Leben und sterben lassen – Die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung und Sterbehilfe in Deutschland

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Sozialwissenschaften (Dr. rer. soc.)

vorgelegt von Kerstin Nebel

an der Universität Konstanz Sektion Politik - Recht - Wirtschaft Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft

Tag der mündlichen Prüfung: 29. November 2016 1. Referent: Prof. Dr. Christoph Knill

2. Referent: Prof. Dr. Volker Schneider

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-0-376195

Meiner Familie, meinen Mädels und den Chérisy-Ganoven. Für das Schreiben einer Dissertation braucht es fachliche und emotionale Unterstützung. Danke, dass ich in diesen anstrengenden und aufregenden Zeiten auf euer Wissen, eure Geduld, euren Ansporn und die nötigen Auszeiten zählen konnte.

Was soll ich tun? Immanuel Kant (1787)

Zusammenfassung Die vorliegende Dissertation geht der Frage nach, welche Faktoren das Reformtempo bei Biomedizinpolitiken beeinflussen. Dazu werden die beiden Moralpolitiken Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung in Deutschland über den Zeitraum von 1990 bis 2014 untersucht. Während sich bei der embryonalen Stammzellforschung ein relativ hohes Re- gulierungstempo zeigt, verläuft die Regulierung der Sterbehilfe vergleichsweise schlep- pend. Den theoretischen Rahmen der Dissertation bilden der akteurzentrierte und der dis- kursive Institutionalismus. Diese neoinstitutionalistischen Ansätze werden durch die Theo- rie des durchbrochenen Gleichgewichts ergänzt, um die dynamische Komponente im Re- formtempo zu erfassen. Aus diesem Rahmen wird eine Reihe von Erwartungen abgeleitet und an zwei umfangreichen qualitativen Fallanalysen überprüft. Für die Analysen werden komparative, kongruenzanalytische Methoden und die Diskursnetzwerkanalyse verwendet. Die Ergebnisse zeigen, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, welche Einfluss auf das Re- gulierungstempo nehmen. Insbesondere die Erblast, die Problemperzeption, die Koalitio- nen und Konfliktfähigkeit von Interessensvertretungen sowie die Fähigkeit der politischen AkteurInnen, Einfluss auf das Framing des Entscheidungsprozesses zu nehmen und die rechtlichen Verfahrensmuster adäquat einzusetzen, entscheidet über die Reformgeschwin- digkeit. Wesentlich ist auch, ob ein Thema der Gruppe der latenten oder manifesten Mo- ralpolitiken zugeordnet werden kann und ob es vollständig der gesetzlichen Regulierung oder teilweise der Selbstregulierung durch nicht-staatliche AkteurInnen unterliegt. Zudem zeigt die Analyse, dass die Methodentriangulation die Erkenntnisse absichern und einen vertieften Einblick in die Bedeutung des Diskurses für den Politikwandel bieten kann.

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Inhaltsübersicht

1 Einleitung ______1 2 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation ______11 3 Forschungsfrage und Forschungsstand ______39 4 Theoretischer Rahmen ______59 5 Forschungsdesign ______101 6 Fallstudie I – Sterbehilfe ______121 7 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung ______221 8 Vergleich der Fallstudien I und II ______317 9 Fazit und Ausblick ______335 10 Literatur ______349 11 Anhang ______379

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ______1 2 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation ______11 2.1 Moralpolitiken – Eigenschaften und Typologisierungen ______11 2.1.1 Philosophische Grundlagen ______12 2.1.2 Eigenschaften von Moralpolitiken ______16 2.1.3 Verschiedene Typologisierungen von Moralpolitik ______21 2.2 Sterbehilfe______24 2.2.1 Formen der Sterbehilfe ______24 2.2.2 Moralspezifische Eigenschaften der Sterbehilfe ______27 2.3 Embryonale Stammzellforschung ______31 2.3.1 Typen von embryonalen Stammzellen und ihre Verwendung ______32 2.3.2 Moralspezifische Eigenschaften der embryonalen Stammzellforschung ______35 2.4 Zusammenfassung ______37 3 Forschungsfrage und Forschungsstand ______39 3.1 Forschungsfrage ______40 3.2 Forschungshistorie und Forschungsstränge ______41 3.3 Regulierung(stempo) als Gegenstand der Moralpolitikforschung ______45 3.4 Zusammenfassung ______57 4 Theoretischer Rahmen ______59 4.1 Die Grundlagen: Akteurzentrierter und diskursiver Institutionalismus ______60 4.1.1 Der akteurzentrierte Institutionalismus ______62 4.1.2 Der diskursive Neoinstitutionalismus und Framing ______66 4.1.3 Kritik und ergänzende Anmerkungen ______69 4.2 Wie Policy-Wandel entsteht: Die Theorie des durchbrochenen Gleichgewichts ______71 4.3 Reformtempo bei Biomedizinpolitiken – Erklärungsfaktoren und Erwartungen ______76 4.3.1 Agendasetzung______78 4.3.2 Entscheidungsfindung ______88 4.4 Zusammenfassung ______97 5 Forschungsdesign ______101 5.1 Der Untersuchungsgegenstand ______101 5.1.1 Most similar systems design ______102 5.1.2 Fallauswahl und Untersuchungszeitraum ______104 5.2 Dichte Einzelfallanalyse ______105 5.3 Diskursnetzwerkanalyse ______107 5.3.1 Analyseprogramme ______108 5.3.2 Datenaufbereitung ______109 5.4 Vergleich der Fallstudien ______111 5.5 Quellen und Auswertung ______111 5.6 Chancen und Grenzen qualitativer Studien ______118 6 Fallstudie I – Sterbehilfe ______121 6.1 Historisch-politische Erblast ______122 6.1.1 Historische Betrachtung ______122 6.1.2 Rechtliche Ausgangslage 1990 ______126 6.1.3 Zusammenfassung ______127 6.2 Externe Einflüsse ______128 6.2.1 Internationale Regulierungen ______128 6.2.2 Rechtliche Vorgaben in ausgewählten Staaten ______132 6.2.3 Zusammenfassung ______135 6.3 1990 – 1998: Wandel im Betreuungsrecht ______136 6.3.1 Dichte Einzelfallanalyse ______136 6.3.2 Diskursnetzwerkanalyse ______142 6.3.3 Zusammenfassung ______155 6.4 1999 – 2009: Auf dem Weg zur Patientenverfügung ______157 iv

6.4.1 Dichte Einzelfallanalyse ______157 6.4.2 Diskursnetzwerkanalyse ______172 6.4.3 Zusammenfassung ______184 6.5 2010 – 2014: Herausforderung organisierter assistierter Suizid ______185 6.5.1 Dichte Einzelfallanalyse ______185 6.5.2 Diskursnetzwerkanalyse ______192 6.5.3 Zusammenfassung ______203 6.6 Zusammenfassung und Abgleich mit Erwartungen ______204 6.6.1 Zusammenfassung ______204 6.6.2 Erkenntnisse ______210 7 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung ______221 7.1 Historisch-politische Erblast ______221 7.1.1 Historische Betrachtung ______222 7.1.2 Rechtliche Ausgangslage 1990 ______224 7.1.3 Zusammenfassung ______226 7.2 Externe Einflüsse ______227 7.2.1 Internationale Regulierungen ______227 7.2.2 Rechtliche Vorgaben in ausgewählten Staaten ______229 7.2.3 Zusammenfassung ______231 7.3 1990 – 2002: Vom Embryonenschutzgesetz zum Stammzellgesetz ______232 7.3.1 Dichte Einzelfallanalyse ______232 7.3.2 Diskursnetzwerkanalyse ______253 7.3.3 Zusammenfassung ______273 7.4 2002 – 2008: Vom Stammzellgesetz zur Stichtagsverschiebung ______275 7.4.1 Dichte Einzelfallanalyse ______275 7.4.2 Diskursnetzwerkanalyse ______288 7.4.3 Zusammenfassung ______301 7.5 2008 – 2014: Nach der Stichtagsverschiebung ______302 7.6 Zusammenfassung und Abgleich mit Erwartungen ______305 7.6.1 Zusammenfassung ______305 7.6.2 Erkenntnisse ______308 8 Vergleich der Fallstudien I und II ______317 8.1 Agendasetzung ______318 8.2 Entscheidungsfindung ______325 8.3 Zusammenfassung ______331 9 Fazit und Ausblick ______335 9.1 Zusammenfassung der Dissertation ______335 9.2 Grenzen der Studie und mögliche Anknüpfungspunkte ______342 9.3 Zukünftige Herausforderungen in der Biomedizinpolitik… ______344 9.4 … und mögliche Wege der politischen Handhabung ______346 10 Literatur ______349 11 Anhang ______379 11.1 Glossar ______379 11.2 Dokumentenrecherche ______383 11.3 Abkürzungen Staaten ______384 11.4 Abkürzungsverzeichnis______385 11.5 Weitere Analyseergebnisse Sterbehilfe ______387 11.6 Weitere Analyseergebnisse embryonale Stammzellforschung ______395 11.7 Zusammensetzung Familien ______397

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2.1: Biomedizinpolitik als Teilbereich der Moralpolitik ...... 15 Abbildung 2.2: Formen der freiwilligen Sterbehilfe ...... 25 Abbildung 2.3: Verfahren zur Herstellung von humanen Stammzellen ...... 32 Abbildung 4.1: Akteurzentrierter Institutionalismus ...... 63 Abbildung 4.2: Akteurzentrierter Institutionalismus und diskursiver Neoinstitutionalismus ...... 67 Abbildung 4.3: Theoriemodell ...... 77 Abbildung 6.1: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (1990 – 1998) ...... 142 Abbildung 6.2: Anzahl Forderungen (1990 – 1998) ...... 146 Abbildung 6.3: Begründungen gegen aktive Sterbehilfe (1990 – 1998, in Prozent) ...... 147 Abbildung 6.4: Begründungen für oder gegen passive Sterbehilfe (1990 – 1998, in Prozent) ...... 148 Abbildung 6.5: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (1990 – 1998, absolut) ...... 149 Abbildung 6.6: Anzahl Aussagen, Familien (1990 – 1998, absolut) ...... 150 Abbildung 6.7: Bezugsnetzwerk, komplett (1990 – 1998)...... 151 Abbildung 6.8: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (1990 – 1998) ...... 152 Abbildung 6.9: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (1990 – 1998) ...... 153 Abbildung 6.10: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (1990 – 1998) ...... 154 Abbildung 6.11: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (1990 – 1998) ...... 155 Abbildung 6.12: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (1999 – 2009) ...... 173 Abbildung 6.13: Anzahl Forderungen (1999 – 2009) ...... 174 Abbildung 6.14: Begründungen aktive Sterbehilfe (1999 – 2009, in Prozent) ...... 175 Abbildung 6.15: Begründungen ärztlich assistierter Suizid (1999 – 2009, in Prozent) ...... 176 Abbildung 6.16: Begründungen organisierter assistierter Suizid (1999 – 2009, in Prozent) ...... 176 Abbildung 6.17: Begründungen passive Sterbehilfe (1999 – 2009, in Prozent) ...... 177 Abbildung 6.18: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (1999 – 2009, absolut) ...... 178 Abbildung 6.19: Anzahl Aussagen, nach Familien (1999 – 2009, absolut) ...... 179 Abbildung 6.20: Bezugsnetzwerk, komplett (1999 – 2009) ...... 180 Abbildung 6.21: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (1999 – 2009) ...... 181 Abbildung 6.22: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (1999 – 2009) ...... 182 Abbildung 6.23: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (1999 – 2009) ...... 183 Abbildung 6.24: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (1999 – 2009) ...... 183 Abbildung 6.25: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (2009 – 2014) ...... 192 Abbildung 6.26: Anzahl Forderungen (2010 – 2014) ...... 194 Abbildung 6.27: Begründungen aktive Sterbehilfe (2010 – 2014, in Prozent) ...... 195 Abbildung 6.28: Begründungen passive Sterbehilfe (2010 – 2014, in Prozent) ...... 195 Abbildung 6.29: Begründungen ärztlich assistierter Suizid (2010 – 2014, in Prozent) ...... 195 Abbildung 6.30: Begründungen organisierter assistierter Suizid (2010 – 2014, in Prozent) ...... 196 Abbildung 6.31: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (2010 – 2014) ...... 196 Abbildung 6.32: Anzahl Aussagen, nach Familien (2010 – 2014) ...... 198 Abbildung 6.33: Bezugsnetzwerk, komplett (2010 – 2014) ...... 199 vi

Abbildung 6.34: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (2010 – 2014) ...... 200 Abbildung 6.35: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (2010 – 2014) ...... 201 Abbildung 6.36: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (2010 – 2014) ...... 202 Abbildung 6.37: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (2010 – 2014) ...... 203 Abbildung 6.38: Bezugsnetzwerke, 1990 – 2014 ...... 209 Abbildung 7.1: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 254 Abbildung 7.2: Anzahl Aussagen zur Stammzellforschung (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 256 Abbildung 7.3: Anzahl Forderungen und Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 259 Abbildung 7.4: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 263 Abbildung 7.5: Anzahl Aussagen, nach Familien (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 265 Abbildung 7.6: Bezugsnetzwerk, komplett (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 266 Abbildung 7.7: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 268 Abbildung 7.8: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 269 Abbildung 7.9: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 270 Abbildung 7.10: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 271 Abbildung 7.11: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 272 Abbildung 7.12: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 273 Abbildung 7.13: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 289 Abbildung 7.14: Anzahl Aussagen zur Stammzellforschung (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 289 Abbildung 7.15: Anzahl Aussagen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 291 Abbildung 7.16: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (26.07.2006 – 11.04.2008, absolut) ...... 293 Abbildung 7.17: Anzahl Aussagen, nach Familien (26.07.2006 – 11.04.2008, absolut) ...... 294 Abbildung 7.18: Bezugsnetzwerk, komplett (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 295 Abbildung 7.19: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Forderungen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 296 Abbildung 7.20: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Forderungen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 297 Abbildung 7.21: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Begründungen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 298 Abbildung 7.22: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Begründungen (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 299 Abbildung 7.23: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 300 Abbildung 7.24: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 301 Abbildung 7.25: Zeitungsartikel (01.05.2008 – 31.12.2014, absolut) ...... 305 Abbildung 7.26: Bezugsnetzwerke, gesamter Zeitraum ...... 308

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 4.1: Erwartungen bezüglich der Biomedizinpolitiken ...... 98 Tabelle 5.1: Erwartungen und Quellen ...... 117 Tabelle 6.1: Europäischer Regulierungstrend (1960 – 2010) ...... 132 Tabelle 6.2: Aussagekategorien, Forderungen (1990 – 2014) ...... 143 Tabelle 6.3: Aussagekategorien, Begründungen (1990 – 2014) ...... 144 Tabelle 7.1: Europäischer Regulierungstrend (1995 – 2013) ...... 231 Tabelle 7.2: Aussagekategorien, Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 257 Tabelle 7.3: Aussagekategorien, Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 258 Tabelle 7.4: Aussagekategorien, zusätzlich (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 290 Tabelle 8.1: Erkenntnisse bzgl. der aufgestellten Erwartungen der Agendasetzung ...... 332 Tabelle 8.2: Erkenntnisse bzgl. der aufgestellten Erwartungen der Politikentscheidung ...... 333 Tabelle 11.1: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (1990 – 1998) ...... 387 Tabelle 11.2: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (1999 – 2009) ...... 388 Tabelle 11.3: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (2010 – 2014) ...... 389 Tabelle 11.4: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (1990 – 1998) ...... 390 Tabelle 11.5: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (1990 – 1998) ...... 390 Tabelle 11.6: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (1999 – 2009) ...... 391 Tabelle 11.7: Begründung für Haltung zum ärztlich assistierten Suizid (1999 – 2009) ...... 391 Tabelle 11.8: Begründung für Haltung zum organisierten assistierten Suizid (1999 – 2009)...... 392 Tabelle 11.9: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (1999 – 2009) ...... 392 Tabelle 11.10: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (2010 – 2014) ...... 393 Tabelle 11.11: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (2010 – 2014) ...... 393 Tabelle 11.12: Begründung für Haltung zum ärztlich assistierten Suizid (2010 – 2014) ...... 393 Tabelle 11.13: Begründung für Haltung zum organisierten assistierten Suizid (2010 – 2014) ...... 394 Tabelle 11.14: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (01.02.2000 – 30.01.2002) ...... 395 Tabelle 11.15: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeit und Haltung (26.07.2006 – 11.04.2008) ...... 396

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1 Einleitung

„Über seine leiblich-seelische Integrität bestimmen zu können, gehört zum ureigenen Be- reich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist man aus der Sicht des Grundge- setzes frei, seine Maßstäbe zu wählen, nach ihnen zu leben, nach ihnen zu entscheiden. Der Einzelne hat ein Recht auf Leben, aber nicht die Pflicht zu leben.“ So äußerte sich Joachim Stünker (SPD) in der Bundestagsdebatte zur Einführung der Patientenverfügung 2008. 1 Er plädierte dafür, mit der verbindlichen Patientenverfügung Rechtssicherheit zu schaffen. Die bestehende Unsicherheit sei nicht nur für Menschen am Lebensende, sondern auch für die behandelnden ÄrztInnen 2 untragbar.3 Sein Parteikollege Christoph Strässer bezog sich in seiner Rede unter anderem auf die lange Zeit, die es gebraucht habe, in diesem Politik- feld zu einer Regulierung zu kommen: „Dieser Tag könnte ein guter Tag werden (…) für Millionen von Menschen, von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land, die darauf war- ten, dass wir – ich sage es einmal etwas platt – endlich zu Potte kommen in diesem Hohen Hause.“ Die Debatte und anschließende Abstimmung markierten den Endpunkt eines lan- gen gesellschaftlichen und schließlich politischen Prozesses zur Stärkung der Patientenau- tonomie am Lebensende. In diesem Rahmen wurden von den Abgeordneten die alltägli- chen Konflikte angesprochen, die bis dato aus der mangelnden gesetzlichen Regulierung resultierten: BewohnerInnen von Alters- und Pflegeheimen wurden durch medizinische Maßnahmen am Leben gehalten, weil ihr Wunsch bezüglich einer Lebenserhaltung oder eines Behandlungsabbruchs nicht festgehalten worden war, als sie noch äußerungsfähig waren. Hinzu kam die Unsicherheit des Pflegepersonals und der ÄrztInnen, welche medi- zinischen Maßnahmen sie auf expliziten oder impliziten Wunsch der PatientInnen unterlas-

1 BT PlPr. 16/172, 26.06.2008, S. 18261. 2 Im Sinne der Gleichstellung wird die gendergerechte Schreibweise angewendet. Üblicherweise wird dazu auch das Binnen-I verwendet (zum Beispiel „BürgerInnen“). 3 BT PlPr. 16/172, 26.06.2008, S. 18261. 1 Kapitel 1 sen durften, ohne sich der unterlassenen Hilfeleistung oder gar der aktiven Sterbehilfe strafbar zu machen. Die Politik hatte in der Vergangenheit vor allem der Justiz und der Ärzteschaft die Bestimmung von Grenzen der Sterbehilfe überlassen. Der deutsche Gesetzgeber tut sich seit Jahrzehnten schwer, das Thema Sterbehilfe überhaupt auf die politische Agenda zu setzen und eine Regulierung vorzunehmen, obwohl Rechtsunsicherheit und wegweisende Gerichtsentscheide ein Handeln der Legislative angezeigt erscheinen lassen. Mehrere An- läufe zur Politikentscheidung scheiterten, weil der Konflikt zwischen den BefürworterIn- nen und GegnerInnen der Sterbehilfe nicht gelöst werden konnte. Allen voran wurden beim assistierten Suizid ähnliche Debatten geführt, Reformen aber immer wieder abgelehnt oder die Entscheidung darüber verschoben.4 2009 gelang zumindest mit der Einführung der Patientenverfügung die Konkretisierung der passiven Sterbehilfe.5 Hingegen erfuhr ein weiteres biomedizinisches Thema, bei dem es ebenfalls um die Frage von Leben und Sterben geht, in Deutschland eine gänzlich andere gesetzliche Hand- habung: Die embryonale Stammzellforschung ist ein relativ junges Thema, denn sie wurde erst 1998 mit der Kultivierung von Stammzellen im Labor ermöglicht. Bereits rund vier Jahre nach dieser Entwicklung und weniger als ein Jahr nach der erstmaligen Behandlung der Frage im Plenum des Bundestages wurde das Stammzellgesetz verabschiedet. Dieses erlaubt den Import von embryonalen Stammzellen, die vor einem Stichtag im Ausland her- gestellt worden waren, und deren Erforschung unter definierten Bedingungen. Eine Her- stellung von Stammzelllinien ist in Deutschland verboten.6 Im Vorfeld hatte es heftige Kontroversen darüber gegeben, ob man die Forschung mit menschlichen Embryonen er- lauben und damit deren Entwicklung beenden sollte und ob dem Embryo in diesem frühen Stadium bereits der Rang menschlichen Lebens und somit Menschenwürde zukommt. „[D]ie Tötung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen kann durchaus als die früheste Form der Tötung eines Menschen zur Gewinnung von Organen empfunden wer- den (…)“, argumentierte Wolfgang Wodarg (SPD) in der Bundestagsdebatte 2002.7 Be- fürworterInnen der Forschung bezweifelten hingegen, dass der Zellverband im Frühstadi- um „bereits ein würdefähiger Mensch ist“ und betonten die „Ethik des Heilens“, nach der man „das Vorankommen der Forschung auf medizinisch-therapeutischem Feld“ sicherstel-

4 Zum Beispiel der Beschlussantrag der FDP-Fraktion „Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von nichteinwilli- gungsfähigen Patienten stärken“ (BT Drs. 15/3505, 30.06.2004); Anträge im Bundesrat zum Verbot des gewerblich organisierten assistierten Suizids (u. a. BR Drs. 230/6, 27.03.2006; BR Drs. 515/12, 31.08.2012). 5 Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (3. BtÄndG), BGBl. I/48, 31.07.2009, S. 2286-2287. 6 Stammzellgesetz (StZG), BGBl. I/42, 29.06.2002, S. 2277-2280. 7 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21203. 2 Einleitung len müsse, um schwere Krankheiten heilen zu können (Edzard Schmidt-Jortzig, FDP).8 Angesichts der grundlegenden Kontroverse war die Einigung von 2002 auf eine gesetzli- che Regulierung erstaunlich. 2008 beschloss der eine Verschiebung des Stich- tages, um den ForscherInnen die Arbeit an jüngeren und qualitativ hochwertigeren Stamm- zelllinien zu ermöglichen.9 Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich anhand der beiden Moralpolitiken Ster- behilfe und embryonale Stammzellforschung mit der Frage, wie es in Deutschland zu ei- nem solch unterschiedlichen Regulierungstempo von biomedizinischen Politiken kommen kann. Weshalb kam der Gesetzgeber im Fall der embryonalen Stammzellforschung relativ zügig zu einer politischen Entscheidung, während er bei der Sterbehilfe nur teilweise und nach jahrzehntelangen Debatten eine Entscheidung fällte?

Moralpolitiken und ihre staatliche Regulierung Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung sind biomedizinische Themen und gehö- ren zur Gruppe der Moralpolitiken. Diese berühren grundlegende Wertevorstellungen über richtiges und falsches Handeln und lösen daher häufig kontroverse Debatten aus. Ihnen gemeinsam ist der Wertekonflikt zwischen individueller Gewissens- und Entscheidungs- freiheit und einem kohärenten gesellschaftlichen Normenkonsens. Es geht um den Wert des Lebens und das Gleichgewicht von individueller Selbstbestimmung und der Befolgung gesellschaftlicher Schutznormen. Zur Gruppe der Moralpolitiken werden unter anderem auch die Regulierung von Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, Prostitution, Dro- gen, Glücksspiel und Waffenbesitz gezählt (Knill et al. 2015d; Meier 1994; Mooney 2001a; Mooney und Schuldt 2008; Studlar 2001; Tatalovich und Daynes 1988a; Tatalovich und Smith 2001). Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung haben hinsichtlich der ethischen Überlegungen eine große Schnittmenge: Wo beginnt und endet Leben? Wer darf über die Beendigung des eigenen oder fremden Lebens entscheiden – der Staat, die Ge- meinschaft oder das Individuum? Gibt es hier Abwägungskriterien oder nur absolute Ge- bote bzw. Verbote? Darf der Staat überhaupt in persönliche Lebensentscheidungen der Menschen eingreifen? In den Diskussionen wird daher häufig über die Definition und Reichweite der sogenannten „Menschenwürde“ debattiert.10 Im Bereich der Biomedizin gab es in den letzten Jahrzehnten umfangreiche For- schungserfolge. Es wurden zum Beispiel neue Möglichkeiten geschaffen, den Verlauf von

8 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21211. 9 BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16315-16317. 10 „Menschenwürde meint, daß der Mensch und sein Leben den höchsten Schutz besitzen und daß seine Entfaltung und Freiheit im Mittelpunkt staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu stehen habe“ (Schreiber 2003, S. 365). Das Grundgesetz schützt die Menschenwürde direkt in Art. 1 und indirekt in den folgenden Artikeln. 3 Kapitel 1 tödlichen Krankheiten und den Sterbeprozess zu verzögern. Die Forschung an Embryonen hat die Kultivierung von embryonalen Stammzelllinien im Labor ermöglicht. Diese Ent- wicklungen haben den Gesetzgeber zur (Neu-)Regelung biomedizinischer Politiken aufge- fordert. Durch die Konflikthaftigkeit der Moralpolitiken sind die Kontroversen besonders intensiv und eine Kompromissfindung gestaltet sich schwierig, da ein klassisches Verhan- deln mit Ausgleichsleistungen nicht möglich scheint. Daher ist eine Regulierung extrem schwer und findet in unüblichen Mustern statt. Zum Beispiel zeigen sich offene Uneinig- keiten innerhalb der Parteien und Regierungskoalitionen, und Abstimmungen werden ohne Fraktionsdisziplin durchgeführt. Mit den politischen Entscheidungen nimmt der Gesetzge- ber und damit letztendlich der Staat eine Werteabwägung vor. Die Kontroversen werden nicht ausschließlich in der politischen Arena ausgetragen. Vielmehr sind die Öffentlichkeit und Interessenorganisationen wie Kirchen, Ärzteschaft oder Forschende intensiv und mit konträren Ansichten beteiligt. Entsprechend versuchen diese Gruppen, Einfluss auf die politischen Entscheidungen zu nehmen, sei es über den öffentlichen Diskurs oder über den Kontakt zu den politischen EntscheidungsträgerInnen. In beiden Fällen hängt der Einfluss stark von der Fähigkeit ab, den öffentlichen Diskurs zu gestalten, aber auch von anderen Faktoren wie der Größe der Organisationen und ihrer Vernetzung in die Politik.

Forschungsstand und Forschungslücke Die Analysen der Regulierung der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung als biomedizinische Typen von Moralpolitiken innerhalb der Policy-Analyse sind noch relativ jung und fanden bisher meist im Rahmen länderspezifischer Einzelfallstudien statt (vgl. u. a. Frenkel 2000; Griffiths et al. 2008; Große-Vehne 2005; Nebel 2015; Pakes 2005). In jüngerer Zeit gibt es auch vermehrt vergleichende und vereinzelte quantitative Studien (vgl. u. a. Banchoff 2005; Engeli und Rothmayr Allison 2013; Gottweis 2002; Green-Pedersen 2007; Preidel und Knill 2015; Scherer und Simon 1999; Verbakel und Jaspers 2010), wobei mitunter ein rechtswissenschaftlicher Schwerpunkt gewählt wird (vgl. u. a. Khorrami 2003; Patel 2004). Die politikwissenschaftliche Literatur ist zur Regu- lierung der Sterbehilfe wesentlich weniger umfangreich als zur embryonalen Stammzell- forschung, da sich in ersterem Feld in vielen Ländern deutlich weniger legislative Aktivitä- ten zeigen. Eine Nicht-Regulierung bzw. zögerliche Teilregulierung wird selten in Augen- schein genommen, wobei gerade diese Art der Regulierung die Mehrzahl der Fälle aus- macht.

4 Einleitung

In der Literatur zu biomedizinischen Moralpolitiken wird hauptsächlich der Frage nachgegangen, welche Faktoren eine Regulierung oder Nicht-Regulierung bedingen bzw. was zu unterschiedlich weitreichenden Liberalisierungen und Restriktivierungen bei Mo- ralpolitiken führt (vgl. u. a. Engeli et al. 2012, 2013; Banchoff 2005; Euchner et al. 2013; Fink 2008b; Gindulis 2001; Gottweis 2002; Green-Pedersen 2007; Knill et al. 2015c). Es wird häufig davon ausgegangen, dass historische und institutionelle und kulturelle Fakto- ren eine wesentliche Rolle bei der Regulierung von biomedizinischen Politiken spielen (Fink 2008a, 2008b, 2009; Gottweis 2002; Minkenberg 2003; Nebel 2015; Preidel und Nebel 2015; Engeli 2009; Engeli und Rothmayr Allison 2013). Erst jüngst wird die Frage nach dem Reformtempo aufgeworfen, insgesamt ist die Kenntnislage dazu noch gering (Knill et al. 2014a). Dabei gründet der Unterschied in der Regulierung von Moralpolitiken in vielen Staaten nicht darin, dass sich eine Gruppe von Staaten in jüngster Zeit für eine Restriktivierung und eine andere Gruppe für eine Liberalisierung entschieden hätte. Viel- mehr zeigt sich in den meisten westlichen Industriestaaten eine Tendenz zur Liberalisie- rung, die jedoch in einem sehr unterschiedlichen Tempo erfolgt (Knill et al. 2015c). Dieser Geschwindigkeitsunterschied zeigt sich dabei sowohl im Politik- wie auch Länderver- gleich.

Ziel der Studie Die Dissertation möchte zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen, indem sie ein- zelfallbezogen mögliche theoretische Erklärungen und daraus abgeleitete Erwartungen überprüft. Dazu soll die von Easton (1965) als „Black Box“ bezeichneten politischen Aus- handlungsarena unter Einbezug der gesellschaftlichen AkteurInnen und ihrer Interaktion geöffnet werden. Damit wird auch eine Mesofundierung des Policy-Wandels vorgenom- men. Mit der Verwendung des akteurzentrierten Institutionalismus von Mayntz und Scharpf (1995a, 1995b) lassen sich die Interessen der AkteurInnen und die Institutionen, innerhalb derer sie agieren, gut verknüpfen. Die Studie will überprüfen, ob auf dieser Basis das Reformtempo gut erklärt werden kann, wenn Fallstudien im Sinne des diskursiven In- stitutionalismus (Schmidt 2008, 2010b, 2010a; Schmidt und Radaelli 2004) mit Diskurs- netzwerken ergänzt werden. Gerade bei moralisch umstrittenen Politiken treten sonst übli- che Verfahrensmuster der Politik, wie beispielsweise die Fraktionsdisziplin, in den Hinter- grund (Heichel und Knill 2013; Knill et al. 2015c). Entsprechend bedeutender werden die diskursiven Auseinandersetzungen und das Framing11 der Politik für den Ausgang und das

11 Als Framing bezeichnet man in der Policy-Forschung die „Benennung und Umbenennung von Themenkatalo- gen, Zielgruppen und Politikgegenständen (…)“ (Schneider und Janning 2006, S. 99). 5 Kapitel 1

Tempo der Regulierung. Mit diesem Vorgehen soll schließlich die Frage nach den Ursa- chen für das unterschiedliche Reformtempo bei biomedizinischen Moralpolitiken beant- wortet werden.

Fallauswahl und Forschungsdesign Die Auswahl der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung in Deutschland als Forschungsgegenstand liegt darin begründet, dass die Regulierungsgeschichte unterschied- lich verläuft. Zudem lassen sich mögliche Erklärungsfaktoren unter Konstanthaltung vieler äußerer institutioneller, politischer und kultureller Rahmenbedingungen einfacher identifi- zieren als im internationalen Vergleich. Dem Phänomen des unterschiedlichen Regulierungstempos wird mittels dichter Ein- zelfallbeschreibungen, Diskursnetzwerkanalysen und der vergleichenden Fallanalyse auf den Grund gegangen. Mit diesen Methoden können die formulierten Erwartungen über- prüft werden. Sie gewähren wichtige Einblicke in die Positionierung der beteiligten Akteu- rInnen bezüglich der beiden Politiken und decken Koalitionen und konkurrierende Grup- pen in der politischen Arena auf. Die Diskursnetzwerkanalyse ergänzt, überprüft und er- weitert die beiden dichten Fallbeschreibungen. Das Ziel ist es, Positionen und Argumenta- tionen der am öffentlichen Diskurs und an den politischen Entscheidungen beteiligten Ak- teurInnen herauszuarbeiten. Das Forschungsdesign ist sowohl deduktiv als auch explorativ angelegt. Der Unter- suchungszeitraum reicht von 1990 – 2014. Den Startzeitpunkt markiert die Wiedervereini- gung Deutschlands und damit verbunden ist der Anspruch, sowohl die westdeutschen wie ostdeutschen Landesteile in die Untersuchung miteinzubeziehen. Zudem gibt es direkt auf die Erforschung des Embryos bezogene Gesetze erst seit 1990, was den Untersuchungs- zeitraum aus Gründen der Vergleichbarkeit historisch begrenzt. Drittens kam in die Dis- kussion über die Sterbehilfe seit den 1990er Jahren Bewegung, was zum einen zur indirek- ten Regulierung der passiven Sterbehilfe führte und sich zum anderen bis zu den aktuellen Diskussionen über den assistierten Suizid erstreckt.

Gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz „Experimentieren mit Embryonen?“; „Britische Entscheidung ein ethischer Dammbruch“; „Richter erleichtern Sterbehilfe“, „Drei Jahre Haft für Sterbehelfer“:12 Belege für die Ak- tualität biomedizinischer Themen finden sich in den letzten Jahren immer wieder auf den Titelseiten der Zeitungen: Die gesetzliche Erlaubnis des Embryonenimports, Liberalisie-

12 FAZ, 27.05.2000, S. 1; FAZ, 21.12.2000, S. 1; SZ, 26.06.2010, S. 1; SZ, 02.07.2008, S. 1. 6 Einleitung rungen in anderen Staaten, Gerichtsurteile oder die Diskussion über das Verbot des organi- sierten assistierten Suizids sind nur vier Beispiele. Sie zeigen, dass diese Themen oft von großer medialer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgt werden. Dabei entspinnen sich häufig Diskussionen darüber, ob alles erlaubt sein sollte, was medizinisch möglich ist, oder wo Grenzen gezogen werden sollten. „[D]as Zeitalter biotechnologischer und medizi- nischer Innovationen hat erst begonnen, und es ist von einem enormen Fortschritt in ver- schiedenen für bioethische Diskurse relevanten Bereichen in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten auszugehen (…)“ (Eissa und Sorgner 2011, S. 21). Die AutorInnen ge- hen daher davon aus, dass die Intensität der Diskussionen und die Relevanz der Bioethik in der Zukunft noch weiter steigen dürften (Eissa und Sorgner 2011, S. 21). Die Legislative überlässt seit Jahrzehnten die Entscheidung über das Richtig und Falsch in weiten Teilen der Sterbehilfe den Gerichten und der Ärzteschaft. Dieses Vorge- hen ist nicht nur interessant, weil es im Gegensatz zu vielen anderen Politikbereichen steht, in denen eine zunehmende staatliche Regulierung stattfindet. Bei der embryonalen Stamm- zellforschung kam es hingegen zu einer raschen und umfassenden Regulierung. Zudem handelte der Gesetzgeber in beiden Fällen in der Tendenz gegen die Einstellung der Be- völkerung: In Sachen Sterbehilfe wünschten sich viele Menschen eine liberalere Regulie- rung,13 die embryonale Stammzellforschung lehnten sie hingegen mehrheitlich ab.14 Poli- tikentscheidungen stellen damit auch eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Frieden dar, insbesondere dann, wenn die Gesellschaft in den Fragen polarisiert oder eben mehrheitlich gegen den Politikentscheid ist. Was macht eine Analyse der Biomedizinpolitik in Deutschland aus wissenschaftli- cher Sicht interessant? Angesichts zahlreicher identischer Voraussetzungen in institutionel- ler, kultureller und historischer Hinsicht hätte man aus moralpolitischer Sichtweise einen ähnlichen Regulierungsstil bei der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung erwarten können. Dies war jedoch nicht der Fall. Zudem können die hier gewonnenen Er- kenntnisse als Basis für zukünftige Untersuchungen des Regulierungstempos weiterer Mo- ralpolitiken herangezogen werden. Wie der Überblick über die bisherige Forschung gezeigt hat, ist die Frage nach den Erklärungsfaktoren für das Regulierungstempo noch kaum aufgegriffen und beantwortet worden (siehe allerdings Knill et al. 2014a). Durch das unterschiedliche Reformtempo bei der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung lässt sich ein Teil dieser Fakto- ren im innerdeutschen Vergleich identifizieren. Interessant ist dieser Vergleich auch, weil

13 Siehe z. B. ALLBUS 1980-2012: Variable Report, Codebuch, S. 1063, 1076, https://dbk.gesis.org/DBKSearch/download.asp?db=D&id=56577 (abgerufen am 15.11.2015). 14 Siehe European Values Study 1999 (GESIS 2013). 7 Kapitel 1

übliche Muster bei der Regulierung durchbrochen wurden. So könnte man beispielsweise annehmen, dass die katholisch und die evangelische Kirche in beiden Fällen erfolgreich gegen eine Regulierung lobbyieren konnten. Tatsächlich zeigt sich jedoch, dass sie trotz intensiver Bemühungen nicht einmal ihren klassischen politischen Verbündeten, die CDU/CSU-Fraktion, geschlossen von einer zügigen Reform der embryonalen Stammzell- forschung abhalten konnte. In der Sterbehilfe war sie allerdings erfolgreicher, was die Durchsetzung ihrer Präferenzen betraf. Zweitens könnte man annehmen, dass gerade unter der rot-grünen Koalition 1998 – 2005 eine Lockerung der strengen Regulierung der Ster- behilfe vorgenommen worden wäre. Gesetzesänderungen gingen jedoch, wenn überhaupt, während der großen und der christlich-liberalen Koalition vonstatten.

Zentrale Erkenntnisse Die Problemperzeption spielte bei beiden Biomedizinpolitiken eine Rolle, jedoch wesent- lich stärker bei der embryonalen Stammzellforschung. Nach dem überraschenden For- schungsfortschritt herrschte dort eine Form der moralischen Panik, die eine Agendasetzung forcierte. Gleichzeitig bremste die historisch-politische Erblast die Agendasetzung der Sterbehilfe stärker aus als die der Stammzellforschung. Externe Einflüsse gab es in beiden Fällen nicht über internationale Übereinkommen. Bei der embryonalen Stammzellfor- schung gab es allerdings indirekten Druck durch die Liberalisierungen in anderen Staaten. Sie löste die Sorge aus, dass man wirtschaftlich und wissenschaftlich ins Hintertreffen ge- raten würde, wenn man nicht zügig die Forschung erlaubte. Hier offenbart sich deutlich der Unterschied zwischen der manifesten Sterbehilfepolitik und der latenten und damit öko- nomischen Interessen offenen Politik der embryonalen Stammzellforschung. Des Weiteren spielte, entgegen der theoretischen Erwartung, die Einstellung der Bevölkerung kaum eine Rolle für den politischen Entscheidungsprozess. Interessengruppen nahmen hingegen in beiden Fällen Einfluss auf die Agendasetzung. Bei der Sterbehilfe dominierten retardieren- de Kräfte den öffentlichen Diskurs und bremsten somit den Politikwandel deutlich stärker aus als bei der embryonalen Stammzellforschung, die auch starke und gut organisierte Be- fürworterInnen hatte. Es zeigte sich zudem, dass die Existenz einer Regulierungslücke auf das Regulierungstempo wirkt. Die Erwartung, dass eine in der Regierungskoalition vor- handene religiös-säkulare Konfliktlinie oder parteipolitische VetospielerInnen zu einer Verzögerung der Regulierungsgeschwindigkeit führen, konnte nicht bestätigt werden. Hin- gegen konnten Gerichte das Reformtempo zunächst verlangsamen, indem sie durch Urteile den Entscheidungsdruck von der Legislative nahmen. Allerdings wurde diese Entlastung mit zunehmender Anzahl an Urteilen ins Gegenteil verkehrt und der Gesetzgeber indirekt

8 Einleitung veranlasst, diese Lücke zu schließen. Institutionelle VetospielerInnen bremsten bei der Sterbehilfe das Reformtempo. Venue-Shifting, Framing und Gewissensentscheidung spiel- ten eine wichtige Rolle und es zeigte sich, dass es hier unterschiedliche Formen gibt, die variierenden Einfluss auf das Reformtempo hatten. Kleineren Interessensorganisationen war eine Einflussnahme möglich, weil sie sich Regulierungslücken zunutze machten. Der Umfang und die Ausgestaltung des Diskurses dienten zum einen der Validierung der Er- gebnisse aus den Fallstudien. Zum anderen zeigte der Vergleich der beiden Politiken Fol- gendes auf: Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelang, das Policy-Image zu dominieren, desto höher war das Reformtempo. Aus theoretischer Perspektive ist die Verbindung des akteurzentrierten und des diskur- siven Institutionalismus mit dem durchbrochenen Gleichgewicht ein vielversprechender Ansatz, um die Ursachen der Regulierung von moralpolitischen Themen zu erfassen. Der diskursive Fokus zeigt auf, dass das Framing und die Erlangung der Deutungshoheit über das moralisch „richtige“ Tun bei moralpolitischen Themen wichtig sind, um einen Kom- promiss und damit eine Politikentscheidung durchzusetzen.

Fokus und Grenzen der Untersuchung Die Studie stößt immer wieder auf Fragen, die es wert wären, beantwortet zu werden. Im Sinne der Kohärenz und aus Kapazitätsgründen können diese Fragen jedoch nur aufgewor- fen werden. Diese Grenzen der Untersuchung und die sich daraus ergebenden Anknüp- fungspunkte für weitere Studien werden in Kapitel 9 diskutiert. Auf drei Punkte sei aber bereits hier hingewiesen: Zum einen liegt der Fokus auf zwei Politiken in einem Land. Diese Konzentration macht eine detaillierte Betrachtung und Herausarbeitung der Erklärungsfaktoren überhaupt erst möglich. Dass das Vorgehen im Rahmen einer qualitativen, tiefenanalytischen Studie zulasten der Generalisierbarkeit geht, wird bewusst in Kauf genommen. Zum anderen liegt durch die Erhebungen für die dichten Einzelfallbeschreibungen und für die Diskursnetzwerkanalysen eine große Menge an Quellen und Daten vor. Diese werden systematisch ausgewertet. Die Analyse verlangt nach einer Verdichtung und Sys- tematisierung der Daten, um daraus Beurteilungen der potenziellen Erklärungsfaktoren abzuleiten. Folglich ergibt sich ein reicher Fundus an Daten, der nicht ausgewertet werden kann, weil er für die Untersuchung nur von sekundärem Interesse ist bzw. die Kapazitäten einer Dissertation übersteigen. Beispielsweise wird die Diskursanalyse primär auf der Ebe- ne der Organisationen (zum Beispiel Parteien oder Verbände) ausgeführt und die vorhan- denen Individualdaten werden weitestgehend außen vor gelassen.

9 Kapitel 1

Eine dritte Fokussierung gibt es hinsichtlich des Untersuchungszeitraums. Dieser en- det 2014. Allerdings wurden Ende 2015 im Bundestag zwei Gesetze verabschiedet, welche die Sterbehilfe direkt betreffen. Zum einen wurde die Sterbebegleitung ausgebaut und zum anderen nach zehn Jahren Diskussion ein Verbot des geschäftsmäßig organisierten assis- tierten Suizids eingeführt.15 Auf diese Entscheidungen kann nicht im Detail eingegangen werden. Insbesondere der Weg zum Verbot des assistierten Suizids fügt sich aber in das Bild ein, das die Regulierung der Sterbehilfe in Deutschland bietet: Heikle Entscheidungen bei ethisch stark umstrittenen Themen haben nur dann eine Chance, wenn der Druck auf die politischen EntscheidungsträgerInnen entweder extrem hoch ist und bzw. oder die Ent- scheidung als Gewissensfrage deklariert wird und man damit das Dilemma der fehlenden parteipolitischen Geschlossenheit umgehen kann. Auch dieser Entscheidung gingen jahre- lange gesellschaftliche wie politische Diskussionen mit mehreren gescheiterten Regulie- rungsanläufen voraus. Erfolgreich war schließlich die Strategie der Abstimmung ohne Fraktionsdisziplin.

Aufbau der Dissertation Zunächst werden in Kapitel 2 die Konzeptspezifikation der Moralpolitik allgemein und der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung im Besonderen vorgenommen. Es wird jeweils auf die Kontroversen und die unterschiedlichen Regulierungen der Politiken in Deutschland eingegangen. Die Forschungsfrage und der Forschungsstand werden in Kapitel 3 aufgearbeitet. Kapitel 4 stellt die verwendeten Theorien vor und formuliert Er- wartungen bezüglich potenzieller Erklärungsfaktoren. Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Forschungsdesign: Die detaillierten Gründe für die Fall- und Landauswahl, der Untersu- chungszeitraum und weitere Spezifikationen des Studienaufbaus werden vorgestellt und deren Auswahl begründet. In den Kapiteln 6 und 7 werden die dichten Einzelfallbeschrei- bungen und Diskursnetzwerkanalysen durchgeführt. Die Befunde werden in Kapitel 8 in der vergleichenden Fallstudie zusammengefasst und mit den theoretischen Erwartungen abgeglichen. So können relevante Erklärungsfaktoren identifiziert, modifiziert oder neu eingeführt werden. Die Arbeit schließt in Kapitel 9 mit einem kritischen Fazit und Aus- blick auf zukünftige Entwicklungen in der Biomedizinpolitik und Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen.

15 Hospiz- und Palliativgesetz (HPG), BGBl. I/48, 07.12.2015, S. 2114-2118; Gesetz zur Strafbarkeit der ge- schäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, BGBl. I/49, 09.12.2015, S. 2177. 10

2 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

„Does Morality Policy Exist?“ fragen Mooney und Schuldt (2008, S. 199) und greifen eine zentrale Frage der Moralpolitikforschung auf: Unterscheiden sich moralische Politiken in ihren Eigenschaften systematisch von anderen Politiken und wenn ja, anhand welcher Ei- genschaften tun sie dies?16 Für die Analyse ist das von Bedeutung, denn diese Eigenschaf- ten betreffen direkt die Behandlung der Themen in der öffentlichen Diskussion und in der politischen Arena und haben damit Einfluss auf die politische Regulierung. Daher werden in Kapitel 2 zunächst die zentralen Eigenschaften von Moralpolitiken und ihre Typologi- sierungen in der Literatur erfasst (Abschnitt 2.1). In den Abschnitten 2.2 und 2.3 werden jeweils die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung vorgestellt, es wird auf die Kontroversen in Deutschland eingegangen, und die beiden Politiken werden auf ihre mo- ralpolitischen Eigenschaften und Einordnung als manifeste bzw. latente Moralpolitiken überprüft. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung (Abschnitt 2.4), die auf die im folgenden Kapitel ausführlich vorgestellte Forschungsfrage hinweist.

2.1 Moralpolitiken – Eigenschaften und Typologisierungen

Zunächst werden die philosophischen Grundlagen von Moralpolitiken und insbesondere der Biomedizinpolitiken erläutert. Letztere stellen eine Subgruppe der Moralpolitik dar, welche unter anderem die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung umfasst. Anschließend werden die spezifischen Eigenschaften von Moralpolitiken definiert und ihre Typologisierungen vorgestellt.

16 Dem deutschen Begriff „Politik“ entsprechen im Englischen drei Begriffe: Polity, Politics und Policy. Mit Policy sind Politikinhalte gemeint, mit Politics der Prozess der Entscheidfindung und mit Polity die daran beteiligten Institutionen, die sowohl formelle Körperschaften als auch Ideen und Ideologien umfassen (Schneider und Janning 2006, S. 15). 11 Kapitel 2

2.1.1 Philosophische Grundlagen

Was sind Ethik und Moral?17 Und welche Charakteristiken zeichnen biomedizinische Mo- ralpolitiken aus? Diese beiden Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. „Ethik“ und „Moral“ sind nicht genuin politikwissenschaftliche Begriffe, sie nehmen in den Mo- ralpolitikanalysen und insbesondere bei den Biomedizinpolitiken aber einen zentralen Platz ein. Sie zeigen die grundlegenden Wertekonflikte auf, die später in der Analyse der Moral- politiken relevant sein werden und die Regulierung in Deutschland möglicherweise beein- flusst haben. Da in thematisch verwandten Studien selten eine Definition bzw. Kon- zeptspezifikation dieser Begriffe vorgenommen wird, setzt sich dieser Abschnitt zum Ziel, eine knappe Erklärung dieser Begriffe und der philosophischen Grundlagen18 in gebotener Kürze zu liefern.

Ethik und Moral Der Begriff Moral (lateinisch mos = Sitte) hat eine ähnliche Bedeutung wie Ethik, und da- her werden die beiden Konzepte in den öffentlichen Wertedebatten um kontroverse gesell- schaftliche Themen oft synonym verwendet. Im wissenschaftlichen – insbesondere im phi- losophischen – Kontext werden Moral und Ethik aber unterschieden. Die Moral ist ein „Aspekt des menschlichen Miteinanders, der sich in der Verbind- lichkeit von Werten, Normen, Einstellungen, Handlungen, Handlungsfolgen etc. aus- drückt“ (Moskoop 2009). Sie ist ein etabliertes System, das in einer Gesellschaft implizit oder explizit festgelegt ist und zwischen „richtigem“ und „falschem“ Tun unterscheiden lässt. Die Ethik (griechisch ethos = Sitte, Gebrauch, Gewohnheit) bildet eine Disziplin der Philosophie als die Theorie über die Moral (Manzei 2005, S. 90). Sie steht für die „Ge- wohnheit (…), als auch für eine Charaktereigenschaft bzw. ein Verhalten, das nicht fraglos jeglichen vorgegebenen Wertmaßstäben folgt, sondern diese jeweils nach eigener Überle- gung und Kriterien zum Guten hin abwägt“ (Manzei 2005, S. 90). Ethik wird als „die phi- losophische Reflexion, Kritik oder Begründung von Moral und ihrer Inhalte“ verstanden (Bender 1988, S. 186). Sie selbst steht aber quasi über den moralischen Normen, muss ihnen also nicht unbedingt gehorchen. Sie wird vielmehr normativ diskutiert und entschei- det, welche Moral die richtige ist. Diese breite Aufstellung der Ethik führt dazu, dass sie häufig als Synonym für die praktische Philosophie verwendet wird (Manzei 2005, S. 90-

17 Teile dieses Abschnitts stammen aus [Nebel 2016] 18 Die Philosophie (griechisch philosophía, wörtlich „Liebe zur Weisheit/Wissenschaft“) sucht nach Kant Antwor- ten auf die grundlegenden Fragen „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? (…) Was ist der Mensch?“ (Moskoop 2009). 12 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

91). „Anders als im Begriff der Ethik hat sich demgegenüber im Begriff der Moral die doppelte Struktur von geltender Norm und Charaktereigenschaft bewahrt“ (Manzei 2005, S. 90-91). Eine Handlung kann also moralisch oder unmoralisch sein, je nach normativem Standpunkt. Sie kann aber nicht ethisch oder unethisch sein, weil die Ethik sich als For- schungsdisziplin mit der Moral beschäftigt, aber selbst keine Wertekategorien bereithält (Wuktetis 2006, S. 19).

Utilitarismus, Altruismus, religiöse Moral, Liberalismus Was ist moralisch richtig? Die Antworten darauf können unterschiedlich ausfallen, je nachdem von welchem Standpunkt aus man ein umstrittenes Thema betrachtet. Wuktetis (2006, S. 17-18) unterscheidet drei verschiedene Moraltypen: Utilitarismus, Altruismus und religiöse Moral. Diese werden auch in Diskussionen um die Regulierung von Sterbe- hilfe und der embryonalen Stammzellforschung immer wieder als Begründungen für ein Gebot oder Verbot herangezogen und sollen daher hier kurz vorgestellt werden: Vertrete- rInnen einer utilitaristischen Haltung streben den größtmöglichen Nutzen für die größt- mögliche Zahl von Menschen an; beim Altruismus gilt die Maxime, anderen zu helfen; religiöse MoralistInnen verlangen, so zu handeln wie es die religiösen Führer (zum Bei- spiel Jesus Christus) vorschreiben, bzw. wie sie es selbst tun würden (Wuktetis 2006, S. 17-18). Die entstehenden Konflikte sind offensichtlich: AnhängerInnen der utilitaristischen Sichtweise stimmen beispielsweise der embryonalen Stammzellforschung dann zu, wenn das Resultat einer größeren Zahl von Menschen helfen kann (Krankheiten heilen, Leben verlängern, Arbeitsplätze schaffen etc.) als dafür Embryonen (also werdendes menschli- ches Leben) verbraucht werden müssen. Bei der Sterbehilfe wägen sie Kosten und Nutzen des individuellen freiwilligen Todes ab, die dieser für die Gemeinschaft haben kann. Die Altruisten sind im Zwiespalt: Sie könnten entweder der Maxime folgen, jeden einzelnen Embryo als zukünftigen Menschen gegenüber Forschungsinteressen zu verteidigen, oder kranken Menschen eine Stammzelltherapie ermöglichen, um ihnen die Chance auf Heilung zu eröffnen. Sterbewilligen würden sie helfen, wenn es deren Wunsch ist zu sterben. Reli- giöse MoralistInnen folgen der Doktrin ihrer Glaubensgemeinschaft. Im Fall der christli- chen Kirchen gibt es zwei Grundprinzipien, die zum Konflikt führen können: der Schutz des Lebens und das Gebot der Nächstenliebe. Während ersteres Prinzip eine totale Ableh- nung der Stammzellforschung zur Konsequenz hat, ermöglicht Letzteres die Forschung. Hinsichtlich der Sterbehilfe war die Konfliktlage lange Zeit nicht so stark ausgeprägt: Die Christen betrachten das Leben als von Gott geschenkt, daher darf der Mensch es sich nicht nehmen und keine Hilfe von Dritten zur Beschleunigung des Sterbeprozesses erhalten.

13 Kapitel 2

Selbstmord wird als Sünde angesehen. Allerdings gibt es in jüngerer Zeit in beiden Kir- chen, insbesondere bei der evangelischen Kirche, auch die Haltung, dass die passive Ster- behilfe, also der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, in der Autonomie der Pati- entInnen liegt und keinen Selbstmord im eigentlichen Sinne darstellt (Deutsche Bischofs- konferenz und Evangelische Kirche in Deutschland 2003, S. 36-37). Neben diesen philosophischen und christlichen Traditionen gibt es eine liberale Tra- dition, die mit Bezug auf moralische Themen als Gegenpol zur christlichen Tradition auf- gefasst werden kann: In der liberalen Vorstellung ist neben der Trennung von Staat und Kirche ein zweiter zentraler Pfeiler die Durchsetzung und Verteidigung individueller Frei- heitsrechte. „Im Mittelpunkt aller Varianten des Liberalismus steht das neuzeitliche Ver- ständnis von einer freien und selbstverantwortlichen Gestaltung der Gesellschaft, die vom Individuum ausgeht. (…) Das Individuum besitzt natürliche Handlungsfreiheiten, die nur durch die Handlungsfreiheiten anderer faktisch begrenzt sind“ (Goldschmidt 2005, S. 281). In der liberalen Vorstellung hat jedes Individuum das Recht, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen, auch über sein Leben und sein Sterben. Allerdings wird von liberalen Denke- rInnen ebenfalls argumentiert, dass durch dieses Autonomieprinzip das Individuum letzt- endlich gezwungen werden könnte, sich selbst zu schaden (zum Beispiel durch in An- spruch genommene Sterbehilfe, um den Angehörigen nicht zur Last zu fallen). Eine unein- geschränkte Bejahung aller Formen der Sterbehilfe liegt daher nicht vor, allerdings wird sie situationsabhängig durchaus in Betracht gezogen, da das Autonomieprinzip generell höher eingeschätzt wird als eventuelle negative Folgen (Dietrich 2009). Bei der embryona- len Stammzellforschung ist die Sachlage ebenfalls theoretisch nicht so eindeutig, aber in der Praxis haben sich die Verfechter der liberalen Denkweise, zum Beispiel die FDP in Deutschland, für die Verteidigung der Forschungsfreiheit und damit für die Forschung ausgesprochen (vgl. Kapitel 7). Diese kurze, nicht erschöpfende und beispielhafte Über- sicht der verschiedenen möglichen moralischen Haltungen soll deutlich machen, dass eine objektive Entscheidung über die Regulierung von Biomoralpolitiken als „richtig“ oder „falsch“ nicht möglich ist. Gleichzeitig fordern die realen Umstände im Staat aber eine eindeutige Regulierungsentscheidung.

Biomedizinpolitik Ein Teilbereich der Moralpolitik ist die Biopolitik. Darunter werden diejenigen Moralthe- men subsumiert, welche einen Bezug zu biologisch-chemischen Verfahren haben (zum Beispiel Gentechnik). Eine Unterkategorie der Biopolitik ist wiederum die Biomedizinpoli- tik (vgl. Abbildung 2.1).

14 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

Abbildung 2.1: Biomedizinpolitik als Teilbereich der Moralpolitik

Quelle: Eigene Darstellung.

Die Biomedizinpolitik reguliert alle Vorgänge rund um die Medizin in Bezug auf den Menschen und wird in der Literatur oft als „Leben und Sterben“-Kategorie betitelt (vgl. Knill et al. 2015d, S. 16). Hier werden unter anderem „moralische Probleme am Lebensan- fang (moralischer Status von Embryonen, Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik) oder Lebensende (Sterbehilfe) als auch während des Lebens erörtert (Arzt-Patienten-Verhältnis, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, Organallokation, Wunsch erfüllende Medizin, Um- gang mit nicht-einwilligungsfähigen Patienten, Person-Begriff)“ (Eissa und Sorgner 2011, S. 17-18). Früher war eindeutig klar, dass der Körper im Eigentum einer Person war. Durch die Entwicklungen in der Biomedizin haben sich diese früher unumstrittenen Be- sitzverhältnisse geändert: „Der menschliche Körper ist in vielfältiger Weise Gegenstand von Verfügungen und Nutzungen, sowohl die Substanzen des lebenden menschlichen Or- ganismus als auch die des toten Menschen: Die moderne Biowissenschaft hat inzwischen mannigfaltige Formen der Eigen- und Fremdkommerzialisierung, der Erst- wie der Sekun- därverwendung hervorgebracht“ (Fülle 2007, S. 21). Die Biomedizinpolitik wirft daher ethische Fragen auf, die in der Philosophie unter dem Begriff der „Bioethik“ (griechisch bios = Leben) diskutiert werden.19 Die Fragen im Bereich Leben, Tod, Mensch und Medizin und deren Antworten spiegeln dabei immer die moralische Grundhaltung einer Person bzw. der Gesellschaft wider. Bei der politischen Regulierung solcher Themen geht es immer um die ethische Frage nach dem menschlichen Handeln aus philosophischer Sicht. In den Diskussionen über das Für und Wider der emb- ryonalen Stammzellforschung und der Sterbehilfe wird, wie bei anderen Biomedizinpoliti-

19 Der Begriff Bioethik wird erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet. Auch wenn der Begriff damit noch relativ jung ist, so haben sich bereits in der Antike Philosophen Gedanken gemacht, was das gute Handeln mit dem Leben ist bzw. sein sollte (Eissa und Sorgner 2011, S. 17). Der Begriff wurde Anfang der 1970er Jahre in den USA geprägt. Seit dieser Zeit versteht man darunter „the systematic study of the moral dimensions – including moral vision, decision, conduct and policies – of the life sciences and health care, employing a variety of ethical method- ologies in an interdisciplinary setting“ (Reich 1995: xxi, nach Ach und Runtenberg 2002, S. 14). „Ziel der Bioethik ist es, Kriterien zu formulieren, kritisch zu prüfen und zu begründen, mit deren Hilfe die Frage, welches Handeln moralisch verantwortbar ist, auf philosophisch vertretbare Weise beantwortet werden kann“ (Düwell 2008, S. 7). 15 Kapitel 2 ken, häufig das Argument der Menschenwürde ins Feld geführt und zwar sowohl von Be- fürworterInnen wie GegnerInnen einer Liberalisierung bzw. Restriktivierung. Die Men- schenwürde wurde in Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen in Art. 1 GG als absolut schützenswert festgeschrieben (Schreiber 2003, S. 367). Ihre Wurzeln reichen aber weiter zurück und sind im Christentum zu finden. Sie wurden durch die Säkularisierung vom modernen Staat übernommen (Schreiber 2003, S. 368). „Menschenwürde meint, dass der Mensch und sein Leben den höchsten Schutz besitzen und dass seine Entfaltung und Freiheit im Mittelpunkt staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu stehen habe“ (Schrei- ber 2003, S. 368). Die Biomedizinpolitik hat sich längst aus dem rein akademischen Diskurs gelöst und ist in der Gesellschaft angekommen. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen haben die wissenschaftlichen Fortschritte in den sogenannten „Life Sciences“ (alle Natur- und Ingenieurswissenschaften, die sich mit dem lebenden Organismus auseinandersetzen) zu mannigfachen ethischen Herausforderungen geführt. Diese werden nicht mehr exklusiv in der jeweiligen Disziplin diskutiert, sondern erfordern wegen ihrer grundlegenden Be- deutung gesamtgesellschaftliche Entscheidungen und Strategien. Zum anderen gibt es kei- ne Instanz, die solche Entscheidungen autoritativ fällen könnte. War das früher noch am ehesten die katholische Kirche, so gibt es heute einen ethischen Meinungspluralismus, der eine Einigung auf Standards zwar im Diskurs demokratischer gestalten kann, diese aber zugleich ungleich schwieriger macht (Düwell 2008, S. 1). Dies zeigen nicht zuletzt die breiten öffentlichen Diskussionen über die embryonale Stammzellforschung und die Ster- behilfe. Auch die Etablierung von Institutionen, die sich explizit mit bioethischen Fragen auseinandersetzen, wie zum Beispiel die Ethikkommissionen in Krankenhäusern und For- schungseinrichtungen, die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer oder der Deutsche Ethikrat, zeigen die Relevanz der Auseinandersetzung mit essenziellen ethischen Fragen in der Praxis.

2.1.2 Eigenschaften von Moralpolitiken

Nach den bisher diskutierten philosophischen Grundlagen stellt sich die Frage, wie in der Politikwissenschaft die Moralpolitiken und insbesondere die Biomedizinpolitik gefasst und definiert werden. Eine beachtliche Anzahl an einschlägigen Veröffentlichungen beschäftigt sich mit den Eigenschaften, die moralische Themen systematisch und eindeutig von ande- ren, zum Beispiel ökonomischen Themen, unterscheiden lassen (vgl. u. a. Alvarez und Brehm 1995; Meier 2001; Mooney 2001a; Mooney und Schuldt 2008; Smith und Tatalo-

16 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation vich 2003; Studlar 2001).20 Bis heute gibt es trotz verschiedener Klassifizierungsvorschlä- ge in der Literatur keine abschließende Liste von Moralthemen und deren Eigenschaften, die sie von anderen Policy-Gruppen unterscheiden. Zum Kern moralpolitischer Themen werden üblicherweise die Regulierung von Leben und Sterben (zum Beispiel Schwanger- schaftsabbruch, Sterbehilfe, Embryonenforschung und Todesstrafe), Sexualität (zum Bei- spiel Homosexualität, Prostitution und Pornografie) und Suchtverhalten (zum Beispiel Drogen, Alkohol und Glücksspiel) und die Abwägung von individueller Freiheit und kol- lektiven Werten (zum Beispiel Waffenbesitz, Religionsunterricht) gezählt (Knill et al. 2015d, S. 16). Sie haben im Zeitverlauf in vielen Ländern moralische Diskussionen ausge- löst (Meier 2001; Mooney 2001c; Mooney und Schuldt 2008; Studlar 2001). Folgende Eigenschaften werden in der Literatur genannt und sollen detaillierter erläutert werden: Werte und Normen, gesellschaftlicher Dissens, Partizipation und Polarisierung, Komplexi- tät, Nullsummenspiel, Volatilität und Framing.

Werte und Normen Über moralische Themen bilden sich die Menschen eine Meinung auf Basis von grundle- genden Werten und Normen, die in der Kultur der Gesellschaft tief verankert sind (Studlar 2001, S. 37). Daher fallen Kontroversen darüber entsprechend konfliktiv aus. Mooney (2001b, S. vii) argumentiert, moralische Themen „can raise some of the most profound questions of right and wrong.“ Moralische Themen drehen sich nicht um ökonomische Konflikte, sondern um Werte und haben damit weniger materiellen als vielmehr symboli- schen Charakter. Wertevorstellungen sind nicht verhandelbar, und so kann nicht wie bei ökonomischen Konflikten eine Umverteilung von Geldern stattfinden, welche die ver- schiedenen Interessengruppen befriedigt (Mooney 2001b, S. vii; Studlar 2001, S. 38-39).

Gesellschaftlicher Dissens Ein Thema wird als moralisch und diskussionswürdig wahrgenommen, wenn darüber in der Gesellschaft kein Konsens besteht (Mooney 2001a, S. 4). Solange sich zum Beispiel alle einig sind, dass Sterbehilfe verwerflich sei und verboten gehöre, wird sich darüber keine Debatte entspinnen. Gibt es jedoch mindestens eine Interessengemeinschaft in der Gesellschaft, die das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Tod einfordert, kommt es zur Kontroverse. Die BefürworterInnen und GegnerInnen fühlen sich in ihren grundlegen- den Werten bedroht. Zudem kann auch die „Sichtbarkeit“ von bisher als unmoralisch be-

20 Teile dieses Abschnitts zu den konkreten Eigenschaften von Moralpolitiken wurden aus der Masterarbeit der Autorin (Nebel 2011, S. 6-11) übernommen. 17 Kapitel 2 wertetem Verhalten zur öffentlichen Kontroverse und Agendasetzung führen. Solange die- ses Verhalten nur sehr vereinzelt auftritt, quasi „unter dem Radar“ der breiten Öffentlich- keit stattfindet und sich keine Interessengruppe mit diesem Verhalten beschäftigt, wird es nicht diskutiert. Ist jedoch ein gewisses (a priori kaum zu bestimmendes) Level überschrit- ten, wird die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, und die Kontroverse entsteht. Das morali- sche Thema wird erst als ein solches gesellschaftlich relevant und gegebenenfalls auf die politische Agenda gesetzt. Somit kann eine Politik in Abhängigkeit von der Häufigkeit des Auftretens und der Problemperzeption der AkteurInnen als moralisch klassifiziert werden (Mooney 2001a, S. 4). Meier (2001) unterscheidet in diesem Zusammenhang zweiseitige und einseitige Mo- ralpolitiken. Bei der zweiseitigen Politik gibt es zwei Gruppen, die sich unversöhnlich ge- genüberstehen. Während beispielsweise eine Gruppe Sterbehilfe als legitim erachtet, lehnt die andere Gruppe diese ab. Beide Gruppen erfahren Unterstützung in der Bevölkerung. Bei einer einseitigen Moralpolitik, wie zum Beispiel in Bezug auf die Legalisierung des Konsums harter Drogen, lehnt ein großer Teil der Gesellschaft die Legalisierung ab und nur ein kleiner, schweigender Prozentsatz ist für den legalen Konsum, tut dies jedoch nicht öffentlich kund (Meier 2001). Daher kommt es in diesem Fall zu keiner öffentlichen Dis- kussion und Agendasetzung.

Partizipation und Polarisierung Des Weiteren können die Debatten um moralische Themen eine relativ breite öffentliche Aufmerksamkeit erregen, da sie eben die Werte und das Leben der BürgerInnen direkt be- treffen. Durch diesen direkten Bezug auf die eigenen Wertevorstellungen ist jeder „Exper- te“ zum Thema und kann sich vermeintlich ohne Informationsdefizit in die Debatte ein- bringen. Damit geht eine höhere Partizipationsrate der BürgerInnen als bei anderen Politi- ken einher (Mooney 2001a, S. 7-8). Die Konflikthaftigkeit von moralpolitischen Themen kann zur Lagerbildung in Ge- sellschaften über diese Themen führen. Dieses Phänomen wird in der Politikwissenschaft auch als Polarisierung von Einstellungen bezeichnet und in quantitativen Untersuchungen basierend auf Umfragedaten gemessen. Di Maggio et al. (1996, S. 692) bezeichnen Polari- sierung als das Ausmaß an Uneinigkeit über bestimmte Themen in einer Gesellschaft. He- therington (2009, S. 429-430) konkretisiert weiter, dass die Menschen eine tief verankerte Vorstellung von „richtig“ und „falsch“ hinsichtlich eines Themas hätten, und dass diese Vorstellung diametral entgegengesetzt zu der anderer Menschen sei. Hunter (1991) be- gründet diese Polarisierung in grundsätzlich verschiedenen Weltanschauungen von Indivi-

18 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation duen, welche sich dann in ebenso gegensätzlichen Einstellungen zu bestimmten Themen widerspiegelten. Aus den bereits diskutierten Gründen ist eine solche gesellschaftliche Polarisierung gerade bei Moralpolitiken sehr hoch.

