Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung Impulse 2017

Was Kunst und Wissenschaft verbindet Vorwort

Wieder und wieder mahnte die UNESCO in den Als Mitte 2016 die letzten von rund 170 For- vergangenen Monaten und Jahren die Staaten- schungsvorhaben in der „Museumsinitiative“ gemeinschaft mit Nachdruck, jede Anstrengung bewilligt worden waren, hatte sich das zu einer zu unternehmen, die bedrohten Schätze der Gesamtfördersumme von gut 30 Millionen Euro Menschheitsgeschichte zu schützen. Anlass des addiert (alle in 2016 erfolgreich in der Auswahl zuletzt häufiger wiederholten Appells sind die bestandenen Projekte sind in den Newsrubriken auch kulturvernichtenden Konflikte in verschie- dieser Ausgabe kurz vorgestellt). Vergegenwärtigt denen Teilen dieser Welt. Was dort geschieht, ist man sich, dass jene Zahl geförderter Vorhaben in der Tat eine Tragödie. Dabei wird jedoch oft annähernd der Zahl der Museumssammlungen vergessen, dass der größte Teil der Kulturgüter entspricht, die davon profitieren, die erschlossen, weltweit in Museen lagert. Und auch viele dieser bearbeitet und sowohl für weitere Forschung als Wilhelm Krull, Schätze der Menschheitsgeschichte sind bedroht auch für sinnvoll konzipierte Ausstellungen nutz- Generalsekretär der – aus zumeist anderen, vor allem ganz unter- bar gemacht werden konnten, erhält man eine VolkswagenStiftung schiedlichen Gründen. Vorstellung vom Umfang und von der Nachhaltig- keit dieses Stiftungsengagements. Das Bedrohungspotenzial, dem die Museums- landschaft sich ausgesetzt sieht: Das ist gewis- Es ist zudem ein Engagement, das in zwei Richtun- sermaßen der Subtext, der sich durch viele gen wirkt: zum einen in die Wissenschaft selbst, Bildnachweis IMPULSE 2017 Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders angegeben – dankenswerterweise Geschichten zieht, die Sie in dieser Ausgabe der zum anderen auf die Besucher der Museen und von den jeweiligen Instituten bzw. Hochschul-Pressestellen zur Verfügung gestellt. „Impulse für die Wissenschaft“ lesen können. Die damit die interessierte Öffentlichkeit. Und beide

Seiten 1, 4 (unten, rechts) 54/55, 60, 61, 62 (oben), 63 (oben): Christian Burkert/Hannover VolkswagenStiftung greift damit ein Thema auf, „Zielgruppen“ behält die Stiftung künftig im Blick. Seite 3: Dennis Börsch, Hannover das für sie selbst allerdings mitnichten ein neu- So ist die Museumsinitiative zwar in ihren beiden Seiten 4 (oben), 24/25, 32, 33, 35: Felix Schmitt, Frankfurt/Main Seiten 4 (Mitte), 74/75, 77, 80: Kerstin Schomburg, es ist. Denn sie hat schon früh in ihrer eigenen Hauptförderlinien beendet, doch Workshops, Sym- Seiten 4 (unten, links), 84-95: Julia Zimmermann, Geschichte immer wieder Museumsbestände posien und in Einzelfällen andere thematisch ein- Seiten 5-17, 18 (oben), 19 (oben), 20-23: Gerhard Westrich, Berlin Seite 18 (unten): Lohse, Brandung () mit Badenden, 1938 (Kunstmuseum Ahrenshoop) gezielt zum Thema der Wissenschaft gemacht: schlägige Veranstaltungen zu „Museumsthemen“ Seite 19 (unten): Eicken, Frühling, um 1894/95 (Kunstmuseum Ahrenshoop) ob im Zuge geförderter Projekte, Infrastruktur- – von denen etwa durch Abendvorträge auch inter- Seiten 27-31, 34: © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg Seite 37: Isa Lange/Universität Hildesheim maßnahmen oder durch Veranstaltungen. essierte Bürger profitieren – fördert sie weiterhin. Seite 38: Matthias Haase/Übersee-Museum Bremen Seite 39: Richard-Wagner-Sammlung Nikolaus J Oesterleins, Eisenach Seite 40: Martin Neumann für VolkswagenStiftung, Hannover So unterstützte sie bereits in den 1970er-Jahren Wie erfolgreich die Initiative „Forschung in Muse- Seiten 41, 57 (oben links, unten links, unten rechts), 62 (Mitte), 63 (unten): Daniel Pilar, Hannover Seiten 42-48, 50, 51 (oben, links), 52, 53: Gordon Welters, Potsdam-Nauen exemplarisch zunächst einzelne Bestände wie die en“ war, davon zeichnen die folgenden Geschich- Seiten 49, 51 (oben rechts): Filmmuseum Potsdam auch in diesem Heft mit einem aktuellen Projekt ten ein Bild: Immerhin fast 40 Museen begegnen Seite 57 (oben rechts): Bettina Brach/Museum für Moderne Kunst, Bremen Seiten 58, 59, 64: Carl Brunn/Aachen vorgestellten Prinzhorn-Sammlungen zur Kunst Ihnen bei dem Streifzug durch das Magazin – und Seite 62 (unten): Andreas Steindl, Aachen psychisch Kranker. Zuletzt war es dann gleich eine mit ihnen mehr als nur ein paar ungewöhnliche Seite 65: Stephan Eckardt, Göttingen Seite 67: SLUB/Deutsche Fotothek/Christian Borchert ganze Initiative, die das bunte und hierzulande Eindrücke aus einzigartigen Sammlungen. Und so Seite 68: Mónica Solórzano Kraemer, Frankfurt am Main weit ausdifferenzierte Feld forschungs- und för- ist dieses Heft zugleich eine Art Deutschlandreise Seite 69: Claudia Obrocki, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ethnologisches Museum Seite 70 (links): Stadt- und Bergbaumuseum Freiberg, Fotothek, Inv.-Nr. G1104, Reymann, 1906 derpolitisch adressierte – eine, die fast ein Jahr- zu besonderen Orten, an denen sich Einzigartiges Seite 70 (rechts): René Pech, Kulturhistorisches Museum Görlitz Seite 71: Rudolf Wakonigg/Landesmuseum Westfalen Lippe für Kunst und Kultur (LWL) zehnt lang bestehen sollte: „Forschung in Muse- findet. Doch bevor Sie wirklich hierhin oder dort- Seite 72: Deutsches Hygiene-Museum, en“; gestartet von der Stiftung 2008. hin aufbrechen, wünschen wir Ihnen erst einmal Seite 73: Historisch-Technisches Museum Peenemünde GmbH Seite 76: Siemens Corporate Archives, München viel Freude und Erkenntnisgewinn beim Eintau- Seite 78 (links): DTM, Archiv, Nachlass Linnebach, Ordner: »Patente« Dieses Angebot rückte – neben der Förderung chen in ausgewählte Projekte der Förderinitiative Seite 78 (Mitte und rechts): Patentschrift 767 757 + Patentschrift 655 326, www.dpma.de Seite 79: DTM, Graphische Sammlung, Nachlass Littmann, Mappe: »Neubauten der kgl. Theater ausgewiesener Veranstaltungen – die wissen- „Forschung in Museen“. Letztlich, wenngleich in Stuttgart, Kleines Haus, Beleuchtungskörper« (GS 17, L7) schaftliche Bearbeitung von Sammlungsbestän- unter besonderen Vorzeichen, ein ebenso wichti- Seite 81 (oben links): Aus: Langhans, Carl Ferdinand: „Ueber Theater Oder Bemerkungen Über Katakustik in Beziehung Auf Theater“. Berlin: Gottfried Hayn, 1810. den kleinerer und mittelgroßer Museen hier- ges Engagement zum Schutz von Kulturgut. Seite 81 (oben rechts): Naples: Stamperia Simoniana, 1758, appendix, p. 520. zulande in den Vordergrund. Davon ausgehend Seite 81 (unten): Weinbrenner, Friedrich: „Über Theater in Architectonischer Hinsicht mit Beziehung auf Plan und Ausführung des Neuen Hof-Theaters in Carlsruhe“. Tübingen: Cotta, 1809, appendix formten sich etliche internationale Kooperatio- Ihr Seite 83: Beek100/Wikipedia Creative Commons Seite 99 (oben): Anna Rozkosny, Berlin nen. Ein zusätzlicher Effekt dieses Engagements, Seite 99 (Mitte und unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover der durchaus intendiert war.

Impulse 2017 3 Inhalt Visionäre Bilder Bild Band Bühne Rubriken Kunstwerke, die Krieg, Militär und Kampf ab- 6 42 74 36 bilden, geschaffen von Das Meer in mir Vernachlässigte Kunst Vorhang auf! Kompakt: zum Schwerpunktthema psychisch Kranken, zu Ahrenshoop 2013: Das Szenenbilder, Filmku- Was wäre das Theater sehen und erforscht in der Kunstmuseum eröffnet lissen und Requisiten ohne raffinierte Licht- 66 Prinzhorn-Sammlung in und präsentiert eine tragen zur Wirkung technik, ohne ausge- Spektrum: zur Wissenschaftsförderung Heidelberg. Wenn inneres hochkarätige Samm- eines Films bei. Es ist die klügelte Raumakustik? Leuchten sich auf Kunst lung. Man staunt, in Szenografie als zentraler Im 19. Jahrhundert wird 96 wirft. ➞ Seiten 24-35 welcher Fülle und „Akteur“ für das Bildge- die Elektrizität populär; Die Stiftung im Netz stilistischen Breite schehen, die Handlun- die Akustik verblüfft die Ostseeregion rings- gen unterstreicht und mit neuen technischen Vorhang auf! 97 umher lebendig wird. – Charaktere akzentuiert. Möglichkeiten. – Die Die Stiftung in Kürze Die besondere Atmosphäre in einem Eine Fahrt ins Blaue. – Ein Aufbruch zu einem Zeit, in der die Technik Theater: Woher rührt sie? Die Suche nach übersehenen Genre. laufen lernte. einer Antwort führt in eine Zeit, als Kunst- 98 Veranstaltungen licht aufkam und technische Entwick- 24 Visionäre Bilder lungen der Akustik neue Räume öffneten. 54 84 Kriegszeiten im Zerrbild Neue Kunst für alle Sinne Bewegte Kunst Auf Spurensuche im 19. Jahrhundert. 99 kranker Seelen. Wie Formate der Radio-, Die Kunst in der Wis- Vorgestellt! ➞ Seiten 74-83 Anstaltsinsassen vor Video- und Computer- senschaft – Wissen- hundert Jahren ihre kunst wurden wissen- schaft und Kunst in Welt zeichneten, malten, schaftlich bislang wenig Bewegung: Vier Experi- Das Meer in mir schnitzten: Das zeigen befragt. Doch gerade sie mente geben der sinn- Wo die Natur alles ringsumher in ein Bewegte Kunst 500 Bilder und Skulp- vermögen ästhetisch- lichen Erfahrung dieser faszinierendes Licht taucht und Motive Und nun ganz im Hier und Jetzt: Wissen- turen der Heidelberger sinnlich Fenster in die Welt eine der Vernunft gleich im Überfluss hinterherwirft, schaft trifft Kunst, und beide setzen sich Prinzhorn-Sammlung. Zukunft aufzustoßen. gleichwertige Stimme. da entsteht Kunst, die leuchtet. Und gemeinsam in Bewegung. Ein Blick auf – Die etwas andere – Wo Punkte und Linien – Wenn morgen schon die wird gezeigt und erforscht. Ein die Projekte der Stiftungsinitiative „Arts „Bildergeschichte“. zu tanzen beginnen. gestern sein könnte … Besuch im Kunstmuseum Ahrenshoop. & Science in Motion“. ➞ Seiten 84-95 ➞ Seiten 6-23

Hinaus ins Licht: ein Heft über „Forschung in Museen“

Neue Kunst für alle Sinne Sammeln, Bewahren, zunehmende „Eventi- Dies vor Augen, richte- Radio-, Video- und Com- Erforschen sowie Ver- sierung“ von Museen te die Stiftung im Jahr puterkunst hatten es mitteln und Ausstellen den anderen Säulen 2008 die Initiative lange Zeit schwer, die von Kulturgut: Das ist immer weniger Res- „Forschung in Museen“ nach eigenen ästheti- der klassische Vier- sourcen bleiben. Doch ein und förderte bis schen Regeln entstan- beziehungsweise Fünf- nur, wenn Sammlungen heute rund 160 Vor- denen Werke als gleich- klang, dem sich Museen auch beforscht werden, haben mit insgesamt rangig zu traditionellen bei ihrer täglichen können Museen lang- 30 Millionen Euro. Die Kunstformen zu etablie- Arbeit zu stellen haben. fristig wissenschaftlich Beiträge in diesem Heft ren. Ein frischer Blick Doch unter die Klän- fundierte Ausstellun- stellen Projekte aus auf junge Kunst, in der ge mischen sich seit gen konzipieren und dieser Initiative vor, die Magie des Alltäg- geraumer Zeit schiefe so wiederum ihrem die mit letzten Bewil- lichen sichtbar wird. Töne – zuletzt vor allem Vermittlungsauftrag ligungsrunden Mitte ➞ Seiten 54-64 deshalb, weil durch eine gerecht werden. 2016 beendet wurde. Das Meer in mir Ein Landstrich, der aus dem Rahmen fällt: Ahrenshoop und die angrenzende Ostseeküste. Zauber und Eigen- heiten der Region verdichten sich seit über hundert Jahren in Bildern, Skulpturen und anderen Werken. Zu sehen ist das seit 2013 im Kunstmuseum Ahrenshoop, das sich mit seiner hochkarätigen Sammlung bereits einen Namen gemacht hat. Geforscht wird dort auch.

6 Impulse 02_2016 7 Eine kleine Gruppe in die Landschaft eingebunde- ner Gehöfte und typischer Wohnhäuser stand Pate für das im Jahr 2013 eröffnete Kunstmuseum im Ostseebad Ahrenshoop. Dessen steil ansteigendes Dach mit seinen kaminartigen Ausbuchtun- gen (oben) verbindet fünf konstruktiv weitgehend von- einander getrennte Gebäude- teile. Als Reminiszenz an die lokale Bautradition bildeten die Architekten die ortstypi- sche Rohrdeckung der Dächer nach mit einer entsprechend gestalteten Metallkonstruk- tion. Der Blick ins Innere des Museums zeigt, dass nicht nur bildhafte Kunst zu sehen ist. Seite zuvor: Der Hafen Althagen am Ostseebad Ahrenshoop im April 2016.

8 Impulse 02_2016 9 Mit Mut zur Farbe: Rot als Außenanstrich findet sich nicht nur bei einigen Wohnhäusern an diesem Küstenstrich, sondern auch bei einem architektonischen Kleinod, das den Blick auf ganz eigene Weise fängt – die Ahrenshooper Bunte Stube. Eröffnet im Juni 1922 von Martha Wegscheider und dem Maler Hans Brass, unterzog der Bauhausarchitekt Walter Butzek das Gebäude bereits sieben Jahre später durch Um- und Ausbauten einem sanften Facelifting. Dann aber schien es sein Äußeres wie Inneres gefunden zu haben, und so zeigt es sich heute nahezu unverändert wie im Jahr 1929. Der kleine Laden mit sei- ner markanten rot-weißen Fassade reüssierte schnell zu einem zentralen Treffpunkt des Ortes. Das ist heute gar nicht viel anders: Man sieht sich hier beim Stöbern durch das gut sor- tierte Buchangebot mit reichlich küsten- und kulturbezogener Literatur, kauft Kunsthandwerk, Schmuck und Naturprodukte.

10 Impulse 2017 11 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Die Anziehungskraft, die Ahrens- hoop und die sich hier besonders malerisch zeigende Ostseeküste zu allen Zeiten und während unter- schiedlicher politischer Systeme auf Künstlerinnen und Künstler ausübten, fand ihren Ausdruck in Werken großer stilistischer Band- breite. Im gelungenen Schulter- schluss haben sich Wissenschaft- lerinnen der Freien Universität Berlin und Mitarbeiterinnen des Kunstmuseums Ahrenshoop auf den Weg gemacht, das künstleri- sche Schaffen der vergangenen 120 Jahre zu rekonstruieren.

Selbst wenn Wolken den Himmel unterteilen, badet die Gegend rund um Ahrens- hoop in Licht und wirft Motive im Überfluss. Welche Motive aber inspirierten die Ahrenshooper Künstler – und auch: Wer beeinflusste wen? Antworten auf diese und weitere Fragen hat das Forscherteam gesucht – und vielfach gefunden.

12 Impulse 2017 13 Text: Christian Jung // Fotos: Gerhard Westrich

Auf 3.000 Quadratmetern Grund- fläche stehen in wohlkalkulierter Verschiedenartigkeit fünf einzel- ne Gebäude aus Stahlbeton. Sie pät ist es geworden. Der Weg hoch in den Freilichtmaler ihre Ateliers zu verlassen, um unter fassen ein zentrales Foyer ein und NordenS hat uns mehr Zeit abverlangt als gedacht. freiem Himmel die Natur so zu schildern, wie sie sind über das Dach verbunden. Als wir ankommen, dunkelt der Himmel bereits sich dem Auge stellt. Oberlichter leiten bei der richti- ein. „Schade“, sagt mein Begleiter, und unausge- gen Witterung und optimalem sprochen denken wir dasselbe, sind wir doch mit Wir stehen vor dem neuen Ahrenshooper Kunst- Lichteinfall natürliche Helligkeit Bildern im Kopf angereist, die die Gegend in magi- museum und wissen noch nicht, dass sich uns ins Museum. 2014 erhielt das sches Licht hüllen. Unterwegs hatte sich die Sonne das außergewöhnliche Leuchten während des Büro „Staab Architekten“ für streckenweise gezeigt und angedeutet, wie es sein anderthalbtägigen Aufenthalts dann doch zwei Planung und Konstruktion des könnte, legte sie sich voll ins Zeug. Ab und an war Mal überraschend entgegenwerfen wird. Einmal Museums den Landesbaupreis es ihr immerhin gelungen, das Meer in helle, eisige am nächsten Tag, als ein silbriges, klares Licht -Vorpommern. Blautöne zu tauchen und einzelne Kuppen flacher den Raum zwischen Hohem Ufer und Saaler Wellen mit einem Hauch von abgetöntem Weiß Bodden füllt. Das andere Mal – jetzt. Es ist der zuzudecken. Währenddessen ließ beidseits des Moment, in dem wir das Museum betreten und Wegs die Fahrt üppiges, feuchtes Grün vorbeiflie- die ersten Bilder sehen. Manche leuchten derart gen; darin verborgen hier und da halb versunken aus sich heraus, dass man sofort versteht, warum etwas zumeist schwer Identifizierbares. Die ersten diese Gegend seit über hundert Jahren solch eine Die künstlerische Leiterin des Häuser biegen um die Ecke, dann sind wir da. Attraktion ausübt. Ahrenshooper Museums Dr. Katrin Arrieta hat ihren Platz Nicht nur wir fühlen uns von dem Ort sofort gefunden. Sie war, bevor sie angezogen. Seit gut 120 Jahren geht es vielen so, Der erste Akzent: die Architektur des neuen vor wenigen Jahren den Auf- und dass darunter zahlreiche Künstlerinnen und Kunstmuseums – ein Haus für das Licht bau der Sammlung übernahm, Künstler waren, machte ihn bekannt. Wir sind in Direktorin der Rostocker Kunst- Ahrenshoop, der Name allein schon sprechendes „Das ‚Goldene Haus für die Kunst‘, wie es anfangs halle. Gemeinsam mit dem Bild, gemalt aus unzähligen Geschichten und genannt wurde, hat sich in nur wenigen Jahren 2015 verstorbenen Initiator des Impressionen, berühmt geworden durch Malerper- einen Namen gemacht“, ist Katrin Arrieta stolz. Kunstmuseums Ahrenshoop, sönlichkeiten. Ahrenshoop also, 600-Seelen-Künst- Und das kann die künstlerische Leiterin auch sein. Guenter Roese, und Berliner lerdorf an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns, Mit Verve hat sie alles parat, was man über das Kunstwissenschaftlern brachte gelegen an der Grenze von Fischland und Darß in innerhalb von sechs Jahren geplante, gebaute Arrieta das von der Stiftung einer Region, die sich von hier über Hiddensee und und 2013 dann fertiggestellte Museum und seine geförderte Forschungs- und Rügen bis nach Usedom erstreckt. Früh entwickelte Architektur, über dessen Herz, die Sammlungen, Rechercheprojekt auf den Weg. sich an diesem Fleckchen eine Künstlerkolonie, ferner den Ort Ahrenshoop und dessen Geschich- vergleichbar der in Worpswede bei Bremen – die te, über Menschen und Häuser ringsumher wis- allerdings heute weit musealer daherkommt. Nicht sen möchte. Es bereitet Freude, ihr zuzuhören, wie so hier: Dieser Ort verwandelt täglich Geschichte in sie Fakten mit Anekdoten zum Künstlerort und zu Gegenwart und Zukunft. Er lebt, und das seit jeher, dessen Malerinnen und Malern über die Zeitläufte durch die Kunst seiner Bewohner. hinweg zu einem spannenden Ganzen zu verbin- den weiß – und dabei noch Etliches an randstän- typisches norddeutsches Gehöft: eingefasst nach Welch konstruktive Perle der Region allerdings Wer einmal dort war, den wundert die Anzie- digen Miniaturen in ihre Erzählungen einflicht. vorn Richtung Straße von einem kleinen Platz, zuwachsen sollte, entblätterte sich erst Ende hungskraft dieses Ortes nicht. Denn hier badet Man spürt: Hier ist eine, die lebt, womit, woran, der dem Museum ein wenig Raum schafft; nach August 2013, als nach sechs Jahren Planung und man nicht nur in faszinierendem Licht, die Land- worin sie arbeitet. hinten von einem üppig bepflanzten Garten, der Fertigstellung die letzte Verhüllung am Bauobjekt schaft wirft auch Motive im Überfluss. Der unbe- bestehende Gräben und Teiche aufnimmt. Schon fiel. Nun konnte man sehen, wie klug sich die Pla- rührte Darßwald, ländliche Alltagsszenen – und Bleiben wir zunächst bei dem Museumsbau. draußen wird spürbar: So wie Künstlerinnen und ner an der regionalen Bautradition rohrgedeckter natürlich immer wieder das Meer und alles rund „Unspektakulär spektakulär“, so könnte man Künstler stets eine feine Antenne für inspirieren- Fischerkaten orientiert hatten. Eine kleine Gruppe um das Meer: Das waren und sind willkommene beschreiben, was das Büro „Staab Architekten“ de Orte haben, muss es wohl auch den Architek- in die Naturlandschaft eingebundener Gehöfte visuelle Anreize für jene Künstler, die sich einst abgeliefert hat. In die umgebende Naturland- ten ergangen sein, die den Zuschlag erhielten, das nahe dem Museumsgrundstück stand Pate, und anschickten, nach dem Vorbild der französischen schaft ist das Ensemble eingebunden wie ein Haus für die Kunst zu bauen. so wie an den Bildern der Künstler und an deren

14 Impulse 2017 15 Sie ist das „universitäre Pendant“ im übergreifenden Forschungs- vorhaben von Hochschule und Museum: die Kunsthistorikerin Dr. Anna-Carola Krausse von der Freien Universität Berlin.

richtigen Witterung und optimalem Lichteinfall Dass es eben so viele sind und waren und damit so viel natürliche Helligkeit ins Museum, dass 600 mehr als lange Zeit gedacht, ist eines der man schon mal vergessen kann, ob man sich gera- Ergebnisse des von der VolkswagenStiftung in de drinnen oder draußen aufhält. ihrer Initiative „Forschung in Museen“ am Kunst- museum bereits in dessen Aufbau- und Etablie- Als Reminiszenz an die lokale Bautradition unter- rungsphase geförderten Projekts. Unter dem nahmen die Architekten zudem den Versuch, die Titel „Die Künstlerkolonie und der Künstlerort ortstypische Rohrdeckung der Dächer nachzu- Ahrenshoop als Teil der Moderne vom Ende des 19. empfinden. Und das ist ihnen wirklich gelungen. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ rekonstruierten Die ausgesprochen zeitgemäße und sich doch die Kunsthistorikerinnen Dr. Anna-Carola Krausse perfekt einfügende Interpretation, die die Rohr- und ihre Kollegin Katharina Heise am Lehrstuhl struktur glaubhaft widerspiegelt, erreichten sie von Professor Dr. Klaus Krüger vom Kunsthisto- mittels einer Metalleindeckung der Fassaden und rischen Institut der Freien Universität Berlin drei Dachflächen, bei denen die einzelnen Elemente Jahre lang das künstlerische Schaffen der vergan- in scheinbar zufälligen Abständen gekantet sind. genen 120 Jahre in und um Ahrenshoop. Verstärkt wird der Effekt durch einen ins Bronze- farbene changierenden Braunton, der ähnlich wie Rohr auf Witterungseinflüsse reagiert und ent- Flankierende Wissenschaft: Forschung zeitgleich sprechend altert. zum Museumsbau angestoßen

Heute, zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung, hat Wer war wann in Ahrenshoop? Was inspirierte die sich die so beschriebene Außenhülle durch die Künstler? Welche Bilder sind entstanden? Wo wur- Witterungseinflüsse in der Tat zu einer mit „Reet- den sie ausgestellt – und vor allem: Welche auch Charme“ entwickelt. Dass der Plan der Architekten gerade nicht und warum? Antworten auf diese aufgegangen ist, darüber freut sich auch die in der Fragen haben die Berliner Wissenschaftlerinnen Region ansässige Bundeskanzlerin Angela Merkel. in Biografien und Briefen, in Archivunterlagen und Sie zeigte sich bei der Eröffnung äußerst angetan Künstlernachlässen sowie in Museumsbeständen, von Material, Formgebung und Farbe. Dass das Auktionskatalogen und Ahrenshooper Gemein- Häusern die enge Verbundenheit mit Landschaft ganze Ensemble im Jahr 2014 dann noch den Lan- deprotokollen gefunden. Alle biografischen Daten Damit wird zugleich deutlich: Es sind nicht nur die Wie beinahe jedes Mu- und Tradition abzulesen ist, wuchsen gleichsam desbaupreis Mecklenburg-Vorpommern erhalten und Angaben zu den ermittelten Werken und Per- großen Namen wie Max Pechstein, Erich Heckel, seum, so bietet auch das auf 3.000 Quadratmetern fünf Einzelgebäude hat, überrascht letztlich nicht. Der Norden also sonen sind in einer digitalen Datenbank erfasst. Marianne Werefkin oder George Grosz, die es zum Haus in Ahrenshoop dem aus Stahlbeton empor, die ein zentrales Foyer kann sich freuen über eine ganz besondere Kunst- Sie bildet das Herzstück des Künstlerarchivs, das im Licht an dieses Fleckchen Ostseeküste zog, auch Besucher wechselnde einfassen und über ein verbindendes Flachdach arche, eigen und bescheiden, mit insgesamt 700 Zuge des Forschungsprozesses entstand und eine viele andere, darunter zahlreiche heute kaum Sonderausstellungen zu einem sich in die Umgebung einfügenden Quadratmetern Ausstellungs- und 350 Quadratme- breite Basis bietet auch für künftige Arbeiten an noch bekannte Maler, Grafiker und Bildhauer nah- neben einer ständigen Ensemble verschmelzen. tern Depotfläche, die auch den einen oder anderen dem Museumsbestand. Zudem sollen die Ergebnis- men der Darß und seine Umgebung, ja die ganze Werkschau. Zum Jahres- Strandurlauber angespült bekommen wird. Immer- se des jetzt beendeten Vorhabens als Grundlage für Region von Hiddensee über Rügen bis Usedom übergang 2015/16 gab es Der Charakter der fünf nicht allzu großen Bauwer- hin zählte das erste Jahr 50.000 Besucher. den weiteren Ausbau der Sammlung und die Kon- gefangen. Allein sie dem Vergessen entrissen zu die Ausstellung „Gedan- ke ergibt trotz – oder gerade wegen – ihrer wohl- zeption späterer Sonderausstellungen dienen. haben, ist eine der Leistungen des kleinen Teams. kenwege“ von Hubertus kalkulierten Verschiedenartigkeit ein stimmiges „Es ist ein wirklich angemessenes Haus für die von der Goltz zu sehen Ganzes. Jedes einzelne Ausstellungshäuschen hat Kunst und all die Künstler, die es inzwischen fül- „Ebenso wertvoll wie inspirierend waren für uns Man muss Museumschefin Katrin Arrieta und mit dieser Installation ein steil ansteigendes, kaminartiges Dach. Mit len“, sagt dessen Leiterin Katrin Arrieta. Erst seit vor allem die Gespräche mit Zeitzeuginnen und die Kunsthistorikerin Anna-Carola Krausse nur gleichen Namens. einer Ausnahme sind die Dächer knapp unterhalb Kurzem weiß man: Mindestens 900 Malerinnen Zeitzeugen“, sagt Anna-Carola Krausse. Zum Bei- im Gespräch erleben, wie hoch verdichtet und des Firsts abgeschnitten: So entstanden, abge- und Maler waren seit der Koloniegründung im Jahr spiel mit der hundertjährigen Marianne Clemens, trotzdem leichtfüßig von beiden erzählt sich eine deckt wiederum von einer Stahl-Glas-Konstruk- 1892 bis zum Fall der Mauer 1989 am Ort oder der deren Mutter Ottilie Kaysel einst Schülerin bei wertvolle Information an die nächste spannende tion, Oberlichter, durch die von außen Licht in die angrenzenden Küstenregion aktiv – darunter in Koloniegründer Paul Müller-Kaempff war und die Anekdote reiht, wie sie einander im Interview die Ausstellungsräume eindringt. Das bringt bei der guter Mischung bekannte und weniger bekannte. als Kind die Künstler der ersten Stunde erlebt hat. Bälle zuwerfen, ohne dessen gewahr zu sein, wie

16 Impulse 2017 17 Von welchen Motiven man meint, man habe 15 Minuten zugehört und ist ein idealer Weg für Museen, ihre inhaltlichen nen und Künstler, die es nun auch künftig weiter ließen sich die Künstler der Blick auf die Uhr zeigt, dass sich der Stunden- Profile zu schärfen und dadurch auf Dauer sowohl zu entdecken gilt. „Denn auch wenn das Projekt inspirieren? Findet man zeiger bereits um ein Zwölftel seiner Strecke auf in einigen Bereichen an Sachverstand zu gewin- jetzt ausläuft, soll und wird es nachhallen“, sagen Ausschnitte in der Natur, dem Ziffernblatt weiterbewegt hat, um zu erken- nen als auch attraktiver zu werden.“ Und so über- Krausse und Arrieta. „Es gibt noch viele bestehen- die unmittelbar Vorbild nen: Hier funktioniert optimal das, was die Stif- rascht es nicht, dass in dem Gespräch irgendwann de weiße Flecken auf der kunsthistorischen Land- gewesen sein könnten für tung mit ihrer Initiative zur Forschung in Museen sogar von einem Ausstellungs-, Begegnungs- und karte, die wir einfärben möchten.“ ein Werk? Antwort geben bezwecken will – die passgenaue Verknüpfung Forschungszentrum die Rede ist, das zu einem ein willkürlich heraus- von wissenschaftlicher und kuratorischer Arbeit, „europäischen Kulturportal“ gedeihen soll. Zwei übergreifende Forschungsaspekte sind den gegriffenes, im April 2016 von der nicht nur die Museumsforschung und Wissenschaftlerinnen besonders wichtig: „Zum entstandenes Foto und der die Ausstellungshäuser mit ihren Beständen pro- einen ging es uns um das Sichtbarmachen von Bil- Gang ins Museumsma- fitieren, sondern die Protagonisten der Projekte Ins Licht gerückt: DDR-Kunst und vergessene dern, die offiziell nicht ausgestellt worden sind. Ent- gazin. Einer der hier zahl- unmittelbar selbst. „Wir haben diese Form der Künstler und vor allem – Künstlerinnen weder weil sie während des Nationalsozialismus in reichen möglichen Belege Zusammenarbeit als unglaublichen Gewinn, als der sogenannten inneren Emigration der Künstler ist das Werk „Brandung persönliche Bereicherung erlebt“, sagen denn Neben der „Rekonstruktion der Kunst- und Künst- entstanden oder weil sie in der DDR aufgrund der (Ahrenshoop) mit Baden- auch beide. Und Arrieta fügt hinzu: „Sich mit uni- lerlandschaft“ an der Ostsee und dem Aufbau herrschenden Kunstdoktrin keine breite Öffentlich- den“ von Carl Lohse (1938). versitären Forschungskapazitäten zu vernetzen, eines entsprechenden Werkarchivs inklusive Bild- keit fanden“, sagt Krausse. Arrieta steuert den ande- datenbank fokussierten die Wissenschaftlerinnen ren Punkt bei: die „vergessenen Frauen“. Es habe auf zwei Zeiträume und thematische Schwer- zu jeder Zeit etliche Malerinnen in Ahrenshoop punkte. Den ersten Schwerpunkt bildete die soge- gegeben. Doch anders als ihre männlichen Kollegen nannte „Andere Moderne“, das heißt „die vielfälti- seien sie weit mehr und fast alle in Vergessenheit gen gegenständlichen Tendenzen der 1920er- bis geraten. „Hier haben wir jede Menge neues Wissen 1940er-Jahre, die mit dem Begriff der Neuen Sach- zusammengetragen“, sagt sie. „Vor allem aber hat lichkeit nur unzureichend oder gar nicht zu fassen das unsere ständige Ausstellung immer wieder ver- sind“, erläutert Anna-Carola Krausse. Hier galt das ändert und bereichert; wir zeigen inzwischen mehr Interesse vornehmlich den Vertreterinnen und und mehr Bilder exzellenter Künstlerinnen.“ Vertretern der sogenannten verschollenen Gene- ration, deren künstlerische Laufbahnen durch Letztlich bedeutet das nicht weniger als zurück zu Die Wissenschaftlerinnen untersuchten darüber Haben sich die Male- den Nationalsozialismus einen einschneidenden den Wurzeln. „Denn entdeckt haben Ahrenshoop hinaus nicht nur Werke, sondern auch Bezie- rinnen und Maler über Bruch oder Abbruch erlebt hatten und die deshalb eigentlich die sogenannten Malweiber“, landet die hungsgeflechte der Künstlerinnen und Künstler Jahrzehnte tatsächlich in Vergessenheit geraten waren. künstlerische Direktorin Katrin Arrieta bei einem untereinander sowie deren Vermarktungsstra- so eng an die Natur als ihrer Lieblingsthemen. So hielt sich die Berliner Lie- tegien: Welche persönlichen Verbindungen gab „Bildgeber“ gehalten? Der zweite Schwerpunkt lag auf dem Kunstschaf- bermann-Schülerin Eva Stort schon während der es? Wie funktionierte der Austausch zwischen Wenngleich kein genaues fen in der DDR der 1950er- und 1960er-Jahre. „Hier 1880er-Jahre auf dem Fischland auf, und die Land- der Ostseeregion und der Metropole Berlin? Und: Abbild, so zeigt das aktu- tritt die substanzielle Aufarbeitung in eine neue schaftsmalerin Anna Gerresheim, sie gehört zu den Wer lancierte wen in welcher Galerie? ell fotografierte, um 1660 Phase“, führt die Kunsthistorikerin diesen Pro- bekanntesten Künstlerinnen, baute hier ein Haus erbaute Dornenhaus im jektteil aus: „Der Blick richtet sich insbesondere auf im Jahr 1891 – und damit ein Jahr vor der offiziellen Auch wäre das Bild des Künstlerorts nicht kom- Ahrenshooper Bernhard- jene nonkonformen Künstler, die in Ahrenshoop Gründung der Kolonie. Als „Malweiber“ wurden plett, würde man nicht die vielen „Malgäste“ Seitz-Weg (oben) viel und anderen Regionen an der Ostsee ihr Refugium Frauen bezeichnet, die in privaten Malschulen erwähnen, die Arbeitsaufenthalte in und um Ähnlichkeit mit dem fanden und von denen es unzählige spannende, ausgebildet wurden, weil man ihnen den Zutritt Ahrenshoop verbrachten und somit ebenfalls Gehöft auf dem Bild fast vergessene Werke gibt, denen anzusehen ist, zu staatlichen, ausschließlich Männern vorbehal- Teil der „Ahrenshooper Kunstgeschichte“ sind. „Frühling“ (um 1894/95) dass sie abseits des staatlich verordneten Sozialis- tenen Kunstakademien verwehrte. Eine solche Klangvolle Namen eröffnen den Reigen jener, die von Elisabeth von Eicken. tischen Realismus entstanden.“ Eben diese Klam- Malschule – mit angegliederter Pension – eröffnete zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Fischland und mer, die beide Teilforschungsprojekte fasst, ist das der Landschaftsmaler Paul Müller-Kaempff 1895 in den Darß bereisten. Die Expressionisten Erich große Verdienst der beteiligten Forscherinnen: Ahrenshoop: das heute noch bestehende „Haus St. Heckel, Max Pechstein, César Klein, Alexej von den Blick zu richten auf die – aus verschiedenen Lukas“. Damit schuf er den Mittelpunkt der 1892 Jawlensky und Marianne Werefkin etwa tauchten Gründen – aus dem Kanon gefallenen Künstlerin- von ihm begründeten Künstlerkolonie. Meer, Strand und Wälder in leuchtende Farbigkeit.

