische Kraft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in der sie fünf Reichskanzler stellte. Inner- parteiliche Interessenkonflikte und politische Gegensätze schwächten jedoch ihre Integrationskraft. Ihr Stimmenanteil schrumpfte seit den Reichstagswahlen

2 Vgl. Karl Rohe: Die Vorgeschichte: Das Parteiensystem in den preußischen Westprovinzen und in Lippe-Detmold 1871–1933, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nord- rhein-Westfalen, Köln 1985, S. 22–47, hier S. 25.

346 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

1874 bis zur Märzwahl 1933 um mehr als die Hälfte auf 11,3 Prozent. Hier fällt besonders der dramatische Rückgang im »historischen Nordrhein-Westfalen« und speziell im Rheinland ins Auge: Während sich das westfälische Zentrum zwischen 1912 und 1933 mit einem Verlust von fünf Prozent noch relativ gut behauptete, verzeichnete die Partei im Rheinland im selben Zeitraum einen Rückgang um das Dreifache (von 38,6 % auf 24,7 %, d. h. um knapp 14 %).3 Der Versuch, die »rissige« Partei mit Hilfe der bewährten weltanschaulichen Klammer zusammenzuhalten, führte zu einer »Massierung« von Klerikern in Führungspositionen, da diese vermeintlich keine Gruppeninteressen vertraten und integrierend wirken sollten. Das Problem der geistlichen Führerschaft verkörperte sich in Prälat Ludwig Kaas, der von 1928 bis 1933 als Parteivor- sitzender amtierte und in der kritischen Endphase der Weimarer Republik seiner politischen Führungsrolle nicht gewachsen war.4 Am 23. März 1933 stimmte das Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zu und löste sich am 5. Juli 1933 in »glanz- loser Resignation« (Theodor Heuss) selbst auf. Die Kundgebung des deutschen Episkopat vom 28. März 1933 hatte das Ermächtigungsgesetz »auch ›geistlich‹ legitimiert und einer politischen Opposition gegen das neue Regime den inneren Rückhalt entzogen«.5 Die kampflose Selbstpreisgabe überschattete nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Frühsommer 1945 die Diskussionen über einen parteipolitischen Neubeginn im Nachkriegsdeutschland.

2.2 Wiederbegründung des Zentrums oder parteipolitischer Neubeginn?

Nach der Niederlage des NS-Regimes entschieden sich im Sommer 1945 in Rhein- land-Westfalen ehemalige Zentrumspolitiker und christliche Gewerkschafter, katholische Verbandsfunktionäre und Kleriker gegen die Wiederbegründung der 1933 untergegangenen Zentrumspartei und für die Neugründung einer christ-

3 Vgl. ebd., S. 36. Rohe bezeichnet die Schrumpfung des Lagers des politischen Katholizis- mus als »das eigentlich aufregende Phänomen zur Zeit der Weimarer Republik in diesem Land«. 4 Vgl. Rudolf Morsey: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und »Nationaler Erhebung« 1932/33, Stuttgart/ Zürich 1977, S. 27–33. 5 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung, in: G. Jasper (Hg.): Von Weimar zu Hitler 1930–1933, Köln/Berlin 1968, S. 317–343, hier S. 341 f.

347 Ute Schmidt lich-demokratischen Partei (die spätere CDU).6 Mit der geplanten Ausweitung des traditionsreichen Zentrums zu einer interkonfessionellen bürgerlichen Sammlungspartei waren jedoch viele Zentrumsanhänger nicht einverstanden. Sie hielten eine Fortführung des Zentrums als klassenübergreifende Volks- partei und »Partei der Mitte« nach wie vor für notwendig und proklamierten daher am 14. Oktober 1945, dem 75-jährigen Jubiläum der Zentrumsgründung, am historischen Ort im westfälischen Soest erneut die Zentrumspartei. Zum Gründerkreis gehörten Wilhelm Hamacher, Johannes Brockmann, Fritz Stricker, und Bernhard Reismann.7 In der Gründungsphase war für die Befürworter des Zentrums wie auch für die Christlichen Demokraten noch nicht abzusehen, ob sich das Konzept der »Union« in der deutschen Parteienlandschaft langfristig würde durchsetzen können und welche Position die neue Partei im nachkriegsdeutschen Parteien- system einnehmen würde. Die traditionalistischen Zentrumsverfechter um Wilhelm Hamacher – er wurde in Soest zum ersten Vorsitzenden des Nach- kriegszentrums gewählt – hielten die Bemühungen der Christlichen Demokraten um evangelische Kreise zwar für wünschenswert, aber für völlig aussichtslos und sträubten sich daher gegen ein die »ehrwürdige« Parteitradition nur belastendes Experiment. Hamacher strebte stattdessen ein Kartell zwischen der Zentrums- partei und einer sozial gesinnten evangelischen Partei in der Tradition des »Christ- lich-Sozialen Volksdienstes« an. Eine andere Gruppierung im Nachkriegszentrum wandte sich gegen die Unionsgründung, weil sie befürchtete, die Verbreiterung der Zentrumsbasis durch die Aufnahme von Protestanten komme einer Öffnung nach rechts im Sinne der »Harzburger Front« gleich. Die protestantischen Rechtskräfte – vor 1933 »Steig- bügelhalter« der Nationalsozialisten und nach 1945 politisch diskreditiert – sollten sich nicht in einer interkonfessionellen Sammlung verbergen können, sondern gezwungen werden, sich in einer Rechtspartei zu organisieren. Vor der Bildung einer interkonfessionellen Mitte-Rechts-Partei wurde gewarnt, weil sie zwangs- läufig zur Polarisierung des Parteiensystems in einen »Bürgerblock« und einen »Block der Marxisten« führe. Das Christentum werde von einer solchen »Union«

6 Siehe das Kapitel von Martin Florack in diesem Band. 7 Neben Hamacher, vor 1933 Reichsrat und Generalsekretär des Rheinischen Zentrums, hatten auch die anderen Mitglieder des Gründungskreises bereits im Weimarer Zentrum Parteifunktionen ausgeübt.

348 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde nur als »Deckfarbe« für eine überlebte bürgerliche Politik missbraucht. Dem- gegenüber wollte das Zentrum die republikanisch-demokratische Tradition aus der Weimarer Zeit fortführen und als echte Integrationspartei soziale Interessens- gegensätze wie politische Fronten ausgleichen und langfristig überwinden.8 Als Exponent dieser so genannten »Essener Richtung« gewann seit Anfang 1946 Carl Spiecker9 – ein profilierter Linksrepublikaner der Weimarer Koalition und Weggefährte des früheren Reichskanzlers Joseph Wirth (1921/22) – zunehmenden Einfluss auf die Zentrumsführung und die Formulierung der Parteiprogrammatik. Spiecker hielt es für möglich, die Zentrumsbasis um Teile des demokratischen Bürgertums und der Arbeiterschaft zu erweitern und das Zentrum zu einer sozial- fortschrittlichen, demokratischen Partei links von der CDU fortzuentwickeln. Er betonte deshalb den primär politischen, nicht-konfessionellen Charakter des Zentrums. Politik und Programmatik des Zentrums sollten sich nicht auf die christliche Weltanschauung, sondern auf das – freilich im katholischen Sinne verstandene – Naturrecht stützen, das eine breitere weltanschauliche Basis als das Christentum biete. Bot die Abgrenzung nach rechts auch die Legitimation für die Gründung des Nachkriegszentrums, so gelang es der Partei in den folgenden Jahren nicht, sich programmatisch und politisch als linke Alternative zur CDU zu profilieren. Vielmehr blieb sie in ihrer Außendarstellung widersprüchlich und geriet schon bald ins Spannungsfeld von CDU und Kirche. Die CDU bekämpfte sie vor den ersten Kommunalwahlen in der britischen Zone 1946 gleichzeitig als überlebte Traditionspartei wie auch als weltanschaulich nicht gebundene Partei, die mit einem annektierten Namen Politik im Schlepptau der SPD mache und eine Irre- führung des katholischen Zentrumsvolks sei.

8 Vgl. Deutsche Zentrums-Partei (Hg.): Volk ohne Mitte? Das Zentrum im Kampf, Essen 1947, S. 53; Schmidt: Zentrum oder CDU, S. 237–243. 9 Carl Spiecker war von 1919 bis 1922 Staatskommissar in Oberschlesien, anschließend Ver- lagsdirektor der führenden Tageszeitung des Zentrums »Germania«, Leiter der Presse- abteilung der Reichsregierung, Ministerialdirektor in der Reichskanzlei, 1928 Vorstands- mitglied im »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«, 1930/31 unter der Regierung Brüning Sonderbeauftragter des Reiches für die Bekämpfung des Nationalsozialismus. 1933 wegen »nationaler Unzuverlässigkeit« entlassen, Emigration nach Frankreich, England, in die USA und nach Kanada. Nach Deutschland zurückgekehrt, beteiligte er sich am Wieder- aufbau der Zentrumspartei.

349 Ute Schmidt

Ausschlaggebend für die Durchsetzung der CDU und den Niedergang des Zentrums in Nordrhein-Westfalen war freilich die Option führender katholischer Kleriker und Kirchenpolitiker für die interkonfessionelle Sammlung. Das Unions- modell schien ihnen besser geeignet, den gestärkten Linksparteien zu begegnen und den – trotz Konkordat (1933) verlorenen – kirchlich-katholischen Einfluss auf das Erziehungswesen und die öffentliche Moral im Nachkriegsdeutschland zu sichern. Der Verlust des traditionellen Rückhalts der Amtskirche reduzierte die Entwicklungsmöglichkeiten des Nachkriegszentrums erheblich und erschwerte seine organisatorische Konsolidierung. Anfang der 1950er Jahre zeigten sich katholisch-kirchliche Stellen jedoch wieder daran interessiert, die DZP in die »christliche Front« zur Absicherung ihrer kirchen- und schulpolitischen Ziele in der nordrhein-westfälischen Landesverfassung einzubinden und auch auf Bundesebene zwischen CDU und Zentrum zu vermitteln.10

3. Entwicklung und Wahlergebnisse11 3.1 Bundes- und Landesebene

Seit 1945 traten immer wieder einzelne Zentrumsrepräsentanten, Mandatsträger, aber auch ganze Ortsgruppen zur inzwischen gefestigten christlichen Konkurrenz- partei CDU über. Grund für die Übertritte in NRW war teilweise auch das Ziel, den linken Flügel in der CDU um Karl Arnold zu stärken. Bereits um die Jahres- wende 1947/48 wurde hier eine Fusion beider Parteien erwogen. Ende 1948 boten Karl Arnold und Konrad Adenauer dem Zentrum aus wahltaktischen und partei- strategischen Gründen im Fall einer Fusion verbindliche Zusicherungen für eine angemessene Repräsentation in jeder zukünftigen NRW-Landesregierung an. Spiecker und seine Anhänger hatten – nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen in der Endphase der Weimarer Republik – den Versuch unternommen, dem Zentrum ein neues Selbstverständnis und eine neue politische Funktion zu geben, die es von klerikaler Unterstützung unabhängig machte. Als sie ihre Bemühungen scheitern sahen, erschien ihnen die Fusion mit der CDU als eine letzte Möglich- keit, ihrer politischen Richtung, aber auch Zentrumspositionen überhaupt, zu einer politischen Wirkung zu verhelfen. Nachdem dieser Fusionsversuch von der

10 Zu dieser Doppelgleisigkeit vgl. Schmidt: Zentrum oder CDU, S. 312 f. und S. 336. 11 Siehe die Wahlergebnisse im Anhang A.

350 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

Mehrheit der Delegierten auf dem Oberhausener Parteitag am 30. Januar 1949 abgelehnt worden war, trat die als »Essener Richtung« bezeichnete Gruppierung um Spiecker aus dem Zentrum aus und im April 1949 zur CDU über. Die Abspaltung der »Essener« stärkte den zahlenmäßig ohnehin gewichtigeren traditionalistischen Zentrumsflügel und bewirkte eine allmählichere Verlagerung der Zentrumspolitik auf die Vertretung hauptsächlich kultur- und kommunal- politischer Interessen. Diese Tendenz setzte sich fort, nachdem im November 1952 auch Helene Wessel, damals Partei- und Fraktionsvorsitzende des Zentrums im Deutschen Bundestag, wegen der Auseinandersetzungen um ihre Mitarbeit in der »Notgemeinschaft für den Frieden Europas« ihren Austritt aus der Partei erklärt hatte; sie trat 1957 der SPD bei. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1953 verstärkte sich der Druck von Kirchen- vertretern und CDU-Politikern, die eine Einigung von Zentrum und CDU forderten, um die »kulturpolitische Mehrheit« im nordrhein-westfälischen Land- tag zu erhalten und auch auf Bundesebene möglichst viele »christliche Mandate« zu erzielen. Vermittelt durch katholische Geistliche kam ein Wahlbündnis von Zentrum und CDU für die Bundestagswahl zustande, das dem DZP-Vorsitzenden Johannes Brockmann im Wahlkreis Oberhausen ein Direktmandat sicherte. Als Gegenleistung für die Unterstützung der CDU verzichtete die DZP darauf, eigene Kandidaten in allen übrigen Wahlkreisen zu nominieren und reichte nur in Nordrhein-Westfalen eine Landesliste ein. Auf diese Weise zog einerseits das Zentrum in der zweiten Legislaturperiode noch einmal in den Bundestag ein. Andererseits trug das Abkommen mit dazu bei, dass die Partei in der politischen Auseinandersetzung mit der CDU zusehends aktionsunfähig wurde. Im Februar 1954 trafen sich nordrhein-westfälische Zentrumspolitiker erneut mit prominenten Geistlichen, die ein Wahlbündnis von Zentrum und CDU für die kommenden Landtagswahlen anstrebten. Mit Rücksicht auf die Verbitterung vieler enttäuschter Zentrumsanhänger, die die ungünstigen Auswirkungen des Wahlabkommens mit der CDU zur Bundestagswahl 1953 heftig kritisiert hatten, sprach sich die Zentrumsführung jedoch gegen derartige Abkommen aus.12 Sie versuchte stattdessen, durch Bündnisse mit der »Christlichen Volkspartei des Saarlandes« (1956/57) und 1957/58 mit der »Bayernpartei« unter dem Namen »Föderalistische Union« (FU) zum Kristallisationskern einer Alternativpartei zur

12 Auf lokaler Ebene kam es teilweise zu Wahlabsprachen mit der CDU.

351 Ute Schmidt

CDU zu werden und enttäuschte CDU-Wähler aufzufangen. Vor der Bundes- tagswahl 1957 hatte sie zudem versucht die SPD zu Wahlabsprachen zu bewegen. Nach der schweren Niederlage der FU bei der Bundestagswahl 1957 schied die DZP endgültig aus dem Bundestag aus. Im März 1958 traten sechs von ins- gesamt neun Landtagsabgeordneten der DZP in NRW zur CDU über. Anlässlich der Bundestagswahl 1961 stellte das Zentrum keine eigenen Kandidaten mehr auf. Während einige Zentrumsanhänger aus Sympathie für das außenpolitische Konzept der »Deutschen Friedensunion« (DFU) für diese Partei votierten, empfahl die Parteileitung die Unterstützung der »dritten Kraft«, also der bisher bekämpften FDP, um eine Alleinherrschaft der Union zu verhindern. 1965 startete die DZP noch einmal den Versuch, zusammen mit der am 17. Juli 1965 auf Bundesebene konstituierten »Christlichen Volkspartei des Saar- landes« (CVP) eine Partei zu gründen. Trotz vereinzelter Erfolge auf lokaler und regionaler Ebene waren die Chancen für die Durchsetzung einer politischen Dachorganisation der »föderalistischen« Parteien auf Bundesebene jedoch gering. In den 1970er Jahren trat das Zentrum bei Bundestagswahlen nicht mehr in Erscheinung. 1972 hatte es zur Wahl der CDU aufgerufen. Die DZP kandidierte erst wieder bei den Europawahlen, bei denen sie in Nordrhein-Westfalen 1979 auf 0,2 Prozent, 1984 auf 0,5 Prozent und 2004 auf 0,1 Prozent kam. Schon vor der bundespolitischen Wahlniederlage 1957 bewegte sich die DZP auch bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen unter- halb der Fünf-Prozent-Marke. Der Schrumpfungsprozess bewirkte, dass sich die DZP-Gliederungen in den restlichen Stammgebieten der Partei vollends in die Kommunalpolitik zurückzogen. Bündnisse und Wahlabsprachen auf der Gemeinde-, Stadt- und Kreisebene wurden zumeist, ohne verbindliche inner- parteiliche Willensbildung, den lokalen Parteigremien überlassen.

3.2 Kommunalpolitik

Wenngleich das Nachkriegszentrum seine bundespolitische Bedeutung bis 1957 eingebüßt hatte, so blieb es in seinen Stammlanden in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in den 1950er Jahren ein nicht zu vernachlässigender Faktor und eine starke Konkurrenz für die CDU. In ländlich-katholischen und gemischt konfessionellen Regionen, aber auch in mittelgroßen Städten und Industrie- bezirken mit überwiegend katholischem Bevölkerungsanteil (z. B. Oberhausen, Gelsenkirchen, Essen, Mönchengladbach, Rheydt, Viersen, Bocholt, Münster) gewann das Zentrum bei Kommunalwahlen bis in die 1950er Jahre hinein beacht-

352 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde liche Stimmenanteile zwischen zehn und zwanzig Prozent (vgl. Tab. 1). Bei der Landtagswahl 1947 hatte es in den Landkreisen Münster mit 40,7 Prozent und Coesfeld mit 41,2 Prozent der Stimmen die CDU überflügelt und zwei Direkt- mandate gewonnen. Bis Mitte der 1950er Jahre stellte es einen ansehnlichen Teil der kommunalen Mandatsträger, in Oberhausen mit Otto Pannenbecker sogar den Oberbürgermeister. Bild: Tab 1

Tabelle 1: Anteil gewählter Zentrums-Vertreter bei den Wahlen zu den Vertretungen der kreisfreien Städte und Landkreise in Nordrhein-Westfalen Verwaltungsbezirke mit überdurch- Wahljahr schnittlich hohem Ergebnis in % 1946 1948 1952 1956 Kreisfreie Stadt Essen 3,7 16,0 7,6 — Gelsenkirchen 2,2 14,3 — — Mönchen-Gladbach 2,6 23,2 14,3 4,8 Oberhausen 9,5 26,5 18,7 8,3 Rheydt 6,1 20,0 14,3 7,1 Viersen 7,4 21,8 16,7 — Landkreis Kempen Krefeld 4,2 19,6 14,0 10,0 Monschau 13,9 14,3 16,7 14,8 Rees 5,1 19,4 13,6 6,8 Siegkreis 20,8 29,3 21,8 12,0 Kreisfreie Stadt Bocholt 7,4 33,4 20,0 13,9 Münster 8,3 27,3 11,9 7,1 Landkreis Ahaus 2,4 33,3 20,0 19,4 Borken 10,2 27,3 27,5 23,1 Coesfeld 23,1 41,7 27,3 23,3 Münster 30,9 41,9 24,4 22,7

353 Ute Schmidt

Verwaltungsbezirke mit überdurch- Wahljahr schnittlich hohem Ergebnis in % 1946 1948 1952 1956 2,0 11,1 8,0 6,7 Steinfurt 4,8 28,6 23,9 19,5 Tecklenburg 31,0 25,6 17,8 14,6 Warendorf 20,5 34,4 21,6 22,2 Büren 5,1 28,6 34,3 22,8 Höxter 7,1 23,8 19,6 14,9 Paderborn 14,2 29,3 25,5 18,0 Warburg 13,8 34,1 21,9 3,7 Kreisfreie Stadt Iserlohn 3,3 16,2 15,2 9,8 Landkreis Arnsberg 4,4 18,2 14,0 8,9 Brilon 5,1 28,6 19,1 15,0 Iserlohn 2,2 14,7 13,3 7,3 Olpe 2,4 21,0 12,5 8,3 Soest 21,4 27,8 17,8 12,2 Nordrhein-Westfalen gesamt 3,5 10,7 6,9 4,0

Quelle: Eigene Darstellung. Ute Schmidt: Die Deutsche Zentrums-Partei, in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. Band 1: AUD bis EFP, Opladen 1983, S. 1224.