Komplexität Über moralische Themen können sich die Menschen schnell eine Meinung bilden. Da es in der Diskussion um die grundlegenden Wertvorstellungen geht und beispielsweise nicht um die schwierige Umsetzung und die vielfältigen Auswirkungen einer ökonomischen Policy (zum Beispiel Steuererhöhung), kann sich jeder Mensch in die Debatte einbringen (Mooney 2001a, S. 8). Die Verknüpfung mit grundlegenden gesellschaftlichen Wertevor- stellungen ermöglicht die Reduktion von beispielsweise medizinischer oder technischer Komplexität auf einfache Wertentscheidungen. Das trifft allerdings nur insoweit zu, als die DiskutantInnen tatsächlich auf den Extrempunkten beharren und einem Schwarz-Weiß- Denken verhaftet bleiben. So ist die Frage nach der moralischen Rechtmäßigkeit von Ster- behilfe nicht mehr einfach zu beantworten, wenn man nach aktiver und passiver Sterbehil- fe und assistiertem Suizid differenziert. Es gibt Menschen, die aktive Sterbehilfe absolut ablehnen, assistierten Suizid unter Umständen für gerechtfertigt und passive Sterbehilfe für geboten halten. Zudem ist bei der passiven Sterbehilfe die Unwissenheit über die medizini- schen Möglichkeiten zur Lebenserhaltung weit verbreitet (vgl. Kapitel 6). Gerade bei der embryonalen Stammzellforschung zeigt die unterschiedliche Interpretation von Naturwis- senschaftlerInnen und den Kirchen bezüglich des Status des Embryos auf, wie komplex vermeintlich einfache Sachverhalte werden, wenn um die Details gestritten wird. So waren sich beispielsweise ForscherInnen untereinander nicht einig, ob sich mit adulten Stamm- zellen, welche ohne die Vernichtung des Embryos gewonnen werden, dieselben For- schungsfortschritte erzielen lassen wie mit embryonalen Stammzellen (vgl. Kapitel 7). Die von manchen AutorInnen behauptete technische Einfachheit moralischer Themen (Mooney 2001a, S. 8) kann aus diesem Grunde angezweifelt werden.

Nullsummenspiel Einen Kompromiss bei Moralpolitiken zu finden, ist sehr schwierig. Von den involvierten AkteurInnen werden die moralischen Konflikte häufig als Nullsummenspiel wahrgenom- men, weil eben eine Aushandlung mit Ausgleichszahlungen kaum möglich ist. Es gibt bei- spielsweise beim Schwangerschaftsabbruch kein Kontinuum, auf dem man sich auf einen Punkt einigen könnte. Die Irreversibilität der meisten Policies trägt nicht zur Erleichterung der Kompromissfindung bei. Gerade bei Entscheidungen über Leben und Tod ist eine

19 Kapitel 2

Handlung nicht zu korrigieren, denn der Tod lässt sich nicht rückgängig machen. Daher werden sich GegnerInnen einer Liberalisierung besonders intensiv engagieren. Zudem wird insbesondere von den OpponentInnen ein „Dammbruch“ befürchtet, sollte man sich auf kleine Zugeständnisse einigen, um einen Kompromiss zu erzielen. Dieser ist für sie das Einfallstor für weitere Liberalisierungen. Das monetäre Element kann nicht als Verhand- lungsgegenstand eingebracht werden, wenn es um die gesetzliche Regelung einer ethisch strittigen Frage geht (Tatalovich et al. 1994).

Volatilität Moralische Themen können in der öffentlichen politischen und medialen Debatte „auftau- chen“ und wieder „verschwinden“, je nachdem, ob sie von der Gesellschaft als kontrovers gesehen werden oder nicht (Mooney 2001a, S. 4-5). So waren bis in die Nachkriegszeit hinein ein uneheliches Kind oder eine Scheidung gesellschaftlich nicht akzeptiert. Im Lau- fe der letzten Jahrzehnte änderte sich diese Einstellung in der westlichen Welt. Es brachen Konflikte auf zwischen Gruppen mit liberaler und konservativer Haltung. Damit wurde das Thema kontrovers in der Gesellschaft diskutiert und kann als Moralthema begriffen wer- den. Heute würde man uneheliche Kinder und Scheidung nicht mehr als moralisches The- ma definieren, da sich diese Kontroverse weitestgehend aufgelöst hat. Diese Varianz zeigt sich nicht nur über die Zeit, sondern auch über Ländergrenzen hinweg: Während bei- spielsweise das Waffenrecht in den USA ein kontroverses Thema ist, spielt es in der öf- fentlichen und politischen Diskussion in den europäischen Ländern kaum eine Rolle.

Framing Eine zentrale Strategie der politischen AkteurInnen, auf diese Konflikte in der Bevölke- rung zu reagieren, ist der Versuch, mittels Framing (wörtlich übersetzt „Rahmen setzen“) die Debatte zu bestimmen oder zumindest zu beeinflussen und so eine Lösung des Streits zu erreichen (Meier 2001, S. 25). Framing ist die Bedeutungszuschreibung zu Objekten. Diese Bedeutung kann variieren, je nachdem welche Denkperspektive der Akteur bzw. die Akteurin auf das Objekt anwendet und welche Strategie er oder sie mit dieser Zuschrei- bung verfolgt (Geiß und Schemer 2016). So kann man Sterbehilfe zum Beispiel als ge- sundheitspolitisches Thema framen, also über medizinisch notwendige oder überflüssige Behandlungsmethoden diskutieren. Man kann aber auch die Frage der Selbstbestimmung versus staatliche Fürsorgepflicht betonen und der Diskussion einen werteorientierten Rah- men geben. Mit Framing ist es möglich, die Sicht der KontrahentInnen auf eine umstrittene Politik zu ändern, den Konflikt zu entschärfen und den Weg für einen Policy-Wandel frei-

20 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation zumachen. Mucciaroni (2011) geht davon aus, dass die Einstufung einer Politik als Moral- politik von deren Framing durch die Öffentlichkeit abhängt. Er stimmt hier mit Mooney (2001a) darin überein, dass Moralpolitiken nur dann als solche diskutiert werden, wenn die Bevölkerung sie als kontroverses und zu regulierendes Thema wahrnimmt.

2.1.3 Verschiedene Typologisierungen von Moralpolitik

In den letzten Jahren wurde die Frage verstärkt diskutiert, ob Moralpolitiken überhaupt einen eigenen Politiktypus darstellen, der sich hinsichtlich des Inhalts der Regulierung und der Steuerungsmuster systematisch von anderen Politiken abhebt, oder ob sie nicht viel- mehr in die bestehenden Klassifizierungen von Policies passen (Meier 2001; Sharp 1999; Smith 1975, 1982; Smith und Tatalovich 2003) oder ob eine neue Typologie entwickelt werden müsste. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird versucht, aufbauend auf der Identifikation spezifischer Eigenschaften Typologisierungen vorzunehmen.

Typologie von Lowi In der moralpolitischen Forschung wird diskutiert, ob und wo sich eine Moralpolitik inner- halb der Lowi’schen Policy-Typologie verorten lässt oder ob sie nicht einen gänzlich neu- en Typus darstellt (Meier 2001; Sharp 1999; Smith 1975; Tatalovich und Daynes 1981, 1993). Lowi führte 1964 die Dreigliedrigkeit der Public Policy ein. Er benannte distributi- ve, redistributive und regulative Politiken, welche sich in ihrem Ausmaß der Neu- oder Umverteilung von Gütern und der daraus erwachsenden Mobilisierung von Interessen für oder gegen diese Verteilung unterscheiden (Lowi 1964, 1972; vgl. auch Schneider und Janning 2006, S. 23-25) Smith (1975, 1982)und Sharp (1999) sind der Meinung, dass Mo- ralpolitik neben distributiven, redistributiven und regulativen Politiken eine vierte Säule im Policy-Konzept darstelle (vgl. auch Smith und Tatalovich 2003, S. 13-19). Tatalovich und Daynes (1981, 1993) verstehen Moralpolitik hingegen als regulatorisches Phänomen, das hauptsächlich die sozialen Beziehungen beeinflusse und ökonomische Regulierungen vor- nehme. Andere ForscherInnen wiederum verorten Moralpolitik in der redistributiven Säu- le, da es sich um eine Umverteilung von sozialen und nicht monetären Werten handele (vgl. Smith und Tatalovich 2003, S. 14). So argumentiert Meier (2001), dass Moralpolitik entstehe, wenn eine soziale Gruppe versuche, ihre Wertvorstellung gegenüber der Gesell- schaft durchzusetzen. Gleichzeitig stimmt er aber der Ansicht zu, dass die Regierung regu- lativ in moralischen Politikfeldern wie Drogenkonsum oder Glücksspiel tätig sei (Meier

21 Kapitel 2

2001). Daher bleibt die Einordnung von Moralpolitik in das Policy-Konzept von Lowi noch umstritten.

Latente und manifeste Moralpolitiken und Framing Durch jüngere Studien wird die früher zumindest implizite Annahme, es gäbe ein festes Set an Moralpolitiken, infrage gestellt (Engeli et al. 2012; Engeli und Varone 2011; Fink 2008b; Knill et al. 2015a; Schiffino et al. 2009) „(…) there is nothing intrinsic about a pol- icy topic or domain that makes it moral“ (Wagenaar und Altink 2012, S. 282). Länderver- gleiche zeigen, dass Policies in einigen Ländern als Moralpolitiken definiert werden kön- nen, während sie in anderen Ländern die typischen Charakteristiken nicht aufweisen. Auch innerhalb eines Landes wurde nachgewiesen, dass Politiken zeitabhängig als Moralpoliti- ken angesehen werden können oder nicht (Euchner et al. 2013; Knill 2013b). Dank dieser Erkenntnisse werden jüngst die Anstrengungen verstärkt, die Bedingungen und kausalen Mechanismen zu identifizieren, die zu dieser Variation führen. Eine Ursache liegt demnach im Framing der Debatte. Je nachdem, welche Koalition in Gesellschaft oder Politik erfolg- reich die Deutungshoheit über die Policy erringt, fällt die Interpretation als moralisches oder nicht-moralisches Thema aus und wird das Thema als zu regulierendes Problem wahrgenommen oder nicht (Mucciaroni 2011; Studlar et al. 2008). Politiken können unter- schiedlich geframed werden und sich als Moralpolitik klassifizieren oder nicht. Es wird zunehmend die Idee diskutiert, ob Moralpolitiken sich durch ihr Framing von anderen Poli- tiken abheben (Clifford und Jerit 2013; Ferraiolo 2013; Heichel und Knill 2013; Mucciaro- ni 2011). So kann das Glücksspiel als unmoralisches Verhalten diskutiert werden. Aber auch das Framing als Suchtverhalten oder staatliche Einnahmequelle ist möglich, wodurch es zum gesundheitspolitischen bzw. ökonomischen Thema wird. Diese Klassifizierung kann über die Zeit schwanken und fällt zwischen den Ländern unterschiedlich aus (Euch- ner et al. 2013). Die Wahrscheinlichkeit des Framings von politischen Kontroversen als Wertekon- flikte und damit ihre Klassifizierung als Moralpolitiken steigt, wenn religiöse Grundwerte berührt werden (Heichel und Knill 2013, S. 57-58). Die Wahrscheinlichkeit der Politisie- rung eines moralischen Themas steigt auch, wenn sich dieser Konflikt bereits im Parteien- system institutionalisiert hat (Heichel und Knill 2013, S. 57-58). Das ist typisch für Partei- ensysteme, in denen sich eine große christliche Partei und eine oder mehrere säkulare Par- teien gegenüberstehen und somit wertkonservative auf gesellschaftsliberale Einstellungen treffen (Engeli et al. 2012; Green-Pedersen 2007).

22 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

In der jüngeren Literatur werden latente von manifesten Moralpolitiken und von Nicht-Moralpolitiken unterschieden. Knill et al. (Knill 2013b; Knill et al. 2015a; Knill et al. 2015d, S. 17-18) klassifizieren Moralpolitiken nach zwei Kriterien: Dem Moralisie- rungspotenzial des Regulierungsgegenstandes und den „strategischen Handlungsmöglich- keiten und Machtressourcen der involvierten Akteure“ (Knill et al. 2015d, S. 17). Das Mo- ralisierungspotenzial ist vorhanden, wenn möglichst viele der oben benannten Eigenschaf- ten einer Moralpolitik zutreffen. Die AkteurInnen haben hohe Chancen, einen Wertekon- flikt auf die politische Ebene zu tragen, wenn die institutionellen und kulturellen Gelegen- heitsstrukturen ihnen den Zugang zur politischen Arena gewähren (Knill 2013b; Knill et al. 2015d). Hier kommt ebenfalls das Framing ins Spiel, denn die AkteurInnen sind dann er- folgreich, wenn sie es schaffen, das Thema so zu framen, dass es für die Mehrheit der Ent- scheidungsträgerInnen wichtig wird, sich damit zu befassen und vor allem entsprechend den Interessen der AkteurInnen abzustimmen. Nicht-Moralpolitiken sind solche Politiken, die durch ihren Inhalt gar kein Moralisie- rungspotenzial bieten. Dies können zum Beispiel Verwaltungsreformen sein. Latente und manifeste Moralpolitiken bieten jedoch dieses Moralisierungspotenzial. Bei manifesten Moralpolitiken spielen ökonomische Interessen grundsätzlich keine Rolle. Die Kontroverse dreht sich allein um wertbasierte Fragen und darum, welche Gruppe ihre Werte und Nor- men durchsetzen kann. So ist bei vielen Fragen rund um das Leben und den Tod (zum Bei- spiel Sterbehilfe) oder bei religionspolitischen Themen (zum Beispiel religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden) kein wirtschaftliches Interesse vorhanden. Da diese Moralpolitiken konstant einen wertbasierten Konflikt auslösen, werden sie als manifeste Moralpolitiken bezeichnet (Knill 2013b; Knill et al. 2015d, S. 17-18). Bei latenten Moralpolitiken sind zwar ebenfalls grundlegende Wertekonflikte vor- handen, allerdings sind ökonomische Verteilungskonflikte mindestens genauso präsent bzw. können den Konflikt sogar dominieren. Bei der Regulierung von Glücksspiel, Prosti- tution oder Drogenkonsum werden von den AkteurInnen Normen und Werte in die Diskus- sion eingebracht. Mindestens genauso prominent sind aber wirtschaftliche Interessen vor- handen. Ob diese dann mit gleicher Deutlichkeit ins Feld geführt werden, hängt von der gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz ab. Vorhanden sind diese Interessen aber in jedem Fall und bestimmen das Handeln der entsprechenden AkteurInnen. Beispielsweise war Drogenpolitik in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren unter anderem mora- lisch geframed, doch seither ist dieser Frame verschwunden und gesundheits- und sicher- heitspolitischer Frame dominieren (Euchner et al. 2013, S. 380). Diese Moralpolitiken sind grundsätzlich einer rational-instrumentellen Argumentation offen und Konflikte können

23 Kapitel 2

über Verteilungsverhandlungen gelöst werden (was bei manifesten Moralpolitiken nicht möglich ist). AkteurInnen können über gezielte moralische Argumentationen versuchen, ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen. Dies ist eine wesentliche Differenzierung, welche über die frühere vereinfachte Zuschreibung der Moralpolitiken als Nullsummen- spiel hinausgeht. Institutionelle Gelegenheitsstrukturen können dabei die Ausgestaltung des Parteien- systems, die offiziellen und inoffiziellen Regeln des Zugangs gesellschaftlicher AkteurIn- nen zur politischen Arena oder die Beziehung zwischen Staat und Kirche sein (Knill et al. 2015d, S. 17). Kulturelle Gelegenheitsstrukturen definiert Knill (2013b, S. 314) als: „spe- cific configurations of cultural value dispositions and their institutional representation (…) that define issue- or country-specific resources for social mobilization.“ Wo können die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung verortet wer- den? Wie Abschnitt 2.2 zeigen wird, ist Sterbehilfe bisher eine manifeste Moralpolitik. Ökonomische Interessen sind praktisch nicht vorhanden. Nur vereinzelt wird in den Dis- kussionen die Befürchtung geäußert, der Staat könnte zukünftig ein ökonomisches Interes- se daran haben, sich durch Sterbehilfe kostenintensiver PatientInnen zu entledigen (vgl. Kapitel 6). Bei der embryonalen Stammzellforschung (Abschnitt 2.3) wird hingegen von den AkteurInnen mehrfach betont, dass eine Liberalisierung wichtig für den Wissen- schafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland sei. Damit wird hier ein konkretes ökonomi- sches Interesse geäußert, was die embryonale Stammzellforschung als latente Moralpolitik klassifiziert.

2.2 Sterbehilfe

Zunächst werden die verschiedenen Formen der Sterbehilfe vorgestellt. Anschließend wird für Deutschland überprüft, welche Eigenschaften hier ausgeprägt sind und begründet, wes- halb Sterbehilfe zur Gruppe der manifesten Moralpolitiken gehört.

2.2.1 Formen der Sterbehilfe

Sterbehilfe ist nicht gleich Sterbehilfe. Es gibt verschiedene Formen, wobei üblicherweise drei Arten unterschieden werden. Diese werden zunächst im Zuge einer allgemeinen Ein- führung vorgestellt. Daran schließen sich die Darstellung der Diskussion über die morali- sche Richtigkeit von Sterbehilfe und ein Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingun- gen in Deutschland an.

24 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Altgriechischen und lässt sich mit „guter Tod“ übersetzen (euthanasía = leichter Tod; eũ = gut, wohl; thánatos = Tod). In vielen Ländern ist das Wort Euthanasie gebräuchlich, um ein freiwilliges, selbstbestimmtes Aus- scheiden aus dem Leben zu bezeichnen.21 Der Begriff wird im deutschen Sprachraum je- doch weniger verwendet. Hier hat sich der Begriff „Sterbehilfe“ etabliert. Ein zentraler Grund liegt in der Verwendung des Begriffes „Euthanasie“ als Euphemismus für die Tö- tungsprogramme im Dritten Reich in den 1930er und 1940er Jahren. Damals fielen unzäh- lige körperlich wie geistig behinderte Menschen der Aktion zum Opfer, welche das Ziel hatte „unwertes“ Leben auszulöschen. Während diese Tötung damals nicht auf Wunsch der Opfer stattfand, wird heute die Sterbehilfe im Rahmen eines freiwilligen, selbstbestimmten Ausscheidens aus dem Leben mit etwaiger Unterstützung Dritter diskutiert. Es werden meist drei Formen der Sterbehilfe unterschieden: passive und aktive Sterbehilfe und der ärztlich assistierte Suizid. Abbildung 2.2 stellt die Formen der freiwilligen Sterbehilfe in der Übersicht dar. Sie werden auf einem Kontinuum verortet, welches das Ausmaß der Hilfe Dritter beschreibt.

Abbildung 2.2: Formen der freiwilligen Sterbehilfe

Quelle: Eigene Darstellung.

Bei der aktiven Sterbehilfe führt eine Person die Tötung durch. Es ist eine intendierte, bei- spielsweise von einer Ärztin oder einem Arzt „aktiv herbeigeführte, vorzeitige Beendigung des Lebens durch vorsätzliche Verabreichung lebensbeendender Substanzen“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 330). Beim assistierten Suizid, auch „Beihilfe zum Suizid“ genannt, hilft eine Person dem Sterbewilligen „bei der Verwirklichung von dessen selbstständig gefasster Entscheidung, sein Leben zu beenden, zum Beispiel durch Bereitstellung eines tödlichen Medikaments“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 331). Diese helfende Person bestimmt aber nicht den Geschehensablauf und führt die Tötungshandlung nicht selbst aus (Oduncu und Eisenmen- ger 2002, S. 331). Die unterlassene Suizidverhinderung und die aktive Beihilfe zum Suizid sind damit straflos. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Mit der sogenannten Garantenstel-

21 Zum Beispiel „euthanasia“ im angelsächsischen Sprachraum, „Euthanasie“ in den Niederlanden und Belgien (Oduncu und Eisenmenger 2002). 25 Kapitel 2 lung werden behandelnde ÄrztInnen sowie Angehörige (die Garanten) nach § 13 StGB bzw. § 323c StGB verpflichtet, eine suizidale Person zu retten, sobald diese die Tatherr- schaft über das Geschehen verloren hat. Das ist in der Regel mit Eintritt der Bewusstlosig- keit der Fall. Dann müssen die Garanten Erste Hilfe leisten, ansonsten machen sie sich mindestens der unterlassenen Hilfeleistung strafbar (Schöch 2007, S. 958). Wie die Analyse zeigen wird, wird in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre in den Debatten zwischen dem ärztlich assistierten und dem gewerblich organisierten assistierten Suizid unterschieden. Letzteres bezieht sich auf Sterbehilfeorganisationen, die ihre Dienste gewerblich (also gegen Bezahlung) oder zumindest organisiert (d. h. mehrfach) anbieten. Die Durchführung dieser assistierten Suizide liegt oft in den Händen von ÄrztInnen. Der eigentliche ärztlich assistierte Suizid ist aber davon abzugrenzen, da er nicht als aus- schließlicher Dienst, sondern vereinzelt und im Rahmen eines ganzheitlichen ÄrztInnen- PatientInnen-Behandlungsverhältnisses stattfindet. Im Folgenden wird der gewerblich or- ganisierte assistierte Suizid als „organisierter assistierter Suizid“ abgekürzt.22 In der Dis- kussion bezog sich die deutliche Mehrheit der AkteurInnen auf Sterbehilfeorganisationen, wenn sie von gewerblich organisierter assistierter Sterbehilfe sprachen. Vereinzelt wurden damit aber ebenfalls ÄrztInnen gemeint, die wiederholt PatientInnen zum Tode verhelfen würden. Daher umfasst der Begriff „organisiert“ eher beide Formen als der Begriff „ge- werblich“. Die passive Sterbehilfe schließlich ist der bewusste Behandlungsverzicht von Ster- bewilligen oder die aktive Einstellung von Behandlungsmaßnahmen, was zum Tode führt. In Fällen, in denen der Tod durch die medizinischen Maßnahmen nur hinausgezögert aber nicht abgewendet wird, ist die Beendigung dieser lebensverlängernden Maßnahmen nicht die Todesursache. Ursache ist hier die Krankheit des bzw. der Sterbewilligen (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 331).23 Dem Patienten bzw. der Patientin wird durch die passive

22 Die hin und wieder in Definitionen genannte indirekte aktive Sterbehilfe beschreibt „die unbeabsichtigte, nicht- intendierte Inkaufnahme des vorzeitigen Todeseintritts als Nebenwirkung einer sinnvollen Therapiemaßnahme bei Einwilligung des [Sterbewilligen, Anm. d. Verf.] nach vollständiger Aufklärung (…) Die primäre Absicht ist hier nicht die Verkürzung des Lebens, sondern die Linderung von Leiden“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 331). Diese Form der Sterbehilfe ist in vielen Ländern nicht als selbstständiger Tathergang in der Rechtsetzung oder Rechtsprechung bekannt, vielmehr gehen diese Handlungen als übliche ärztliche Praxis in der Behandlung von PatientInnen auf. Die Grenzen zur aktiven Sterbehilfe und zur passiven Sterbehilfe sind fließend. Zudem stand diese Sterbehilfeform in Deutschland nie im Zentrum der Sterbehilfe-Debatte. Aus diesen Gründen wird sie in der Studie nicht berücksichtigt. Der Bundesgerichtshof befasste sich in zwei Urteilen mit der indirekten Sterbehilfe (Entscheidung vom 15.11.1996, 3 StR 79/96; Entscheidung vom 07.02.2001, 5 StR 474/00. „Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, daß sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Neben- folge den Todeseintritt beschleunigen kann“ (BGH 3 StR 79/96, 2. Leitsatz, 15.11.1996). 23 Die Terminologie ist nicht unumstritten, weil sie missverständlich ist und zum Beispiel der Begriff „Hilfe“ eine positive, wünschenswerte Konnotation hat. So schlug der Nationale Ethikrat (2006, S. 53-56) alternativ „Sterbebe- gleitung“, „Therapien am Lebensende“, „Sterbenlassen“ (anstelle von passiver Sterbehilfe), „Beihilfe zur Selbsttö- tung“ (anstelle von assistiertem Suizid) und „Tötung auf Verlangen“ (anstelle von aktiver Sterbehilfe) vor. Er 26 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation

Sterbehilfe eine Hilfe durch das Sterbenlassen dargeboten. Er oder sie darf im Sinne des Selbstbestimmungsrechts ärztliche Behandlungen ablehnen, auch dann, wenn dies eine lebensverkürzende oder unmittelbar tödliche Folge hat. Die Ärztin bzw. der Arzt hat kein Recht auf eine Behandlung und auch keine Pflicht, gegen den Willen des Patienten bzw. der Patientin zu therapieren (Rengier 1998, S. 53). Meist wird bei der Sterbehilfe Bezug genommen auf die ÄrztInnen-PatientInnen- Konstellationen, so z. B. bei Oduncu und Eisenmenger (2002, S. 330-331). Allerdings kann der Geltungsbereich ausgedehnt werden und sich auf eine sterbewillige Person und ihre nahen Angehörigen oder ihr helfende Person beziehen. Dies ist in der Praxis keine Seltenheit, wie diverse Gerichtsverfahren aus Deutschland und anderen Ländern zeigen, in denen Angehörige angeklagt waren, ihre todkranken Verwandten auf deren Wunsch hin getötet zu haben bzw. passive Sterbehilfe geleistet zu haben oder in denen sie auf Einstel- lung der lebenserhaltenden Maßnahmen geklagt hatten.24 Damit reicht die Sterbehilfe weit über das ÄrztInnen-PatientInnen-Verhältnis hinaus.

2.2.2 Moralspezifische Eigenschaften der Sterbehilfe

Im Folgenden wird die Handhabung der Sterbehilfe in Deutschland mit den zuvor vorge- stellten moralpolitischen Eigenschaften abgeglichen und diskutiert, inwiefern Sterbehilfe typische moralpolitische Züge aufweist und als manifeste Moralpolitik klassifiziert werden kann. Lag die Lebenserwartung um 1900 in Deutschland unter 50 Jahren, so ist sie in den folgenden Jahrzehnten steil angestiegen, erreichte um 1980 70 Lebensjahre und liegt heute bei ungefähr 80 Jahren (Destatis 2015b). Angesichts moderner medizinischer Möglichkei- ten sind lebensverlängernde Therapien von alten und kranken Menschen möglich, die ohne diese Behandlungen bereits gestorben wären. So ist die Zahl pflegebedürftiger Menschen in den letzten Jahren ebenfalls angestiegen (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2015). Gleichzeitig hat sich das Verhältnis der modernen Gesellschaft zum Tod gewandelt: War das Sterben früher der letzte Schritt, ein Abschied aus dem Leben und von der Fami- lie, der meist zu Hause stattfand, so sterben die Menschen heute häufig in Sanatorien, Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Der Tod und mit ihm das Abschiedsritual verschwin- det zunehmend aus dem Lebensalltag. Folglich hat sich das Verhältnis der Menschen zum

benennt allerdings zugleich bleibende Schwierigkeiten dieser Terminologie. In Gesellschaft und Politik werden weiterhin mit den bisherigen Begriffen die Debatten geführt, weswegen sich auch die Dissertation daran orientiert. 24 Zum Beispiel Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.06.2010 (2 StR 454/09) und Entscheidung vom 17.09.2014 (XII ZB 202/13). 27 Kapitel 2

Tod verändert. War er früher allgegenwärtig und als Bestandteil des Lebenszyklus akzep- tiert, wird er heute weitestgehend verdrängt. Dabei ist angesichts der medizinischen Ent- wicklung und der Individualisierung der Gesellschaft, in der das Recht des Einzelnen auf autonome Entscheidungen immer mehr betont wird, eine Entscheidung über den Umgang mit Sterbewilligen und Sterbenden wichtiger denn je: Wie möchte und kann jeder sterben? Ist ihm diese Entscheidung selbst überlassen, oder sollte es dafür gesellschaftliche Normen geben, denen sich der Einzelne zu fügen hat, zu seinem eigenen Schutz und dem Schutz der Gesellschaft? Die Frage nach dem Recht auf einen selbstbestimmten Tod und Sterbehilfe ist in den letzten Jahren zunehmend Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Diskussionen ge- worden (Cohen et al. 2006b).25 Das Thema ist wichtig für die Öffentlichkeit, wie die De- batten um die Sterbehilfe in Deutschland und anderen Ländern zeigen (France-Soir 2011; Kröncke 2003; Swantje 2010). Dabei variiert der Grad der öffentlichen Kontroverse im Zeitverlauf. Oft sind es spektakuläre Fälle, die das Thema in den Fokus der gesellschaftli- chen Aufmerksamkeit rücken (so zum Beispiel, wenn Menschen die aktive Sterbehilfe für sich beanspruchen oder ÄrztInnen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe fordern) und von den Medien durch eine breite Berichterstattung begleitet werden.26 Das geschieht meist in jenen Ländern, in denen bestimmte Formen der Sterbehilfe verboten oder nicht eindeutig reguliert sind und Interessengruppen deren Einführung fordern oder ÄrztInnen sich dazu bekennen, Sterbehilfe geleistet zu haben (Kröncke 2003; Swantje 2010). Bei der Sterbehilfe war lange Zeit die Ablehnung in der Gesellschaft und Politik klar dominierend. Gerade in den letzten Jahren mehrten sich aber Stimmen, welche eine Aner- kennung der Sterbehilfe und ihre Liberalisierung fordern, während sich die GegnerInnen vehement dagegen aussprechen. Dadurch hat das Thema einen Wandel von einer ein- zu einer zweiseitigen Moralpolitik erfahren. In dieser Kontroverse treffen grundlegende Werte aufeinander. Die christlich geprägte Vorstellung des Rechtes und der Pflicht auf Leben sieht die Sterbehilfe als Verstoß gegen das Gebot nicht zu töten an und lehnt diese Hand- lung grundsätzlich ab (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonfe- renz 2003). Die liberale Strömung betont hingegen das Recht des Individuums auf Selbst- bestimmung und darauf, sein Leben freiwillig beenden zu können und einen würdigen Tod zu sterben (Kemmelmeier et al. 1999). Dies führt zu großen Schwierigkeiten bei der Kom- promissfindung, da sich beide Seiten auf ihre grundlegenden Werte berufen, die für sie

25 Teile dieses Abschnittes wurden aus der Masterarbeit der Autorin (Nebel 2011, S. 11-14) übernommen. 26 Zum Beispiel der Fall von Terri Schiavo in den USA (Becker-Schwarze 2005; Rüb 2003), Victor Humbert in Frankreich (ap 2003) oder E.K. (Spiewak 2010); Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.06.2010 (2 StR 454/09). 28 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation identitätsstiftend sind und von denen sie in der Folge nicht abrücken können und wollen (Mooney 2001a, S. 5). Die fachliche Einfachheit, die den moralischen Themen im Allgemeinen zugespro- chen wird, ist hier nicht gegeben (Mooney 2001a, S. 7). Es ist daher kaum davon auszuge- hen, dass sich alle BürgerInnen mit den medizinischen Details auskennen oder sich das entsprechende Wissen aneignen. Dies beruht unter anderem auf der Tatsache, dass die me- dizinischen Möglichkeiten in diesem Bereich technisch weit fortgeschritten sind. Das führt zu individuellen Krankheitsverläufen, die individuelle Fragen nach adäquater Behand- lungsmethode und Sterbehilfe aufwerfen: Bei welchem Krankheitsgrad kann die Patientin oder der Patient nach der Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen verlangen? Wann dürfen dies die Angehörigen entscheiden, wenn die Patientin oder der Patient dazu nicht mehr in der Lage ist? Welche Rechte und Pflichten haben die Ärztinnen und Ärzte? Der Gesetzgeber hat daher entweder keine Regelungen getroffen oder solche, die nicht auf je- den Einzelfall „passen“ und damit Handlungsspielräume für Angehörige, ÄrztInnen und PflegerInnen eröffnen. Dabei gibt es international große Unterschiede. Nur in den Nieder- landen und in Belgien ist die Sterbehilfe umfassend liberalisiert und wird quasi als Teil der ärztlichen Behandlung angesehen. In der Schweiz ist der assistierte Suizid unter definierten Bedingungen straffrei. In den meisten Ländern ist die aktive Sterbehilfe verboten und die passive Sterbehilfe nicht eindeutig vom Gesetzgeber geregelt (Preidel und Nebel 2015). Die passive Sterbehilfe wird – wenn überhaupt – meist über das Rechtsinstitut der Patien- tenverfügung geregelt. So hat beispielsweise in Deutschland zunächst der Bundesgerichts- hof in einem Grundsatzurteil die Grenze zwischen legaler passiver Sterbehilfe und verbo- tener aktiver Sterbehilfe konkretisiert, da dies mit der bisherigen Gesetzeslage nur unzu- reichend geschehen war.27 Sterbehilfe ist zunächst ein Thema, das in der Kontroverse von ideellen und nicht materiellen Interessen geleitet ist. Man darf aber nicht übersehen, dass mit steigendem Kostendruck im Gesundheitswesen sich irgendwann die Frage stellen könnte, was kosten- günstiger ist: Der Patientin bzw. dem Patienten Sterbehilfe zu gewähren, oder sie bzw. ihn für weitere Zeit zu behandeln (Häyry und Häyry 1990). Der Mensch strebt eine Maximierung seiner Lebenszeit an. Dies ist insbesondere in den letzten hundert Jahren gelungen. Durch den allgemeinen Fortschritt, der sich eindrück- lich in der Medizin und einem effizienteren Vorsorge- und Versorgungssystem zeigt, stieg die Lebenserwartung in den industrialisierten Nationen über die letzten Dekaden rasant an (OECD 2014). Damit einher geht der gesellschaftliche Wunsch nach Lebenszeitmaximie-

27 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.06.2010 (2 StR 454/09). 29 Kapitel 2 rung und einem möglichst gesunden Leben (was die Gesundheitssysteme finanziell unter Druck setzt). Eine hohe Lebenserwartung bedeutet auch Kapitalschaffung für das Indivi- duum und den Staat als Ganzes. Eine frühzeitige, mutwillige Beendigung des Lebens läuft diesem Trend daher entgegen. Potenziell betroffen ist jede Bürgerin und jeder Bürger. Auf individueller Ebene stellt sich mit zunehmendem Alter die Frage, ob man am Lebensende lebensverlängernde Maßnahmen in Anspruch nehmen oder ein selbstbestimmtes Ende möchte. Für ÄrztInnen stellt sich die Frage ob sie bereit sind, Sterbehilfe zu leisten. Ge- samtgesellschaftlich werden diese Fragen mit den immer leistungsfähigeren Behandlungs- methoden und einer generellen Alterung der Bevölkerung dringender werden. Warum ist aber das selbstbestimmte Ausscheiden aus dem Leben nicht eine alleinige Entscheidung des Individuums? Weshalb urteilt die Gesellschaft über Recht und Unrecht, und weshalb versucht der Staat die Sterbehilfe auf freiwilliger Basis eher zu verhindern, als diesen Bereich völlig der individuellen Entscheidung zu überlassen? Dafür gibt es mehrere Gründe: Nach der christlichen Vorstellung hat der Mensch das Leben von Gott erhalten. Er hat nicht das Recht, dieses Leben selbst zu beenden. Dies ist nur Gott vorbehalten. Jahr- hundertelang war Selbstmord damit eine Sünde. SelbstmörderInnen wurden beispielsweise außerhalb des zentralen Friedhofs beerdigt. Diese Vorstellung herrscht in den Kirchen bis heute vor, insbesondere die katholische Kirche lehnt jede mutwillige Lebensbeendigung weitestgehend ab:

„Jeder ist vor Gott für sein Leben verantwortlich. Gott hat es ihm ge- schenkt. Gott ist und bleibt der höchste Herr des Lebens. Wir sind ver- pflichtet, es dankbar entgegenzunehmen und es zu seiner Ehre und zum Heil unserer Seele zu bewahren. Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentü- mer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen.“ (Vatikan 1997, Abs. 2280).