18 Impulse 2017 19 Blick in die ständige Ausstellung des Kunstmuseums, deren Gesicht sich in den vergangenen vier Jahren deutlich verändert hat. Das Projekt spülte zahlreiche in Vergessenheit geratene und im Magazin schlum- mernde Bilder an die Oberfläche, von denen einige nun zu sehen sind.

In den 1920er- und 1930er-Jahren fanden dann der Bauhaus-Meister Gerhard Marcks oder Ernst Wilhelm Nay in Ahrenshoop künstlerische Anre- gungen; zu DDR-Zeiten kamen Sommergäste von Wolfgang Mattheuer bis Horst Zickelbein. Die bewegten Zeiten der Weimarer Republik hingegen gingen als jene Jahre in die Annalen ein, in der neben etablierten Malerinnen und Malern vor allem Schriftsteller, Musiker und Schauspieler in den populären Küstenort einfielen; der wurde ob der Herkunft seiner Gäste bald schon scherzhaft „Badewanne “ genannt. Mit spitzer Feder karikierte George Grosz das quirlige Treiben an den Stränden, während Lyonel Feininger seinen Blick übers Meer schweifen ließ und Skizzen und „Obwohl sie das Thema kuratorisches Arbeiten Natürlich gab es auch den direkten Austausch mit Auswahl von ihm illustrierter Prosa- und Lyrikbän- Der Lager- und Archiv- Studien für spätere Gemälde schuf. im Studium schon theoretisch behandelt hatten, dem Künstler. Dieter Goltzsche, von 1992 bis 2000 de den Bezug zu Land und Leuten aufscheinen.“ Sie raum des Kunstmuse- waren alle überrascht, was es dann konkret heißt, Professor an der renommierten Kunsthochschule heißen „Strandläufer“ oder „Das Leben am Grunde“, ums Ahrenshoop hält eine Ausstellung vorzubereiten und zu planen“, Berlin-Weißensee, sei zunächst etwas zurückhal- andere paraphrasieren romantische Gemälde der manche Überraschung Auch Studierende profitieren: Sie forschen mit und sagt Anna-Carola Krausse, die kurz nach Eröff- tend gewesen, als die Gruppe Studierender einen Ostseefreunde Caspar David Friedrich und Johann bereit. Neben Bildern engagieren sich bei Ausstellungen nung des Museums mit den Studierenden bereits Atelierbesuch in Berlin-Friedrichshagen angefragt Christian Dahl. und Skulpturen werden Richtung Ostsee aufbrach. Katrin Arrieta lacht bei habe, erinnert sich Krausse. „Aber als er merkte, hier auch Künstler- Eingebunden in das Projekt waren auch Studieren- der Erinnerung daran, wie verblüfft doch einige wie ernsthaft sich die Seminarteilnehmerinnen biografien und Briefe, de der Freien Universität Berlin, die sich an Recher- von der museumspraktischen Arbeit gewesen eingearbeitet hatten, war er in seinem Element Kleine, feine, spektakuläre Ausstellungen: Das Archivunterlagen, chen und Veröffentlichungen beteiligen konnten. seien; dass sie insbesondere gelernt hätten, wie und sprach mit großem Enthusiasmus über sein Kunstmuseum hat sich in kurzer Zeit etabliert Auktionskataloge und In den von Anna-Carola Krausse veranstalteten wichtig Detailgenauigkeit, das Protokollieren aller Werk und seine Auffassung von Kunst – und je Ahrenshooper Gemein- Seminaren zur kuratorischen Praxis lernten sie, Absprachen und exakte Zeitpläne seien, die es vertrauter es wurde, umso persönlicher und anek- Goltzsches Arbeiten, egal ob eigenständiges Blatt deprotokolle aufbe- wie man Ausstellungen plant – und 2013/14 hatten möglichst auch einzuhalten gelte. Und dass per- dotischer unterlegt waren seine Schilderungen.“ oder Literaturillustration, bilden nicht ab, sondern wahrt – und ebenso der etliche Teilnehmerinnen dieser Lehrveranstal- manente Kommunikation für das Gelingen solch Spannend sei dann die Diskussion mit ihm um die sind selbst beredte Erzählung. „Form und Gegen- eine oder andere Nach- tung die seltene Chance, eine Sonderschau für das eines Projektes essenziell sei. „Manche sind durch getroffene Auswahl für die Ausstellung gewesen. form, weiche Linie, raue Fläche: Mühelos und oft lass eines Künstlers. Kunstmuseum Ahrenshoop zu konzipieren und eine harte Schule gegangen, die wohl niemand „Die Studierenden haben dabei sehen gelernt. Die im selben Blatt springt er von Gegenständlichem umzusetzen: die Ausstellung „Die Kuh verstecken. vergessen wird – in jedem Fall eine unschätzbare Arbeit mit Originalen kommt im Studium sonst zu freier Gestaltung, eine eingängige Handschrift Arbeiten auf Papier von Dieter Goltzsche“. Erfahrung!“ zu kurz“, bekräftigt Krausse. oder stilistische Einbahnstraßen gibt es bei ihm nicht. Der Bewunderer von Rembrandt und Matisse „Zum ersten Mal haben wir im Rahmen des Semi- Im Rückblick könne man sagen: „Die meisten Der Dresdner Dieter Goltzsche entschied sich früh zeichnet mit genialer Unbefangenheit“, charakte- nars derart eng gleichermaßen mit einem Museum waren überrascht, wie viel wissenschaftliche für einen Weg jenseits des Sozialistischen Realis- risiert Arrieta Goltzsches Wirken. Der mysteriöse und einem bekannten Künstler zusammengear- Arbeit hinter solch einer Ausstellung steckt“, mus. Mit seinen Arbeiten auf Papier, einem in der Ausstellungstitel „Die Kuh verstecken“ ist im Übri- beitet“, sagt Krausse. Aus dem Besitz des Künstlers betonen Krausse und Arietta unisono. Für die DDR weniger reglementierten Feld, wurde er zu gen ein Zitat des Künstlers aus dem Film „Brückege- und der Sammlung des Museums wählten die Konzeption sei eben nun einmal intensive Recher- einem unter Künstlerkollegen und Kennern hoch- hen“. In dem Film beschreibt er seine Arbeitsweise Nachwuchskuratorinnen vierzig repräsentative chearbeit zum Werk und zur Biografie nötig. Nach geschätzten Individualisten. „Es gibt nicht viele und sein Kunstverständnis. Es gehe ihm nicht Handzeichnungen aus – darunter zahlreiche jün- Abschluss jedenfalls habe es überschwängliches Ostkünstler, deren Oeuvre man den Einschnitt der darum, die sichtbare Wirklichkeit nachzuahmen, gere Arbeiten, die erstmals gezeigt wurden. Die Lob von allen Studierenden gegeben: „Es sind der Wende so wenig ansieht“, sagt Expertin Katrin sondern mit den Mitteln der Kunst eine eigene zu Studentinnen entwickelten innerhalb von zwölf persönliche, kreative Austausch und die vielfälti- Arrieta. Denn der Maler habe sich ebenso den schaffen. In diesem Sinne müsse also, sollte eine Monaten das Ausstellungskonzept, verfassten Tex- gen, nun weit besser einsehbaren Aufgaben, die Kunsttrends des Westens entzogen. „Goltzsche Kuh Ausgangspunkt einer Bildidee gewesen sein, te für den Katalog, unterstützten das Museum bei den Beruf des Kurators für mich reizvoll machen“, kommt seit Jahrzehnten regelmäßig zum Arbeiten diese Kuh im übertragenen Sinne versteckt werden der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, konzipierten habe ihnen eine der Studentinnen geschrieben, nach Ahrenshoop, und so lassen seine Zeichnun- … – sicher kein leicht zu fassender Künstler für die den Hängeplan und setzten ihn mit um. freuen sich die beiden Frauen. gen, Aquarelle und Mischtechniken ebenso wie die Studentinnen der Freien Universität Berlin …

20 Impulse 2017 21 Ein beliebtes Motiv, ob für Malerei oder Fotografie: Windmühle im Ostseebad Ahrenshoop nahe des Museums. Auch hier zeigt ein schweifender Blick zum Foto rechts am Beispiel des Dachs die enge Orientierung des neuen Hauses an lokaler Bautradition.

präsentierte mit 140 Werken von 90 Künstlerin- den Museumsbau – das war der Grundstock. Heute nen und Künstlern mehr oder minder die Höhe- tragen über hundert Stifter das Kunstmuseum, und punkte aus 120 Jahren „Kunstgeschichte“ zur ein Vierfaches an Vereinsmitgliedern unterstützt Küstenlandschaft um Ahrenshoop von Fischland/ die Privatinitiative, die von passionierten Kunst- Darß über Rügen bis Usedom. In der Ausstellung sammlern und Freunden der Ostseeküste angeregt mit dem Untertitel „Von der Künstlerkolonie bis worden ist. Fundament der eigenen Sammlung heute“ waren Grafiken von Lyonel Feininger zu sind mehr als fünfhundert Bilder und Grafiken sehen und Werke von Marianne Werefkin, die sowie über lange Zeit verstreute und teils uner- sich 1911 gemeinsam mit Alexej von Jawlensky in schlossene Bestände, die hier seit der Museums- Prerow aufgehalten hatte und von dort aus auch gründung allmählich zusammengeführt werden. nach Ahrenshoop gereist war. In seinen Erinne- Sie erreichen über Dauer- und Wechselausstellun- rungen an den Aufenthalt auf dem Darß im Jahr gen nach und nach die Öffentlichkeit. 1911 schreibt der russisch-deutsche Expressionist: „Dieser Sommer bedeutete für mich eine große Katrin Arrieta jedenfalls, die vor ihrem Wech- Entwicklung in meiner Kunst. Ich malte dort mei- sel nach Ahrenshoop Direktorin der Rostocker ne besten Landschaften.“ Kunsthalle war, strahlt aus, dass sie ihren Platz gefunden hat. Anna-Carola Krausse wiederum Getragen wird das Museum von einer Stiftung. lässt ihre Grundlagenforschung absehbar in eine Alles in allem ruhe die Realisierung jenseits einer Monografie münden, und beide sind derzeit dabei, Förderung durch den Bund und das Land Meck- eine „Überblicksausstellung“ zu konzipieren. Bis lenburg-Vorpommern in erster Linie auf erhebli- die steht, wird Katrin Arrieta die Sammlung des chem bürgerschaftlichen Engagement, sagt Katrin Kunstmuseums durch weitere Erwerbungen und Ein Jahr zuvor, 2013, hatte das Museum bereits Arrieta. Vor allem einer Person ist zu verdanken, Dauerleihgaben ergänzt haben. Schon jetzt sind Alfred Partikels. Auch wenn ihre Namen heute Das Kunstmuseums ist mit einer Ausstellung eröffnet, die weit über die dass es das Museum gibt: dem ehemaligen IBM- hier Entdeckungen zu machen wie die dezent kaum noch einer kennt: Ihr gleichsam distanzier- eingefasst von einem Region hinaus für Aufmerksamkeit sorgte. Die Manager und Kunstsammler Guenter Roese, der unterkühlten Pleinair-Landschaften der 1921 in tes wie anrührendes Lebensgefühl wirkt seltsam landschaftstypischen Schau „Um uns ist ein Schöpfungstag“ nach dem im vergangenen Jahr verstarb. Der von ihm initi- Ahrenshoop gestorbenen Anna Gerresheim vertraut – so als hätten diese Künstler einem tief Garten, der Gräben gleichnamigen Bild der Malerin Anna Gerresheim ierte Verein sammelte zwei Millionen Euro für oder die in den Dreißigern gemalten Weltfluchten ins Innerste geschaut …  und Teiche integriert.

i schaftsmalerei und das Studium in freier Natur spiel- Nach dem Zweiten Weltkrieg führte man in der Kunst prägt Architektur: Ahrenshoop einst und heute ten für die jetzigen Avantgarden keine Rolle mehr. DDR die Tradition des Künstlerorts fort. Ahrenshoop Doch auch ohne „Koloniestatus“ besaß Ahrenshoop wurde zum „Bad der Kulturschaffenden“ erklärt, Die Anfänge von Ahrenshoop als Künstlerort liegen von ihnen häufig nach eigenen Plänen errichteten weiterhin große Anziehungskraft für viele Künstle- ein Ferienort der Kulturelite des Landes. Aber auch über 120 Jahre zurück. Im letzten Viertel des 19. Landhäuser. Architektonisch wichen diese mit- rinnen und Künstler mehr und mehr unterschied- offiziell ausgegrenzte Künstler fanden abseits des

Hintergrund Jahrhunderts beschlossen immer mehr Malerinnen unter deutlich von der zu jener Zeit in der Region licher Stilrichtungen zudem. Da Bauland in dem staatlich gelenkten Erholungsbetriebs Unterkunft und Maler, die das Fischland und den Darß zunächst üblichen Bauweise ab, sodass der Gemeinderat, inzwischen zu einem beliebten Seebad avancierten und kreativen Austausch mit Gleichgesinnten. Eini- nur als Gäste besucht hatten, das abgeschiedene dem auch Künstler angehörten, Anfang des 20. Ort rar geworden war, übernahmen die Zugezoge- gen gelang es, sich die nötigen künstlerischen Frei- Fischerdorf und dessen reizvolle Umgebung intensi- Jahrhunderts beschloss, dass künftig nur noch im nen häufig kleine landwirtschaftliche Gehöfte und räume zu schaffen; auf andere wirkte die ländliche ver zu entdecken und zu erkunden. Gedacht, getan. ortstypischen Stil gebaut werden dürfe. Zu Recht bauten diese Büdnereien genannten Anwesen zu Abgeschiedenheit stilbildend, eröffnete neue Wege. Bereits in den frühen 1890er-Jahren begannen sie, befürchtete man, das Fischerdorf verlöre sonst sei- Wohn- und Atelierhäusern um. Der Spätkubist Hans Kinder etwa, der sich seit Mitte in Ahrenshoop Häuser zu bauen, um dauerhaft oder nen ursprünglichen Charakter, für den man es ja so der 1950er-Jahre regelmäßig in Ahrenshoop auf- während der Sommermonate an diesem Ort zu schätzte und bis heute schätzt. Während des „Dritten Reichs“ war die Gegend Rück- hielt, fand an der See zu einer gänzlich abstrakten leben. Diese Bauphase markiert die Geburtsstunde zugsort für Künstler, die von den Nationalsozialisten Formensprache, die deutlich Distanz hielt zur „offi- der eigentlichen Künstlerkolonie. Mit dem Ersten Weltkrieg zerbrach die Künstlerko- als „entartet“ verfemt waren und deren Werke ent- ziellen“ Kunst und die viele Jüngere beeinflusste. Zu lonie. Viele Malerinnen und Maler mussten kriegs- sprechend „zur Schau“ gestellt wurden – unter ihnen allen Zeiten fanden Künstler hier fern der Großstadt So individuell wie die Ahrenshooper Künstlerinnen bedingt ihre Häuser aufgeben. Nach 1918 wurde der Werner Gilles und Ernst Wilhelm Nay, später wichti- und befreit von Zwängen Inspiration und Muße. und Künstler, so unterschiedlich waren auch die Koloniegedanke nicht mehr wiederbelebt. Die Land- ger Vertreter der westdeutschen abstrakten Kunst. Christian Jung

22 Impulse 2017 23 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Visionäre Bilder

150 Kunstwerke über Militär und Kampf – und über den Wahnsinn des Ersten Weltkriegs. Gemalt von psychisch Erkrankten zwischen 1890 und 1920 in Anstalten des deutschen Kaiserreichs; zu sehen vor Jahres- frist in Heidelberg und Dresden in der Ausstellung „Uniform und Eigensinn“. Wie Anstaltsinsassen jener Zeit ihre Welt malten, zeich- neten und schnitzten: Das hatten zuvor Forscher unterschiedlicher Disziplinen an über 500 Bildern und Skulpturen der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung untersucht. Eine „Bildergeschichte“ über Kriegs- zeiten im Zerrbild kranker Seelen.

Der Leiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, Dr. Thomas Röske, zeigt die Skulp- tur „Militarismus“ des Holzschnitzers Johann Karl Genzel aus dem Jahr 1914/15, ein zentrales Exponat der stiftungsgeförderten Ausstellung „Uniform und Eigensinn“.

24 Impulse 2017 25 Text: Christian Jung // Fotos: Felix Schmitt

„... er sensibel genug ist, der spürt in nahezu verändernden – Konzepte von Gesundheit und jedemw Blatt ein Anderssein, das ihn anzieht, das Krankheit spricht. Seine grundlegende Haltung seine Lebensnormen in Frage stellt. Er erlebt an die- wird sofort klar: „Mich interessiert, was die länger sen Exponaten, daß die Psychose eben nicht nur ein oder kürzer andauernden Momente oder Phasen Defekt ist, ein Weniger, sondern daß in ihr auch ein psychischer Grenzerfahrung auslösen, und nicht, schwer zu entziffernder, zerstückter menschlicher wie die Geisteszustände Einzelner medizinisch Entwurf anderer Art steckt, stecken kann, den man zu klassifizieren und gegeneinander abzustufen zu erfahren wünscht, dessen Metaphorik man sich sind.“ Viel spannender sei doch, dass psychische nähern kann – und den man nicht zuletzt von sich Ausnahmezustände oftmals schlafende Begabun- selbst, aus den Angst- und Wunschproduktionen der gen weckten, betont er. Und eben das offenbarten eigenen Träume bruchstückhaft zu kennen meint.“ die Exponate der Sammlung Prinzhorn.

Als der Schriftsteller und Psychiater Heinar Man muss sich nur umschauen in dem Haus auf Kipphardt im Jahr 1980 mit diesen Worten sei- dem Gelände der alten Heidelberger Universitäts- ne Eindrücke eines ihn sichtlich berührenden klinik, um zu verstehen, was der studierte Kunst- Museumsbesuchs zusammenfasst, hätte er kaum historiker, Musikwissenschaftler und Psychologe treffender die Intention Hans Prinzhorns (1866- Thomas Röske meint. Hier entfalten sich unge- 1933) wiedergeben können, den er persönlich nie wohnte Bilderwelten in wechselnden, oft spekta- kennenlernte, ohne den aber dieser Besuch wohl kulären und deutschlandweit manchmal nur hier kaum möglich gewesen wäre. Kipphardt hatte gezeigten Ausstellungen. Und seitdem die Samm- sich Kunstwerke psychisch Kranker angeschaut: lung im Jahr 2001 nach langem Anlauf endlich ihr Zunächst waren sie selbst erstaunt, als sie bei ihren ne. Alle Lebendigkeit ist in die himmlische Sphäre „Es braust ein Ruf wie Bilder und Arbeiten, die eben jener Hans Prinz- eigenes Domizil beziehen konnte, lässt sich auch Recherchen mehr als 500 Bilder und Objekte aus der verlegt. Dort setzt sich auch der Zeichner selbst Donnerhall“, aquarel- horn, ein Arzt und Psychiater, in den 1920er- und die Öffentlichkeit weit besser ansprechen, nimmt Zeit zwischen 1880 und 1925 fanden – sämtlich Wer- ins Bild. Er ist präsent und doch ist er es nicht. Als liert von Adolf Nesper 1930er-Jahren in Heidelberg zusammengetragen rege teil an dem, was lange Zeit erst hinter ver- ke von Insassen psychiatrischer Anstalten des Kai- Zuschauer auf der Himmelsbühne spielt er mit den zwischen 1906 und 1913. hatte (siehe Kasten auf den Seiten 36/37). Zwischen schlossenen Türen entstand und dann Jahrzehnte serreichs. Sie verleihen dem Schrecken des Krieges Realitätsebenen; sein Pfeifenrauch entweicht dem (Liedzeile aus dem Epos Prinzhorns Aktivitäten und Kipphardts Besuch einem Dornröschenschlaf anheimfiel. einen besonderen, oft bestürzenden Ausdruck. Bild im Bild und mischt sich in die Wolken. „Wacht am Rhein“, 1840) liegen die dunkle Zeit des Nationalsozialismus, vor allem aber drei Jahrzehnte Dämmerschlaf, aus Die facettenreiche und zugleich berührende Sicht „Trotz vieler rätselhafter Anspielungen zeigt dem die recht spezielle Sammlung mit reichlich „Uniform und Eigensinn“: berührende Bilder mit auf das Thema zeigt wohl kaum ein Werk ein- das Blatt deutlich Nespers positive Haltung dem Gähnen und viel Strecken nach dem Licht gerade Mut zur Schärfe über eine Gesellschaft im Krieg drucksvoller als Adolf Nespers turbulentes Aquarell Krieg gegenüber; kämpferische Auseinander- erst wieder erwacht war, um dem drohenden Ver- „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“. Als eines der setzungen hielt er offensichtlich für befreiend“, gessen dann doch noch zu entgehen. „Noch heute bringen es die Recherchen für die Highlights der Ausstellung ziert es auch das Cover schreibt das Forscherteam, dem neben Röske Ausstellungen regelmäßig mit sich, dass immer des Katalogs. Gehüllt in düster glühende Blau- und noch die in der Sammlung Prinzhorn tätige Kul- Hans Prinzhorn hatte zeitlebens daran geglaubt, wieder neue Preziosen aus dem Bestand von Rottöne, reiten die einstigen Helden des Feldzu- turwissenschaftlerin Sabine Hohnholz und die dass es kein verlässliches Kriterium gibt, mit dem inzwischen über 6.000 Werken ans Licht kom- ges gegen Frankreich als dunkle Truppe hinein in Psychiaterin und Medizinhistorikerin Dr. Maike sich die Kunst psychisch kranker Menschen unter- men“, sagt Röske. Zuletzt sorgte 2015 die Bilder- und himmlische Sphären und schieben einen hellen Rotzoll angehörten sowie die Philosophin Dr. scheiden ließe von der Kunst Gesunder – weil Werkschau „Uniform und Eigensinn. Militarismus, Wolkenkranz vor sich her. Am Rand baden Rhein- Sonja Frohoff als Postdoktorandin und als Dok- seiner tiefen Überzeugung nach Krankheit und Weltkrieg und Kunst in der Psychiatrie“ für reges töchter, nackte Leiber tauchen auf, ein Boot wie aus toranden der Historiker Christoph Bartz-Hisgen Gesundheit im Grunde keinen Gegensatz dar- Publikumsinteresse. Sie war Teil wie Ergebnis eines der Unterwelt gleitet vorbei, hoch oben hängt ein und die Kunsthistorikerin Kasja Majer-Bahrke. stellen, sondern zwischen beiden ein fließender von der Stiftung mit knapp 300.000 Euro geförder- Ordensstern. Fließende Formen und kräftige Farben „Letztlich sah er den erneuten Konflikt zwischen Übergang besteht. Dr. Thomas Röske, der heute, ten Projekts gleichen Titels. Unterstützt von Kolle- erhitzen die obere Zone. Die irdische Sphäre ist kühl, Deutschland und Frankreich sogar voraus.“ Mit fast ein Jahrhundert nach Prinzhorns Pionierar- ginnen des Dresdner Militärhistorischen Museums, graugrün und blass ins Bild gesetzt. Figuren wie seiner bildnerischen Apotheose der Heldenväter beit, die Sammlung gleichen Namens leitet, nickt suchten Mitarbeiterinnen der Sammlung Prinzhorn Holzpuppen wandeln eine Allee entlang, eine Frau, des deutsch-französischen Kriegs appellierte zustimmend, wenn man mit ihm über die in hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mithilfe ein Soldat mit geschultertem Säbel, ein Harlekin. Ein der Künstler an die Kriegslust des Kaisers, hoffte verschiedenen Gesellschaften verankerten – und der Kunst psychisch Kranker nach einer neuen Sicht Telegrafenmast, dessen Drähte wie Notenlinien den wohl, seine Freiheit wiederzuerlangen und am sich dort auch über die Zeitläufte unterschiedlich auf diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Himmel schneiden, markiert die technische Moder- Krieg teilnehmen zu können, resümiert Röske.

26 Impulse 2017 27 Das Thema „Krieg“ (datiert 12. September 1919), von Ginand als Höllenspektakel dargestellt. Die Verteidigung der Menschen gegen die Brut der Finsternis wirkt eher hilflos als aussichts- reich. Der Krieg als solcher ­– ein schier übermächtiger Gegner?

An anderer Stelle bewirkt die sorgsame Ausfor- mung bildnerischer Details durch den Künstler, dass ein bei flüchtiger Betrachtung zunächst sich kurz einstellendes, eher neutrales Gefühl wie Neugier bereits beim zweiten, genauerem Hinsehen kippt. Es bricht und geht über etwa in ein Schmunzeln, wenn man bemerkt, wie subtil es dem Künstler gelungen ist, die Abgebildeten in Wirklichkeit zu karikieren. Zum Beispiel dann, wenn uns Respektspersonen wie Otto von Bis- marck oder Kaiser Wilhelm II. leicht debil und uninspiriert anschauen mit Gesichtern, die wenig mehr als eine innere Leere erahnen lassen. Es sind Figuren, fast erdrückt von ihren schmucküber- ladenen Uniformen. Sie fallen der Lächerlichkeit anheim – ebenso wie die Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph, die Carl August Weber als ineinan- der verliebte Jungs darstellt.

Die beiden Blätter „Im Kern ist das, was vor gut einem Jahr als Aus- „Wo immer es solche weiterführenden Unterlagen in verschlossener Bildsprache oder als naive Hand- Viele der ausgestellten Werke leben von dieser „Friede und Krieg“ von stellung die Öffentlichkeit erreichte, Ergebnis zu den Patienten gab, haben wir sie zum besseren zeichnung, anderes auf Zeichen- und Toilettenpa- Ambiguität zwischen vermeintlich plumper Adam Ginand beziehen unserer aktuellen Forschung –­­ auch wenn wir Verständnis ihrer Kunst hinzugezogen“, erläutert pier oder kostbar in Öl porträtiert. Tagebücher und Bewunderung oder nahezu distanzloser Annähe- sich aufeinander. Das natürlich nur einen Teil dessen zeigen konnten, Röske. Oft habe insbesondere die „Patientenakte“ Briefe sowie vereinzelt Gedichte, Prosatexte und rung und fast schon gewollt ironisch wirkender Motiv „Friede“ (11. Mai woran wissenschaftlich gearbeitet wurde“, gibt der den entscheidenden Zugang geliefert; etwa zu den Musikkompositionen runden das Portfolio soge- Selbstentlarvung; gerieren sich dabei als launige 1919) zeigt einen Reiter Projektleiter zu bedenken. „Übergreifend lässt sich eindrucksvollen Werken von Adam Ginand. Der nannter Egodokumente. Karikatur, die trefflich Zeitkritik vermittelt – mal mit Palmzweig, beglei- zu den Werken der 64 in der Schau präsentierten Bezirksbaumeister aus dem pfälzischen Germers- mehr, mal weniger gelungen in Aussage und tet von zwei Engeln; es Künstler – unter ihnen nur vier Frauen – sagen, heim wurde erstmals im April 1916 in eine psych- künstlerischer Qualität. In jedem Fall aber wirken erinnert an Passionszü- dass sie trotz ihrer sehr speziellen, teils verzerrten iatrische Anstalt eingewiesen; wiederholt hatte er Allmacht im Militärmantel: über verliebte Kaiser etliche der hundert Jahre alten Werke seltsam ge, wie sie in ländlichen, Wahrnehmung der Außenwelt einen oft recht versucht, seine Lieben vor wohl imaginären Bedro- und Massenvergewaltigung im Glied zeitlos, und so hat auch der Betrachter in der katholischen Gegenden treffsicheren Blick auf die Gesellschaft ihrer Zeit hungen in Sicherheit zu bringen. Seine Krankenakte Gegenwart eine spontan zufassende Freude an noch heute zu sehen hatten und was diese gerade bewegte.“ Und in der enthält viele hilfreiche Aufzeichnungen. Spätestens Deutlich wird: Die Werke rund um die Themen den manchmal arg irritierenden Darstellungen sind. Der skizzierte Rah- Tat: Zunehmend mit Erschrecken und wachsender nach dem „Tod im Felde“ seines 17-jährigen Sohnes Militär, Machtgebaren und Menschen im Ersten all jener uniformierten Monarchen, Offiziere und men um das eigentliche Beklemmung setzt sich beim Streifzug durch die habe ihn das Thema Krieg und Frieden kaum noch Weltkrieg formen in teils extrem detailgetreuer Soldaten oder vom Alltag auf dem Kasernenhof. Bild lässt vermuten, Bilderschau das Gefühl fest, dass die Insassen der losgelassen, ist zu lesen. Seine „seelisch gedrückten Betrachtung und erschreckend klarer, unmissver- dass Ginand ein Sinn- einst so genannten „Irrenanstalten“, die ja zum Teil Zustände“ wechselten sich mit zahlreichen Aus- ständlicher Aussage ein Zerrbild einer kriegsbe- Zugleich vermitteln die ungelenken Zeugnisse bild festhalten wollte. durchaus klug und gebildet waren, ihre Umwelt bruchversuchen ab; zwischendrin steigerte er sich sessenen Gesellschaft, das oft erstaunlich genau eine Ahnung von den Erlebnissen ihrer Schöpfer. und die gesellschaftliche Situation viel klarer gese- immer obsessiver in seine Arbeit, bis ihm als finale die Wirklichkeit erfasst. Es überrascht, dass etliche Die Allgegenwart des Militärischen etwa, die hen haben als ihre klugen und gebildeten Zeitge- Diagnose „chronische Manie“ attestiert wurde. Bilder und Aufzeichnungen eine übertriebene die Gesellschaft seinerzeit prägte, illustriert das. nossen „draußen“. Die Skulptur „Militarismus“ des Bewunderung, ja geradezu Vergötterung des Mili- Uniformen waren beliebte Sujets. Manche Künst- Holzschnitzers Johann Karl Genzel aus dem Jahr Auch anderes Material floss in die wissenschaft- tärischen erkennen lassen: Der tapfere, allseits lerinnen und Künstler schufen sich offenkundig 1914/15 (zu sehen eingangs dieses Beitrags auf S. 24) liche Analyse ein: Biografien einzelner „Künstler- geachtete Soldat scheint für viele der gesellschaft- über ihre Werke militärische und zivile Weihen, erzählt das vielleicht besser als jedes andere Werk. Patienten“, sofern verfügbar. Des Weiteren eigen- lich geächteten Künstler eine Sehnsuchtsfigur verliehen sich quasi selbst per Abbildung und Pro- In dem Objekt scheinen individuelles Leid und händig gebundene Bücher, in denen zum Beispiel gewesen zu sein – bis hinein in eine fragwürdig jektion auf Dritte wichtige Orden und Auszeich- übergreifendes Leiden gleichsam als Konzentrat Herrscherbildnisse in erotische Szenen eingewo- sexuelle Überhöhung. So zeichnete Oskar Deitmey- nungen, um damit einen bedeutenden Platz in der zusammenzufließen. „Der Krieg beschäftigt ihn ben sind. Staatsmänner, Offiziere und Generäle fin- er mehrfach kühl dreinblickende Uniformträger, sozialen Pyramide dauerhaft zu ergattern – eine reichlich“, vermerkt Genzels Krankenakte. den sich vor allem in Skizzenbüchern und Heften die von halbnackten Frauen oral befriedigt werden. Art größtmögliche Freiheit in der Unfreiheit.

28 Impulse 2017 29 „An die Königliche Staatsanwaltschaft Saarbrücken Phpf.; 9. Januar 1907“ (oberes, neben- stehendes Bild): Einige Künstler wie Heinrich Peter Bruno Debus versuchten mithilfe gezeich- neter Konstruktionsentwürfe immer ausgefallenerer Waffen in Freiheit zu gelangen, indem sie sich auf diese Weise als stramme Kriegsbefürworter zeigten und als Kämpfer anboten.