In den 1950er Jahren drängte die CDU die DZP allerdings auch in den agrarischen, klein- und mittelstädtischen Zentrumshochburgen immer mehr zurück. In den Industriestädten verlor die DZP zudem Stimmen an die SPD. Hatte die Zentrumspartei bei den Kommunalwahlen 1948 in Nordrhein-West- falen noch gut zehn Prozent der Mandate gewonnen, so stellte sie 1952 gerade noch sieben Prozent der Kommunalvertreter. Sie hatte in lediglich 64 von 93 Wahl- kreisen eigene Kandidaten aufgestellt (teilweise in Listenverbindungen mit der CDU) und erhielt nach eigenen Angaben 2.228 von insgesamt 24.000 Mandaten in den nordrhein-westfälischen Landgemeinden. Bei den Kommunalwahlen 1956

354 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde erreichte die DZP nur noch vier Prozent der Mandate. 1961 – mancherorts als »Christliche Wählergemeinschaft« angetreten – sank ihr Anteil auf 1,4 Prozent. Seit 1964 lagen die Ergebnisse unter einem Prozent. 1970 stellte die Partei in Nordrhein-Westfalen noch 700 Mandatsträger, davon 300 in Westfalen; im Jahr 1977 waren es nur noch 41. Diesen Angaben zufolge zählte das Zentrum zeitweise mehr kommunale Mandatsträger als Mitglieder.13

4. Parlamentarische Repräsentanz und Regierungsbeteiligungen Im Wirtschaftsrat der Bi-Zone war das Zentrum zunächst in zwei von insgesamt acht Ausschüssen und im Ältestenrat vertreten. Im Parlamentarischen Rat war es seit dem 1. September 1948 mit zwei (von insgesamt 69) Mitgliedern repräsentiert. Die nordrhein-westfälische Zentrumsabgeordnete Helene Wessel14 war eine der »Mütter des Grundgesetzes«. Im 1949 gewählten ersten Bundestag stellte die Partei zehn von insgesamt 409 Abgeordneten. In den zweiten Bundestag konnte sie nur noch zwei Abgeordnete entsenden.15 In den nordrhein-westfälischen Landesregierungen war die Zentrumspartei von 1946 bis 1958 kontinuierlich vertreten. Im August 1946 wurde Rudolf Amelunxen (parteilos, ab 1947 DZP) von der britischen Militärregierung mit der Bildung eines Allparteien-Kabinetts beauftragt. Die Zentrumsvertreter Wilhelm Hamacher und Fritz Stricker16 wurden Kultus- bzw. Verkehrsminister. Im zweiten Kabinett Amelunxen (1946/47) bekleidete Stricker wiederum das Amt des Verkehrsministers; er war auch Landespressechef. Im ersten Kabinett des CDU-Politikers Karl Arnold (1947–1950) erhielt die DZP zwei Kabinetts-

13 Schmidt: Die Deutsche Zentrums-Partei, 1983, S. 1225. 14 Helene Wessel, Fürsorgerin, wirkte von 1915–1928 als Parteisekretärin des Zentrums in Dortmund-Hörde, 1928–1933 Abgeordnete im Preußischen Landtag. 1946–1950 MdL in NRW, 1949 MdB, 1949–1952 DZP-Vorsitzende. 1951 Mitbegründerin der »Notgemein- schaft für den Frieden Europas«. 1957–1965 MdB (SPD). 15 Aufgrund eines Wahlabkommens mit der CDU erhielt die DZP drei Mandate, von denen eines einem CDU-Vertreter zufiel, der im »Huckepack«-Verfahren auf der Zentrumsliste mitgewählt worden war. 16 Fritz Stricker war mehrere Jahre lang Vorsitzender der Stadtverordnetenfraktion in Münster/Westfalen und 1926–1933 Verlagsdirektor/leitender Redakteur der »Münsterischen Morgenpost« im ZENO-Konzern.

355 Ute Schmidt posten: Amelunxen wurde Sozialminister und Carl Spiecker Minister für Bundes- angelegenheiten. Im zweiten Kabinett Arnold (1950–1954) übernahm Amelunxen das Justizministerium, Josef Weber wurde Sozialminister. Im dritten Kabinett Arnold (1954–1956) und in der Regierung des Sozialdemokraten Fritz Steinhoff (1956–1958) verwaltete Amelunxen erneut das Justizministerium. Die Zentrums- partei machte ihren Einfluss vor allem bei der Beratung der nordrhein-west- fälischen Landesverfassung sowie im Vorfeld der Schulgesetzgebung geltend, wobei sie nachdrücklich die kulturpolitischen Interessen der katholischen Kirche verteidigte, ohne damit freilich eine grundlegende Umorientierung des Klerus zu ihren Gunsten zu erreichen.

5. Mitgliederstruktur und Parteiorganisation

Der Entzug der kirchlich-katholischen Unterstützung stellte das Nachkriegs- zentrum vor schier unlösbare Aufgaben: Die neue Situation erforderte nicht nur eine programmatische Neuorientierung, sondern auch den Aufbau eines eigen- ständigen Parteiapparates, die Entwicklung kirchenunabhängiger Mobilisierungs- formen und die Schaffung einer selbstständigen Presse. Charakteristisch für das Zentrum als Honoratiorenpartei waren eine weitgehende Unabhängigkeit der Landes-, Bezirks-, Kreis- und Ortsparteien, eine schwerfällige Parteispitze sowie die mangelhafte Verbindung zwischen Führung und Basis. Die Reorganisations- versuche, die Spiecker als Parteivorsitzender 1948 unternahm, um eine schwere, durch die Währungsreform mitbedingte finanzielle Krise aufzufangen, scheiterten nach dem Oberhausener Parteitag.17 Ein weiteres organisatorisches Dilemma ergab sich aus der Art der ein- gegangenen Wahlbündnisse und Fusionen. Die Notwendigkeit der Konsolidierung der Binnenstruktur und der Zwang zu parteiübergreifender Kooperation über- lagerten sich seit der Gründung der DZP. Dies hatte zur Folge, dass sich die Partei nicht stabilisieren konnte, obwohl sie sich ständig mit Hilfe organisatorischer Umstrukturierungen den veränderten Gegebenheiten anzupassen trachtete (1957 bis hin zur formalen Auflösung der obersten Führungsgremien und der Integration der Landesverbände in die FU). Nach dem Scheitern der kurzfristigen

17 Schmidt: Deutsche Zentrumspartei, 1983, S. 1226 f.

356 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

Kooperationen musste sie dann mit verstärkten Reorganisationsbemühungen selbst um ihre langjährige Anhängerschaft werben.18 Im Lauf des Jahres 1947 konnte sich das Nachkriegszentrum auf der Grund- lage des »Werler Programms« organisatorisch festigen. Um die Jahreswende 1947/48 erreichte die Partei ihren höchsten Mitgliederstand (rund 54.000); bis 1953 ging die Zahl der Mitglieder auf ca. 50.000 zurück. Spätestens 1957 setzte ein starker Mitgliederschwund ein. 1959 rechnete die Partei noch mit ca. 1.000 bis 4.000 Mitgliedern, von denen jedoch nur ein kleiner Teil Beiträge entrichtete oder die Zentrumszeitung bezog. In den 1960er Jahren sank die Zahl der ein- geschriebenen Mitglieder, die Mandate, Ämter und Funktionen für die Partei aus- üben konnten, weiter auf ca. 300 ab.19 Ihrer sozialen Herkunft nach gehörten – nach Einschätzung der Parteiführung – im Jahr 1959 ungefähr zwei Drittel der Mitglieder der »Mittelschicht« an. Darunter subsumierte sie »Mittelständler, freie Berufe, Lehrende aller Art, Bauern und Heuerleute, Arbeiter in festen Arbeits- verhältnissen usw.«. Ein weiteres Drittel setzte sich aus Rentenempfängern, »sozial Schwachen« und Jugendlichen ohne festen oder abgeschlossenen Beruf zusammen. Etwa sechzig Prozent der Mitglieder waren Frauen. Waren in den ersten Nachkriegsjahren – wenngleich in geringerer Zahl als in der CDU – auch katholische Arbeiter in der Zentrumspartei aktiv, so ging ihr Anteil schon bald deutlich zurück.20 Die Politik der DZP war vor allem darauf gerichtet, den Mittelstand für sich zu gewinnen. Die Führung des Nachkriegszentrums unter dem langjährigen Vorsitzenden Johannes Brockmann21 ist bis Ende der 1960er Jahre durch eine starke personelle Kontinuität gekennzeichnet. Im Zuge der Marginalisierung der Partei sowie einem Generationenwechsel bei der Führung des »Neu-Zentrums« kam es seit Mitte der 1980er Jahre zu innerparteilichen Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei, die (1986 und 2009/11) teilweise auch juristisch ausgetragen wurden.

18 Ebd., S. 1226. 19 Ebd., S. 1233 f. 20 Ebd., S. 1234. 21 Johannes Brockmann war von Beruf Volksschullehrer und von 1925 bis 1933 Zentrums- abgeordneter im Preußischen Landtag. Er arbeitete in mehreren katholischen und kommunalpolitischen Verbänden mit und war Vorsitzender des Junglehrerverbandes gewesen. Nach dem Tod von Wilhelm Hamacher übernahm er den Parteivorsitz (1946 bis 1948). Nach dem Rücktritt Helene Wessels war Brockmann von 1952 bis 1969 Vor- sitzender der Zentrumspartei.

357 Ute Schmidt

6. Programmatisches Profil

Die Wiedergründer des Zentrums bezogen sich auf das Soester Programm vom 14. Oktober 1870. Im Übrigen fühlten sie sich der Katholischen Soziallehre ver- pflichtet. Mit dieser Gesellschaftsvorstellung verbindet sich auch föderalistisches Gedankengut. Die Entwicklung der Zentrumsprogrammatik lässt sich in vier Phasen gliedern: a) Phase von 1945 bis 1953: Als »Partei der schöpferischen Mitte und des sozialen Ausgleichs« stellte sich die DZP in die Tradition der Weimarer Zentrumspartei. Sie forderte – »unter Ablehnung eines revolutionären Klassenkampfes« – eine »Neu- und Umgestaltung der Wirtschaftsordnung« zugunsten des »werk- tätigen Volkes in Stadt und Land«.22 Ihre »Zehn Arbeitsziele« waren weitgehend identisch mit den »Kölner Leitsätzen der CDP«. Sie forderten die Überführung einzelner Wirtschaftszweige in Gemeinbesitz, das Recht auf Privateigentum, die Förderung des Mittelstandes sowie der bäuerlichen Kleinbetriebe, eine Wieder- gutmachung der NS-Verbrechen und Kriegsschäden, die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Weitere Forderungen waren Religionsfreiheit, Elternrecht, Bekenntnisschule, »Schutz von Familie und Ehe« als »Keimzelle des Volkes« sowie ein föderativer Aufbau des Staates.23 Das auf dem Werler Parteitag am 16./17. November 1946 beschlossene »Kultur-, Wirtschafts- und Sozialprogramm der Deutschen Zentrumspartei« blieb bis in die fünfziger Jahre hinein verbind- lich. Die Definition der DZP als explizit politische und auf dem Naturrecht basierende Partei zeigt den Einfluss von Carl Spiecker. Religion und Weltan- schauung wurden als Basis für politisch-programmatische Aussagen abgelehnt, da ihnen potentiell die Gefahr totalitärer Tendenzen anhafte. Die kultur-, sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen betrafen die Sicherung der »Personwürde des gemeinschaftsbezogenen Menschen«, die Gliederung der Gesellschaft in »selbst- verwaltete Funktions- und Leistungsgesellschaften« sowie das Mitbestimmungs- recht der Arbeitnehmer und die Fortentwicklung des Arbeitsrechts.24 Die spezi- fische Mischung von kulturpolitisch-konservativen Forderungen und sozial- progressiven Ansätzen macht deutlich, dass sowohl die »weltanschauliche« als

22 Schmidt: Deutsche Zentrums-Partei, 1983, S. 1209. 23 Ebd., S. 1210. 24 Ebd.

358 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde auch die »Essener« Richtung ihre teilweise gegensätzlichen Positionen mehrere Jahre lang nebeneinander vertreten konnten, ohne das Selbstverständnis der Partei in Frage zu stellen. b) Phase 1953 bis 1956: Vor der Bundestagswahl 1953 grenzte sich die DZP erneut von der CDU ab – jetzt in außenpolitischen Fragen. Sie übte methodisch- taktische, aber auch grundsätzliche Kritik an Adenauers Westintegrationspolitik. Die Aktivitäten von Helene Wessel in der »Notgemeinschaft für den Frieden Europas« blieben jedoch heftig umstritten und führten letztendlich zu ihrem Parteiaustritt im November 1952. In der »Kölner Erklärung zur deutschen Politik« vom 7./8. März 1953 wird die föderative Einigung Europas als Voraussetzung für eine internationale Entspannung und für die deutsche Wiedereinigung befürwortet. Der »Generalvertrag« als Kernstück des Deutschlandvertrages wird abgelehnt, weil er die allgemeine Wehrpflicht implizierte. Die DZP plädierte für ein Berufsheer im Rahmen einer begrenzten Wiederbewaffnung und dem Ziel der Selbstverteidigung. Die Wiedervereinigung sollte durch Vier-Mächte- Verhandlungen erreicht werden, eine Neutralitätspolitik wurde abgelehnt. Die »Kölner Erklärung« bezeichnet die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung als unsozial und fordert steuer- und sozialpolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden und benachteiligten Schichten. Die Sozialisierungs- und Mitbestimmungsforderungen aus der ersten Nachkriegszeit waren indes – wie bei der CDU – verschwunden. Erstmals fand sich in einem Zentrumsprogramm die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau. Das bestehende Wahlrecht und die Fünf-Prozent-Klausel wurden abgelehnt. c) Phase 1957 bis 1966: Die folgenden Parteiprogramme stellten kurz vor Bundes- tagswahlen aufgestellte Plattformen für den Zusammenschluss eigenständiger Parteien in einer Dachorganisation dar. Neben früher vertretenen Positionen dominiert hier die Differenz zur Regierungspolitik, ohne sie grundsätzlich zu verwerfen. Adenauers Politik der Stärke wurde abgelehnt und eine überpartei- liche Wiedervereinigungspolitik gefordert, ebenso eine gerechtere Sozialordnung und eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik zugunsten der unteren und mittleren Einkommensgruppen. d) Phase seit 1966: Nach dem Scheitern sämtlicher Sammlungsversuche blieb dem in seinen letzten Kerngebieten zum Traditionsverein geschrumpften Zentrum nur noch übrig, auf den alten Grundsätzen zu beharren und auf das »Werler Programm« als Legitimation für seine weitere Existenz am Rande des bundesrepublikanischen Parteiensystems zurückzugreifen. In den »Grundsatz-

359 Ute Schmidt programmen« vom 28. Mai 1966 und vom 27. Oktober 1974 bot sich die DZP aufs Neue als politische Heimat für enttäuschte Wähler an.

7. Ausblick: Das »Neue Zentrum«

Die Nachfolgeorganisation der DZP sieht sich in der Zentrumstradition, ist aber als Kleinstpartei heute nur noch vereinzelt präsent. Die Mitgliederzahl wird für 2012 mit ca. 600 angegeben.25 Seit den 1970/80er Jahren mobilisiert das »Neu- Zentrum« bei Wahlen kaum noch Anhänger (Stimmenanteil in NRW: 0,0 bis 0,1 Prozent). Auf europäischer Ebene ist die Partei Mitglied der »Europäischen Christlichen Politischen Bewegung« (ECPM). 2007 wurde über eine Fusion mit der »Partei Bibeltreuer Christen« verhandelt. Das Scheitern der Fusion wie auch die umstrittene Kooperation mit ehemaligen Mitgliedern der »Schill-Partei« und der »STATT Partei« bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2008 führten zu innerparteilichen Streitigkeiten und Abspaltungen, die 2009 auch vor dem Bundeswahlleiter ausgebreitet wurden. Die programmatischen Aussagen der »Neuen Zentrumspartei« richten sich an enttäuschte christlich-konservative Wählergruppen und Nichtwähler. Die Partei will in ihrer politischen Arbeit »christliche Grundsätze für Staat und Gesellschaft umsetzen«.26 Maßgebliche Ziele sind der Schutz des »ungeborenen Lebens«, die Förderung von Ehe und Familie, eine auf Solidarität und Subsidiarität aufgebaute Sozialordnung sowie die Wahrung des gesellschaftlichen Auftrags der Kirchen. Abtreibung, Sterbehilfe, Genmanipulation und Stammzellenforschung werden strikt abgelehnt. Die Partei fordert die Stärkung staatlicher Organe im Bereich der Inneren Sicherheit und bei der Handhabung des Asylrechts. Sie übt auch Kritik an der Finanzpolitik der Europäischen Union und an den Folgen der Globalisierung sowie an der »Verstaatlichung der Erziehung«. Seit ihrer Wiedergründung stand die Zentrumspartei im Konkurrenzverhält- nis zur neugegründeten Christlich Demokratischen Union, die ihr große Teile ihres Wählerpotentials und des politischen Personals entzog und zudem von der katholischen Kirche unterstützt wurde.27 Das Nachkriegszentrum hätte sich im

25 Stand: Februar 2012 (Wikipedia, DeutscheZentrumspartei). 26 Grundsatzprogramm der Neuen Zentrumspartei, online unter: www.zentrumspartei.de/ programm, Stand: 20.3.2013. 27 Siehe das Kapitel von Martin Florack in diesem Band.

360 NRW-Landtagsparteien der ersten Stunde

Parteiensystem der Bundesrepublik nur dann stabilisieren können, wenn es ihm gelungen wäre, sich in der Auseinandersetzung mit der CDU als soziale und demokratische Partei zu profilieren und die regionale Begrenzung auf einige Hochburgen in Westfalen, am Niederrhein, in einigen Ruhrgebietsstädten und in Niedersachsen zu durchbrechen. Dieser Kurs wurde jedoch nur von Teilen der Parteiführung konsequent vertreten und stieß bei der Mehrheit der traditionalistischen Anhängerschaft auf wenig Verständnis. Konnte das Zentrum bis in die 1950er Jahre hinein noch eine landespolitische Funktion erfüllen, so hatte es bald nur noch eine begrenzte Bedeutung als Kommunalpartei in den überwiegend katholischen und agrarischen Regionen Nordrhein-Westfalens. Gegenwärtig ist das Zentrum in seinen früheren Stammlanden nur noch verein- zelt regional und lokal präsent.

361

Katharina Hanel und Nadja Wilker links: Katharina Hanel und Nadja Wilker rechts: Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen Die »Sonstigen«

1. Außenseiter jenseits der Fünf-Prozent-Hürde? BIG, FAMILIE, Liberale Demokraten, ödp, Partei der Vernunft – wer und was sich hinter diesen Namen und Kürzeln verbirgt, wissen die wenigsten Bürger; auch die politikwissenschaftliche Forschung tut sich mit ihnen schwer. Bei der Wahl zum nordrhein-westfälischen Landtag 2012 sind insgesamt 17 Parteien mit Landeslisten angetreten, bei der Wahl 2010 waren es sogar 25. In den Medien und den Wahlanalysen präsent sind davon lediglich die fünf bis sechs Parteien, die bereits im Landtag vertreten sind oder denen eine reelle Chance auf den Einzug in das Parlament zugeschrieben wird. Nur in Ausnahmefällen gelingt es einer Partei außerhalb dieses Spektrums, Aufmerksamkeit und Bekanntheit zu erlangen, z. B. wenn sie eine extreme Position vertritt und/oder überraschend viele Stimmen gewinnen konnte.1 Bei der Vergabe von Sitzen für das nordrhein-westfälische Landesparlament werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben.2 Parteien, die an dieser Hürde regelmäßig scheitern, werden in den Wahlanalysen unter der Kategorie »Sonstige« zusammengefasst und oft als »Splitterparteien«, »die kleinen Parteien« oder »Kleinstparteien« bezeichnet.3 Doch sind sie so irrelevant, wie diese Bezeichnungen vermuten lassen? Auf die »Sonstigen« (inklusive der Linkspartei, die 2,5 Prozent erreichte) entfielen bei der

1 Siehe z. B. die Kapitel zu den rechtsextremistischen Parteien und der Piratenpartei in diesem Band. 2 Das Zweistimmenwahlrecht mit der Wahl von Direktkandidaten und Parteilisten gibt es in NRW erst seit der Wahl 2010. Die Fünf-Prozent-Hürde galt allerdings auch schon beim Einstimmenwahlrecht; eine Partei musste mindestens fünf Prozent aller abgegebenen Stimmen erreichen, um in den Landtag einziehen zu können. Nur 1954 führte eine vorübergehende Änderung des Wahlrechts dazu, dass die Zentrumspartei neun Sitze im Landtag erhielt, obwohl sie insgesamt nur 4,0 Prozent der Stimmen erreichte. 3 Dirk van den Boom: Politik diesseits der Macht? Zu Einfluss, Funktion und Stellung von Kleinparteien im politischen System Deutschlands, Opladen 1999, S. 16.