BefürworterInnen der Sterbehilfe pochen hingegen auf das individuelle Selbstbestim- mungsrecht. Sie verweigern den christlichen Gedanken, dass der Mensch nicht selbst über sein Lebensende bestimmen darf. Jeder und jede Einzelne sollte selbst über sein bzw. ihr Leben verfügen können. Es gibt unterschiedliche Ansichten, wie weit dieses Selbstbe- stimmungsrecht gehen soll. Radikale Stimmen wie der ehemalige Hamburger Innensenator Roger Kusch (Pergande und Schmiese 2008) oder Schweizer Sterbehilfeorganisationen wie Exit oder Dignitas (mit ihrer deutschen Ablegerin) fordern, die aktive Sterbehilfe bzw. den assistierten Suizid zu legalisieren (vgl. u. a. Reuters 2007). Viele Stimmen aus Politik und Gesellschaft lehnen diese weitreichende Liberalisierung zwar ab, wünschen sich aber

30 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation eine liberalere und vor allem eindeutigere Regulierung der passiven Sterbehilfe, zum Bei- spiel der Deutsche Juristentag 2006 (Müller 2006), aber auch KirchenvertreterInnen sowie ÄrztInnen (vgl. Kapitel 6). Oft wird bei der Diskussion über eine mögliche Lockerung des Sterbehilfeverbots vonseiten der OpponentInnen die Befürchtung geäußert, dies stelle einen Dammbruch dar. Sie argwöhnten, dass wenn erst einmal Sterbehilfe grundsätzlich erlaubt würde, es über die Jahre zu einer Erosion der strengen Regulierung kommen würde, an deren Ende im schlimmsten Fall die staatlich unterstützte wahllose Tötung stehen könnte. Dies könnte insbesondere die Schwächeren der Gesellschaft betreffen, nämlich Alte und psychisch wie physisch Behinderte. Sollte man zunächst nur für PatientInnen am Lebensende einen assis- tierten Suizid erlauben, dann würde man früher oder später aus Gerechtigkeitsgründen die- ses Recht auch Schwerkranken zusprechen, deren Tod nicht unmittelbar bevorsteht. Eben- so würde man keine genaue Grenze ziehen können, welche Person im Einzelfall als tod- krank gilt und welche nicht. Insbesondere in Deutschland sitzt diese Furcht tief: Das Eu- thanasieprogramm im Nationalsozialismus wird häufig als abschreckendes Beispiel in die Diskussion eingebracht (Fittkau und Gehring 2008, S. 29; Große-Vehne 2005, S. 182; Preidel und Nebel 2015, S. 56). Der Blick über die Grenze in die Niederlande und nach Belgien weckt Befürchtungen, dass es mit einer einmaligen und vorsichtigen Liberalisie- rung nicht getan sein könnte. Dort wurde die Sterbehilfe in den letzten Jahrzehnten von einer informellen, staatlich geduldeten Praxis in eine gesetzliche ärztliche Dienstleistung überführt. Zudem ist oft sogar in der Verfassung der Staat verpflichtet, das Leben zu schüt- zen (siehe zum Beispiel Art. 1 I GG). Dieser Verpflichtung kommt er laut Sterbehilfegeg- nerInnen nicht nach, wenn er die Selbsttötung von Menschen zulässt (vgl. Kapitel 6). Die im vorherigen Abschnitt vorgestellten Eigenschaften der Sterbehilfe in Deutsch- land weisen deutlich auf eine Klassifizierung als manifeste Moralpolitik hin. Es gibt keine Hinweise, dass in der Vergangenheit oder aktuell ökonomische Interessen aktiv im Politik- feld vorhanden sind. Theoretisch wäre es natürlich möglich, dass AkteurInnen ein ökono- misches Interesse ins Feld führen, beispielsweise der Staat Sterbehilfe für ökonomisch sinnvoller hält als die Finanzierung von Altenheim- und Pflegeplätzen. Jedoch bestimmen bis dato grundlegende Wertevorstellungen das Thema.

2.3 Embryonale Stammzellforschung

Was sind embryonale Stammzellen und was unterscheidet sie von anderen Zellen? Wie kann man sie gewinnen? Mit einem Ausflug in die Biologie möchte dieser Abschnitt zu-

31 Kapitel 2 nächst in aller Kürze und Verständlichkeit in die Grundlagen der embryonalen Stammzel- len und deren Erforschung einführen. Diese Informationen erleichtern das Verständnis der später folgenden empirischen Analyse. Daraus lassen sich die moralischen Herausforde- rungen ableiten, mit denen die Gesellschaft im Zuge des naturwissenschaftlichen Fort- schritts konfrontiert wird. Die moralspezifischen Eigenschaften mit Bezug auf Deutschland werden vorgestellt und daraus wird die Klassifizierung der embryonalen Stammzellfor- schung als latente Moralpolitik abgeleitet.

2.3.1 Typen von embryonalen Stammzellen und ihre Verwendung

Stammzellen sind teilungsfähige Zellen, welche die Fähigkeit zur Selbsterneuerung haben. Sie können sich durch Zellteilung reproduzieren und besitzen die Fähigkeit, sich in einzel- ne oder mehrere Zelltypen auszudifferenzieren. Sie sind zur Geweberegeneration in der Lage (Weschka 2010, S. 71).

Abbildung 2.3: Verfahren zur Herstellung von humanen Stammzellen

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2013, S. 10).

Embryonale Stammzellen entstehen durch die Verschmelzung einer männlichen Samenzel- le mit einer weiblichen Eizelle (vgl. Abbildung 2.3, linke Spalte). Diese Befruchtung ge-

32 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation schieht natürlich, kann aber seit einigen Jahren auch im Labor vorgenommen werden, mit- tels der sogenannten In-vitro-Fertilisation. Dieser lateinische Begriff („Befruchtung im Glas“) wird häufig im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung verwendet, welche das Ziel hat, Paaren ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Bei diesem Verfahren werden oft mehr befruchtete Eizellen erzeugt, als anschließend in die Gebärmutter eingepflanzt wer- den. Aus den überzähligen Eizellen lassen sich Stammzelllinien gewinnen. In den ersten Tagen der Verschmelzung, wenn sich die sogenannte Blastozyste gebildet hat, sind die einzelnen Zellen pluripotent. Im Zusammenhang mit Stammzellen werden oft die Begriffe „totipotent“ und „pluripotent“ verwendet. Sie werden in der Naturwissenschaft uneinheit- lich gebraucht. Im Fall der klassischen Embryologie, und nur diese ist für die vorliegende Arbeit von Belang, versteht man unter Totipotenz die Fähigkeit einer Zelle, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln. Pluripotente Zellen hingegen sind dazu nicht mehr in der Lage. Sie können sich aber immer noch unlimitiert selbst erneuern und sich zu verschiedenen Zellen, Gewebe oder Organen ausbilden. Diese pluripotenten Zellen werden im Labor kultiviert und für die Forschung verwendet.28 In jüngerer Zeit haben sich als mögliche Alternativen zur Gewinnung von Stammzel- len das sogenannte Reprogrammieren (vgl. Abbildung 2.3, mittlere Spalte) und die Isolie- rung von Gewebestammzellen (rechte Spalte) entwickelt. Bei der Reprogrammierung wer- den menschliche (post-natale) Körperzellen, zum Beispiel Hautzellen, im Labor mit Genen (Pluripotenzfaktoren) dazu gebracht, sich wie pluripotente Zellen, also Stammzellen zu verhalten. Bei der Isolierung von Gewebestammzellen werden ebenfalls aus dem mensch- lichen Körper Zellen entnommen, allerdings handelt es sich um adulte Stammzellen, die multipotent sind. Diese befinden sich in verschiedenen Typen im erwachsenen Körper und dienen zur Zellerneuerung. So finden sich zum Beispiel adulte Stammzellen im Knochen- mark.29 Sie können sich noch in eine Reihe von bestimmten Zelltypen ausdifferenzieren, aber im Gegensatz zu pluripotenten Zellen nur in eine geringe Anzahl verschiedener Ty- pen. Die beiden letztgenannten Verfahren haben neben forschungsspezifischen Vor- und Nachteilen den Mehrwert, dass für ihre Gewinnung keine Embryonen verbraucht werden.30 Es gibt weitere Möglichkeiten, embryonale Stammzellen zu gewinnen. Zum einen durch den Zellkerntransfer (das sogenannte therapeutische Klonen), bei dem einem Men- schen eine Körperzelle entnommen und deren DNA (Desoxyribonukleinsäure) mit der un- befruchteten, entkernten Eizelle einer Spenderin verschmolzen wird. Anschließend werden

28 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 8-16 (Enquete-Kommission, Zweiter Zwischenbericht). 29 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 13 (Enquete-Kommission, Zweiter Zwischenbericht). 30 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 8-14 (Enquete-Kommission, Zweiter Zwischenbericht); BT Drs. 16/4050, 11.01.2007 (Bundesregierung, Zweiter Stammzellbericht). 33 Kapitel 2 dem Embryo im Blastozystenstadium Stammzellen entnommen.31 Zum anderen können Stammzellen aus den Embryonen bzw. Feten nach einem Schwangerschaftsabbruch isoliert werden (sogenannte embryonale Keimzellen). Zudem ist die Gewinnung von Stammzellen aus neonatalem Nabelschnurblut möglich. Um die Jahrtausendwende waren vor allem die Gewinnung embryonaler Stammzel- len durch In-vitro-Befruchtung und adulte Stammzellen als Forschungsmaterial umfang- reich im Gespräch. Die anderen Verfahren waren und sind entweder ethisch umstritten (z. B. das Klonen) oder führen zu einer zu geringen und qualitativ nicht ausreichenden Mate- rialgewinnung (Feten). Dabei muss zudem beachtet werden, dass diese Verfahren um die Jahrtausendwende (also zur Zeit der Diskussion um die Stammzellgesetzgebung) noch in den Kinderschuhen steckten und daher von vielen ExpertInnen angezweifelt wurde, ob sie jemals die klassische Gewinnung von Stammzellen ersetzen könnten. Auch heute ist diese Kontroverse noch nicht beigelegt, aber angesichts der technischen Fortschritte abgeflacht (vgl. Kapitel 7).

Verwendung von Stammzellen Heute hat sich die Aufregung um das Potenzial der embryonalen Stammzellen weitestge- hend gelegt, die Diskussion hat sich durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahre ver- sachlicht. Den Stammzellen wird immer noch eine Reihe von positiven Eigenschaften zu- geschrieben, allerdings ist die Euphorie der ersten Jahre einem realistischeren Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Zellen zum Beispiel im Therapieeinsatz gewichen. Um die umfangreiche und mitunter emotional aufgeladene Diskussion um die Jahrtausendwende nachvollziehen zu können, muss man einen Blick auf die Hoffnungen werfen, die damals in die Erforschung der Stammzellen gesetzt wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurden adulte Stammzellen und neonatale Stammzellen bereits begrenzt in therapeutischen Verfahren eingesetzt. Erstere dienten zum Beispiel zur Auto- regeneration des Blutes nach einer Krebserkrankung, Letztere wurden zum Beispiel als Ersatz für eine Knochenmarktransplantation bei Kindern eingesetzt.32 Große Erwartungen wurden in zukünftige Entwicklungen gesetzt. Durch die Grund- lagenforschung wollte man Kenntnisse über die embryonale Stammzellentwicklung ge- winnen. Manche ForscherInnen waren der Meinung, dass man nur über die Erforschung der embryonalen Stammzellen Kenntnisse über adulte Stammzellen erlangen könne. Letz-

31 Bei deiner zweiten Variante, dem reproduktiven Klonen, pflanzt man den Embryo in die Gebärmutter einer Leihmutter ein, die ihn austrägt. Reproduktives Klonen des Menschen ist in Deutschland, wie in den meisten Staa- ten, verboten (Embryonenschutzgesetz). Bei Tieren wurden bereits Versuche unternommen, das berühmteste Bei- spiel ist das Klonschaf Dolly. 32 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 13. 34 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation tere Zellen stellten für die ForscherInnen nämlich eine besondere Herausforderung dar, waren sie doch schwerer zu gewinnen und zu vermehren als embryonale Zellen. Neben der Grundlagenforschung waren die Erwartungen in Bezug auf den Einsatz von embryonalen Stammzellen in der regenerativen Medizin besonders groß. Sowohl beim Zell- und beim Gewebeeinsatz sah man potenzielle Einsatzbereiche: Herzinfarkte, Lähmungen, Diabetes, Parkinson und weitere verbreitete Krankheiten sollten durch die Stammzelltherapie heilbar werden. Auch in den Bereichen des Organersatzes, der Gentherapie sowie der Entwicklung und des Testens von Medikamenten wurden Einsatzmöglichkeiten für Stammzellen gese- hen.33

2.3.2 Moralspezifische Eigenschaften der embryonalen Stammzellforschung

Wie bei der Sterbehilfe ist die Kontroverse über die embryonale Stammzellforschung von grundlegenden und christlichen Wertevorstellungen beeinflusst. Umstritten ist, ob Embry- onen Menschenwürde besitzen und wenn sie dies tun, ob diese Menschenwürde abgewo- gen werden darf gegen potenzielle Heilungschancen für viele Menschen. In der deutschen Debatte um die Jahrtausendwende bildeten sich zunächst im Wesentlichen zwei Lager: Während die BefürworterInnen der Forschung sich für eine verbrauchende und unter Um- ständen lebensrettende Forschung aussprachen, wollten die GegnerInnen den Embryo als werdenden Menschen unbedingt schützen (Nebel 2015, S. 90). Nach Art. 1 I GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Diese Würde, so ist eine Sicht, stehe dem menschlichen Leben von Beginn seiner Existenz an zu. Da dieses Dasein um seiner selbst willen und für keinen anderen Zweck existiere, dürfe es auch nicht für Forschungszwecke verbraucht werden. Ein Eingriff in das eigene Leben oder das Leben anderer ist demnach unhaltbar (Hauskeller 2001, S. 11-12). Die Kirche betrachtet das werdende Leben – und damit den Embryo – als unbedingt schützenswert. Diese Haltung hat nicht nur unmittelbaren Einfluss auf die KirchenanhängerInnen, sie hat insgesamt das Verständnis von Leben und Tod in den vom christlichen Glauben dominierten Ländern über Jahrhunderte geprägt (Evangeli- sche Kirche in Deutschland 2001; Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bi- schofskonferenz 1989). In diesem Fall wurde ebenfalls ein Dammbruch befürchtet: Sollte man erst einmal die verbrauchende Embryonenforschung erlauben, dann, so die Opponen- tInnen, ist der Weg zur beliebigen Nutzung des Menschen nicht mehr weit. Verfahren wie beispielsweise das Klonen würden folgen und den Menschen dem Nutzenprinzip unterstel- len (vgl. z. B. Meisner 2002). Gleichzeitig fordern BefürworterInnen der Forschung, die

33 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 1-27. 35 Kapitel 2 möglichen Therapieentwicklungen für Schwerstkranke nicht zu übersehen und als Wert zu schätzen. Durch die Forschung könne unter Umständen Millionen Menschen geholfen werden. Dem Prinzip des Utilitarismus folgend (vgl. Abschnitt 2.1) müsste die Forschung daher unbedingt vorangetrieben werden. BefürworterInnen und GegnerInnen beriefen sich auf ethische und religiöse Grundsätze, die in der Gesellschaft allgemein anerkannt wurden. Angesichts eines solchen, im Inhalt unversöhnlichen Konfliktes verwundert die breite und intensive Debatte wenig. Die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung weist klassische Charakteris- tiken auf, die sie mit anderen Moralpolitiken wie Sterbehilfe, Prostitution oder Homosexu- alität teilt und die sie von anderen Politiken abgrenzen (Engeli und Rothmayr Allison 2013). Zentral ist, dass dieses Thema elementare Werte der Gesellschaft berührt. Das un- bedingte Lebensrecht des Embryos steht gegen andere Werte wie Chancen auf Heilung oder die Forschungsfreiheit. Letztere ist sogar im Grundgesetz (Art. 5 III GG) festge- schrieben und wurde in der Debatte als zentrales Argument ins Feld geführt. Die Argumen- te auf Lebensrecht und Recht auf Heilungschancen basieren ebenfalls auf religiösen Grundüberlegungen. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Debatte. Diese ist ty- pischerweise von Werten und Idealen und nicht von sachlichen Argumenten oder ökono- mischen Interessen bestimmt (Mooney 2001a, S. 4; Studlar 2001, S. 39). Die embryonale Stammzellforschung ist damit als klassisches zweiseitiges Moralthema zu klassifizieren. Im Gegensatz zur Sterbehilfe kommt bei der embryonalen Stammzellforschung allerdings eine ökonomische Komponente hinzu: Die Forschung und daraus resultierende Ergebnisse sind für ein Land durchaus von wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Interesse, insbe- sondere im Wettbewerb mit anderen Industrienationen (Nebel 2015). In der Debatte zeigten sich – entsprechend den Trennlinien entlang der Befürworte- rInnen und OpponentInnen – relativ klare Pro-Kontra-Strukturen. Die Aufmerksamkeit und Beteiligung der Bevölkerung und der Politik ist vergleichsweise hoch. Das liegt auch da- ran, dass die Forschung im Detail zwar hoch kompliziert ist, sich aber für die Diskussion um den Grundsatzentscheid „Ja oder Nein zur Forschung“ in eine allgemein verständliche und simple Frage gießen lässt: „Opferung von Embryonen zu Heilungs- und Forschungs- zwecken?“ Um für sich selbst eine erste Meinung zu bilden und sich an der allgemeinen Diskussion zu beteiligen, brauchen die BürgerInnen kein besonderes Vorwissen oder Ex- pertInnenwissen. Sie können die Frage, ob Embryonen für die Forschung verbraucht wer- den dürfen, individuell nach ihrem Wertegerüst beantworten. So kann sich jedes Individu- um direkt und ohne Fachwissen eine Meinung bilden und sich in die Diskussion einbrin- gen. Dadurch wird diese Moralpolitik in der Breite wahrgenommen, und der Handlungs-

36 Moralpolitiken – Konzeptspezifikation druck auf die politischen EntscheidungsträgerInnen wächst (Mooney 2001a, S. 8). Es wur- de bereits festgestellt, dass die Framing-Strategie der TeilnehmerInnen in den Debatten berücksichtigt werden muss (Mucciaroni 2011). Bei der embryonalen Stammzellforschung ist dies besonders eindrücklich zu beobachten. Beide Seiten verwenden deontologische Argumente. Die Debatte grenzt sich dabei von instrumentellen Debatten ab, in denen rein rationale Kosten-Nutzen-Argumente verwendet werden (Nebel 2015, S. 90-91). Im Gegensatz zur Sterbehilfe sind bei der Regulierung der embryonalen Stammzell- forschung neben rein wertebezogenen auch ökonomische und gesundheitspolitische Inte- ressen vorhanden. Sie stellt eine latente Moralpolitik dar.

2.4 Zusammenfassung

Moralpolitische Themen weisen eine Reihe von Eigenschaften auf, die sie systematisch von anderen Politiken unterscheiden. Diese Eigenschaften betreffen vor allem die Berüh- rung grundlegender Werte und Normen, die oft einen gesellschaftlichen Dissens hervor- bringen und zu starker Polarisierung führen können. Obwohl moralpolitische Themen oberflächlich gesehen eine geringe Komplexität besitzen und daher eine breite Partizipati- on aufweisen, stellen sie sich bei näherer Betrachtung häufig doch als anspruchsvolle Ma- terie dar, was die politische Diskussion erschweren kann. Die Meinungsvolatilität ist ein weiteres Kennzeichen von Moralpolitik. Sie ist in der Regulierung häufig ein Nullsum- menspiel und daher ist es besonders schwierig, Kompromisse auszuhandeln. Hier kann das Framing eine wesentliche Rolle spielen. Moralpolitiken lassen sich in verschiedene Unterkategorien einordnen, eine davon ist die Biomedizinpolitik. Hierunter werden unter anderem die Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung, aber auch Präimplantationsdiagnostik und Organspende subsumiert. All diese Themen betreffen den Bereich „Leben und Sterben“ und lösen üblicherweise sehr grundsätzliche und kontroverse wertorientierte Debatten über das richtige und falsche Handeln aus. In der Literatur wurden auf Basis der Eigenschaften von Moralpolitiken verschiedene Typologisierungsversuche unternommen. Besonders ergiebig ist die Unterscheidung von Nicht-Moralpolitiken, latenten und manifesten Moralpolitiken (Knill 2013b; Knill et al. 2015d). Während es bei Nicht-Moralpolitiken nie zu einer werteorientierten Debatte kommt (z. B. bei Verwaltungsakten), kreist bei manifesten Moralpolitiken, wie der Sterbe- hilfe, der zentrale Konflikt immer um konkurrierende Werte und Normen der Gesellschaft. Andere Aspekte, wie ökonomische Interessen oder gesundheitspolitische Erwägungen,

37 Kapitel 2 spielen keine Rolle. Latente Moralpolitiken wie die embryonale Stammzellforschung ver- einen hingegen starke Wertekonflikte und andere – z. B. ökonomische – Interessen. Diese unterschiedlichen Aspekte variieren im Zeitverlauf und hängen auch davon ab, welche Interessenkonstellationen vorherrschen und wie sich diese in institutionellen Gelegenheits- strukturen durchsetzen können. Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung haben in Deutschland eine gänzlich unterschiedliche Handhabung in ihrer Regulierung erfahren. Beide Politiken sind „heiße Eisen“, die durch ihre starken Wertekonflikte für die Politik schwer zu einer alle Seiten befriedigenden Lösung zu führen sind. Angesichts der detaillierten Betrachtung der beiden Politiken in diesem Kapitel lassen sich erste Vermutungen aufstellen, weshalb die Sterbe- hilfe kaum auf die politische Agenda gesetzt wurde und eine sehr langsame Regulierungs- änderung erfuhr, während bei der embryonalen Stammzellforschung eine zügige und um- fassende Reform stattfand. Zum einen ist die Sterbehilfe unterteilt in verschiedene Typen, welche ein unterschiedliches Ausmaß an Eingriffen von Dritten in das Leben des Individu- ums bedeuten. Während es bei der passiven Sterbehilfe um das Unterlassen einer lebenser- haltenden Maßnahme geht, bedeutet die aktive Sterbehilfe eben eine aktive Lebensbeendi- gung. Die embryonale Stammzellforschung hingegen kennt diese Klassifizierung nicht. Bei ihr stellt sich im Endeffekt die Frage, ob Embryonen für die Forschung verbraucht werden dürfen oder nicht. Weniger komplex ist das Thema allerdings auch nicht, wie der entsprechende Abschnitt aufgezeigt hat. Ein wesentlicher Unterschied scheint in der Differenzierung zwischen manifester und latenter Moralpolitik zu liegen. So ist die Sterbehilfe als manifeste Moralpolitik möglich- erweise konfliktreicher und unversöhnlicher als die latente Moralpolitik embryonale Stammzellforschung. Diesem Aspekt wird in der Analyse in den Kapiteln 6 und 7 nachge- gangen. Trotz erster möglicher Hinweise bleibt die Frage offen, weshalb die beiden Bio- medizinpolitiken ein unterschiedliches Reformtempo erfahren haben. Diese Forschungs- frage wird im folgenden Kapitel nochmals vertieft diskutiert.

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3 Forschungsfrage und Forschungsstand

Bereits in den 1950er Jahren untersuchte Christoph (1962) die Abstimmungen im briti- schen Unterhaus zur Todesstrafe. Er dokumentierte und benannte erstmals die bemerkens- werte Tatsache, dass bei der Abstimmung den Abgeordneten kein Fraktionszwang aufer- legt wurde, sondern sie vielmehr nach ihrem eigenem Gewissen entscheiden sollten. Chris- toph folgerte daraus, dass das Parlament bei „plumb deep-seated moral codes“ (1962, S. 173) anders agiere als bei anderen Abstimmungen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Forschung zu verschiedenen moralisch um- strittenen Politiken intensiviert und ab den 1990er Jahren unter dem Sammelbegriff Moral- politik durchgeführt. Seither wird den Fragen nachgegangen, was Moralpolitiken von an- deren Politiken unterscheidet und ob Moralpolitiken klassifiziert werden können (vgl. Ka- pitel 2). Zudem wird umfangreiche Forschung zur Ausgestaltung der variierenden Regulie- rung von Moralpolitiken in verschiedenen Ländern durchgeführt. In diesem Zuge werden Faktoren auf ihre Erklärungskraft bezüglich der liberalen bis restriktiven Regulierung ge- testet. Kaum Beachtung hat bisher das variierende Regulierungstempo gefunden. Die Er- klärung des Tempos bildet daher das zentrale Untersuchungsziel der vorliegenden Arbeit. Das Kapitel nimmt zunächst die Schlussfolgerungen aus Kapitel 2 auf und knüpft da- ran die Vorstellung und Diskussion der Forschungsfrage an (Abschnitt 3.1). Diese For- schungsfrage leitet die Aufarbeitung des Forschungsstandes (Abschnitte 0 und 3.3). Dieser wird anhand der bisherigen Forschung nach den Erklärungsfaktoren strukturiert, die mög- licherweise einen Einfluss auf das Regulierungstempo haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung. Ergänzend werden auch verwandte biomedizinische Moralpolitiken herangezogen. Durch thematische Ähnlichkeit dieser Gruppe der Moralpolitiken ist zu vermuten, dass die gleichen Erklärungsfaktoren eine Rolle spielen können.

39 Kapitel 3

3.1 Forschungsfrage

In einigen moralisch umstrittenen Politikfeldern ist es dem deutschen Gesetzgeber gelun- gen, Regulierungen zu verabschieden, auch wenn diese teilweise von heftigen Auseinan- dersetzungen begleitet waren und mehrere Anläufe erforderten, so zum Beispiel beim Schwangerschaftsabbruch, der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder der Prostitution (Knill et al. 2015c). Der Unterschied in der Regulierung der embryonalen Stammzellfor- schung und der Sterbehilfe ist hingegen eindrücklich: In beiden Fällen gab bzw. gibt es Regulierungslücken und Stimmen aus Politik und Gesellschaft, die auf die Schließung die- ser Lücken drängte. Bei der Sterbehilfe ist dieser Handlungsdruck auch schon wesentlich länger (mindestens seit Beginn des Untersuchungszeitraums 1990) vorhanden, während er bei der embryonalen Stammzellforschung vergleichsweise spät, nämlich 1998/1999, ein- setzte. Während es im Fall der embryonalen Stammzellforschung zu einer zügigen Reform 2002 und 2008 kam, gab es hingegen bei der Sterbehilfe bisher keine umfassende ord- nungspolitische Antwort auf die steigende gesellschaftliche Nachfrage. Es gibt eine indi- rekte Regulierung der passiven Sterbehilfe über die Patientenverfügung im Jahr 2009. Wei- tere Anläufe zur Regulierung der verschiedenen Sterbehilfeformen sind aber im Untersu- chungszeitraum im Sande verlaufen. So verblieben der assistierte Suizid und die passive Sterbehilfe in einer rechtlichen Grauzone. Die Entscheidung über ihre Handhabung und Regulierung wurde an Dritte delegiert. Die Ärzteschaft definierte in ihrer Berufsordnung selbstständig Standards über den Umgang mit PatientInnen mit Todeswunsch, und Gerich- te konkretisierten in Einzelfallentscheidungen die Grenzen der Sterbehilfe [Preidel und Nebel 2015]. Die Auflösung des Konfliktes bei der embryonalen Stammzellforschung verlief un- gewöhnlich: Im Jahr 2002 verabschiedete der Bundestag das Stammzellgesetz (StZG). Dieses erlaubt den Import und die Erforschung von Stammzelllinien, jedoch nur für solche Linien, die vor einem bestimmten Stichtag im Ausland hergestellt wurden. Dieser Stichtag wurde 2008 mit einer Novellierung des Gesetzes verschoben, um den ForscherInnen den Zugang zu jüngeren, geeigneteren Stammzelllinien zu ermöglichen. Dieser Regulierungs- stil weicht von den üblichen Mustern bei Moralpolitiken ab: Obwohl es einen starken, öf- fentlich ausgetragenen Wertekonflikt gab, wurde ein stabiler und befriedender Kompro- miss gefunden. Die Stichtagsregelung löste den Grundkonflikt zwischen dem Recht auf Leben und der Ethik des Heilens nämlich nicht [Nebel 2015: 91]. Außergewöhnlich ist auch das Abstimmungsverhalten, da fast alle Bundestagsparteien intern gespalten waren. So hätte man beispielsweise erwarten können, dass die kirchennahe CDU/CSU-Fraktion

40 Forschungsfrage und Forschungsstand geschlossen gegen eine verbrauchende Forschung gestimmt hätte. Die interne Gespalten- heit hätte auch zu einer Nicht-Entscheidung in der Sache führen können. Erstaunlich ist ebenfalls, dass sich der Gesetzgeber gegen den Willen der Bevölkerung entschieden hat. Diese sprach sich nämlich mit 95 Prozent gegen die Forschung aus (GESIS 2013). Gerade bei stark wertbeladenen Themen, die eine ausgeprägte öffentliche Aufmerksamkeit aufwei- sen, würde man erwarten, dass die PolitikerInnen auf die Einstellung ihrer Wählerklientel Rücksicht nehmen (Preidel und Nebel 2015). Daher lautet die zentrale Forschungsfrage: Welche Faktoren führten dazu, dass die embryonale Stammzellforschung in Deutschland sehr zügig reguliert wurde, während sich bei der Sterbehilfe seit Jahrzehnten kaum legislative Aktivität zeigt und Veränderungen hauptsächlich durch Gerichte initiiert oder durchgeführt wurden? Oder kürzer formuliert: Was bedingt das Reformtempo bei Biomedizinpolitiken? Regulierungs- und Reformtempo werden in der vorliegenden Arbeit synonym ver- wendet. Darunter wir die Zeitspanne zwischen der gesellschaftlichen Thematisierung der Sterbehilfe bzw. der embryonalen Stammzellforschung und der Regulierungsentscheidung per Gesetzesverabschiedung verstanden.

3.2 Forschungshistorie und Forschungsstränge

In der US-Literatur setzte man sich seit den 1960er Jahren wissenschaftlich mit der Debat- te über den Schwangerschaftsabbruch und den einschlägigen Urteilen des US Supreme Court auseinander (vgl. u. a. Goggin 1993; Kantner 1968; Norrander 2001). Seit den 1980er Jahren wird in der Politikwissenschaft zunehmend der Begriff Moralpolitik für die- sen Typ von Policies verwendet, denen ein Wertekonflikt zugrunde liegt (Mooney und Lee 1995; Tatalovich und Daynes 1981, 1988b; Tatalovich et al. 1994). Als Moralpolitiken sind diese Themen also nicht erst jüngst in den Fokus der Policy-Forschung gerückt, son- dern wurden zunächst vereinzelt und im zeitlichen Verlauf zunehmend Gegenstand der Forschung. Die intensivere, integrierte und vergleichende Beschäftigung mit Moralpoliti- ken begann ab Mitte der 1990er Jahre wiederum in den USA (vgl. u. a. Meier 1994, 2001; Mooney 2001a; Smith und Tatalovich 2003; Studlar 2001; Tatalovich et al. 1994). Die US-Literatur fokussierte dabei auf die Regulierung im Kontext des US- amerikanischen politischen Systems. Meier (1994, S. 5) stellt zunächst fest, dass eine Public Policy aus der Interaktion von AkteurInnen mit ihrer Umwelt resultiert, welche ihre Wahlmöglichkeiten einschränkt. Für seine Untersuchung der US-Drogenpolitik unter- scheidet er vier Typen von AkteurInnen: politische, bürgerliche, industrielle und bürokrati-

41 Kapitel 3 sche Kräfte, welche auf die Policy-Adaption und Policy-Implementation und schließlich auf das Politikergebnis (Policy-Outcome) Einfluss nehmen (Meier 1994, S. 5-6). Aufseiten der bürgerlichen Kräfte vermutet er die Nachfrage, die Einstellung, die Ethnie, die Exis- tenz von Selbsthilfegruppen und die gesamtgesellschaftliche Problemwahrnehmung als zentrale Einflussfaktoren. Die Industrie sieht er als Einflussfaktor, da sie gegenüber der Politik für die ihren Interessen entsprechenden Politiken werben wolle. Die politischen Kräfte sind die Institutionen und der Parteienwettbewerb. Auf der Umsetzungsseite spielt die Bürokratie mit ihren Kapazitäten, ihrer effektiven Organisation, dem Föderalismus und internem Kompetenzwettbewerb eine Rolle (Meier 1994, S. 6-15). Später folgte die geografische Ausweitung der Forschung auf europäische Länder (Green-Pedersen 2007; Engeli et al. 2012; Heichel und Knill 2013; Knill 2013a; Knill et al. 2015b; Minkenberg 2002; Studlar und Burns 2015) und die inhaltliche Differenzierung: Eine steigende Zahl an Studien geht der Agendasetzung von Moralpolitiken nach (Engeli et al. 2012; Green-Pedersen 2007; Smith und Glick 1995), untersucht die Positionierung verschiedener gesellschaftlicher und politischer Gruppen und deren Framing im politischen Diskurs (Euchner et al. 2013; Meidert und Nebel 2013; Varone et al. 2006) sowie in ver- gleichenden Studien den Politikwandel (Hurka und Nebel 2013; Knill et al. 2015b; Knill et al. 2015c; Schmitt et al. 2013) bzw. die unterschiedlichen Politikergebnisse (Fink 2008b; Minkenberg 2002; Rinscheid 2013; Studlar und Burns 2015). Diese Studien sind haupt- sächlich auf der Makroebene angesiedelt mit einzelnen Blicken auf die Mesoebene. Es werden entweder einzelne Fälle untersucht (Fink 2007) oder eine vergleichende Perspekti- ve über mehrere Moralthemen (Engeli und Varone 2011; Knill et al. 2015c; Knill et al. 2014a) oder mehrere Länder hinweg eingenommen (Banchoff 2005; Bleiklie et al. 2004; Engeli et al. 2012; Engeli und Varone 2011; Fink 2008a; Knill et al. 2015b; Schiffino et al. 2009; Minkenberg 2002, 2003, 2010; Studlar und Burns 2015). In einer umfangreichen Studie, welche einen Zeitraum von 1960 – 2010, mehrere eu- ropäische Staaten und mehrere Moralpolitiken umfasst, untersuchen Knill et al. (2015b) die Regulierung von Moralpolitiken. Sie entwickeln dabei verschiedene Typen von Regu- lierungsstilen, welche sich aus den gesetzlichen Regeln und Sanktionen zusammensetzen. Die Autoren konzentrieren sich auf zwei Aspekte des Politikwandels: Zum einen wollen sie herausfinden, welche Faktoren zu einem Politikwandel führen; zum anderen sind sie an denjenigen politischen Institutionen interessiert, die einen Einfluss darauf haben, ob und wie Moralpolitiken durch den politischen Prozess geschleust und verändert werden. Sie stellen für latente Moralpolitiken fest, dass diese dann einem Regulierungswandel unterlie- gen, wenn ihre Effektivität in Zweifel gerät, es also empirische Belege gibt, dass der Status 42 Forschungsfrage und Forschungsstand quo nicht mehr in der Lage ist, aufkommenden Problemen mit adäquaten Lösungen zu begegnen (Adam et al. 2015, S. 267-268). Für manifeste Moralpolitiken tritt dieses Effi- zienzproblem hinter dem Legitimitätsproblem zurück: Dieses Problem sehen die Autoren hauptsächlich als Folge eines gesellschaftlichen Wertewandels, der zur Bildung von sozia- len Bewegungen führt, welche wiederum versuchen, den Status quo zu verändern. In dieser Folge sind es oft Gerichte, die sich zunächst in Einzelfallentscheidungen mit abweichen- dem Individualverhalten auseinandersetzen und mit ihren Entscheidungen Druck auf den Gesetzgeber aufbauen, die bestehende Regulierung zu überarbeiten (Adam et al. 2015, S. 268-270). Die Autoren gehen zudem davon aus, dass Status quo-Veränderungen auf der Regulierungsdimension und der Sanktionierungsdimension geschehen können. Sollte es auf der Regulierungsdimension zu einer Liberalisierung kommen, so könnte als Aus- gleichsstrategie – um die GegnerInnen einer Liberalisierung zufriedenzustellen – für die verbleibenden Verbote eine höhere Sanktion eingeführt werden. Diese Strategie komme eher bei manifesten als bei latenten Moralpolitiken vor (Adam et al. 2015, S. 270-271).