Prinzhorn hingegen wurde noch mit den Worten Prinzhorn immerhin bewahrte sich, obwohl als beauftragt, an der Psychiatrischen Universitätskli- Kind seiner Zeit durchaus gut gefangen und nik Heidelberg einen Bestand von Kunstwerken genormt in der Art des wertenden Blicks auf psy- zu systematisieren und zu erweitern, die an den chisch Kranke, stets eine genaue und differenzierte „Irrenanstalten“ des Deutschen Reichs entstanden Wahrnehmung. Davon zeugt bis heute sein als waren. Entsprechend adressierte er diese, und er Standardwerk geltendes Buch „Bildnerei der Gei- stellte auch die Diagnosen seiner Berufskollegen steskranken“ von 1922, das die Sammlung weit nicht infrage – darunter Diagnosen, die einzig über Heidelberg hinaus bekannt machte. Darin dazu dienten, Menschen etwa wegen Aufwiegelei fasst er seine Überlegungen zur Psychologie und oder Verstößen gegen die Staatsräson wegzusper- Psychopathologie der Gestaltung zusammen. Unter ren oder weil sie auf andere Weise den Verdacht anderem klassifiziert er Werke als „hervorragende nährten oder bequemerweise nähren sollten, Einzelleistungen“, andere sieht er als „deutlich nicht bei Verstand zu sein. unter der Einwirkung einer geistigen Störung ste- hende Darstellungen“, in wieder anderen erkennt Vom Standpunkt der modernen Psychiatrie her er „jede Art von Kritzelei, primitivster Qualität“. betrachtet ist heute jedenfalls fraglich, ob der Zustand des einen oder der anderen wirklich psy- Während die medizinischen Fachkreise auf Prinz- chopathologisch war, ob es sich nicht zumindest horns Wirken eher reserviert reagieren, lösen sein um eine andere Krankheit handelte – oder eben Buch und seine Arbeit bei vielen Künstlern und einfach nur um eine Pseudodiagnose, damit sich Kunstinteressierten ein begeistertes Echo aus. Vor als ungebührlich oder störend eingestuftes Verhal- allem die Surrealisten sind fasziniert. Max Ernst ten sanktionieren ließ. Schnell wurde vor hundert beispielsweise lässt sich, gut zu erkennen an dem „Militärische Träume“: Werden vielleicht bei solchen Bildern selbst zuge- Notlagen in der Anstalt hindeuten. Noch düste- Jahren die Diagnose „Dementia praecox“ gefällt: Bild „Wunder-Hirthe“ von August Natterer, direkt Blatt aus „Selbstgefertig- sprochener Ehrungen und Weihen oder insbeson- rer: Gustav Sievers' Darstellung einer Massenver- Die Krankenakten dieser Zeit – sofern überliefert von Prinzhorns Illustrationen inspirieren. tes Buch mit Zeichnun- dere bei jenen, die offensichtlich durchtränkt sind gewaltigung Dutzender Frauen, deren Männer – sind voll von diesem fatalen Urteil der „vorzeiti- gen“ (um 1893). Oskar von der eigenen persönlichen Überhöhung, die an Bäumen baumeln. All das lässt diverse Deu- gen Verblödung“. Wem ein solches Etikett einmal Deitmeyer stellt in seinen psychotischen Zustände einzelner Künstler deutlich tungen zu. Vor allem aber schimmert immer anhaftete, der bekam es kaum wieder los. Collagen und Zeichnungen – und mithin ein Durchschreiten der Übergangszo- wieder individuelles Leiden durch. des Öfteren das Thema ne zwischen gesund und krank? … Kann die Kunst Ein solcher Fall war Adolf Nesper, Maler des ein- „erzwungener oder käufli- hier womöglich als eine Art Kommunikationsmittel gangs vorgestellten „Donnerhall-Bildes“ (Seite 27). cher Sex“ dar und skizziert helfen, sich dessen bewusst zu werden; mit Stift Macht Kunst gesund? Legt das künstlerische Er war bereits Mitte zwanzig und seit sechs Jahren zum Beispiel wiederholt und Papier, beim Schnitzen oder Tuschen also aus- Schaffen den Zugang zur Krankheit? interniert, als dieses Aquarell entstand. Es ist ein kühl dreinblickende zudrücken, was sich mit Worten nicht vermitteln klug konzipiertes Werk, vielschichtig und vielfäl- Uniformträger, die sich lässt? Ist folglich das auf solchem Weg entstandene In jedem Fall war die Kunst für psychisch Kranke, tig in seinen dargestellten Objekten, in Farben Inzwischen weiß man: Sogar von (halb)nackten Frauen Werk ein gemeinsames Drittes, auf das sich der hatten sie denn überhaupt die Möglichkeit, sich und Kontrastierung; mit zahlreichen sich aufein- namhafte Künstler orientier- oral befriedigen lassen. Kranke und sein Therapeut beziehen und in dem entsprechend kreativ zu betätigen, eine will- ander beziehenden und doch auch für sich selbst ten sich an Werken psychisch sie sich begegnen können; das dem Behandelnden kommene Abwechslung. Denn bis weit ins 20. stehenden Details am richtigen Ort. Es ist diffe- Kranker wie etwa an jenen von hilft, den Kranken zu verstehen, und dem Patienten, Jahrhundert hinein wurden viele von ihnen für renziert und vielgerichtet in seinen Aussagen und August Natterer. Er brachte es die eigene Krankheit besser zu bewältigen? Jahrzehnte weggesperrt oder gar ihr Leben lang bringt doch die Kernbotschaft klar auf den Punkt als einer der wenigen zu einem interniert. Das ist heute anders – einen Umbruch – der Krieg als DAS Mittel zur Befreiung. Obwohl gewissen Grad an Bekanntheit; Sammlungsleiter Thomas Röske sind einige brachte die Entwicklung entsprechender Psycho- Nesper von einem engagierten Arzt mehrfach widmete sich in seinen Werken Werke besonders in Erinnerung geblieben. Das pharmaka in den 1950er-Jahren, mit deren Hilfe attestiert wurde, er gehöre trotz „Halluzinationen vor allem dem Thema Krieg. Das Oeuvre von Heinrich Debus etwa, der versuchte, sich in immer mehr Fällen auch Alltagsleben und religiöser Erscheinungen“ und „böser Geister, zeigt „Luftkreuzer“ von 1915 (S. mittels Konstruktionszeichnungen immer fanta- außerhalb geschlossener Einrichtungen bewerk- die in ihn hineingehen“ in Freiheit, zumal man 30 rechts, das untere). Zu den stischerer Waffen seinen Platz in der Gesellschaft stelligen ließ. Ebenso änderte sich der Blick auf die ihn „unrechtmäßig festhalte“, erhielt er wegen Preziosen der Sammlung zählt zurückzugewinnen. Oder Oskar Deitmeyers Erkrankten und infolgedessen die Art und Weise, seiner angeblich „albernen Bilder“ die Diagnose „Wunder-Hirthe“ [II] (neben- pralle erotische Miniaturen, die auf die sexuellen mit ihnen und über sie zu reden. „Dementia praecox“. Damit war das Urteil gefällt. stehend, zwischen 1911 und 1917).

30 Impulse 2017 31 Die beiden Kunsthistoriker Doris Noell-Wumpeltes und Torsten Kappenberg sichten den Bestand in den unterirdisch gelegenen Räumen der Sammlung, zumeist bildhafte Kunst und Skulpturen.

Die Entschlüsselung des hochkomplexen Bild- und Textmaterials ist für den seit 2001 dort Beschäftig- ten, seit 2002 die Sammlung Leitenden ein „span- nender Prozess, der wohl nie abgeschlossen sein“ wird. Eine seiner Zugangsweisen zu den unter- schiedlichen, ihn stets berührenden „Bildnereien“ ist die intensive Beschäftigung mit den einzelnen Künstler-Patienten, die mit diversen Arbeiten in der Sammlung vertreten sind. „Die sich in solchen ‚Gesamtwerken‘ spiegelnde Grundstimmung, die inhaltlichen und stilistischen Charakteristika, aber auch die Brüche verdeutlichen manches, was in der einzelnen Arbeit unbemerkt bleibt.“

Viele Schätze lagern Viele prominente Künstler ihrer Zeit feiern die mit großem Drang, eine Botschaft aufs Papier zu schen Lösungen in ihrer Aussagekraft enorm zu, „Zahlreiche dieser Künstler versuchten, einen (noch) im Magazin der naiven oder grotesken Darstellungen als Zeugnis- bringen – die im Einzelfall zu großer Kunst wird. indem sie sie bündeln und konzentrieren wie Beleg für Dinge zu kreieren, die nur sie sahen“, Prinzhorn-Sammlung; es se einer unverfremdeten Ursprünglichkeit und Viele der erforderlichen Techniken zum Malen durch ein Brennglas und auf diese Weise zu kla- schließt Röske. Den vielleicht nur sie sehen fehle an Platz, sie aus- Authentizität. Ernst-Ludwig Kirchner nimmt sich oder Zeichnen haben sich die Insassen zwangsläu- rer Kenntlichkeit verzerren“. konnten, mag man hinzufügen. Damit es ihnen Im Magazin des zustellen, seufzt Samm- ein Beispiel an den Bildern Else Blankenhorns, fig selbst beigebracht. In ihren Bildkompositionen irgendwie möglich war, auf für sie erträgliche Museums lagern auch lungsleiter Thomas einer privilegierten Patientin aus dem Umfeld oder gestalterischen Umsetzungen verstießen sie Und so sind das Forschungsprojekt und die Aus- Weise Ordnung zu bringen in eine sich dem Chaos Egodokumente wie Pati- Röske. Dazu zählen des badischen Hofes, die sich die Pflege in einem oft gegen geschriebene oder – im Kunstbetrieb stellung „Uniform und Eigensinn“ vor allem mehr zuwendende, unberechenbare und bedrohliche entenakten, Biografien auch Werke von Else Privatsanatorium leistete. Sie ist mit ihren fantas- ja mindestens ebenso relevant – ungeschriebene als bloße „Leistungs“-Schau bildnerischer Darstel- Welt. Viele dieser Werke belegen das immense und (Skizzen-)Bücher Blankenhorn wie das tischen Gemälden und Zeichnungen eine jener Regeln. Aber letztlich war es auch nicht die Beru- lungen zum Ersten Weltkrieg. Viel eher scheint es, Bedürfnis, sich die Umwelt zu erklären, sich ihr zu der einstigen Insassen, vorn links hängende vier Frauen, die in der Ausstellung „Uniform und fung zur Kunst, die sie antrieb, wenn sie malten, als erführe man düstere Nachrichten aus einem erklären, sie zu bewältigen, sich in ihr zu bewäh- Tagebücher, Briefe und Bild (mit dem gold- Eigensinn“ vertreten waren. Andere Kreative wie zeichneten oder an Holzstücken herumschnitzten; erschreckenden Paralleluniversum, in dem all das ren, zu behaupten. Und sie sind voll visionärer vereinzelt Gedichte, farbenen Rahmen) Salvador Dalí nutzten Absurdes und Fantasievolles es war vielmehr die Hoffnung, der Langeweile der Kriegerische, Kämpferische in dieser Welt, in dem Kraft. Dieses Verständnis einmal verinnerlicht, Prosatexte sowie Musik- zur Regentschaft von zur Inspiration: Womöglich entsprach es ihnen Isolation zu entfliehen und einen Rückzugsort zu die Lust an der überall drohenden und lodernden gelingt es dem aufgeschlossenen Betrachter viel- kompositionen und Kaiser Wilhelm II. bewusst – oder, wahrscheinlicher noch, eher unbe- gewinnen. Es war ein Fluchtraum vor den Bruta- Bereitschaft, mit Gewalt zu lösen, was anders leicht am besten, sich Bildern zu nähern, die ihm weitere Schriftstücke. wusst, folgt man jedenfalls den Betrachtungen litäten des Alltags, und so war ihre Kunst in der nicht lösbar erscheint, allgegenwärtig lauert. Sigmund Freuds, der Kunst charakterisiert als die Regel auch eher Ausdruck eines grassierenden „wohl sichtbarste Wiederkehr des unterdrückten Hospitalismus verbunden mit der Hoffnung auf Was also bleibt? „Die sorgfältige Durchleuchtung Bewusstseins“. Im Wahnsinn kehrt sich offenbar einen Austausch mit Ärzten und Pflegepersonal des gesamten Fundus mit akzentuierten Blick auf das Unterbewusste nach außen und wird sichtbar. denn der Zeitkritik. die spezifische Fragestellung lieferte uns neben der Bearbeitung des eigentlichen Themas etliche „In Kombination mit unserem Wissen und Anregungen“, sagt Röske. So seien weitere men- Von individuellem Leid zu „irren“ Visionen: unseren Vorstellungen von den Bedingungen talitätsgeschichtliche, ästhetische und historisch Bildnisse einer aus den Fugen geratenen Welt im Obrigkeitsstaat und vom Krieg werden die spannende Achsen sichtbar geworden, die neue Bilder der Sammlung Prinzhorn bei genauerem Chancen böten, die vielfältigen Potenzen der Für Thomas Röske steht fest, und das habe ihm Hinsehen dann zu Spiegeln einer aus den Fugen Sammlung Prinzhorn wissenschaftlich und kul- auch die Arbeit an dem Militarismusthema wie- geratenen Welt“, fasst Röske zusammen. Die oft turell auszuloten: zum einen mit dem Ziel einer der gezeigt: „In der Kunst lässt sich eine Trennung eigenwilligen künstlerischen Antworten der adäquaten Annäherung an Leben und Werk ein- zwischen ausgebildetem, geistig gesundem Anstaltsinsassen auf Militarismus und Krieg zelner Patienten, zum anderen als Ausgangspunkt Künstler und psychisch krankem Laien nicht auf- werfen nicht nur alle relevanten Stimmungen für weitere Forschung.“ Stets eröffneten sich dabei rechterhalten.“ Denn eben das sind die meisten und Themen der gesamten Zivilgesellschaft im in der Betrachtung Perspektiven jenseits gängi- Künstler, deren Werke den Prinzhorn-Bestand bil- damaligen Deutschen Reich zurück, fährt er fort, ger Einordnungen, auch und nicht zuletzt für die den: Laien ohne klassische Kunstausbildung, aber sondern „sie spitzen diese mit eigenen ästheti- Fächer Kunstgeschichte und Psychiatrie.

32 Impulse 2017 33 zunächst „merkwürdig“ erscheinen, die ihm vor Kunstwerke zu entdecken sind. Und aus allem Der zentrale Ausstellungsraum allem so gar nicht mehr aus dem Kopf gehen wol- entsteht ein Sog an künstlerischer Wirkung, den der Sammlung Prinzhorn. Das len – und die ihn vereinzelt sicherlich fassungslos viele der betrachteten Arbeiten entfalten und der kleine Museum liegt zentrums- machen. Fassungslosigkeit aber ist zweifelsohne einen mehr und mehr hineinzieht in die Patholo- nah auf dem Gelände der alten ein denkbar nachhaltiges Ergebnis für den Besuch gie eines ganzen Zeitalters. Davon abgesehen wird Heidelberger Universitätsklinik. einer Kunstausstellung. spätestens gegen Ende des Museumsbesuchs klar: Jahr für Jahr gelingt es, gleich Wer immer möchte, der kann in Heidelberg in der mehrere Wechselausstellungen Letztlich liegt es im Auge des Betrachters, wo sich Sammlung Prinzhorn mit diesen besonderen bild- aus dem Bestand zu formen im Spiegel der Bilder der ganz normale kriegeri- nerischen Werken vor Augen vielleicht besser als oder in die Neckarstadt zu holen: sche Wahnsinn zeigt, wo sich individuelle, eigene an irgendeinem anderen Ort seine eigene Art der hier die bis Ende 2016 gezeigte Vorstellungswelten öffnen – und wo einfach Annäherung an das versuchen, was sich gemein- Schau über Paul Goesch „Zwi- wunderschöne, verblüffende oder verstörende hin Zusammen-Leben nennt.  schen Avantgarde und Anstalt“.

i

Die Sammlung Prinzhorn als Museum Und doch überstehen die von Prinzhorn gesammel- Die finanzielle Fundierung über die Jahrzehnte ten Arbeiten das Dritte Reich, wenn auch ungeordnet ermöglicht seitdem vielfältige Forschung aus oft Mit der Eröffnung der Sammlung Prinzhorn im in Kliniken und Sanatorien vor allem des deutsch- aufbewahrt in Kisten und Mappen. In der Nachkriegs- ganz neuen Blickwinkeln und führt mehr und mehr September 2001 fand die außergewöhnliche Heidel- sprachigen Raums, ihm bildnerische Arbeiten ihrer zeit werden sie zunächst kaum beachtet; sie sind nur zu wechselnden, begleitenden Ausstellungen, in Hintergrund berger Bilderkollektion endlich ihre überfällige feste Patienten zu überlassen. Der Aufruf erfährt reichlich dem zugänglich, der von ihnen Kenntnis hat und sie denen sich auch bekannte Objekte der Sammlung Verankerung in der kulturellen Landschaft Deutsch- Resonanz. Innerhalb kurzer Zeit erweitert sich die aufzustöbern weiß. Als man sich Ende der 1960er- immer wieder anders aufeinander beziehen. Selbst lands. Dass dies letztlich überhaupt möglich wurde, schon bestehende Lehrsammlung auf etwa 4.500 Jahre in Heidelberg an den Schatz im eigenen Haus häufiger gezeigte Werke, berichtet Röske, gäben dazu haben über die Jahre viele „Wohltäter“ bei- Objekte – im Wesentlichen Zeichnungen, Aquarelle, allmählich zu erinnern beginnt, ergibt eine detaillier- plötzlich Überraschendes preis. Die eingeworbenen getragen ­– darunter auch die VolkswagenStiftung. Collagen, Ölbilder, Gemälde, Plastiken, Schnitzereien te Betrachtung des Bestands, dass viele Werke vom Mittel stützen darüber hinaus auch deren Restau- Sie stellte seit 1978 mehrfach Mittel bereit. Diese und Textilobjekte sowie Texte psychisch Kranker Verfall bedroht sind. Nahezu in letzter Minute finden rierung und systematische Katalogisierung. Dabei Gelder dienten zuallererst umfangreicher Forschung aus der Zeit zwischen etwa 1890 und 1920. Dieser sich Akteure – genauer: fast durchweg „Akteurinnen“ wird deutlich, dass die Sammlung in jeder Hinsicht am Bestand – viele Werke profitierten aber auch reiche Fundus dient dem promovierten Philosophen, –, die sich engagiert für Erhalt und Erschließung einer mehr Schätze birgt als die von Prinzhorn etwa in ganz unmittelbar davon, da sie im Zuge der wissen- Kunstkenner und ausgebildeten Sänger Prinzhorn Sammlung einsetzen, die die erste und nach wie vor seinem Buch vorgestellten. Hatte jener sich noch schaftlichen Annäherung restauriert, katalogisiert als Grundlage seiner Suche nach dem Urprinzip weltweit wohl bedeutendste ihrer Art ist. vornehmlich den Arbeiten ausgesuchter „Haupt- und erschlossen wurden. künstlerischen Gestaltens. künstler“ gewidmet, so erweitert sich das Blickfeld An dieser Stelle kommt dann nach und nach die zunehmend auf die von ihm als eher unbedeutend Der Ursprung der Sammlung datiert ziemlich genau In den 1920er- und zu Beginn der 1930er-Jahre reüs- VolkswagenStiftung ins Spiel. Bei ihr geht erst- eingeschätzten Zeichnungen, Schriftkunstblätter, hundert Jahre zurück: 1919/20 bittet der Heidelber- sieren in zahlreichen Galerien und Ausstellungen die mals 1977 ein Antrag auf Fördermittel ein für eine Collagen und Hefte der anderen Patienten. ger Arzt und Psychiater Hans Prinzhorn Kollegen Werke etlicher, zumeist an Schizophrenie erkrank- Sammlung, deren „Zustand und Zugänglichkeit ter Psychiatriepatienten. Eine richtig große Schau im eklatanten Missverhältnis zu ihrer Bedeutung Publikationen: gibt es dann noch einmal rund 15 Jahre später – die und ihrem Ruf steht“, wie es damals im Antrag Sabine Hohnholz, Thomas Röske, Maike Rotzoll: „Krieg allerdings steht unter negativen Vorzeichen. Denn heißt. Bereits ein Jahr später stellte die Stiftung und Wahnsinn. Kunst aus der zivilen Psychiatrie zu Beispiele aus der Sammlung müssen als „Entartete Mittel bereit: umgerechnet rund 260.000 Euro. Militär und I. Weltkrieg“, Werke der Sammlung Prinz- Kunst“ in der direkten Gegenüberstellung zu Wer- Die Bewilligung wird – weitsichtig über die reine horn, Ausstellungskatalog, Heidelberg 2014 ken zeitgenössischer Künstler als pathologisches Wissenschaftsförderung hinaus – mit der Auflage Beweismaterial wider die Moderne herhalten. verbunden, die Sammlung auch einer breiteren Sabine Hohnholz, Thomas Röske, Maike Rotzoll: Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gut ein „Uniform und Eigensinn. Militarismus, Weltkrieg und halbes Dutzend weiterer erfolgreicher Projektan- Kunst in der Psychiatrie“, Aufsatzband. Im Druck, vor- Die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg im Jahr 1895 – träge sollten folgen, und so stehen bis heute rund aussichtlicher Erscheinungstermin ist Anfang 2017. heute steht eines der Gebäude auf dem Gelände nahe der Heidel- 800.000 Euro bei der Stiftung eingeworbene berger Innenstadt der Prinzhorn-Sammlung zur Verfügung. Mittel auf der Habenseite des Museums. Christian Jung

34 Impulse 2017 35 Nachrichten zum Schwerpunktthema Kompakt „Kunst trifft Wissenschaft“

Musikarchive in Westafrika digitalisiert

Ton- und Videoaufzeichnungen im Umfang mehrerer Tausend Stunden, Bilddokumente und Mitschnitte von Interviews: Das in jahrelanger Arbeit entstandene Archiv dokumentiert die Vielfalt musikalischer Kultur in Nigeria und Ghana und ist über ein Internetportal verfügbar.

Die Gesellschaften im Elektronische Medien suggerieren globale Nähe Neue Formen medialer Wirklichkeit verändern sub-saharischen Afrika und verändern gleichzeitig Identitäten. Musik das Bewusstsein – wenn auch nicht im Allein- wandeln sich mit bewahrt kulturelle Werte, beschleunigt aber auch gang. Heutige afrikanische Identitäten, wie sie rasanter Geschwindig- den kulturellen Wandel. Wie wird in diesen kom- sich in musikalischen Genres, Stilen und Insti- keit. Wissenschaftler plexen Wechselspielen Kultur in afrikanischen tutionen ausdrücken, werden im komplexen aus Europa und Afrika Gesellschaften „ausgehandelt“? Das war zentrales Beziehungsgeflecht zwischen Afrika, Europa und erforschen gemeinsam Thema eines von der VolkswagenStiftung seit 2010 Amerika ausgehandelt, angetrieben zwischen heutige Identitäten geförderten Projekts, das die Vielfalt der Musik- „materiellen“ und „ideellen“ Archiven. und Kulturen – so auch kultur in Nigeria und Ghana in den Blick nahm. Forscherinnen und For- An diesen Stellen gehen alte in neue Forschungs- scher aus Hildesheim, Sieben Jahre lang erfassten Forscher der Univer- fragen über. Wie entstehen musikalische Archive Nigeria und Ghana. sitäten in Hildesheim, Maiduguri, Nigeria, und in westafrikanischen Gesellschaften, und wie Sieben Jahre lang Accra, Ghana, mehrere Tausend Stunden Ton- und verändern sie sich über die Zeit durch die unzäh- haben sie die Vielfalt Videoaufzeichnungen, Interviewmitschnitte und ligen Einflüsse von vielen Seiten? Wie prägt das der Musikkultur in den Bilddokumente. Das Archiv dokumentiert die Viel- „archivierte“ Wissen moderne afrikanische Identi- beiden afrikanischen falt musikalischer Kultur und ist über ein Inter- täten? Und in welcher Beziehung stehen letztlich Ländern erfasst. Zum netportal künftig verfügbar. So haben auch die materielle und ideelle Archive? Überaus deutlich Abschluss der Arbeiten Menschen in Nigeria und Ghana Zugang zu den wurde im Verlauf der Forschung bereits eines: des nigerianischen Beständen, die Teil ihrer kulturellen Identität sind. „Ideelle“ Musikrepertoires, ob jene einer politi- Projektteils besuchten schen Kultur, eines DJs oder einer Ära, sind stets zwei der beteiligten „Von Schlaf- und Kinderliedern bis zu rituellen im Fluss. Werden sie in einer bestimmten Version Wissenschaftler, Dr. Hochzeits- oder Sterbegesängen hat jede Gesell- „materiell“ archiviert, beeinflusst das wiederum Christopher Mtaku schaft für bestimmte Gelegenheiten eigene deren Rezeption. und Hajara Njid- Musikrepertoires, die bei der Vermittlung von da, das Centrum Werten und Verhalten eine vitale Rolle spielen“, Das Herz des in den vergangenen Jahren mit für Weltmusik der sagt Professor Dr. Raimund Vogels von der Univer- knapp einer halben Million Euro geförderten Universität Hildes- sität Hildesheim. „Damit formt Musik auf einer gemeinsamen Digitalisierungsprojekts „The For- heim, um gemeinsam ganz elementaren Ebene die Identität.“ Sie wecke mation and Transformation of Musical Archives mit Forscherkollege Emotionen, die das Denken und das Handeln von in West African Societies“ schlägt im noch jungen Professor Dr. Raimund Individuen und ganzen Nationen färben; sie ver- Center for World Music. Den Besucher in dem Vogels das im Zuge führe zum Konsumieren, Meditieren oder auch zur Universität Hildesheim gehörenden Archiv des Projekts entstan- Marschieren. Musik manifestiere, dass Fühlen, erwartet eine musikethnografische Sammlung dene Onlineportal Erkennen und Verhalten untrennbar zusammen- mit 4.000 Instrumenten aus aller Welt, mit 50.000 vorzustellen – hier hängen. Das macht sie für die Politik interessant, Schallplatten und 10.000 Büchern. Eindrücke des mehr- besonders in Westafrika. „Denn hier sind Musik tägigen Aufenthalts. und politische Kultur traditionell eng verflochten.“ Christian Jung

36 Impulse 02_2016 37 Schwerpunktthema Kompakt „Kunst trifft Wissenschaft“

Die Afrika-Kulturschätze in Bremen – der neue Aufarbeitung eines besonderen Archivs: Die Richard- Umgang mit „alten“ ethnologischen Sammlungen Wagner-Sammlung in Eisenach wird erschlossen

Wie reflektiert eine Gesellschaft das Erbe des Kolonialismus? Die kritische Auseinanderset- Weckruf aus dem Dornröschenschlaf: Eine Sammlung wird im Zuge der wissenschaftlichen zung mit den Afrika-Sammlungen des Übersee-Museums Bremen könnte beispielgebend Aufbereitung mehr und mehr zum Spiegelbild einer ganzen Epoche – und die Öffentlichkeit werden für einen angemessenen Umgang mit der Herkunft ethnologischer Objekte. kann intensiv daran teilhaben. Ein neuer, tiefer Blick in das späte 19. Jahrhundert steht bevor.

In der Richard-Wagner- Sammlung in Eisenach finden sich neben weniger überraschenden Objekten wie etlichen Büsten des Künstlers Blick in die Afrika- auch Preziosen, darunter Sammlungen des (rechts) eine Lithografie Übersee-Museums der Originalfigurinen zu Bremen. Abgesehen Lohengrin, König Heinrich von einigen neueren und Elsa (Königl. Lith. Inst. Exponaten stammen die Berlin, v. Bardtenschlager). Objekte fast durchweg aus den ehemaligen deutschen Kolonien.

Ethnologische Museen erlebten während der Kolo- In einem Ansatz, der museale Objektforschung, In der Eisenacher Reuter-Villa am Fuße der Wart- Bestand der Wagner-Sekundärliteratur des 19. nialzeit einen enormen Aufschwung. Was damals Geschichtswissenschaften und Ethnologie ver- burg schlummert manch vergessener Schatz, dar- Jahrhunderts enthält – darunter Werke früherer gesammelt wurde, prägt heute noch oft deren bindet, sind die Beteiligten derzeit mitten in der unter die zweitgrößte Richard-Wagner-Sammlung Jahrhunderte, die Wagner vermutlich zur Vorbe- Ausstellungen. Inzwischen werden die Artefakte akribischen Analyse der genauen Herkunft und der Welt. Ein Projektteam vom Institut für Musik- reitung seiner Ideen und Konzeptionen nutzte. und Kulturschätze aus diesen Sammlungen nicht Geschichte jedes Objekts. Indem dabei die Hand- wissenschaft an der Hochschule für Musik Franz Die Bestände bieten nicht nur Zugang zu Wagners nur hierzulande, sondern weltweit einer neuen lungsspielräume, Erwartungen, vor allem aber das Liszt Weimar begann im Herbst 2012, das mehr als kompositorischem und literarischem Schaffen, Sichtung, Bewertung und Interpretation unterzo- Verständnis für die Bedeutung von Herkunft von 20.000 Objekte umfassende, unbearbeitete Archiv sondern bilden auch die musikästhetischen, gen. Das Erbe des Kolonialismus wiegt schwer; die allen Seiten gemeinsam ausgelotet werden, leistet zu erschließen. Für das Vorhaben „Wissenschaft- kulturgeschichtlichen und soziopolitischen Aufarbeitung drängt – nicht nur, weil „Herkunfts- das Projekt einen beispielhaften Beitrag zur interna- lich kommentierte Quellenanalyse und Diskus- Kontroversen des späten 19. Jahrhunderts ab. länder“ immer nachdrücklicher Forderungen nach tionalen Debatte über kolonialzeitliche Sammlun- sion ausgewählter Aspekte der Richard-Wagner- einer Rückgabe der kulturellen Objekte stellen. gen unter Berücksichtigung ethischer Grundsätze. Sammlung Nikolaus J. Oesterleins“ gelang es, bei „Die Sammlung kann als ein Spiegelbild der der Stiftung Mittel über 400.000 Euro einzuwer- Wagner-Rezeption im Rahmen seiner Zeit gedeu- Die Stiftung hat hier in den vergangenen Jahren Eingebunden sind neben etlichen Projektpartnern ben. Partnerin ist die Stadt Eisenach als Trägerin tet werden“, sagt Professorin Dr. Helen Geyer von einen besonderen Akzent gesetzt: über Veranstal- aus Afrika auch Wissenschaftler der Universität des Fritz-Reuter- und Richard-Wagner-Museums. der Hochschule in Weimar. Dieses neben Bayreuth tungen, aber auch über Forschungsvorhaben. Ein Hamburg vom Arbeitsbereich Außereuropäische wohl bedeutendste Archivgut zu Wagner sei „im Beispiel: der Umgang mit den Afrika-Sammlungen Geschichte und des Übersee-Museums. Im Span- Nikolaus J. Oesterlein (1841–1898) war glühender höchsten Maße kostbares Material, das nicht nur des Übersee-Museums Bremen. Hier fühlt man nungsfeld von Sammlungsgeschichte, Provenienz- Richard-Wagner-Verehrer. Zu den von ihm zusam- der Musikwissenschaft Erkenntnisse liefert“. Das sich seit Längerem verpflichtet, die allseits gefor- forschung, Restitutionserwartungen und neuen mengetragenen Beständen zählen über 200 noch laufende Vorhaben zielt im Detail auf eine derte kritische Auseinandersetzung mit dem kolo- Kooperationsformen geht es zukunftsgerichtet Handschriften und Originalbriefe des Künstlers, vertiefte Analyse des Materials und will weiterge- nialen Erbe als Maßstab an die eigene Arbeit anzu- um die Frage, welches Gesicht ethnografische viele weitere Briefe aus dessen Umfeld, originale hende Forschung anstoßen. Von der teils digitalen legen. Exemplarisch gefördert von der Stiftung mit Ausstellungen absehbar haben können. Gemein- Aufführungspartituren und Plakate sowie 700 Auswertung und Vernetzung, die über ein Portal 450.000 Euro, stellen sich Museumsmitarbeiter und sames Ziel ist daher auch die Entwicklung von Theaterzettel, 1.000 Fotos und 15.000 Zeitungs- im Internet verfügbar gemacht wird, erhofft sich Forscher im Rahmen des Projekts „Museumssamm- Grundsätzen, wie die Struktur einer Sammlung ausschnitte. Herzstück ist eine über 5.500 Bücher das Projektteam Impulse für andere Vermittlungs- lungen im Spannungsfeld der sich etablierenden künftig angemessen auf die Herkunftsgeschichte umfassende Bibliothek, die neben sämtlichen wege, weitergehende interdisziplinäre Forschung kolonialen Situation“ dieser Verantwortung. ihrer Objekte verweisen kann oder muss. Werken des Komponisten den fast lückenlosen und den Einsatz neuer methodischer Zugänge.

38 Impulse 2017 39 Schwerpunktthema Kompakt „Kunst trifft Wissenschaft“

Erfolgreiche Bilanz nach drei Jahren: Museums­ Können Sie zuhören, haben Ideen, sind in der Lage, schätze profitierten vom Bündnis „Kunst auf Lager“ ein Museum auch durch schwere See zu steuern?

Über zehn Millionen Euro an Fördergeldern: Die Bündnispartner von „Kunst auf Lager“ haben Managementkompetenzen entwickeln in Personalführung und Strategieentwicklung, seit Gründung der Initiative Anfang 2014 deutschlandweit zahlreiche Forschungs- und Erhal- Kommunikation, Krisen- und Konfliktmanagement: „museion21. Die Museumsakademie" tungsprojekte in Museen ermöglicht. Die VolkswagenStiftung ist an zentraler Stelle dabei. richtet sich an Personen, die eine Führungsrolle im Museum anstreben oder bereits ausüben.

Professorin Dr. Susan Kamel von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (rechts) als Mentorin für eine kommende Führungskraft Es gibt weit mehr Kunst auf eines Museums? Christine Lager als Werke öffentlich Gerbich (neben ihr) jedenfalls ausgestellt sind: Einer von hat sich mit ihrer Arbeit als Tausenden dieser Orte ist Museumsdidaktikerin wie hier der Dachboden des Archä- für die Ausstellung „Samarra“ ologischen Landesmuseums im Pergamonmuseum Berlin Baden-Württemberg, den bereits einen Namen gemacht. uns Mitarbeiter Martin Kemkes hier gern zeigt.

In deutschen Museumsmagazinen schlummern Die im Bündnis „Kunst auf Lager“ zusammenge- Eine gute Führungskraft benötigt mehr als reine Angestrebt ist, dass die Teilnehmerinnen und Teil- etliche oft fast vergessene Schätze. Das Bündnis schlossenen privaten und öffentlichen Einrichtun- Fachkompetenz, auch Praxiswissen und persön- nehmer Managementkompetenzen entwickeln „Kunst auf Lager“ hat sich der Erschließung, Erfor- gen setzen sich schon seit Jahren für die Sicherung liche Erfahrung spielen eine wichtige Rolle. Man oder verbessern in Bereichen wie Personalführung, schung und Erhaltung der in den öffentlichen öffentlicher Sammlungen ein. Sie verliehen mit stelle sich einmal vor, am ersten Arbeitstag als Strategieentwicklung, Kommunikation, Krisen- Sammlungen vielfach verborgenen Preziosen dieser Fokussierung und Bündelung Anfang 2014 Museumsdirektor oder -direktorin steht man im und Konfliktmanagement. Ebenso geht es um verschrieben. Seit 2014 stellt ein Konsortium von ihren jeweiligen Engagements, aber auch der neuen Büro und fragt sich: Was mache ich nun? inhaltliche Fragen, etwa die Suche nach individu- inzwischen 14 Partnern im Rahmen jeweils indi- Museumsförderung insgesamt eine stärker sicht- Mit wem berate ich mich? Wie gelingt es mir, mei- ellen Konzepten für das gesellschaftlich relevante vidueller Programme Mittel bereit für die Restau- bare Akzentuierung. ne Ideen umzusetzen – vor allem dann, wenn man Museum von morgen. Die Beschäftigung mit Fra- rierung, Konservierung, Inventarisierung und gar den großen Wurf vor Augen hat vom „eigenen gen der Finanzierung eines Museums setzt einen Erforschung spezifischer Sammlungen. Durch die Ziel der „Kunst auf Lager“-Bündnispartner ist es Haus“ als grundlegend neu zu konzipierendes Kontrapunkt. Des Weiteren stehen die (Selbst-) Aufarbeitung und oftmals erforderliche Instand- darüber hinaus, weitere Förderer zu gewinnen; Museum der Zukunft? Reflexion als Führungskraft sowie praktisches setzung wertvoller Objekte aus den Museums- nicht zuletzt, um Politik und Verwaltung davon Training und Beratung im Bereich der Persönlich- depots wird häufig erst deren Präsentation in zu überzeugen, Zeit und Geld in die nicht sicht- Oder aber: Man übt bereits seit einiger Zeit diese keits- und Kompetenzentwicklung auf der Agenda. Museen und auf Online-Portalen möglich. Einige baren Fundamente der Museen zu investieren. Funktion aus und möchte in der Routine des lau- der im Bündnis Zusammengeschlossenen unter- Im dezentral organisierten Bündnis entscheiden fenden Betriebs noch Raum für Neues schaffen. „museion21. Die Museumsakademie“ ist eine Ini- stützen zudem Baumaßnahmen und Verbesserun- die Stiftungen eigenständig gemäß ihrer indivi- Wie bricht man vertraute Strukturen auf? Und tiative von der Körber-Stiftung, der Alfred Toepfer gen der Infrastruktur in und von Museumsdepots. duellen Förderrichtlinien und -fristen. Um Förder- wie kann man das eigene Team für den Verände- Stiftung F.V.S., der VolkswagenStiftung und der mittel können sich gleichermaßen Kunstmuseen rungsprozess begeistern? Hier setzt das Konzept Kulturstiftung der Länder in Kooperation mit dem Die VolkswagenStiftung hat nicht zuletzt im Kon- bewerben wie Heimat- und volkskundliche, natur- von „museion21.“ an – ein Angebot in vier Modu- Deutschen Museumsbund. Die VolkswagenStif- text ihrer Initiative „Forschung in Museen“ zahl- wissenschaftliche oder technische Museen. len für eben jenes Zielpublikum. Die Teilnehmen- tung hat bislang 110.000 Euro dafür zur Verfügung reiche Projekte eingespeist – zum Beispiel explizit den trainieren ihre künftige Rolle, erhalten Praxis- gestellt. Ausgewählt von einer unabhängigen Jury, Vorhaben, die auf technische Entwicklungen zie- Eine Übersicht mit Kurzbeschreibungen von geför- wissen und haben Gelegenheit zum persönlichen wurden in drei Bewerberrunden 60 Teilnehmer len, um Sammlungen besser zu erhalten, oder bei derten Vorhaben finden Sie ebenso wie generelle Austausch und zur Vernetzung. Profilierte Perso- aufgenommen, der dritte Jahrgang 2016/17 denen es um Auswirkungen klimatischer Einflüs- Informationen zum Thema über Weiterverlinkun- nen aus Museumswelt, Wirtschaft und Kulturför- startete im Herbst 2016. Weitere Informationen se auf Exponate und Gebäude geht. gen unter  www.kunst-auf-lager.de derung geben Impulse und leiten die Workshops. unter  www.toepfer-stiftung.de/museion-21/

40 Impulse 2017 41 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Die vernach- lässigte Kunst

Szenenbilder, Filmkulissen und Requisiten tragen wesentlich zu der Wirkung bei, mit der Filme uns in ihren Bann schlagen. Die Szeno- grafie als zentraler „Akteur“ für das Bildgeschehen wird jedoch bis heute unterschätzt, obwohl sie Handlun- gen unterstreicht und Charaktere akzentuiert. Expertinnen des Film- museums Potsdam und der Hum- boldt-Universität zu Berlin haben die Bestände der Filmstadt Babelsberg jetzt erschlossen und die Geschichte des Filmszenenbildes und die Film- szenografie aus unterschiedlichen Perspektiven ausgeleuchtet.