363 Katharina Hanel und Nadja Wilker

Wahl zum nordrhein-westfälischen Landtag 2012 zusammengerechnet 6,8 Prozent der Zweitstimmen – immerhin jeder 14. Wähler hat somit seine Stimme an eine Partei vergeben, die bei der Sitzvergabe nicht berücksichtigt wurde. Wer sind also diese Parteien in Nordrhein-Westfalen, welche Funktion und welche Zukunftsperspektiven haben sie? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das folgende Kapitel. Dafür wird zunächst der Forschungsstand zu dieser Parteien- gruppe dargestellt und analysiert, wie sich die »Sonstigen« parteientheoretisch ein- ordnen lassen. Daran anknüpfend sollen ihre Entwicklung, Rahmenbedingungen und Perspektiven in Nordrhein-Westfalen erörtert werden.

2. Die Stiefkinder der Parteienforschung

Für den Zeitraum bis zum Ende der 1990er Jahre stellt van den Boom fest, dass die Gruppe der »sonstigen Parteien« in der deutschen wie internationalen Parteienforschung ein vernachlässigter Gegenstand ist.4 Zwar sind in den letzten Jahren zusätzlich zu van den Booms eigener Arbeit einige Untersuchungen zu dem Thema erschienen.5 Es liegen aber weder Gesamtbestandsaufnahmen für Bund und Länder noch tiefergehende Programm-, Mitglieder- oder Wählerana- lysen vor – von wenigen Ausnahmen zu einzelnen Parteien bzw. Gruppierungen abgesehen.6 Diese Forschungslücke lässt sich u. a. damit erklären, dass die Gruppe der »Sonstigen« in sich sehr heterogen und dynamisch ist. Zudem verweist Lucardie auf die Problematik, allgemeine Parteitypologien auf Kleinstparteien

4 Ebd., S. 12. 5 Siehe u. a. Hans-Jörg Dietsche: Die kleineren Parteien im Zweikräftefeld des deutschen Volksparteiensystems, Frankfurt a. M. 2004; Uwe Jun/Henry Kreikenbom/Viola Neu (Hg.): Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M./New York 2006; Jan Köhler: Parteien im Wettbewerb. Zu den Wett- bewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006; oder Andreas Schulz: Kleinparteien in Deutschland. Aufstieg und Fall nicht-etablierter politischer Vereinigungen, Wiesbaden 2004. 6 Vgl. z. B. den Sammelband von Martin Morlok/Thomas Poguntke/Jens Walther (Hg.): Politik an den Parteien vorbei. Freie Wähler und Kommunale Wählergemeinschaften als Alternative, Baden-Baden 2012; oder Heiko Biehl/Uwe Kranenpohl: Große Politik in einer kleinen Partei. Strukturen und Determinanten innerparteilicher Partizipation in der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp), in: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung, 17 (2011), S. 93–109.

364 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen zu übertragen, da diese »manchmal ganz andere Merkmale, zum Teil in über- raschender Weise« kombinieren, als dies etablierte Parteien tun.7 Es gibt auch keine einheitlich verwendete Bezeichnung für diesen Parteitypus: Es kursieren in der wissenschaftlichen Literatur u. a. die Begriffe »Kleinpartei«8, »Kleinstpartei«9 und »nicht-etablierte Kleinpartei«10, wenn von Parteien die Rede ist, die bei Bundes- und Landtagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Um eine Verwechslung mit »kleinen« Parteien wie etwa der FDP oder den Grünen zu ver- meiden, erscheint der Begriff »Kleinstpartei« dabei am besten geeignet und wird im Folgenden verwendet. Während die Abgrenzung des Forschungsgegenstands anhand der Fünf-Pro- zent-Hürde von den meisten Autoren geteilt wird, bleibt zumeist offen, wie oft (hintereinander oder auf einen Zeitraum bezogen) und auf welcher Ebene (Bund, Land und/oder kommunale Ebene) eine Partei den Einzug in ein Parlament schaffen muss, um nicht mehr (oder noch nicht) als Kleinstpartei zu gelten. Das ist vor allem dann problematisch, wenn es um die Einordnung von einzelnen Parteien geht, deren Wahlerfolg sich im Zeitverlauf stark verändert. So sind zum Beispiel die Grünen in den 1980er Jahren als Kleinstpartei ohne parlamentarische Vertretung und Einfluss auf Regierungsentscheidungen gestartet und haben sich über die Landesebene mittlerweile auf Bundesebene und in vielen Bundesländern als drittstärkste Partei etabliert. Die Zentrumspartei dagegen konnte 1947 in NRW noch fast ein Zehntel der Stimmen gewinnen, ist aber seit den 1960ern mit Stimmanteilen weit unter einem Prozent in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Der Begriff der »Kleinstpartei« bezeichnet also vielmehr eine Entwicklungsstufe einer Partei, die sich immer auf einen bestimmen zeitlichen und politischen Kontext bezieht. Diese Entwicklungsstufe ist dadurch geprägt, dass sich eine Partei »aufgrund der rechtlichen, finanziellen, personellen, organisatorischen und programmatischen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit nicht derart im politischen System durchsetzt, da[ss] sie in signifikantem Maße aktiv und gestaltend am

7 Paul Lucardie: Zur Typologie der politischen Parteien, in: F. Decker/V. Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 76. 8 Vgl. van den Boom 1999. 9 Vgl. Olaf Jandura: Kleinparteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2007, S. 20. 10 Vgl. Manfred Rowold/Stefan Immermann: Im Schatten der Macht. Nicht-etablierte Kleinparteien, in: A. Mintzel/H. Oberreuter (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992.

365 Katharina Hanel und Nadja Wilker

Entscheidungsproze[ss] und an der Auswahl politischen Führungspersonals teil- hat«.11 Nach diesem Verständnis sind Kleinstparteien also auch in Hinblick auf ihren Organisationsgrad und ihre finanziellen und personellen Ressourcen von den anderen Parteien abzugrenzen.12 Bei diesen Rahmenbedingungen stellt sich folglich die Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß Kleinstparteien die klassischen demokratietheoretischen Funktionen von Parteien13 erfüllen können – und ob sie dies überhaupt zum Ziel haben. Vor dem Hintergrund ihrer begrenzten Ressourcen reicht es Kleinst- parteien häufig, einen Stimmanteil zu verzeichnen, der zur staatlichen Rück- erstattung der Wahlkampfkosten berechtigt, um zukünftig politisch aktiv bleiben zu können.14 Bei Landtagswahlen muss eine Partei dafür mindestens ein Prozent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen erlangen.15 Mit Blick auf die normativen Funktionen von Parteien sieht van den Boom die Elitenrekrutierungs- und Regierungsbildungsfunktion von Kleinstparteien folglich auf die kommunale Ebene beschränkt.16 Dennoch: Auch Kleinstparteien entwickeln politische Programme, nehmen Interessen von Bürgern auf und bündeln diese in Positionen. Die Artikulation dieser Interessen sowie die Mobilisierung von Wählern können Kleinstparteien allerdings nur in eingeschränktem Ausmaß erfüllen, da sie auf- grund ihrer geringen Ressourcen im Ringen um (mediale) Aufmerksamkeit nicht mit den etablierten Parteien konkurrieren können. So bleibt die Mobilisierung zumeist auf einen kleinen Ausschnitt des Elektorats und die Problemartikulation

11 Van den Boom, S. 21. 12 Diese Kriterien treffen ebenso auf Wählergemeinschaften zu, die in Wahlanalysen auch zu den »Sonstigen« gezählt werden, aber formal-rechtlich nicht als Parteien gelten. Strukturell und funktional können sie Kleinstparteien jedoch sehr ähnlich sein. In diesem Kapitel werden Wählergemeinschaften daher als spezielle Untergruppe der Kleinstparteien in die Betrachtung einbezogen. Vgl. Ingo Naumann: Wählergemein- schaften in einer Parteiendemokratie. Ihre Stellung im politischen System der Bundes- republik Deutschland, Wiesbaden 2012, 34 f., sowie zur Diskussion um die Einordnung und den rechtlichen Status von Wählergemeinschaften auch Morlok/Poguntke/Walther. 13 Ulrich von Alemann: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2003; sowie Art. 21 GG und § 1 Parteiengesetz. 14 Van den Boom, S. 216. 15 Parteiengesetz, online abrufbar unter: www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechts- grundlagen/pg_pdf.pdf, Stand: 20.3.2013. 16 Van den Boom, S. 263.

366 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen von Partikular- oder Sonderinteressen beschränkt.17 Neue Mitglieder im Sinne der Elitenrekrutierungsfunktion lassen sich so nur schwer anwerben, da auch nicht mit der Aussicht auf politische Ämter gelockt werden kann.18 Auch die direkte Transmission von Positionen und Interessen in politische Entscheidungen können Kleinstparteien nicht leisten, da sie per Definition keinen Zugang zum politischen Entscheidungssystem haben. Laut van den Boom ist es dennoch keine Frage, »ob« Kleinstparteien eine Rolle in einem Parteiensystem spielen, sondern »welche«.19 Zum einen sind Kleinstparteien aus der Perspektive der Parteiendemokratie als Anzeiger für »Art und Ausmaß der Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen von Bedeutung«.20 Das Bundes- verfassungsgericht betont die Funktion von Kleinstparteien bei der Förderung des demokratischen Parteienwettbewerbs.21 Kleinstparteien tragen zur ideo- logischen und thematischen Pluralisierung des Parteienspektrums bei22, indem sie neue Themen und Interessen aufgreifen, die die etablierten Parteien bislang nicht repräsentieren.23 Diese Funktion betont auch Dietsche in Anlehnung an Lagasse, der Kleinstparteien die Funktionen zuspricht, als »Protestparteien« Positionen zu vertreten, die keine der Großparteien vertritt. Als »Leuchtturm« würden sie die anderen Parteien auf neue gesellschaftliche Probleme hinweisen

17 Ebd., S. 262. 18 Köhler, S. 37. 19 Van den Boom, S. 51. 20 Ute Schmidt/Richard Stöss: Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: U. v. Alemann (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 162. 21 »[…] Auch kleine Parteien sind für den politischen Prozess und die politische Landschaft von Bedeutung. Der Wettbewerb zwischen Parteien kann auf Dauer nur wirken, wenn er nicht auf die Konkurrenz zwischen den bereits existierenden und erfolgreichen beschränkt bleibt, sondern durch das Hinzutreten neuer Wettbewerber und die anhaltende Heraus- forderung durch die kleinen Parteien erweitert, intensiviert und gefördert werden kann.« Aus der Begründung des BVerfG zum Urteil vom 26.10.2004, 2BvE 1/02, Abs. 44 zur Parteienfinanzierung, online abrufbar unter: www.bundesverfassungsgericht.de/ent- scheidungen/es20041026_2bve000102.html, Stand: 20.3.2013. 22 Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter: Zukunftsperspektiven des Parteiensystems, in: Dies. (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992, S. 503; und van den Boom, S. 280. 23 Vgl. Köhler 2006 und Mintzel/Oberreuter 1992.

367 Katharina Hanel und Nadja Wilker oder »unbequeme Wahrheiten« artikulieren und könnten so gesellschaftliche Wandlungsprozesse anstoßen.24 Wenn die Aussicht auf politische Entscheidungsmacht in den meisten Fällen gering erscheint, stellt sich die Frage, warum sich Bürger überhaupt in Kleinst- parteien engagieren. Eine Befragung der Mitglieder der Ökologisch-Demo- kratischen Partei (ödp) auf Bundesebene zeigt, dass hier sowohl die Dimension der »geselligen Sphäre des Parteiengagements«25, sprich die Beteiligung an Treffen und Veranstaltungen, als auch die politische Mitarbeit bei der Erarbeitung von Themen als Partizipationsmotive eine nicht zu trennende Rolle spielen. Auch die emotionale Bindung und das innerparteiliche Engagement sind in den Kleinst- parteien oft besonders ausgeprägt.26 Van den Boom betont außerdem, dass Kleinstparteien die politische Betätigung solcher Bürger ermöglicht, die von den etablierten Parteien enttäuscht sind oder sich dort nicht (mehr) wiederfinden.27 Über die Bedeutung für ihre Mitglieder hinaus erfüllen Kleinstparteien zudem Funktionen für ihre Wählerschaft. Legt man eine Rational-Choice-Perspektive zugrunde, erscheint es zwar zunächst nicht nachvollziehbar, das Kreuz bei einer der Kleinstparteien zu setzen, handelt es sich doch in dieser Logik um eine »ver- schenkte« Stimme.28 Neben der naheliegenden Erklärung der Entscheidung für eine Kleinstpartei aufgrund der Identifikation mit der Programmatik, dient ihre Wahl in vielen Fällen als Ausdruck von Unzufriedenheit mit den und Protest gegen die etablierten Parteien. Kleinstparteien fungieren somit auch als Ventil für politisch enttäuschte Bürger.29 Schlussendlich: Indem Kleinstparteien Partikularinteressen oder Unzufrieden- heit in organisierter Form in das politische System integrieren, tragen sie zur

24 Dietsche, S. 62. 25 Biehl/Kranenpohl, S. 95. 26 Marcel Winter/Patrick Hintze: Kommunale Wählergemeinschaften in Nordrhein-West- falen, Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010, online abrufbar unter: www.kas. de/wf/doc/kas_21505-544-1-30.pdf?110121101043, Stand: 20.3.2013. 27 Van den Boom, S. 321. 28 Vgl. Rowold/Immermann, S. 368; Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie der Wahlsysteme, Opladen 2004, S. 317, und Eckhard Jesse: Das Abschneiden der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl 2009 und ihre Perspektiven, in: O. Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011. 29 Köhler, S. 41.

368 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen

Systemstabilisierung bei.30 Auch das Besetzen radikaler Positionen an den Rändern des ideologischen Spektrums ist eine Funktion von Kleinstparteien, die Mintzel und Oberreuter als »Restverwertungsfunktion« bezeichnen.31 Vor diesem Hintergrund soll nun ein Blick auf die Landschaft der Kleinst- parteien im politischen System Nordrhein-Westfalens geworfen werden.

3. Die Landschaft der Kleinstparteien in NRW

Seit der ersten Landtagswahl 1947 sind in Nordrhein-Westfalen insgesamt mehr als 80 verschiedene Parteien auf Landesebene angetreten; davon standen allerdings nur CDU, SPD und FDP bei bisher allen 16 Landtagswahlen auf dem Wahlzettel; zwölf weitere Parteien haben sich immerhin mindestens vier Mal zur Wahl gestellt. Über 30 Parteien dagegen haben jeweils nur an einer Landtags- wahl teilgenommen (Stand: 2012).32 Angesichts dieser Anzahl und der Fluidität einzelner Gruppierungen soll es im Folgenden darum gehen, welche generellen Entwicklungstendenzen und Rahmenbedingungen die Landschaft der Kleinst- parteien im Nordrhein-Westfalen prägen und wie ihre Zukunftschancen einzu- schätzen sind.

3.1 Entwicklungstendenzen und Wählerschaft

In der Phase der »Konsolidierung«33 des nordrhein-westfälischen Parteiensystems in den 1950er Jahren konnten aus der überschaubaren Landschaft der Klein- und Kleinstparteien, neben FDP und Zentrumspartei, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) sowie der Bund der Heimatvertriebenen und Ent- rechteten (GB/BHE, später GDP) zunächst noch relativ beachtliche Wahl- erfolge erringen.34 1966 traten dann allerdings neben SPD, CDU und FDP nur

30 Vgl. Mintzel/Oberreuter 1992. 31 Ebd., S. 503. 32 Eigene Berechnung nach den Angaben des Bundeswahleiters und der Landeswahl- leiterin. Siehe auch Anhang A in diesem Band. 33 Uwe Kranenpohl: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wies- baden 2008, S. 316. 34 Vgl. ebd.; Schmidt/Stöss 1985 sowie die entsprechenden Kapitel in diesem Band.

369 Katharina Hanel und Nadja Wilker

Abbildung 1: Anzahl der zur Landtagswahl angetretenen Parteien 1947–2012

30

25 4 4 5 20 3 3 15 5 3 4 24 10 3 20 20 17 5 3 14 3 3 12 5 3 10 10 5 3 8 5 5 6 5 2 3 4 0 1947 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012

Parteien mit Stimmanteil < 5% Parteien mit Stimmanteil > 5 %

Quelle: Daten des Bundeswahlleiters und der Landeswahlleiterin; eigene Darstellung.

noch drei weitere Parteien (Zentrum, FSU und UAP) überhaupt zur Wahl an, die zusammengerechnet auf einen Stimmanteil von gerade einmal 0,3 Prozent kamen. In dieser Phase entwickelten sich auch die bis 1954 noch im Landtag vertretenen Parteien KPD und Zentrum zu einflusslosen Kleinstparteien. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten bis Anfang der 1990er Jahre gab es in Nord- rhein-Westfalen vergleichsweise wenige Parteien, die zu den Landtagswahlen Bild: Abb. 1 angetreten sind, wobei seit 1970 ein Anstieg zu verzeichnen ist (vgl. Abb. 1). Das Parteiensystem war durch die Dominanz der beiden Großparteien CDU und SPD geprägt; bis auf die FDP als kleinem Koalitionspartner schafften es daneben nur selten andere Parteien, überhaupt mehr als ein Prozent der Stimmen zu erringen, geschweige denn sich zu etablieren.35 Als Gründe für die lange Zeit geringe Fragmentierung des NRW-Parteiensystems nennt Kranenpohl zum einen die »starke Mobilisierungsleistung« der Landesverbände von CDU und SPD.36 Zum anderen führt er die Fünf-Prozent-Hürde und das bis 2007 in Nord- rhein-Westfalen geltende Einstimmenwahlrecht als erklärende Variablen an. Die

35 Siehe auch die Kapitel von Christoph Nonn und Christoph Strünck in diesem Band. 36 Kranenpohl, S. 318.

370 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen

Abbildung 2: Gesamtstimmenanteil der Parteien unter 5 Prozent seit 1947 (in %)

14 12,7 12

10

8 6,8 6,3 6,6 5,4 6 5,7 5,7 4 3,4 3,4 3,3 2,1 3,3 2 2,5 0,3 0,8 1,1 0 1947 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012

Quelle: Daten des Bundeswahlleiters und der Landeswahlleiterin; eigene Darstellung.

Kleinstparteien waren gegenüber den größeren Parteien benachteiligt, da sie nur in wenigen Wahlkreisen über genügend personelle und finanzielle Ressourcen verfügten, um überhaupt einen Kandidaten aufstellen zu können.37 Zwischen 1990 und 2000 hat sich die Anzahl der bei Landtagswahlen konkurrierenden Parteien trotz der geringen Erfolgschancen allerdings von 14 auf 28 verdoppelt (vgl. Abb. 1). Damit war Nordrhein-Westfalen Spitzenreiter unter den Bundesländern, was die Quantität der Parteien betrifft.38 Den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde und damit in den Landtag schafften bei dieser Wahl allerdings nur SPD, CDU, FDP und Grüne; alle anderen Parteien kamen zusammengerechnet auf 3,3 Prozent der Stimmen (vgl. Abb. 2). Bild: Abb. 2 Im Jahr 2007 beschloss der Landtag eine Änderung des Wahlrechts; seitdem können Bürger auch auf Landesebene zwei Stimmen vergeben. Diese Änderung,

37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Melanie Haas/Uwe Jun/Oskar Niedermayer: Die Parteien und Parteiensysteme der Bundesländer. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 28.