Embryonale Stammzellforschung Bereits vor der wissenschaftlichen Innovation von 1998 waren der Embryonenschutz und mit ihm verwandte Verfahren der reproduktiven Medizin Gegenstand staatlicher Regulie- rung und damit politikwissenschaftlicher Betrachtung (Betta 1995; Mulkay 1993). Die Staaten haben auf die wissenschaftliche Innovation von 1998 in der embryonalen Stammzellforschung unterschiedlich reagiert: Die Spannweite reicht von Nichtregulierung über liberale und strikte Regulierung bis zu einem gänzlichen Verbot der Forschung. In diesem Zuge ist eine Reihe von Studien entstanden, die meisten mit qualitativem Fokus und kleiner Fallzahl (Banchoff 2005; Engeli und Rothmayr Allison 2013; Gottweis 2002; Mintrom 2013; Schiffino et al. 2009) und seltener mit quantitativem Ansatz (Fink 2008a, 2008b). Neben der im Vergleich zur Sterbehilfe recht umfangreichen politikwissenschaftli- chen Literatur wurde auch in benachbarten Disziplinen zur embryonalen Stammzellfor- schung geforscht. Die Rechtswissenschaft setzte sich vor allem mit den nationalen und internationalen Regulierungen auseinander und prüfte, inwieweit diese harmonieren (Weschka 2010; Vöneky und Petersen 2006). In der Philosophie wurden vor allem die ethischen Aspekte einer verbrauchenden Embryonenforschung unter die Lupe genommen (Ach und Runtenberg 2002; Eissa und Sorgner 2011; Frewer 2011; Herdgen 2001; Mosko- op 2009; Wuktetis 2006). Diese Studien seien hier erwähnt, da sie zum Teil politikwissen- schaftlich relevante Aspekte enthalten und daher Eingang in diese Arbeit gefunden haben.

43 Kapitel 3

Sterbehilfe Parallel zur verstärkten regulativen Tätigkeit im Politikfeld Sterbehilfe seit den 1990er Jahren gibt es seit dieser Zeit intensivere Forschung in diesem Bereich. Aufmerksam wur- den die Ausnahmefälle der Liberalisierung von aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden (2001) und Belgien (2002) betrachtet (Adams und Nys 2003; Green-Pedersen 2007; Patel 2004; Schiffino et al. 2009).34 Einige Studien gingen über die Einzelfallbetrachtung hinaus und stellten qualitative Zwei- oder Mehrländervergleiche an (Adams und Nys 2003; Am- mermann 2005; Green-Pedersen 2007; Griffiths et al. 2008; Khorrami 2003; Patel 2004; Scherer und Simon 1999; Smith und Glick 1995; Sohn und Zenz 2001). Aus politikwissenschaftlicher Sicht wurde bisher weniger Literatur veröffentlicht, die sich mit den Erklärungsfaktoren auseinandersetzt (Preidel und Knill 2015; Preidel und Ne- bel 2015). Rege und für die Politikwissenschaft fruchtbare Publikationstätigkeit gibt es hingegen in den benachbarten Disziplinen Rechtswissenschaft, Soziologie und Philoso- phie35: Denn hier werden Veränderungen in der gesetzlichen Regulierung der Sterbehilfe bzw. in der Rechtsprechung zur Sterbehilfe aufmerksam beobachtet, verglichen, analysiert und kommentiert. Damit wird auch politikwissenschaftlichen Fragen nach ökonomischen, religiösen, kulturellen oder historischen Faktoren für die Ausgestaltung der Sterbehilfe nachgegangen. In der Rechtswissenschaft geschieht dies sowohl im Mehrländervergleich (vgl. u. a. Guillod und Schmidt 2005; Khorrami 2003; Koch et al. 1997; Labuschange 2004; Oduncu und Eisenmenger 2002) als auch deutschlandspezifisch (Ehlert 2004; Grimm und Hillebrand 2009; Große-Vehne 2005; Schöch 2007; Schreiber 2008; Wasser- mann 1993). Die philosophische Literatur befasst sich mit den ethischen Aspekten der Sterbehilfeformen (Benzenhöfer 1999; Braun 2000; May 2003; Simon 2000; Wittwer 2003). Vereinzelt gibt es Publikationen, die – wie beispielsweise Huxtables „Euthanasia, Ethics and the Law“ (Huxtable 2007; Rosenfeld 2004) – welche mehrere Disziplinen in sich vereinen.36Aus der Soziologie gibt es einige Studien zur Einstellung der Bevölkerung zur Sterbehilfe (Cohen et al. 2006a; Cohen et al. 2006b; Kemmelmeier et al. 2003; Verba-

34 Die Schweiz (assistierter Suizid) und Luxemburg (aktive Sterbehilfe) haben kaum bzw. keine Beachtung in der einschlägigen Forschungsliteratur gefunden. 35 Auch in der Medizin gibt es eine Reihe von Untersuchungen zu der praktischen Ausgestaltung der Sterbehilfe im Behandlungszusammenhang und zu den Einstellungen von Ärztinnen und Ärzten, im Pflegebereich arbeitenden Personen sowie PatientInnen zur Sterbehilfe (Guirimand et al. 2014; Müller-Busch et al. 2005). Diese sind zwar potenziell von Relevanz für politikwissenschaftliche Fragestellungen, wurden aber in der Forschung bisher nicht entsprechend eingebunden. 36 Selbstverständlich gibt es in anderen Disziplinen ebenfalls Forschungstätigkeit zur Sterbehilfe. Diese Studien haben aber keine unmittelbaren Berührungspunkte mit der Politikwissenschaft (zum Beispiel Teile der medizini- schen Forschung) oder sind rein deskriptive Studien über den rechtlichen Status Quo mit normativen Auslegungen (Rechtswissenschaften). Sie werden daher hier nicht weiter berücksichtigt. 44 Forschungsfrage und Forschungsstand kel und Jaspers 2010). Diese Studien werden daher in diesem Kapitel und in der Fallanaly- se berücksichtigt.

3.3 Regulierung(stempo) als Gegenstand der Moralpolitikforschung

In der vorliegenden Studie wird der Frage nachgegangen, wie sich das unterschiedliche Regulierungstempo bei Biomedizinpolitiken erklären lässt. Dazu muss zunächst die bisher erfolgte Forschung in diesem Bereich aufgearbeitet und hinsichtlich potenzieller Erklä- rungsfaktoren untersucht werden. Der Forschungsstand konzentriert sich vor allem auf die Politiken Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung. Wo es allerdings angesichts der Literaturlage sinnvoll erscheint, wird der Fokus auf eng verwandte Biomedizinpoliti- ken, wie ART37-Technologien und Schwangerschaftsabbruch und darüber hinaus erweitert. Damit soll das Bild der Bandbreite an Studien und möglichen Erklärungsfaktoren vervoll- ständigt werden. Zum anderen werden – angesichts der noch geringen Anzahl an Studien zum Reformtempo – die Erklärungsfaktoren für einen Regulierungswandel berücksichtigt. Inwiefern diese Faktoren dann auch das Regulierungstempo erklären können, wird in den Fallanalysen überprüft werden. Der Forschungsstand konzentriert sich auf potenzielle Er- klärungsfaktoren, welche im Rahmen der innerdeutschen Studie untersucht werden kön- nen. Folglich werden institutionelle Faktoren wie beispielsweise das Regierungssystem nicht berücksichtigt.38

Pfadabhängigkeiten Für die Regulierung der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung sprechen einige Studien der historischen Belastung durch den Nationalsozialismus Erklärungskraft zu (Banchoff 2005; Engeli und Rothmayr 2012; Fink 2007; Gottweis 2002; Preidel und Nebel 2015). Fink (2007, S. 124) vergleicht die deutsche Regulierung mit 13 weiteren westlichen Industrienationen und sieht seine These vom deutschen Sonderweg bestätigt, der auf die Folgen des Nationalsozialismus und die in Deutschland besonders intensiv ge- führte Verfassungsdiskussion zurückzuführen sei. Die deutsche Embryonenforschungspoli- tik ist vergleichsweise restriktiv reguliert. Die Lehren aus dem Nationalsozialismus haben, so Fink (2007, S. 107), „den Diskurs derart vorstrukturiert, dass vor allem die Gegner der

37 ART – Assisted Reproductive Technology. Hierbei handelt es sich um Verfahren bzw. Forschung an Eizellen und Spermien und deren künstliche Zusammenführung. Darunter fallen auch die Forschung an Embryonen und Stammzellen. 38 Dies bedeutet natürlich nicht, dass institutionelle Faktoren keinen Einfluss auf die Regulierung von Moralpoliti- ken haben können (vgl. z. B. Varone et al. 2006). 45 Kapitel 3

Embryonenforschung eine Deutungshegemonie erringen konnten (Gottweis 2002) oder die Präferenzen aller großen Parteien vereinheitlicht.“ Die Gründe für die Unfähigkeit Deutschlands, eine explizite und liberale Regulie- rung der Sterbehilfe einzuführen, sehen einige AutorInnen ebenfalls in der nationalsozialis- tischen Vergangenheit. Durch das Euthanasieprogramm im Dritten Reich wurde das The- ma in den Jahrzehnten nach dem Krieg tabuisiert (Fittkau und Gehring 2008; Große-Vehne 2005; Preidel und Nebel 2015). Ähnlich wie bei der Sterbehilfe, wird im Fall der embryo- nalen Stammzellforschung der nationalsozialistischen Historie ein Einfluss auf die jünge- ren Debatten über die Behandlung von Embryonen nachgesagt. Die Vernichtung von Le- ben während des Nationalsozialismus habe einen langen Schatten auf dieses Politikfeld geworfen (Engeli und Rothmayr 2012; Fink 2007; Gottweis 2002) und eine im internatio- nalen Vergleich ungewöhnlich starke Grundsatzdebatte mit Verfassungsbezug hervorgeru- fen (Fink 2007; Gottweis 2002). An diese Befunde ist der Beitrag von Engeli und Rothmayr Allison (2013) anschluss- fähig. Sie betrachten in einer vergleichenden Studie die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung in 15 westeuropäischen Staaten. Sie verneinen einen entscheidenden Einfluss von technischer Entwicklung oder ökonomischen Überlegungen. Vielmehr wür- den länderspezifische Faktoren die entscheidende Rolle spielen: Die Pfadabhängigkeit sei der zentrale Erklärungsfaktor für die Regulierung in den einzelnen Staaten. Dem einmal eingeschlagenen liberalen oder restriktiven Weg blieben die Länder treu.

Religion, gesellschaftliche Einstellung und Polarisierung Mooney schreibt der öffentlichen Meinung einen besonderen Einfluss auf die Regulierung von Moralpolitiken zu (Mooney 2001a, S. 9-13). Diese Meinung wiederum wird durch verschiedene Faktoren gebildet. Der Rolle der Religion wird in der Literatur weiträumig Beachtung geschenkt. Für die westlichen Industrienationen wird das Christentum mit sei- nen Institutionen, allen voran der katholischen und der evangelischen Kirche als Funda- ment von Wertvorstellungen und Einstellungen zu ethischen Themen angesehen (Engeli et al. 2012; Mooney 2001a). Wie beim Einfluss von ökonomischen Interessen ist diese Ansicht in der Literatur je- doch nicht unwidersprochen geblieben (Asal et al. 2013; Fink 2007; Heichel et al. 2015a; Knill et al. 2015b; Knill und Preidel 2014; Knill et al. 2014a, 2014b). Diese Uneinigkeit über die Wirkung der Religion liegt zum einen an der divergierenden Fallauswahl. Die Studien sind fast ausschließlich qualitativ angelegt, mit kleiner, unterschiedlicher Fallaus- wahl und dem Fokus auf verschiedenen Aspekten, z. B. auf die Agendasetzung (Engeli et

46 Forschungsfrage und Forschungsstand al. 2012) und Politikwandel (Knill et al. 2015c; Knill et al. 2014b, 2014a; Schmitt et al. 2013). Zum anderen wird der Faktor unterschiedlich konzeptualisiert und operationalisiert. So wird Religion als religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung eines Landes verstanden (Asal et al. 2013; Castles 1994) oder Religiosität als Kirchgangshäufigkeit der Bevölke- rung operationalisiert (Traunmüller 2012). In der Policy-Forschung wird unter dem Ein- fluss der Religion auch als die Stärke und Präsenz der Kirchen als gesellschaftliche Inte- ressengruppe in der politischen Arena verstanden (Engeli et al. 2012; Fink 2008b, 2009; Heichel et al. 2015b; Hennig 2012; Knill und Preidel 2014; Knill et al. 2014a; Minkenberg 2003). Religion nimmt über drei wesentliche und sich gegenseitig beeinflussende Kanäle auf Moralpolitiken Einfluss: über die Gesellschaft, die religiösen AkteurInnen und die christlichen Parteien. Religion ist wesentlicher Bestandteil der deutschen Kultur; heute gehören jeweils ca. 30 Prozent der deutschen Bevölkerung der katholischen oder der evan- gelischen Kirche an (Destatis 2013). In der politischen Arena hat die Religion einen star- ken Stand: Etwas über 60 Prozent der ParlamentarierInnen der 14. Legislaturperiode (1998-2002) geben an, einer der beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften an- zugehören (Deutscher Bundestag 2007). Insbesondere bei moralischen Politiken wird der Religion daher ein wesentlicher Einfluss sowohl auf die individuelle Meinungsbildung (Mooney 2001a; Pickel 2011; Scheepers et al. 2002), als auch auf die kollektive Entschei- dungsfindung im politischen Prozess (Engeli et al. 2012; Fink 2008b; Heichel et al. 2013; Minkenberg 2002) zugesprochen. Studlar stellt am Rande fest, dass Religiosität und mitun- ter Religion einen Einfluss auf die Regulierung von Moralpolitiken haben (Studlar 2001, S. 49-50). In früheren Studien wurde davon ausgegangen, dass der Katholizismus einen Ein- fluss auf die Regulierung hat. So argumentiert Castles (1994), dass sich die politischen EntscheidungsträgerInnen am Willen der Bürgerschaft orientieren. Folglich sei in Ländern mit einer überwiegend katholischen Bevölkerung ein Einfluss der konservativen Lehre auf die Politikinhalte feststellbar. Verschiedene Studien haben diesen Zusammenhang für Mo- ralpolitiken nachgewiesen (Fink 2008b; Gindulis 2002). In jüngeren Studien ist diesem Zusammenhang widersprochen worden (Asal et al. 2013; Fink 2008a; Hurka et al. 2015; Knill et al. 2014a). Hier wird stattdessen argumentiert, dass aus dem Katholizismus keine restriktive Regulierung resultiert. Vielmehr gelingt es der katholischen Kirche in unter- schiedlich erfolgreichem Maße, den Reformprozess hin zu liberaleren moralpolitischen Regulierungen zu verzögern, aber nicht zu verhindern (Fink 2008a; Knill et al. 2014a, 2014b; Knill und Preidel 2014).

47 Kapitel 3

Auch hinsichtlich der Einstellung der Gesellschaft zu Moralpolitiken gibt es inzwi- schen Studien Unterschiede: Auf Individualebene gibt es Untersuchungen zur Einstellung und zum Einstellungswandel der Bevölkerung zur Sterbehilfe (Allen et al. 2006; Burdette et al. 2005; Cohen et al. 2006a; Cohen et al. 2006b; Ho 1998; Kemmelmeier et al. 1999). So stellen Cohen et al. (2006a; 2006b) fest, dass die Akzeptanz von Sterbehilfe in den meisten westeuropäischen Ländern zugenommen hat. Als Determinanten für die Einstel- lung zur Sterbehilfe identifizieren sie in erster Linie die individuelle Religiosität. Schwä- chere Religiosität ist der wesentliche Faktor für eine höhere individuelle Akzeptanz von Sterbehilfe. Zudem ist unter Jüngeren, Nicht-Angehörigen der Arbeiterschaft und höher Gebildeten die Akzeptanz der Sterbehilfe höher. Mit steigendem Gefühl der Selbstbestim- mung steigt die Akzeptanz der Sterbehilfe. Cohen et al. (2006a) weisen Deutschland als Ausreißer aus: Obwohl im Vergleich zu anderen Staaten relativ säkular und mit relativ toleranten Einstellungen zu anderen moralischen Themen, weisen die Deutschen relativ gesehen eine sehr geringe Akzeptanz der Euthanasie auf. Cohen et al. (2006a, S. 754) ver- muten die Ursache ebenfalls im Nationalsozialismus: Die Erinnerung und das Stigma des Euthanasieprogramms könnten zu einer Abwehrhaltung der Deutschen gegenüber Sterbe- hilfe geführt haben. Cohen et al. (2006a; 2006b) schlussfolgern, dass bei anhaltendem Trend das Thema Sterbehilfe zunehmend Raum in der politischen Arena einnehmen wird – auch in Deutschland. Studien von Kemmelmeier et al. (1999; 2003; 2002) weisen einen positiven Zusam- menhang zwischen Individualismus und Akzeptanz von assistiertem Suizid nach. Perso- nen, welche individualistische Werte wie Selbstbestimmung befürworten, schätzen auch das selbstbestimmte Sterben einer todkranken Person als positiv ein. Dies sei in ihren Au- gen die Kontrollübernahme über das eigene Schicksal und die Abwendung von übermäßi- gem Schmerz und Leiden (Kemmelmeier et al. 2002, S. 61-62). Dass der gesellschaftliche Wandel hin zu verbreiteten postmaterialistischen Werten und so zu einer Liberalisierung in moralpolitischen Fragen geführt hat, wird in mehreren Studien als Grund für Politikwandel angegeben (Euchner et al. 2013). Dieser gesellschaft- liche Wandel hatte unter anderem Einfluss auf die Bildung und Erstarkung von gesell- schaftlichen VetospielerInnen. Durch den Einstellungswandel wuchs zum Beispiel die Frauenbewegung, welche eine Liberalisierung der Regulierung des Schwangerschaftsab- bruchs forderte (Nebel und Hurka 2015). Dabei ist nicht von einer zwangsläufigen Libera- lisierung auszugehen. Vielmehr hat diese Entwicklung in einigen Ländern zu einer polari- sierten Gesellschaft geführt, in der wertkonservative und progressive Ansichten einander unversöhnlich gegenüberstehen und zu Konflikten führen. In zahlreichen Studien wird 48 Forschungsfrage und Forschungsstand dieser Zustand in den USA analysiert (Fiorina und Abrams 2008; Mouw und Sobel 2001; Smith und Tatalovich 2003; Tatalovich und Daynes 2011; Tatalovich et al. 1994).

Ökonomie Der Ökonomie wird eine untergeordnete Rolle in der Regulierung von Moralpolitiken be- schieden. Sie würde durch die tief verwurzelten Werteprioritäten verdrängt und spiele folg- lich bei Politikentscheidungen nur eine sekundäre oder gar keine Rolle. Die bisherige Lite- ratur grenzt a priori Policies mit ökonomischem Streitpotenzial als Moralpolitiken aus (Engeli et al. 2012; Mooney 2001a; Studlar 2001; Tatalovich et al. 1994). In einigen Studien zur Moralpolitik wird die Ansicht vertreten, dass ökonomische In- teressen für die Politikgestaltung keine Rolle spielen würden (Mooney 2001a; Mucciaroni 2011; Studlar 2001; Engeli et al. 2012). Dieser einseitigen Betonung der Religion und Ig- norieren der Ökonomie ist in jüngeren Studien widersprochen worden (Knill 2013b). Es wird angezweifelt, dass die Religion der entscheidende Faktor für den Politikwandel ist, sie sei allenfalls einer von mehreren Einflüssen (Fink 2008b; Knill et al. 2014a). Knill (2013b) und Knill et al. (2015a) unterscheiden dazu manifeste von latenten Moralpolitiken. Bei manifesten Moralpolitiken ist der Wertekonflikt zentral, ökonomische Interessen nehmen im Konflikt keinen Raum ein. So ist dies beispielsweise bei Schwangerschaftsabbruch oder bei der Sterbehilfe der Fall. Bei latenten Moralpolitiken spielen finanzielle Aspekte grund- sätzlich eine Rolle, auch wenn sie nicht in jedem Konflikt offen zutage treten müssen. Da- zu zählt Knill (2013b) u. a. Glücksspiel, Prostitution und embryonale Stammzellforschung. Ökonomische Interessen sind bei der Sterbehilfe laut der Literatur kein Thema, bei der embryonalen Stammzellforschung hingegen schon (Nebel 2015; Preidel und Nebel 2015). Bei der Stammzellforschung geht es, wie bei anderen Politiken der reproduktiven Medizin, unter anderem um wirtschaftliche Interessen, sie gehört daher zur Gruppe der latenten Moralpolitiken (Knill 2013b). In Politikfeldern wie der embryonalen Stammzell- forschung, in der sich die Kosten diffus auf die Gesellschaft verteilen, bestimmte Gruppen aber einen konkreten Nutzen aus einer Liberalisierung ziehen können (Knill 2013b), sind ökonomische Interessen und folglich Wettbewerb vorhanden. In verschiedenen Studien wurde für die embryonale Stammzellforschung und die weitere Reproduktionsmedizin nachgewiesen, dass ökonomische Interessen in der Politikgestaltung eine Rolle spielen (Bleiklie et al. 2004; Nebel 2015). Engeli und Rothmayr Allison (2013) zeigen jedoch, dass ökonomischer Druck allein eine Gesetzgebung nicht erklären kann. Fink (2008b) weist in einer international vergleichenden Studie auf, dass die Stärke der nationalen Pharmaindustrie keinen Einfluss auf Inhalt und Geschwindigkeit der Gesetzgebung in der

49 Kapitel 3 embryonalen Stammzellforschung hat. Dabei muss allerdings einschränkend angefügt werden, dass die Messung der „Stärke“ wenig differenziert ist und die informelle Macht der Pharmaindustrie in Bezug auf den Gesetzgeber nicht thematisiert wird.

Institutionelle VetospielerInnen Heichel et al. (2015b) unterscheiden drei Arten von VetospielerInnen: Institutionelle, par- teipolitische und gesellschaftliche. VetospielerInnen wird eine blockierende Wirkung auf den Policy-Wandel eingeräumt. Das kann kurzfristig zu einer völligen Verhinderung einer Reform führen. Auf lange Sicht zeigt sich aber deutlich eine aufschiebende Wirkung von VetospielerInnen. So zeigen zum Beispiel Hurka und Nebel (2015), dass Institutionen wie der ausgeprägte Föderalismus und die Konsensusdemokratie in der Schweiz eine Reform der Schwangerschaftsabbruchsregulierung lange verzögern können. Studlar stellt ebenfalls fest, dass institutionelle Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Regulierung von Mo- ralpolitiken haben (Studlar 2001, S. 49-50). Institutionelle VetospielerInnen können Beschleuniger einer Reform sein, wie das Beispiel Deutschland zeigt: Hier war der Gesetzgeber durch interne Uneinigkeit nicht in der Lage, Rechtssicherheit für Angehörige und ÄrztInnen schwerstkranker und sterbewilli- ger Menschen zu schaffen. Dies taten dann verschiedene Gerichte durch die Entscheidung von Präzedenzfällen (Preidel und Nebel 2015). Die Gerichte übernahmen die Entschei- dungsfindung auch deshalb, weil sich die parteipolitischen VetospielerInnen nicht auf eine Reform einigen konnten und die Kapazitäten der anderen Entscheidungsarena, der Ärzte- schaft, erschöpft waren (Preidel und Nebel 2015). Verschiedene Studien befassen sich mit der letztendlich regulativen Macht dieser eigentlich rechtsprechenden Institution: Insbe- sondere in jenen Ländern, in denen es ein starkes Verfassungsgericht gibt und wo sich die Gesetzgeber mit der Regulierung von Moralpolitiken schwertun, geben Gerichte – häufig anhand von Einzelfallentscheidungen, aber auch mit Grundsatzentscheidungen – den regu- latorischen Takt und die Richtung vor (Patton 2007; Preidel und Nebel 2015; Steunenberg 1997). Banchoff (2005) macht für die deutsche Regulierung drei Erklärungsfaktoren aus: Der Bundestag und seine Enquete-Kommission zur Bioethik waren die zentralen politi- schen AkteurInnen und das bereits bestehende restriktive Embryonenschutzgesetz verhin- derte eine starke Pro-Lobby aus NaturwissenschaftlerInnen und der Wirtschaft. Das in Art. 1 GG festgeschriebene Recht auf körperliche Unversehrtheit und die parteiübergreifende Zusammenarbeit bei der Gesetzeserarbeitung unterstützten die Argumentation und den Stand der BefürworterInnen einer restriktiven Regulierung. Insbesondere spricht er den

50 Forschungsfrage und Forschungsstand religiös geprägten Wertevorstellungen einen Einfluss auf das Policy-Making zu (Banchoff 2005, S. 230). Banchoff spricht damit die im Folgenden vorgestellten parteipolitischen und gesellschaftlichen AkteurInnen (die Kirchen) an.

Parteipolitische VetospielerInnen In der moralpolitischen Forschung wird das Parteiensystem als ein zentraler Erklärungsfak- tor für die Politisierung von umstrittenen Politiken angesehen (Engeli et al. 2012; Green- Pedersen 2007). Wenn sich eine gesellschaftlich vorhandene religiöse Konfliktlinie im Parteiensystem manifestiert, es also mindestens eine säkulare oder eine religiöse Partei gibt, dann ist ein Konflikt über den Umgang mit moralisch umstrittenen Themen wahr- scheinlicher und kommt früher zum Tragen. In der Moralpolitikliteratur, welche sich mit Religion und dem parteipolitischen Sys- tem auseinandersetzt, wird im Sinne der Parteiendifferenzhypothese (Schmidt und Ostheim 2007) argumentiert, dass Parteien mit einer religiösen Basis in moralpolitischen Fragen eine wertkonservative Haltung einnehmen. So argumentieren Engeli et al. (2012) und Green-Pedersen (2007), dass in Parteiensystemen, in denen eine religiös-säkulare Konflikt- linie vorhanden ist, es also mindestens eine christliche Partei gibt, es häufiger zur Agen- dasetzung von Moralpolitiken kommt. Sie stützen sich dabei auf die Agendasetzungslitera- tur (vgl. u.a. Baumgartner und Jones 1991; Schattschneider 1975) und Literatur zum reli- giösen Parteienkonflikt (van Kersbergen und Manow 2009). Säkulare Parteien sind weni- ger von religiösen Wertvorstellungen geprägt und legen mehr Wert auf die individuelle Selbstbestimmung. Folglich gibt es einen Dissens darüber, wie Moralpolitiken reguliert werden sollen. Die säkularen Parteien, welche eine liberalere Haltung zu moralpolitischen Fragen haben als die religiösen Parteien, setzten Moralpolitiken bewusst auf die Agenda, um Letztere zu schwächen. Religiöse Parteien werden in den Zwiespalt getrieben, einer- seits die Werte ihrer traditionellen religiösen Kernwählerschaft zu vertreten (Green- Pedersen 2007). Andererseits verprellen sie damit aber liberalere Wählerschichten, die – so die Säkularisierungsthese – wachsen (Inglehart 1977, 2008; Inglehart und Flanagan 1987) und eine potenzielle Wählerschaft ausmachen. In der bisherigen Literatur wurden dazu mehrere Mechanismen diskutiert. So zeigen Hennig und Meyer-Resende (2016), dass das Thema Schwangerschaftsabbruch in Spanien von der christlich-konservativen Partei direkt nach der Erlangung der Regierungsmacht auf die politische Agenda gesetzt wurde. Engeli et al. (2012) und Green-Pedersen (2007) zeigen jedoch für verschiedene Moralpolitiken in westeuropäischen Staaten, dass religiöse Parteien eine Agendasetzung verhindern wollen, da sie befürchten, ihre konservativen Ansichten gegenüber den liberaler eingestellten Par-

51 Kapitel 3 teien und der Öffentlichkeit nicht durchsetzen und damit eine politische Niederlage kassie- ren zu können. So ist es auch in Spanien passiert (Hennig und Meyer-Resende 2016). Dementsprechend gibt es laut Engeli et al. (2012) zwei Welten moralpolitischer Re- gulierung. Deutschland fällt in die religiöse Welt, denn im Parteiensystem ist mit der CDU eine große christliche Partei vorhanden (bzw. eine große religiöse Fraktion mit CDU/CSU). Die in der Agendasetzung und Politikentscheidung stattfindende Auseinan- dersetzung zwischen christlichen Parteien auf der einen Seite und säkularen Parteien auf der anderen Seite ist in der Literatur umfangreich nachgewiesen worden (Engeli et al. 2012; Knill et al. 2014a; Schmitt et al. 2013). In Deutschland gibt es die religiös-säkulare Konfliktlinie im Parteiensystem mit SPD, FDP, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen auf der einen und CDU/CSU auf der anderen Seite. Es wird daher davon ausgegangen, dass die Politisierung von moralischen Themen üblicher ist als in Parteiensystemen ohne diese Konfliktlinie (Engeli et al. 2012). Hinzu kommt, dass die Säkularisierung im Sinne der Trennung von Kirche und Staat in Deutschland weniger umfassend stattgefunden hat, als in anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich. Folglich sind die beiden großen christlichen Kirchen nicht Interessengrup- pen wie andere, sondern besitzen informell wesentliches Gehör in gesellschaftlichen und politischen Debatten (Heichel und Knill 2013, S. 59). Eine weitere neue Konfliktlinie könnte auch vorhanden sein und die Regulierung der Moralpolitik prägen: Kriesi vermutet eine neue Konfliktlinie zwischen den „New Left and the new populist right“ (Kriesi 2010, S. 673) und nimmt Bezug auf die Flanagans Terminologie „libertarian-authoritarian cleavage“ oder Ingleharts „post-materialist/materialist“ Unterscheidung (Flanagan und Lee 2003; Inglehart 2008; Kriesi 2010, S. 683). Knill et al. (2014b) weisen für das durch den Katholizismus stark geprägte Österreich nach, dass die katholische Kirche traditionell eine enge Bindung zu den konservativ- religiösen Parteien unterhält. Sie kann aber trotzdem Liberalisierungen bei Moralpolitiken nicht verhindern, wenn institutionelle und kulturelle Gelegenheitsstrukturen den säkular- liberalen Kräften in die Hände spielen. In einem Vergleich der Determinanten der Embryonenforschungspolitik in 21 Indust- rienationen stellt Fink (Fink 2008a, S. 16) fest, „dass erstens deutliche Unterschiede in Timing und Inhalt der Embryonenforschungsgesetze in der westlichen Welt bestehen (…), und dass zweitens religiöse Faktoren einen großen Teil dieser Unterschiede erklären kön- nen.“ Religiöse Länder erlassen Gesetze erst relativ spät, dafür sind die Gesetze relativ streng. Fink schließt daraus, dass die Säkularisierungsthese nicht universell gilt und die Staatstätigkeitsforschung kulturelle Einflussfaktoren stärker beachten sollte. Parteienpräfe- 52 Forschungsfrage und Forschungsstand renzen, institutionellen Faktoren und ökonomischen Interessen räumt er im internationalen Vergleich eine geringe oder keine Erklärungskraft ein (Fink 2008a, S. 16-17). Die Befunde von Fink (2008b) über die Bedeutung von religiösen Werten und von Engeli et al. (2012) über die Bedeutung von religiösen Konfliktlinien im Parteiensystem finden Engeli und Rothmayr Allison (2013, S. 420) bestätigt. Zum Einfluss von christlichen Parteien auf das Politikergebnis gibt es jedoch wider- sprüchliche und auf Reformgeschwindigkeit bezogen kaum Erkenntnisse. Fink (2008b) zeigt in seiner Studie, dass in Staaten, in denen christdemokratische Parteien an der Re- gierung beteiligt sind, die embryonale Stammzellforschung eher strikt reguliert wird; Gin- dulis (2002) verneint für den Schwangerschaftsabbruch hingegen einen solchen Effekt. Während Engeli et al. (2013) davon ausgehen, dass durch die vermehrte Politisierung von moralpolitischen Themen in Ländern mit einer religiös-säkularen Parteienlandschaft es eher zu einer Liberalisierung kommt, kommen hingegen Hurka et al. (2016) zum Schluss, dass das Parteiensystem keinen Einfluss auf den Moralpolitikwandel hat. Engeli und Rothmayr Allison (2013, S. 419) stellen für Deutschland fest: „The Ger- man case illustrates particularly well the interaction of value-based path dependence and religious factors.“ Sie argumentieren, dass das Vorhandensein von religiösen Parteien die restriktive Regulierung erklären kann (Engeli und Rothmayr Allison 2013, S. 419). Dass aber bei der Sterbehilfe und der Stammzellforschung die Parteien nicht entsprechend der theoretischen Erwartungen und nicht geschlossen abgestimmt haben, zeigt den For- schungsbedarf auf.