Seele und Schatzkammer des Filmmuseums Potsdam ist das Archiv. Dort lagert ein umfangreicher „Szenografiebestand“. Skizzen und Modelle werden immer wieder gesichtet, zusammengetragen, besprochen. Dr. Marcus Becker und die leitende Archivarin des Filmmuseums Ines Belger diskutieren Szenenbildskizzen.

42 Impulse 2017 43 Text: Isabel Fannrich // Fotos: Gordon Welters

In der Sonderausstellung „Alles nur Kulisse?!“ sind Arbeitsplatz und Werkstatt eines Szenenbildners mitsamt orett Molitor zieht im Depot des Pots- Die Arbeiten von Alfred Hirschmeier und Georg benötigter Medien und Werk- damerD Filmmuseums aus einem der zahlreichen Wratsch bilden nur einen Ausschnitt der Bestände zeuge nachgestellt. Die Schau Grafikschränke eine tiefe, flache Schublade mit ab. Die gesamte in den Magazinen des Potsdamer dokumentiert alle Phasen des der Aufschrift „Alfred Hirschmeier (1931-96)“ Filmmuseums lagernde Szenografie-Sammlung Entstehungs- und Herstellungs- hervor. Vorsichtig entnimmt sie einige Collagen. ist rund 18.000 Blatt stark und wächst durch prozesses eines Films: ange- Szenenbilder wie diese hat der große Szenograf Schenkungen und Ankäufe kontinuierlich an. Sie fangen bei ersten Skizzen über des DDR-Films viele entworfen, etwa für so be- umfasst die ganze Breite des Handwerks: von der farbige Entwürfe, Modelle und kannte Kinoproduktionen wie „Jakob der Lügner“ Skizze bis zum farbigen Ölentwurf, von detaillier- das drehfertige Set bis schließ- (1974) oder „Königskinder“ (1961). Die Sammlungs- ten „Storyboards“ und „optischen Drehbüchern“ lich zum vollendeten Film. leiterin des Museums zeigt eines, das Jakob 1944 über Konstruktionszeichnungen für die Gewerke im polnischen Ghetto abbildet; Hirschmeier hat bis hin zu Grundrissen für Studiobauten. ihn mit schwarzem Filzschreiber auf eine transpa- rente Folie gemalt, aquarelliert und über die Foto- Aufbewahrt wird der Werkbestand von derzeit grafie gelegt, die einen tristen Straßenzug zeigt. 47 Szenenbildnern – darunter viele, die durch die Die Szenografie gehörte in den Babelsberger Film- Die Idee stammt von der früheren Direktorin des von ihnen „in Szene gesetzten“ Filme stilprägend studios seit Beginn der 1920er-Jahre zu einem der Film­museums Bärbel Dalichow. Sie gewann Profes- Ganz anders arbeitete Georg Wratsch (1928-2006), wurden. Hier finden sich Kreationen von Willy künstlerisch herausragenden Bereiche der Film- sorin Dr. Annette Dorgerloh vom Institut für Kunst- der nicht wie Hirschmeier vom Bühnenbild, son- Schiller, Hans Poppe und Oskar Pietsch („Mutter produktion. „Obwohl die Arbeit der Szenenbildner und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin dern aus der Malerei kam. Die Sammlung beher- Courage und ihre Kinder“, 1955), von Dieter Adam meist hinter den Leistungen von Regie und Kamera für das interdisziplinär ausgerichtete Projekt, in das bergt auch seine Entwürfe, darunter jene für den („Die Verlobte“, „Hälfte des Lebens“), Harry Leupold zu verschwinden droht, prägen gerade die Bild- vier Doktoranden- und zwei Postdoktorandenstellen DEFA-Film „Bankett für Achilles“ (1975). Sie lassen, („Die Legende von Paul und Paula", 1973) – und räume der Filmklassiker bis heute unser visuelles eingeflochten waren. Ihr Interesse galt zum einen in Ölfarbe gemalt, einen Jungen am Klavier sicht- nicht zuletzt von Carl Paul Haacker („Jenseits der Gedächtnis in hohem Maße“, sagt Molitor. „Szeno- dem Zusammenspiel unterschiedlicher Bild- und bar werden und in leuchtender Pastellkreide eine Straße“), Protagonist der Moderne und Mitbegrün- grafische Arbeit bedeutet schließlich immer auch, Raumkonzepte bei der Gestaltung der Handlungs- Frau und einen Mann in einem Umkleidezimmer, der der DEFA. Die szenografischen Werkarbeiten eine zweite Haut anzubieten für die Schauspieler, und Erlebnisräume eines Films. Ebenfalls im Fokus: in dem das Licht von hinten dem Betrachter ent- beschreiben als Zeugen einer eigenen Architektur die in den Spielräumen agieren.“ Umso überra- der Transfer der zweidimensional bildhaften Raum- gegenfällt. „Diese Arbeiten gehen weit über einen des vordigitalen Zeitalters die Ära der Deutschen schender sei es, dass dieser Teil der Bild- und Filmge- entwürfe des Szenografen zum Raumbild, das das filmszenografischen Entwurf hinaus“, betont Film AG (DEFA) von 1946 bis 1992. Zudem umfasst schichte noch nicht systematisch erforscht wurde. bewegte Kameraauge erfasst. Wie schaffen es die Molitor. „Sie haben einen künstlerischen Eigen- die Sammlung Bestände zur UFA und zum heu- Szenografen, für den Zuschauer perfekte Raumbilder wert; bestehen als eigenständiges Werk, völlig los- tigen Studio Babelsberg – gerade letztgenannter Entsprechend galt es, den von der Wissenschaft ver- zu generieren, die ja erst im Moment der Filmauf- gelöst von ihrem herstellerischen Kontext.“ wächst kontinuierlich. nachlässigten, aber auch laut Molitor „im Bewusst- nahme wirklich entstehen und erst dann dreidimen- sein der Öffentlichkeit zu wenig präsenten und zu sional ausgeformt Gestalt annehmen? wenig gewürdigten Schatz“ zunächst zu sichten und zu erfassen. Diese Arbeit stand am Anfang des von der VolkswagenStiftung in den vergangenen Der Szenograf: Akteur auf Augenhöhe mit vier Jahren mit rund 730.000 Euro geförder­ten For- Kameramann und Regisseur schungsvorhabens „Spielräume. Szenenbilder und -bildner in der Filmstadt Babelsberg“. Die Archivarin des Filmmuseums Ines Belger war es, die, wie sie sagt, „die kriminalistische Aufgabe Ein Entwurf des großen Szeno- Für die Filmstudios in Potsdam-Babelsberg, Wiege übernahm, die szenografischen Skizzen und Ent- grafen Alfred Hirschmeier für des deutschen Films, bedeutet die Aufarbeitung würfe zu sichten und nicht nur ihren Machern, den Film „Jakob der Lügner“ der Nachlässe die Chance, ein wichtiges Kapitel sondern auch bestimmten Filmen zuzuordnen“. aus dem Jahr 1974. Er bildet der Filmgeschichte eben gerade an diesem film- Und das sei nicht immer leicht gewesen: „Manche eine geplante Filmsequenz ab. historischen Ort erzählen zu können. Die szenen- tragen zwar eine eindeutige Handschrift, andere Hirschmeier hat einen Darsteller bildnerischen Skizzen und Entwürfe werden dabei aber sind nicht signiert oder ähneln sich bisweilen mit schwarzem Filzschreiber auf aus unterschiedlichen thematischen Blickwinkeln sehr, obwohl sie aus der Hand verschiedener eine transparente Folie gemalt erforscht in sieben separaten Teilprojekten, die sich Szenografen stammen“, erzählt sie. Immerhin: und die Skizze über eine fotogra- wiederum über im Projektverlauf konzipierte Aus- Rund die Hälfte der Entwürfe habe sie durch das fierte Außenaufnahme gelegt. stellungen zu einem großen Ganzen verweben. Projekt bislang digitalisieren können.

44 Impulse 2017 45 Auch Sammlungsleiterin Dorett Molitor stellte Dass Kunsthistoriker die Nachlässe der Szenogra- sich der Materialfülle. Um zu erkunden, wie sich fen „systematisch“ untersuchen, sei neu, betonen der Beruf des Szenografen oder Szenenbildners – Annette Dorgerloh und Dr. Marcus Becker von der heute Set designer genannt – über die Jahrzehnte Humboldt-Universität Berlin. „Zwar hat sich unser entwickelt hat, untersuchte sie in ihrem Teil- Fach bereits in den 1920er-Jahren mit dem bild- projekt nicht nur die szenografischen Arbeiten, gewaltigen Stummfilm beschäftigt“, erzählt die sondern unter anderem Briefwechsel, Fotos von Projektleiterin. Doch als dieser um 1930 dem spre- Motiven und der Modelle sowie Produktionsunter- chenden Genre wich, sei bis auf einige Ausnah- lagen. „Das sind tolle Handwerker gewesen, unter- men das Interesse seitens der Wissenschaft an der schätzte Künstler, die einen Raum immer durch Filmszenografie erlahmt. „Wir sehen uns daher das Kameraauge gedacht haben“, erzählt Molitor. mit unserer Forschung wieder als Pioniere!“

Ergänzend führte sie Interviews mit Zeitzeugen. Nicht nur, dass Filme seit einigen Jahren per „Wie lief die szenografische Arbeit von der Idee DVD verfügbar sind, erleichtere ihnen die Arbeit. bis zur Realisierung eines Films in den DEFA- „Entscheidend dafür, systematisch und sinnvoll Studios ab?“, wollte sie wissen. Viel verschüttetes forschen zu können, ist, dass das Filmmuseum und fast verloren gegangenes Wissen trat dabei mit Auflösung der DEFA Anfang der 1990er-Jahre zutage. So wurde sichtbar, dass die Babelsber- nach und nach einen umfangreichen Bestand ger Szenografen ebenso wie ihre Kollegen in zusammengetragen hat“, führt die Wissenschaft- Hollywood häufig aus der Architektur kamen. lerin aus. „Wir hatten damit die Möglichkeit, die Andere hatten Bühnenbildner gelernt oder waren bildliche Entwicklung eines Films entlang der bildende Künstler gewesen. Deutlich geworden Skizzen und Entwürfe, aber auch im Vergleich mit seien auch die Zäsuren in der arbeitstechnischen den Dreh­büchern nachzuvollziehen.“ Dabei sei Heran­gehensweise: „Seit Anfang der 1960er-Jahre der Blick in zwei Richtungen gegangen: Inwieweit sie Szene für Szene in sogenannten optischen im Historienfilm“ unter anderem untersucht, wie Blicke ins Archiv: Dort wollten die Szenografen weg von der Guckkasten- griffen Szenografen Bilder aus der Filmgeschichte Drehbüchern abbilden: den Storyboards. Steht eine der wichtigsten DDR-Propagandafiguren, werden viele der bühne, haben mehr Detailzeichnungen gemacht auf und verwendeten diese wieder? Und: Welche diese Generation auch unter dem Einfluss histo- der Arbeiterführer Ernst Thälmann, filmisch dar- Nachlässe mit einem und auf Augenhöhe mit Kameramann und Regis- Bilder und Bildvorstellungen aus der Kunstge- rischer Zäsuren – Stichwörter: Mauerbau 1961 gestellt wurde. Welchen Anteil hatten die Szeno- aus Projektmitteln seur gearbeitet“, umreißt Molitor eine wichtige schichte wirkten erkennbar weiter? oder 11. Plenum des ZK der SED 1965 –, in deren grafen an der Inszenierung, und wie wirken die beschafften Scanner Erkenntnis ihrer Recherchen. Dadurch hätten sich Folge etliche Filme wie zum Beispiel „Spur der von ihnen geprägten Bilder bis heute nach? Dazu digitalisiert. Neben auch künstlerische „Kreativteams“ geformt: enge Annette Dorgerloh und der als Postdoktorand ins Steine“ (1966) verboten werden, experimentiert nahm sie DEFA-Filme der 1950er- bis 1980er-Jahre detaillierten schriftlichen Zusammenschlüsse von Szenografen, Regisseuren Projekt eingebundene Marcus Becker haben sich die dritte Generation ab Ende der 1970er-Jahre unter die Lupe und fand heraus, dass sich nach Aufzeichnungen (im und Kameramännern. grundlegend mit der Geschichte der Szenografie vor dem Hintergrund einer sich verstärkenden und nach nicht nur das Thälmann-Bild, sondern Uhrzeigersinn von oben im 20. Jahrhundert beschäftigt und für die DEFA- Untergangs­stimmung mit vielfältigen Techniken auch das Thälmann-Szenario gewandelt hat. Zeig- links) finden sich Szenen- Damals versuchte Alfred Hirschmeier auch, Sze- Zeit ein „Drei-Generationen-Modell“ beschrie- und widmet sich neuen Themen wie dem Verfall ten die Drehbuchentwürfe für „Ernst Thälmann bildmodelle und andere nografie als eigenständige Ausbildung zu etablie- ben. Zur ersten Gruppe von Szenenbildnern der Altstädte oder der Nischengesellschaft DDR. – Sohn seiner Klasse“ (1954, Regie Kurt Maetzig, Utensilien; Etliches lagert ren – eine formale Qualifizierung, wie es sie schon ab Gründung der DEFA im Jahr 1946 zählen sie Szenenbild Willy Schiller) diesen als Kriegsheim- zwischengestapelt, da lange für Regie, Kamera, Ton und Schauspiel gab. diejenigen – darunter so bekannte Namen wie kehrer und Vater, sahen die Kinogänger ihn aufgrund des rasant Doch die Idee materialisierte sich an seiner Wirk- Willy Schiller –, bei denen noch die Handschrift Das Geheimnis der Räume – Annäherung an ein schließlich nur als Politiker, nachts im Wohnzim- wachsenden Bestands stätte erst 1991, als an der damaligen Hochschule der „alten UFA-Zeit“ erkennbar ist. Dann folgt komplexes Thema über sieben Teilprojekte mer unter einem Liebknecht-Bild lesend. Dagegen Platz und spezielle für Film und Fernsehen in Potsdam ein entspre- statt eines fließenden Übergangs fast ein Bruch inszenierten spätere Filme Thälmann sogar in Schränke rar sind. Pro- chendes Curriculum etabliert wurde. Vergleich- zur „zweiten Generation“, für die Filmarchitekten Thematisch kreiste das Forscherteam das Feld der einem gutbürgerlichen Elternhaus oder als Privat- jektleiterin Dr. Annette bare Angebote wie der Bachelorstudiengang wie der „große“ Alfred Hirschmeier prägend sind. Filmszenografie aus sieben Richtungen ein. Gera- mensch: „Das eindimensionale Bild von Thälmann Dorgerloh (unten, rechts) „Szenografie“ in Brandenburgs Hauptstadt finden Die Szenografen jener Zeit wollen ganz anders de jene monografischen Studien bilden einen ent- ausschließlich als Arbeiterführer war abgedro- von der Humboldt-Uni- sich bundesweit inzwischen – je nachdem, wie arbeiten – in viel engerem Austausch mit Regis- scheidenden Schwerpunkt des gesamten Projekts. schen. Seine Wohn- und Familiensituation wurde versität zu Berlin sichtet eng bezogen auf Film und Bühne gerichtet man seuren und Kameraleuten. Ein tiefer Blick in ihr Die Doktorandin Kathrin Nachtigall etwa hat für nun weniger politisch und zugleich differenzierter gerade mit Ines Belger dessen Inhalte fasst – rund ein bis zwei Dutzend. kreatives Schaffen zeigt Typisches; etwa, wie ihre Arbeit über die „Räume des Kalten Krieges gestaltet“, stellt Nachtigall fest. Szenenbildskizzen.

46 Impulse 2017 47 Beginn der Aufbauarbeiten für den Ausstellungsraum „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“: Der Besucher durchläuft die einzelnen Phasen der Filmproduktion – szenografische Ideen und deren filmische Umsetzung eingeschlossen.

Lorem ipsum dolor sit amet, Anett Werner wiederum vertiefte sich im Zuge consectetuer adipiscing elit. ihrer Dissertation in das Genre der Literaturver- Aenean commodo ligula eget filmungen – mit gut 350 abgedrehten Filmen lag dolor. Aenean massa. Cum hier ein Schwerpunkt der DEFA-Produktionen. Sie sociis natoque penatibus et untersuchte die Räume der Klassikerverfilmungen magnis dis parturient mon- deutschsprachiger Literatur, die von Goethe und tes, nascetur ridiculus. Lorem Schiller bis zu Fontane und Fallada reichen. Ihr ipsum dolor sit amet, consec- Betrachtungszugang war weniger ein politisch- tetuer adipiscing elit. Aenean ideologischer als vielmehr ein bildwissenschaft- commodo ligula eget dolor. licher. Entsprechend interessierte sie sich dafür, welche Veränderung die Literaturvorlage beim Medientransfer erfuhr, und sie analysierte die von den Szenografen entworfenen Bildräume, in Blick in die Potsdamer Bei diesem Teilprojekt wird deutlich, was bei dem „Gerade bei diesem Genre kommt es zu schwelge- Im Fokus dieses Teilprojekts stand auch die Ana- denen die literarischen „Klassiker“ aufgeführt und Ausstellung „Alles nur komplexen Vorhaben übergreifend mitschwingt: rischen Kombinationen von Stilen verschiedener lyse von Raum-, Form- und Farbstereotypen im gleichsam weitergespielt wurden. Kulisse?!“. Der erste von die Grundannahme, dass Produktion und Rezeption Epochen und Länder – schließlich haben Märchen Märchenfilm. Dabei bestätigte sich vielfach: Die sieben Räumen thema- von Kunstwerken einerseits immer in spezifische weder eine Zeit noch einen Ort.“ Die Kunsthisto- „DEFA-typische Inszenierung“ stellt einen äußerst tisiert die Entstehungs- politische, gesellschaftliche und ideologische Kon- rikerin und Soziologin sichtete fünfzig Kino- und starken Gleichklang her zwischen dem Wesen des Jedes Genre seziert: Literatur- und Historienepos, geschichte des Mär- stellationen gestellt sind, andererseits aber gerade Fernsehfilme verschiedener Jahrzehnte, darunter Menschen und seiner Kostümierung beziehungs- Gegenwarts-, Märchen- sowie Science-Fictionfilm chenfilms „Gritta von die zugrundeliegenden ebenso wie die im Prozess „Das kalte Herz“ (1950), „König Drosselbart“ (1965), weise seiner nächsten Umwelt. Das heißt: Der böse Rattenzuhausbeiuns“ einer Produktion entstehenden Widersprüche und „Die Regentrude“ (1976) oder „Gritta von Rattenzu- Mensch bedarf einer „bösartigen“ Umgebung. Die Doktorandin zeigt sich wie auch ihre Forscher- (1985) – eine außerge- Reibungen von Wert sind. Dabei werde den DEFA- hausbeiuns“ (1985) – eine außergewöhnliche Ver- Wohl nirgends wird das deutlicher als bei dem kolleginnen besonders angetan von den Arbeits- wöhnliche Verfilmung, Filmen bei Weitem nicht gerecht, sie lediglich im filmung des gleichnamigen Kinderbuchs aus dem Film „Die vertauschte Königin“ (1984). Szenograf bedingungen des Projekts. „Wir konnten im die das gleichnamige Sinne einer Wiedergabe parteipolitischer Direkti- Jahr 1840 über ein Mädchen, das mit seinem Vater Paul Lehmann inszeniert die herrschsüchtige Prot- Filmmuseum recherchieren, Material suchen und Kinderbuch aus dem ven zu kategorisieren, sagen die Forscherinnen. in einem Schloss lebt und ein Komplott gegen den agonistin, die später mit einer ihr bis aufs Haar haben dabei Hilfe von den Archivaren bekommen. Jahr 1840 wiederent- König aufdeckt. Der Szenografie dieser Verfilmung gleichenden Schmiedin vertauscht wird, in den Das ist ein unglaublicher Luxus, den man in der deckt. Den Raum hat Um nicht zuletzt diesbezüglich differenziert zu ist der erste Raum der Ausstellung gewidmet. großen Räumen eines Schlosses, in denen die weni- Forschung sonst nicht hat.“ Außerdem sei die Sammlungsleiterin werten, habe man über die Teilprojekte versucht, gen Menschen geradezu verloren wirken. Kalte Betreuung innerhalb des Wissenschaftlerteams Dorett Molitor selbst eine große Bandbreite an DEFA-Produktionen abzu- Zugleich untersuchte Rader das vorhandene sze- Farben wie Weiß, Hellblau und Silber dominieren, sehr gut gewesen. Projektleiterin Annette Dorger- geplant und entworfen. bilden – vom Propagandafilm der 1950er-Jahre über nografische Material und die vielfältigen Unter- die Formen sind geometrisch, scharfkantig, spitz loh bestätigt das: Die regelmäßigen Treffen der (nur) scheinbar unpolitische Unterhaltungsstreifen lagen der eigentlichen Filmproduktion. Bis in die und zackig. Die Schmiede hingegen ist klein und Gruppe, bei denen man aus der Perspektive des bis hin zu jenen Arbeiten, die über die Jahrzehnte späten 1970er-Jahre seien die Märchenverfilmun- gemütlich; warme Brauntöne und unregelmäßige, fachlichen Hintergrunds jedes Einzelnen Texte hinweg erstaunlich despektierlich die Verhältnisse gen hochgradig artifizielle Studioproduktionen abgerundete Formen herrschen vor. und Materialien besprochen und analysiert habe, kommentieren. Vor dem Hintergrund ihrer Entste- gewesen, stellte sie fest. Sie hätten sich dadurch seien unglaublich fruchtbar gewesen. Davon habe hungszeit und -bedingungen seien nicht nur die merklich von den – in beiden Teilen Deutschlands Anders als etwa bei den Gegenwartsfilmen, auch ihr eigenes Teilprojekt profitiert. Szenenbilder der DEFA Räume des Kalten Krieges, bekannten – sowjetischen und tschechoslowaki- mit denen sich Birgit Schapow am Beispiel des wie ein Blick auf die zeitgleich in Westdeutschland schen Produktionen unterschieden, in denen zum Umgangs mit Berliner Stadtikonen in Spielfilmen Dorgerloh fokussierte ihr Interesse auf die Pots- entstandenen Produktionen zeige … Beispiel die weiße Winterwelt immer wieder eine der 1960er- bis 1980er-Jahre beschäftigte, ereilte damer Schlösser und Gärten als wiederkehrende prägnante Kulisse bildet. Erst dann verlegte auch die Märchenfilme nur eine Verbotsaktion. Es traf Drehorte und die in diesem Kontext dokumentier- Corinna Rader nahm sich in ihrem Teilprojekt dem die DEFA die Dreharbeiten ihrer Märchenfilme das Werk „Das Kleid“, angelehnt an das Märchen ten Probleme und Herausforderungen über die Lieblingskind der DEFA an: dem Märchenfilm. weitgehend ins Freie. „Die Natur wurde aber nicht „Des Kaisers neue Kleider“. Der Film sollte im Jahr Jahrzehnte. „Zweifelsohne gibt es ein geradezu „Während die Filmausstatter bei fast allen sonsti- eins zu eins abgefilmt, sondern mit konstruierten des Mauerbaus 1961 als Macht- und Herrschafts- symbiotisches Verhältnis der Filmstadt Babelsberg gen Produktionen penibel um Korrektheit bei der Räumen überformt“, erzählt Rader. Obwohl noch kritik in die Kinos kommen. „Märchen konnten zur Potsdamer Schlösser- und Gartenlandschaft.“ Vermittlung historischer und sozialer Zusammen- gar nicht lange her, mutet für heutige Sehge- leichter durch die Zensur schlüpfen, weil sie für Das vom 17. bis frühen 20. Jahrhundert auf Geheiß hänge bemüht waren, ließen sie in den Märchen- wohnheiten seltsam an, wie Film diese „Überma- Kinder gemacht waren“, sagt Schapow. „Da schau- Brandenburger Kurfürsten, preußischer Könige filmen ihrer Fantasie freien Lauf“, stellt sie fest. lung“ der Natur mit artifiziellen Elementen zeigt. te die Hauptverwaltung Film nicht so genau hin.“ und deutscher Kaiser entstandene Ensemble ein-

48 Impulse 2017 49 Aus den Tiefen der DEFA-Trickkiste ins Museum: das Modell einer Auf- oder Frontprojektion. Wie das funktioniert, erklärt die Aus- stellung am Beispiel einer Szene aus dem Märchenfilm „Der Prinz hinter den sieben Meeren“ von Walter Bock aus dem Jahr 1982.

zigartiger Anlagen biete dem Film einst wie heute Wichtig war den Forschern, die DEFA-Zeit nicht in Stilvielfalt und Charakter eine fast unbegrenz- isoliert zu betrachten. Zwar handelte es sich bei te Auswahl an Motiven: vom herrschaftlichen den Babelsberger Filmstudios um einen Monopol- Monumentalbau bis zum idyllischen Gartenpavil- Betrieb, doch dieser behielt genau im Auge, wie lon. Insofern habe sich vor dem Hintergrund, dass sich der Film bei den Nachbarn im Osten und im beliebte Drehorte wie jene Schlösser, Gärten und Westen entwickelte: der Neorealismus, die Nouvelle alte Bahnhöfe oder auch Schloss Charlottenburg Vague und die Autoren-Filmästhetik der 1970er- in Berlin und die Anna-Amalia-Bibliothek in Wei- Jahre. „Die Forschung war lange darauf fokussiert, „Der schweigende Stern“. Aerodynamische Raum- Bereits 2012/13 realisierten die Projektbeteiligten Nachgestellt ist unter mar dem Publikum sehr bekannt gewesen seien, den DEFA-Film als eine Art Seismograf für die schiffe mit spitzen Nasen, dazwischen bizarre des Filmmuseums und der Humboldt-Universität anderem die Lande- die Frage gestellt, mit welchen Bedingungen gear- Entwicklung in der DDR zu verstehen“, kritisiert Sendemasten und winzige Männchen am Boden gemeinsam die beiden Foyer-Ausstellungen „Wo stelle der „Margot“ aus beitet wurde, um die Schauplätze immer wieder Marcus Becker. „Wir jedoch wollen die DEFA- – diese Kohlezeichnung auf einem großen Bogen Hexen und Dämonen wohnen – Räume des Bösen dem utopischen Film neu in andere Sinn- und Erzählzusammenhänge Geschichte in einer deutsch-deutschen und damit beigefarbenen Kartons trägt den Titel „Kosmokra- im DEFA-Märchenfilm“ und „Schlösser auf Cellu- „Eolomea“ (1972); die überzeugend einzugliedern. auch internationalen Filmgeschichte verankern.“ tor“. Gerade Hirschmeiers Entwürfe von Planeten- loid – königliche Architektur im DEFA-Spielfilm“. Trickszenerie wurde welten und Raum­schiffen sind einzigartig schöne Hier konnten sich vor allem die Doktorandinnen gedreht mit einer Nicht immer liefen solche Filmarbeiten im Übrigen Becker selbst unternimmt eine solche Einbet- und in diesem Genre kaum übertroffene Zeich- beweisen, die alle Arbeiten rund um die Ausstel- 70mm-Handkamera konfliktfrei ab. Dies belegen zum Beispiel Schrift- tung am Beispiel der Science-Fiction-Filme, in nungen; kleine zeichnerische Kunstwerke, die gut lungsvorbereitung übernahmen: von der Konzep- und 70mm-Filmstrei- stücke, die im Zuge weiter greifender Recherchen der DDR „utopische Filme“ genannt. Filme wie und gern für sich allein stehen können. tion der Schau über die Objektauswahl bis zu den fen. 1964 entwickelten gefunden wurden. So schrieb der Verfasser eines diese waren nicht selten mit einem politischen verschiedenen Beiträgen, seien es PR-, Programm- Babelsberger Filmtüft- Briefes, offenbar in der Schlösserverwaltung tätig, Bildungsauftrag verbunden, wenn zum Beispiel Es ist das zugleich künstlerische wie handwerk- oder die Exponate begleitende Texte. ler mit DEFA-Kollegen im Jahr 1964 unter dem „Betreff: Dreharbeiten im „böse westliche Mächte“ zur Bedrohung wurden. liche Können, das fasziniert – die „utopischen speziell für den 70mm- Neuen Palais“ verärgert: „Die Einstellung sämtli- Und doch waren es beeindruckende Streifen, die Filme“ stehen hier exemplarisch für viele andere, Film eine eigene Kame- cher Mitarbeiter der DEFA zu unseren Räumlichkei- bis heute ihre Fans haben, nicht zuletzt wegen der etwa die Märchen- oder Kinderfilme. Zumal für Von den Räumen im Film zu den öffentlichen: ra, mit der dann auch ten und den darin vorhandenen Kunstwerken spot- ausgefeilten Kulissen und Szenenbilder. „Das ist den Zuschauer das, was die Szenenbildner leisten, Forschung wird vermittelt die beiden DDR-Gen- tet jeder Beschreibung.“ Bei künftigen Dreharbeiten ein inter­nationales Genre. Manchmal eiferte die dieser ganze aufwendige Arbeitsprozess, bis auf reklassiker „Signale“ stelle man selbst Arbeitskräfte, die dann von der DEFA westlichen Vorbildern hinterher, manch- das Ergebnis unsichtbar bleibt. Aus Unmengen Für die ebenfalls parallel zum Forschungsprozess (1970) und „Eolomea“ DEFA zu bezahlen seien, „Schäden am Drehort sind mal aber war sie Hollywood sogar voraus.“ Alfred Styropor und Farbe, aus Licht und räumlicher Spie- konzipierte Ausstellung „Der falsche Fritz“ erstell- abgedreht wurden. von der DEFA unverzüglich zu beseitigen“. Hirschmeier etwa malte 1960 die Entwürfe für lerei wird eine täuschend echte Filmwelt. Detail- ten Wissenschaftler und Museumsmitarbeiterin- verliebte Modelle und Aufbauten sind die Produkte nen gemeinsam den opulenten Begleitband von Tüftlern und Freaks, die mit traditionellen „Preußen aus Celluloid. Friedrich II. im Film“. Hier als auch hochmodernen Techniken umzugehen spielt die Szenografie bereits eine zentrale Rolle: wissen. Eine ganz andere Ästhetik findet sich nur Wie wird die Rokoko-Welt Friedrichs II. filmisch ein Jahrzehnt später bei den utopischen Filmen in Szene gesetzt? Wie sorgten Drehbuchautoren, aus den frühen 1970er-Jahren. „Eolomea“ (1972) Szenen- und Kostümbildner, Regisseure und Schau- Die fünf zu DDR-Zeiten pro- beispielsweise zeigt keine makellos weiße Welt, spieler für das „Welt-Bild“ der Preußenfilme? duzierten Science-Fiction- sondern spielt mit einer Gebrauchsästhetik, die der Filme – dort „utopische Filme“ Westen erst Jahre danach übernahm. „Hier war die Aktuell ist seit Dezember 2015 im Potsdamer Film- genannt – faszinieren nicht DDR Vorreiter für etwas, das sich international erst museum für zwölf Monate die Schau „Alles nur zuletzt wegen der ausgefeilten später als Standard etablieren sollte“, sagt Becker. Kulisse?! – Filmräume aus der Traumfabrik Babels- Kulissen und Szenenbilder. berg“ mit 400 Exponaten zu sehen (siehe Kasten Aerodynamische Raumschiffe Im Detail hat das interdisziplinäre Forscherteam auf den Seiten 52/53). Im gleichnamigen Begleit- mit spitzen Nasen schweben bestehend aus Kunsthistorikern, Germanisten, band stellen die Wissenschaftlerinnen und Wis- vorbei und man trifft auf Historikern sowie Film- und Literaturwissen- senschaftler ihre Erkenntnisse über die Szenografie Planetenwelten von bizarrer schaftlern reichlich Informationen rund um das diverser Filmgenres vor. Einen Teil der gesamten Schönheit: Es wundert nicht, Thema Filmszenografie zusammengetragen und Projektergebnisse hat das Team in der e-Publikati- dass die Streifen bis heute eine schon im Laufe des Vorhabens mit Publikationen on „kunsttexte.de“ veröffentlicht und im Frühjahr große Fangemeinde haben. und Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht. 2016 bei einer Abschlussveranstaltung vorgestellt.