371 Katharina Hanel und Nadja Wilker die nach Kranenpohl die Chancen auf ein Mandat für Kleinstparteien erhöht, hat zwar nicht dazu geführt, dass sich signifikant mehr Parteien zur Wahl stellten. Der Blick auf den Gesamtstimmenanteil der Parteien unter fünf Prozent macht die steigende Fragmentierung des Parteiensystems sowie die besseren Erfolgs- chancen von Kleinstparteien allerdings deutlich: Bei der Wahl 2010, bei der die Änderung des Wahlrechts zum ersten Mal zur Geltung kam, schafften es FDP, Grüne und Die Linke in den Landtag – und die Parteien unterhalb der Fünf- Prozent-Marke erreichten zusammen einen Stimmanteil von 6,6 Prozent. Ähn- lich viele Stimmen konnten die Kleinstparteien zusammengerechnet auch 2012 erringen – wobei hier die Linke mit 2,5 Prozent wieder dazugezählt wird.39 Bei der Stimmverteilung hat sich das neu eingeführte Listenwahlrecht positiv auf den Erfolg der Kleinstparteien ausgewirkt; die meisten von ihnen »punkteten« aus den beschriebenen Gründen erwartungsgemäß eher bei den Zweit- als bei den Erststimmen.40 Nicht nur, was ihren Gesamterfolg betrifft, hat sich das Bild der Kleinst- parteien im Laufe der Zeit gewandelt: Bis zu den 1980er Jahren traten vor allem ideologisch fest verankerte Parteien und extremistische Gruppierungen an, die sich als kommunistisch-sozialistisch (KPD/DKP) oder national-konserativ (z. B. DP, UAP und NPD) jeweils links und rechts von CDU und SPD ansiedeln ließen. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich das Parteienspektrum in NRW ähnlich wie auf Bundesebene stark erweitert und pluralisiert.41 Hinzu kamen vor allem sachfragenorientierte Single-Issue-Parteien. Beispiele hierfür sind u. a. die Familienpartei oder die RENTNER, die bestimmte soziale Interessen vertreten, oder ökologisch ausgerichtete Parteien wie die Grünen in den 1980er Jahren und die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp). Zudem tauchen immer mal wieder selbsternannte Spaß- und Protestparteien auf dem Wahlzettel auf. Dazu zählen Gruppierungen wie die Partei der Nichtwähler oder DIE PARTEI, die sich mit

39 Die ebenfalls hohen Werte 1985 und 1995 kommen zustande, da in diesen Jahren jeweils die Grünen bzw. die FDP knapp unter der Fünf-Prozent-Marke lagen und dazu gerechnet wurden. 2005 schafften es beide in den Landtag, hier stellte die Linke mit 3,1 Prozent der Stimmen einen relativ hohen Anteil an nicht-berücksichtigten Stimmen. Der Ausreißerwert von 12,7 Prozent bei der Wahl 1954 erklärt sich wiederum durch das knappe Scheitern der KPD (3,8 %) und des Zentrums (4,0 %). 40 Vgl. Daten des Bundeswahlleiters und der Landeswahlleiterin. 41 Vgl. Haas/Jun/Niedermayer, S. 31.

372 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen ihren programmatischen Forderungen weder auf ein Politikfeld beziehen noch eine ideologische Ausrichtung aufweisen, sondern sich vordergründig durch ihre – teilweise satirische Kritik – am System und den etablierten Parteien aus- zeichnen. Bemerkenswert ist, dass sich einige der Kleinstparteien trotz ihrer geringen Wähler- und Mitgliederzahl dauerhaft im nordrhein-westfälischen Parteien- system halten konnten. Die KPD/DKP und das Zentrum weisen mit der Teil- nahme an 12 bzw. 13 Landtagswahlen einen besonders »langen Atem« auf; auch die dem rechten Spektrum zuzuordnenden Parteien UAP und NPD zeichnen sich durch eine relative Kontinuität seit den 1960er Jahren aus. Aber auch jüngere Parteien wie die Familienpartei oder die ödp zeigen seit ihrer jeweiligen Gründung in den 1980ern eine Stabilität bei der Wahlteilnahme, obwohl sie bisher nicht über 0,4 bzw. 0,5 Prozent der Stimmen hinaus kamen (Stand: 2012). Immer mal wieder konnten in den letzten beiden Jahrzehnten zudem auch ehemalige Kleinstparteien in den Düsseldorfer Landtag einziehen und sich, wie im Falle der Grünen, etablieren. Unter welchen Bedingungen können es Kleinstparteien in NRW also schaffen, sich dauerhaft zu halten und sogar aus dem »Schatten der Macht«42 herauszutreten?

3.2 Rahmenbedingungen und Perspektiven

Zunächst einmal sind die spezifischen wahlrechtlichen Rahmenbedingungen zu nennen, die auf die Erfolgsperspektiven von Kleinstparteien insgesamt einwirken. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Entwicklung der Stimmanteile der Kleinst- parteien in Nordrhein-Westfalen nach Einführung der Parteilisten. Allerdings trägt die Fünf-Prozent-Hürde nach wie vor dazu bei, dass der Kreis der im Parla- ment vertretenen Parteien auch auf Länderebene relativ geschlossen bleibt.43 Die Sperrklausel kann ihre selektive Wirkung bereits vor der Stimmabgabe entfalten, indem sie Wähler von der Stimmabgabe für eine Kleinstpartei abhält, wenn diese davon ausgehen müssen, dass ihre Stimme damit »verloren« geht.44 Deswegen steht die Fünf-Prozent-Hürde in der Diskussion, wenn es um die im Parteien- gesetz und Grundgesetz verbriefte Chancengleichheit der Parteien im politischen

42 Vgl. Rowold 1974. 43 Köhler, S. 125. 44 Vgl. Rowold/Immermann, S. 368; Nohlen, S. 317, und Jesse, S. 192.

373 Katharina Hanel und Nadja Wilker

Wettbewerb geht. So wurde die Fünf-Prozent-Sperrklausel in NRW 1999 auf kommunaler Ebene durch das Verfassungsgericht NRW gekippt.45 Hierin könnte eine Chance für die Kleinstparteien liegen, zumindest auf der kommunalen Ebene politischen Einfluss zu erlangen und gegebenenfalls im zweiten Schritt auch auf der Landesebene Erfolge zu verzeichnen. Jenseits der Diskussionen um die Fünf-Prozent-Hürde könnten sich die Zukunftsaussichten der Kleinstparteien dadurch verbessern, dass in Nordrhein- Westfalen sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene vermehrt direkt- demokratische Beteiligungsverfahren eingeführt wurden bzw. über eine Ein- führung diskutiert wird.46 Dies schafft für Kleinstparteien das Potenzial, abseits von Wahlen bei kurzfristigen und aktuellen Problemlagen thematisch gezielt Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.47 Als erfolgreiches Beispiel kann die Initiative der ödp zum Volksentscheid über das Rauchverbot in Bayern angeführt werden.48 Inwiefern eine einzelne Kleinstpartei ein solches Potenzial zu nutzen vermag, hängt neben dem Thema auch von den jeweiligen innerparteilichen Rahmen- bedingungen ab. Van den Boom identifiziert hier personelle Ressourcen (haupt- amtliche Mitarbeiter, hoher Grad an Aktivisten), kommunikative Fähigkeiten und strukturelle Grundlagen im Sinne einer guten Vernetzung und Verankerung der Parteigliederungen auf verschiedenen politischen Ebenen – Kriterien, die auch die Kontinuität und Dauerhaftigkeit einer Parteiorganisation befördern.49 Der Erfolg und die Zukunftschancen von Kleinstparteien werden aber noch von einem ganz anderen Faktor beeinflusst, der mit der Diskussion ihrer Funktionen zusammenhängt: von dem (Un-)Vermögen der großen Parteien, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen. Allgemeine Trends, wie die Heterogenisierung von Interessen, die Auflösung traditioneller (Wähler-)

45 Vgl. das Urteil des Landesverfassungsgerichts, online abrufbar unter: www.wahlrecht.de/ wahlpruefung/19990706.htm, Stand: 20.3.2013. 46 Vgl. das Kapitel von Andreas Kost in diesem Band. 47 Van den Boom, S. 13, und Köhler, S. 40. 48 Harald Schoen/Alexander Glantz/Rebecca Teusch: Raucher oder Nichtraucher – ist das die Frage? Wahlbeteiligung und Abstimmungsverhalten beim Volksentscheid über das Rauchverbot in Bayern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 42/3 (2011), S. 492–502. 49 Vgl. van den Boom.

374 Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen

Milieus und die Abnahme von Parteibindungen und -mitgliedschaften, haben sich zu zentralen Herausforderungen für die großen Parteien entwickelt. Gleichzeitig begünstigen diese Entwicklungen, mit denen auch die Zunahme an Wechsel- und Protestwählern einhergeht, die Chancen von kleineren und Kleinstparteien, Wählerstimmen zu gewinnen.50 Auf Bundesebene sowie in vielen Bundes- ländern hat sich das Parteiensystem dementsprechend ausdifferenziert. Wie beschrieben, ist auch in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahrzehnten eine solche Fragmentierung zu beobachten. Während auf Bundesebene vor allem die kleineren und mittleren Parteien wie die Grünen und (zumindest bis zur Wahl 2009) die FDP davon profitieren, sind es auf kommunaler Ebene zum Beispiel Wählergemeinschaften, die an Attraktivität für die Wähler gewinnen.51

4. Fazit: Gute Aussichten für die »Kleinsten«

Wer sind die »Sonstigen«? Mit dieser nicht ganz eindeutig zu beantwortenden Frage hat sich dieses Kapitel beschäftigt. Auch wenn die Forschung die Aus- einandersetzung mit den Kleinstparteien bislang eher gescheut hat, scheinen sie zukünftig relevanter zu werden. Gerade die diskutierten Perspektiven der Kleinst- parteien machen deutlich, dass die eine oder andere bisherige Kleinstpartei in Zukunft auch auf Landesebene den Einzug ins Parlament schaffen könnte. Ob sich dabei dauerhaft neue politische Kräfte etablieren werden, bleibt abzu- warten. Jedenfalls erscheint die Ausgangslage für einen wachsenden politischen Einfluss der Kleinstparteien in Nordrhein-Westfalen momentan angesichts der angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen günstig. Jüngste Wahlergeb- nisse zeigen einen positiven Trend. So lange fungieren die Kleinstparteien weiterhin als belebende Elemente der Parteiendemokratie und ermöglichen es dem einen oder anderen Wähler, an der

50 Uwe Jun/Henry Kreikenbom: Nicht nur im Schatten der Macht. Zur Situation kleiner Parteien im deutschen Parteiensystem, in: U. Jun/H. Kreikenbom/V. Neu (Hg.): Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a. M./New York. 2006, S. 13; und van den Boom, S. 32. 51 Ebd., S. 16 f.

375 Katharina Hanel und Nadja Wilker

Urne ein »systemkonformes« Zeichen gegen die etablierten »Großparteien« zu setzen.52 Die Frage nach der Notwendigkeit der Kleinstparteien stellt sich also nicht. Allein als Spiegel einer pluralen und freiheitlichen Gesellschaft erfüllen sie eine nicht wegzudenkende Funktion für das Parteiensystem in NRW und die Parteiendemokratie insgesamt.

52 Köhler, S. 40.

376 Lazaros Miliopoulos links: Lazaros Miliopoulos rechts: Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen in Nordrhein-Westfalen

Das vorliegende Kapitel möchte die historische Entwicklung des im weitesten Sinne rechten Parteienspektrums in Nordrhein-Westfalen beleuchten und auf dieser Grundlage eine aktuelle Bestandsaufnahme der rechtsextremen und rechts- populistischen Parteien im Land liefern.1

1. Historischer Überblick

Die parteipolitische Rechte in NRW war seit der Gründung des Bundeslandes 1946 stets ein Randphänomen. Bereits in den katholisch dominierten westlichen Wahlkreisen der Weimarer Republik (Köln-Aachen, Koblenz-Trier, Westfalen und Düsseldorf) fuhr die NSDAP bei den Reichstagswahlen seit 1924 die republik- weit schwächsten Ergebnisse ein. Diese vergleichsweise Schwäche der äußersten Rechten im Westen Deutschlands setzte sich nach 1949 fort: Bei keiner Land-

1 Der Rechtsextremismus stellt den Oberbegriff für eine Position dar, die sich in Opposition zum demokratischen Verfassungsstaat nicht an Egalitätsprinzipien, sondern an Rangfolgen und Hierarchien orientiert in einer Weise, die das Prinzip menschlicher Gleichheit und Würde in allen Belangen fundamental negiert, wobei die jeweiligen Homogenitätskriterien unterschiedlicher Art sein können. Vom Rechtsextremismus zu unterscheiden ist die demo- kratische Rechte, deren Verfechter soziale und politische Ungleichheiten gutheißen, dabei jedoch die fundamentalen demokratischen Werte, Prinzipien und Verfahrensweisen des demokratischen Verfassungsstaates akzeptieren. Rechtspopulistische Parteien reagieren seit den achtziger Jahren auf einen aufkommenden grün-alternativ-linkslibertären Pol in west- lichen Parteiensystemen, indem sie sich auf der »kulturellen Konfliktachse« traditional, autoritär und nationalorientiert positionieren, soziale Verteilungskämpfe kulturell – teils islamfeindlich – aufladen, »relativ deprivierte« Wähler ansprechen und sich einer Anti- Establishment-Rhetorik und charismatischer Führungsfiguren bedienen. Sie können, müssen aber nicht extremistisch sein (vgl. zu den Begrifflichkeiten ausführlicher Frank Decker/Lazaros Miliopoulos: Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in der Bundes- republik. Eine Bestandsaufnahme, in: M. H. W. Möllers/R. C. van Ooyen (Hg.): Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005, Frankfurt a. M. 2005, S. 118–125).

377 Lazaros Miliopoulos tagswahl schaffte es eine Partei rechts von der CDU, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Ständige Zerfalls- und Neugründungsprozesse führten zudem dazu, dass die rechten Parteien auch »keinen entscheidenden Anteil an dem Auf- bau von extrem rechten Organisationsstrukturen in NRW besaßen«.2 Insgesamt 17 rechte, davon in etwa die Hälfte mehr oder weniger offen rechtsextreme Parteien sind bei nordrhein-westfälischen Landtagswahlen seit 1947 angetreten. Die meisten bewegten sich mit ihren Wahlergebnissen im Promillebereich. Nur vier kleinere Ausnahmewellen sind im Rahmen dieser Misserfolgsgeschichte zu erkennen: 1949–1956, 1969–1970, 1989–1990 und 2000–2010. Die drei ersten Wellen bis 1990 sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, die vierte Welle wird anschließend in ihrer Entwicklung und heutigen Bedeutung analysiert.

1.1 Erste Welle (1949–1956)

Das Land zwischen Rhein und Weser entpuppte sich nach 1945 von Beginn an als schwieriges Terrain für die politische Rechte, galt zunächst sogar als westdeutsche Bastion der Kommunisten. Die deutschnationale »Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei« (DKP-DRP) hingegen hatte einen schwereren Stand, zumal sie – anders als in Niedersachsen, wo sie im gleichen Jahr 3,1 Pro- zent der Stimmen erreichte – zunächst eine Lizenz nur auf Kreisebene erhielt und keine Landesliste aufstellen konnte.3 Bei den NRW-Landtagswahlen 1947 errang sie deshalb gerade einmal 0,5 Prozent der Stimmen. 1949 – bei den Bundestags- wahlen – waren es dann zwar immerhin 1,8 Prozent in NRW, aber immer noch weitaus weniger als in Niedersachsen (8,1 Prozent). Die damit anfänglich mit sechs niedersächsischen Abgeordneten im ersten Deutschen Bundestag vertretene DKP-DRP wurde bereits zwischen 1949 und 1950 aufgerieben. Eine Gruppe von Deutschnationalen, Monarchisten und National- liberalen lief zur nationalkonservativen »Deutschen Partei« (DP) und zur FDP über. Eine zweite Gruppe aus Altnationalsozialisten gründete die »Sozialistische Reichspartei« (SRP) um die beiden DKP-DRP-Bundestagsabgeordneten und

2 Michael Lausberg: Die extreme Rechte in NRW 1946–1971, Marburg 2012, S. 64. 3 Vgl. Horst W. Schmollinger: Die Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei (DKP-DRP), in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 2, Opladen 1986, S. 982–1024, hier S. 996.

378 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen ehemaligen NSDAP-Mitglieder Fritz Dorls und Gerhard Krüger sowie Otto Ernst Remer.4 Dem reichsnationalistisch gesinnten Restbestand der DKP-DRP – der sich Anfang 1950 in der neu gegründeten »Deutschen Reichspartei« (DRP) organisierte5 – gehörten Ende 1950 so nur noch zwei der 1949 gewählten sechs DKP-DRP-Bundestagsabgeordneten an, darunter das ehemalige NSDAP- Mitglied Adolf von Thadden, der führende Mann der neuen Partei. Da die DRP bei den NRW-Landtagswahlen 1950 – anders als ihre Vorgängerpartei 1947 – eine Landesliste aufstellen konnte, erreichte sie ein Stimmenergebnis von immerhin 1,7 Prozent und lag damit gleichauf mit der konservativen DP. Doch war die radikale SRP, deren NRW-Landesverband sich erst im März 1950 gegründet hatte, noch erfolgreicher: Zwar kam sie im Landesdurchschnitt nicht über 0,2 Prozent hinaus, konnte aber auch nur in drei Wahlkreisen antreten (Oberbergischer Kreis Nord, Oberbergischer Kreis Süd und Wanne-Eickel). Dort erreichte sie fulminante Werte zwischen 8,6 und 15,1 Prozent.6 Die darauffolgenden großen Erfolge der SRP bei den Landtagswahlen 1951 in Niedersachsen (11 Prozent) und Bremen (7,7 Prozent) kündigten sich also bereits in NRW an.7 Sie veranlassten die Bundesregierung dazu, einen Antrag auf Verbot der Partei zu stellen, dem das Bundesverfassungsgericht im Mai 1952 stattgab (BVerfG 2, 1). Zusammen mit der Einführung der einheitlichen Sperrklausel bei den Bundestagswahlen 1953 und dem zunehmenden Erfolg der CDU/CSU endete damit jäh die »erste Welle« des parteipolitischen Rechtsextremismus auf der Bundesebene. Interessanterweise hielt jedoch die Welle in NRW länger an, denn – anders als in den anderen Bundesländern – hatten hier rechtsextreme Kräfte nicht in deutschnationalen Parteineugründungen Fuß gefasst, sondern in der FDP. Diese hatte sich 1950 – unter der Führung von Friedrich Middelhauve und – als rechtsnationale »dritte Kraft« gegen Linke (KPD, SPD) und

4 Vgl. Gideon Botsch: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012, S. 21–25. 5 Vgl. Schmollinger: Die Deutsche Reichspartei (DRP), in: R. Stöss (Hg.): Parteien-Hand- buch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 2, Opladen 1986, S. 1112–1191. 6 Vgl. Lausberg, S. 89 f. 7 Vgl. Hendrik Hansen: Die Sozialistische Reichspartei. Aufstieg und Scheitern einer rechts- extremen Partei, Düsseldorf 2007.

379 Lazaros Miliopoulos

»Schwarze« (CDU, Zentrum) profiliert. Typisch etwa war das Wahlbündnis der FDP mit der DKP-DRP-Abspaltung »Nationale Rechte« bei den Landtags- wahlen 1950.8 Zudem versuchte der so genannte »Naumann-Kreis« ehemaliger NSDAP-Funktionäre die Partei komplett zu unterwandern und zu einer rein rechtsextremen Formation umzufunktionieren, bis die Konspiration 1953 vom britischen Geheimdienst zerschlagen wurde.9 Die FDP konnte mit ihrer Strategie bei den Landtagswahlen 1950 und 1954 ansehnliche Ergebnisse verbuchen (12,1 und 11,5 Prozent). Unter diesen Umständen wird verständlich, warum es die DRP in NRW so schwer hatte und 1954 dort gar nicht mehr antrat. 1954 indes schlug die FDP einen allmählichen Richtungswechsel ein.10 Middelhauve entschied sich, in eine Koalition mit der CDU Karl Arnolds einzutreten. Anlässlich der Diskussion über die Einführung eines »Grabenwahlrechtes« auf Bundesebene und der damit einhergehenden Ent- fremdung zwischen CDU und FDP auf Bundesebene wurde die Führungsriege um Middelhauve 1956 schließlich von gemäßigten Liberalen abgelöst. Trotz ihres Rückfalls auf nur noch 7,1 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen 1958 (die CDU erreichte die absolute Mehrheit, die DP 1,6 und die DRP nur 0,5 Pro- zent der Stimmen), orientierte sich die NRW-FDP nicht mehr zurück an den rechtsnationalen Eigenständigkeitskurs.11

1.2 Zweite Welle (NPD 1969–1970)

Sieht man einmal von den Erfolgen der FDP 1950 und 1954 sowie dem Bei- nahe-Erfolg des konservativen »Bundes der Heimatvertriebenen« (BHE) 1954 ab (4,6 Prozent bei gleichzeitigem Nicht-Antritt der DP), so blieben die Land- tagswahlen von 1950 für sehr lange Zeit (bis 1990) für die Parteien rechts von der CDU die erfolgreichsten in NRW. Dies änderte sich auch nicht zwischen 1966 und 1969, als die 1964 gegründete »Nationaldemokratische Partei Deutsch-

8 Vgl. Lausberg, S. 237 f. 9 Vgl. ebd., S. 242–255. 10 Vgl. im Folgenden Gerhard Papke: Unser Ziel ist die unabhängige FDP. Die Liberalen und der Machtwechsel in Nordrhein-Westfalen 1956, Baden-Baden 1992; Vgl. ferner Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Ver- gangenheit, München 1996, S. 370. 11 Siehe das Kapitel von Jan Treibel in diesem Band.