Gesellschaftliche VetospielerInnen Den Interessengruppen schreibt Mooney einen besonderen Einfluss auf die Regulierung von Moralpolitiken zu (Mooney 2001a, S. 9-13). Im Sammelband „Comparing Biomedical Policies“ von Bleiklie et al. (2004) wird in Einzelfallstudien die Regulierung von biomedi- zinischen Policies in ausgewählten westlichen Nationen untersucht. In der Zusammenfas- sung der Ergebnisse kommen Rothmayr et al. (2004) zu dem Schluss, dass AkteurInnen in ihren Glaubenssystemen und Kooperationen eine wesentliche Rolle bei der Politikent- scheidung spielen. Dabei ergibt sich keine klassische Links-Rechts-Spaltung wie bei tradi- tionelleren Konflikten, sondern Spaltungen, die zum Beispiel quer durch Volksparteien oder nicht-staatliche Organisationen verlaufen (Rothmayr et al. 2004, S. 232-234). Aus der Reihe der potenziellen gesellschaftlichen VetospielerInnen wird vor allem für Europa den christlichen Kirchen und der von ihnen formulierten Bioethik (Fink 2009; Pinter 2003) und den MedizinerInnen und NaturwissenschaftlerInnen (Engeli 2009;

53 Kapitel 3

Mintrom 2013) eine bedeutende Rolle zugesprochen. Fink (2009) sieht in den Kirchen soziale VetospielerInnen. Als solche sind für ihren Einfluss auf die Politikgestaltung ihre Macht im Sinne ihres Mobilisierungspotenzials, ihre Präferenzen und Kohärenz in der je- weiligen Politik wichtig. Sie spielen dann gerade in moralpolitischen Kontroversen wie der embryonalen Stammzellforschung eine Rolle (Fink 2009). In Deutschland wird für bioethi- sche Fragen von Pinter (2003) eine starke christliche Koalition festgestellt, die den Schul- terschluss sucht. Dazu gehören allen voran die katholische Kirche und die EKD, aber auch andere christliche Gruppierungen wie die VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands) und Verbände (zum Beispiel das Kolpingwerk) und Theologen. Die- se Koalition erstreckt sich auch auf Medien, weitere Verbände oder Parteien. Laut Pinter habe die christliche Bioethik, bzw. ihre Sprecher, die beiden Kirchen, nicht unerheblichen Einfluss auf die Debatten und das politische Geschehen (Pinter 2003, S. 109-111). Für die US-Bundesstaaten kommen Levine et al. (2013) zu dem Schluss, dass die Partei (Republi- kaner oder Demokraten) und die Stärke der „scientific community“ eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob es eine restriktive oder liberale Regulierung der embryonalen Stammzellforschung gibt. Ebenfalls wird der Existenz anderer konfliktiver Moralthemen und der Regulierung in den Nachbarstaaten ein Einfluss zugesprochen (Levine et al. 2013). In der Literatur hat sich herauskristallisiert, dass der Einfluss der Kirchen auf die Re- gulierung nicht über ihre formelle Einbindung in das Staat-Kirche-Verhältnis stattfindet, sondern über ihre Funktion als Interessengruppe. Gelingt es ihnen, die Gesellschaft von ihren Argumenten zu überzeugen und eine intensive informelle Kontaktpflege mit den po- litischen EntscheidungsträgerInnen aufzubauen, können sie in der politischen Arena Ein- fluss nehmen (Fink 2009; Knill und Preidel 2014; Knill et al. 2014b, 2014a; Schmitt et al. 2013). Sie sind jedoch nur eingeschränkt erfolgreich. Oft können sie eine liberale Reform lediglich verzögern, aber nicht aufhalten (Fink 2008a; Knill und Preidel 2014; Knill et al. 2014a, 2014b). Insbesondere dann, wenn Gelegenheitsstrukturen institutioneller oder kul- tureller Natur vorhandener säkularer bzw. liberaler Opposition in die Hände spielen, kann die informelle Vetomacht Kirche ausgehebelt werden (Knill et al. 2014a). Die Kirchen können einen wichtigen Faktor für die Erklärung von Reformtempo darstellen. Religion kann also über die Kirchen die Liberalisierung in Moralpolitiken bremsen und somit die Reformgeschwindigkeit verlangsamen.

AkteurInnenkoalitionen, Diskurse und Framing Auch die Rolle des Diskurses und die beteiligten AkteurInnen sind Gegenstand von Unter- suchungen. Gottweis (2002) räumt in seinem Vergleich der USA mit Deutschland histori-

54 Forschungsfrage und Forschungsstand schen Pfadabhängigkeiten durch den Nationalsozialismus eine Rolle in der Regulierung ein. Durch die Verbrechen im Dritten Reich sei Deutschland besonders sensibel gegenüber dem Lebensschutz. Er zeigt zudem auf, dass die Formierung des Diskurses eine gewichtige Rolle spielt. Die Argumente „embryonic stem cell research increasingly took on the air of an assault on humanity“ und „this line of research potentially undermines core values of German society“ waren stark genug, um eine restriktive Politik durchzusetzen (Gottweis 2002, S. 465). Er schließt seine Untersuchung mit der Einschätzung: „Political identities and dominant metanarratives are not given or fixed and are in a constant state of definition and redefinition. But once mobilized and referred to, they can become a critical resource for the shaping of policymaking“ (Gottweis 2002, S. 465). Eine ähnliche Argumentation arbeitet Kettell (2010) bei seiner Untersuchung des britischen Falls heraus. Danach beein- flussen institutionelle Gegebenheiten und die Debatte sich gegenseitig sowie die Regulie- rung. Stark (2008) betrachtet die deutsche Kontroverse aus soziologischer Perspektive und stellt unter anderem fest, dass auch nicht-kirchliche AkteurInnen religiöse Argumente ins Feld führen (Stark 2008, S. 994), während kirchliche VertreterInnen ebenfalls mit natur- wissenschaftlichen Erkenntnissen argumentieren (Stark 2008, S. 989). Listerman (2010, S. 6) stellt für Deutschland eine wesentlich intensivere Problematisierung der Forschung fest als in anderen Ländern, die er ebenfalls für die vergleichsweise negative Einstellung der deutschen Bevölkerung verantwortlich macht (Listerman 2010, S. 12-13). Richardt (2003) vergleicht die Debatten in Großbritannien und Deutschland und erklärt die divergierenden Regulierungsmuster mittels einer Kombination eines neoinstitutionellen Ansatzes (einer Untersuchung, wie AkteurInnen innerhalb von institutionellen Rahmenbedingungen agie- ren) und eines interpretativen Ansatzes, der das Framing der Debatte untersucht (wie Ak- teurInnen biologische Fakten interpretieren) (Richardt 2003, S. 113). Schmidt (2008, S. 303) argumentiert, dass es die neue Form des „diskursiven Institutionalismus“ gebe, wel- che die Rolle von Ideen und Diskursen in der Politik betone. Dass sich die beiden Kirchen intensiv in die deutsche Debatte um die embryonale Stammzellforschung eingebracht ha- ben, zeigen Hilpert (2009) und Pinter (2003). Eine umfassende Analyse der öffentlichen Debatte wurde allerdings bisher nicht durchgeführt; hier möchte die vorliegende Studie ansetzen. Engeli und Varone (2011) zeigen für Biopolitiken in der Schweiz, dass es neben der Mehrheitsentscheidung und der Nicht-Entscheidung – beides Folgen von unversöhnlichen polarisierten Einstellungen – den dritten Weg der De-Moralisierung von Themen gibt. Durch ein alternatives Framing der Moralpolitik können Konflikte entschärft, und durch ein Policy-Design, das den Fokus auf die einzelnen Schritte im Entscheidungsprozess legt,

55 Kapitel 3 kann eine Entscheidung herbeigeführt werden. Sie vermuten, dass dabei die politischen Institutionen eine entscheidende Rolle spielen und schlagen vor, den politischen Entschei- dungsprozess genauer unter die Lupe zu nehmen (Engeli und Varone 2011, S. 256). Im Bereich der Reproduktionspolitik, die sich ebenfalls mit dem Komplex Leben und Sterben beschäftigt und Politiken wie Schwangerschaftsabbruch, PID und teilweise auch embryonale Stammzellforschung beinhaltet, wurde in verschiedenen Studien der Einfluss von institutionellen Rahmenbedingungen, des Parteiensystems und einer starken christli- chen Partei sowie von Interessengruppen auf die Regulierung festgestellt. Gerade die inter- ne Kohäsion von Interessengruppen und ihr Zugang zu den politischen Entscheidungsare- nen sind bedeutend für ihren Einfluss auf die Regulierungsergebnisse (Engeli 2012; Blei- klie et al. 2004; McBride Stetson 1996; Montpetit et al. 2005). Engeli (2012) zeigt für die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der reproduktiven Medizin in acht west- europäischen Staaten, dass die Interessengemeinschaften aus dem medizinisch- naturwissenschaftlichen Bereich einen bedeutenden Einfluss auf die Richtung der Regulie- rung ausüben können. Der öffentlichen Meinung und weiteren Interessengruppen wird ebenfalls ein Einfluss auf die Regulierung nachgesagt (Engeli 2009). Varone et al. (2006) untersuchen die divergierenden Regulierungen der Repro- duktionspolitik in elf europäischen und nordamerikanischen Staaten und verwenden dazu den akteurzentrierten Institutionalismus als theoretischen Rahmen. Sie wollen das Zusam- menspiel von akteurbasierten und institutionenbasierten Bedingungen untersuchen und diese Erklärungsfaktoren für die Regulierung überprüfen (Varone et al. 2006, S. 322). Die- ser Ansatz teilt die Idee, die auch in der vorliegenden Dissertation verfolgt wird. Mit einer Qualitative Comparative Analysis (QCA) weisen die AutorInnen nach, dass vier Faktoren einen entscheidenden Einfluss auf die Regulierung haben: Die Policy-Präferenzen der be- teiligten AkteurInnen und Parteien, das Ausmaß und die Richtung der Selbstregulierung von MedizinerInnen, die Mobilisierung von Interessengruppen und die Anzahl und formale Ausgestaltung der institutionellen Entscheidungsarenen. Sie folgern daraus, dass die Poli- tikgestaltung nicht allein mit institutionellen Regeln erklärt werden könne. Vielmehr müss- ten sektorspezifische und akteurbezogene Faktoren miteinbezogen werden. Die Überzeu- gungen und Interessen der beteiligten AkteurInnen hätten einen mindestens so großen Ein- fluss auf das Policy-Making wie die institutionellen Rahmenbedingungen (Varone et al. 2006, S. 340):

“Thus, it could be useful for future research on designing processes to fo- cus more on the policy sector level and in particular on the constellation

56 Forschungsfrage und Forschungsstand

of policy actors (‘policy network approach’(…), as well as on the social construction of policy problems and how issue framing influences the policy-making process (…). Thus, the way in which a collective problem is defined might influence who participates, which administrative unit is in charge, which societal actors might be mobilized and what the final policy design might look like“ (Varone et al. 2006, S. 340).

Schiffino et al. (2009) untersuchen die Regulierung von künstlicher Reproduktion in Bel- gien und Italien. Sie kommen zu dem Schluss, dass durch die gesellschaftliche Spaltung in eine religiöse (katholische) und eine säkulare Gruppe mit einem auch dadurch bedingten stark polarisierten Parteiensystem, eine Einigung auf eine Regulierung sehr schwierig ist, zumal die Parteien sich intern uneinig seien. Einen weiteren Grund für die schwierige Re- gulierung sehen die AutorInnen in den autonomen medizinischen Vereinigungen (Schiffi- no et al. 2009, S. 579). In Belgien sei eine permissive Reform durch eine säkulare Regie- rung und ein neues Framing möglich geworden, welches in Teilen auch religiöse Akteu- rInnen überzeugen konnte. In Italien war hingegen das Framing und Lobbying der katholi- schen Kirche erfolgreich und konnte eine restriktive Politik durchsetzen. Schiffino et al. (2009) betonen in diesem Rahmen die Rolle der Parteien in der Regulierung. Für die theo- retische Erklärung von Politikwandel sehen sie ihre Verwendung von Baumgartner und Jones‘ „punctuated equilibrium“ bestätigt.

Weitere Erklärungsfaktoren Externe Einflüsse und Problemdruck sind bisher in den Studien zur Biomedizinpolitik kaum oder nur indirekt thematisiert worden. Rothmayr et al. (2004, S. 245-248) stellen fest, dass Problemdruck durch technologischen Fortschritt zur Agendasetzung führe, die Behandlung der Themen in der politischen Diskussion werde durch die historischen Gege- benheiten in den jeweiligen Ländern beeinflusst. Eine internationale Harmonisierung oder die Übernahme von Regulierungsmodellen aus anderen Staaten wird hingegen nicht fest- gestellt (Rothmayr et al. 2004, S. 245-248).

3.4 Zusammenfassung

In der Moralpolitikforschung gibt es seit den 1990er Jahren zunehmende Forschungsaktivi- tät. In vielen Studien wurde der Frage nachgegangen, welche Faktoren einen Einfluss auf die Regulierung von Moralpolitiken haben. Das vorliegende Kapitel hat die in der Literatur am prominentesten behandelten Faktoren zusammenfassend dargestellt. 57 Kapitel 3

Während es also zu den Ursachen für Moralpolitikwandel und für die Richtung des Wandels eine Reihe von Studien gibt, wurde der Aspekt des Reformtempos erst jüngst in Augenschein genommen (Knill et al. 2014a, 2014b). Studien belegen, dass es in den aller- meisten Fällen einen Trend zur Liberalisierung gibt (Engeli et al. 2012; Knill et al. 2015c; Knill et al. 2015b). Dieser Wandel geht jedoch unterschiedlich schnell vonstatten. Es stellt sich dahin gehend ebenfalls die Frage, ob und wenn ja, wie die bisher für die Regulierung von Moralpolitiken verwendeten Erklärungsfaktoren auf die Erklärung des Reformtempos übertragen werden können. Der Überblick über den bisherigen Forschungsstand der Moralpolitiken zeigt, dass es für bioethische Themen und insbesondere die embryonale Stammzellforschung bereits zahlreiche politikwissenschaftliche Studien gibt, sowohl für Deutschland als auch für ande- re Staaten. Daraus lässt sich eine Reihe von potenziellen Erklärungsfaktoren ableiten, wel- che in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt und überprüft werden sollen. Im Fall der Sterbehilfe zeigen sich größere Lücken in der Forschung. Dies lässt sich mit der zögerli- chen Regulierung vieler Staaten bzw. der Nicht-Regulierung erklären. Einer politischen Entscheidung ist häufig einfacher mit analytischen Instrumenten nachzugehen als einer Nicht-Entscheidung. Varone et al. (2006) haben in ihrer Studie einen Aspekt der Regulierung von Mo- ralpolitiken angesprochen und untersucht, welcher bisher in der Moralpolitikforschung als Erklärungsfaktor kaum Beachtung gefunden hat: Den Diskurs der an der Policy direkt und indirekt beteiligten AkteurInnen. Mit der vorliegenden Studie werden der Diskurs und das Framing bei Biomedizinpolitiken genauer unter die Lupe genommen. Es wird versucht, diese potenziellen Erklärungsfaktoren den bisherigen Erklärungsfaktoren als Ergänzung und Erweiterung zur Seite zu stellen. Damit soll ein umfassenderes Bild der Regulierung von Biomedizinpolitiken und insbesondere des Regulierungstempos gezeichnet werden.

58

4 Theoretischer Rahmen

Wie kann das unterschiedliche Regulierungstempo in der Biomedizinpolitik in Deutsch- land theoretisch erklärt werden? Der Dissertation liegt die Annahme des Rational Choice- Institutionalismus zugrunde, dass Institutionen im wechselseitigen Zusammenspiel mit strategisch, aber mit begrenzter Rationalität agierenden AkteurInnen Politikergebnisse produzieren. Institutionen sind dabei sowohl formale Regulierungen als auch informelle Übereinkommen zwischen den AkteurInnen. Sie beeinflussen diese in deren Perzeption und Handeln, bieten Erwartungssicherheit und prägen so das Zustandekommen von sozia- len und politischen Ergebnissen (Hall und Taylor 1996, S. 942-946). Die kollektiven und individuellen AkteurInnen stehen dabei in einer wechselseitig prägenden Beziehung mit den Institutionen (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 43-45). Weiter wird angenommen, dass die AkteurInnen untereinander einen Diskurs führen, welcher den politischen Inhalten wer- tende Bedeutung zuschreibt – sie also framed. So werden Ideen, wie ein politisches Prob- lem zu lösen ist, hervorgehoben oder verworfen. Damit beeinflusst der Diskurs das Policy- Making (Schmidt 2008, S. 309-313). Ein Politikwandel tritt dann ein, wenn das bestehende Gleichgewicht durchbrochen wird. Dies kann beispielsweise durch einen Imagewandel einer Politik geschehen, oder weil AkteurInnenkoalitionen in der politischen Entschei- dungsarena Einfluss gewinnen bzw. verlieren (Baumgartner und Jones 1991). Dieses Zu- sammenwirken von Institutionen und AkteurInnen und ihrem Diskurs prägt möglicher- weise entscheidend das Regulierungstempo bei Biomedizinpolitiken. In diesem Kapitel werden zunächst der Neoinstitutionalismus und eine seiner Strö- mungen, der Rational Choice-Institutionalismus (Hall und Taylor 1996; March und Olsen 1983) sowie der akteurzentrierte Institutionalismus (Mayntz und Scharpf 1995b, 1995a) und der diskursive Institutionalismus (Schmidt 2008, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004)

59 Kapitel 4 vorgestellt (Abschnitt 4.1).39 Da die Forschungsfrage an dem Politikwandel der Biomedi- zinpolitik interessiert ist, wird der theoretische Rahmen entsprechend um den Ansatz des „durchbrochenen Gleichgewichts“ von Baumgartner und Jones (Baumgartner et al. 2009; Baumgartner und Jones 1991, 2009) erweitert (Abschnitt 4.2). Dieser Wandel wird in die zwei Phasen Agendasetzung und Politikentscheidung unterteilt. In einem dritten Schritt werden aus den bisherigen Überlegungen Erwartungen formuliert, welche das unterschied- liche Regulierungstempo erklären könnten (Abschnitt 4.3). Diese Erwartungen werden die Analyse leiten. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung (Abschnitt 4.4).

4.1 Die Grundlagen: Akteurzentrierter und diskursiver Institutiona- lismus

Die zentralen Bestandteile des theoretischen Rahmens bilden der akteurzentrierte und der diskursive Neoinstitutionalismus. Beide lassen sich der Rational Choice-Variante des Neoinstitutionalismus zuordnen. Diese Grundlagen werden im Folgenden vorgestellt.

Der Neoinstitutionalismus Der Neoinstitutionalismus entwickelte sich in den 1980er und 1990er Jahren aus der Kritik an den behaviouralistischen Ansätzen der 1960er und 1970er Jahre (Hall und Taylor 1996, S. 936) und der früher in den Politikwissenschaften weitverbreiteten Annahme, dass Insti- tutionen exogene Erklärungsfaktoren für die kollektive Ordnung in der Gesellschaft (March und Olsen 1983, S. 735) seien. Dabei ist der Neoinstitutionalismus kein kohärenter, klar strukturierter Erklärungsansatz für das Zustandekommen von Politik, sondern besteht vielmehr aus einer Reihe von verschiedenen Denkschulen, welche sich im weitesten Sinne auf den folgenden Nenner bringen lassen:

„Von der älteren politikwissenschaftlichen Institutionenkunde, die hauptsächlich auf die formellen politischen Institutionen der Verfas- sungsordnung und die staatliche Willensbildung Bezug nimmt, unter- scheidet sich der Neoinstitutionalismus unter anderem dadurch, dass er auch die verfestigten Interaktionen der Institutionen und der Kol-

39 Man kann auch der Argumentation folgen, der akteurzentrierte Institutionalismus und der diskursive Institutiona- lismus seien neben den bestehenden klassischen Strömungen des Neoinstitutionalismus (soziologischer, histori- scher und Rational Choice) weitere Strömungen (Mayntz und Scharpf 1995a; Schmidt 2008). Allerdings sind die Grundannahmen der drei hier verwendeten Strömungen ähnlich. Zudem wurde der diskursive Neoinstitutionalis- mus zeitlich nach dem Rational Choice-Institutionalismus entwickelt. Beide Formen betonen jeweils bestimmte Aspekte (Verhalten bzw. Diskurs der AkteurInnen), welche man als Weiterentwicklung des Rational Choice- Institutionalismus auffassen kann. Daher wird hier der Rational Choice-Institutionalismus als Grundlage für die beiden anderen Formen angesehen. 60 Theoretischer Rahmen

lektivakteure des privaten und öffentlichen Sektors systematisch be- rücksichtigt, ebenso wie die Koordinationsmechanismen zwischen Po- litik, Wirtschaft und Gesellschaft, einschließlich der Governance und der Staat-Ökonomie-Beziehungen“ (Schmidt 2004, S. 479).

Der Neoinstitutionalismus hat sich von früheren Denkschulen abgesetzt, indem er nicht nur die formalen Institutionen in Form von Organisationen und festgeschriebenen Regeln (Ver- fassung etc.) zur Erklärung von Politikprozessen heranzieht. Er nimmt unter anderem kol- lektive AkteurInnen und Individuen in den Blick: Politisch-institutionelle Gegebenheiten – auch in Form von (in-)formellen Regeln oder Konventionen – offerieren Opportunitäts- strukturen, in welchen sich die AkteurInnen in einem mehr oder weniger rationalen Ver- halten bewegen und Entscheidungen treffen (Hall und Taylor 1996). Dieses Verhalten wird als begrenzte Rationalität bezeichnet. „Begrenzte Rationalität lehnt die Annahme einer umfassenden Rationalität ab, in der Menschen Kosten und Erträge bei jeder Entscheidung abwägen. Entscheidungen werden vielmehr durch ihre kognitiven und emotionalen Gege- benheiten gesteuert“ (Jones und Baumgartner 2012, S. 3). Dabei sind Institutionen nicht nur erklärende Größen. Sie selber können durch AkteurInnen beeinflusst und verändert werden (Hall und Taylor 1996, S. 945; March und Olsen 1983, S. 937; Mayntz und Scharpf 1995a, S. 45).

Rational Choice-Neoinstitutionalismus Unter dem breiten Dach des Neoinstitutionalismus haben sich drei prominente Ansätze entwickelt: Der historische Institutionalismus40, der soziologische Institutionalismus41 und der Rational Choice-Institutionalismus42 (Hall und Taylor 1996). Die vorliegende Studie

40 Der historische Institutionalismus betont die Bedeutung von politischen Institutionen als „formale oder informel- le Prozeduren, Routinen, Normen und Konventionen, welche in die Staatsorganisation und politische Ökonomie eingebettet sind“ (Hall und Taylor 1996, S. 938). Der Staat ist allerdings kein neutraler Makler, sondern vielmehr in der Lage, Gruppenkonflikte zu strukturieren und deren Ausgang zu beeinflussen (Hall und Taylor 1996, S. 737- 938). Dabei wird eine historische Perspektive eingenommen und „das aus Vorperioden übernommene Politik-Erbe in seinem Wirken auf den politischen Prozess und die Staatstätigkeit analysiert, beispielsweise im Theorem der Pfadabhängigkeit“ (Schmidt 2004, S. 301). 41 VertreterInnen des soziologischen Institutionalismus argumentieren, dass von Organisationen angewendete Prozeduren „als kulturell-spezifische Praktiken gesehen werden sollten, ähnlich den Mythen und Zeremonien, welche von vielen Gesellschaften praktiziert werden“ (Hall und Taylor 1996, S. 946). Der Institutionenbegriff wird sehr weit gefasst: Neben den Formen und Regeln gehören auch Symbole, Kognitionen und Moralvorstellungen dazu. Sie leiten das menschliche Handeln (Hall und Taylor 1996, S. 947-948). Moderne Organisationen führen neue institutionelle Praktiken oft nicht deshalb ein, weil diese etwa objektiv besser geeignet wären als ihre Vor- gänger, sondern weil sie die Organisation und ihre TeilnehmerInnen sozial besser legitimieren (Hall und Taylor 1996, S. 949). Sie schaffen sich damit eine Existenzberechtigung, welche nicht auf ihrer effizienten Aufgabenerfül- lung im politischen System beruht. 42 Der historische und der soziologische Institutionalismus beinhalten Aspekte, die eine theoretische Grundlage für die Regulierung von Moralpolitiken im modernen Staat bereitstellen. Jedoch sind sie im Vergleich zum Rational- Choice Institutionalismus weniger am individuellen oder kollektiven Akteur innerhalb der Institutionen interessiert (Hall und Taylor 1996). Diesen Fokus nimmt aber die vorliegende Arbeit ein. Zudem sind sie der dritten Variante 61 Kapitel 4 bezieht sich auf den Rational Choice-Institutionalismus. Dieser geht – im Gegensatz zu den anderen Formen des Neoinstitutionalismus – explizit von einem zielorientierten Indi- viduum aus, welches eine klare Präferenzordnung hat und versucht, seine Ziele strategisch zu erreichen (Hall und Taylor 1996, S. 944-945). Er legt sein Augenmerk auf die begren- zende Wirkung von Institutionen auf die AkteurInnen, die sich in einer Entscheidungssi- tuation befinden (Ostrom 1986). Ihre Strategien entwickeln sie jeweils aus ihren Zielen und aus den Erwartungen, die sie gegenüber den zukünftigen Handlungen anderer Indivi- duen haben, mit denen sie interagieren (Hall und Taylor 1996, S. 945). Wenn jedes Indivi- duum versuchte, seinen eigenen Nutzen zu maximieren, dann wäre Politik eine Aneinan- derreihung von „collective action dilemmas“ (Hall und Taylor 1996, S. 945), deren Ergeb- nis gesamtgesellschaftlich suboptimal wäre. Dazu würde auch eine permanente Unsicher- heit jedes Individuums bei Transaktionen mit einem anderen Individuum beitragen: Insta- bilität, Unsicherheit und Unverbindlichkeit bei Kooperationen erhöhen aber die Transakti- onskosten stark. Institutionen sind dazu da, die Interaktionen zwischen den Individuen zu strukturieren (zum Beispiel mittels allgemein verbindlicher Regeln), indem sie die Band- breite und Reihenfolge der Handlungsoptionen vorgeben und Informationen für alle bereit- stellen. So wird die Unsicherheit der AkteurInnen über das Handeln der anderen reduziert und folglich ein Austausch untereinander gefördert. Dies resultiert in einem insgesamt hö- heren Gewinn, als wenn der Austausch nicht oder unter unsicheren Bedingungen stattge- funden hätte (Hall und Taylor 1996, S. 945). Institutionen überleben, wenn sie besser als mögliche Alternativen den relevanten AkteurInnen Nutzen bringen in Form von Erwar- tungssicherheit, Planbarkeit und Reduzierung von Transaktionskosten (Hall und Taylor 1996, S. 945). Sie sind damit nicht ein Hindernis für das rationale Handeln von Individuen, sondern „selbst das Ergebnis einer Orientierung von Interaktionspartnern in unsicheren oder dilemmatischen Entscheidungssituationen (…) [und] werden als von Menschen in wiederholbaren Situationen geteilte Konzepte verstanden, die durch Regeln, Normen und Strategien organisiert werden“ (Schneider und Janning 2006, S. 89).

4.1.1 Der akteurzentrierte Institutionalismus

Anknüpfend an den Neoinstitutionalismus wurde der akteurzentrierte Institutionalismus von Mayntz und Scharpf (Mayntz und Scharpf 1995a, 1995b) konzipiert, mit dem Ziel „einen maßgeschneiderten Ansatz für die Untersuchung der Problematik von Steuerung

insofern unterlegen, als diese Anknüpfungspunkte für konkretere Ansätze bietet, welche wiederum die Staatstätig- keit im moralpolitischen Bereich besser erfassen. 62 Theoretischer Rahmen und Selbstorganisation auf der Ebene ganzer gesellschaftlicher Teilbereiche zu entwi- ckeln“ (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 39). Er selbst ist keine Theorie und erhebt nicht den Anspruch, ein Erklärungsmodell für Policy-Entscheidungen vorzugeben (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 39). Er ist vielmehr eine Forschungsheuristik bzw. ein Ansatz, in dem die institutionellen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen, diese aber konsequent in Rela- tion gesetzt werden zu den AkteurInnen und ihren Präferenzen und ihrem Handeln. Damit will der Ansatz eine Grundlage bieten für Fallstudien und generalisierbare Hypothesenprü- fungen, wie sie in der vorliegenden Studie durchgeführt werden (Heinze 2012, S. 56; Schneider und Janning 2006, S. 92). Mayntz und Scharpf grenzen sich aber auch in we- sentlichen Aspekten vom Neoinstitutionalismus ab. Im Folgenden wird das Erklärungsmo- dell anhand seiner zentralen Komponenten erläutert: den Institutionen, den kooperativen AkteurInnen und der Mehrebenenperspektive.

Abbildung 4.1: Akteurzentrierter Institutionalismus

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Mayntz und Scharpf 1995a, S. 45.

Abbildung 4.1 stellt den akteurzentrierten Institutionalismus grafisch dar. Die AkteurInnen stehen mit ihren Präferenzen und Interaktionen im Fokus des Interesses. Sie befinden sich in einer Black Box, welche eine Illustration des interessierenden und zu untersuchenden Phänomens in der politischen Aushandlungsarena darstellt. Die „Black Box“ geht auf Eas- ton (1965) zurück. Sie illustriert die Idee, dass das politische System in komplexen und von außen scheinbar nicht einsehbaren Prozessen Politikergebnisse produziert. Auf diesen

63 Kapitel 4

Prozess wirkt die Umwelt mit Forderungen, Unterstützungsleistungen und Restriktionen ein und beeinflusst so den Prozess und das Ergebnis. Diese Umwelt besteht aus institutio- nellen wie nicht-institutionellen Faktoren. Das Ziel der Studie ist die Öffnung der Black Box im Fall der Regulierung von Biomedizinpolitiken. Die externen Einflüsse und deren Verarbeitung und Wechselwirkungen im politischen System sollen analysiert werden. Die folgenden Abschnitte erläutern den akteurzentrierten Ansatz und die Abbildung 4.1 näher.

Institutionen Mayntz und Scharpf sprechen den Institutionen eine wesentliche Rolle in der Politikgestal- tung zu (vgl. Abbildung 4.1). Allerdings beschränken sie sich nicht nur auf formelle politi- sche Institutionen, sondern konzentrieren sich auf die informellen institutionalisierten Re- gelungsaspekte für soziale Interaktionen (Schneider und Janning 2006). Sie betrachten Institutionen sowohl als abhängige und als unabhängige Variable und gehen davon aus, dass Institutionen von AkteurInnen verändert werden können und daher nicht ausschließ- lich determinierende Wirkung haben (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 43). „Institutionelle Faktoren bilden vielmehr einen – stimulierenden, ermöglichenden oder auch restringieren- den – Handlungskontext“ (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 43). Innerhalb dieses Hand- lungskontextes findet die Interaktion zwischen kooperativen staatlichen und nicht- staatlichen AkteurInnen statt. Institutionen umfassen also auch soziale Konstruktionen, wie normierte Verhaltensmuster. So werden Regulierungen „betont, die sich vor allem auf die Verteilung und Ausübung von Macht, die Definition von Zuständigkeiten, die Verfügung über Ressourcen sowie Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse beziehen“ (Heinze 2012, S. 39). Diese Regulierungen sind definiert und sanktioniert und garantieren somit gegen- seitige Erwartungssicherheit. Dadurch ermöglichen sie soziales Handeln (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 47). Sie können verschiedener Art sein: Sie können materielle Verhal- tensnormen und formale Verfahrensnormen festlegen, Ressourcen finanzieller, rechtlicher, personeller, technischer oder natürlicher Art bestimmten AkteurInnen zu- oder absprechen und Dominanz- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen bestimmten AkteurInnen festle- gen (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 47-48). Kooperative AkteurInnen werden häufig durch staatliche Entscheidungen geschaf- fen, und ihr Handeln und ihre Kooperation finden in Arenen statt, die ebenfalls durch Re- gelungen konstituiert wurden und damit das Handeln der AkteurInnen bis zu einem gewis- sen Grad vorstrukturieren (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 47-48). Bei (Biomedizin-)Politiken gilt als formelle Institution beispielsweise die im Grund- gesetz festgelegte Zustimmungspflicht des Bundesrates zu bestimmten Gesetzesvorhaben

64 Theoretischer Rahmen des Bundestages (Art. 70 – 74 GG). Diese Pflicht hat Einfluss auf das Verhalten der legis- lativen Institutionen. Sie antizipieren die Regelung und können sie in ihren Aushandlungen berücksichtigen. Als informelle Institution kann die Abstimmung im Bundestag mit Frak- tionsdisziplin angesehen werden.43

Kooperative AkteurInnen Auch wenn die Institutionen den variablen Handlungsrahmen vorgeben, sind dennoch die AkteurInnen und ihre Kooperationen untereinander die wesentlichen Komponenten von Mayntz und Scharpfs Konzept (1995a, S. 49-65). Sie bezeichnen handlungsfähige Organi- sationen als kooperative AkteurInnen, welche zentrale und hochgradig organisierte Be- standteile gesellschaftlicher Teilsysteme sind (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 49). Es gebe Fälle, in denen das individuelle Handeln von entscheidender Bedeutung sei (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 50-51). Durch die institutionellen Vorgaben finden Verhandlungen zwi- schen den kooperativen AkteurInnen in einem vordefinierten Raum mit dementsprechen- den Regeln statt, was die Erwartungssicherheit erhöht und den Austausch untereinander erleichtert (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 48). Diese Regeln sind jedoch nicht starr. Sie lassen einen gewissen Entscheidungsspielraum, der mehr oder weniger intensiv genutzt wird. Dadurch sind kurz- und vor allem langfristige Regeländerungen möglich. Dies be- deutet letztendlich, dass die AkteurInnen die Institutionen ändern können (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 43-45). Mayntz und Scharpf gestehen den AkteurInnen begrenzte Ratio- nalität und wesentlich mehr Handlungsspielraum zu als streng institutionelle Ansätze (Heinze 2012, S. 59). Sie bilden nicht eine „mehr oder weniger amorphe und passive Um- welt“ für das Regierungshandeln (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 44). Bei Biomedizinpolitiken in Deutschland sind beispielsweise die christlichen Kirchen und Parteien wie die SPD zentrale kooperative AkteurInnen, die sich in die Politikgestal- tung einbringen. Sie agieren als Organisationen und können sich bei übereinstimmender Haltung zu bestimmten Biopolitiken auch bzgl. ihrer Strategien zur Politikdurchsetzung koordinieren. Dies tun sie im Rahmen der verfassungs- und gesetzesmäßigen Möglichkei- ten. Ebenfalls können einzelne Personen dabei eine herausragende Rolle spielen, so zum Beispiel ein Akteur in der Position des Bundeskanzlers. Fasst man etwa die Regulierung des Embryonenschutzes als (gesetzliche) Institution auf, dann wurde diese durch die Ak-

43 Dem Grundgesetz nach sind die Abgeordneten bei Abstimmungen nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 I 2 GG). Sie dürfen daher nicht formal von ihrer Fraktion zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten gezwungen werden. Gleichzeitig ist man sich in der Politikwissenschaft weitestgehend einig, dass für ein stabiles parlamentarisches System ein gewisses fraktionskohärentes Abstimmungsverhalten unerlässlich ist (Schmidt 2011, S. 143). 65 Kapitel 4 teurInnen mittels der Gesetzesreformen verändert. Das neue Gesetz setzt als Institution einen Teil des Rahmens, innerhalb dessen die AkteurInnen zukünftig handeln werden.