50 Impulse 2017 51 Ein Übriges an Verbreitung und Vernetzung lei- Im Juni 2015 gründeten Annette Dorgerloh und Die Potsdamer Ausstellung sten Kontakte zu anderen Filmmuseen in Frank- Marcus Becker an der Humboldt-Universität zu durchzieht ein Gang, dessen Wän- furt am Main und Düsseldorf sowie zur DEFA Film Berlin mit der Initiative BildFilmRaum ein Diskus- de vollbehängt die stilistische Library am New Yorker Museum of Modern Arts sionsforum für Wissenschaftler, die sich mit dem Breite und künstlerisch-hand- und der University of Massachusetts in Amherst, Themenfeld befassen. Dort soll weiter über Film, werkliche Vielfalt szenografischer USA. Von mehreren an der Humboldt-Universität Filmbilder und Szenografie geforscht und unter- Entwürfe zeigen. Die älteste Berlin durchgeführten Lehrveranstaltungen und richtet werden. Zudem denkt Dorgerloh über ein Skizze stammt aus der UFA-Zeit singulären Angeboten wiederum profitiert der Lehr­buch zur Einführung in die Szenografieana- und ist von Wilhelm Depenau: ein hiesige akademische Nachwuchs. Und mit der lyse aus kunst- und bildwissenschaftlicher Sicht Interieur-Entwurf in Kohle und Filmuniversität Babelsberg wurde eine Koopera- nach. „Die Forschungsthemen liegen noch auf der Tusche für Carl Lamas‘ Film tion in Form regelmäßiger Seminare etabliert. Straße“, ist sie überzeugt.  „Der Hund von Baskerville“ (1937). i Alles nur Kulisse?! – Zahlreiche Fotos, Standbilder und raumgroße „Originaldrehort“ bis zum Studiobau – das schafft technische Zeichnungen erläutern, wie man sich stimmige Atmosphäre, formt Schauplätze für die die Begleitausstellung zum Projekt Dreharbeiten vorstellen muss. Kleine Illustrationen Handlung eines Films und öffnet Räume, die sich halten die Bildabfolge des Films wie einen Fahrplan wie Charakterhüllen um die Story legen und die Glitzernde Märchenfilmkostüme, Entwürfe für fan- 400 Exponate – Skizzen, Fotos, Modelle, Requisiten fest. Gebäudemodelle und Felsenlandschaften aus Filmfiguren ausloten. Dies unterstreichen Schau

Veranstaltung tastische Science-Fiction-Welten, sorgsam gebaute – sind auf sieben Themenräume verteilt. Sie prä- Papp­maschee, zwischen denen winzige Schienen wie Begleitband gleichermaßen mit reichlich Hin- Modelle, die ganze Filmsets abbilden – und natürlich sentieren die Geschichte des Szenenbildes: von der für die Kamera liegen, zeigen die Arbeit am Set. Mit tergrund: Sie schildern den Entstehungsprozess des Spezial­effekte: All das zeigt noch bis Ende 2016 das UFA über die DEFA zum heutigen Studio Babelsberg. Beginn der Digitalisierung änderte sich manches – Szenenbildes von ersten Skizzen, farbigen Entwür- Filmmuseum Potsdam in einer Sonder­ausstellung Und so unterschiedlich der Betrachtungswinkel aus und manches blieb ganz traditionell. So werden vor fen, Modellen und dem drehfertigen Set bis zum „Alles nur Kulisse?! – Film­räume aus der Traumfabrik dem Blick jedes Raumes mit „seinem“ Thema auch allem die ersten Ideen und Skizzen immer noch von vollendeten Film und machen mit den beteiligten Babelsberg“. Illustriert wird der gesamte Prozess, ist, eines wird immer wieder sichtbar: Bevor noch Hand gezeichnet. Gewerken und deren Aufgaben bekannt. in den szenografisches Arbeiten eingreift: von der ein einziges Wort gefallen ist, setzt der erste Blick, Buchvorlage über deren Adaptation fürs Genre Film mit dem die Kamera den Schauplatz erfasst, die Viel Spannendes lässt sich nachlesen. Beispielswei- Applaus erhielt unterdessen das Begleitprogramm bis zum fertigen Szenenbild; ebenso das Zusammen- Zuschauerinnen und Zuschauer ins Bild über han- se, wie während des Drehs zu Roland Emmerichs zur Ausstellung, das viele Filmschaffende nach spiel von Szenenbildnern mit Schauspielern, Kamera- delnde Personen und dramatische Situationen. Shakespeare-Thriller „Anonymous“ bei allen Anwe- Potsdam führte. Wer dann noch tiefer in das Wesen leuten, Regisseuren. Deutlich wird, wie sehr die Kunst senden am Drehort mehrfach Atemnot ausbrach. In von Filmarchitektur eindringen wollte oder möchte, der Raumgestaltung, der stimmigen Atmosphäre für So auch bei dem 2010 auf dem Babelsberger Stu- Szenen, in denen fürs authentische 16.-Jahrhundert- dem sei eben der Ausstellungskatalog empfohlen, die Illusion im Film von elementarer Bedeutung ist. diogelände gedrehten, preisgekrönten Kinoepos Ambiente massenhaft Dreidocht-Kerzen brannten, herausgegeben von den Filmhistorikern Annette Die sehenswerte Schau ist Teil des stiftungsgeförder- „Anonymous“, für das eigens 85 historische Sets war die Luft so verrußt, dass den Teammitgliedern Dorgerloh und Marcus Becker. Besonderes Augen- ten Projekts „Spielräume. Szenenbilder und -bildner gestaltet wurden. Spektakulär­ste Kulisse, errichtet vor und hinter der Kamera die Luft wegblieb und die merk galt hier erneut der Babelsberger Studiotradi- in der Filmstadt Babelsberg“. von Babelsberger Handwerkern, war aber wohl das Arbeiten immer wieder unterbrochen werden mus- tion. So widmet sich Professor Michael Wedel von Londoner „Rose Theatre“, später umgebaut und sten, berichtet Szenenbildner Sebastian Krawinkel. der Babelsberger Filmhochschule in einem Kapitel umgestrichen zum „Globe Theatre“. Dass die Effek- Noch mehr Atemnot verursachte wochenlang ver- der legendären Außenkulisse „Berliner Straße“, in te im Übrigen dem Publikum nur selten bewusst rotteter Fisch, der in das Straßenset gekippt wurde, der von 1998 bis zu ihrem Abriss 2013 mit Dramen werden, trägt umso nachdrück­licher zur Wirkung um den Schauspielern zu helfen, sich in das London wie „Der Pianist“ Filmgeschichte geschrieben wur- der Filmbilder bei. Manche Tricks allerdings zeigen des Elisabethanischen Zeitalters hineinzuversetzen. de. Wedel vergleicht das wandelbare Straßenset, sich unverkennbar als solche. Beispielsweise jene das Berlin, Paris, Kopenhagen oder auch New York fantastischen Landschaften, die für Märchenfilme Anekdoten wie diese plaudert Krawinkel aus im sein konnte, mit einem Schauspieler. Die „Berliner erschaffen wurden. Oder die durchs Bild fliegenden Katalog „Alles nur Kulisse?! – Filmräume aus der Straße“ scheine „in jedem neuen Film eine andere Raumschiffe aus der „DDR-Trickfilmproduktion“. Traumfabrik Babelsberg“, der begleitend zur gleich- Rolle zu übernehmen, ein anderes Gesicht zu zeigen, namigen Szenografie-Ausstellung erschienen ist. ihre Eigenart und Identität hinter der Maske aber zu Solche Schilderungen machen deutlich: Das Sze- bewahren“. Die Ausstellung „Alles nur Kulisse?!“ lief satte zwölf Monate nenbild oder die Szenografie, das Set- beziehungs- – und begeisterte bis ins Rahmenprogramm hinein. weise Produktionsdesign, die Filmarchitektur vom Christian Jung

52 Impulse 2017 53 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Neue Kunst für alle Sinne

Die audiovisuellen Medien Radio, Film und Video haben sich seit ihrer Nutzung als Kunstform immer an anderen Künsten messen lassen müssen – die beiden letzteren etwa an der Malerei. Die „neuen Künste“ hatten es schwer, die nach eigenen ästhetischen Regeln entstandenen Werke als gleichrangig zu etablieren. In drei Projekten zur Radio-, Video- und Computerkunst nehmen Muse- umsforscher und Mitarbeiter der Ausstellungshäuser Fährte auf zu weitgehend unerforschten Kunstfor- men, die Fenster in die elektronische Zukunft aufzustoßen vermögen.

Mithilfe eines übergroßen Mikadospiels demonstrieren die am Computerkunst- projekt beteiligten Forscherteams von Universität sowie Kunsthalle Bremen das Zufallsprinzip in der visuellen Kunst durch die „algorithmische Dimension“.

54 Impulse 2017 55 Text: Ruth Kuntz-Brunner // Fotos: Christian Burkert, Daniel Pilar, Carl Brunn

s war die Ära des Suchens und des Auspro- und Wissenschaftler sowie Museumsexperten Ebierens, der Aufbrüche und der Brüche mit Tradier- tauchen dabei ein in eine Zeit, in der die neuen tem: In den 1960er-Jahren sang Bob Dylan von sich Medien zum ersten Mal jenseits der rein techno- verändernden Zeiten; die Beatles revolutionierten logischen Verheißung ihr kreatives, ästhetisches Hörgewohnheiten – und die Fluxusbewegung Potenzial sichtbar werden lassen konnten – nicht forderte dazu auf, Kunst anders „zu sehen“. Für zuletzt auch deshalb, weil die Zahl der Künstle- sie zählte zum einen mehr die schöpferische Idee rinnen und Künstler zunahm, die den artifiziellen eines Kunstwerkes als das Ergebnis selbst, und zum Umgang mit ihnen zu ihrem Repertoire machten. anderen propagierte sie, bei der Kreation eines Werkes durchaus Video, Musik, Licht, Geräusche, Bewegung, Handlungen oder diverse Materialien Radiokunst: Die Kraft der Vorstellung bricht Wahr- zu integrieren. Künstler wollten die Kunst demo- nehmungsmuster auf und schafft reale Räume kratisieren und experimentierten mit neuen Aus- drucksformen, mit Massenmedien und Technik. Von der sanft dahinfließenden Weser malerisch Seitdem mischt der technologische Fortschritt umspült, liegt die Weserburg/Museum für moder- allenthalben mit; die neue „Weltsprache“ der Algo- ne Kunst in Bremen. Eine fast irreale Idylle, wären rithmen setzt heute Kunst gar selbst und gleich- da nicht die jungen Menschen, die geschäftig sam automatisiert in Szene. Eine hybride Kultur durch helle Räume huschen und die, kaum hat entstand und entsteht weiter, in der Grenzen oszil- man sie wahrgenommen, schon wieder mit ihren lieren und die exklusive Aura der Kunst vergeht. Laptops schnell hinter irgendeiner Tür verschwun- den sind. Hinter eben diesen Türen öffnet sich Wissenschaftlich wurden die noch jungen Formen eine andere kulturelle Wirklichkeit: das „Studien- und Formate bislang wenig befragt. Doch allmäh- zentrum für Künstlerpublikationen/Weserburg“, lich erhält im Zuge der Auseinandersetzung mit in dem sich auch das Digitale Radiokunst Archiv ihnen ihre noch kurze Geschichte ein konturiertes (DRA) mit der weltweit einzigen größeren Samm- Gesicht, und erste Forschung liefert im Falle der lung an Radiokunst befindet. Etwa 10.000 Sende- Radio-, Video- und Computerkunst Fingerzeige stunden lagern hier. Bestände von Künstlern aus In einem Kraftakt von Museum und zwei Univer- Das politische Potenzial der Radiokunst wiederum Impressionen von dafür, wo Entwicklungslinien ihren Ursprung aller Welt, die ihren Ursprung sogar in Australien sitäten wurde der schwer zugängliche und weit- ergründete Franziska Rauh exemplarisch anhand der Ausstellung zum nahmen und auf welche Weise sie wie und warum haben oder aus entlegenen Winkeln Südamerikas gehend unerforschte Schatz im Rahmen des 2015 der multimedialen Kampagne „Three Weeks in Radiokunstprojekt, ein die Gegenwart erreichten. Erkenntnisse über die stammen. Das meiste weitgehend unerforscht, beendeten Projekts „Radiokunst: Zur Entwicklung May“. Die amerikanische Künstlerin Suzanne Lacy gemeinsames Vorhaben Gestalt dieser Künste und ihrer Kreationen gewin- vieles kaum gehört und manches nicht zugänglich. eines Mediums zwischen Ästhetik und soziokul- organisierte im Mai 1977 in Los Angeles gemein- der Weserburg/Museum nen Wissenschaftler und Museumsexperten nicht tureller Wirkungsgeschichte“ dennoch gehoben. sam mit Leslie Labowitz drei Wochen lang Aktio- für moderne Kunst nur über die Analyse der Werke selbst, sondern „Als Radiokunst verstehen wir Werke, die Künst- Gefördert von der Stiftung mit 465.000 Euro, nen, die sexuelle Gewalt gegen Frauen ins öffent- in Bremen und der auch über eine konzise Betrachtung der jeweiligen ler mit, im und für das Radio produziert haben“, entwickelten Anne Thurmann-Jajes, Maria Peters liche Bewusstsein rücken sollten. Kunsthistoriker Universität der Hanse- Medien. Diese überliefern schließlich selbst Ver- erklärt Professorin Dr. Maria Peters vom Institut und Ursula Frohne, damals noch Professorin für feierten die Veranstaltungen als kanonisches Werk stadt. Hinter dem Herz gangenes und bewahren und transportieren damit für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Kunstgeschichte an der Universität zu Köln, ein feministischer Kunst. „Doch niemand hat jemals unten links verbirgt jene Zeit, in der die Kunst entstanden ist – und Universität Bremen. Das teilweise über fünfzig Grundgerüst zur Erschließung und ein Konzept die Aktion erwähnt, die im Künstlerprogramm sich ein Kunstwerk, das geben so die ein oder andere Erklärung für man- Jahre alte Kulturgut jedenfalls entspricht kaum zur Vermittlung dieser Kunst. Von dem Vorhaben von Close Radio lief“, erzählt Rauh: „Obwohl die- gleichermaßen Radio, ches, das die Kunst spiegelt oder das diese mehr tradierten Vorstellungen von Kunst. Denn Radio- profitierten vor allem drei Nachwuchswissen- ser Radiopart ein elementarer Teil der Kampagne Speicher­medium und oder weniger unmittelbar sichtbar abbildet. kunst hat nicht nur ein doppeltes Wesen als Kunst schaftlerinnen, die die akustischen Kunstwerke war.“ Über den Äther hatte Lacy im Radio Reporte Fanpost an den Sender und publizierte Sendung. „Sie ist auch immateriell, aus unterschiedlichen Perspektiven analysierten. verlesen zu sexuellen Übergriffen gegen Frauen, ist. Im Bild unten rechts Drei von der VolkswagenStiftung im Rahmen weder an Zeit noch Ort gebunden, kann beliebig Jee-Hae Kim an der Kölner Hochschule beispiels- verfasst vom Los Angeles Police Department – ein- begegnen sich das der Initiative „Forschung in Museen“ geförderte verbreitet werden und nutzt eine nicht spezifisch weise betrachtete die technologischen Bedingun- drückliche Dokumente dieser Epoche als auch eine „Radioobjekt“ von Klaus Gemeinschaftsvorhaben zeichnen die Entwick- künstlerische Technik“, erläutert die Leiterin des gen, denen diese Kunstform unterliegt, um dann eindrucksvolle Aktion der Künstlerin. Ein solcher von Bruch (rechts) und lung der Radio-, Video- und Computerkunst nach. Zentrums, Dr. Anne Thurmann-Jajes. Für die zu schauen, welche kommunikativen Praktiken Akt offensichtlicher Kritik war ein Tabubruch, der das „Taschenradio“ von Die jeweils kooperierenden Wissenschaftlerinnen wissenschaftliche Zuordnung ein sperriges Gut … der Radiokunst zwangsläufig damit einhergehen. Mut erforderte in Luft nehmender Zeit. Gerrit Phelan (links).

56 Impulse 2017 57 Denn die sphärische Verbreitung sonst vertrauli- Unterdessen nimmt der technologische Fortschritt Wie zwei weitere so war auch diese Ausstellung cher Polizeidokumente durchbrach den Konsens Fahrt auf und lässt dabei Unzeitgemäßes zurück. Teil des von der Stiftung mit 540.000 Euro geför- des Verschweigens und zerstörte jene frauenfeind- Er ist kapriziös und verändert wiederum die Kunst. derten Projekts „Wissenschaftliche Erschließung lichen Mythen, die sich oft um Vergewaltigungen So hat Suzanne Lacy in einem Remake von „Three und Präsentation der Videobestände des LFA“ unter ranken. Die Sendung produzierte Öffentlichkeit Weeks in May“ im Jahr 2012 keine Radiosequenz Leitung der damaligen Direktorin des Ludwig und errichtete dem Dissens auf diesem Weg eine mehr realisiert, wie Rauh in den USA erfuhr. „Lacy Forums Dr. Brigitte Franzen. Im Zuge dieses Vorha- Bühne. Das akustische Medium war der Trigger. nutzte zeitgemäß social media wie Facebook oder bens wurde im Aachener Museum unersetzliches Denn Hören kann Rezeptionsgewohnheiten auf- Twitter.“ Die Leitmedien heute seien eben andere … Kulturgut gerettet: ein Bestand von immerhin rund brechen und Vorstellungen evozieren, die an eige- zweihundert Videokunstwerken so bedeutender ne Erfahrungen anknüpfen. „Auf diese Weise wird Künstlerinnen und Künstler wie Bruce Naumann, das ephemere, immaterielle Radiowerk zu einem Videokunst: Licht, Ton und Bewegung als Resonanz- Nam June Paik, Ulrike Rosenbach, Wolf Vostell oder realen Raum“, sagt Rauh mit Nachdruck. boden, auf dem Neues entsteht von im Aachener Raum bekannten Größen wie Franz Buchholz oder Dietmar Momm. Die Produk- Hören heißt erleben. Diese wirkmächtige Spur Die Geschichte der Medienkunst ist stets auch Tech- tionen haben die Zeiten überstanden, aber das ist verfolgte Sarah Rothe mit ihrer Dissertation zu nikgeschichte. Es war wohl die Faszination der noch auch schon beinahe alles, was man zu den meisten Chancen und Schwierigkeiten in der Vermittlung recht jungen Videotechnik, die renommierte Künst- Werken bislang sagen konnte – bis das Projekt star- von Radiokunst. Ihr Paradebeispiel: die 2006 im ler wie Richard Serra vor gut fünfzig Jahren zum tete. „Unser Antrieb war insbesondere, dass es sich Österreichischen Rundfunk ausgestrahlte und für Experimentieren reizte. Viele dieser Werke blieben bei diesen Videokunstwerken um äußerst wichtige die Bremer Ausstellung „Über das Radio hinaus“ lange unbeachtet. In Aachen aber sind sie präsent. Belege der kulturell so bedeutsamen Phase der adaptierte Arbeit „Nacht. Stimme. Zerstreuung“ „Match match their courage“ von Serra zum Beispiel, 1960er- und 1970er-Jahre handelt“, betont Brigitte der Hamburger Künstlergruppe LIGNA. Besucher ein Video von 1974, in dem die beiden Protagonisten Franzen, die seit Mitte 2015 Vorstand der Peter und der Ausstellung wurden beim Hören beobachtet, die psychologische Wirkung des Feedbacks und Irene Ludwig Stiftung ist. füllten Fragebogen aus und hinterließen Eindrücke damit die Entstehung des Videos selbst reflektieren. und Gedanken in Notizbüchern. Die Auswertung „Die Arbeit war eine der Attraktionen in der 2014 Was die LFA-Gründer Peter und Irene Ludwig in des empirischen Materials förderte eine reiche im Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen den 1960er-Jahren aus New Yorker Ateliers mit- Erlebnispalette zutage, selbst physische Reflexe (LFA) gezeigten Ausstellung ‚Die anderen Amerika- brachten, war als Kunst hierzulande eigentlich oder das Gefühl, vom „Hör-Werk“ manipuliert zu ner‘ “, sagt Miriam Lowack, die in ihrer Zeit als Dok- unerhört: präzise Abbilder banaler Suppendosen werden. „Schließlich fordert es die Besucher heraus, torandin die Schau als Kuratorin konzipierte und zu oder eine hyperreale Lady-Skulptur mit Locken- ihr Kunstkonzept zu hinterfragen“, resümiert Rothe. einer gelungenen Umsetzung entscheidend beitrug. wicklern. Noch bevor 1968 die Documenta die Pop-Art adelte, zeigte das Sammlerpaar in Aachen Werke von Andy Warhol, Duane Hanson oder Roy Lichtenstein: Arbeiten, die heute weltberühmt sind und zum Kanon der Kunstgeschichte zählen.

Die Ausstellung „Die anderen Amerikaner“ ließ nun auch andere, weniger bekannte Künstler „zu Wort“ kommen; neues Wissen über sie und ihre Kunst hat nicht zuletzt die stiftungsgeförderte Wie noch zwei weitere Werk- Forschung hervorgebracht. Es sind solche bislang schauen, so war auch die Aus- kaum beachteten und doch hochspannenden stellung „Videoarchiv – Elektro- Arbeiten, mit denen sich die Sammlung über nische Bilder malen“ Teil des von deren Präsentation immer wieder einen Namen der Stiftung geförderten Video- macht. „Ein Rückblick nach dreißig, vierzig Jahren Impressionen von den drei Aachener Ausstellungen: Durch die erforderlichen kunstprojekts zur Erschließung – das ermöglicht es, eingeschliffene Sehgewohn- Projektarbeiten wurde unersetzliches Kulturgut gerettet – über zweihundert und Präsentation der Bestände heiten aufzubrechen“, sagt Franzen. Zeit für eine Videokunstwerke so bedeutender Künstlerinnen und Künstler wie Bruce Nau- des Aachener Ludwig Forums. Neubewertung? Die sei immer, entgegnet sie. mann, Nam June Paik, Ulrike Rosenbach, Wolf Vostell und vielen anderen mehr.

58 Impulse 2017 59 Algorithmen für den Alltag: Die Bilder zeigen „Originalwerke“ der Computerkunst, die Studierende und angehende Wissenschaftler der Universität Bremen analysieren und recodieren oder de-codieren wollen. Zugrunde liegen unterschiedliche analoge Experimente, die das Zufallsprinzip in der algorithmischen Kunst verdeutlichen sollen.

Die Schau „Die anderen Amerikaner“ lenkte den „ihre“ Ausstellungsobjekte. Denn die 200 Kunst- Blick im Übrigen ausgehend von den Videokunst- arbeiten waren teilweise in keiner guten Ver- werken auf die unterschiedlichen stilistischen fassung. Bevor sich die alten Bänder überhaupt Facetten der US-Kunst der 1970er- und 80er-Jahre, sichten ließen, mussten sie restauriert und digi- die sich gebräuchlichen Klassifizierungen oft genug talisiert werden, da sie in dem mittlerweile obso- widersetzt. Zwei Themen standen dabei im Fokus: leten Videokassettenformat U-Matic-Technik Graffiti-Malereien junger Sprayer, die Anfang der gespeichert und zudem meist brüchig waren. 1970er-Jahre den „New Yorker Untergrund“ erober- ten, sowie Werke der „Pattern and Decoration“- Diese Vorarbeit leistete das „Labor für antiquier- Bewegung – lebensfrohe Arbeiten, die auf den te Videosysteme“ am Zentrum für Kunst und ersten Blick wie rein ornamentales Kunsthandwerk Medientechnologie in Karlsruhe. Heute sind die wirken, dabei gekennzeichnet sind durch tapeten- Bänder in Dauerschleife abspielbar – mit neuer haft aufgesetzte Flächenmuster, dekorative Orna- Technik. Das hat Folgen für die Art der Präsenta- mentik oder offensiv bunte Kompositionen. tion, die genuin zu einem Werk der Videokunst gehört: „Wenn in U-Matic aufgenommene Videos In jener Zeit, in der in den USA diese Kunst ent- auf modernen Flachbildschirmen laufen, beein- stand, positionierte sich hierzulande Aachen als flusst das die Farben, vor allem bei Schwarz-Weiß- „zentraler Ort für avantgardistische Kunstereig- Videos“, pointiert Franzen. Selbst Inhalte würden nisse“. Studierende gründeten die Galerie Aachen, teils neu interpretiert. „Arbeiten des Videopioniers die enge Kontakte zu amerikanischen Videokünst- Douglas Davis müssten eigentlich auf Röhrenmo- lern pflegte. Wolfgang Becker wiederum, der 1970 nitoren gezeigt werden, weil sich Davis mit dem mit der „Neuen Galerie – Sammlung Ludwig“ die ‚Raum‘ des Monitors beschäftigt.“ Und wenn der Vorläuferin des Ludwig Forums aufbaute, trug „Video-Sound“ über Kopfhörer im Museum läuft, Werke zusammen von Videopionieren wie Peter verändert sich auch die Rezeption. So wurde bei- Campus, Douglas Davis, Joan Jonas, Nam June spielsweise mit Soundduschen experimentiert. Paik, Wolf Vostell. Er legte aber auch den Grund- „Sie bündeln den Ton an einem bestimmten Ort, stein für die kunstgeschichtlich bemerkenswerte von dem aus das Werk betrachtet werden soll.“ LFA-Sammlung seltener oder gar einzigartiger Videowerke von Künstlerinnen und Künstlern aus Der technologische Fortschritt torpediert zwar den erläutert Nake, der mit Verve die Seiten Forschung Ein Computerkunstwerk: dem nahen, für innovative Kunst offenen Belgien. Versuch, die historische Wirklichkeit der Video- und Kunst gleichermaßen lebt. Warum revolutio- „Geradenscharen Nr. 1“ „Das ist für uns besonders spannend, da dieses werke genuin zu reanimieren. Doch die zur Schau när? „Das Meisterwerk wird abgeschafft, weil com- (1965) von Frieder Nake Segment an Videokunst bislang kaum erforscht gestellte Kunst im Aachener Ludwig Forum – von putergenerierte Kunst das Prinzip der Originalität aus der Sammlung zur wurde“, sagt Miriam Lowack, die es gebürtig von den Wissenschaftlerinnen mehr denn je bezeich- aufhebt.“ Nicht, dass Nake diesen Geltungsverlust frühen Computergrafik der Insel Föhr nach Aachen verschlagen hat. net als „Kompetenzzentrum für Videokunst, das bedauert – schließlich gehört er zu den Wegbe- des Kupferstichkabinetts international bestehen kann“ – reflektiert allemal reitern der digitalen Kunst. Gemeinsam mit A. der Kunsthalle Bremen – Viele Arbeiten der Aachener Sammlung verwei- aktuelle gesellschaftsprägende Mechanismen wie Michael Noll und Georg Neers hat er bereits 1965 eine der bedeutendsten sen unterdessen auf die Wechselbeziehung zwi- die Manipulation durch Informationsvermittlung. Computerbilder ausgestellt. Nake, Noll, Neers: drei grafischen Sammlungen schen Video-, Performance- und Konzeptkunst. N’s am Beginn der algorithmischen Revolution. in Deutschland. Entsprechend thematisierten auch die drei im Rahmen des Projekts gezeigten Ausstellungen Computerkunst: systemüberschreitend und mit Und das kam so: Als Studierender der Mathematik die opulenten Möglichkeiten, unterschiedliche Algorithmen für den Alltag an der Universität Stuttgart jobbte Frieder Nake Medien- und Kunstformen zu verknüpfen. Als im Rechenzentrum, als dort gerade eine Zeichen- Kuratorinnen fungierten in unterschiedlichen Ein „Kompetenzzentrum“ ist zweifellos auch Frie- maschine Graphomat Z64 angeschafft wurde. Konstellationen neben Lowack auch Jenny Dirk- der Nake, Mathematik-Professor an der Universität Dafür sollte er die Software entwickeln. „Ich war sen und die beiden von der Stiftung geförderten Bremen und Künstler: „Die revolutionärste unter jung, mutig, kunstaffin und als Informatiker völ- Doktorandinnen Lou Jonas und Anna Sophia den elektronischen Künsten, mit den radikalsten lig ignorant – und so tat ich es.“ Das veränderte Schultz. Sie wussten, dass die Zeit drängte für Folgen, ist sicher die digitale Computerkunst“, sein Leben: „von der Mathematik zur Kunst – oder

60 Impulse 2017 61 Das Team des Computerkunstprojekts (von links): Theresa Knapstein vom Kupferstichkabinett, Dr. Susanne Grabowski von der Universität Bremen, der Direktor der Kunsthalle Bremen Christoph Grunenberg und der Mathematiker und Informatiker Frieder Nake. Das Team präsentiert (von links) Werke von Georg Nees, A. Michael Noll und Frieder Nake, die zu den Wegbereitern der digitalen Kunst zählen.

vielmehr“, korrigiert er sich, „mit Mathematik zur Mit diesem Projekt wird erstmals in der Kunstge- und Experimentieren über das Kunstwerk“ ein. Die Bild oben: Vom Computer- algorithmischen Kunst.“ Denn es ist der „Künst- schichte der Ort digitaler Kunst bestimmt. „Uns Vermessung der komplexen Topografie digitaler kunstprojekt profitierten ler“, der den Algorithmus erdenkt: eine berechen- ist bisher kein Verfahren bekannt, das der Ana- Kunst gleich welcher Formen und Formate bleibt auch Studierende der Bre- bare Funktion, von einer Maschine schrittweise lyse, der medien- oder kunstwissenschaftlichen jedenfalls spannend. Denn die unendlichen Mög- mer Bachelor- und Master- ausgeführt. So lässt sich selbst das visualisieren, Verortung algorithmischer Kunst gerecht wür- lichkeiten – etwa von Algorithmen – entgrenzen studiengänge „Digitale was zwar nicht vorstellbar, aber berechenbar ist: de“, sagt Grabowski. Wo aber finden etwa Werke die Kunst unaufhaltsam. Medien“ (von vorn nach „wie zum Beispiel der 6-D-Hyperraum des Künst- des amerikanischen Computerkünstlers Harold hinten): Tjark Engelke, lers Manfred Mohr“, gibt Nake ein Beispiel. Cohen ihren Platz, deren Kreativität auf den vom Steven Kowalzik, Kerstin Künstler entwickelten Algorithmen beruht? Kritisch, karikierend, provokant: Die neuen Künste Bub und (an der Wand) „Mohrs Einzigartigkeit besteht darin, dass er geben sich frech und überzeugen augenzwinkernd Informatikstudent Hannes fantastische Wege findet, diverse Facetten des Das Projekt führt also in Neuland, ganz nach dem Bruns. Bild unten: Die einfachen Würfelgebildes in hohen Dimensionen Geschmack des interdisziplinären Forscherteams, Susanne Grabowski sieht in dem revolutionären Nachwuchsforscherinnen in verschiedenen Zeichenformationen zu präsen- das mit Computerkünstlern in aller Welt exzel- Sog, den die Digitalisierung auslöst, in deren Sarah Rothe (Zweite von tieren“, übernimmt Dr.-Ing. Susanne Grabowski, lent vernetzt ist. Stringent arbeiteten sich die Breiten- und Tiefenwirkung vor allem eine rechts) und Jee-Hae Kim Postdoktorandin an der Universität Bremen. Ein Wissenschaftler erst durch den Dschungel der gesellschaftspolitische Herausforderung. „Über (ganz rechts) binden beim 6-D-Würfel hat 64 Ecken und 192 Kanten. „Mohr Begriffe wie Algorithmus oder Dimension, Raster die algorithmische Kunst versuchen wir, Schüler Radiokunstprojekt eben- lässt vier der 64 Punkte mit dem je diagonal und Wahrscheinlichkeit, um danach schrittwei- und Museumsbesucher grundsätzlich für diese falls Studierende ein. gegenüberliegenden Punkt entlang der Kanten se die Werkanalyse selbst anzugehen: von der verbinden“ („Diagonalweg”). Danach verknüpft assoziativen Betrachtung der Bilder über die De- sein Programm die Eckpunkte der Diagonalwege Codierung und Re-Programmierung bis zum ana- durch Querlinien. So entstehen Vierecke, die Mohr logen und digitalen Experimentieren mit dem nach dem Zufallsprinzip einfärben lässt. elementaren Repertoire eines Werkes.

Wenn Grabowski fast atemlos aus den Sphären Auf diese Weise näherten sich die Forscher dem der algorithmischen Kunst erzählt, öffnet sich eine Neuen und Spezifischen dieser Kunst – eben ihrer neue Dimension: computergenerierte Bilder, die doppelten Ebene. Nake schuf dafür die Begriffe Eigendynamik entwickeln. Und plötzlich gewin- „Unter- und Oberfläche“. Der Betrachter sieht nen die wundersamen, in Grabowskis lichtdurch- nur die Oberfläche. Der Künstler komponiert den fluteten Räumen locker verstreuten Bilder subtil Algorithmus, der die Unterfläche schafft oder Esprit. Frieder Nakes „Geradenscharen“ beispiels- auch manipuliert und die sichtbare Oberfläche weise, gerade Linien, die sich in eigenwilliger ergibt. „Ein gewisser Witz, vielleicht eine ästhe- Dynamik zu immer neuen Formen treffen. tische Besonderheit der algorithmischen Kunst liegt darin, dass ein Programm zwar die Bilder So systematisch wie Grabowski digitalisierte erzeugt“, sagt Grabowski. Doch mit zunehmender Kunst erklärt, ist auch ihr von der Stiftung mit Komplexität reduziere sich die Möglichkeit, „das 230.000 Euro gefördertes Projekt „Die algorithmi- Programm in seinen Einzelheiten zu erahnen und sche Dimension in der visuellen Kunst“ gebaut, das Bild zu durchschauen“. das 2015 nach drei Jahren endete und an dem neben Frieder Nake auch der Kunsthistoriker Dr. „Ob diese ‚künstliche Kunst’ auch als Kunst aner- Christoph Grunenberg, Direktor der Kunsthalle kannt wird, entscheidet die Gesellschaft“, lächelt Unten: Das Videokunstprojekt im Ludwig Forum für Internationale Kunst Bremen, beteiligt war. Forschungsobjekte sind Nake. Er jedenfalls sperrt sich nicht mehr gegen die Aachen stemmten (von links): Dr. Lou Jonas, Dr. Anna Sophia Schultz, die seiner- 24 algorithmische Werke aus Sammlungen der Bezeichnung Künstler, obwohl er sich lange „nur“ zeitige Direktorin Dr. Brigitte Franzen sowie Projektleiterin Dr. Miriam Lowack. Kunsthalle Bremen und zwölf weitere Werke, die als Mathematiker fühlte. Die Protagonisten algo- Auch das ist „Radiokunst“ (mittleres Bild): künstlerisch überformte Empfänger algorithmische Elemente aufweisen – wie etwa rithmischer Kunst verbinden ohnehin Kunst mit selbst, hier präsentiert von den Projektleiterinnen Dr. Anne Thurmann-Jajes Permutation, Rekursion oder Rasterverfahren –, Wissenschaft. Und die algorithmische Kunst selbst vom Museum Weserburg in Bremen (Mitte) sowie den Professorinnen Dr. die aber nicht digital produziert worden sind. ist experimentell und rational wie die Wissenschaft; Ursula Frohne (rechts) und Dr. Maria Peters (links) von der Universität Bremen. Arbeiten von Paul Klee beispielsweise. gleichzeitig lädt sie die Wissenschaft „zum Spielen

62 Impulse 02_2016 63 Ein Hingucker im Entrée des Wie entsteht Wissen? Aachener Ludwig Forums und beliebtes Objekt auch Wie sind eigentlich all die Wissensfelder und akademischen Fachdisziplinen entstanden? der Museumspädagogen: die Ein Team engagierter Forscherinnen aus Göttingen und Berlin begibt sich auf die Suche. Videoinstallation „Earth, Moon and Sun” des weltweit gefrag- Wissen wird geschaffen. Und zwar von Menschen für ein weitgreifendes, ambitioniertes Vorhaben. ten Künstlers Nam June Paik. in jeweils spezifischen zeitlichen, räumlichen und Sie wollen in dem Projekt „Sammeln Erforschen“ gesellschaftlichen Kontexten und Netzwerken. im Verbund mit Historikern, Ethnologen, Muse- Zur Entstehung von Wissen tragen unzählige umswissenschaftlern und Ausstellungskuratoren Bedingungen bei: oft sind es Zufälle. Denn je der Frage nachgehen, ob und in welcher Form die nachdem, an welchem Ort, von welchen Personen, Entstehung der Fachdisziplinen durch die Arbeit Entwicklung zu sensibilisieren“, resümiert sie. über mehrere Fenster aus ihrem Inneren Bilder mit welchen Absichten danach gesucht wird, mit relevanten Sammlungsbeständen angeregt Dazu entwarf das Bremer Team neue Ausstel- und Musik der E- und U-Kultur. Für den gebürti- entsteht Wissen in anderer Form, wird verändert, und maßgeblich entwickelt wurde. lungskonzepte und Unterrichtsmodule. So sollen gen Koreaner Paik, der in den USA lebte und als erweitert oder geht verloren. Schüler auch sinnlich, etwa durch analoges „Nach- Wegbereiter der Videokunst gilt, „ist dieser inter- Am Beispiel der Bestände des 1773 an der Uni- Objekte wie diese zeichnen“, mit dieser Kunst bekannt werden, um kulturelle Mix mit schnellen Schnitten, Farb- und Um dieses „Wissen-Schaffen“ geht es im „Forum versität Göttingen gegründeten Königlich Acade- (wenngleich nach- schließlich zur Unterfläche der Werke vorzudrin- Trickeffekten typisch“, erläutert Miriam Lowack. Wissen“, dem jüngsten Museum der Universität mischen Museums gehen sie von der Hypothese gebildeten) antiken gen. An einer gymnasialen Oberstufe wurden die Göttingen. Unter einem Dach wird hier Wissen aus, dass sowohl der Erwerb von Objekten als Skulpturen aus einer Module bereits erfolgreich eingesetzt. Und so vertiefen die drei Projekte – jedes mit sei- geschaffen und werden das Wissen-Schaffen auch die Methode des Sammelns, Ordnens und Sammlung der Univer- nen Mitteln, Zielsetzungen und den Stärken der selbst und die Ergebnisse solcher Prozesse sicht- Vermittelns zur Entwicklung und Ausdifferen- sität Göttingen erzäh- Nur ein paar hundert Meter weiter ist Professorin jeweiligen Exponate – den Dialog zwischen den bar gemacht. Das Haus öffnet sich dabei program- zierung der Fächer Kunstgeschichte, Archäologie len viel über die Ver- Maria Peters von dem anderen Bremer Museums- Sphären Kunst und Wissenschaft, zwischen einst matisch in zwei Richtungen: gen Öffentlichkeit und Ethnologie geführt habe. Ein Prozess, der im gangenheit und helfen projekt, der Analyse der Radiokunst, weitaus skep- und heute. Sie fügen sich auf diese Weise an spezi- und gen Wissenschaft – wobei alle teilhaben an 18. Jahrhundert begann und sich dann im Laufe somit, die Gegenwart tischer, was dieses Bestreben angeht. Jugendliche fischem Ort in das dahinterliegende Engagement den intellektuellen und materiellen Gütern der des 19. Jahrhunderts umfassend vollzog. zu verstehen. Die sich zeigten sich von elektronischen Medienereignissen der VolkswagenStiftung zur Museumsforschung Universität. nicht zuletzt im Laufe wie Radiokunst kaum berührt, hat sie beobachtet. ein. Jenseits der wissenschaftlichen Ergebnisse In zwei Teilprojekten sollen die Sammlungen der Zeit verändernde „Andererseits macht der Medienhype sie auch und der Erkenntnisse für die museumstheoretische Und so lädt das neue Forum einerseits Menschen sowohl ethnologisch als auch wissenschaftsge- Forschung an ihnen unkritisch und stumpft ihre Wahrnehmung ab.“ wie -praktische Arbeit gelingt ihnen dabei auch ein, die bisher wenig Berührung mit der Wissen- schichtlich befragt werden. Mehrere Work­shops und vielen vergleich- Für die Museumspädagogik bedeutet das: „Sie der Beweis, dass die ungewöhnliche Initiative der schaft hatten; sie sollen sich diese Welt erschlie- und eine Ausstellung runden das Vorhaben. Das baren Objekten und brauchen wieder Reibungspunkte, wie die Anre- Stiftung – sie stärkt einerseits kooperative For- ßen – dabei stets gefordert, eigene Positionen zu Kooperationsprojekt wurde Mitte 2016 als eines Beständen soll nun gung zur experimentellen Auseinandersetzung mit schung mittlerer und kleinerer Museen und fördert beziehen, Herausforderungen an den Forschungs- von insgesamt neun Vorhaben in der letzten aufklären, wie ganze akustischen Ereignissen, dringender jedenfalls als andererseits Postdoktoranden – in der Zusammen- betrieb zu formulieren und sich in den facetten- Bewilligungsrunde der Initiative „Forschung in Wissensgebiete und immer neue Techniken“, gibt die Bremer Wissen- führung beider Säulen mit Verve reichlich kreative reichen Prozess des Wissen-Schaffens einzubrin- Museen“ auf den Weg gebracht (die übrigen acht Wissenschaftsdiszipli- schaftlerin Museumsmachern mit auf den Weg. Forschung an den Rändern der verschiedenen pro- gen. Andererseits wirkt das Forum in die Scientific siehe Seiten 70-73). Christian Jung nen entstanden sind. jektbeteiligten Disziplinen inspiriert. Community selbst hinein, indem es Raum für Am weitesten voran scheinen hier die Aachener interdisziplinäres Arbeiten mit den Objekten der Kolleginnen – aber die haben es mit dem Medi- Die Achse Bremen-Aachen und zurück hat gezeigt: Sammlungen schafft und Forschende dazu anregt, um Videokunst vermutlich auch am einfachsten. Es ist große Kunst, auf die man trifft; auch und über den eigenen Tellerrand zu blicken und sich Schon ein kurzer Gang durch das Aachener Forum gerade, weil sie sich hier und da kritisch und kari- von den Methoden, Fragestellungen und Argu- überzeugt den Besucher vom hyperflexiblen und kierend gibt, weil sie sich nicht scheut, berühmte mentationen anderer Fächer und anderer Wissen- -technologisierten Charakter der Installation. Wie Werke zu zitieren – und weil sie allenthalben schaftskulturen inspirieren zu lassen. ein lebender Meteorit aus dem Science-Fiction-All den traditionellen Bild- und Kunstbegriff in Fra- steht prominent die mannshohe Videoinstallation ge stellt. Gern auch provokativ, mit Genuss und Ein Forscherinnenteam um Professorin Dr. Susan „Earth, Moon and Sun“ von Nam June Paik plötz- Augenzwinkern. Und jedes der drei Projekte malt Kamel von der Hochschule für Technik und Wirt- lich vor einem. Unablässig sendet die erdrunde, dabei aus eigener, neuer Perspektive ernsthaft mit schaft Berlin und Dr. Marie Luisa Allemeyer von kabelüberzogene Multi-Monitor-Videoinstallation an einem Bild der elektronischen Zukunft.  der Universität Göttingen nutzt diesen Rahmen

64 Impulse 02_2016 65 Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Distanziert-analytisch, ohne verklärende Nostalgie – die Fotografie Christian Borcherts wird erforscht

Dem Werk des Jahrhundert-Fotografen, Archivars und Medienarchäologen nähert sich Dr. Bertram Kaschek, gefördert mit einem „Postdoktoranden-Fellowship“ in der Museums- initiative. Anfang 2016 bewilligte die VolkswagenStiftung die letzten acht Fellowships.