380 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen lands« (NPD) – eine Partei, die sich unter der Führung von Friedrich Thielen (ehemals DP, Bundesvorsitzender 1966–67) und dem ehemaligen DRP-Chef von Thadden (1967–71) als breite Sammelbewegung rechts von der CDU/CSU formiert hatte, in sieben Bundesländern mit Landtagswahlergebnissen von 5,8 bis 9,8 Prozent reüssierte – begünstigt durch die Bildung einer Großen Koalition, die sich anbahnende Entspannungspolitik, die Außerparlamentarische Opposition und den Gastarbeiterzuzug bei gleichzeitigen Rezessionserscheinungen.12 Nach- dem von Thadden, trotz vieler linker Gegendemonstrationen rund um den NPD-Bundestagswahlkampf 1969, seine konfrontative Wahlkampfstrategie fort- setzte, womit er viele bürgerliche Wähler verschreckte13, erreichte die Partei nur 4,3 Prozent der Stimmen. Danach gelang es der CDU/CSU aus der Opposition gegen die sozialliberale Koalition heraus, das neue rechte Wählerpotenzial rasch wieder auszutrocknen. Dass zum einen der – ebenfalls 1964 – in Bergkamen gegründete NPD- Landesverband bei den Landtagswahlen in NRW 1970 mit einem Ergebnis von 1,1 Prozent nicht mehr an die Erfolge von 1966 bis 1969 anknüpfen konnte, hängt mit dieser Strategie der Christdemokraten und -sozialen zusammen.14 Zum anderen hatte die NPD jedoch bereits bei den Bundestagswahlen 1969 im Ländervergleich ihr schwächstes Ergebnis in NRW eingefahren (3,1 Prozent). Dies spricht Bände für das ohnehin schwache strukturelle »Standing« der Rechts- außenparteien im Land. Sprangen die Mitgliederzahlen der NPD zwischen 1965 und 1968 noch in die Höhe (in NRW von 2.400 auf 5.200, im Bund von 13.700 auf 28.000), so fielen die Zahlen in NRW 1970 auf 3.647 Personen und 1976 auf rund 1.800 zurück.15 Infolge dieses Niedergangs musste die Partei zahl- reiche Abspaltungen radikaler Wortführer hinnehmen. Die Kommunikation zwischen dem gemäßigten Bundes- und dem radikalen Landesvorstand brach weitgehend zusammen.16 Langfristig konnte die Bundespartei den Landesver- band zwar wieder unter ihre Kontrolle bringen, allerdings versank die NPD auf

12 Vgl. zur Geschichte der Partei insbesondere Uwe Hoffmann: Die NPD. Entwicklung, Ideologie und Struktur, Frankfurt a. M. 1999. 13 Vgl. Botsch, S. 58. 14 Vgl. Lausberg, S. 167. 15 Vgl. ebd., S. 155 und S. 167; Innenministerium NRW (Hg.): Extremismusbericht an den Landtag oder Landesbehörden 1976, Düsseldorf 1976, S. 5. 16 Vgl. ebd., S. 2–4.

381 Lazaros Miliopoulos dem Wählermarkt in die völlige Bedeutungslosigkeit. Bei den Bundestagswahlen 1972 fiel sie auf einen Wert von 0,6 (NRW 0,3) und bei den Landtagswahlen in NRW 1975 auf 0,4 Prozent der Stimmen zurück. 1980 und 1985 trat sie in NRW gar nicht mehr an.

1.3 Dritte Welle (»Republikaner« 1989–1990)

Die »dritte Welle« des parteipolitischen Rechtsextremismus in Deutsch- land war durch die 1983 gegründete Partei der »Republikaner« (REP) geprägt. Deren Ursprünge liegen in Bayern: Gegründet auf Initiative der CSU- Bundestagsabgeordneten Ekkehard Voigt und Franz Handlos gegen den von Franz Josef Strauß vollzogenen Kurswechsel der CSU in der Ost- und Deutsch- landpolitik verkörperten sie in der Anfangsphase weniger eine extremistische denn eine rechtskonservative Partei.17 Erst nachdem sich ein weiterer CSU- Renegat, der Fernsehjournalist Franz Schönhuber, im Machtkampf gegen Hand- los durchgesetzt hatte, öffnete sich die Partei gegenüber dem rechtsextremen Spektrum. Die Partei erreichte in den Wahlen in Westberlin im Januar 1989 aus dem Stand 7,5 Prozent, und auf Bundesebene konnte sie bei den Europawahlen einige Wochen später gar 7,1 Prozent der Stimmen erringen. Infolge des großen Aufmerksamkeitsschubs gelang auch dem 1984 gegründeten Landesverband in NRW ein historischer Erfolg: Mit Prozentanteilen zwischen 5,1 und 7,5 Prozent schafften die REP bei den Kommunalwahlen im Oktober 1989 den Sprung in die parlamentarischen Vertretungskörperschaften von Düsseldorf, Dortmund, Leverkusen, Hamm, Hagen, Köln, Gelsenkirchen, Recklinghausen und im Märkischen Kreis. Insbesondere in Stadtbezirken mit hohen Ausländer- anteilen konnte die Partei reüssieren.18 Doch statt dass sich die Partei stabilisierte, verfiel sie umgehend in einen erbitterten innerparteilichen Machtkampf.19

17 Vgl. Ralf Grünke: Die Partei der Republikaner im Wandel der Zeit. Eine extremistische Partei?, in: E. Jesse/H.-P. Niedermeier (Hg.): Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007, S. 89–106. 18 Vgl. Birgit Griese/Gunther Niermann: Rechtsextremisten in nordrhein-westfälischen Kommunalparlamenten (1989–1994), in: C. Butterwegge/B. Griese/C. Krüger/L. Meier/G. Niermann (Hg.): Rechtsextremisten in Parlamenten. Forschungsstand – Fall- studien – Gegenstrategien, Opladen 1997, S. 147–207, hier S. 157. 19 Vgl. o. V.: Meuterer und Putschisten, in: Der Spiegel 41/1989, 9.10.1989, S. 60 f.; Griese/ Niermann, S. 151 und S. 155.

382 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen

Infolge zahlreicher Misserfolge 1990 (bei den Landtagswahlen in Bayern scheiterte die Partei äußerst knapp an der Fünf-Prozent-Hürde, bei den ersten Bundestagswahlen im vereinigten Deutschland einige Wochen später erreichte sie nur 2,1 Prozent und schied am Ende des Jahres auch noch aus dem Berliner Stadtparlament aus) wollte Schönhuber die Partei wieder auf einen gemäßigteren Kurs bringen und überwarf sich 1991 mit dem Generalsekretär Neubauer. Mit Ausnahme der südwestdeutschen Landesverbände verfielen auch die regionalen Gliederungen in destruktive Grabenkämpfe.20 In NRW erreicht die Partei bei den Landtagswahlen im Mai 1991 nur 1,9 Prozent der Stimmen. Die Ratsfraktionen in Köln und in Dortmund zerfielen nun vollends.21 Aus der Kölner REP-Fraktion waren drei Splitterfraktionen hervorgegangen, darunter die »Deutsche Liga für Volk und Heimat« (DLVH) unter der Führung von Markus Beisicht (vormals CDU und »Ring freiheitlicher Studenten«) und Manfred Rouhs (seit 1985 Landes- vorsitzender der Jungnationalen und 1986/87 NPD-Bundestagskandidat für Kre- feld). In der DLVH hätten sich langfristig alle »nationalen Kräfte« Deutschlands verbünden sollen, so die Idee der Initiatoren.22

2. Entwicklung und Wahlergebnisse seit 1990

Im zweiten Kapitel werden auf der Grundlage der bisher vorgestellten historischen Voraussetzungen des parteipolitischen Rechtsextremismus und Rechtspopulis- mus in Nordrhein-Westfalen die drei Parteien Republikaner, NPD und pro NRW in ihrer Entwicklung seit 1990 genauer analysiert. Auf dieser Basis kann eine aktuelle Bestandsaufnahme der rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien zwischen Rhein und Weser erfolgen.

20 Vgl. o. V.: Wotans Wölfe, in: Der Spiegel 1/1990, 1.1.1990, S. 43; Michael Schomers: Deutschland ganz rechts. Sieben Monate als Republikaner in BRD & DDR, Köln 1990, S. 174. 21 Vgl. Schomers, S. 239–242; Griese/Niermann, S. 171–173. 22 Vgl. Griese/Niermann, S. 159.

383 Lazaros Miliopoulos

2.1 Die »Republikaner« (REP)

Nachdem Uwe Goller, einer der wenigen kommunalen REP-Fraktionsvorsitzenden, die ihre »Truppen beisammenzuhalten« vermochten23, im Oktober 1991 als seiner- zeit 28-jähriger Zeitsoldat und Fraktionsvorsitzender im Stadtrat von Hamm zum NRW-Landesvorsitzenden gewählt wurde, gelang es, die Partei auf Landesebene zu stabilisieren. Zudem verfolgte Goller zunehmend eine rechtskonservative Linie, was ihn immer stärker in Gegensatz zu Schönhuber brachte, der sich wieder radikalen Kräften annäherte (diesmal Freys DVU). Der NRW-Landesver- band befand sich so immer mehr im Einklang mit dem baden-württembergischen Landesvorsitzenden Rolf Schlierer, der für einen strikten Abgrenzungskurs gegen- über der NPD warb. Mit starken 10,2 Prozent der Stimmen im Rücken, die seine Partei 1992 im »Ländle« erreichen konnte, gelang es Schlierer 1994 Schönhuber als Parteivorsitzenden abzulösen.24 Auf dieser Basis festigte sich die rechts- konservative Ausrichtung auch in NRW, zumal die Nachfolgerin Gollers, die gebürtige Kölnerin Ursula Winkelsett, die Linie ihres Vorgängers weiterführte. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Republikaner seit 2007 nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten in Deutschland aufgeführt.25 Die beachtliche innerparteiliche Stabilisierung änderte indes nichts an der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Partei auf dem Wählermarkt. Mit dem Abgang Schönhubers erlahmte schlicht die populistische Zugkraft.26 Bei den Landtagswahlen in NRW 1995 erreichten die REP nur noch 0,8 Prozent. Eine neue Chance bot sich, als zu den Kommunalwahlen 1999 die Fünf-Prozent-Hürde abgeschafft wurde und die REP zwölf kommunale Mandate erringen konnten.27 Zwar kletterte die Partei dann bei den Landtagswahlen 2000 noch einmal leicht auf 1,1 Prozent, und erhöhte bei den Kommunalwahlen 2004 die Zahl ihrer

23 Vgl. Griese/Niermann, S. 183–201. 24 Vgl. Decker: Rechtspopulismus, S. 152. 25 Vgl. Uwe Backes: Organisationen 2007, in: U. Backes/E. Jesse (Hg.): Jahrbuch Extremis- mus und Demokratie (E&D). 20. Jahrgang 2008, Baden-Baden 2009, S. 125–145, hier S. 138. 26 Erreichte die Partei in Baden-Württemberg 1996 noch einmal 9,1 Prozent der Stimmen, so schieden die REP 2001 endgültig aus dem Landtag aus, mit 4,4 Prozent, zudem 2004 aus dem Europaparlament mit 1,9 Prozent der Stimmen. 27 Die Angaben der kommunalen Mandate im vorliegenden Aufsatz erfolgen stets ohne Bezirksebene und ohne Stadtratsmandate in kreisangehörigen Gemeinden.

384 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen gewonnenen Mandate auf 24, doch konnte dies den darauffolgenden Niedergang nicht mehr aufhalten (Landtagswahlen 2005: 0,8/2010: 0,3 Prozent/2012: nicht mehr angetreten; Kommunalwahlen 2009: neun Mandate). Die REP sind im Zuge dieser Entwicklung inzwischen in eine tiefe innerparteiliche Krise geraten, die 2011 in eine Ablösung Winkelsetts als Landesvorsitzende mündete, nachdem diese sich mit Schlierer, der auf eine Kooperation mit »pro NRW« zusteuerte28, zerstritt und ihm in einer Kampfkandidatur für den Bundesvorsitz unterlag. Zum Nachfolger Winkelsetts wurde Andreas Weber gewählt, Mitglied des Aachener Städteregionstages, der aber nach weiteren Querelen bereits 2012 wieder zurück- trat. Seitdem wird die Landespartei kommissarisch von Karl-Heinz Fischer geführt, Kreisvorsitzender und Bezirksvertreter in Düsseldorf.

2.2 Die NPD

Die zur vollkommen bedeutungslosen Splitterpartei abgesunkene NPD versuchte seit 1990 einen Neuanfang. In NRW wurde der gebürtige Oberhausener Udo Holtmann 1993 zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. Viel bewegte sich unter Holtmann zunächst nicht. Erst 2003 kam die NRW-NPD in die Schlagzeilen, nachdem die etablierte Politik via Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung 2001 ein Parteiverbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungs- gericht eröffnete: Nachdem Wolfgang Frenz, Holtmanns Stellvertreter, der als Belastungszeuge im Verbotsverfahren geladen war, publik machte, von 1959 bis 1995 als V-Mann des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) in Düsseldorf tätig gewesen zu sein, folgte kurz darauf die Selbstenttarnung Holtmanns, der eben- falls als Belastungszeuge im Verbotsverfahren fungierte. Seit 1978 war Holtmann demnach als V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) tätig. Das Parteiverbotsverfahren musste aus Verfahrensgründen eingestellt werden, weil sich diejenigen, die als Belastungszeugen fungieren sollten und in der Führungs- ebene der NPD tätig waren, als V-Leute des Verfassungsschutzes entpuppten. Für die Antragssteller war das gescheiterte Verbotsverfahren ein juristisches Fiasko. Nach den Selbstenttarnungen von Frenz und Holtmann musste sich der Landesverband völlig neu organisieren. Holtmanns Nachfolger wurde der Lüden- scheider Stephan Haase, der aus der Kameradschaftsszene im Sauerland stammte.

28 Vgl. Moritz Schwarz: ›Künftig nur noch miteinander‹ (Interview mit Schlierer und Bei- sicht), in: Junge Freiheit, 18.2.2011, S. 3.

385 Lazaros Miliopoulos

So fügte sich der Führungswechsel in NRW in das neue strategische Konzept der Bundespartei unter Voigt ein, wonach alle »freien Kräfte«, also Mitglieder aus der Kameradschaftsszene, einbezogen werden sollten.29 Unter Haase konnte die NPD bei den Landtagswahlen 2005 mit einem Ergebnis von 0,9 Prozent erstmals wieder über den Promillebereich hinauskommen. Angesichts der erfolgreichen Anti-Hartz-IV-Kampagne der NPD 2004 in Sachsen (9,2 Prozent) nahmen sich die Resultate in NRW nichtsdestotrotz für die Partei enttäuschend aus. Nachdem sich Haase infolge von innerparteilichen Kontroversen im Juni 2008 von der Parteispitze zurückzog, kam es mit der Wahl von Claus Cremer, seinerzeit 29 Jahre alt, zu einer weiteren Verjüngung und Radikalisierung der Landespartei. Der Wattenscheider Cremer stammte ebenfalls aus der Kameradschaftsszene.30 Indessen setzte auf dem Wählermarkt aufgrund der viel zu schwachen Strukturen im Land erneut ein Abschwung ein. Bei den Landtagswahlen 2010 erreichten die Nationaldemokraten nur noch 0,7 und 2012 0,5 Prozent der Stimmen. Nur die Zahl ihrer kommunalen Mandate konnte die Partei 2009 auf immerhin zwölf Ratsmandate erhöhen, hauptsächlich im Ruhrgebiet.

2.3 »pro NRW« bis 2010

Aus den Reihen der 1991 gegründeten DLVH (s. Abschnitt 1.3), die 1994 aus dem Kölner Stadtrat ausschied, gründete sich 1996 die »Bürgerbewegung pro Köln«, ein zunächst politisch bedeutungsloser Verein, den der DLVH-Landesvorsitzende Beisicht seit 1999 – zusammen mit Rouhs und der Juristin Judith Wolter (ehemals REP) – Schritt für Schritt zu einer islamfeindlichen und rechtspopulistischen Partei in Deutschland umzugestalten versucht. In einer professionell geführten Kampagne engagierte sich »pro Köln« 2002 zunächst punktuell gegen den zunächst in Köln-Chorweiler geplanten Moscheebau und sammelte bis 2004 ca. 28.000 Unterschriften gegen weitere mögliche Moscheestandorte im gesamten Stadtgebiet.31 Auf dieser Grundlage trat der Verein 2004 sodann als

29 Vgl. Miliopoulos, S. 123 ff. 30 Vgl. diverse Verfassungsschutzberichte, z. B.: Innenministerium NRW (Hg.): Bericht des Verfassungsschutzes über das Jahr 2006, Düsseldorf 2007, S. 71 f. 31 Vgl. Alexander Häusler (Hg.): Rechtspopulismus als »Bürgerbewegung«. Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008, ins- besondere S. 155–290.

386 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen

Wählergruppe zu den Stadtratswahlen an und erreichte auf Anhieb 4,7 Prozent der Stimmen. 2005 gründete sich daraufhin die »Bürgerbewegung pro Deutsch- land«, zu deren Bundesvorsitzenden Rouhs gewählt wurde. 2007 schließlich erfolgte die Gründung von »pro NRW« als Partei. Sie konzentrierte sich zunächst auf die Kommunalwahlen 2009 und hier speziell auf das Rheinland: Außer in Bonn erreichte sie in allen kreisfreien Städten, in denen sie angetreten war (Köln, Gelsenkirchen und Leverkusen), Ergebnisse zwischen vier und sechs Prozent.32 Insgesamt gewann die Partei 17 kommunale Mandate. Der nächste Schritt war der landesweite Antritt zu den Landtagswahlen 2010. Mit 1,4 Prozent errang die Partei ein für nordrhein-westfälische Verhältnisse beachtliches Ergebnis. Darauf- hin wurden die einzelnen »Pro-Parteien« unter einem bundesweiten Dach- verband zusammengefasst (»Die Pro-Bewegung«), der eine Basis bieten soll für den nächsten geplanten Schritt: dem Antreten bei der Bundestagswahl 201333 und – zusammen mit den REP – bei den Europawahlen 2014.34 Bei den vorgezogenen Landtagswahlen 2012 bestätigte sich der Trend, dass »pro NRW« NPD und REP im Land den Rang abläuft. »pro NRW« erreichte 1,5, die NPD 0,5 Prozent der Stimmen und die REP traten gar nicht mehr an. »pro NRW« konnte als einzige der drei Rechtsaußenparteien von einer leicht anwachsenden »vierten Erfolgswelle« der parteipolitischen Rechten in NRW zwischen 2000 und 2010 profitieren und wächst seitdem geringfügig weiter. Zudem verfügt »pro NRW« durch zahlreiche Parteiwechsel (insbesondere von den REP und der aufgelösten DVU) inzwischen über 22 Mandate auf der kommunalen Ebene (Stand Ende 2012) und liegt damit weit vor ihren rechten Konkurrenten (NPD 11, REP 4).

32 Vgl. www.wahlergebnisse.nrw.de/kommunalwahlen/2009/index.html, Stand: 20.3.2013. 33 Es bleibt offen, ob ausreichend Unterschriften zusammenkommen, vgl.www.pro- deutschland-online.de/index.php?option=com_content&view=article&id=671:durchwa chsene-wochenbilanz&catid=14, Stand: 20.3.2013. 34 Vgl. Innenministerium NRW (Hg.): Bericht des Verfassungsschutzes über das Jahr 2011, Düsseldorf 2012, S. 38.