Mehrebenenperspektive Der Ansatz nimmt eine Mehrebenenperspektive ein, in der Organisationen in ihrem Han- deln sowohl von den institutionellen Rahmenbedingungen als auch durch das Handeln ih- rer einzelnen Mitglieder beeinflusst werden (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 44). Es ist möglich, die Beziehungen auf Mikroebene zwischen Individuen innerhalb einer Organisa- tion und zwischen verschiedenen Organisationen zu betrachten. Auch die Mesoebene mit den Beziehungen der einzelnen Organisationen untereinander spielt eine zentrale Rolle (Mayntz und Scharpf 1995a, S. 50-51). In der Dissertation liegt der Schwerpunkt auf ein- zelnen Organisationen und ihren Beziehungen untereinander. Beispielsweise ist eine Partei eine Organisation, die für die Parteimitglieder ein festes Regelsystem und für ihre politi- sche Arbeit einen Handlungsrahmen vorgibt. Das bedeutet aber nicht, dass die individuel- len AkteurInnen sich ausschließlich an ein starres Regelgerüst halten müssen. Vielmehr sind sie es, die mit ihrem Verhalten und der Kommunikation untereinander und mit ande- ren Organisationen (z. B. Parteien oder Interessenorganisationen) das Regelgerüst der ei- genen Partei umgestalten und den Handlungsrahmen verändern können. Die Studie ist deswegen offen für die punktuelle Einbeziehung einzelner AkteurInnen, sofern sie große Bedeutung für den Diskurs bei der Agendasetzung und der Politikentscheidung haben, wie beispielsweise der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Es wird vermutet, dass diese Perspektive für die vorliegende Studie besonders fruchtbar ist. Die Herausforderung besteht darin, alle relevanten kooperativen und individuellen AkteurInnen mit ihren Rege- lungssystemen zu erfassen, ihre Beziehungen untereinander offenzulegen und die Einfluss- faktoren von außen in die Analyse miteinzubeziehen (vgl. Abschnitt 4.3). Der akteurzentrierte Institutionalismus ist für die Studie wichtig, da er die Konstitu- tion und Interaktion von Institutionen und AkteurInnen definiert. Vernachlässigt wird darin allerdings die Bedeutung des Diskurses zwischen den AkteurInnen. Daher wird im Folgen- den der diskursive Neoinstitutionalismus als Ergänzung diskutiert.

4.1.2 Der diskursive Neoinstitutionalismus und Framing

Ein relativ neuer theoretischer Zweig in der Erklärung von Politikwandel ist der sogenann- te diskursive Neoinstitutionalismus (Schmidt 2008, 2010b, 2010a; Schmidt und Radaelli 2004). Dieser Ansatz bildet zusammen mit dem akteurzentrierten Institutionalismus den

66 Theoretischer Rahmen theoretischen Rahmen für die folgenden Annahmen bezüglich des Policy-Wandels und insbesondere hinsichtlich der Diskursnetzwerkanalyse. Wie der Name impliziert, liegen seine Wurzeln im Neoinstitutionalismus, er hebt allerdings den Diskurs als entscheidenden Faktor bei der Erklärung von Politikwandel hervor. Es gibt eine enge Verbindung zum akteurzentrierten Institutionalismus, denn auch der diskursive Institutionalismus sieht den Akteur bzw. die Akteurin und dessen bzw. deren Wahrnehmungen und Präferenzen sowie seine bzw. ihre Beziehungen zu anderen AkteurInnen von Institutionen entscheidend mit- geprägt (Schmidt und Radaelli 2004, S. 197). Schmidt und Radaelli (2004, S. 184) definie- ren Diskurs „in terms of its content, as a set of policy ideas and values, and in terms of its usage as a process of interaction focused in policy formulation and communication (…).” Für sie ist der Diskurs ein zentrales Element für Institutionen, da er Ideen kreiere für neue Regeln, Werte und Praktiken. Darüber hinaus sei er eine Ressource von beteiligten Akteu- rInnen, um diese neuen Regeln, Werte und Praktiken herzustellen und zu legitimieren.

Abbildung 4.2: Akteurzentrierter Institutionalismus und diskursiver Neoinstitutionalismus

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Mayntz und Scharpf 1995a, S. 45.

Dieser Produktionsprozess findet in der Politikformulierung statt (Schmidt und Radaelli 2004, S. 184). Institutionen geben den Rahmen vor, innerhalb dessen der Diskurs stattfin- det. Im Zuge dessen grenzen sie gesellschaftlich anerkannte von nicht-akzeptablen Diskur- sen ab (Schmidt und Radaelli 2004, S. 193). Sie erleichtern den Diskurs bestimmter Akteu- rInnen untereinander, wohingegen sie ihn für andere erschweren. Ein solcher Diskurs kann

67 Kapitel 4 den Politikwandel beeinflussen (Schmidt und Radaelli 2004). Abbildung 4.2 erweitert das Konzept des akteurzentrierten Ansatzes um die Aspekte des diskursiven Neoinstitutiona- lismus. Wie die Abbildung veranschaulicht, lassen sich die beiden Ansätze gut miteinander verbinden. Der diskursive Neoinstitutionalismus betont den Diskurs und das Framing bei der Interaktion der AkteurInnen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass durch den Diskurs Präferenzen der AkteurInnen beeinflusst werden können und umgekehrt. Foucault (2001) hat sich mit der Art und Funktion gesellschaftlicher Diskurse inten- siv auseinandergesetzt: Die Produktion von Diskursen wird in jeder Gesellschaft „kontrol- liert, selektiert, organisiert und kanalisiert“ (Foucault 2001, S. 10-11). Personen oder Or- ganisationen, welche einen solchen Einfluss auf einen Diskurs nehmen können, üben Deu- tungsmacht aus. Folglich haben diejenigen AkteurInnen Macht inne, die den Diskurs kon- trollieren können. Die Macht übersetzt sich in die Beeinflussung der Regulierung von Poli- tiken (Foucault 2001; Kerchner 2006). „Da Diskurse als Legitimität und Ordnung produ- zierende Aussagensystemelemente und Sinnzuschreibungen betrachtet werden können, ist die Herrschaft über den Diskurs gleichsam eine Kontrollfunktion der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft (…)“ (Janning et al. 2009, S. 62). Der diskursive Neoinstitutionalismus greift auf diese Idee zurück (Schmidt 2008). Der Diskurs als interaktiver Prozess ist in der Politikwissenschaft nicht neu und hat verschiedenste Variationen hervorgebracht: Unter den Schlagworten „epistemic communi- ties“, „advocacy coalitions“, „discourse coalitions“, „entrepreneurs“ oder „mediators“ wurde bereits eine Reihe von politikwissenschaftlichen Studien durchgeführt, die den Dis- kurs als erklärenden Faktor in das Zentrum der Analyse stellen (Schmidt und Radaelli 2004, S. 195-196). Schmidt und Radaelli (2004, S. 193) behaupten, dass ihre Definition des Diskurses die meisten Ansätze zu Ideen und Diskursen abdeckt. Sie betonen die ideelle und die interaktive Dimension des Diskurses. Die ideelle Dimension umfasst die objekti- ven und normativen Ideen und Werte, welche die Basis der Herstellung von Bedeutung bilden. Die interaktive Dimension beinhaltet die Politikformulierung durch die Elite und die Kommunikation und Deliberation mit und innerhalb der breiten, interessierten und in- formierten Öffentlichkeit (Schmidt und Radaelli 2004, S. 197). “In other words, discourse is not only about what is said but also about who said what to whom, where, and why“ (Schmidt 2010a, S. 57). Der Diskurs findet innerhalb eines institutionellen Kontextes statt. Dieser Kontext besteht aus einer Reihe von formalen und informellen Regeln, Gesetzen, gesellschaftlichen und politischen Normen und Konventionen. Die AkteurInnen entwickeln Ideen und Hand- lungsstrategien, die von den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen geleitet sind 68 Theoretischer Rahmen und vom herrschenden Diskurs beeinflusst werden. Die AkteurInnen wiederum gestalten mit ihren Aussagen, die ihre Ideen und Handlungsstrategien enthalten, den Diskurs. Führt der Diskurs zu einer Politikentscheidung, so hat er Einfluss auf die institutionellen Rah- menbedingungen (Schmidt 2010b, S. 4-5; Schmidt und Radaelli 2004, S. 197-201). In die- sem Prozess können die AkteurInnen reflektieren, dass ihre Ideen und Handlungen von den institutionellen Rahmenbedingungen geleitet werden. Schmidt und Radaelli (Schmidt 2008, 2010a, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004) gehen auch davon aus, dass es Koopera- tionen von AkteurInnen gibt, welche die gleichen Ideen und Handlungsstrategien teilen und diese im Diskurs prominent machen wollen. Je überzeugender sie im Diskurs sind, also je größer ihre Anhängerschaft ist, desto mächtiger sind diese Koalitionen. Ein dem Diskurs inhärenter Bestandteil ist das Framing. „Framing ist ein mehrstufi- ger Prozess, in dem gesellschaftliche AkteurInnen mit kommunikativen Mitteln versuchen, eine spezifische Vorstellung der sozialen Realität zu erzeugen, um damit intendierte Wir- kungen zu erzielen und öffentliche Diskurse zu strukturieren“ (DVPW und DGPuK 2010). Schmidt (2010b, S. 3) geht davon aus, dass Ideen der AkteurInnen durch den Diskurs prä- sentiert werden. Diese Ideen umfassen neben Narrationen, Mythen, kollektiven Erinnerun- gen, Geschichten und anderem eben auch Frames. Diese Ideen und Normen, die im Dis- kurs zur Sprache kommen, sind nach Schmidt (2010a, S. 59) nicht nur ein Spiegelbild der Institutionen, in denen AkteurInnen eingebettet sind. Es ist der Diskurs selbst, der diese Ideen und Normen reframed und so neue Institutionen schafft. Die vorliegende Studie greift die Idee von Schmidt und Radaelli (Schmidt 2010a, 2008, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004) auf, dass ein Diskurs sowohl von Institutionen geprägt wird und selbst Ideen und Normen prägt. Es wird davon ausgegangen, dass die umfangreichen Diskussionen in der Öffentlichkeit über Biomedizinpolitiken durch andere Faktoren beeinflusst werden. Der Diskurs wäre dann ein Spiegelbild der Einflüsse, die auf die im politischen Entscheidungsprozess Beteiligten wirken. Diese Einflüsse werden in Abschnitt 4.3 eingehender vorgestellt und als Erwartungen in der Analyse überprüft.

4.1.3 Kritik und ergänzende Anmerkungen

Der akteurzentrierte Institutionalismus bietet gerade für Moralpolitiken aus verschiedenen Gründen einen guten theoretischen Rahmen. Allerdings gibt es Fallstricke, die beachtet werden sollten. Auf die Vor- und Nachteile wird im Folgenden kurz eingegangen. Durch die Mehrebenenperspektive und die Tatsache, dass ein Individuum selten nur einer Organisation angehört, nehmen einzelne Personen zwangsläufig verschiedene Rollen

69 Kapitel 4 ein. Sie sind zum einen Individuen mit eigenen Interessen und Agenden. Zum anderen agieren sie als Mitglieder von verschiedenen Organisationen oder deren Untereinheiten, welche unterschiedliche, mitunter auch divergierende Interessen haben. So kann eine Per- son beispielsweise einen wissenschaftlichen Beruf ausüben und gleichzeitig aktives Mit- glied der katholischen Kirche und der FDP sein. Damit gerät sie im Fall von Biomedizin- politiken möglicherweise in einen Interessenkonflikt: Während die katholische Kirche eine sehr restriktive Politik anstrebt, möchte die FDP unter dem Freiheitspostulat eine möglichst liberale Regulierung. Während die Person als WissenschaftlerIn nun möglicherweise Sym- pathien für die embryonale Stammzellforschung aufbringt, haben ihre Organisationen aus- einandergehende Standpunkte zu dem Thema. So ist die katholische Kirche strikt gegen die Forschung, wohingegen die FDP dafür ist. Dieses beschriebene Phänomen kann mittels des akteurzentrierten Institutionalismus gut erfasst werden. Es stellt aber ebenso eine theo- retische und analytische Herausforderung dar; Denn die Mehrebenenperspektive hat nicht nur zur Konsequenz, dass Entscheidungsdilemmata von dem theoretischen Modell aufge- griffen werden müssen, sondern macht es auch in der Analyse schwer, eine Person nur genau einer Organisation zuzuordnen. Eine weitere Herausforderung, die Schneider und Janning (2006, S. 94-95) benen- nen, ist in der AkteurInnenkonstellation zu finden: Betrachtet man ausschließlich individu- elle und kooperative AkteurInnen, dann entgehen einem eventuell die Beziehungsnetzwer- ke, die sich zwischen individuellen AkteurInnen verschiedener Organisationseinheiten (also den kooperativen AkteurInnen) ergeben können. Dieses Phänomen konnte beispiels- weise bei der Behandlung der embryonalen Stammzellforschung im Bundestag beobachtet werden: ParlamentarierInnen formulierten fraktionsübergreifende Anträge, und die Ab- stimmung wurde als Gewissensentscheidung deklariert und ohne Fraktionszwang durchge- führt. Somit wurde der übliche institutionelle Rahmen verlassen. Da das allerdings öffent- lich geschah und in der Analyse so auch berücksichtigt werden kann, stellt dies in der vor- liegenden Studie kein Problem, sondern vielmehr einen Teil der Antwort auf die For- schungsfrage dar. Zudem ist es gerade mit der Diskursnetzwerkanalyse möglich, solche informellen Beziehungen zu identifizieren und darzustellen. Eine weitere Herausforderung stellen die Handlungen von AkteurInnen dar, welche nicht allein von institutionellen Vorgaben geprägt werden, sondern auch durch „kontextun- abhängige Eigenschaften der Akteure (…), die sich aus ihrer Sozialisation und allgemeinen Erfahrungen oder bei korporativen Akteuren und Netzwerken aus ihrer Geschichte von strategischen wie operativen Erfolgen und Interaktionserfahrungen herleiten lassen“ (Schneider und Janning 2006, S. 95). Gerade bei moralpolitischen Themen ist das anzu- 70 Theoretischer Rahmen nehmen, da die Handlungen der AkteurInnen wesentlich von ihren Wertevorstellungen geprägt sind. Dies ist insbesondere bei nicht-monetären Themen wie der Sterbehilfe und weniger bei zumindest teilweise von finanziellen Interessen geprägten Themen wie der embryonalen Stammzellforschung der Fall. Hier zeigen sich wiederum die Unterschiede zwischen manifesten und latenten Moralpolitiken (Knill 2013b) und könnten ein Teil der Antwort auf die Forschungsfrage darstellen. Welche Faktoren zusätzlich eine Rolle beim Handeln von AkteurInnen spielen, ist eine interessante Frage. Die vorliegende Studie kann nicht alle möglichen Einflussfaktoren miteinbeziehen. Eine weitergehende Betrachtung aus dem Blickwinkel der politischen Soziologie und politischen Psychologie wäre ein frucht- bares Unterfangen.

4.2 Wie Policy-Wandel entsteht: Die Theorie des durchbrochenen Gleichgewichts

Bisher wurden grundsätzliche Erwartungen über das Verhalten von AkteurInnen und ihrem Diskurs innerhalb von institutionellen Rahmenbedingungen spezifiziert. Damit wurde die Basis des theoretischen Gerüsts gelegt. Jedoch sind die bisherigen Konzepte unscharf und gehen nicht auf den Policy-Wandel ein, der aber eine zentrale Voraussetzung zur Erklä- rung von Regulierungstempo ist. Ergänzend braucht es daher einen Ansatz, der Aussagen zum Wandel in Politiken macht und aus dem sich Erwartungen bezüglich des Biomedizin- politikwandels formulieren lassen. In der Policy-Literatur hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Erklä- rungsansätzen für den Policy-Wandel entwickelt. Einige konzentrieren sich insbesondere auf die Agendasetzung (Baumgartner und Jones 1991; Cobb und Elder 1971; Cobb et al. 1976; Howlett 1998; Kingdon 1984; Rochefort und Cobb 1993). Sie versuchen zu erklären, weshalb es manche Themen auf die politische Agenda schaffen, während andere nicht be- handelt werden. Charakteristisch für diese Erklärungsansätze ist, dass sie sich nicht gegen- seitig völlig widersprechen, sondern eher verschiedene Schwerpunkte setzen und sich da- her teilweise überschneiden bzw. ergänzen. Ein umfassender Ansatz zum Politikwandel, der auf die Agendasetzung und die Politikentscheidung Bezug nimmt, ist die „Theorie des durchbrochenen Gleichgewichts“ (punctuated equilibrium theory) von Baumgartner und Jones (Baumgartner et al. 2006a; Baumgartner und Jones 1991, 2009; Baumgartner et al. 2011; Jones und Baumgartner 2004). Mit Hilfe dieses Ansatzes können theoretische An- nahmen darüber getroffen werden, wann und wie Policy-Wandel bei Biomedizinpolitiken vonstatten gehen kann. Die beiden Autoren bezeichnen ihren Ansatz als „explicitly a theo- 71 Kapitel 4 ry of policy dynamics, as it focuses on the mechanisms that lead to policy change“ (Jones und Baumgartner 2012, S. 4). Es ist zu vermuten, dass er für die Erklärung des Tempos des Regulierungswandels44 bei Biomedizinpolitiken einen wertvollen Beitrag leisten kann. Der Ansatz wird als Forschungsheuristik verwendet, um einen theoretischen Rahmen für den Politikwandel zu setzen und Erwartungen formulieren zu können.45

Grundlegende Annahmen des Ansatzes Baumgartner und Jones betrachten in ihren Studien jeweils Politiken über einen langen Zeitraum bis zu mehreren Jahrzehnten (Baumgartner und Jones 2009, 1991). Sie wollen damit über die bloße Beobachtung von Lösungsentscheidungen hinausgehen und Ände- rungen in den Aufmerksamkeitsmustern erkennen. Entsprechend ist ihre Priorität eine dy- namische, diachrone und nicht synchrone Betrachtung (Jones und Baumgartner 2012, S. 6). Die meisten Erklärungsansätze zu Politikwandel gingen früher von einem inkrementel- len Policy-Wandel aus. Baumgartner und Jones hingegen beobachten auch lange Phasen relativ hoher Policy-Stabilität, die von einem schnellen, kurzfristigen Wandel abgelöst werden und von den bisherigen Theorien nicht erklärt werden (Jones und Baumgartner 2012, S. 1). Sie machten in ihren Studien der späten 1980er und frühen 1990er Jahre die Beobachtung, dass Wandel auf zwei Arten passieren kann: Zum einen durch inkrementelle Anpassungen innerhalb von Subsystemen. Zum anderen durch schnellen, plötzlichen und umfassenden Wandel, wenn die Subsysteme einer Politik die Nachfrage nach Wandel nicht mehr aufhalten konnten und makropolitische Institutionen sich einschalteten (Jones und Baumgartner 2012, S. 3). Der Ansatz ist mikrofundiert und geht von EntscheidungsträgerInnen aus, die be- grenzte Rationalität besitzen (eine zentrale Annahme der oben beschriebenen neoinstituti- onalistischen Ansätze) (Baumgartner und Jones 2009, S. xxiii): Deren Entscheidungen und Handlungen sind nie vollständig rational, sondern werden geleitet von kognitiven und emotionalen Gegebenheiten (Jones und Baumgartner 2012, S. 3). Weiterhin gehen Baum- gartner und Jones davon aus, dass Policy-Wandel durch zwei Faktoren erschwert wird. Zum einen gibt es „[s]tandard operations procedures in organizations, cultural norms, and facets of human cognitive architectures provide stability of behavior in a complex world“

44 Die Richtung des Politikwandels kann er hingegen nur indirekt erklären. Doch das ist nicht das Ziel der Disserta- tion. 45 Auf die Aufnahme weiterer Theorien wird aus mehreren Gründen verzichtet: Zum einen würde dies den Rahmen der Untersuchung sprengen; zudem überschneiden sich Theorien zum Policy-Wandel in ihren Annahmen teilweise, was dann auch hier zu Doppelungen ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn führen würde; andere Theorien wiede- rum setzen einen Schwerpunkt, der so weit von den hier verwendeten Theorien entfernt liegt, dass die Formulie- rung von Erwartungen und analytische Überprüfung in eine gänzlich andere Richtung führen würde (zum Beispiel „Epistemic Communities“ oder „Social Learning“). 72 Theoretischer Rahmen

(Jones und Baumgartner 2012, S. 8). Zum anderen existieren institutionelle Regeln, die Policy-Wandel eher behindern (Jones und Baumgartner 2012, S. 8). Auch hier zeigt sich die Nähe des Ansatzes zum Neoinstitutionalismus, in dem Institutionen als verhaltenssteu- ernde Elemente in der Politikgestaltung begriffen werden. Baumgartner und Jones haben mit dem durchbrochenen Gleichgewicht einen Ansatz entwickelt, der sowohl für umfassenden Policy-Wandel auf makropolitischem Level als auch in den Subsystemen stattfinden kann (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Wichtig bei Wandel ist die Art und Weise, wie und welche Informationen gesammelt, interpretiert, priorisiert und weitergegeben werden. Informationen sind dabei immer mit Unsicherheit behaftet und können widersprüchlich sein (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Diese Ver- arbeitung und Weitergabe von Informationen durch die beteiligten AkteurInnen geschieht häufig durch einen Diskurs. Hier zeigt sich die Anschlussfähigkeit zum diskursiven Institu- tionalismus von Schmidt und Radaelli (Schmidt 2010a; Schmidt und Radaelli 2004; Schmidt 2010b, 2008). Politische EntscheidungsträgerInnen werden mit solchen verschiedensten Informati- onen ständig konfrontiert. „Policymakers, as boundedly rational decision makers with hu- man cognitive constraints, focus on some of this information and ignore most of it“ (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Das System, so Baumgartner und Jones (2012, S. 7), tendie- re eher dazu, auf Informationen zunächst kaum oder gar nicht zu reagieren und dann über- zureagieren. „This tendency toward the disproportionate processing of information means that problem prioritization will be stable for most of the time because the resistance will not be overcome by the flow of information (…) When policies change, they will shift in a disjoint and episodic manner“ (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Dieser scheinbar un- vorhersehbare Wandel kann durch einen Skandal oder eine Krise ausgelöst werden (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Drei zentrale Komponenten des Ansatzes sind das Policy- Subsystem, das Policy-Image und das Policy-Venue. Sie werden nun vorgestellt.

Policy-Subsystem Ein Policy-Subsystem besteht aus einer Politik in ihrem Status quo und der Sammlung von AkteurInnen, die sich mit diesem spezifischen Policy-Problem auseinandersetzen bzw. für den Status quo verantwortlich sind (Baumgartner und Jones 1991; Baumgartner et al. 2009). Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Regulierung der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung mit den beteiligten AkteurInnen um zwei Policy- Subsysteme. Generell können diese Subsysteme über lange Zeit stabil sein, also keine Re- gulierungsänderung erfahren. Institutionelle und kulturelle Verfahren oder Strukturen för-

73 Kapitel 4 dern und stützen diese Stabilität. Dadurch wird der Politikwandel nicht verunmöglicht. Es ist vielmehr eine verzögernde Kraft. Politikwandel setzt dann ein, wenn die externen Sig- nale so außergewöhnlich stark sind, dass die Hemmschwelle überwunden wird oder wenn die Informationen sich über die Zeit akkumuliert haben und die Hemmschwellen schließ- lich überschreiten. Hier findet der Durchbruch durch das bisher existierende Gleichgewicht statt. Das disproportionale Kanalisieren von Informationen führt von zu wenig Anpassung zu einer Überreaktion (Jones und Baumgartner 2012, S. 8-9). Auch das scheinbar stabilste Subsystem kann einem Umbruch unterliegen, wenn sich die institutionellen Rahmenbedingungen ändern (Baumgartner et al. 2006b, S. 961-962). Baumgartner und Jones (1991, S. 1046-1051) gehen davon aus, dass ein plötzlicher Policy- Wandel mit massiv erhöhter Aufmerksamkeit einhergeht. EntscheidungsträgerInnen und (Interessen-)Organisationen versuchen, diese Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, wenn sie einen Wandel erreichen wollen. Dies ist nicht einfach, denn Aufmerksamkeit ist ein rares Gut (Jones und Baumgartner 2012, S. 4). Gleichzeitig versuchen die Entschei- dungsträgerInnen von Policy-Subsystemen, Interessen von anderen AkteurInnen möglichst von ihrem Subsystem fernzuhalten und das Image ihres Subsystems zu kontrollieren, um weiter die exklusive Entscheidungsmacht zu haben (Baumgartner und Jones 1991, S. 1049- 1050). Welche sich ändernden Rahmenbedingungen die vorliegende Studie betrachtet, wird in Abschnitt 4.3 dargelegt.

Policy-Image Ein Policy-Image bezeichnet die Interaktion von Ideologie und Einstellungen bezüglich einer bestimmten Politik. Das Policy-Image wird von der Öffentlichkeit und der Elite kre- iert. Es kann positiv oder negativ sein, abhängig davon, welche Gruppe sich durchsetzt. Nach Baumgartner und Jones (2009, S. 25-27) sind politische Auseinandersetzungen im- mer auch ein Konflikt über die Deutungshoheit von Policy-Images. Diese Images vereinen in sich empirische Fakten und die Ansprache von subjektiven Gefühlen (Baumgartner et al. 2009, S. 26). Sie beeinflussen wesentlich, wie eine Politik wahrgenommen, eingeschätzt und diskutiert wird. BefürworterInnen und GegnerInnen einer Politik werden entsprechend versuchen, dieser Politik ein Image zu geben, welches ihre jeweiligen Regulierungsabsich- ten unterstützt (Wendon 1998, S. 344). Ein Image basiert auf Fakten, allerdings kon- zentriert sich die Öffentlichkeit gerne und lange einseitig auf die positiven oder negativen Fakten und tendiert dazu, die andere Seite zu ignorieren. Dann ist aber manchmal nur einen kleiner Anstoß nötig, um dieses Bild zu wandeln (Jones und Baumgartner 2012, S. 7). Auch bezüglich der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung gibt es jeweils

74 Theoretischer Rahmen ein Policy-Image. Hier lässt sich eine enge Verknüpfung mit dem diskursiven Institutiona- lismus von Schmidt und Radaelli (Schmidt 2008, 2010a, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004) herstellen: Ein Policy-Image entsteht durch die Interaktion von verschiedenen Ak- teurInnen untereinander. Diese Interaktion findet ebenfalls als Diskurs statt, in welchem Ideologien und Einstellungen präsentiert, ausgetauscht und geformt werden. Der Diskurs kann ein Policy-Image also bestätigen und verfestigen. Beteiligen sich jedoch neue Akteu- rInnen am Diskurs, dann werden neue Ideen und Normen in den Diskurs hineingetragen (z. B. durch externe Ereignisse) und haben Einfluss auf das Policy-Image. Beim Konzept des Policy-Image zeigt sich die Bedeutung von Diskursen vor dem Hintergrund neoinstitu- tioneller Settings besonders eindrücklich. Erwartungen darüber, ob und wie das Policy- Image einen Einfluss auf das Regulierungstempo hat, werden in Abschnitt 4.3 diskutiert.

Policy-Venue Das Policy-Venue, die dritte zentrale Komponente des Ansatzes, ist die Summe der existie- renden politischen Institutionen, die den AkteurInnen einen Zugang zu politischer Aktion in einem Subsystem erlauben, ihnen also Entscheidungsmacht zugestehen (Baumgartner et al. 2009, S. 31). Das Policy-Venue kann sich auch über die Zeit wandeln. Welche politi- schen Institutionen für welches Policy-Feld verantwortlich sind, ist nicht auf alle Zeit fest- gelegt (Baumgartner und Jones 1991, S. 1046-1047). Wenn sich der Zugang zu einer Po- licy ändert (zum Beispiel durch Zuständigkeitswechsel zwischen Ministerien oder Staats- ebenen), dann verliert eine Seite die (Deutungs-)Hoheit über das Thema, wohingegen die andere Seite sie gewinnt. Dies kann neue TeilnehmerInnen motivieren, sich einzubringen. Baumgartner und Jones (Baumgartner und Jones 1991, S. 1049) sehen drei Wege, um ei- nen Konflikt an neue Zugänge anzuknüpfen: Erstens können VerliererInnen versuchen, neue Gruppen zu aktivieren, die sich vorher nicht in die Debatte eingemischt hatten. Zwei- tens können AußenseiterInnen hinzustoßen und sich in das Politikfeld einmischen. Drittens können EntscheidungsträgerInnen von anderen Zuständigkeitsbereichen sich einmischen. Diese Möglichkeiten sollen im Zuge der Fallanalysen überprüft werden. Das Policy-Image und das Policy-Venue können durch ihre gegenseitige Beeinflussung die Policy-Stabilität erhalten oder den Wandel in einem Policy-Subsystem verstärken (Baumgartner und Jones 1991, S. 1047). Sie werden daher im Einzelnen in Abschnitt 4.3 diskutiert.

Fazit Der Ansatz eignet sich gut, um einen Policy-Wandel zu erfassen. Er lässt die Annahme zu, dass ein langsamer Wandel im Policy-Subsystem auch einen inkrementellen Wandel in der

75 Kapitel 4

Policy-Regulierung ermöglicht (Baumgartner und Jones 1991, S. 1048). Dies ist zum Bei- spiel der Fall, wenn eine neue Interessenorganisation entsteht und sich im Subsystem Ster- behilfe aktiv einbringt. Die Organisation muss zunächst wachsen und Strategien entwi- ckeln, um sich in den Diskurs wirkungsvoll einbringen zu können. Dies kann zügig ge- schehen, aber auch lange dauern. Auf die Moralpolitikforschung wurde das Konzept von Baumgartner und Jones bis- her kaum angewandt. Eine Ausnahme bildet die Studie von Hurka et al. (2016). Sie unter- suchen Reformdynamiken bei acht Moralpolitiken in 19 Staaten in den Jahren 1960 bis 2010. Die Ergebnisse zeigen, dass es nach einer Phase von Policy-Stabilität zu starken Umbrüchen bei Moralpolitiken kommt. Diese Umbrüche seien bei manifesten Moralpoliti- ken stärker ausgeprägt als bei latenten Moralpolitiken (Hurka et al. 2016, S. 21). Analog zum diskursiven Institutionalismus werden die konkreten Erwartungen an das Regulierungstempo, welche sich durch das Konzept des durchbrochenen Gleichge- wichts aufstellen lassen, in Abschnitt 4.3 aufgestellt und erläutert.

4.3 Reformtempo bei Biomedizinpolitiken – Erklärungsfaktoren und Erwartungen

Die bisher vorgestellten theoretischen Überlegungen zu Institutionen, AkteurInnen, ihrem Diskurs und dem Politikwandel durch das durchbrochene Gleichgewicht sind mehr oder weniger abstrakt. Der akteurzentrierte und der diskursive Institutionalismus sowie das Konzept des durchbrochenen Gleichgewichts beschreiben eine Vorstellung von politi- schem Handeln und vom Diskurs der AkteurInnen, welcher eingebettet ist in verschiedene Institutionen und geben eine Vorstellung davon, wie Politikwandel zustande kommen kann. Was aber bisher fehlt, sind konkrete, empirisch überprüfbare Erwartungen bezüglich möglicher Einflussfaktoren auf das Regulierungstempo von Biomedizinpolitiken. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Sie leiten sich argumentativ aus den bisherigen theoretischen Überlegungen ab. In jedem Abschnitt wird daher der Bezug der jeweiligen Erwartung zum theoretischen Rahmen hergestellt. Hier kommen die von Knill et al. (Knill 2013b; Knill et al. 2015a; Knill et al. 2015d) genannten institutionellen und kulturellen Gelegenheitsstrukturen zum Tragen (vgl. Kapitel 2). Abbildung 4.3 veranschaulicht das Theoriemodell, das eine Erweiterung der Abbildung 4.1 und Abbildung 4.2 darstellt.

76 Theoretischer Rahmen

Abbildung 4.3: Theoriemodell

Anmerkung: t1 = Zeitpunkt 1; t2 = Zeitpunkt 2. Quelle: Eigene Erweiterung und Darstellung auf Basis von Mayntz und Scharpf 1995a, S. 45.

Um nun die beiden Policies Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung genauer un- tersuchen zu können und mögliche Erklärungsgrößen zu identifizieren, werden zwei Pha- sen des Policy-Wandels unterschieden: die Agendasetzung und die Politikentscheidung. Damit wird der Komplexität von Politikwandel Rechnung getragen und die Übersichtlich- keit von theoretischem Aufbau und Analyse ermöglicht. Agendasetzung und Politikent- scheidung bzw. -formulierung sind als Teile des Policy-Zyklus Phasen, denen Erwartungen zugrunde gelegt werden können. Hier kommen jeweils verschiedene potenzielle Erklä- rungsfaktoren infrage, wobei davon ausgegangen wird, dass Faktoren, welche die Agen- dasetzung forcieren, möglicherweise ebenfalls einen Einfluss auf die Politikentscheidung haben.46 Von diesen Faktoren hängt es ab, welche zeitliche Spanne zwischen den Zeit- punkten t1 und t2 liegt.

46 Agendasetzung und Politikentscheidung sind Teil des sogenannten Policy-Zyklus. Dieser wurde von Lasswell in den 1950er Jahren entwickelt und in den vergangenen Jahrzehnten verschiedentlich modifiziert (Blum und Schu- bert 2011, S. 106). Er ist eine Heuristik, welche den politischen Entscheidungsprozess in eine sequenzielle Abfolge gliedert: In der ersten Phase der Problemdefinition und Agendasetzung wird ein gesellschaftlicher Zustand als Problem wahrgenommen und die Annahme getroffen, dass dieses Problem politisch gelöst werden muss. In der zweiten Phase reift bei den politischen AkteurInnen eine Politikformulierung und damit Entscheidung, wie dieses Problem gelöst werden soll. Daran schließt sich als dritte Phase die Politikimplementierung an. In der vierten Pha- se der Evaluierung wird das Problem als gelöst betrachtet und der Policy-Zyklus abgeschlossen (Terminierung). Sollte das Problem weiterhin bestehen, kann es auch erneut zu einer Problemwahrnehmung und Agendasetzung kommen (Gellner und Hammer 2010, S. 59). Bei Agendasetzung und Entscheidungsfindung können eventuell unterschiedliche Erklärungsfaktoren zum Tragen kommen. Zudem kann ein Thema auf die politische Agenda gesetzt werden, ohne dass es zu einem Regulierungswandel kommt. 77 Kapitel 4

Nochmals sei erwähnt, dass die folgenden aufgestellten Erwartungen vorläufige und die Analyse leitende Erwartungen sind. Sie machen daher noch keinen Unterschied zwi- schen den beiden Biomedizinpolitiken Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung, sondern stellen nur mögliche Einflussfaktoren auf die Biomedizinpolitik fest. Welche Fak- toren dann auf welche Art auf die beiden Politiken gewirkt haben, wird in den Fallstudien untersucht.