Selbstporträt des Foto- Anfang 2016 bewilligte die Stiftung in ihrer Initia- Christian Borchert betrachtete diese Dokumen- grafen Christian Borchert tive „Forschung in Museen“ noch einmal acht tation als einen „inneren Auftrag“ und sah sich (1942-2000) in Budapest Postdoktoranden-Fellowships (die übrigen sieben „in erster Linie als Chronist“. Wiederholt sagte er, im Jahr 1988 (oben). In Projekte siehe Seiten 68/69). 35 Nachwuchsforscher sein Bemühen sei es, mit seinen Bildern „die Stadt der Folge weitere Bilder hatten sich zum letzten Stichtag beworben. Je nach […] als eine Landschaft zu begreifen“. Weshalb aus seinem Nachlass. Projekt haben die Geförderten jetzt drei bis vier Borchert die Rolle des Chronisten so bedeutsam In den Aussagen zu seiner eigenen Mitte links: Ohne Titel Jahre Zeit für ihre Forschung zu einem frei gewähl- ist, hat er folgendermaßen erläutert: „Was mich an Arbeit verwendet Borchert wiederholt (in der Autowerkstatt); ten Thema. Zu guter Letzt werden die Ergebnisse der Fotografie interessiert, ist, eine Mitteilung zu den Begriff Distanz: „Distanz ermög- aus: „Alltag in der DDR dann meist auch in Form einer Ausstellung aufbe- machen. Aber die wünsche ich mir gerecht, ehr- licht Deutlichkeit. Selbstbetrug aber 1963–1988“ (Silbergelati- reitet. Auf diese Weise qualifiziert das Fellowship lich, genau und ohne Übertreibung und Effekte, kann einsetzen, wenn man eine Sache nepapier, 254 x 377 mm, sowohl für berufliche Perspektiven im Museums- so daß andere – jetzt oder später oder an fremden von weitem betrachtet und als Foto- 300 x 398 mm). Mitte bereich als auch für die Universität. Orten – sich eine Vorstellung machen können von graf glaubt, man sähe dadurch klarer.“ rechts: Eisenbahnstra- Situationen und Verhältnissen. Es ist Fotografie Und weiter: „Distanzlosigkeit würde ße; aus: „Tektonik der Einer der acht Erfolgreichen ist Bertram Kaschek gegen das Verschwinden.“ Flachheit bedeuten. Distanz heißt Erinnerung“ (Silbergela- von der Technischen Universität Dresden. Er nicht Fremdheit, sondern Würde.“ tinepapier, 251 x 377 mm, nähert sich ab sofort wissenschaftlich dem Oeuvre Bislang fehlt eine eingehende und umfassende 299 x 399 mm). Unten des Fotografen, Archivars und Medienarchäologen Auseinandersetzung mit Borcherts Gesamtwerk. links: Ohne Titel (Zwin- Christian Borchert (1942-2000). Borchert nimmt in Bertram Kaschek möchte dies leisten und den gerseitige Seitenbühne, der deutschen Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts komplexen Nachlass exemplarisch betrachten. rohbaufertig); aus: „Sem- eine herausragende Position ein. Seine dokumen- Einer der Kooperationspartner ist die Deutsche peroper Dresden. Bilder tarischen Aufnahmen leben durch eine eigene Fotothek, die das Arbeitsarchiv des Künstlers einer Baulandschaft“ Bildsprache, sind zumeist distanziert-analytisch verwahrt: ein Bestand von circa 230.000 Schwarz- (Silbergelatinepapier, 225 und ohne verklärende Nostalgie. Er arbeitete vor weiß-Negativen, 5.500 Farbdiapositiven und x 225 mm, 235 x 235 mm). allem mit Bildserien, unter anderem als visuelle 18.000 „Arbeitskopien“, wie Borchert seine groß- Unten rechts: Zuschauer- Chronik der DDR und der Nachwendezeit. Auch formatigen Probeabzüge nannte. Weitere 1.040 raum. (Das ausgebrannte Borcherts eigenwillige archivarische Praxis und Fotografien lagern als wesentlicher Bestand Mauerwerk muß bis auf sein quasi-archäologischer Umgang mit visuellen im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunst- die Außenwände abge- Medien wie Film und Fernsehen waren, sind und sammlungen Dresden; 1.500 Ausstellungsprints brochen werden) aus: bleiben charakteristisch. in der Berlinischen Galerie. Die Ergebnisse sollen „Semperoper Dresden. sich wiederfinden in einer Monografie und einer Bilder einer Bauland- Eines der wichtigsten Projekte Borcherts war die Ausstellung, die zumindest in Dresden und Berlin schaft“ (Silbergelatine- fotodokumentarische Begleitung des Wiederauf- gezeigt werden soll. papier, 225 x 225 mm, baus der Semperoper in Dresden. In sieben Jahren 238 x 240 mm). entstanden dabei wohl mehr als 10.000 Fotos. Christian Jung

66 Impulse 02_2016 67 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Von den Insekten in Norddeutschlands Mooren bis zu anatomischen Anomalien des weiblichen Beckens

Sammlungsvielfalt, Teil 1. Ob Bio-, Geo- oder Geisteswissenschaften: Aus allen Wissensgebieten bewarben sich junge Forscherinnen und Forscher bei der letzten Ausschreibungsrunde um Postdoktoranden-Fellowships. Die VolkswagenStiftung bewilligte rund 2,8 Millionen Euro.

Eine Korbschale der Ye’kwana, im Jahr 1913 eingeführt von Theodor Koch-Grünberg. Deren Muster zeigt vermutlich Mawaadi e’sadü, einen Gegenspieler des In Bernstein eingeschlossene Kulturheros Wanaadi. Daher gilt Insekten kennt man hierzu- die Schale bei Einheimischen als lande vor allem durch Funde ungeeignet zur Aufbewahrung an den Gestaden der Ostsee. von Lebensmitteln – eine Dieser in Baumharz gefangene Erkenntnis, die erst durch Käfer stammt jedoch von gemeinsame wissenschaftliche jenseits unseres Kontinents Betrachtung hier bekannt wurde. – für ihn interessiert sich Dr. Mónica Solórzano Kraemer.

2016 gab es letzte Bewilligungen im Erfolgsmodell reichlich Belegmaterial aus dem späten 19. und An der Universität Kiel widmet sich Ulrich Mechler Am Deutschen Museum in München ist Dr. Pana- Studierende der „Indige- Postdoktoranden-Fellowships in der Initiative frühen 20. Jahrhundert. Im Vergleich könnten der Michaelis-Litzmann’schen Beckensammlung: giotis Poulopoulos dabei, die Entwicklung der nen Universität“ bei der „Forschung in Museen“ – eine Förderung, die jun- dann Aussagen über etwaige Veränderungen in 31 Trockenpräparate weiblicher Beckenknochen mit Pedalharfe aus einer historischen, technischen, Arbeit mit Objekten ihrer gen Forscherinnen und Forschern Einblicke und der Zusammensetzung der Arten möglich sein. verschiedenen anatomischen Anomalien. Dabei musikwissenschaftlichen und soziokulturellen Herkunftsregionen im Vernetzung in der deutschen und internationalen möchte er vor allem beschriebene Geburtskompli- Perspektive zu erforschen. Zwischen 1780 und Depot des Ethnologischen Museumslandschaft ermöglichen sollte und soll. Amphibien und Reptilien sind von zentraler kationen und teils vorhandene Geburtsprotokolle 1830 war das Instrument bei Amateuren und pro- Museums Berlin. Bedeutung für zahlreiche Ökosysteme. Die wech- in Bezug zu den Anomalien setzen. fessionellen Künstlern in Europa ähnlich populär So interessiert sich Dr. Mónica M. Solórzano selwarmen Tiere haben keine konstante Körper- wie heute das Klavier – und erfuhr folglich in die- Kraemer vom Senckenberg Forschungsinstitut temperatur: Benötigen sie folglich zum Überleben Intensiv erörtert wird derzeit die „Dekolonisierung“ ser Zeit zahlreiche Veränderungen. und Naturmuseum für die Baumharze Bernstein neben der Nahrung zusätzliche Energie aus ihrer ethnologischer Museen. Die ersten dieser Häuser und Kopal aus Madagaskar und Kolumbien und Umgebung, fragt Márton Rabi von der Universi- geben inzwischen die Deutungshoheit über ihre Dr. Vilma Ruppiene interessiert sich für die Kunst die darin gefangenen Insekten. Lässt sich über tät Tübingen. Er will eruieren, inwieweit sich ein Sammlungen ab – insbesondere an Menschen der Fassadenverkleidung mit wertvollen Gesteins- einen Vergleich auf der Zeitachse der eingeschlos- möglicher enger Bezug zum Umgebungsklima aus den Herkunftsregionen der Objekte. In ihrem arten. Solche „Inkrustationen“ gehörten seit dem senen Tiere auf Veränderungen im Ökosystem unter anderem auf Zusammensetzung und Viel- Projekt möchte Andrea Scholz am Ethnologischen frühen 1. Jahrhundert n. Chr. zur Innenausstattung schließen – etwa aufgrund des Klimawandels? falt der Arten, Populationsstruktur, Vorkommen Museum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz der öffentlichen und privaten Bauten Roms und und individuelle Körpergröße auswirkt. Um den Wege für die Umsetzung dieses Ziels aufzeigen – der römischer Provinzen, auch zur Kaiseraula Solche „Eingriffe“ des Menschen in Klima und Wandel dieser Biodiversität der Amphibien und exemplarisch bezogen auf Bestände der Humboldt- in Trier. Die Innenausstattung der Palastaula Umwelt gefährden weltweit die Lebensräume von Reptilien im Mittleren Eozän (vor 38 bis 47,8 Mil- Universität zu Berlin. Sie entwickelt dazu eine will Ruppiene nun an der Universität Würzburg Pflanzen und Tieren, so auch die Insekten in den lionen Jahren) bestmöglich bestimmen zu können, bestehende Online-Plattform weiter, über die Wis- archäologisch und archäometrisch untersuchen. Hoch- und Niedermooren Norddeutschlands. Dr. ist er inzwischen einige Schritte weiter und dabei, senschaftler aus Venezuela, Brasilien, Kolumbien Martin Kubiak möchte – am Beispiel der Artenge- Fossilien aus der Geiseltalsammlung mit seinen und Deutschland gemeinsam Amazonien-Objekte Ausgewählt wurden die Vorhaben nicht zuletzt meinschaften von Köcherfliegen ­– den aktuellen Funden und verfügbaren Klimadaten der Region beforschen können. Eine weitere Version der Platt- mit Blick auf die Optionen und Chancen, die sich Bestand dieser Insektenfauna analysieren. Für abzugleichen. Die Ergebnisse sollen unter anderem form soll es Besuchern der Amazonien-Ausstellung sowohl für den jungen Wissenschaftler als auch seinen Vergleich auf der Zeitachse findet er im in die künftige Dauerausstellung der naturkundli- des Humboldt-Forums ermöglichen, Erkenntnisse die beteiligten Museen aus dem inhaltlichen und Zoologischen Museum der Universität Hamburg chen Sammlungen in Halle (Saale) einfließen. und Austauschprozesse nachzuvollziehen. organisatorischen Projektdesign ergaben.

68 Impulse 2017 69 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Fotoschätze, Silbermünzen und Skulpturen: neue Chancen für Erforschung alter Museumsbestände

Sammlungsvielfalt, Teil 2. Museen als Orte der Forschung stärken, den wissenschaftlichen­ Nachwuchs mit seinen Projekten optimal fördern. Mitte 2016 bewilligte die Stiftung noch einmal neun Forschungsvorhaben. Damit schließt die Initiative „Forschung in Museen“.

Wie wird eine Skulptur öffentlich wahrgenommen? Die Fotografie (links) aus Dies erforscht ein Team der Freiberger Sammlung anhand von Objekten wie zum Erzbergbau der Region Claes Oldenburgs Monument zeigt Bergleute auf dem Weg „Giant Pool Balls“ aus der zur Grube „Alte Elisabeth“. „Skulptur Projekte Münster“- Rechts: Münzobjekte aus Ausstellung des Jahres 1977. dem Hacksilberschatz von Meschwitz, Landkreis Baut- zen, im Bestand des Kultur- historischen Museums Görlitz.

Grünes Licht für letzte „kooperative Forschungs- Dr. Jasper Freiherr von Richthofen vom Kultur- nalgeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufar- Professorin Dr. Ursula Frohne von der Universität vorhaben an mittleren und kleineren Museen“. historischen Museum Görlitz wird sich anhand beiten. Dazu analysieren sie den Fotobestand nach Münster und Dr. Marianne Wagner vom Landes- 86 Projekte standen im Wettbewerb; neun und von zwanzig sogenannten Hacksilberschätzen Bildstilen, Inszenierungsgraden des Sozialen und museum Westfalen-Lippe für Kunst und Kultur ihre Protagonisten setzten sich durch (drei Vorha- aus der Zeit von 940 bis 1070 mit der Herkunft des Gebrauchsweisen nebst Technik; ferner hinsichtlich möchten ausge­hend von der alle zehn Jahre ben sind auf den Seiten 65, 72 und 73 vorgestellt). Silbers im frühmittelalterlichen Ostmitteleuropa wechselnder Konventionen in der Stadt- und Land- stattfindenden „Skulptur Projekte Münster“ die beschäf­tigen. Dazu untersucht er mithilfe archäo- schaftsdarstellung sowie mit Blick auf die Doku- Entwicklun­gen, Verschiebungen und Neubewer- Viel zu lange vernachlässigt wurde die wissen- logisch-analytischer Methoden im Oder-Neiße- mentation von Arbeitsvorgängen. Ebenso interes- tungen in dieser Zeit im öffentlichen Raum aus- schaftliche Beschäftigung mit den „visuellen und Gebiet ausgegrabene Funde, die beispielhaft sind sieren Publikationsstrategien der Fotografie und ihr gestellter Skulpturen nach­vollziehen. Sie betrach- materiellen (Er-)Zeugnissen“ der in den Konzen- für das im östlichen und nördlichen Europa dieser Gebrauch beim (gegenwärtigen) Stadtmarketing. ten die Ausstellungsgeschichte, Entstehung und trationslagern Internierten. Wissenschaftler wol- Zeit übliche Spektrum an Münzen. Über deren Rezeption der gezeigten Objekte sowie kuratori- len über 900 Artefakte aus den KZ Ravensbrück Analyse erhofft man sich Aufschlüsse über die Gestaltung ist keine den Dingen nur äußerli- sche und institutionelle Entscheidungen. und Sachsenhausen mit Blick auf deren Herstel- Herkunft des Silbers und damit auch über die che Form, sondern berührt Grundsätzlicheres.­ lungsweise, Bedeutung, sozial-kulturellen Kontext ostmitteleuropäischen Fernhandelsbeziehungen Wissens­chaftler der Hochschule für Gestaltung Der archäologische Schauplatz Niewedder Senke sowie die Nachnutzung und Sammlungsgeschich- und -wege dieser Epoche. Unterstützt wird er von (HfG) Ulm fragten schon früh nach Strategien und bei Kalkriese im Niedersächsischen wird sowohl te untersuchen. Die beteiligten Forscher von der Kollegen der Universität Göttingen, des Zentrums Funktionen der „Form-Werdung“. Beleg dafür sind mit der Varusschlacht (9 n. Chr.) als auch mit Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Archäome­trie an der Universität Tübingen und nicht zuletzt vier an der HfG konzipierte Ausstel- kriegerischen Auseinandersetzungen unter Ger- Oranienburg und der Mahn- und Gedenkstätte des Reiss-Engelhorn-Museums Mannheim. lungen, die zwischen 1955 und 1967 unter ande- manicus (15 n. Chr.) in Verbindung gebracht. Die Ravensbrück sowie der Hochschule für Technik rem bei der Weltausstellung in Montréal gezeigt Analyse von Material aus früheren Grabungen und Wirtschaft Berlin verknüpfen in ihrem Vor- Eine fotografische Sammlung der Stadt Freiberg wurden. Im Archiv der Hochschule finden sich mithilfe neuerer archäometallurgischer Verfah- haben Objektbiografien, soziale Beziehungen und in Sachsen dokumentiert den jahrhundertelang noch etliche jener Tafeln. Wissenschaftler vom ren und archäologischer Methoden (Werk- und Netzwerke im Lager sowie die Charakterisierung intensiv betriebenen Erzbergbau der Region. For- Ulmer Museum, von HfG-Archiv und der Folk- Gebrauchsspuren) soll helfen, bessere Antworten der verwendeten Materialien einschließlich deren scher vom Stadt- und Bergbaumuseum Freiberg wang Universität der Künste in Essen sowie der zu finden. Danach suchen Forscherteams vom Herkunft und Herstellungstechniken. Begleitend sowie der Technischen Universität Bergakademie Hochschule Pforzheim wollen daran nun die Ent- „Museum und Park Kalkriese“, der Universität werden konservatorische Konzepte für verschie- Freiberg wollen nun anhand „fotografischer Deu- wicklung von Gestaltung und deren Vermittlung Osnabrück sowie vom Deutschen Bergbau- dene Materialgruppen entwickelt. tungen von Arbeit, Technik und Alltag“ die Regio- in der Nachkriegsmoderne erforschen. Museum Bochum.

70 Impulse 2017 71 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

In die Jahre gekommen: Die „durchsichtigen“ Fluch und Segen der Technik – oder: Warum Menschen und Tiere brauchen eine Frischzellenkur manche Mythen oft viel zu lange Bestand haben ...

Die „Gläsernen Figuren“ des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, globale Ausstellungs- Als die Reichswehr die alles vernichtende „Gasrakete“ plante und für den Bau Abertausende ikonen des vergangenen Jahrhunderts, verfallen und benötigen Hilfe. Aber noch existiert kein von Zwangsarbeitern ihr Leben verloren … – die systematische Aufarbeitung der Technik- rundum geeignetes Konservierungs- und Restaurierungsverfahren. Das soll sich jetzt ändern. geschichte der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und ihrer Erinnerungskultur steht bevor.

Großexponate im Freigelände des Historisch-Technischen Museums Peenemünde: Man Die „Gläsernen Figuren“: sieht Nachbauten der Rakete A4 entwickelt und produziert im („V2“), der Flugbombe Fi103 („V1“) Deutschen Hygiene-Museum mit originaler Startrampe, ferner Dresden. Der erste „Gläserne einen Originalzug der früheren Mensch“ wurde zum Symbol Peenemünder Werkbahn. Das des Museums bei dessen Kraftwerk der ehemaligen Eröffnung 1930. Das abgebildete Peenemünder Versuchsanstalten Figurenensemble war 1999 im Hintergrund dient heute der Teil der Sonderausstellung Dauerausstellung des Museums. „Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts“.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es erstmals Die jeweilige Forschung im Rahmen des Kollegs Die Heeresversuchsanstalt Peenemünde war zwi- der Rahmen gespannt für das 2016 mit knapp möglich, mittels eines neu entwickelten Kunst- zielt zum einen auf geeignete Konservierungs- schen 1936 und 1945 eines der modernsten Tech- 440.000 Euro an den Start gebrachte Projekt „Meta- stoffs Objekte vollständig transparent zu gestal- und Restaurierungsverfahren, zweitens wird nologiezentren der Welt. Von Beginn an zielte die Peenemünde: das Bild der rüstungstechnischen ten. Die „Gläsernen Figuren“ – für viele Menschen nach Wegen einer langfristigen präventiven Hochtechnologieforschung einzig auf militärische Versuchsanstalten im kulturellen Gedächtnis“. Es weltweit DAS Objekt, mit dem sie unmittelbar das Konservierung gesucht – und drittens gilt es, die Überlegenheit. Im Oktober 1942 gelang von hier aus betritt schwieriges Terrain an der Schnittstelle kul- Deutsche Hygiene-Museum in Dresden verbinden Herstellungs-, Ausstellungs- und Rezeptionsge- der weltweit erste Start einer Rakete ins All. In der turwissenschaftlich inspirierter kritischer Technik- – wurden unter anderem durch internationale schichte der „Gläsernen Figuren“ aufzuarbeiten. benachbarten Erprobungsstelle der Luftwaffe wur- geschichte und lokal lebendiger, sich stetig verän- Präsentationen zu globalen Ausstellungsikonen Eingebettet in ein wissenschaftlich fundiertes, den Flugkörper mit revolutionärer Technik getestet. dernder militärhistorischer Erinnerungskultur. ihrer Zeit. Wichtiger noch: Sie prägten im vergan- tragfähiges Konzept, sollen nicht nur die „Glä- genen Jahrhundert ganz entscheidend auch die sernen Figuren“ gesichert werden, sondern auch Möglich waren die Errichtung der Versuchsanstal- Ziel der Forscher Professor Dr. Christian Kehrt von visuelle Vermittlung von Körperwissen. andere museale Sammlungen davon profitieren. ten und die spätere Massen­produktion der von der Technischen Universität Braunschweig und Goebbels zynisch „Vergeltungswaffe 2“ genannten Dr. Philipp Aumann vom Historisch-Technischen Inzwischen jedoch zeigen die unterschiedlichen In die beiden ersten Themen sind Forscherinnen Rakete in so kurzer Zeit nur durch den massiven Museum Peenemünde ist es, diese Erinnerungs- Figuren „äußerst schwerwiegende Schadensphä- und Forscher unterschiedlicher Expertise der Einsatz von Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und geschichte Peenemündes anhand von Objekten, nomene“, wie die Wissenschaftler es formulieren. Hochschule für bildende Künste der Universität Kriegsgefangenen. Tausende von ihnen verloren Texten und Bildern der Sammlung aufzuarbeiten. Das Problem hinter dem Problem: Es gibt bislang Dresden eingebunden; das wissenschaftshisto- durch unmenschliche Arbeitsbedingungen­ ihr Ein zeithistorisches Teilprojekt fokussiert die eta- keine geeigneten und erprobten Konservierungs- rische hingegen wird begleitet von Professorin Leben. Wie an kaum einem anderen Ort der Welt blierten Technikmythen und Bilder der rüstungs- und Restaurierungskonzepte. Zudem fehlt eine Dr. Dagmar Ellerbrock von der Technischen wird in Peenemünde folglich die Ambivalenz der technischen Versuchsanstalten und leistet damit intensive Auseinandersetzung mit der Herstel- Universität Darmstadt. Geleitet wird das auf Entwicklung moderner Technologie deutlich. einen Beitrag zur Frage des gesellschaftlichen Um- lungs-, Ausstellungs- und Rezeptionsgeschichte. dreieinhalb Jahre ausgelegte Vorhaben „Gläserne gangs mit Wissenschaft, Technik und National- Daher hat die Stiftung Mitte 2016 rund 600.000 Figuren – Ausstellungsikonen des 20. Jahrhun- Erleb- und spürbar wird dies in der Ausstellung sozialismus in der Bundesrepublik und der DDR. Euro bewilligt für ein am Deutschen Hygiene- derts – ein interdisziplinäres Forschungskolleg des Historisch-Technischen Museums Peenemün- Das zweite, museologisch und geschichtsdidak- Museum angesiedeltes Promotionskolleg, in des- zur langfristigen Bewahrung von Objekten aus de – zu besichtigen im Kraftwerk der ehemaligen tisch ausgerichtete Teilprojekt wiederum kreist sen Rahmen drei unterschiedliche fachliche Arbei- Kunststoff“ von Professor Dr. Klaus Vogel vom Heeresversuchsanstalt, dem größten technischen um die Wahrnehmung der Ausstellungen und des ten entstehen sollen, die die Probleme lösen. Deutschen Hygiene-Museum, Dresden. Denkmal Mecklenburg-Vorpommerns. Damit ist Ortes durch Einheimische und Besucher.

72 Impulse 2017 73 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Einleuchten, aussteuern – Vorhang auf!

Was wäre das moderne Theater ohne raffinierte Lichttechnik, ohne ausge- klügelte Raumakustik? Es ist das lange 19. Jahrhundert, in dem vieles von der Welt, wie wir sie heute kennen, ent- steht. So wird zu jener Zeit Elektrizität allmählich populär, und die Akustik wartet mit neuen technischen Mög- lichkeiten auf. Bald schon folgt die Architektur mit der Konstruktion von Theaterräumen, die den neuen Techni- ken entsprechen. Die Dilthey-Fellows Ulf Otto und Viktoria Tkaczyk sind den Wechselbeziehungen von Kunst und Wissenschaft nachgegangen.

Auf den Brettern, die die Welt bedeuten – und an einem Ort, um den ihre Forschung kreist: Professorin Dr. Viktoria Tkaczyk, Humboldt-Universität Berlin, und Dr. Ulf Otto, Universität Hildesheim, im Deutschen Theater Berlin.

74 Impulse 2017 75 Text: Mareike Knoke // Fotos: Kerstin Schomburg

tellen wir uns eine Theatervorstellung in der Szenen wie diese wirken in Kostümfilmen immer Im Zuge seines kulturwissenschaftlichen Pro- Szweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor: Die Damen sehr malerisch. Das Kameraauge schwelgt in schö- jekts „Energien des Spektakels: zur Theatralität und Herren sitzen erwartungsvoll im erleuchteten nen, perfekt ausgeleuchteten Bildern – und lässt der Elektrizität und der Elektrifizierung des Thea- Zuschauersaal. Allmählich wird es ruhiger und die völlig vergessen, dass diese Inszenierung mit der ters“ recherchierte er in zahlreichen in- und aus- Blicke richten sich nach vorn. Wir befinden uns Realität wenig überein hat. Denn bis ins späte 19. ländischen Archiven und stieß dabei auf manche bereits im Zeitalter der Guckkastenbühne, die bis Jahrhundert hinein waren die Theaterräume nicht Preziose: interessante Abbildungen ebenso wie heute die meisten größeren Theaterbauten cha- einmal annähernd so perfekt ausgeleuchtet wie faszinierende Anekdoten und Geschichten. Sein rakterisiert und die der Bühne den Eindruck eines in den Historienfilmen; ebenso wenig wurde es je Interesse galt damit jener Zeit, in der technischer geschlossenen Raumes verleiht – ganz anders als richtig dunkel im Zuschauerraum. Theaterbesuche Fortschritt und das Erblühen der Elektroindustrie zuvor die perspektivisch gestaffelten, bemalten waren meist eine ziemlich „flackernde“ Angelegen- die Theater in Europa und seinen Kolonien plötz- Kulissen des Barockzeitalters; sie sollten dem Raum heit – und eine stickige dazu. Mehr noch: Das Gas- lich von vielen Begrenzungen befreiten und sie vor allem eine scheinbar unendliche Tiefe geben. licht sorgte nicht nur für schlechte Luft, es brachte grundlegend veränderten. auch Gefahren mit sich. Immer wieder kam es zu Die Atmosphäre ist spannungsvoll; man beobachtet Bränden in den Theatern. Er wüsste nicht, was es einander. Der Raum ist mäßig hell. Noch liegt jene Besseres zu erfinden gäbe, „als wenn die Lichter Die Elektrifizierung wandelt das Theater radikal – Zeit nicht lange zurück, als Rampenlichter an der ohne Putzen brennten“, soll Goethe gesagt haben. und entzaubert es auch ein Stück weit vorderen Begrenzung der Bühne Licht warfen – aller- dings nur wenig davon in Richtung Zuschauerraum. Doch es sollte noch einige Zeit vergehen von jenem Und damit Vorhang auf und hinein in die Mitte Stets waren sie so ausgerichtet, dass die Darsteller Ausbruch bis ins Jahr 1880, als Thomas Alva Edison des 19. Jahrhunderts. Als 1849 bei der Urauffüh- weit mehr erhellt wurden als die Besucher. Doch mit dem „Basispatent Nummer 22389“ die von sei- rung von Meyerbeers „Le prophète“ in der Pariser inzwischen ist die Beleuchtung im Theater besser nen vielen Erfindungen wohl durchschlagendste Oper die Sonne aufgeht, tritt nicht nur erstmals und differenzierter: Gaslicht hat die Petroleumleuch- anmeldete: die Glühbirne. Sie war der entscheiden- der elektrische Strom als ästhetisches Mittel auf, ten abgelöst. Ein leichtes Raunen geht durchs Publi- de Türöffner für die nun massenhafte Nutzung von es ist auch das erste Mal, dass das kurz zuvor kum, als das Gas heruntergedreht wird; es flackert elektrischem Licht. Sie erleuchtete fortan nicht nur erfundene Bogenlicht eine bezahlte Anwendung ein wenig mehr, und im zunehmenden Dunkel wird Straßen, Restaurants und Cafés, sondern auch die gefunden hat. „Zwei Jahre vor der ersten Londoner das Licht vor allem durch die Schatten wahrnehm- Theater. Das hatte Folgen für die Theaterkunst – Weltausstellung verhelfen Theater und Technik bar, die es wirft und die sich auf den Schauspielern, und dies wiederum Auswirkungen auf die damals sich damit gegenseitig zum Erfolg und provozie- deren Gesichtern und dem Bühnenbild abzeichnen ... noch junge Elektroindustrie. ren die Frage, wie diese Konjunktion in der Mitte und den von Öllampen und Gaslicht verursachten Dr. Ulf Otto interessiert des 19. Jahrhunderts zustande kam und was aus widernatürlichen Schattenwurf von der Bühne das Zusammenspiel Die Theater übernahmen die Entwicklungen und ihr folgte: Wie wirken Ästhetik und Technik in der vertrieb. Die Kraft des elektrischen Stroms machte von Kunst und Tech- Möglichkeiten im Bereich des künstlichen Lichts Theaterpraxis zusammen und welchen Wandel zudem eine Positionierung des Lichtes auf der Por- nikentwicklung im zunächst aus Pragmatismus. „Es ging anfangs durchläuft das Theater durch die Elektrizität?“, talbrücke möglich, die die künstliche Beleuchtung 19. Jahrhun­dert und schlicht und einfach um die hygienische, feu- fokussiert der von der Stiftung mit einem Dilthey- endlich an ihren natürlichen Platz stellte. „Sie räum- dabei insbesondere die erpolizeiliche und regeltechnische Kontrolle Fellowship geförderte Ulf Otto ein stimmiges Sze- te mit jenem wie aus der Hölle kommenden Ram- Geschichte der Elektri- jener Häuser“, sagt Dr. Ulf Otto, der seit 2012 das nario jener Zeitenwende und Theaterwelten (zu penlicht auf, das im ungewollten Zusammenspiel fizierung der Theater. Zusammenspiel von Kunst und Technikentwick- den Dilthey-Fellowships, im Förderprogramm der mit Nasen und Brüsten jeden noch so natürlichen lung und die Geschichte der Theaterbeleuchtung Stiftung inzwischen in den „Freigeist“-Fellowships Ausdruck zur gespenstischen Fratze entstellte“, in einem von der Stiftung mit 520.000 Euro aufgegangen, siehe Seiten 82/83). erinnert Otto an ein Zitat des französischen Dra- geförderten Forschungsvorhaben aufarbeitet. maturgen Jean Baptiste Pujoulx (1800) – und lässt Die Elektrifizierung, fährt er fort, habe den Thea- gleich dessen zweiten Teil folgen: „Wenn man die tern und Varietés in den Industrieländern dann Lichtquelle zu Füßen des Schauspielers sieht, drängt um 1900 peu à peu ungeahnte Chancen eröffnet. sich dann nicht der Gedanke auf, daß dieser Licht- Im Laufe des 19. Jahrhunderts ziehen in den Spielstätten wie hier Die Technik bereitete der Kunst einen neuen Boden schein geradewegs aus der Hölle kommt? Schließ- im Stadttheater Stuttgart zunehmend „thermodynamische Kraft- und ermöglichte einen nie da gewesenen Realis- lich scheint in der wirklichen Natur das Licht stets maschinen“ ein. Besucher, die zu jener Zeit die Technikräume eines mus. Darstellungen und Darsteller wirkten viel von oben herab, während wir im Theater dazu ver- Theaters zu sehen bekommen, fühlen sich an eine Fabrik erinnert. lebensnäher, da das elektrische Licht das Flackern dammt sein sollen, es aus der Hölle zu empfangen!”