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3. Parteiorganisation und Mitgliederstruktur

Haben die REP mit einem stetigen Abstieg zu kämpfen, so sind sie finanziell noch relativ schlagkräftig.35 Allerdings zehren sie dabei von älteren Beständen, da nicht nur ihre Wahlperformanz, sondern auch ihre Mitgliederzahl zurückgeht. Sie liegt inzwischen bei geschätzt ca. 800 Mitgliedern in NRW (Stand Ende 2010).36 Die Mitgliederzahlen von »pro NRW« indes sind im Wachsen begriffen und liegen bei ca. 1.000 Mitgliedern und 350 Aktivisten (Stand Ende 2012, geschätzt gemäß Rechenschaftsberichten). Die Zahl der NPD-Mitglieder reicht schließlich nicht über 850 Personen hinaus: Die seit Mai 2012 rechtsgültige Fusion mit der DVU hat einen Mitgliederzuwachs von gerade einmal 100 Personen gebracht, da der Großteil der DVU-Mitglieder sich entweder zurückgezogen hat oder – wie der letztmalige Landesvorsitzende Max Branghofer aus Dortmund – zu »pro NRW« wechselte.37 Der regionale Schwerpunkt der Pro-Bewegung liegt im Rheinland und im Bergischen Land. Aufgrund der fehlenden Breite in ihrer organisatorischen Aufstellung ist es der Partei bisher noch nicht gelungen, in die traditionellen Festungen der REP einzudringen (Düsseldorf, Aachener Umland, Teile des Sauerlands und Westfalens), doch verhält sich dies inzwischen anders im Ruhr- gebiet, wo – neben dem Sauerland und Aachener Umland – zudem die NPD sehr aktiv ist.38 Die REP kämpfen wiederum dagegen an, dass sich in bestimmten Gegenden ihre Kreisverbände aufzulösen drohen. Die Mitgliederstruktur in allen diesen Parteien ist – typisch für Rechtsaußen- parteien – hauptsächlich geprägt von Männern, Kleinselbständigen, Hand- werkern, Kaufleuten und Kleinunternehmern, gefolgt von Rentnern, Haus- frauen, Auszubildenden, Arbeitern und Angestellten, in dritter Linie erst von Studierenden und Akademikern. Im Falle der NPD in NRW ist zudem ein überraschend hoher Anteil von Arbeitern zu konstatieren (ca. 14 Prozent der

35 Vgl. Deutscher Bundestag (Hg): Bekanntmachung von Rechenschaftsberichten politischer Parteien für das Kalenderjahr 2010 (2. Teil – Übrige anspruchsberechtigte Parteien), Drucksache 17/8551, 14.2.2012, S. 89 f. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. www.pro-nrw.net/?p=4257, Stand: 20.3.2013. 38 Vgl. Uwe Backes/Matthias Mletzko/Jan Stoye: NPD-Wahlmobilisierung und politisch motivierte Gewalt, Köln 2010, S. 157.

388 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen

109 Landtagswahlkandidaten 200539), was mit ihrer Verankerung im Ruhrgebiet zusammenhängen mag.

4. Programmatisches Profil

Die jüngsten Landtagswahlprogramme der REP und von »pro NRW«40 über- lappen sich stark im Bereich der inneren Sicherheit und Bildungspolitik (Null- toleranzstrategie, höhere Strafen, dreigliedriges Schulsystem). Ansonsten ist die immigrationspolitische Agenda der REP ein Stück restriktiver als diejenige von »pro NRW« (in der immerhin eine proaktive Integrationsmaßnahme wie »Sprachförderung im Kindergarten« gefordert wird). Die wirtschaftspolitische Programmatik der beiden Parteien ist tendenziell rechtsliberal orientiert: die REP verlangen die Umstellung der Beamtenversorgung auf Kapitaldeckung und die Auswahl der Studienanfänger durch die Universitäten, »pro NRW« hat einen »Arbeitskreis Mittelstand« gegründet. Der entscheidende programmatische Unterschied liegt in der Islampolitik. »pro NRW« ist hier radikaler als die REP. Der »Islam« wird in toto als eine feind- liche Eroberungsideologie gekennzeichnet. Das Vorgehen der Partei ist mit einem auf Tabubruch gebürsteten Aktionismus verbunden, wie sich dies anhand der offensiven Zusammenarbeit mit der »Eurorechten« (FPÖ, Vlams Belang, Front National) bei den »Anti-Islamisierungs-Kongressen« 2008 und 2009 zeigen lässt und vor allem bei der »Islam-Tour« kurz vor den Landtagswahlen 2012, als das Parteivolk mit Lautsprecherparolen vor Moscheen demonstrierte und dabei demonstrativ Mohammed-Karikaturen hochhielt. Zudem rekurriert »pro NRW« expliziter als die REP auf kulturkonservative Vorstellungen und bedient sich in drastischerer Weise einer zuweilen anti-linkslibertär (gegen »Homolobby«) auf- geladenen Anti-Establishment-Rhetorik. Großen Wert legt die Partei auf die Stärkung »direkter Demokratie« nach dem Schweizer Modell, verknüpft dies aber mit einer pauschalen Anti-Parteienstaatsrhetorik. Die Partei hofft darauf, dass

39 Vgl. Karin Priester: Die braune Elite. Die Sozialstruktur der NPD-Führung, in: Vor- gänge, 184/4 (2008), S. 122. 40 Vgl. www.rep-nrw.de/upload/CMS/rep-nrw.de/Daten/Partei/120410_rep_NRW_ltw- progr_12.pdf, Stand: 20.3.2013 und www.pro-nrw.net/wp-content/uploads/Wahl- programm.pdf, Stand: 20.3.2013.

389 Lazaros Miliopoulos dies im konservativen und rechtsliberalen Spektrum verfängt. Dabei könnte ihr ein bestimmter Teil ihrer Gegner in die Hände spielen.41 Zwar agiert »pro NRW« streng gesetzeskonform, doch legte die Partei bei ihrer »Islam-Tour« eine Vorgehensweise an den Tag, die gewalttätige Reaktionen radikal- islamischer Gegenkräfte erwarten ließ – wie dies bei einer Demonstration in Bonn im Mai 2012 dann auch eingetreten war. Aus ihrer Sicht erwies »pro NRW« – so die typische Rhetorik – der Gesellschaft bloß einen Dienst, indem sie ein von »Multikulti- Ideologen« verschleiertes Gewaltpotenzial »des Islam« freigelegt hätte, während die »Etablierten« aus opportunistischen Gründen die Augen davor verschließen würden.42 Trotz solcher Rechtfertigungsversuche steht die Partei nicht ohne Grund unter dem Verdacht, extremistische Absichten zu verfolgen.43 In den Berichten des LfV wird sie erwähnt, weil »tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung« vorlägen.44 Zudem konnten dem Kreisverband Radevormwald 2012 Verbindungen zur dortigen Kameradschaftsszene nachgewiesen werden. Ein weiterer Anhaltspunkt für eine extremistische Ausrichtung ist die Tatsache, dass sich das Gründungs- und Führungspersonal der »Pro-Bewegung« zu einem großen Teil aus ehemaligen Kadern rechtsextremer Parteien (NPD, DVU, DLVH) rekrutiert. Doch auch ehemalige Mit- glieder vom rechten Flügel der CDU oder Rechtskonservative sind im Führungs- personal vertreten. Als typische »Weltanschauungspartei« (Max Weber) nimmt indes nur die NPD eine weitgehend offene rechtsextreme, hier völkisch-nationalistische,

41 Vgl. Kristian Frigelj: Kölner Kundgebungsverbot ist Blamage für den Rechtsstaat. Staats- rechtler sehen Versammlungsfreiheit verletzt, in: Die Welt Online, 23.9.2008 (s. www. welt.de/welt_print/article2480201/Koelner-Kundgebungsverbot-ist-Blamage-fuer-den- Rechtsstaat.html, Stand: 20.3.2013); Matthias Hannemann: Die Ordnung der Dinge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2008, S. 40. 42 Vgl. als typisches Beispiel die Petition »Wir haben nichts zu verschleiern« vom 18.6.2010, abrufbar unter: www.pro-nrw.net/?p=161, Stand: 20.3.2013. 43 Vgl. im Folgenden Hans-Peter Killguss/Jürgen Peters/Alexander Häusler: PRO KÖLN – Entstehung und Aktivitäten, in: A. Häusler (Hg.): Rechtspopulismus als »Bürgerbe- wegung«. Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008, S. 55–71, hier S. 55, S. 57 f. und S. 67–69. In entlarvender, aggressiv- kämpferischer Weise wird z. B. in einem Dokument der Unterorganisation »Pro Mittel- stand NRW« dem politischen Establishment pauschal »Hochverrat« vorgeworfen (vgl. M. Sattler: Das Dilemma der Bunten Republikaner (17.12.2011), in: www.mittelstand- pro-nrw.de/Hochverrat.htm, Stand: 20.3.2013). 44 Vgl. Innenministerium NRW (Hg.): Bericht des Verfassungsschutzes über das Jahr 2011, Düsseldorf 2012, S. 27–37.

390 Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Nordrhein-Westfalen wenn auch keine offen militante Haltung ein.45 An der Einschätzung, dass sich die Partei legalitätstaktisch positioniert, ändern auch ihre sehr engen Kontakte zur NS- affinen Kameradschaftsszene nichts, solange Gewalttaten aus dieser Szene heraus – wie in NRW – ohne erkennbare Muster und mit nur wenig unmittelbaren NPD- Bezug verlaufen.46 Zudem vermeidet die NPD einen offenen radikalen Antisemitis- mus oder Hitlerismus. Sie scheut sich aber nicht, ihren völkischen Ansatz rassisch zu konnotieren, einen großdeutschen Vaterlands- und Nationsbegriff mit einem aus- geprägten Antiliberalismus zu verknüpfen und keinen Zweifel daran zu lassen, das politische System der Bundesrepublik Deutschland »revolutionieren« und in seiner grundrechtlich-liberalen, repräsentativ-demokratischen und euro-atlantischen Aus­ prägung­ überwinden zu wollen. Die NPD bemüht zwar häufig eine »defensiv- nationalistische«, »befreiungsnationalistische«, antiamerikanische und imperialis- muskritische Antiglobalisierungsrhetorik, verknüpft diese aber mit einer weniger deutschnationalen denn NS-apologetischen Anti-Schuld-Rhetorik.47 Die ethnische Aggressivität zeigt sich überdies in verschwörungstheoretischen Feindbildern und in den immigrationspolitischen Forderungen.48 Im Grunde läuft die Programmatik auf ein großangelegtes Vertreibungs- und Enteignungsmanöver hinaus.49

5. Perspektiven

Die REP verlieren gegenwärtig eine ganze Reihe von Aktivisten an »pro NRW«, insbesondere im Ruhrgebiet. Geht die Entwicklung zulasten von REP wie NPD so weiter, ist für die nahe Zukunft ein weiterer Aderlass für die REP auch im Bereich ihrer inaktiven Mitglieder nicht unwahrscheinlich. Zudem konnte »pro NRW« zwischenzeitlich darauf hoffen, dass sich potente Spender finden lassen wie der schwedische Unternehmer Patrick Brinkmann, der angekündigt hatte, die Partei zu unterstützen, sich aber in der Zwischenzeit aufgrund zahlreicher

45 Vgl. im Folgenden Innenministerium NRW (Hg.): Bericht des Verfassungsschutzes über das Jahr 2010, Düsseldorf 2011, S. 39–58. 46 Vgl. Backes/Mletzko/Stoye, S. 158. 47 Vgl. mit weiteren Belegen Miliopoulos, S. 124 und S. 134 f. 48 Vgl. Innenministerium NRW (Hg.): Bericht 2010, S. 39–58. 49 Vgl. Steffen Kailitz: Die nationalsozialistische Ideologie der NPD, in: U. Backes/H. Steg- lich (Hg.): Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden- Baden 2007, S. 337–354.

391 Lazaros Miliopoulos innerparteilicher Querelen wieder zurückgezogen hat.50 Die Abgrenzungs- strategie der REP gegen »pro NRW« könnte dennoch aufgrund der spezifischen Dynamik, die der Entwicklung von »pro NRW« weiterhin innewohnt, in naher Zukunft vollends aufgegeben werden, wie sich dies bereits an der Auseinander- setzung zwischen Schlierer und Winkelsett andeutet. Im Falle der NPD fehlt es trotz aller Bemühungen – gerade im Vergleich zu Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern – an ausgebauten, flächen- deckenden Strukturen von arbeitsfähigen und aktiven Kreisverbänden51 »sowie an geeigneten Funktionären und einem Vorsitzenden mit Bindungskraft.«52 Letzteres ist umso problematischer für die Partei als dass sie – gerade in NRW – den Spagat zwischen freier Szene und Parteidisziplin meistern muss. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ihr das auf Dauer in NRW gelingen wird. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die rechtspopulistischen und rechts- extremen Parteien in Nordrhein-Westfalen insgesamt auf einem schwachen Stand verharren und sich aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit daran nichts ändern wird. Zwar hat sich im Falle von »pro Köln« und »pro NRW« in den vergangenen zehn Jahren eine gewisse Dynamik entwickelt, allerdings auf weiterhin sehr niedrigem Niveau. Die westdeutsche Gesellschaft im Allgemeinen und Nordrhein- Westfalen im Besonderen haben viele Jahrzehnte lang schwierige Lernprozesse im Umgang mit totalitären Diktaturerfahrungen, mit Immigranten sowie mit Plurali- tätsbedingungen durchlaufen. Alleine schon deshalb ist eine starke Abwehrhaltung gegen jegliche Parteien zu beobachten, wenn diese bloß unter dem Verdacht stehen, rechtsextrem zu sein. Und eine gegenteilige Wahrnehmung im Falle von »pro NRW« lässt sich bisher nicht abbilden: weder in der veröffentlichten Meinung noch in den Verfassungsschutzberichten und auch nicht auf dem Rechtsweg.53

50 Vgl. Frank Jansen/Johannes Radke: Streit und Chaos bei den Rechtspopulisten, in: Der Tagesspiegel Online vom 30.3.2011 (s. www.tagesspiegel.de/berlin/pro-deutschland-und- die-freiheit-streit-und-chaos-bei-den-rechtspopulisten/4005876.html, Stand: 20.3.2013). 51 Vgl. Backes/Mletzko/Stoye, S. 189; Thomas Grumke: Der »hysterische NPD-Tsunami«. Die NPD in Nordrhein-Westfalen und Sachsen im Vergleich, in: Jahrbuch der Anti- semitismusforschung, 14 (2005), S. 89–97. 52 Innenministerium NRW (Hg.): Bericht des Verfassungsschutzes über das Jahr 2009, Düsseldorf 2010, S. 60. 53 Vgl. zuletzt die Urteile gegen »Pro NRW« in der Frage ihrer Erwähnung in den Ver- fassungsschutzberichten: VG Düsseldorf, 15.2.2011–22 K 404/09 und OVG Nordrhein- Westfalen, 23.5.2012–5 A 837/11.

392 III. Dokumentation – Anhang links: Dokumentation – Anhang erstellt von Jonas Israel

393 Dokumentation – Anhang rechts: Tabellen A. Wahlergebnisse Landtagswahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen seit 1947 (Zweitstimmenanteil und Sitze)

Jahr Einheit 1947 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012 Wahlbeteiligung % 67,3 72,3 72,6 76,6 73,4 76,5 73,5 86,1 80,0 75,2 71,8 64,0 56,7 63,0 59,3 59,6 CDU % 37,6 36,9 41,3 50,5 46,4 42,8 46,3 47,1 43,2 36,5 36,7 37,7 37,0 44,8 34,6 26,3 Sitze 92 93 90 104 96 86 95 95 95 88 90 89 88 89 67 67 SPD % 32,0 32,3 34,5 39,2 43,3 49,5 46,1 45,1 48,4 52,1 50,0 46,0 42,8 37,1 34,5 39,1 Sitze 64 68 76 81 90 99 94 91 106 125 123 108 102 74 67 99 FDP % 5,9 12,1 11,5 7,1 6,8 7,4 5,5 6,7 4,9 6,0 5,8 4,0 9,8 6,2 6,7 8,6 Sitze 12 26 25 15 14 15 11 14 14 14 24 12 13 22 GRÜNE % 3,0 4,6 5,0 10,0 7,1 6,2 12,1 11,3 Sitze 12 24 17 12 23 29 Die LINKE* % 1,1 3,1 5,6 2,5 Sitze 11 PIRATEN % 1,6 7,8 Sitze 20 KPD/DKP** % 14,0 5,5 3,8 0,9 0,6 0,3 0,0 0,0 0,1 Sitze 28 12 Zentrumspartei % 9,8 7,5 4,0 1,1 0,9 0,2 0,1 0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,1 Sitze 20 16 9 Sonstige % 0,8 5,7 4,9 2,2 2,5 0,1 1,1 0,4 0,2 0,8 2,5 2,2 2,2 2,6 4,9 4,3 Sitze Gesamt Sitze 216 215 200 200 200 200 200 200 201 227 239 221 231 187 181 237

* 2000 als PDS, 2005 als PDS und WASG. ** Bis 1954 als KPD, seit 1970 als DKP und KPD. Quelle: Bundeswahlleiter und Landeswahlleiterin NRW.

394 Tabellen

Jahr Einheit 1947 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012 Wahlbeteiligung % 67,3 72,3 72,6 76,6 73,4 76,5 73,5 86,1 80,0 75,2 71,8 64,0 56,7 63,0 59,3 59,6 CDU % 37,6 36,9 41,3 50,5 46,4 42,8 46,3 47,1 43,2 36,5 36,7 37,7 37,0 44,8 34,6 26,3 Sitze 92 93 90 104 96 86 95 95 95 88 90 89 88 89 67 67 SPD % 32,0 32,3 34,5 39,2 43,3 49,5 46,1 45,1 48,4 52,1 50,0 46,0 42,8 37,1 34,5 39,1 Sitze 64 68 76 81 90 99 94 91 106 125 123 108 102 74 67 99 FDP % 5,9 12,1 11,5 7,1 6,8 7,4 5,5 6,7 4,9 6,0 5,8 4,0 9,8 6,2 6,7 8,6 Sitze 12 26 25 15 14 15 11 14 14 14 24 12 13 22 GRÜNE % 3,0 4,6 5,0 10,0 7,1 6,2 12,1 11,3 Sitze 12 24 17 12 23 29 Die LINKE* % 1,1 3,1 5,6 2,5 Sitze 11 PIRATEN % 1,6 7,8 Sitze 20 KPD/DKP** % 14,0 5,5 3,8 0,9 0,6 0,3 0,0 0,0 0,1 Sitze 28 12 Zentrumspartei % 9,8 7,5 4,0 1,1 0,9 0,2 0,1 0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,1 Sitze 20 16 9 Sonstige % 0,8 5,7 4,9 2,2 2,5 0,1 1,1 0,4 0,2 0,8 2,5 2,2 2,2 2,6 4,9 4,3 Sitze Gesamt Sitze 216 215 200 200 200 200 200 200 201 227 239 221 231 187 181 237

* 2000 als PDS, 2005 als PDS und WASG. ** Bis 1954 als KPD, seit 1970 als DKP und KPD. Quelle: Bundeswahlleiter und Landeswahlleiterin NRW.

395 Dokumentation – Anhang

Bundestagswahlen: Zweitstimmenanteil in Nordrhein-Westfalen seit 1949

Jahr 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 Wahlbeteiligung 79,6 86,0 88,0 88,4 87,6 87,3 91,8 91,3 89,0 89,5 85,4 78,7 81,9 83,9 80,3 78,3 71,4 CDU 36,9 48,9 54,4 47,6 47,1 43,6 41,0 44,5 40,6 45,2 40,1 40,5 38,0 33,8 35,1 34,4 33,1 SPD 31,4 31,9 33,5 37,3 42,6 46,8 50,4 46,9 46,8 42,8 43,2 41,1 43,1 46,9 43,0 40,0 28,5 FDP 8,6 8,5 6,3 11,8 7,6 5,4 7,8 7,8 10,9 6,4 8,4 11,0 7,6 7,3 9,3 10,0 14,9 GRÜNE 5,2 7,5 4,3 7,4 6,9 8,9 7,6 10,1 Die Linke* 0,3 1,0 1,2 1,2 5,2 8,4 Sonstige 23,1 10,7 5,9 3,4 2,7 4,2 0,8 0,8 1,7 0,4 0,9 2,8 2,8 4,0 2,5 2,8 4,9

* bis 2002 als PDS. Quelle: Bundeswahlleiter.

Europawahlen: Zweitstimmenanteil in Nordrhein-Westfalen seit 1979 Jahr 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 Wahlbeteiligung 67,4 59,4 62,3 59,5 43,8 41,1 41,8 CDU 45,8 42,8 35,7 37,0 47,3 44,9 38,0 SPD 44,6 41,7 43,6 40,1 37,3 25,7 25,6 FDP 5,8 4,2 5,7 4,3 3,5 7,5 12,3 GRÜNE 3,0 8,0 7,9 11,2 7,1 12,6 12,5 Die LINKE* 0,6 1,3 2,1 4,6 KPD/DKP 0,5 0,2 0,1 0,1 Zentrumspartei 0,2 0,5 0,2 0,0 0,1 Sonstige 0,2 2,7 6,6 6,8 3,4 7,0 6,9

* bis 2004 als PDS. Quelle: Bundeswahlleiter.

396 Tabellen

Jahr 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 Wahlbeteiligung 79,6 86,0 88,0 88,4 87,6 87,3 91,8 91,3 89,0 89,5 85,4 78,7 81,9 83,9 80,3 78,3 71,4 CDU 36,9 48,9 54,4 47,6 47,1 43,6 41,0 44,5 40,6 45,2 40,1 40,5 38,0 33,8 35,1 34,4 33,1 SPD 31,4 31,9 33,5 37,3 42,6 46,8 50,4 46,9 46,8 42,8 43,2 41,1 43,1 46,9 43,0 40,0 28,5 FDP 8,6 8,5 6,3 11,8 7,6 5,4 7,8 7,8 10,9 6,4 8,4 11,0 7,6 7,3 9,3 10,0 14,9 GRÜNE 5,2 7,5 4,3 7,4 6,9 8,9 7,6 10,1 Die Linke* 0,3 1,0 1,2 1,2 5,2 8,4 Sonstige 23,1 10,7 5,9 3,4 2,7 4,2 0,8 0,8 1,7 0,4 0,9 2,8 2,8 4,0 2,5 2,8 4,9

* bis 2002 als PDS. Quelle: Bundeswahlleiter.