76 Impulse 2017 77 „Die Elektroindustrie hatte in ihrer Anfangszeit ja durchaus das Problem zu beweisen, dass Elek- trizität im täglichen Leben überhaupt notwendig war. Die Theater erwiesen sich für diesen Zweck geradezu als perfekte Schaufenster“, führt Otto aus. „Gerade sie ließen die Magie der neuen Tech- nik mehr als nur sichtbar werden: Mit ihrer Hilfe gelang es vorzuführen, dass die Elektrifizierung wesentlich dazu beitragen konnte, den Dreck, den Lärm und das Elend der alten Kohleindustrie zumindest eine Zeitlang aus der Wahrnehmung verschwinden zu lassen.“

Das Bild links aus dem „Aus spektakulären Bilderfolgen und Bildeindrücken die den Theaterwissenschaftler interessieren. „Das Otto zeigt von ihm aufgespürte alte Broschüren auf der Probebühne lange Zeit nichts ahnt: jene Überblicksdarstellung Jahr 1920 zeigt die Aus- wurde also ein von gänzlich anderer Atmosphäre Projekt adressiert in erster Linie den in den Kunst- aus jener Epoche Ende des 19. Jahrhunderts, die Maschine, die eingestellt und programmiert wer- verwendeter Beleuch- leuchtung eines Rund- und Energie durchflossener Raum“, beschreibt Otto wissenschaften meist vernachlässigten Aspekt reichlich Beispiel geben für eine enge Verbun- den muss, damit zur Premiere die Stimmung im tungskörpertypen beim horizonts im Theater. die Zäsur. Doch damit nicht genug der Wirkungen der technischen Bedingtheit ästhetischer Prozes- denheit von Kunst und Industrie; ein Befund, Raum stimmt, der Schauspieler sein Licht findet seinerzeitigen Neubau Die moderne Lichttech- und Effekte. Eingeleitet wurde durch die Hellig- se, ohne dabei jedoch die Ästhetik als Effekt der der zunächst einmal überrascht. Vor allem bei und der Blick des Zuschauers nicht haltlos umher- des Königlichen Theaters nik erschafft Räume, keit und Klarheit der neuen Lichttechnik auch der Technik zu entmündigen“, erläutert Otto, der mit näherem Hinschauen. So habe manches Unter- wandert.“ Entscheidend motiviert zu seinem in Stuttgart, Kleines Haus. die sich ins scheinbar Abgesang auf die gemalte Kulisse, die plötzlich, dem seinem Projekt an das Institut für Medien, Theater nehmen mittels künstlerischer Darbietungen wie Forschungsprojekt habe ihn jedoch, dass bislang Unendliche dehnen: So gleißenden Licht ausgesetzt, ihre spezielle illusionie- und Populäre Kultur der Universität Hildesheim beispielsweise „erotischen Tanzeinlagen schöner kaum über die technische Natur der Moderne und entsteht Theateratmo- rende Wirkung verlor. Stattdessen erlaubte es nun angebunden ist. Regelmäßig pendelt er zwischen Frauen“ für seine Ziele oder Produkte geworben. ihrer Ästhetiken geforscht worden sei. sphäre, wie wir sie heu- die effektvolle und genau durchdachte Platzierung dem niedersächsischen Städtchen und Berlin, wo Unternehmen der Elektroindustrie etwa ließen te noch erleben. Die des Lichts, die Theaterbühne als Raum mit unge- er seinen Lebensmittelpunkt hat und sich die wich- bei Fachausstellungen verführerische Tänzerin- „Mich interessiert Theater im umfassenden Sinn technischen Zeichnun- wohnter Anmutung zu erschließen und den Schau- tigsten Archive für seine Forschung befinden. nen auftreten und deklarierten diese Vorführun- als Herstellungsprozess: ein Ort, an dem nicht gen Mitte und rechts, spielern neue Ausdrucksmöglichkeiten zu geben. gen als sinnbildliche Verkörperung des Lichts: nur Kunst entsteht, sondern auch Schweiß fließt.“ ebenfalls von 1920, Die Elektrizität habe somit nicht zu einer Desillu- Begehrenswertes als Sinnbild für eine begehrens- Entsprechend dicht und konzentriert ist sein Schaf- illustrieren als Anhang sionierung auf der Bühne geführt, sondern zu einer Theater einst und heute: Als perfekte Schaufenster werte Technik mithin. „Die Elektrifizierung der fensprozess. Neben verschiedenen Artikeln, die er einer Patentschrift die neuen Form des Illusionismus, sagt der Theater- begeistern sie für die Magie neuer Techniken Theater hatte somit auch eine ‚Theatralität der projektbegleitend zum Thema veröffentlicht hat, Verfeinerung eines wissenschaftler. „Und die bestand ganz wesentlich Elektrizität’ zur Folge“, sagt Otto. Das wiederum soll 2017 sein Buch zum Forschungssujet heraus- Bühnenregulators; aus einer weitgreifenden Immaterialisierung des Der 40-Jährige, dem die Begeisterung für sein habe den Berufsstand des entwickelnden Ingeni- kommen. Außerdem richtete er bereits 2015 an der immer ausgeklügeltere Bühnengeschehens.“ Die Elektrifizierung sei folglich Thema deutlich anzumerken ist, hat unter ande- eurs aufgewertet. „Das, was der Ingenieur in der Universität Hildesheim eine internationale Tagung Regeltechniken ermög- einhergegangen mit einer sich verändernden Weise, rem an der Humboldt-Universität zu Berlin, am Fabrik war, entsprach dem Regisseur im Theater.“ aus zum Thema „(An)ästhetiken der Elektrizität“. lichten ein immer Theater zu sehen und zu fühlen. „Sie führte sowohl King’s College London und an der University of minutiöser geplantes zu einem grundlegenden Wandel dessen, was Thea- Toronto in Kanada studiert und sich zuletzt vor Der Theaterwissenschaftler hat selbst als Regis- Mit dieser Hochschule und ihrem anwendungsbe- Bühnengeschehen. ter ist, als auch, wie Theater gemacht wird!“ allem mit Transformationen theatraler Praxis in seur und Dramaturg an verschiedenen deut- zogenen Ansatz in der Auseinandersetzung von den neuen Medien beschäftigt. Gegenüber seiner schen Bühnen Erfahrung mit der Theatertechnik Theorie und Praxis habe er die richtige Institution Denn zugleich war sie Motor für weitere Verände- 2013 unter dem Titel „Internetauftritte. Eine Thea- gemacht: Sein Lebensweg weist so namhafte für sein Vorhaben gefunden, betont er. Dennoch rungen an den Spielstätten, schuf neue, wichtige tergeschichte der neuen Medien“ veröffentlichten Stätten aus wie die Sophiensäle Berlin, das Maxim sei er trotz guter Vernetzung – typisch für Dilthey- Berufe wie etwa den Lichttechniker – nicht zuletzt Dissertation geht der Dilthey-Fellow in seinem Gorki Theater Berlin, das Theater Aachen oder das Fellows – mit seiner Arbeit über weite Strecken sichtbarer Ausdruck eines „Wandels des Theaters aktuellen Vorhaben in der Zeit ein Stück zurück Schauspiel Stuttgart. Die Erfahrungen aus dieser als Einzelkämpfer unterwegs. Als Vertreter eines von einer bis dato immer noch eher improvisierten und umkreist Zeiträume, in denen an Hörfunk, Zeit sieht er als äußerst hilfreich für seine For- sogenannten kleinen Fachs an der Schnittstelle Unternehmung zu einem geregelten Apparat“. Und Fernsehen oder Internet noch niemand dachte. schung an. „Wer das Theater auch oder gerade als von Theater-, Medien-, Kultur- und Wissenschafts- so waren es vor allem die praktischen Transfor- Eine Epoche, in der eben Theater DAS Leitmedium technische Einrichtung von innen erlebt, der lernt geschichte fühlten er und eine mit Projektmitteln mationen und diskursiven Zurichtungen von Auf- war und enormen Einfluss auf die Öffentlichkeit einen Apparat kennen, von dem man im Parkett finanzierte Doktorandin sich oft als Exoten bei trittsweisen, Arbeitsabläufen und Betriebsformen, und die öffentliche Meinung entfachen konnte. nichts wahrnehmen kann und von dem man auch ihrer Forschung, gibt Otto zu bedenken.

78 Impulse 2017 79 Simulation der Geräuschreflexion im Zuhörerraum am Beispiel des Berliner Theaters, wie es sich im Jahr 1810 baulich zeigt (links); als in vom „Raumverhalten“ her ähnliches Haus gilt etwa das Vitruvian auditorium in Neapel; die Abbildung ist aus dem Jahr 1758.

Der Theaterbesucher von heute ist daran gewöhnt, Nun also war die theaterbauliche Kreativität der dass selbst leise Zwischentöne auf der Bühne im Architekten gefragt. Ein Übriges tat der Sturm und Idealfall bis in die hintersten Zuschauerreihen drin- Drang mit seinem bürgerlichen Trauerspiel, das gen. Was wir als selbstverständlich hinnehmen, eine neue Empfindsamkeit und leise Zwischen- ist das Ergebnis ausgeklügelter Theaterarchitektur töne auf die Bühne brachte – in damaligen Regie- auf Grundlage physikalischer Gesetze. „Lange Zeit anweisungen als „Beiseitesprechen“ bezeichnet: jedoch, bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Gerade jene leisen waren bedeutsame Sätze, die wurde Theater vor allem als visuelles Erlebnis eben auch die Ohren der Zuschauer erreichen Tkaczyk stellte während ihrer Recherchen immer definiert“, sagt Viktoria Tkaczyk. „Denken Sie zum sollten – aller Zuschauer. „Darauf mussten die wieder fest: „Bis heute stehen in diesem For- Beispiel an das höfische Theater in der Zeit des Theaterbaumeister reagieren“, erläutert Tkaczyk. schungsfeld die Auseinandersetzung mit dem Sonnenkönigs Louis XIV. oder an die Aufführungen Damals seien die ersten festen Theaterhäuser für Bildbegriff und die künstlerischen Möglichkei- an deutschen Fürstenhöfen. Die Monarchen gaben ein bürgerliches Publikum entstanden. „Und beim ten des Visuellen im Mittelpunkt des Interesses. vor, wie und was eine Theaterinszenierung zu sein Bau dieser Gebäude haben sich die Architekten, Aspekte der Akustik hingegen wurden sehr lange hatte: Ein beeindruckendes Spektakel, in dem die ihren Fokus klar auf die Erfordernisse einer Auf- stiefmütterlich behandelt.“ Das habe sich erst in Schauwerte dominierten und die Wirkung des führung gerichtet, bewusst mit Physik und eben den vergangenen vier, fünf Jahren gewandelt, sagt gesprochenen Wortes eher unterging.“ ganz explizit mit Akustik auseinandergesetzt“, sie, die bereits während ihrer Doktorandenzeit führt die Forscherin aus und verdeutlicht damit, im Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen“ Entsprechend sei der Zuschauerraum meist glocken- wie sehr es sich auch bei ihrem Thema um die an der Freien Universität Berlin das „Phänomen Eine der frühen moder- förmig konstruiert worden, sodass vor allem Fürst Erforschung eines historisch gewachsenen Aus- Resonanz“ aufgriff. „Mir fiel damals auf, dass es neren Spielstätten ihrer nebst Gattin den besten Blick auf die Bühne hatten. tausches von Kunst und Wissenschaft handelt. so gut wie keine Veröffentlichungen zur Akustik- Zeit, deren Architektur „Obwohl es damals schon Opern und höfische Mu- geschichte im Theater gab – geschweige denn im die neuen Möglichkei- sik gab, hat sich doch keine der von den Architekten Einer jener Architekten, die sich um die skizzierte übergreifenden Kontext unter Berücksichtigung ten der Technik auf- dieser Zeit verfassten Schriften mit dem Thema Entwicklung verdient machten, war der Brite begleitender baulicher Erfordernisse.“ Selbst ein greift: das „Neue Hof- Akustik beschäftigt“, resümiert die Theaterwissen- George Saunders. Etwa um 1790 erwähnt er in paar Jahre später, als sie ihren Förderantrag für Theater Carlsruhe“ im schaftlerin. Das sei jedoch letztlich kein Wunder, einem Text die Newtonschen Gesetze der Schall- die VolkswagenStiftung formulierte, fand sie nur Jahr 1808, gebaut von schließlich hatten Architekten ja „lange Zeit keinen ausbreitung. An anderen Stellen unternimmt er wenige Publikationen zu dem Thema. Friedrich Weinbrenner. großen planerischen oder gar experimentellen selbst etliche Experimente zur Akustik, um die Professorin Dr. Viktoria Das Gefühl, mit ihrer Forschung Grenzgängerin Spielraum für ihre Theaterbauten!“. optimale Form und das ideale Baumaterial für den Tkaczyk hat derzeit an zwischen den Welten zu sein, kennt auch Viktoria Theaterbau zu finden. „Um 1800, also etwa zeit- mehreren Einrichtungen Tkaczyk. Zugleich sieht sie Vorteile. Auf ihrem Weg Das aber wandelt sich während der Zeit der Aufklä- gleich, vollzog sich dann auch ein Wandel in der der Wissenschaft ange- durch die Wissenschaft und die Wissenschaften ist rung mit Nachdruck. Viktoria Tkaczyk suchte nach Architektenausbildung“, schlägt Viktoria Tkaczyk dockt. Mit ihrem Fellow- sie jedenfalls gut vorangekommen. wegweisenden Quellen und stieß unter anderem einen Bogen: „In Frankreich und Deutschland ent- ship erforscht sie, wie die auf Äußerungen des italienischen Kunstkritikers standen, parallel zur Ausbildung an den Kunstaka- zwischen 1750 und 1930 Francesco Algarotti. Er forderte 1762 sinngemäß, ein demien, die ersten praxisorientierten Bauingenieur- sich rasant entwickelnden Von der Elektrifizierung des Theaters zu Tönen, die schönes Theater solle nicht nur ein Ort für einen schulen.“ Die Architektenausbildung zählte nämlich technischen Möglichkei- auch auf den hintersten Plätzen gehört werden amüsierwilligen Haufen von Menschen sein, son- bis dato neben Malerei und Bildhauerei zu den ten in der Akustik von dern auch „ein feyerlicher Hoersaal“, in dem kluge schönen Künsten und war wie diese ausschließlich den Theatern aufgegrif- Bereits Leiterin einer Max-Planck-Nachwuchsfor- Geister ihre Gedanken zu Gehör bringen. Er stellte an Kunstakademien verankert. „Zudem hielten die fen wurden und wie die schergruppe, gelang ihr früh schon der Sprung auf damit eine inhaltliche Verbindung her zwischen Fächer Physik und gesondert die Akustik Einzug ins Architektur dieser Häuser eine Professur an der Humboldt-Universität Berlin. Theater und der Verbreitung von Wissenschaft. Und: Curriculum – nicht nur an den Bauingenieurschu- darauf Bezug nahm. Zuvor nahm sie, wie Ulf Otto, als Dilthey-Fellow ein „Algarotti zufolge sollte das Auditorium des Gebäu- len, auch an den Kunstakademien“, resümiert die für das Theater grundlegendes Thema in den Blick: des auch nicht länger wie seit dem Barocktheater thematisch breit aufgestellte Wissenschaftlerin, den kaum erforschten Zusammenhang von euro- üblich glockenförmig gestaltet sein. Vielmehr gelte die in München und Berlin studierte und bis vor päischer Theater- und Akustikgeschichte. „Akusti- es, nach einer in akustischer Hinsicht idealen Thea- Kurzem – neben den bereits genannten – auch eine sches Theater (1750-1930)“ lautet auch der Titel des terarchitektur zu suchen“, fasst Viktoria Tkaczyk Assistenzprofessur für Arts and New Media an der mit 400.000 Euro geförderten Projekts. zentrale Gedanken des Altmeisters zusammen. Universität Amsterdam innehatte.

80 Impulse 2017 81 Erst seit Kurzem etabliert sich so nach und nach Überhaupt sind für Tkaczyk die Weitergabe von das neue Forschungsgebiet der Sound Studies. Wissen und Engagement in der Lehre selbstver- „Ich freue mich, dass ich mit meinen Veröffent- ständlich. So ist sie eingebunden in den interdis- lichungen und Veranstaltungen dazu beitragen ziplinären Masterstudiengang „Art Studies“ der konnte, das Interesse daran zu wecken“, sagt die Universität Amsterdam. Gemeinsam mit einer ehe- Theaterwissenschaftlerin. Für ihre Vorhaben kann maligen „Dilthey-Fellow-Kollegin“, Professorin Dr. sie immer wieder renommierte Kolleginnen und Julia Kursell, beteiligte sie sich an der niederländi- Kollegen aus der ganzen Welt gewinnen. schen Hochschule an der Etablierung des Themen- feldes „Sounds and the Arts“. Kursell, die der Frage So konzipierte sie gemeinsam mit Dr. Carolyn nachgeht, was die Wissenschaft zu einem bestimm- Birdsall, Professorin Dr. Myles Jackson und Dr. ten Zeitpunkt in der Vergangenheit über das Hören Mara Mills von der New York University eine wusste, lehrt dort seit 2013 Musikwissenschaft. inhaltlich verklammerte Winter/Summer School zum Thema „SoundSignatures“, die im Januar und Vernetzt hat sich Tkaczyk auch mit dem Forscher- Derart begeistert und fasziniert, forscht Tkaczyk Das Deutsche Theater in Berlin, Ort der Fotoaufnahmen der August 2014 in Amsterdam und Berlin stattfand. verbund „Hörwissen im Wandel“; die Leitung des weiter im Feld Akustik. „Mein nächstes Projekt beiden Protagonisten dieses Beitrags, zählt zu den bedeutend- Beide Veranstaltungen, für die sie so renommierte 15-köpfigen Expertenverbunds hat mit Dr. Daniel zielt auf das akustische Gedächtnis; um 1900 sten Sprechtheaterbühnen im deutschsprachigen Raum. Hinter Forscher und Forscherinnen gewinnen konnte Morat ebenfalls ein ehemaliger Dilthey-Fellow ein großes Thema in der Psycho-Physiologie und seiner eleganten klassizistischen Fassade beherbergt es heute wie Professor Dr. Jonathan Sterne (McGill Univer- (die Vorhaben von Julia Kursell und Daniel Morat der Psychoanalyse, aber auch in den Künsten.“ drei Bühnen: das Große Haus mit circa 600 und die Kammer- sity, Toronto), Professorin Dr. Lisa Gitelman (New sind in dem Impulse-Heft 2009 auf den Seiten Unlängst wurde sie für fünf Jahre zum Mitglied spiele mit etwa 230 Plätzen – sowie die 2006 eröffnete „Black- York University), Professorin Dr. Karin Bijsterveld 66-71 vorgestellt). Gemeinsam mit Morat, der sich der Jungen Akademie der Berlin-Brandenburgi- box“ im Foyer der Kammerspiele für 80 Zuschauer. (Maastricht University) und Professorin Dr. Emily mit Klanglandschaften und Geräuschkulissen von schen Akademie der Wissenschaften gewählt. Die Thompson (Princeton University), boten dem wis- Großstädten beschäftigt, steht eine Monografie Wissenschaftsszene, nicht nur die Berliner, darf senschaftlichen Nachwuchs auf dem interdiszipli- zur „Wissensgeschichte des Hörens“ auf der Agen- sich bei soviel Engagement auch künftig auf viele nären Feld der Sound Studies ein erstes Podium. da (siehe www.hoer-wissen-im-wandel.de). frische Gedanken freuen. 

i Risikos ausgedehntere Planungs- und Zeithorizonte bereits auf Professuren berufen; jeweils die Hälfte Die Förderinitiative „Dilthey-Fellowships“ benötigen. Entsprechend waren die Projektlaufzeiten im In- beziehungsweise ins Ausland. Weitere drei ausgedehnter als sonst üblich. So wurden die Wis- Fellows nahmen eine andere Stelle im Ausland an. Was haben die Geisteswissenschaften zu den Fra- Dass in den vergangenen Jahren in diesem Feld mehr senschaftlerinnen und Wissenschaftler für zunächst Von den 13 Fellows, die folglich jenseits der Grenzen gen der modernen Wissensgesellschaft und den und mehr exzellente junge Forscherinnen und For- fünf Jahre gefördert mit der Option, im Falle einer forschen und lehren, zog es zehn ins europäische Hintergrund brisanten kulturellen Konflikten der Gegenwart scher zu reüssieren wissen, ist auch der Erfolg eines positiven Evaluation nach rund zwei Dritteln der Ausland (Schweiz, Großbritannien, Niederlande, Bel- zu sagen? Welche Rolle spielt die historische und im Jahr 2005 gemeinsam von Fritz Thyssen Stiftung Laufzeit eine Verlängerung ihres Fellowships um drei gien, Dänemark), zwei in die USA, einen nach China. symbolische Verfasstheit aktueller Problemlagen? und VolkswagenStiftung vorgelegten Angebots für Jahre zu erhalten. Charakteristisches Element des Auf welche Weise ist die Geschichte von Begriffen, die Wissenschaft: den Dilthey-Fellowships. Diese Angebots war auch, dass sich die Geförderten an der Die Möglichkeit einer Verlängerung des Fellowships Bildern, Zeichen und Medien mit im Spiel, wenn Fellowships – benannt nach dem deutschen Philo- Lehre beteiligen und möglichst versuchen sollten, um drei Jahre bei erfolgreicher Evaluation strebten Naturwissenschaftler, Techniker und auch Politi- sophen Wilhelm Dilthey (1833 bis 1911) – zielten auf über weitere Drittmittel Doktoranden in ihre Arbeit bislang 19 der 52 „Diltheys“ an. 17 von ihnen – von ker ihre Erkenntnisse gewinnen? Fragen wie diese die Förderung des exzellenten geisteswissenschaftli- einzubinden. Alles in allem erhielten junge, über her- denen wiederum 14 von der VolkswagenStiftung zeigen, wie unermesslich breit und reichhaltig das chen Nachwuchses hierzulande und zugleich darauf, kömmliche Grenzen hinaus denkende Wissenschaft- unterstützt werden – konnten mit ihrem Anliegen Feld interessanter Themenstellungen und Heraus- bestehende Fachgrenzen dieser Wissenschaften zu lerinnen und Wissenschaftler auf diese Weise die überzeugen, wobei in vielen Fällen nur eine (deut- forderungen für die Geisteswissenschaften ist – und überwinden. Letzte neue Dilthey-Fellowships wur- Chance, sich zu führenden Vertretern ihres Fach- und lich) kürzere Verlängerung vonnöten war als die vor allem, wie offenkundig es des Potenzials, der den 2012 bewilligt; die Initiative ging danach in den Interessengebietes zu entwickeln. maximale mögliche dreijährige. Ebenso bietet die Kompetenz, der gedanklichen Breite wie Tiefe und fachoffen ausgerichteten Freigeist-Fellowships auf. Stiftung spezifische „Fördermodule“ wie zusätzliche des Leistungsvermögens geistes- und kulturwissen- Von den zwischen 2006 und 2012 insgesamt auf Mitarbeiterstellen oder in besonderen Kontexten schaftlicher Forschung für entsprechende gesell- Als Dilthey-Fellows sollten ausgewiesene Nach- den Weg gebrachten 52 Dilthey-Fellows werden auch Auslandsaufenthalte an; dafür bewarben sich schaftspolitische Debatten bedarf. Ohne Zweifel: wuchsforscher Themen bearbeiten, die den Gei- 43 von der VolkswagenStiftung und neun von der bis dato 18 Fellows – 14 von ihnen erfolgreich. Die Geisteswissenschaften werden gebraucht, um steswissenschaften neue Gebiete erschließen und Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Von diesen wurden die Welt – immer wieder – neu zu denken. die aufgrund ihrer Komplexität oder ihres höheren bis Frühsommer 2016 insgesamt zwanzig Fellows Christian Jung 82 Impulse 2017 83 Schwerpunktthema

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Nebenrolle für die Wirklichkeit

Fehlt Wissenschaft heute (noch) das leidenschaftliche Engagement, sich auf die Ausformungen von Kunst einzulassen? Welchen Platz anderer- seits haben die Wissenschaften im Haus der Künste? Wie groß ist die Bereitschaft beider, sich dem ande- ren gegenüber zu öffnen? Welche Themen finden sie? Und: Wie lässt sich der Dialog von Kunst und Wis- senschaft erproben und entwickeln? Akteure beider Welten suchen in den Projekten zu „Arts and Science in Motion“ nach einem eigenen Aus- druck dafür und ersten Antworten.

Bestehende Verfahren des „Schreibens von und über Bewegung“ in wissenschaft- lichen und künstlerischen Arbeitsprozessen zu sezieren: Das haben sich Professorin Dr. Isa Wortelkamp von der Freien Universität Berlin und ihre Teamkolleginnen zum Ziel gesetzt. Eine erste fotografische Annäherung dazu auf den folgenden Seiten.

84 Impulse 2017 85 Text: Christian Jung // Fotos: Julia Zimmermann

„ ie definieren wir Leben, wie Nicht- formance offen, wie gut sich beide Kulturgüter gänzlich unbeeindruckten Überwindung derselben Will man Kunst und Wissenschaft für beide Seiten WLeben?“ Diese Frage stellte vor gut einem Jahr die durchaus gegenseitig bereichern können. Daraus – als „Paten“ für ein noch recht junges Förderange- überzeugend zusammenführen, hilft die Suche Anthropologin und Performancekünstlerin Eliza- formen sich, denkt man diesen Weg weiter, schon bot der VolkswagenStiftung in Beschlag nehmen, nach den Ursachen der Trennung der einst Ver- beth Povinelli von der Columbia University, USA, bald grundlegende Fragen, die beide Sphären benötigte man denn welche. Denn in der Tat mag mählten. Solch bohrender Blick führt tief in die bei ihrer Mixtur aus Vortrag und Happening am berühren. Was ist überhaupt wirklich; was bildet die vor Jahresfrist aufgelegte Ausschreibung „Arts Spätphase der Renaissance. Damals schieden sich Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Niemand im Wirklichkeit ab? Was ist künstlich? Was ist objek- and Science in Motion – Wissenschaft und Kunst in die Geister Kunst und Wissenschaft, ließen Über- Publikum nahm Anstoß, als sie aus dem Aquari- tiv? Wie lassen sich Forschung und Wissenschaft Bewegung“ auf den ersten Blick für eine in ihrem einstimmungen und Vertrautheiten zurück, um um zu ihrer Rechten peu à peu tropfende Steine mit unseren Fantasien, Wünschen und Hoffnun- Kern wissenschaftsfördernde Stiftung überra- sich kalt voneinander weg zu spezialisieren. Eigene in das Feuer zu ihrer Linken warf und mit dem gen verbinden? Aber auch: Welche Prozesse steu- schend erscheinen. Doch nur auf den ersten … Häuser wurden bezogen und der Eintritt für den Verdampfen des Wassers dabei auch Tausende ern und prägen unser Leben? Wie werden unsere ehemaligen Partner wurde zum Tabu erklärt. Noch winziger Lebewesen in den zischenden Tropfen Erklärungen beobachtbarer Phänomene gene- am Vorabend der Renaissance, als den Menschen um ihr Leben brachte. Erst als sie aus dem Bassin riert? Und (längst nicht) zu guter Letzt: Wie ent- Wissenschaft trifft Kunst – ein Experiment klar wurde, dass Gott die Welt nicht als ihre Bühne eine Schildkröte emporhob und in die Flammen steht überhaupt neues Wissen – und wie lässt es für die Stiftung geschaffen hatte, errechnete der Architekt und werfen wollte, protestierte das Publikum wie sich vermitteln, sodass es möglichst viele erreicht? Bildhauer Filippo Brunelleschi in Florenz eine bis erwartet. Ihre Reaktion kam postwendend: Was Antworten auf solch facettenreiche Fragen suchen Gehen wir zunächst einen Schritt zurück. Dass Fra- dahin undenkbare Kirchenkuppel, Giotto entdeckte „Bewegung schreiben“: unterscheide im Kern das Leben einer Mikrobe nicht erst seit heute sowohl Wissenschaftlerinnen gen wie die eingangs gestellten derzeit ein neues die Perspektive und bescherte der Malerei mit einer Das erste Projekttreffen von dem einer Schildkröte? „Warum sprechen wir und Wissenschaftler als auch Künstlerinnen und Feld formen – eben „Arts meet Science“ – zeigt, dass winzigen Fliege einen nie gesehenen Naturalismus. gliederte sich in mehre- nicht reflektierter über das massenhafte Arten- Künstler. Diese explorative Einstellung der Welt die Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst neu re Abschnitte, die hier sterben?“, fragte sie und postulierte: „Wir müssen gegenüber verbindet die beiden Bereiche fest, zu denken ist. Es ist an der Zeit, sie anders zu gestal- Andererseits richtet sich der Blick in die Gegen- fotografisch jeweils Standortbestimmung uns endlich als System verstehen. Tötet man lässt Kunst und Wissenschaft einander begegnen. ten jenseits der üblichen Festschreibungen, bei wart, in der Wissenschaft oft das notwendige auf einer Doppelseite des Projekts „Bewegung einen Teil, gefährdet man das ganze System.“ denen aus Sicht etlicher Akteure und Einrichtungen oder leidenschaftliche Interesse für Einlassungen gezeigt sind. Dabei stel- schreiben“: Die Bild- Andererseits spürt man förmlich die Spannung der Wissenschaft ästhetische Phänomene allenfalls dieser Art fehlt; in der die Künste aus Sicht der len wir nach und nach sequenzen auf dieser und Elizabeth Povinelli zeigt uns hier vieles: Zum zwischen den Systemen. Und diese wiederum schmückendes Beiwerk sind einer im Kern eigen- Wissenschaft zuständig sein dürfen für Gefühl, die Protagonistinnen den folgenden Seiten des einen, wie anschaulich, leicht und zugleich fun- führt uns zu der entschiedenen Positionsbestim- ständigen Produktion wissenschaftlichen Wissens. Sinnlichkeit, Form und Ausdruck: mithin für die vor. Den Anfang macht Beitrags entstanden im diert man Wissenschaft „unter die Leute“ bringen mung Marcel Duchamps: „Kunst ist das einzige, Eben das degradiert die Kunst zur „rein kompen- Peripherie dessen, was die Welt nach Ansicht die Künstlerin, Zeich- Frühsommer 2016 beim und ebenso, wie gleichsam überraschend und was Menschen übrigbleibt, die der Wissenschaft satorischen Instanz, die für die Verwandlung des vieler in Form der (Natur-)Wissenschaften zusam- nerin und Bildhauerin zweitägigen Auftakt- doch einfach Wissenschaft sich darstellerischer, nicht das letzte Wort überlassen wollen.“ Beide, naturwissenschaftlichen Outputs ins Schöne, Sub- menhält und vorantreibt. Der Platz der Künste … – Juliane Laitzsch (zweites workshop, zu dem sich die gar künstlerischer Mittel bedienen kann – und Duchamp wie Povinelli, könnte man – sowohl als jektive oder Verrückte zuständig zu sein hat“, um zugelassen in den Außenbezirken der Gesellschaft? Foto von rechts). fünf Forscherinnen und dabei ihr Publikum offensichtlich gut erreicht. Ausdruck der seit Jahrhunderten bestehenden den Kunsthistoriker Peter Geimer zu zitieren. Künstlerinnen zusam- Vermutlich werden die Inhalte dabei sogar bes- Polarisation als auch in der pragmatischen und mengefunden hatten. ser abgespeichert. Vor allem aber legt die Per-

86 Impulse 2017 87 „Bewegung zeichnen”: Will man dieses Korsett aufbrechen, so bedarf es Skizzierte Umrisse lie- gründlich destabilisierender Ideenskizzen und Dar- Konkret ging es jedoch ebenso darum, dass sich gender Körper verändern stellungen – und ebenso eines neuen, im umfassen- die Teilnehmer – promovierte Wissenschaftle- Ein Workshop also, der gleich einer modernen sich durch fortdau- den Sinne zu verstehenden Vokabulars, um nicht rinnen und Wissenschaftler aus allen Fachge- Wunderkammer funktionieren sollte? „In jener Wie verschriftlicht man Tanz? Bewegung schreiben ernde oder zeitweilige etwa in der Sprache derer zu verharren, die bevor- bieten sowie Künstlerinnen und Künstler aller Woche wurde sofort die Aufgeschlossenheit der – das erste Projekt Bewegung während zugt in Kurven und Diagrammen argumentieren Disziplinen mit äquivalenter Berufspraxis – dar- Teilnehmer sichtbar und welchen Wert es für sie des Zeichnens. „Welche und deren Denken insofern Teil des Problems ist. über klarwerden sollten, wie sehr die Wahl der hatte, im Grunde zielfrei sondieren zu können“, Wissenschaftlich genähert hat man sich dem The- Überlagerungserschei- Methoden und Herangehensweisen meist auf ergänzt Wessler. Welche Ansätze, Ideen und Ver- ma Bewegung und im Besonderen dem Kulturgut nungen ergeben sich Mit dem Förderangebot „Arts and Science in Motion das eigene Gebiet beschränkt bleibt. Häufig wer- suchsmodellierungen daraus erwachsen sollten, Tanz bislang offenkundig kaum. Selten fündig beim Aufeinandertreffen – Wissenschaft und Kunst in Bewegung“ versucht de so zwangsläufig eine starre Grenze gezogen wie sich eine neue Ära über beide Gattungsgren- wird, wer nach choreografischen Aufzeichnungen verschiedener kultureller die Stiftung nicht zum ersten Mal, das Geronnene zwischen wissenschaftlichem Wissen und künst- zen hinweg justieren oder kartografieren lassen oder anderen Verschriftlichungen einzelner Ballet- Praktiken?“, fragt Pro- der über die Jahrhunderte eingefrorenen Bezie- lerischer Erkenntnis, sagt Workshop-Organisator könnte: Das wurde dann zuletzt im Herbst 2015 te sucht; in den Bibliotheken klaffen – anders als fessorin Isa Wortelkamp hung beider Welten wieder zu verflüssigen. Und so Professor Nik Haffner von der UdK Berlin. „Das in deutlich. Denn im Anschluss an den Workshop bei Musikpartituren – in Sachen Tanzgeschichte (zweites Foto von rechts). lud sie im Oktober 2014 gemeinsam mit der Uni- Bewegung zu bringen und in einen fruchtbaren erhielten die Teilnehmer Gelegenheit, Anträge auf große Lücken. Nur sporadisch ist eine Partitur mit versität der Künste (UdK) Berlin junge Künstler und Austausch münden zu lassen, birgt viel Potenzial.“ eine Anschubförderung zur Weiterentwicklung Choreografie, Bildern und Beschreibungen vorhan- Wissenschaftler ein, eine Woche lang auszuloten, Im Fokus stand bei dieser ersten Annäherung von gemeinsamer Ideen einzureichen. Zwölf Teams den. Das überrascht nicht, schließlich werden Tän- inwieweit sich die Grenzen der konventionellen Wissenschaft und Kunst das Thema „Bewegung“, stellten sich dem Wettbewerb um Fördermittel ze für eine bestimmte Aufführung choreografiert wissenschaftlichen und künstlerischen Forschung das die letztlich ausgewählten 29 unter 90 Bewer- und präsentierten ihre Projekte am Ende in bun- und primär nicht, um sie für die Nachwelt zu erhal- und Vermittlung verschieben lassen. „Ziel des bern aus unterschiedlichen wissenschaftlichen ten Mischungen aus wissenschaftlichen Vorträ- ten. Zudem gibt es kaum geeignete Analyseme- Workshops war es, Ideen für neue Projekte an und künstlerischen Perspektiven angehen sollten. gen und künstlerischen Elementen einer Jury, thoden noch ein „Vokabular“, mit dem sich Tanz in der Schnittstelle beider Sphären zu entwickeln“, Viele Teilnehmer aus dem Feld der Künste kamen deren Mitglieder sogar eine Anreise aus den USA seinen Facetten allgemeingültig beschreiben ließe. resümiert die verantwortliche Förderreferentin aus dem tänzerischen Bereich – nicht ganz ein oder Australien nicht gescheut hatten. In der Literatur, in der Architektur und auch in der Dr. Adelheid Wessler. Ideen, wie Wissenschaft und Zufallsbefund wohl, jedoch nicht intendiert. Musik können wir Stilformen und Details den ein- Kunst zum Beispiel ihr wechselseitiges Rahmenge- Nach angeregter Diskussion der Gutachterjury zelnen Epochen zuordnen und genau benennen; flecht bilden können, wie die Assoziationswelten Es zeigte sich, dass das Experiment gelang. Vor standen schließlich vier Projekte auf der Haben- bereits in der Schule lernt man, was ein Sonett ist, der Künstler etwa durch wissenschaftlichen O-Ton, allem die permanente und immer wieder neu sich seite, die allesamt in der ersten Jahreshälfte 2016 ein Roman, eine Novelle. Hingegen beim Tanz? Fundstücke aus Laboren oder auch historische austarierende und auszutarierende Gratwande- an Fahrt aufnahmen. Sie werden mit insgesamt Reminiszenzen ergänzt werden – oder wie anders- rung zwischen Wissenschaftsvermittlung, Kunst 700.000 Euro gefördert (Ende 2016 starteten zwei Will man über Choreografien reden oder die Kom- rum beispielsweise wissenschaftlicher Output und der Reflexion unterschiedlicher Wissensfor- weitere Vorhaben; sie sind kurz im Kasten auf Seite position von Bewegungen nachvollziehen, helfen künstlerische Grundierung erhält … men faszinierte. „Dabei ging es nicht in erster Linie 95 vorgestellt). Die erfolgreichen Projekte zeichnen Notationen und Skizzen oder vereinzelt Texte. Mit darum, schnell neue Ergebnisse und präsentierfä- sich insbesondere durch eine große Bandbreite den Möglichkeiten schriftlicher Aufzeichnung Wis- Die Stiftung schuf mit dem Workshop zunächst higes Wissen zur Hand zu haben; vielmehr standen wissenschaftlicher und künstlerischer Diszipli- sen über Tanz und Bewegung zu sichern und zu ver- den Rahmen, gemeinsam die kulturellen und die Offenheit und die Begegnung zwischen Perso- nen aufseiten der Projektbeteiligten aus. Und sie mitteln, stößt jedoch früher oder später an Grenzen. gesellschaftlichen Voraussetzungen unseres Wis- nen und ihren Ideen im Mittelpunkt, um andere nähern sich in teils ausgesprochen überraschenden Einer der Gründe: die zeitgleiche Mehrdimensiona- sens ebenso zu reflektieren wie zum Nachdenken Herangehensweisen kennenzulernen und intel- „Versuchsansätzen“ den beschriebenen Desiderata lität tänzerischer Handlungsabläufe und folglich die darüber anzuregen, inwieweit die Haltung man- lektuell neue Wege beschreiten zu können“, fasst und lassen die Gegenstände ihrer Projekte im Zuge nonverbalen, simultanen, nichtstatischen Prozesse cher Protagonisten wirklich trägt, als Basis unse- Dr. Henrike Hartmann zusammen. Sie ist seit Mitte von „Arts and Science in Motion – Wissenschaft und von Bewegungen, die im Moment ihrer Aufzeich- rer Lebenswelten eine reine wissenschaftliche 2015 Leiterin der Abteilung Förderung der Stiftung Kunst in Bewegung“ wissenschaftlich umformt nung als Worte oder in Form grafischer Aufberei- zu proklamieren und dies in Gedankengebäuden und hat gemeinsam mit Adelheid Wessler das Feld und unter Einsatz auch moderner Technik und Auf- tung auf die fixierende und sukzessive Form des wann und wo immer möglich festzuzurren. vorangetrieben und konturiert. führungspraktiken zu Wort kommen. Schreibens oder Zeichnens auf Papier treffen.