397 Dokumentation – Anhang

Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen seit 1946

Wahlen zu den Stadträten der kreisfreien Städte und zu den Kreistagen der Kreise (in Prozent)*

Jahr 1946 1948 1952 1956 1961 1964 1969 1975 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 Wahlbeteiligung 74,4 69,0 76,0 76,9 78,2 76,2 68,6 86,4 69,9 65,8 65,6 81,7 55,0 54,4 52,4 CDU 46,0 37,6 35,6 38,2 45,0 43,1 45,7 46,1 46,3 42,2 37,5 40,3 50,3 43,4 38,6 SPD 33,4 35,9 36,1 44,2 40,7 46,6 45,6 45,5 44,9 42,5 43,0 42,3 33,9 31,7 29,4 FDP 4,3 6,9 12,6 9,6 10,2 8,0 6,3 7,1 6,5 4,8 6,5 3,8 4,3 6,8 9,2 GRÜNE 8,2 8,3 10,2 7,3 10,3 12,0 Sonstige** 16,3 19,6 15,7 8,0 4,1 2,3 2,4 1,3 2,2 2,3 4,6 3,5 4,2 7,8 10,8

* 2009 ohne kreisfreie Stadt Aachen, einschließlich Städteregion ** Davon entfielen auf die Zentrumspartei 1946: 3,5 %, 1948: 10,7 %, 1952: 6,9 %, 1956: 4,0 %.

Wahlen zu den Räten der kreisangehörigen Gemeinden

Jahr Einheit 1948 1952 1956 1961 1964 1969 1975 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 CDU % 41,7 43,3 43,6 48,3 46,0 47,9 49,9 48,4 44,7 40,1 42,3 50,9 45,5 40,7 Sitze 1.376 1.627 1.706 1.987 1.935 2.076 1.665 1.663 1.588 1.420 1.464 1.661 1.467 1.353 SPD % 34,5 28,8 33,4 32,7 37,1 39,3 40,5 41,4 39,6 40,6 39,3 32,4 30,1 28,2 Sitze 1.209 1.471 1.748 1.595 1.874 1.890 1.535 1.547 1.532 1.579 1.499 1.127 1.083 1.061 FDP % 5,0 8,9 9,8 9,3 8,6 6,4 6,8 6,6 5,4 6,6 4,2 4,5 6,9 9,3 Sitze 197 548 389 403 299 196 203 197 111 192 33 140 227 317 GRÜNE % 6,4 6,4 7,6 5,4 7,5 9,0 Sitze 273 276 332 236 345 419 Sonstige % 18,8 19,1 13,2 9,8 8,3 6,4 2,9 3,5 3,9 6,2 6,6 6,8 10,0 12,8 Sitze 602 521 234 116 70 78 13 29 56 87 30 148 276 392

Quelle jeweils: Landeswahlleiterin NRW.

398 Tabellen

Jahr 1946 1948 1952 1956 1961 1964 1969 1975 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 Wahlbeteiligung 74,4 69,0 76,0 76,9 78,2 76,2 68,6 86,4 69,9 65,8 65,6 81,7 55,0 54,4 52,4 CDU 46,0 37,6 35,6 38,2 45,0 43,1 45,7 46,1 46,3 42,2 37,5 40,3 50,3 43,4 38,6 SPD 33,4 35,9 36,1 44,2 40,7 46,6 45,6 45,5 44,9 42,5 43,0 42,3 33,9 31,7 29,4 FDP 4,3 6,9 12,6 9,6 10,2 8,0 6,3 7,1 6,5 4,8 6,5 3,8 4,3 6,8 9,2 GRÜNE 8,2 8,3 10,2 7,3 10,3 12,0 Sonstige** 16,3 19,6 15,7 8,0 4,1 2,3 2,4 1,3 2,2 2,3 4,6 3,5 4,2 7,8 10,8

* 2009 ohne kreisfreie Stadt Aachen, einschließlich Städteregion ** Davon entfielen auf die Zentrumspartei 1946: 3,5 %, 1948: 10,7 %, 1952: 6,9 %, 1956: 4,0 %.

Jahr Einheit 1948 1952 1956 1961 1964 1969 1975 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 CDU % 41,7 43,3 43,6 48,3 46,0 47,9 49,9 48,4 44,7 40,1 42,3 50,9 45,5 40,7 Sitze 1.376 1.627 1.706 1.987 1.935 2.076 1.665 1.663 1.588 1.420 1.464 1.661 1.467 1.353 SPD % 34,5 28,8 33,4 32,7 37,1 39,3 40,5 41,4 39,6 40,6 39,3 32,4 30,1 28,2 Sitze 1.209 1.471 1.748 1.595 1.874 1.890 1.535 1.547 1.532 1.579 1.499 1.127 1.083 1.061 FDP % 5,0 8,9 9,8 9,3 8,6 6,4 6,8 6,6 5,4 6,6 4,2 4,5 6,9 9,3 Sitze 197 548 389 403 299 196 203 197 111 192 33 140 227 317 GRÜNE % 6,4 6,4 7,6 5,4 7,5 9,0 Sitze 273 276 332 236 345 419 Sonstige % 18,8 19,1 13,2 9,8 8,3 6,4 2,9 3,5 3,9 6,2 6,6 6,8 10,0 12,8 Sitze 602 521 234 116 70 78 13 29 56 87 30 148 276 392

Quelle jeweils: Landeswahlleiterin NRW.

399 Dokumentation – Anhang

B. Kabinette/Koalitionen in NRW seit 1947 Vorzeitiges Ende Zeitraum Koalition Kabinett Ministerpräsident/in Stellvertreter/in der Koalition? 17.6.1947 bis 5.7.1950 CDU/SPD/DZP/KPD Arnold I Karl Arnold (CDU) Walter Menzel (SPD) Nein 27.7.1950 bis 13.7.1954 CDU/DZP Arnold II Karl Arnold (CDU) Artur Sträter (CDU) Nein 27.7.1954 bis 20.2.1956 CDU/FDP/DZP Arnold III Karl Arnold (CDU) Friedrich Middelhauve Ja (konstruktives (FDP) ­Misstrauensvotum) 20.2.1956 bis 21.7.1958 SPD/FDP/DZP Steinhoff Fritz Steinhoff (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 21.7.1958 bis 23.7.1962 CDU Meyers I Franz Meyers (CDU) Artur Sträter (CDU) Nein 23.7.1962 bis 25.7.1966 CDU/FDP Meyers II Franz Meyers (CDU) Willi Weyer (FDP) Nein 25.7.1966 bis 8.12.1966 CDU/FDP Meyers III Franz Meyers (CDU) Willi Weyer (FDP) Ja (konstruktives ­Misstrauensvotum) 8.12.1966 bis 27.7.1970 SPD/FDP Kühn I Heinz Kühn (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 28.7.1970 bis 28.5.1975 SPD/FDP Kühn II Heinz Kühn (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 4.6.1975 bis 20.9.1978 SPD/FDP Kühn III Heinz Kühn (SPD) Horst-Ludwig Riemer Ja (Rücktritt des (FDP) Ministerpräsidenten) 20.9.1978 bis 29.5.1980 SPD/FDP Rau I Johannes Rau (SPD) Horst-Ludwig Riemer Nein (FDP), ab 1979 Burkhard Hirsch (FDP) 4.6.1980 bis 30.5.1985 SPD Rau II Johannes Rau (SPD) Diether Posser (SPD) Nein 5.6.1985 bis 31.5.1990 SPD Rau III Johannes Rau (SPD) Diether Posser (SPD), Nein ab 1988 Herbert Schnoor (SPD) 06.6.1990 bis 1.6.1995 SPD Rau IV Johannes Rau (SPD) Herbert Schnoor Nein (SPD) 6.7.1995 bis 27.5.1998 SPD/GRÜNE Rau V Johannes Rau (SPD) Michael Vesper Ja (Rücktritt des (GRÜNE) Ministerpräsidenten) 27.5.1998 bis 21.6.2000 SPD/GRÜNE Clement I Wolfgang Clement Michael Vesper Nein (SPD) (GRÜNE) 21.6.2000 bis 21.10.2002 SPD/GRÜNE Clement II Wolfgang Clement Michael Vesper Ja (Ministerpräsident (SPD) (GRÜNE) wird Bundesminister)

400 Tabellen

Vorzeitiges Ende Zeitraum Koalition Kabinett Ministerpräsident/in Stellvertreter/in der Koalition? 17.6.1947 bis 5.7.1950 CDU/SPD/DZP/KPD Arnold I Karl Arnold (CDU) Walter Menzel (SPD) Nein 27.7.1950 bis 13.7.1954 CDU/DZP Arnold II Karl Arnold (CDU) Artur Sträter (CDU) Nein 27.7.1954 bis 20.2.1956 CDU/FDP/DZP Arnold III Karl Arnold (CDU) Friedrich Middelhauve Ja (konstruktives (FDP) ­Misstrauensvotum) 20.2.1956 bis 21.7.1958 SPD/FDP/DZP Steinhoff Fritz Steinhoff (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 21.7.1958 bis 23.7.1962 CDU Meyers I Franz Meyers (CDU) Artur Sträter (CDU) Nein 23.7.1962 bis 25.7.1966 CDU/FDP Meyers II Franz Meyers (CDU) Willi Weyer (FDP) Nein 25.7.1966 bis 8.12.1966 CDU/FDP Meyers III Franz Meyers (CDU) Willi Weyer (FDP) Ja (konstruktives ­Misstrauensvotum) 8.12.1966 bis 27.7.1970 SPD/FDP Kühn I Heinz Kühn (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 28.7.1970 bis 28.5.1975 SPD/FDP Kühn II Heinz Kühn (SPD) Willi Weyer (FDP) Nein 4.6.1975 bis 20.9.1978 SPD/FDP Kühn III Heinz Kühn (SPD) Horst-Ludwig Riemer Ja (Rücktritt des (FDP) Ministerpräsidenten) 20.9.1978 bis 29.5.1980 SPD/FDP Rau I Johannes Rau (SPD) Horst-Ludwig Riemer Nein (FDP), ab 1979 Burkhard Hirsch (FDP) 4.6.1980 bis 30.5.1985 SPD Rau II Johannes Rau (SPD) Diether Posser (SPD) Nein 5.6.1985 bis 31.5.1990 SPD Rau III Johannes Rau (SPD) Diether Posser (SPD), Nein ab 1988 Herbert Schnoor (SPD) 06.6.1990 bis 1.6.1995 SPD Rau IV Johannes Rau (SPD) Herbert Schnoor Nein (SPD) 6.7.1995 bis 27.5.1998 SPD/GRÜNE Rau V Johannes Rau (SPD) Michael Vesper Ja (Rücktritt des (GRÜNE) Ministerpräsidenten) 27.5.1998 bis 21.6.2000 SPD/GRÜNE Clement I Wolfgang Clement Michael Vesper Nein (SPD) (GRÜNE) 21.6.2000 bis 21.10.2002 SPD/GRÜNE Clement II Wolfgang Clement Michael Vesper Ja (Ministerpräsident (SPD) (GRÜNE) wird Bundesminister)

401 Dokumentation – Anhang

Vorzeitiges Ende Zeitraum Koalition Kabinett Ministerpräsident/in Stellvertreter/in der Koalition? 6.11.2002 bis 2.6.2005 SPD/GRÜNE Steinbrück Peer Steinbrück (SPD) Michael Vesper Nein (GRÜNE) 22.6.2005 bis 9.6.2010 CDU/FDP Rüttgers Jürgen Rüttgers (CDU) Andreas Pinkwart Nein (FDP) 14.7.2010 bis 14.3.2012 SPD/GRÜNE Kraft I Hannelore Kraft (SPD) Sylvia Löhrmann Ja (Selbstauflösung (GRÜNE) des Landtages) seit 20.6.2012 SPD/GRÜNE Kraft II Hannelore Kraft (SPD) Sylvia Löhrmann (GRÜNE)

Quelle: www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_II/II.2/Archiv/mdldat/Landesregierungen/0000_ Landesregierungen.jsp; www.nrw.de/landesregierung/kabinett, Stand jeweils: 20.3.2013.

402 Tabellen

Vorzeitiges Ende Zeitraum Koalition Kabinett Ministerpräsident/in Stellvertreter/in der Koalition? 6.11.2002 bis 2.6.2005 SPD/GRÜNE Steinbrück Peer Steinbrück (SPD) Michael Vesper Nein (GRÜNE) 22.6.2005 bis 9.6.2010 CDU/FDP Rüttgers Jürgen Rüttgers (CDU) Andreas Pinkwart Nein (FDP) 14.7.2010 bis 14.3.2012 SPD/GRÜNE Kraft I Hannelore Kraft (SPD) Sylvia Löhrmann Ja (Selbstauflösung (GRÜNE) des Landtages) seit 20.6.2012 SPD/GRÜNE Kraft II Hannelore Kraft (SPD) Sylvia Löhrmann (GRÜNE)

Quelle: www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_II/II.2/Archiv/mdldat/Landesregierungen/0000_ Landesregierungen.jsp; www.nrw.de/landesregierung/kabinett, Stand jeweils: 20.3.2013.

403 Dokumentation – Anhang

C. Parteimitglieder in NRW seit 1990

CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Gesamt Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr 1990 233.656 287.130 20.652 9.014 550.452 1991 224.939 –8.717 273.143 –13.987 20.340 –312 8.677 –337 98 527.197 –23.255 1992 217.687 –7.252 262.268 –10.875 20.017 –323 8.141 –536 101 3 508.214 –18.983 1993 210.742 –6.945 253.803 –8.465 19.684 –333 8.410 269 175 74 492.814 –15.400 1994 209.505 –1.237 249.205 –4.598 19.213 –471 9.625 1.215 498 323 488.046 –4.768 1995 205.766 –3.739 238.291 –10.914 17.817 –1.396 10.469 844 548 50 472.891 –15.155 1996 201.447 –4.319 229.910 –8.381 16.704 –1.113 10.630 161 490 –58 459.181 –13.710 1997 197.610 –3.837 224.728 –5.182 15.665 –1.039 10.863 233 556 66 449.422 –9.759 1998 198.237 627 225.766 1.038 15.401 –264 11.771 908 831 275 452.006 2.584 1999 204.256 6.019 219.332 –6.434 15.476 75 11.505 –266 1.215 384 451.784 –222 2000 196.794 –7.462 211.290 –8.042 15.448 –28 10.884 –621 1.105 –110 435.521 –16.263 2001 189.761 –7.033 203.178 –8.112 15.844 396 10.201 –683 1.138 33 420.122 –15.399 2002 186.520 –3.241 194.652 –8.526 16.911 1.067 9.743 –458 1.361 223 409.187 –10.935 2003 184.464 –2.056 181.071 –13.581 16.438 –473 10.001 258 1.219 –142 393.193 –15.994 2004 183.529 –935 167.547 –13.524 16.337 –101 10.249 248 1.135 –84 378.797 –14.396 2005 179.463 –4.066 162.216 –5.331 16.462 125 10.305 56 1.583 448 370.029 –8.768 2006 172.072 –7.391 152.360 –9.856 16.133 –329 10.118 –187 1.913 330 352.596 –17.433 2007 166.222 –5.850 145.274 –7.086 15.764 –369 9.917 –201 5.905 3.992 343.082 –9.514 2008 165.506 –716 139.623 –5.651 16.202 438 10.091 174 7.764 1.859 339.186 –3.896 2009 162.597 –2.909 136.840 –2.783 17.899 1.697 11.005 914 8.555 791 336.896 –2.290 2010 155.841 –6.756 133.867 –2.973 16.907 –992 11.789 784 8.681 126 327.085 –9.811 2011 150.257 –5.584 127.765 –6.102 15.533 –1.374 12.578 789 8.123 –558 314.256 –12.829 Differenz absolut –83.399 –159.365 –5.119 3.564 8.025 –236.196 1990*–2011 Differenz prozent. –35,7 % –55,5 % –24,8 % 39,5 % 8188,8 % –42,9 % 1990*–2011

404 Tabellen

CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Gesamt Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr 1990 233.656 287.130 20.652 9.014 550.452 1991 224.939 –8.717 273.143 –13.987 20.340 –312 8.677 –337 98 527.197 –23.255 1992 217.687 –7.252 262.268 –10.875 20.017 –323 8.141 –536 101 3 508.214 –18.983 1993 210.742 –6.945 253.803 –8.465 19.684 –333 8.410 269 175 74 492.814 –15.400 1994 209.505 –1.237 249.205 –4.598 19.213 –471 9.625 1.215 498 323 488.046 –4.768 1995 205.766 –3.739 238.291 –10.914 17.817 –1.396 10.469 844 548 50 472.891 –15.155 1996 201.447 –4.319 229.910 –8.381 16.704 –1.113 10.630 161 490 –58 459.181 –13.710 1997 197.610 –3.837 224.728 –5.182 15.665 –1.039 10.863 233 556 66 449.422 –9.759 1998 198.237 627 225.766 1.038 15.401 –264 11.771 908 831 275 452.006 2.584 1999 204.256 6.019 219.332 –6.434 15.476 75 11.505 –266 1.215 384 451.784 –222 2000 196.794 –7.462 211.290 –8.042 15.448 –28 10.884 –621 1.105 –110 435.521 –16.263 2001 189.761 –7.033 203.178 –8.112 15.844 396 10.201 –683 1.138 33 420.122 –15.399 2002 186.520 –3.241 194.652 –8.526 16.911 1.067 9.743 –458 1.361 223 409.187 –10.935 2003 184.464 –2.056 181.071 –13.581 16.438 –473 10.001 258 1.219 –142 393.193 –15.994 2004 183.529 –935 167.547 –13.524 16.337 –101 10.249 248 1.135 –84 378.797 –14.396 2005 179.463 –4.066 162.216 –5.331 16.462 125 10.305 56 1.583 448 370.029 –8.768 2006 172.072 –7.391 152.360 –9.856 16.133 –329 10.118 –187 1.913 330 352.596 –17.433 2007 166.222 –5.850 145.274 –7.086 15.764 –369 9.917 –201 5.905 3.992 343.082 –9.514 2008 165.506 –716 139.623 –5.651 16.202 438 10.091 174 7.764 1.859 339.186 –3.896 2009 162.597 –2.909 136.840 –2.783 17.899 1.697 11.005 914 8.555 791 336.896 –2.290 2010 155.841 –6.756 133.867 –2.973 16.907 –992 11.789 784 8.681 126 327.085 –9.811 2011 150.257 –5.584 127.765 –6.102 15.533 –1.374 12.578 789 8.123 –558 314.256 –12.829 Differenz absolut –83.399 –159.365 –5.119 3.564 8.025 –236.196 1990*–2011 Differenz prozent. –35,7 % –55,5 % –24,8 % 39,5 % 8188,8 % –42,9 % 1990*–2011

405 Dokumentation – Anhang

CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Gesamt Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Maximalwert 233.656 6.019 287.130 1.038 20.652 1.697 12.578 1.215 8.681 3.992 550.452 2.584 (Jahr) (1990) (1999) (1990) (1998) (1990) (2009) (2011) (1994) (2010) (2007) (1990) (1998) Minimalwert 150.257 –8.717 127.765 –13.987 15.401 –1.396 8.141 –683 98 –558 314.256 –23.255 (Jahr) (2011) (1991) (2011) (1991) (1998) (1995) (1992) (2001) (1991) (2011) (2011) (1991)

* Für LINKE jeweils 1991. Quelle: Eigene Berechnungen nach Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2012. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 19, FU Berlin 2012.

406 Tabellen

CDU SPD FDP GRÜNE LINKE Gesamt Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Absolute Veränderung Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Zahl zum Vorjahr Maximalwert 233.656 6.019 287.130 1.038 20.652 1.697 12.578 1.215 8.681 3.992 550.452 2.584 (Jahr) (1990) (1999) (1990) (1998) (1990) (2009) (2011) (1994) (2010) (2007) (1990) (1998) Minimalwert 150.257 –8.717 127.765 –13.987 15.401 –1.396 8.141 –683 98 –558 314.256 –23.255 (Jahr) (2011) (1991) (2011) (1991) (1998) (1995) (1992) (2001) (1991) (2011) (2011) (1991)

407

D. Auswahlliteratur rechts: Auswahlliteratur

Alemann, Ulrich von/Brandenburg, Patrick: Nordrhein-Westfalen. Ein Land entdeckt sich neu, Köln 2000. Alemann, Ulrich von/Gödde, Anne/Hummel, Hartwig/Münch, Claudia (Hg.): Handbuch Europa in Nordrhein-Westfalen. Wer macht was in Nordrhein- Westfalen für Europa?, Wiesbaden 2010. Alemann, Ulrich von/Münch, Claudia: Landespolitik im europäischen Haus: NRW und das dynamische Mehrebenensystem, Wiesbaden 2005. Alemann, Ulrich von (Hg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985. Andersen, Uwe (Hg.): Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen im Umbruch, Köln 1998. Andersen, Uwe/Bovermann, Rainer (Hg.): Im Westen was Neues. Kommunal- wahl 1999 in NRW, Opladen 2002. Andersen, Uwe/Bovermann, Rainer: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, in: Mielke, S./Reutter, W. (Hg.): Landesparlamentarismus. Geschichte – Struktur – Funktionen, Wiesbaden 2012, S. 399–429. Andersen, Uwe/Woyke, Wichard: Land Nordrhein-Westfalen, in: Andersen, U./ Woyke, W. (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundes- republik Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 377–384. Bajohr, Stefan: Fünf Jahre und zwei Koalitionsverträge: Die Wandlung der Grünen in Nordrhein-Westfalen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 32/1 (2001), S. 146–170. Bajohr, Stefan: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 2012: Von der Minderheit zur Mehrheit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/3 (2012), S. 543–563. Biegler, Dagmar/Frey, Birgit/Kleinfeld, Ralf: Nordrhein-Westfalen, in: Hart- mann, J. (Hg.): Handbuch der deutschen Bundesländer, Frankfurt a. M. 1997, S. 383–432. Birkenkämper, Axel: Der Kampf um das »Stammland«. Anmerkungen zur Lage der CDU im nordrhein-westfälischen Parteiensystem, in: Baus, R. (Hg.): Parteiensystem im Wandel. Perspektiven, Strategien und Potentiale der Volks- parteien, Sankt Augustin 2012, S. 67–72. Boldt, Hans (Hg.): Nordrhein-Westfalen und der Bund. Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalens 5, Düsseldorf 1989.

409 Dokumentation – Anhang

Bovermann, Rainer: Das »rote« Rathaus. Die »Sozialdemokratisierung« des Ruhr- gebiets am Beispiel Dortmund 1945–1964, Essen 1995. Bräuninger, Thomas/Debus, Marc: Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, Wiesbaden 2012. Brunn, Gerhard/Reulecke, Jürgen: Kleine Geschichte von Nordrhein-Westfalen. 1946–1996. Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalens 10, Köln u. a. 1996. Canaris, Ute/Rüsen, Jörn (Hg.): Kultur in Nordrhein-Westfalen, Stuttgart u. a. 2001. Debus, Marc: Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern, in: Haas, M./Jun, U./Niedermayer, O. (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 57–78. Decker, Frank/Neu, Viola (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2013. Denzer, Karl J. (Hg.): 40 Jahre Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen. Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen 1, Düsseldorf 1986. Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946–1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008. Faulenbach, Bernd/Goch, Stefan/Högl, Günther/Rudolph, Karsten (Hg.): Sozialdemokratie im Wandel. Der Bezirk Westliches Westfalen 1893–2001, Essen 2001. Feist, Ursula/Hoffmann, Hans-Jürgen: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mai 1990: In dramatischer Zeit ein Votum der Normalität, in: Zeit- schrift für Parlamentsfragen, 21/3 (1990), S. 429–449. Feist, Ursula/Hoffman, Hans-Jürgen: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14. Mai 1995: Rot-grün unter Modernisierungsdruck, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 27/2 (1996), S. 257–271. Feist, Ursula/Hoffmann, Hans-Jürgen: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 22. Mai 2005: Schwarz-Gelb löst Rot-Grün ab, in: Zeitschrift für Parla- mentsfragen, 37/1 (2006), S. 163–182. Feist, Ursula/Hoffmann, Hans-Jürgen: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010: Vom Abwarten zur Kehrtwende, in: Zeitschrift für Parla- mentsfragen, 41/1 (2010), S. 766–787. Feist, Ursula/Krieger, Hubert: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 12. Mai 1985: Stimmungstrend überrollt Sozialstrukturen oder: Die Wende ist keine Kaffeefahrt, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 16/3 (1985), S. 335–372.

410 Auswahlliteratur

Feist, Ursula/Liepelt, Klaus: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 11. Mai 1980: Ein politischer Erdrutsch, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 11/2 (1980), S. 237–249. Ganghof, Steffen/Stecker, Christian/Eppner, Sebastian/Heeß, Katja: Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheits- regierung in NRW, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43/4 (2012), S. 887– 900. Gehne, David H.: Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden 2008. Gösmann, Sven (Hg.): Unsere Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen. Neun Porträts von Rudolf Amelunxen bis Jürgen Rüttgers, Düsseldorf 2008. Grasselt, Nico/Hoffmann, Markus/Lerch, Julia-Verena (Hg.): Landtag Nord- rhein-Westfalen. Funktionen, Prozesse und Arbeitsweise, Leverkusen 2011. Gruber, Ludger: Die CDU-Landtagsfraktion in NRW 1946–1980, Düsseldorf 1998. Haas, Melanie/Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar (Hg.): Parteien und Parteien- systeme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008. Hitze, Guido: Verlorene Jahre? Die nordrhein-westfälische CDU in der Opposition 1975–1995, Düsseldorf 2010. Hoffmann, Markus: Regierungsstile von Ministerpräsident Johannes Rau: 1990 bis 1998. Versöhnen als Machtinstrument, Marburg 2006. Janssen, Wilhelm: Kleine rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997. Kallerhoff, Dieter/Lennep, Hans-Gerd von/Bätge, Frank/Becker, Michael/ Schneider, Otmar/Schnell, Martin: Handbuch zum Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen. Praxiskommentar und Ratgeber, München 2008. Kohl, Wilhelm: Kleine westfälische Geschichte, Düsseldorf 1994. Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Kommunalwahl, Landtags- wahl, Bundestagswahl, Europawahl, Schwalbach/Ts. 2013. Korte, Karl-Rudolf/Florack, Martin/Grunden, Timo: Regieren in Nordrhein- Westfalen: Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006, Wiesbaden 2006. Kost, Andreas: Demokratie von unten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in NRW, Schwalbach/Ts. 2002. Kost, Andreas: Nordrhein-Westfalen. Vom Land aus der Retorte zum »Wir- Gefühl«, in: Wehling, H.-G. (Hg.): Die deutschen Länder. Geschichte, Wirt- schaft, Politik, Wiesbaden 2004, S. 199–214.

411 Dokumentation – Anhang

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412 E. Parteien- und Personenverzeichnis

A 171–174, 176–178, 187, 190, 193, 197–200, Achenbach, Ernst 379 209, 212 f., 224–230, 233, 235, 237, Achenbach, Heinrich 20 239–256, 258, 262, 267, 272 f., 276–278, Adenauer, Konrad 31–34, 177, 242–244, 280 f., 286, 292, 299, 308, 319, 324, 326, 246 f., 253 f., 346, 350, 359 345 f., 348–355, 357, 359, 361, 369–372, Alvaro, Alexander 284 378–381, 383, 390 Amelunxen, Rudolf 246, 335, 355 f. Clement, Wolfgang 45, 54, 172, 174 f., 229, Arnold, Karl 32, 147, 226 f., 242 f., 246 f., 235, 266, 268, 278 250, 253 f., 277, 335, 350, 355 f., 380 Cremer, Claus 386 CSU (Christlich-Soziale Union in B Bayern) 34, 166, 174, 346, 379, 381 f. Bachem, Carl 24 CVP (Christliche Volkspartei des Saar- Bachem, Julius 24 landes) 351 f. Bahr, Daniel 178, 283 Bartsch, Dietmar 317 D Baum, Gerhart 284, 287 DDP (Deutsche Demokratische Beck, Volker 181 Partei) 275 f. Beisicht, Markus 383, 386 Detjen, Ulrike 315 f. BHE (Bund der Heimatvertriebenen) 380 DFU (Deutsche Friedensunion) 311, 352 BIG (Bündnis für Innovation und Gerechtig- DIE LINKE. 12, 37, 39 f., 48–50, 53 f., 65, keit) 363 77, 79, 81, 84–86, 88, 133, 181, 267, 272 f., Bismarck, Otto von 21, 25 299 f., 308, 312, 315 f., 343, 363 Blank, Theodor 177 DIE PARTEI (Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Blücher, Franz 280 Tierschutz, Elitenförderung und basis- Blüm, Norbert 251 demokratische Initiative) 372 Böhning, Björn 139 DKP (Deutsche Kommunistische Partei) 311, Börner, Holger 78 313, 329, 341–344, 372 f. BP (Bayernpartei) 351 DKP-DRP (Deutsche Konservative Partei- Branghofer, Max 388 Deutsche Rechtspartei) 378–380 Brinkmann, Patrick 391 DLVH (Deutsche Liga für Volk und Brockmann, Johannes 348, 351, 357 Heimat) 383, 386, 390 Brunner, Manfred 208 Döring, Wolfgang 277 Buschmann, Marco 288, 291 Dorls, Fritz 379 DP (Deutsche Partei) 372, 378, 380 C DRP (Deutsche Reichspartei) 379–381 Camphausen, Ludolf 18 Düker, Monika 270 CDU (Christlich Demokratische Union DVP (Deutsche Volkspartei) 275 f. Deutschlands) 9, 12, 31–35, 37–40, 42 f., DVU (Deutsche Volksunion) 384, 387 f., 45, 47–55, 65, 77, 79, 81, 83, 85–89, 98, 390 102 f., 138, 147, 149, 154, 162, 165 f., 169,

413 Dokumentation – Anhang

E H ECPM (Europäische Christliche Politische Haase, Stephan 385 Bewegung) 360 Hafke, Marcel 283 Effertz, Josef 280 Hamacher, Wilhelm 348, 355 Erhard, Ludwig 177, 244 Hammacher, Friedrich 21 Eumann, Marc-Jan 135 Hamm-Brücher, Hildegard 284 Handlos, Franz 382 F Heuss, Theodor 347 FAMILIE (Familien-Partei) 363 Hirsch, Burkhard 280, 284 FDP (Freie Demokratische Partei) 9, 12, 30, Höhn, Bärbel 268 32 f., 35, 37, 39, 41, 43, 47 f., 51, 53 f., 65, Höhne, Henning 283 77, 79–81, 84–89, 99, 102, 104, 132, 147, Holtmann, Udo 385 149, 154, 162, 166, 169, 171–173, 178, 190, Hombach, Bodo 42 193, 198, 209, 212 f., 227 f., 235, 240, 243, 245, 247 f., 262, 267, 272 f., 275–292, K 294, 299, 308, 319–321, 326, 352, 365, Kaas, Ludwig 347 369–372, 375, 378–380 Kaefert, Carsten 296 Fischer, Joschka 181 Karsli, Jamal 279 Fischer, Karl-Heinz 385 Katzer, Hans 177, 253 FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) 389 Kauch, Michael 178, 283 Frenz, Wolfgang 385 Kienbaum, Gerhard 280 Frey, Gerhard 384 Kohlhase, Hermann 280 Friedman, Michel 279 Köppler, Heinrich 245 Front National 389 KPD (Kommunistische Partei Deutsch- FSU (Frei-Soziale Union) 369 lands) 9, 12, 28–30, 32, 147, 197, 223, FU (Föderalistische Union) 351 f., 356 226, 234, 276, 280, 311, 329–344, 369 f., Funcke, Liselotte 280 372 f., 379 KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjet- G union) 332 Gabriel, Sigmar 174 Kraft, Hannelore 37, 49, 138, 172, 182, 221, GAZ (Grüne Aktion Zukunft) 258 229 f., 232, 236 f., 267 f., 281, 318 f. GB/BHE (Gesamtdeutscher Block/Bund Krüger, Gerhard 379 der Heimatvertriebenen und Ent- Kühn, Heinz 33, 41, 154 f. rechteten) 369 Genscher, Hans-Dietrich 178, 287 L GLU (Grüne Liste Umweltschutz) 258 Lafontaine, Oskar 312, 315, 317 f., 327 Goebbels, Joseph 29 Lambsdorff, Alexander Graf 132 Goller, Uwe 384 Lambsdorff, Otto Graf 178 Gruhl, Herbert 258 Laschet, Armin 50, 251, 256 GRÜNE (Bündnis 90/Die Grünen) 37, 39, Laumann, Karl-Josef 50, 177, 253, 256 43, 46–48, 52, 54 f., 79 f., 82, 84, 99, 179, Ledwohn, Josef 338 190, 213, 237, 257, 260–262, 264, 266 f., Lehmann, Sven 270 270 f., 273, 294, 319, 321, 365, 372, 375 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine 284 Leyen, Ursula von der 296 Ley, Robert 29

414 Parteien- und Personenverzeichnis

Liberale Demokraten 363 pro NRW (Bürgerbewegung pro Nordrhein- Lindner, Christian 178, 281, 286, 288, 290 f. Westfalen) 383, 385–392 Linssen, Helmut 251 Löhrmann, Sylvia 37, 49, 267 f., 319 R Luchtenberg, Paul 280 Rau, Johannes 10, 40 f., 44 f., 47, 172, 176, 228 f., 236 f., 248, 268 M Reichensperger, August 24 Mallinckrodt, Georg von 24 Reichensperger, Peter 24 Mallinckrodt, Hermann von 24 Reismann, Bernhard 348 Mende, Erich 178, 277 Remer, Otto Ernst 379 Meyers, Franz 247 Remmel, Johannes 268 Middelhauve, Friedrich 276 f., 280, 379 f. Renner, Heinz 335 f. Möllemann, Jürgen 43, 48, 178, 278–280 RENTNER (Rentner Partei Deutsch- MSB Spartakus (Marxistischer Studentenbund land) 372 Spartakus) 343 REP (Republikaner) 382–389, 391 f. Müller, Kerstin 179, 181 Reul, Herbert 251 Müntefering, Franz 172, 174 Richter, Eugen 20, 23 Riemer, Horst-Ludwig 280 N Rösler, Philipp 291 Naumann, Werner 277 Röttgen, Norbert 50, 251, 256 Neubauer, Harald 383 Rouhs, Manfred 383, 386 NPD (Nationaldemokratische Partei Deutsch- Rüttgers, Jürgen 37, 43, 45, 47, 138, 166, lands) 372 f., 380 f., 383–388, 390–392 168, 177, 248, 251 f., 255 f., 281 NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) 29–31, 226, 377, 379 f. S Schäffler, Frank 178, 284 O Scharon, Ariel 279 ÖDP (Ökologisch-Demokratische Scheel, Walter 178, 277, 287, 289 Partei) 363, 368, 372–374 Schill-Partei (Partei Rechtsstaatlicher Offensive) 360 P Schlierer, Rolf 384, 392 Pannenbecker, Otto 353 Schnoor, Herbert 148 Papke, Gerhard 287 Schönhuber, Franz 382–384 Paul, Hugo 335 Schröder, Gerhard 45, 47, 165, 169, 172, PBC (Partei Bibeltreuer Christen) 360 174 f., 312, 326 PDS (Partei des Demokratischen Sozialis- Schwabedissen, Katharina 320, 323 mus) 181, 312–317, 321, 323, 343 SED (Sozialistische Einheitspartei Deutsch- Pilz, Gisela 288 lands) 226, 329 f., 336–340, 342 Pinkwart, Andreas 280 f., 286 f. Seipenbusch, Jens 295 PIRATEN (Piratenpartei Deutschland) 12, SPD (Sozialdemokratische Partei Deutsch- 37, 39 f., 49 f., 53 f., 62, 65, 101 f., 104, 127, lands) 9, 12, 25–30, 32–34, 37–49, 131, 133 f., 136, 143 f., 162, 171, 173, 181, 51–54, 65, 73, 77–81, 85–89, 98, 102–104, 200, 209, 225, 237, 273, 293–309, 320 f., 132 f., 135, 139, 147–149, 154, 156, 158, 326 162, 165, 169, 171–177, 187, 190, 193, 197, 199 f., 209, 212 f., 221–231, 233–237, 239,

415 Dokumentation – Anhang

243–249, 255, 259 f., 262–268, 272 f., W 276–281, 286, 292, 299, 308, 311–314, Wagenknecht, Sarah 181 317–320, 324, 326 f., 343 f., 349, 351, WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale 369–372, 379 Gerechtigkeit) 79, 181, 312, 315 f., 321 Spiecker, Carl 349, 351, 356, 358 Weber, Andreas 385 Spitz, Malte 139 Weber, Josef 356 SRP (Sozialistische Reichspartei) 378 f. Wessel, Helene 348, 351, 355, 359 STATT Partei 360 Westerwelle, Guido 178, 279, 283, 286, 289 Steffens, Barbara 268 Weyer, Willi 277, 280 Steinbrück, Peer 45 f., 54, 165, 168, 172, Windthorst, Ludwig 346 229, 235, 266, 268 Winkelsett, Ursula 384, 392 Steinhoff, Fritz 227, 247, 277, 356 Wirth, Joseph 349 Strauß, Franz Josef 34, 382 Wolf, Ingo 280 Stricker, Fritz 348, 355 Wolter, Judith 386 Stumm, Carl Ferdinand 20 Y T Ypsilanti, Andrea 317 f. Thadden, Adolf von 379, 381 Thielen, Friedrich 381 Z Trimborn, Karl 24 Zentrumspartei (DZP Deutsche Zentrums- partei) 9, 12, 24 f., 27–31, 39, 223, 237, U 241, 247, 343, 345–352, 354–361, 365, UAP (Unabhängige Arbeiter-Partei) 369, 369 f., 373 372 f. Zimmermann, Wolfgang 316–318, 320, 323 USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) 223, 311

V Vesper, Michael 268 Vincke, Georg von 20 Vlams Belang 389 Vogel, Johannes 178, 283 Voigt, Ekkehard 382 Voigt, Udo 386 Vollmer, Antje 179, 261 Volmer, Ludger 179, 181, 257

416 F. Verzeichnis der Autoren/-innen links: Verzeichnis der Autoren/-innen

Uwe Andersen, Dr. phil., Emeritierter Professor für Deutsche Innenpolitik an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Christoph Bieber, Dr. rer. soc., Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politik- management und Gesellschaft am Institut für Politikwissenschaft der Uni- versität Duisburg-Essen.

Andreas Blätte, Dr. rer. pol., Juniorprofessor für Politikwissenschaft der Stiftung Zukunft NRW am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg- Essen.

Sebastian Bukow, Dr. phil., Akademischer Rat a. Z. am Institut für Sozialwissen- schaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Melanie Diermann, Dr. rer. pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.

Martin Florack, Dr. des., Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissen- schaft der Universität Duisburg-Essen.

Katharina Hanel, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- wissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Karina Hohl, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politik- wissenschaft der Universität Duisburg-Essen.

Karl-Rudolf Korte, Dr. rer. pol. habil., Dr. phil., Universitätsprofessor für Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staats- theorien am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.

Andreas Kost, Dr. sc. pol., Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und stellvertretender Leiter der Landes- zentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen.

417 Verzeichnis der Autoren/-innen

Till Kössler, Dr. phil., Universitätsprofessor für Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung am Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Uni- versität Bochum.

Marcel Lewandowsky, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundes- wehr Hamburg.

Stefan Marschall, Dr. phil., Universitätsprofessor für Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Heike Merten, Dr. jur., Geschäftsführerin am Institut für Deutsches und Inter- nationales Parteienrecht und Parteienforschung der Heinrich-Heine-Uni- versität Düsseldorf.

Lazaros Miliopoulos, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissen- schaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Jürgen Mittag, Dr. phil., Universitätsprofessor für Sportpolitik und Inhaber des Jean Monnet-Lehrstuhls am Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung der Deutschen Sporthochschule Köln.

Christoph Nonn, Dr. phil., Universitätsprofessor für Neueste Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düssel- dorf.

Ute Schmidt, Dr. phil. habil., Privatdozentin und Projektleiterin im Forschungs- verbund SED-Staat der Freien Universität Berlin.

Marcel Solar, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Tim Spier, Dr. disc. pol., Juniorprofessor für Politikwissenschaft am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen.

418 Parteien- und Personenverzeichnis

Christoph Strünck, Dr. phil., Universitätsprofessor für Politikwissenschaft am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen.

Niko Switek, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissen- schaft der Universität Duisburg-Essen.

Jan Treibel, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissen- schaft der Universität Duisburg-Essen.

Nadja Wilker, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- wissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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