88 Impulse 2017 89 Hier knüpft das Projekt „Bewegung schreiben“ von Tanz und Wissenschaft bieten einander bei me plötzlich interagieren und dabei zu Zuständen schung zum Thema Entrainment in das Feld des Professorin Dr. Isa Wortelkamp von der Freien Uni- genauerer Betrachtung einige Foren. Interessant von Synchronisation und/oder rhythmischer zeitgenössischen Tanzes aus. Als Fallbeispiel dient versität Berlin und ihren sechs Teamkolleginnen ist, dass trotz des Mangels an wissenschaftlichen Koordination führen. In der Chronobiologie bei- William Forsythes Choreografie „Duo“: einerseits und -kollegen an. Sie interessiert beispielsweise, ob Erkenntnissen und „Formulierungsvermögen“ zum spielsweise kennt man es in Form der Synchroni- ein auf Planung basierendes, wechselnd synchro- sich die skizzierten Interferenzen, also die beobach- Sujet Tanz sich nun gerade die Kulturberichterstat- sation der inneren Uhr mit regelmäßig wieder- nes und asynchrones Zusammenspiel, anderer- teten Überlagerungserscheinungen beim Aufeinan- tung manchmal fast schon wissenschaftsnaher kehrenden „taktgebenden Umgebungsfaktoren“ seits eine Klang- und Bewegungsproduktion ohne dertreffen beider kultureller Praktiken, hinsichtlich Sprache und Argumente bedient beim Sezieren wie etwa dem Tag- und Nachtwechsel, Ebbe und externen Pulsgeber. Das Phänomen Entrainment ihres Potenzials nicht für ein „besseres“ Schreiben von Choreografien. Man denke da nicht zuletzt Flut, Temperatur oder auch sozialen Interaktionen. im Fall von „Duo“ bedeutet: eine beabsichtigte, über und von Bewegung nutzen lassen. Mehr noch: an die Documenta 13, die neben erwartbaren hörbare Einbeziehung der Atmung beziehungs- „Könnten nicht sogar vom Schreiben als Aufzeich- Kunstformaten auch modernen Tanz und andere Ein weiteres Beispiel aus einem anderen Feld weise des Atmens. Mit diesem „Rhythmusgeber“ nungs-, Kompositions-, Kommunikations- und Krea- Bewegungsformen prominent in Szene gesetzt und sind die Vielzahl im Normalfall sowohl „gleich- als „Klammer“ sollen nach Einschätzung der Pro- tionsmittel für Bewegungsprozesse neue Impulse später ausgiebig reflektiert sah: Tino Sehgals im berechtigt“ als auch zueinander arhythmisch, jektbeteiligten sich verschiedentlich aufeinander an und für den Tanz ausgehen?“, fragt Wortelkamp. Dämmerlicht singende Tänzer im Hinterhof eines also im jeweils eigenen Rhythmus pulsierenden beziehende kulturelle Praktiken wie Musik, Spra- Kasseler Hotels etwa, die ebenso gefeiert wurden neuronalen Netze im Gehirn, die sich bei der che, Handlung und Tanz in ihren wechselseitigen Ziel der insgesamt siebenköpfigen Forschergrup- wie William Kentridges tanzinspirierte Installation. Parkinson’schen Krankheit immer mehr zu einem Wirkungen in Bezug auf das Phänomen Entrain- pe ist es, zum einen bestehende Verfahren des Es erscheint fast als verkehrte Welt, dass gerade Rhythmus gleichschalten, was sich dann – so die ment betrachtet werden. „In der Bewegung“: „Schreibens“ von und über Bewegung in wissen- in der Sprache des Feuilletons hier und da zumin- dominierende Meinung – motorisch in dem typi- Von der unbewussten schaftlichen und künstlerischen Arbeitsprozessen dest angehaucht wissenschaftlich-strukturell bis schen Zittern zeigt. Hirnschrittmacher können Ziel ist es, ein interdisziplinäres Verständnis von zur gezielt eingesetz- zu sezieren. Zum anderen hoffen sie, dass sich formalistisch intoniert argumentiert wurde und diese Dominanz einzelner Zentren durchbrechen Entrainment zu erlangen – auch unter Berücksich- ten Bewegung, von daraus Modelle für neue Formen des „Schreibens“ weiterhin wird; wohingegen die Wissenschaft und wieder für die nötige „Unordnung“ sorgen. tigung von Visual Art und Computerprogrammie- der Schreib- über die entwickeln lassen. Dazu analysieren sie relevante selbst über ihr Sujet Tanz offenkundig dieses nicht Ausführlicher erforscht wurde Entrainment anson- rung sowie qualitativer methodischer Verfahren, Zeichenbewegung bis künstlerische und wissenschaftliche Arbeitspro- ausreichend zu leisten vermag. sten in der Physik, Musik, Kommunikation und von Notations- und Zeichnungstechnologien zum Fingerzeig oder der zesse und untersuchen im Besonderen Aufführun- bei motorischen Funktionen. Aktuell nähern sich sowie quantitativer, computergestützter Daten- Geste mit der Hand – gen und Choreografien, in denen das Verhältnis Forscher aus ganz unterschiedlichen – und immer analyse von zeitlichen und künstlerischen Pro- „Leben ist Bewegung, von Bewegung und Schreiben selbst zum Thema Gemeinsame Bewegung mit dem Atem als mehr – Bereichen dem Phänomen, das so verschie- zessen. Liz Waterhouse möchte mit ihrem Projekt doch wie lässt sich gemacht wird. In einer nachgelagerten Arbeits- Rhythmusgeber – das zweite Projekt dentlich in unserem Leben eine Rolle spielt. aber noch mehr erreichen: etwa eine Notation von Bewegung verschrift- phase wollen die Forscherinnen auf der Grundlage „Duo“; ferner neue Methoden, über Entrainment lichen?“, fragt auch die erster Erkenntnisse performative Schreibweisen Der Forschung bleiben mit Blick auf den Tanz reich- In dem Projekt „Motion Together“ nun dehnt das zu schreiben oder zu lehren; eine Website zum Tänzerin und Choreo- entwickeln, die im Optimalfall ein anderes, „ange- lich Betätigungsfelder. Stichwort: „Entrainment“. ehemalige Ensemblemitglied der Forsythe Com- Thema – sowie ein „Entrainment Environment“ grafin Liz (Elizabeth) messeneres“ Aufzeichnen künstlerischer Darstel- Allgemein versteht man darunter Prozesse, in pany Elizabeth Waterhouse gemeinsam mit acht als installative, öffentlich zugängliche Begeg- Waterhouse (zweites lungsformen wie Tanz zulassen. denen eigentlich unabhängige rhythmische Syste- Teamkolleginnen und -kollegen die bisherige For- nungsplattform vornehmlich für die Forschung. Foto von rechts).

90 Impulse 2017 91 „Bewegung analysieren“: Lassen sich also Schreibweisen entwickeln, die ein umfassendes Aufzeichnen künstlerischer Darstellungsformen wie Tanz zulassen? Nach einer Antwort sucht auch die Theaterwissen- schaftlerin Dr. Daniela Hahn (zweites Foto von links).

Das Trio tritt also an, die Welt begreifbarer zu machen, indem sie sie anders gestalten. Sie über- Die Tänzerin und ChoreografinLaurie Young treten hier ganz merklich Grenzen im Überschnei- und die Ethnologin Dr. Susanne Schmitt von dungsgebiet von Kunst und Wissenschaft. Und Das irgendwie veränderte Lebendige als Ausstel- der Ludwig-Maximilians-Universität München dafür sind sie schon länger ausgewiesen. Die in lungssujet? Hier wird das Trennende und das (inzwischen Rachel Carson Center for Environment Berlin lebende Tänzerin und Choreografin Laurie Angebunden ist das vielköpfige Projekt an das Verbindende der Genres deutlich: Wissenschaft and Society) fragen in dem Projekt „How to Not be Young produzierte im Jahr 2011 die viel beachtete Institut für Tanz- und Theaterwissenschaft der will die Welt erkennen und das Leben objektiv a Stuffed Animal“ danach, was es bedeutet, durch Tanzinstallation/Diorama „Natural Habitat“ zur Freien Universität Berlin im Umfeld der dort von erfassen und beschreiben und sachlich über „Bewegungen“ auf ungewohnte Weise von sol- Bedeutung des Klimawandels im Anthropozän Professorin Dr. Gabriele Brandstetter geleiteten Forschung berichten; Kunst reflektiert gänzlich chen in Museen ausgestellten Objekten berührt für das Naturkundemuseum der Bundeshaupt- Forschungsgruppe „Synchronisierung körperli- anders, subjektiv, und sie spricht den Betrachter zu werden. Über einen Zeitraum von insgesamt stadt. Ihre Expertise kontrastiert die Ethnologin cher Eigenzeiten und choreografische Ästhetik“. durch Ästhetik und Provokation an. Wissenschaft 14 Monaten besuchen sie gemeinsam mit Junior- Dr. Susanne Schmitt, die sich mit Mensch-Tier- will Leben erklären, Kunst will es inszenieren und professorin Dr. Anna Lipphardt vom Institut für Beziehungen beschäftigt: aktuell mit einem Forscher und Künstler treffen unter der Ägide ausstellen. Und doch lässt sich beides beinahe Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie Projekt zu Aquarien. In ihrem Buch „Ein Wissen- „Bewegung“ aber noch anders aufeinander. nahtlos zusammenfügen, wie das folgende von der Universität Freiburg sechs naturhistorische schaftsmuseum geht unter die Haut. Sensorische Schnell kann es dann um die ganz großen The- der Stiftung geförderte Vorhaben zeigt. Museen in Deutschland, Australien, Kanada und Ethnographie des Deutschen Hygiene-Museums“ men des Lebens gehen – eben das Leben und sein den USA. Dort schauen sie für jeweils drei bis vier blätterte sie viel beachtet das einzigartige Muse- Werden und Vergehen selbst. Speziell gezüchtete Wochen, inwieweit tote Körper uns zu berühren um als multisensorischen Arbeitsplatz auf. Albino-Goldfische waren es, die im vergangenen Menschen in und durch Museen bewegen mit vermögen. Sie interessiert: Wie können die von Jahr gleichsam als Kunstinstallation in den muse- choreografischen Mitteln – das dritte Projekt den musealen Artefakten – toten und präparier- Gespräche mit Ausstellungskuratoren und Taxi- alen Ausstellungsräumen der Schering-Stiftung ten Tieren – ausgelösten Empfindungen intensiv dermisten sowie historische Quellen und wei- schwammen. Ein Kunstwerk, das sich dauernd Zur Schau gestellte ausgestopfte Tiere: Das kennt in ein „partizipatorisches Ereignis“ münden? tere Fundstücke setzen sich bereits im Laufe des bewegt und doch seinen Ursprung nicht als sol- jeder von Museumsbesuchen. Es ist ein recht spe- Projekts zu Hörspaziergängen zusammen, die ches hat, sondern aus der Wissenschaft stammt. zieller Raum zwischen Kunst und Wissenschaft, In einem gemeinsamen Verständnis für das Kör- kostenlos heruntergeladen werden können und Der japanische Forscher Etsuro Yamaha hatte in der sich da auftut. Die sorgfältig bearbeiteten perliche und Konzeptuelle nähern sie sich ihrem sich auf Audioguides und MP3-Playern abspielen Fischembryonen sogenannte Morpholinos inji- Tierkörper besitzen ganz eigene ästhetische Qua- Sujet über Formen der Bewegung: unter anderem lassen. Durch choreografische Anreize und Hinter- ziert – zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Mit litäten; sie berühren uns auf vielfältige Weise und mit der Sprache des Tanzes, dessen choreografi- grunderzählungen sollen die Besucher zu einem ihrer Hilfe lassen sich jene Gene unterdrücken, haben künstlerische Bewegungen hervorgerufen. schen Mitteln und körperlichen Erfahrungen. Die neuen, anderen, frischen Blick auf die Tiere hinter die die Fortpflanzungsorgane ausbilden. Was dort Und: Sie sind Grundlage von Bildung – durch den Akteurinnen durchschreiten mit denjenigen, die Glas animiert werden. Eine Website und ein Künst- also schwamm, war nicht nur blass, sondern auch Tod lernen wir über das Leben. Eine dieser Künste, die toten Objekte in Augenschein nehmen, den lerbuch mit dem Namen „Living Room” dienen unfruchtbar. Tierkörper zu Studien-, Lehr- oder Dekorations- Museumsraum: seien sie nun Mitarbeiter oder als Dokumentationen des künstlerisch-wissen- zwecken haltbar zu machen, bezeichnet man als Besucher. Sie geben und erhoffen Impulse für die schaftlichen Prozesses. Parallel zur Forschung und Was für den Forscher Alltag und Arbeitsauftrag Taxidermie (griechisch für Gestaltung der Haut). Reanimierung dieses Ortes „als tierisches und als kreativen Tätigkeit findet mit Studierenden aus ist, sahen die britischen Künstler Revital Cohen Sie wird an Wirbeltieren vorgenommen und ist Besucherhabitat“. Wie kann unsere Art und Wei- den Seminaren von Professorin Anna Lipphardt und Tuur van Balen als Kunstwerk; Kostbarkeiten, damit ein Teilgebiet der Tierpräparation, die in se, über den und mit dem Körper zu denken – ob ein interdisziplinäres Lehrforschungsprojekt statt. denen sie den Titel „Sterile“ gaben und die sie Beziehung steht zur kunstvollen Tradition der menschlicher oder nichtmenschlicher Organis- Dabei soll reflektiert werden, welche Bewegungs- auszustellen erbaten. Der manipulierte Goldfisch Dioramen, den feinst gestalteten Schaukästen mus –, letztlich helfen, neue Bewegungsformen muster sich herauskristallisieren und welche Stra- als wissenschaftlich-kulturhistorisches Objekt? insbesondere in naturhistorischen Museen. zwischen Wissenschaft und Kunst zu kreieren? tegien, sich den Museumsraum „anzueignen”.

92 Impulse 2017 93 Das Projekt zeigt: Kunst und Wissenschaft haben Zusammenarbeit in ihren sozialen Dimensionen Auch jener ebenso spannende wie spannungs- Politikergesten und globale Fitnesswelle wohl allem Trennenden zum Trotz über die Zeit- das Potenzial haben für die Entwicklung utopi- voll-gelöste Abend zeigte, dass hier etwas „in läufte eine besondere Anziehung aufeinander scher Gegenentwürfe einer Arbeitsorganisation, Bewegung“ gekommen ist. Für die Volkswagen- Ende 2016 starteten zwei weitere Projekte zu „Arts and Science in ausgeübt. Heute ist die Ausgestaltung und Ausfor- die belastbar ruht auf einer dauerhaft tragfähigen Stiftung als wissenschaftsfördernder Einrich- Motion“. Kunst-, Kultur-, Medien- und Kommunikationswissen- mung zwangsläufig eine andere als vor Jahrhun- Solidarität. Wie stellt sich diese im Einzelnen dar? tung wird es interessant sein zu verfolgen, ob schaftler sowie Choreografen, Tänzer, Medien- und Lichtkünstler aus derten und Jahrzehnten, immer öfter jedenfalls Ein dreimonatiges Knowledge Lab dient anschlie- das Konzept aufgeht, ob sich die beiden Sphären Braunschweig, Leipzig, Berlin, Düsseldorf und Wien beschäftigen wenden sich Protagonisten beider Genres einander ßend der vergleichenden explorativen Analyse. überzeugend zusammenführen lassen, ob die sich künftig mit den Ausformungen und Veränderungen, denen wieder zu. Auch ihre Methoden ähneln sich im Eine zehntägige Reise von Berlin nach Fried- so verschiedenen Sinnsysteme Kunst und Wis- Gesten im Zeitalter sich rasant entwickelnder, weltumspannen- Kern: Sie recherchieren, experimentieren, analy- richshafen an die Zeppelin Universität bringt die senschaft zu neuen, in der Verschmelzung ganz der Medientechnologien unterliegen. Am Beispiel von Gesten, sieren …. Und so wie in der Kunst die Analyse, wird Ergebnisse dann zu den zuvor intensiv begleiteten eigenen Darstellungsweisen finden, ob die Inter- die typisch sind für Politiker, interessiert die Akteure etwa, wie die in der Wissenschaft die Visualisierung wichtiger, Organisationen. Dort werden die Künstlerinnen ferenzen beider Welten neue Potenziale eröffnen. jeweils andere Seite mit ihren Methoden, Ausdrucksmöglichkeiten allgemein die Aufbereitung und Darstellung wis- und Künstler ihre Vorstellungen in Bezug auf Und auch ein den beiden Systemen nicht so und Bewertungsverfahren diese wahrnimmt und charakterisiert. senschaftlicher Inhalte für ein nicht mehr ganz so utopische Gegenentwürfe von Arbeitskollektiven nahestehender Betrachter und Besucher wird wissenschaftsinternes Publikum. Beider Arbeits- positionieren und verhandeln. Mit einer erneuten und soll den Prozess verfolgen und an Erkennt- Auch das zweite neue Vorhaben adressiert ein „globales Thema“: weisen nähern sich also an: etwa in der Methodik, Dokumentationsphase endet das Projekt. nissen teilhaben können über ein Portal, das der- die überall boomende Fitnesswelle, die einhergeht mit einer stark im Handwerk. Das führt zum letzten jetzt von der zeit von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern steigenden Zahl an Sportstudios und sich täglich ausdifferenzie- Stiftung auf den Weg gebrachten Vorhaben. Seit Anfang 2016 nun laufen die vier von der Stif- entwickelt wird und 2017 online gehen soll. renden Trendsportarten. Damit nicht genug, entstehen in ihrem tung geförderten Vorhaben, Ende 2016 nahmen Sog ständig neue Ratgeber, Webseiten, Zeitschriften, Smartphone- zwei weitere an Fahrt auf (siehe Kasten rechts). Sicher scheint, dass die Möglichkeiten der sub- Applikationen. Zwei Choreografen und Bewegungskünstler aus Ber- „Bewegung diskutieren“: Wie könnte eine solidarische Arbeitsorganisation Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich jektiven und kreativen Seite der Kunst ebenso lin begeben sich jetzt mit zwei Kunst- und Kulturwissenschaftlern Und nun? Auch die Künst- unter Künstlern aussehen? – das vierte Projekt inzwischen gut vernetzt. „Wir stützen das und ver- wie die nach Objektivität strebende Systematik der Bauhaus-Universität Weimar und der Alice Salomon Hochschule lerin Sophia New (zweites sprechen uns davon auch, dass die Öffentlichkeit der Wissenschaft ein großes Maß gegenseitiger Berlin in einer ungewohnten Form ethnografischer Feldforschung Foto von rechts) interes- In ihren „Working Utopias“ besuchen Dr. Anke und andere Interessierte auf das Konzept aufmerk- Bereicherung bergen. „Wahrscheinlich wäre schon auf die Suche, jene Bewegungen und deren Spezifika an verschiede- siert, welche Erkenntnisse Strauß von der Europa-Universität Viadrina sam werden und ebenfalls Gedanken und Ideen in viel erreicht, durch Irritationen und Brechungen nen Punkten dieser Welt zu erfassen, zu beschreiben, zu analysieren. aus dem Workshop den in Frankfurt/Oder (inzwischen Wissenschafts- die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit zwi- neue Perspektiven zu eröffnen und Denkanstöße Prozess voranbringen. Als zentrum für Sozialforschung in Berlin) und die schen Künstlern und Wissenschaftlern einspeisen“, zu geben“, hofft Antje Tepperwien, die seit Anfang Die beiden Projekte werden mit insgesamt rund 340.000 Euro geför- Schlussbild rechts noch Berliner Choreografin und PerformerinChristina sagt Adelheid Wessler. Bereits im März 2016 konnte 2016 bei der VolkswagenStiftung den dazu über- dert. Einschließlich der vier im Haupttext vorgestellten, bewilligte einmal das gesamte Team Ciupke Organisationen von Künstlerinnen und man etliche der Geförderten in Hannover erleben geordneten Förderbereich leitet. Damit aus der die Stiftung alles in allem gut eine Million Euro in der nunmehr (vorn, dann von links nach Künstlern quer durch die Republik. Sie interessiert, beim internationalen Tanzkongress „Was bewegt unglücklichen oder doch merklich erkalteten Lie- beendeten Ausschreibung „Wissenschaft und Kunst in Bewegung“. rechts): Liz Waterhouse, wie sich Prozesse der Zusammenarbeit unter hoch den Menschen? – Ein Blick aus der Perspektive des be zwischen Wissenschaft und Kunst zumindest Daniela Hahn, Sophia individualisierten Bedingungen darstellen. 15 Tanzes“. Viele der Protagonistinnen waren hier in wieder ein heißer Flirt wird.  New, Juliane Laitzsch Monate lang eruieren sie bei vier Künstlerkollek- Podiumsdiskussionen eingebunden. und Isa Wortelkamp. tiven, ob die dort jeweils gelebten Entwürfe von

Impulse 2017 95 volkswagenstiftung.de

Sie suchen eine Förderung? Schneller zum Ziel Die Stiftung in Kürze Dann lassen Sie sich hier entweder alle Förder- angebote anzeigen, oder Sie wählen direkt die Unsere Website www.volkswagenstiftung.de Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemein- für Ihr jeweiliges Fachgebiet geeigneten Aus- präsentiert sich mit neuer Struktur und nützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. schreibungen aus. neuem Design. Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Mil- lionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche Was gibt es Neues? Die Stiftung hat ihren Internetauftritt einem wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten Unter „Aktuelles“ finden Sie Nachrichten aus „Facelift“ unterzogen. Die wichtigsten Ziele dabei: Stiftungen hierzulande überhaupt. In den 55 Jahren ihres der VolkswagenStiftung, zum Beispiel zu lau- Interessierte an einer Förderung schneller zu den Bestehens hat sie rund 32.000 Projekte mit insgesamt fenden Forschungsprojekten, neuen Ausschrei- für sie relevanten Informationen zu leiten und gut 4,7 Milliarden Euro gefördert. Auch gemessen daran bungen oder Publikationen. das Förderangebot als Ganzes übersichtlicher zu zählt sie zu den größten gemeinnützigen Stiftungen präsentieren. privaten Rechts in Deutschland. Eintritt frei! Besuchen Sie unsere Herrenhäuser Gesprä- Potenzielle Antragsteller zum Beispiel haben jetzt Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und che, Foren oder Konferenzen – zu Themen, die gleich auf der Startseite die Möglichkeit, direkt Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungs- unsere Gesellschaft bewegen. nach jenen Förderinitiativen zu suchen, die für ihr prozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt. Fachgebiet oder ihr Forschungsinteresse die richti- Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht Jetzt anmelden! gen, die passenden sind. um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien Unser E-Mail-Newsletter informiert Sie regel- sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen. mäßig über aktuelle Nachrichten und Veran- Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einer- staltungen. seits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förde- rung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro. Sie möchten sich um eine Förderung bewerben? Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersach- Dann finden Sie hier alle wichtigen Infos rund sen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der um die Antragstellung. Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“). Sie werden bereits von uns gefördert? Hier geht es zu allen wichtigen Informatio- Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung nen und Dokumenten für unsere Bewilli- Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre gungsempfänger und -empfängerinnen. und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende Sie wollen mehr über die Stiftung erfahren? Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bil- Unter „Wer wir sind und was wir fördern“ den den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im finden Sie Informationen rund um die Volks- Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots wagenStiftung und ihre Fördertätigkeit. Ebenfalls neu: Knapp und übersichtlich finden thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine sich die wichtigsten Daten und Fakten zu jeder begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür, Sie haben eine Veranstaltung verpasst? Ausschreibung auf der Seite der einzelnen Initia- dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. In unseren Wissenschafts-Podcasts „Listen- tive aufgelistet. Auf einen Blick zeigen sich dort ToScience“ und „ScienceUncut“ stellen wir Informationen etwa über die adressierten Fachge- Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wis- Ihnen Audio-Mitschnitte unserer Veranstal- biete, mögliche Fördersummen, angestrebte Pro- senschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen tungen zum Nachhören zur Verfügung. jektlaufzeiten oder eventuelle Zusatzleistungen. und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaft- Auch wer bereits von uns gefördert wird, gelangt licher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche Gefällt mir! mit seinen Fragen künftig ebenfalls schnell ans Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt Die VolkswagenStiftung finden Sie auch bei Ziel und findet über die Startseite unmittelbar desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und For- Facebook, Twitter und YouTube. Schauen Sie den Weg zu den relevanten Informationen oder schungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der doch mal vorbei! Formularen. Wie gewohnt stehen alle Funktionali- Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und täten auch einer mobilen Nutzung zur Verfügung. öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung.

96 Impulse 02_2016 97 Veranstaltungen Vorgestellt!

Januar 2017 Es war ein Zufall: In der Deutschen Botschaft in Mexico City stol- 10.1.-12.1. Fortbildungsreihe Zentrum für Wissenschaftsmanagement Speyer: „Professionals in Science“ perte Isabel Fannrich-Lautenschläger 1993 über das Vorlesungs- 12.1. Herrenhäuser Gespräch: „Europa – Phönix aus der Asche?“ verzeichnis der FU Berlin. Sie entschied, in Köln ein Semester Pause 23.1.-24.1. Statussymposium der Stiftung: „Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung“ einzulegen, zog nach Berlin – und blieb. Die gebürtige Madrilenin machte zwar mit Politikwissenschaften weiter, verlagerte aber Februar 2017 ihren Schwerpunkt von lateinamerikanischer auf deutsche Zeitge- 2.2.-3.2. Tagung „Sprachenförderung und -bildung als integraler Bestandteil innovativer Lehramts- schichte. Nach dem Studium folgte eine Ausbildung an der Evan- ausbildung“ gelischen Journalistenschule und dann – Pendeln zwischen Frank- 7.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „Eine Minute vor Mitternacht – Die Kuba-Krise 1962“ furt/Main und Berlin. In der Hessenmetropole wartete ein Job 9.2. Herrenhausen Late beim Evangelischen Pressedienst epd. Es folgten die Geburt von 13.2.-15.2. Fortbildungsreihe Zentrum für Wissenschaftsmanagement Speyer: „Professionals in Science“ Zwillingen, ein Wechsel zur taz NRW in Köln als Kulturredakteurin, 15.2. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Klimaschutz ade? Warum wir die Gesellschaft das dritte Kind – und seitdem Arbeit für den Deutschlandfunk endlich mobilisieren müssen“ und Printmedien. Und eben für die „Impulse“; in dieser Ausgabe 21.2. Leopoldina Lecture: „Genom-Chirurgie in der Humanmedizin: Gibt es bald die lang ersehnten schreibt sie über ein Projekt der Filmstadt Babelsberg. Nach wie Fortschritte in der Gentherapie?“ vor interessiert die 45-Jährige, wie sich die deutsche Geschichte 28.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „Abends schaut die Nation in die Röhre – Fernsehen des 20. Jahrhunderts auf die heutige Gesellschaft auswirkt. in der BRD und der DDR“

März 2017 Nach Abitur und erstem Ausbildungsjahr zum Fotografen an der Johannes-Gutenberg-Schule in Heidelberg studierte Felix Schmitt 2.3. Herrenhäuser Gespräch: „Vertrauen – unsere Sehnsucht nach Gewissheit“ von 2008 bis 2016 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie 15.3. Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Bürgerpflicht? Wer warum (nicht) wählt“ an der Hochschule Hannover. Während seines Studiums ver- 16.3.-17.3. Herrenhäuser Symposium: „Umbruch durch Migration? Ein Neustart für die Selbstreflektion wirklichte er Projekte unter anderem in Burkina Faso, Istanbul in Wissenschaft und Demokratie“ und Ostfriesland. Praxis- und Auslandssemester führten ihn als April 2017 Redaktionsfotograf zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zur Danish School of Media and Journalism in Aarhus. Das fotografi- 5.4. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Leben als Cyborg? Der technisch veränderte sche Interesse des 28-Jährigen gilt Menschen und den Geschich- Mensch“ ten und Erfahrungen, die sich auf ihren Gesichtern spiegeln. Seit 7.4.-8.4. Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch: „Standortentwicklung als Wett- 2015 lebt er als freier Fotograf in Frankfurt am Main und arbeitet bewerbsfaktor“ unter anderem für die FAZ, SZ, taz und den SPIEGEL. Felix Schmitt, Mai 2017 der im Magazin die Prinzhorn-Sammlung fotografiert hat, steht hier beim Fotografie-Festival Lumix in Hannover vor seiner Arbeit 5.5.-6.5. Niedersächsischer Forschungstag „Dear John“. Für diese Suche nach Identitäten und Sehnsüchten 8.5.-10.5. Herrenhäuser Symposium: „The Long End of the First World War – Ruptures, Continuities and von Menschen bereiste er den Mittleren Westen der USA. Memories” 10.5. Workshop „Neue digitale Informations- und Distributionsmedien in der Wissenschafts- kommunikation“ Die von der Stiftung geförderten Projekte zur „Forschung in 11.5. Herrenhäuser Gespräch: „Selbstentmündigung durch Bildung? Vom Nutzen und Nachteil Museen“ verbinden sich vor allem mit einem Namen: Dr. Adelheid digitalen Lernens“ Wessler (Zweite von rechts). Sie hat die Initiative über die Jahre 12.5.-13.5. Herrenhäuser Symposium: „Folgen militärischer Interventionen seit 1945 – Erfahrungen, betreut und weiterentwickelt. Am Ende stehen rund 160 Bewil- Erkenntnisse und Fragen“ ligungen über 30 Millionen Euro auf der Habenseite. Das kann 15.5.-17.5. Fortbildungsreihe Zentrum für Wissenschaftsmanagement Speyer: „Professionals in Science“ sich sehen lassen, findetDr. Antje Tepperwien (Zweite von links), 17.5. Herrenhausen Late die den Förderbereich „Personen und Strukturen“ leitet, zu dem 31.5.-2.6. Herrenhäuser Konferenz: „Society Through the Lens of the Digital” die Museumsforschungsinitiative gehört – und die immer wieder angetan war von der Vielfalt und Kreativität an Projektideen, die die Juni 2017 Stiftung erreichten. Und so bunt dieser Strauß war, so farbenfroh 12.6.-13.6. Herrenhäuser Symposium: „Museion 21“ ist die Museumslandschaft hierzulande. Das habe sie manches Mal 15.6. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „The Neonatale Window of Opportunity, Early zum Staunen gebracht, sagen Linda Delkeskamp (links) und Celina Priming for Life" Adrion (rechts), die mit zum „Förderteam Museumsforschung“ in 27.6. Herrenhäuser Gespräch: „Was ist eine gute Mutter?“ der Stiftung gehören. Etwas wehmütig sind sie alle, dass nun die 28.6.-30.6. Herrenhäuser Symposium: „’Workers of the World’: Global Labour in and after the Boom” Initiative beendet ist; mehr noch aber freuen sie sich auf die neuen 29.6.-30.6. Treffen der Dilthey-, Schumpeter-, Freigeist-Fellows und Lichtenberg-Professoren der Stiftung Akzente, die sie mit ihrer Fördertätigkeit setzen können. 98 Wir stiften Wissen

Impressum

Herausgeber VolkswagenStiftung Kastanienallee 35 30519 Hannover Telefon: +49 511 8381-0 Telefax: +49 511 8381-344 E-Mail: [email protected] www.volkswagenstiftung.de

Vertreten durch Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull

Redaktion (Text- und Schlussredaktion, Heftkonzept) Dr. Christian Jung (cj)

Bildredaktion Ina-Jasmin Kossatz

Kommunikation VolkswagenStiftung Jens Rehländer (Leitung)

Gestaltung Medienteam-Samieske, Hannover

Korrektorat Cornelia Groterjahn, Hannover

Druck gutenberg beuys feindruckerei gmbh Hans-Böckler-Str. 52 30851 Hannover/Langenhagen