4.3.1 Agendasetzung

Im Policy-Zyklus stellen die Problemdefinition und Agendasetzung die erste Phase dar.47 Hier wird ein gesellschaftlicher Zustand als Problem wahrgenommen und mindestens von einem Teil der politischen AkteurInnen die Annahme getroffen, dass dieses Problem poli- tisch gelöst werden muss. Daher wird es auf die politische Agenda gesetzt. Eine Agen- dasetzung kann von „oben“, also von den politischen AkteurInnen ausgehen. Sie kann aber auch von „unten“, also durch die Gesellschaft bzw. einzelne AkteurInnen, an die Politike- rInnen herangetragen werden (Gellner und Hammer 2010, S. 20-21). Im Sinne des Rational Choice-Ansatzes wählen die AkteurInnen Themen, die breite Schichten der Bevölkerung betreffen, um die Chance zu erhöhen, dass dieses Thema als Problem weithin erkannt wird und es auf die politische Agenda schafft (Knill et al. 2010, S. 57). Diese gängige Sicht gilt gerade für moralpolitische Themen. Nach Mooney (2001a) ist durch die Berührung fundamentaler Werte die Aufmerksamkeit und Beteiligung der Bevölkerung an der Diskussion über Regulierungswandel bei moralpolitischen Themen im Allgemeinen hoch. Wenn ein gesellschaftlicher Zustand als politisch zu lösendes Problem diskutiert wird, besteht der nächste Schritt darin, dieses Problem auf die formale politische Tages- ordnung zu setzen. Die Agendasetzung ist erfolgreich verlaufen, wenn die Policy es auf die parlamentarische Tagesordnung schafft oder Gegenstand von Regierungshandeln wird (Blum und Schubert 2011, S. 105-115). Allerdings übersteigt die Anzahl der als politisch zu lösend angesehene Probleme die Kapazitäten des politischen Systems. Daher findet eine Selektion statt. Diese zu erklären ist Ziel der wissenschaftlichen Studien zur Agendaset- zung (Cobb et al. 1976). Einer Reihe von Faktoren wird in der Literatur ein entscheidender Einfluss darauf zugesprochen, ob ein Thema als Problem wahrgenommen wird und es auf die politische Agenda schafft. Im Folgenden werden diejenigen Faktoren besprochen, wel-

47 Man kann Problemdefinition und Agendasetzung auch als zwei verschiedene Phasen betrachten. Hier werden sie jedoch als eine Phase definiert. 78 Theoretischer Rahmen che vermutlich Einfluss auf die Agendasetzung von Biomedizinpolitiken haben und sich dem theoretischen Rahmen zuordnen lassen. Zudem können nur diejenigen potenziellen Faktoren berücksichtigt werden, die innerhalb eines politischen Systems überprüfbar sind. Erwartungen bzgl. des Einflusses des Wahlsystems sind z. B. nicht möglich.

Problemperzeption Stone (1989, S. 282) bezeichnet die Problemdefinition als einen „process of image making, where the images have to do fundamentally with attributing cause, blame, and responsibili- ty.“ Entscheidend für einen Politikwandel ist die Problemperzeption, also die Wahrneh- mung einer Situation als sozioökonomisches Problem durch die AkteurInnen (Blum und Schubert 2011, S. 109). Zwischen dem „objektiven“ Problem und dessen Perzeption wird ein Zusammenhang angenommen. Hier zeigen sich die Bezüge zum Ansatz des durchbro- chenen Gleichgewichts von Baumgartner und Jones (Baumgartner und Jones 1991, 2009; Jones und Baumgartner 2012) deutlich: Die Problemperzeption ist eine Form des Policy- Images und hängt stark von den mit dem Image verbundenen Informationen und Darstel- lungen durch die beteiligten AkteurInnen ab (Baumgartner und Jones 2009, S. 25-27). Ge- rade bei Biomedizinpolitiken ist die Problemperzeption stark durch die subjektive Wahr- nehmung des Problems durch die beteiligten AkteurInnen bedingt. Gesellschaftliche Zu- stände oder Schwierigkeiten werden nicht automatisch als Probleme wahrgenommen. Sie gelangen auf die politische Agenda, wenn politische AkteurInnen sie als kausales Problem wahrnehmen, dem sie einen oder mehrere Verursacher zuordnen können. Wenn sie dann noch mit Unterstützung für ihre Intervention rechnen können, werden sie fordern, dass der Staat sich dieses Problems annehmen und es lösen soll. Der Staat kann also nur aktiv wer- den und ein gesellschaftliches Problem als politisch zu lösendes Problem betrachten, wenn er auch in der Lage ist, es tatsächlich zu lösen. Das ist nicht bei allen gesellschaftlichen Problemen der Fall (Knill und Tosun 2010, S. 56; Stone 1989). „Für die Frage, wie ein Problem konkret definiert wird, kommt es nicht allein auf objektive Faktoren an (…) [v]ielmehr ist von entscheidender Bedeutung, wie diese Faktoren perzipiert werden (…) Je nach zugrunde liegenden Präferenzen, Annahmen und Überzeugungen der involvierten Akteure sind unterschiedliche Problemperzeptionen zu erwarten“ (Knill und Tosun 2010, S. 57). So gibt es eine gewisse Zufälligkeit in Bezug darauf (bzw. ist es politikwissen- schaftlich schwer zu antizipieren), was als Problem Eingang in den politischen Prozess findet und was nicht. Rochefort und Cobb (Ahdar 1996; Rochefort und Cobb 1993) beto- nen die Bedeutung von Sprache für die Problemdefinition. „Rhetoric can help lodge a par- ticular understanding of a problem in the minds of the public and protagonists. Even if one

79 Kapitel 4 conception manages to attain dominance at a given moment, however, this interpretation can later be dislodged, effectively altering the substance of the problem being worked on“ (Rochefort und Cobb 1993, S. 56). Dieses Framing geschieht durch den Diskurs. Rochefort und Cobb sprechen hier ein weiteres zentrales Merkmal der Problemdefinition an: Sie ist wandelbar und kann sich im Zuge des Policy-Zyklus zum Beispiel durch eine veränderte Rhetorik, Deutungshoheit oder externe Ereignisse verändern. Problemdefinition steht nicht nur am Beginn des Policy-Zyklus, sondern zieht sich durch den gesamten politischen Pro- zess. Das bedeutet, dass neue Seiten des Problems beleuchtet werden, neue Aspekte pro- minent diskutiert werden und somit eine bereits im Raum stehende Lösung dementspre- chend modifiziert wird. Hier wird wiederum die Bedeutung des öffentlichen und politi- schen Diskurses deutlich. Heichel et al. (2015b, S. 33) unterscheiden Grundsatzprobleme, Akkulumationsprob- leme und moralische Schocks. Grundsatzprobleme herrschen dort, wo tief verwurzelte und gegensätzliche Wertvorstellungen aufeinandertreffen und einen fundamentalen Konflikt konstituieren, der durch Kompromisse kaum bis gar nicht lösbar ist (Heichel et al. 2015b, S. 33; Mooney 2001a, S. 3-5), wie es bei Sterbehilfe und embryonaler Stammzellforschung der Fall sein kann. Akkumulationsprobleme treten dort auf, wo nicht der Zustand als sol- cher als problematisch aufgefasst wird, sondern dessen Umfang. Dies ist klassischerweise bei Drogenmissbrauch und Prostitution der Fall und weniger bei Sterbehilfe oder embryo- naler Stammzellforschung. Solange sich diese Tätigkeiten im Verborgenen abspielen, sind eine öffentliche oder politische Problemperzeption und damit eine Agendasetzung unwahr- scheinlich. Erst wenn die Tätigkeiten ein öffentlich wahrnehmbares Ausmaß annehmen (und dieses Level ist subjektiv und a priori nicht genau bestimmbar), ist die Politik zum Handeln aufgefordert (Heichel et al. 2015b, S. 33). Moralische Schocks (auch in Anlehnung an die angelsächsische Literatur „morali- sche Paniken“ genannt) wiederum sind „Konstellationen, in denen es schlagartig zu einer tatsächlichen bzw. wahrgenommenen Expansion eines Problems kommt“ (Heichel et al. 2015b, S. 33). Plötzliche Ereignisse, wie beispielsweise Amokläufe, bekommen eine starke öffentliche und politische Aufmerksamkeit, und die politischen EntscheidungsträgerInnen fühlen sich oft zu raschem Handeln gezwungen (Hurka und Nebel 2013). Als Problem kann beispielsweise auf den PolitikerInnen der Druck von anderen AkteurInnen lasten, die aufgrund ökonomischer Interessen eine Regulierungsreform anstrebe; Oder es kann ein Druck zur Reform durch Reformen in anderen Ländern entstehen. Sterbehilfe und embryo- nale Stammzellforschung können in diese Kategorie fallen, wenn von allen AkteurInnen

80 Theoretischer Rahmen nicht antizipierte externe Ereignisse eintreten, die eine politische Entscheidung bzgl. der Regulierung der Politiken erfordern. Die konkreten Ursachen für eine Problemperzeption können vielfältig sein. Im Fol- genden werden daher weitere Faktoren genannt, die über die Problemperzeption Einfluss auf das Regulierungstempo nehmen können. Nun kann man daher die Problemperzeption als eine intervenierende Variable verstehen, welcher ein ursächlicher Faktor vorgelagert sein muss (beispielsweise die nachfolgend erwähnten internationalen Vorgaben). Aller- dings ist die Liste dieser ursächlichen Faktoren nicht erschöpfend dargestellt, weil sie vor den Fallanalysen noch unbekannt sind. Daher wird die Variable Problemperzeption hier eingeführt. In der Analyse wird dann jeweils ergründet, welche Ursachen einer Problem- perzeption zugrunde liegen.

Erwartung 1a: Je höher die Problemperzeption bei den politischen AkteurInnen, desto zügiger findet die Agendasetzung statt.

Erwartung 1b: Moralische Panik führt zügiger zur Agendasetzung als akkumu- lierte Informationen oder Grundsatzprobleme.

Historisch-politische Erblast Aus neoinstitutionalistischer Sichtweise stehen Institutionen und AkteurInnen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Die Institutionen setzen zunächst den Hand- lungsrahmen, innerhalb dessen die AkteurInnen agieren (Hall und Taylor 1996; Mayntz und Scharpf 1995a). Eine Konkretisierung dieser Annahme bildet die Politik-Erblast- Theorie. Ihr zufolge ist Staatstätigkeit entscheidend von den Folgen früherer Politikent- scheidungen geprägt (Ostheim und Schmidt 2007, S. 85). Durch sie wurden Problemlö- sungspfade eingeschlagen, welche die aktuelle Regierung „vererbt“ bekommt. Diese frühe- ren politischen Entscheidungen (Institutionen) können auf historischen Ereignisse und Entwicklungen gründen, die nur mittelbar oder gar nicht Ursache des politischen Systems sind, auf die dieses aber reagierten musste. So hat sich ein Subsystem herausgebildet mit bestimmten AkteurInnengruppen, die dieses Subsystem verwalten und sein Image pflegen. Von diesem Pfad abzuweichen und das Subsystem durch neue Regulierungen zu ändern, kann hohe Kosten mit sich bringen und wird daher von der Regierung eher vermieden (Ostheim und Schmidt 2007, S. 88). Diese Kosten können monetärer Art sein, indem zum Beispiel eine Änderung der bisherigen Wirtschaftspolitik zu einer schwächelnden Wirt- schaft und zu geringeren Staatseinnahmen führen kann. Auch politische Kosten sind denk-

81 Kapitel 4 bar, wenn sich durch eine Abweichung von der bisherigen Policy bestimmte Wählerklien- tel benachteiligt fühlen, die Änderung sich als erfolglos herausstellt oder von AkteurInnen (zum Beispiel der Verwaltung) oder der Bevölkerung abgelehnt wird. Dies kann zu Im- plementationsproblemen führen und unter Umständen die Wiederwahl der Regierung ge- fährden. Daher wägen die politischen EntscheidungsträgerInnen ab, ob sich der potenzielle Nutzen eines Abweichens vom bisherigen Weg mindestens mit den zu erwartenden Kosten aufwiegt bzw. diese überwiegt. Da diese Abwägung mit hohen Unsicherheiten verbunden ist, ist das Einschlagen eines neuen Weges unwahrscheinlich (Ostheim und Schmidt 2007, S. 86). Hinzu kommt, dass viele Lösungspfade bereits so tief ausgetreten sind, dass die politischen AkteurInnen ihnen unbewusst folgen und andere möglichen Policy-Optionen gar nicht wahrnehmen. Dementsprechend ist Pfadabhängigkeit ein sich selbst verstärken- der Prozess: „Eine Abweichung vom einmal eingeschlagenen Pfad verursach[t] mit der Zeit immer höhere Kosten“ (Ostheim und Schmidt 2007, S. 88). In Deutschland wird den Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus eine solche Erb- last für die heutige Biomedizinpolitik nachgesagt (vgl. Kapitel 2). Diese Einwirkung auf die Debatte und Einstellung in der deutschen Biomedizinpolitik kann sowohl für die emb- ryonale Stammzellforschung als auch für die Sterbehilfe angenommen werden, weshalb dieser Faktor für die Reformgeschwindigkeit keinen Unterschied machen sollte. Es wäre allerdings ebenso möglich, dass durch die getrennt unterschiedliche Regulierung der Ster- behilfe und der embryonalen Stammzellforschung sich hinsichtlich des legalen Weges un- terschiedliche Pfade entwickelt haben, welche den aktuellen Status quo in unterschiedli- chem Maße veränderbar sein lassen.

Erwartung 2: Die historische Erblast hemmt die Agendasetzung.

Externe Einflüsse: Internationale Vorgaben und Politikdiffusion Nationalstaatliches Handeln kann durch externe Einflüsse initiiert und in Bezug auf Rich- tung und Tempo beeinflusst werden. Zum einen können durch internationale rechtliche Vorgaben, denen sich der Staat durch Verträge verpflichtet hat, Politikthemen auf die Agenda gelangen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn es um die Ratifizierung von inter- nationalen Konventionen oder um die nationale rechtliche Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union geht (Heichel et al. 2015b, S. 28-31). Diese Harmonisierungsprozesse stoßen nationale Gesetzgebungen an, entweder zwangsläufig (im Fall von EU-Richtlinien) oder optional (wenn es dem nationalen Souverän überlassen bleibt, ob er eine internationa- le Vereinbarung unterzeichnet oder nicht). So werden durch ein sich veränderndes Policy-

82 Theoretischer Rahmen

Venue die traditionellen Strukturen in dem jeweiligen Policy-Subsystem verändert: Bishe- rige kollektive AkteurInnen verlieren ihren exklusiven Anspruch auf das Subsystem, wäh- rend andere Kollektive Zugang erlangen. Zudem kann sich das Policy-Image durch inter- nationale Veränderungen wandeln (Baumgartner und Jones 1991, 2009; Jones und Baum- gartner 2012). Ebenso können unterhalb von direkten rechtlichen Vorgaben Impulse von inter-, sup- ra-, oder transnationalen Organisationen (UNO, OSZE, EU, IWF etc.) ausgehen, die zur Agendasetzung auf nationaler Ebene führen (Heichel et al. 2015b, S. 30-31). Zwar ergeben sich hier keine direkten Verpflichtungen zur Umsetzung. Als Kanäle der nationalen moral- politischen Agendasetzung sind diese Maßnahmen aber nicht zu unterschätzen. Hier kön- nen internationale Organisationen als Transmissionsriemen für die Diffusion von nationa- len Politiken in andere Länder tätig werden. Gleichzeitig können sie Wissen über gesell- schaftliche Probleme und deren politische Lösungsmöglichkeiten generieren, welche nati- onale Regierungen zum Policy-Wandel animieren (Heichel et al. 2015b, S. 28-31). Durch Diffusionsprozesse können nationale Themen auf die politische Agenda ge- setzt werden und in Politikwandel münden. Dabei werden innerhalb einer größeren Gruppe von Staaten Politiken, Programme oder Ideen übertragen (Holzinger et al. 2007b, S. 13- 14). Diffusion bezeichnet die Übernahme von Policy-Innovationen über Ländergrenzen hinweg (Holzinger et al. 2007a, S. 14). Es wird davon ausgegangen, dass ein Staat nicht jede Weiterentwicklung einer Policy selbst initiiert und konzipiert, sondern Ideen und Entwicklungen von anderen Staaten ganz, in Teilen oder in abgewandelter Form über- nimmt (Holzinger et al. 2007a, S. 14). Auch hier beeinflussen die Veränderungen in ande- ren Staaten das Policy-Image und das Policy-Venue im hiesigen Subsystem. Die Literatur unterscheidet theoretisch drei Wege der Diffusion: Wettbewerb, Lernen und Emulation. In einer Wettbewerbssituation sehen sich die politischen AkteurInnen eines Landes zu einer Policy-Änderung veranlasst, da sie glauben, dass die Policy-Änderung in einem anderen Land diesem Land einen Wettbewerbsvorteil gewährt (Gilardi 2010, S. 661). Das kann beispielsweise bei der embryonalen Stammzellforschung der Fall sein. Hier spielen öko- nomische Interessen potenziell eine Rolle. Durch die Liberalisierung in anderen Staaten könnten AkteurInnen in Deutschland befürchten, in der Forschung und damit auch in der wirtschaftlichen Nutzung der Forschungsergebnisse den Anschluss an andere Länder zu verlieren. In einem Lernprozess übernehmen Staaten Politiken von anderen Staaten, da sie darin die Lösung für ihre eigenen Probleme sehen. Gilardi (2010, S. 651) definiert Lernen als einen Prozess, in dem Policymaker ihre Meinung über die Effekte von Politiken änder- ten. Lernen sei ein Diffusionsprozess, der erkläre, weshalb Politikentscheidungen in einem

83 Kapitel 4

Land die Folge von früheren Entscheidungen in anderen Ländern sein kann. Dieser Lern- prozess kann auch negativ sein, im Sinne einer abschreckenden Wirkung von Politikent- scheidungen in einem anderen Land. Ein Lerneffekt setzt insbesondere dann ein, wenn Kommunikationskanäle zwischen den Staaten bestehen, welche von informellen Bezie- hungen bis hin zu formalen institutionellen gemeinsamen Organisationen reichen können. Durch Emulsion wird hingegen eine mögliche Lösung für ein politisches Problem als sozi- al gewünschte, legitime Lösung eingestuft und anderen Lösungen vorgezogen (Gilardi 2010, S. 651). Dies ist ebenfalls eine Form des Wandels eines Policy-Images. In der empi- rischen Überprüfung ist es schwierig, zwischen diesen Unterformen zu unterscheiden (Gilardi 2010, S. 650). Dies wird in der Analyse allerdings auch nicht angestrebt, da die Fallstudien sich auf die Regulierung von Sterbehilfe und embryonaler Stammzellforschung in Deutschland konzentrieren. Daher wird in der Analyse überprüft, ob Diffusion eine Rol- le spielt, ohne näher auf die einzelnen Formen einzugehen.

Erwartung 3: Internationale rechtliche Vorgaben und/oder Policy-Wandel in anderen Staaten beschleunigen die Agendasetzung.

Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polarisierung Das Policy-Image, also die Wahrnehmung und Einschätzung einer Politik, wird wesentlich durch die gesellschaftliche Werteinstellung beeinflusst. Die öffentliche Meinung diesbe- züglich spielt hier eine gewichtige Rolle. Moralpolitiken wie Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung haben zudem einen engen Bezug zu religiösen Positionen, was tief verwurzelten Normvorstellungen entspricht (Mooney 2001a). Damit ist eine Polarisierung in der Gesellschaft über moralpolitische Themen möglich (Heichel et al. 2015b, S. 34-35). Eine Polarisierung wird besonders deutlich und kommt als Einflussfaktor für die Agen- dasetzung zum Tragen, wenn sich die Interessen bündeln und in Interessengemeinschaften organisieren, oder durch eine bereits bestehende Organisation – zum Beispiel durch die Kirchen – im Diskurs sichtbar vertreten werden können (Heichel et al. 2015b, S. 34-35, 40- 41). Bei einer Polarisierung versuchen verschiedene Gruppen, die Deutungshoheit über das Policy-Image einer Politik zu erlangen (Baumgartner und Jones 2009, S. 25-30). Diese Gruppen haben dabei diametral unterschiedliche Vorstellungen von dieser Politik. Weiter gilt es zu beachten, dass Wertewandel auch Einfluss auf die Einstellung zu und Polarisierung über Themen haben kann. In Deutschland, wie insgesamt für die westli- chen Industriestaaten, wird seit dem Zweiten Weltkrieg mit zunehmender materieller Si- cherheit und wachsendem Wohlstand ein Wertewandel angenommen. So weichen materi-

84 Theoretischer Rahmen elle Werte mit zunehmender Säkularisierung und Individualisierung postmaterialistischen Werten (Abramson und Inglehart 1986; Flanagan 1982; Inglehart 1977, 2008; Inglehart und Flanagan 1987). Waren früher traditionelle Werte wie Obrigkeitsglaube, starre Rollen- verteilungen und Konventionen sowie der christliche Glaube wichtig, machen diese nun liberaleren Wertvorstellungen von individueller Selbstbestimmung, Loslösung von christli- chen Vorgaben und flexibleren Rollenvorstellungen Platz (Heichel et al. 2015b, S. 34-35; Inglehart 1998). Dieser Wandel erfasst jedoch nicht alle Bevölkerungsgruppen und – schichten gleichermaßen. Folglich entsteht eine Polarisierung in der Gesellschaft über Themen, die unmittelbar diejenigen grundlegenden Wertevorstellungen berühren, über die sich Materialisten und Postmaterialisten nicht einig sind. Finden diese Themen einen Kris- tallisationspunkt in Form von organisierten Interessen, dann finden sie Gehör im öffentli- chen Diskurs. Der Erfolg der Bestrebungen, eine Änderung des gesellschaftlichen Status quo zu erreichen (ob in liberalerer oder konservativer Hinsicht) hängt davon ab, wie gut sich die Interessen organisieren können, von ihrer Fähigkeit, ihr Anliegen in der Gesell- schaft populär zu machen und UnterstützerInnen zu finden sowie von ihrer Vernetzung in die Politik, um ihrem Anliegen dort ebenfalls Gehör zu verschaffen (Heichel et al. 2015b, S. 35-41). Meinungsänderungen und Polarisierungen in der Gesellschaft beeinflussen das Policy-Image einer Politik. Die Politik ist sensibel gegenüber der Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft, da in einer Demokratie deren RepräsentantInnen in regelmäßigen Wahlen von den BürgerInnen in ihrem Amt bestätigt werden müssen (Bernauer et al. 2013, S. 224- 232). Es ist daher anzunehmen, dass politische AkteurInnen diese Wertehaltungen in ihren eigenen Entscheidungen berücksichtigen.

Erwartung 4a: Eine abweichende Mehrheitsmeinung der Gesellschaft vom regu- lativen Status quo beschleunigt die Agendasetzung.

Erwartung 4b: Eine starke gesellschaftliche Polarisierung beschleunigt die Agen- dasetzung.

Parteiinteressen und -konfliktlinien In der moralpolitischen Forschung wird das Parteiensystem als ein zentraler Erklärungsfak- tor für die Politisierung von umstrittenen Politiken angesehen (Engeli et al. 2012; Green- Pedersen 2007). Wenn sich eine gesellschaftlich vorhandene religiöse Konfliktlinie im Parteiensystem manifestiert, es also mindestens eine säkulare und eine religiöse Partei gibt, ist ein Konflikt über den Umgang mit moralisch umstrittenen Themen wahrscheinlicher

85 Kapitel 4 und kommt früher zum Tragen (vgl. den Forschungsstand in Kapitel 3). Es wird daher da- von ausgegangen, dass dort die Politisierung von moralischen Themen üblicher ist als in Parteiensystemen ohne diese Konfliktlinie (Engeli et al. 2012). Diesbezüglich kann keine Erwartung für die vorliegende Studie aufgestellt werden, da sich die religiös-säkulare Kon- fliktlinie mit der CDU/CSU als religiöser Partei und beispielsweise der SPD oder der FDP als säkulare Parteien während des gesamten Untersuchungszeitraums im Parteiensystem manifestiert. Eine Erwartung kann hingegen bezüglich der Konfliktlinie in der Regierung formu- liert werden. Befinden sich innerhalb der Regierungskoalition sowohl religiöse als auch säkulare Parteien, dann werden sie versuchen, moralpolitische Agendasetzung zu vermei- den. Darüber ist eine Verständigung angesichts grundsätzlich unterschiedlicher Wertevor- stellungen kaum möglich. Damit ergibt sich eine bremsende Wirkung. Sollte sich die Kon- fliktlinie durch die Regierung ziehen, also im Fall einer Regierungskoalition eine Partei für und eine Partei gegen eine Änderung des Status quo sein, dann wäre es möglich, dass die- ses Thema – um den Koalitionsfrieden zu wahren – gar nicht auf die politische Agenda gesetzt wird (Knill et al. 2014b). Dieses Policy-Venue bleibt daher inaktiv. So ist es frag- lich, ob unter einer CDU/CSU-FDP- oder CDU-SPD-Regierung oder einer mit in morali- schen Themen sehr unterschiedlichen Positionen eine Agendasetzung stattfindet. Hingegen wäre unter der rot-grünen Regierung eine Agendasetzung denkbar. Die Parteien sind im Zuge des Wertewandels der letzten Jahrzehnte mit unterschied- lichen Wertevorstellungen konfrontiert (Inglehart 1977, 2008). Gerade bei moralpoliti- schen Themen, die individuelle Gewissensentscheidungen erfordern, ist eine geschlossene Abstimmung sehr schwer umzusetzen, weil man Abgeordnete dazu zwingen müsste, gegen ihr Gewissen abzustimmen und dies zu Abwehrreaktionen bis hin zur offenen Abweichung von den Parteilinien führen könnte. In Antizipation dieser Problematik werden Parteistra- tegen davon absehen, moralisch heikle Themen auf die politische Agenda zu setzen, von denen sie wissen, dass ihre Partei bzw. Fraktion keine weitestgehend einhellige Meinung dazu hat (Heichel et al. 2015b, S. 44-45). Gibt es unterschiedliche Meinungen innerhalb der Parteien, dann wird eine Agendasetzung eher vermieden, um die interne Gespaltenheit nicht öffentlich zu machen. Dies würde zum einen dem Image der Partei schaden. Zum anderen würde sie in Abstimmungen kaum bestehen können (Heichel et al. 2015b, S. 36- 37). Diese interne Gespaltenheit ist möglicherweise bei latenten Moralpolitiken weniger stark ausgeprägt, weil es hier nach Knill (2013b) verschiedene, auch nicht-wertbasierte Interessen geben kann, die ausgehandelt werden können. Bei manifesten Politiken hinge- gen sind Werte zentral (Knill 2013b). Hier gibt es unter Umständen weniger Möglichkeiten 86 Theoretischer Rahmen der Aushandlung, die Parteien werden daher eine Agendasetzung vermeiden (zu latenten und manifesten Moralpolitiken siehe Abschnitt 2.1.3).

Erwartung 5a: Verläuft die religiös-säkulare Konfliktlinie quer durch die Regie- rungskoalition, dann verlangsamt dies die Agendasetzung.

Erwartung 5b: Bei latenten Politiken kommt es zügiger zu einer Agendasetzung als bei manifesten Politiken.

Gerichte Gerichte können eine bedeutende Rolle in der Regulierung von Moralpolitiken spielen, insbesondere, wenn es – wie in Deutschland der Fall – eine festgeschriebene Verfassung und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gibt, die über die Einhaltung der Verfas- sungsartikel wacht. Einige Moralpolitiken berühren direkt Grundrechte. Dies ist insbeson- dere im Bereich „Leben und Sterben“ der Fall. In Grundgesetz wird bestimmt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und der Staat Verantwortung für deren Unantastbar- keit trägt (Art. 1 I GG) und dass jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat (Art. 2 II GG). Diese Artikel werden in Konflikten um die Sterbehilfe und insbesondere um die embryonale Stammzellforschung herangezogen, ebenso wie die Freiheit der Wis- senschaft (Art. 5 III GG). Das Bundesverfassungsgericht hat in Streitfragen um die Regu- lierung moralischer Themen eine gewichtige Rolle inne. Es stellt ein potenzielles Policy- Venue für Veränderungen in der Regulierung dar. Gerade in moralischen Streitfragen, bei denen es den Parteien um die Verteidigung bzw. Durchsetzung grundlegender Werte geht, ist eine Anrufung des Gerichts durch die im legislativen Prozess unterlegene Partei üblich.48 Das Gericht kann bestehende Regulierun- gen bestätigen, was üblicherweise keine Folgen für die Legislative nachzieht. Verwirft das Gericht allerdings eine bestehende Regulierung, dann ist der Gesetzgeber gefordert, diese zu ändern. Ein Gerichtsurteil kann ein Thema also auf die politische Agenda setzen, wie es bei den erwähnten Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch geschehen war. Der Gesetzge- ber kann sich am Gerichtsurteil orientieren und entsprechende Änderungen vornehmen oder er kann die rechtlichen Grundlagen dahin gehend ändern, dass das Gerichtsurteil ne- giert wird. Prominente Beispiele sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes

48 Gerichte können auch von anderen Gruppen oder Einzelpersonen angerufen werden. So z. B. von Minderheiten, die sich durch die herrschende Gesetzeslage diskriminiert fühlen. Ein jüngeres Beispiel ist der Streit um die soge- nannte „Homo-Ehe“ und die Gleichstellung von hetero- und homosexuellen Partnerschaften (Preidel 2015, S. 154- 155). 87 Kapitel 4 zur Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs von 1975 und 1993. In beiden Urteilen, welche die zuvor von der Regierungsmehrheit im Parlament verabschiedeten Gesetzesre- formen verwarfen, wird der Einfluss der Judikative auf die Regulierung von Moralpoliti- ken deutlich.49 Gerichte werden ebenfalls tätig, wenn Regulierungslücken vorhanden sind und sich dadurch an konkreten Einzelfällen ein Streit über Recht oder Unrecht ergibt. Sie können allerdings nicht eigeninitiativ tätig werden, sondern müssen angerufen werden. Die Gerich- te entscheiden den konkreten Fall und geben für die Zukunft vor, was erlaubt ist und was nicht. Auch durch diese Urteile könnte sich der Gesetzgeber gefordert sehen, die nun of- fensichtlichen Gesetzeslücken zu schließen, vor allem dann, wenn das Urteil nicht der Mehrheitsmeinung in der Regierung entspricht. Neben dem Bundesverfassungsgericht haben andere (oberste) Gerichte Entschei- dungsgewalt und potenziellen Einfluss auf die Moralpolitiken, denkbar als wichtiger Ak- teur ist zum Beispiel der Bundesgerichtshof (BGH) oder die Landesobergerichte. Gerade hier können spezifischere Teilfragen von Moralpolitiken geklärt werden, die zwar für sich keine Agendasetzungskraft besitzen, aber in ihrer Summe einen Liberalisierungs- oder Restriktivierungstrend ergeben können, dem der Gesetzgeber langfristig folgt oder sich gegen den er sich bewusst stemmt. Bezieht man den Einflussfaktor „Gerichte“ in die Analyse ein, muss beachtet werden, dass Gerichte Teil des politischen Systems sind, unter anderem weil die RichterInnen von PolitikerInnen gewählt werden. Daraus ergibt sich die Gefahr einer Endogenität, also dass ein Gerichtsurteil, welches Auswirkungen auf die Politik hat, letztendlich von der Politik selbst verursacht wurde. Diese Gefahr besteht, obwohl die Gerichte im Sinne der Gewal- tenteilung unabhängige Institutionen sind. Die Problematik der Endogenität sollte nicht aus den Augen verloren werden.

Erwartung 6: Gerichtsentscheide forcieren die Agendasetzung.

4.3.2 Entscheidungsfindung

Wurde ein Policy-Problem auf die politische Agenda gesetzt, heißt das noch nicht, dass darauf automatisch ein Politikwandel folgt. Vielmehr können Initiativen verzögert werden oder im Sande verlaufen (Blum und Schubert 2011, S. 116-125). Zu den Erklärungsgrößen der Agendasetzung, die bei der Entscheidungsfindung weiterhin eine Rolle spielen können,

49 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 25.02.1975 (39, 1) und Entscheidung vom 28.05.1993 (88, 203). 88 Theoretischer Rahmen kommen nun weitere potenzielle Faktoren hinzu. Es gibt eine Reihe von Erklärungen da- für, dass Politiken von der Agenda verschwinden oder relativ lange unbehandelt bleiben. Diese sollen im Folgenden vorgestellt und aus ihnen Erwartungen bzgl. des Reformtempos bei Biomedizinpolitiken abgeleitet werden. Auch diese Erklärungen, welche die Konstitu- ierung, Einstellung und Position von Vetospielern im Fokus haben, lassen sich von der theoretischen Basis des akteurzentrierten und diskursiven Institutionalismus und des durchbrochenen Gleichgewichtes ableiten. In jedem politischen System gibt es eine Reihe von formalen und informellen Institu- tionen, deren Zustimmung zu einem Policy-Wandel unabdingbar ist. Tsebelis hat sich mit diesen sogenannten VetospielerInnen (Tsebelis 2002, S. 2-3) auseinandergesetzt und ein umfassendes Konzept in seinem grundlegenden Buch „Veto Players“ (Tsebelis 2002) aus- gearbeitet. Wenn VetospielerInnen eine Änderung ablehnen, also ihr Veto einlegen, dann ist der Wandel nicht möglich (Tsebelis 2002, S. 2) oder verzögert sich. Tsebelis argumen- tiert, dass es ein win-set an Policy-Lösungen gibt. Das sind die Lösungen, die alle Veto- spielerInnen dem Status quo vorziehen und daher einem Policy-Wandel zustimmen würden (Tsebelis 2002, S. 19-24). Wenn es nur ein sehr kleines win-set gibt oder überhaupt keines, weil sich die Präferenzen der VetospielerInnen nicht überlagern, dann bleibt es beim Status quo, und es findet kein Policy-Wandel statt. Die Policy-Stabilität ist dementsprechend sehr hoch (Tsebelis 2002, S. 19-24). Heichel et al. (2015b) unterscheiden institutionelle, partei- politische und gesellschaftliche VetospielerInnen. Gerade bei Biomedizinpolitiken, bei denen sich grundlegende Wertevorstellungen diametral gegenüberstehen können, ist eine hohe Policy-Stabilität möglich, wenn es Veto- spielerInnen auf beiden Seiten gibt, die einen Policy-Wandel verhindern können. Aushand- lungsprozesse zur Erweiterung des win-sets sind bei Moralpolitiken – insbesondere bei manifesten Moralpolitiken – kaum möglich (Knill 2013b; Mooney 2001a; Tsebelis 2002). Wichtig ist daher, dass entweder während der Agendasetzung Policy-Vorschläge gemacht werden, welche für die VetospielerInnen akzeptabel sind, oder dass sich im Verlauf der Agendasetzung und Politikentscheidung das Policy-Image ändert und damit den Präferen- zen der VetospielerInnen entspricht oder dass sich das Policy-Venue wandelt und andere Entscheidungs- oder Mehrheitsverhältnisse in der Entscheidungsarena schafft (Baum- gartner und Jones 1991; Jones und Baumgartner 2012). Dies könnte durch neue Erkennt- nisse oder durch externen Druck wie internationale Vorgaben oder eine starke öffentliche Meinung geschehen, insbesondere unter den Parteianhängern. Ein zentraler Faktor ist der Diskurs und das darin stattfindende Framing. Im Diskurs werden Informationen interpre-

89 Kapitel 4 tiert und kanalisiert. Hier versuchen AkteurInnen, andere Beteiligte von ihren Ideen zu überzeugen (Schmidt 2010a, 2008; Schmidt und Radaelli 2004; Schmidt 2010b).

Institutionelle VetospielerInnen Welche institutionellen AkteurInnen VetospielerInnen sind, wird durch die Verfassung und Gesetze festgelegt. Der Bundesrat hat per Grundgesetz in einigen Bereichen de facto ein Vetorecht (Art. 70–74 GG). Das betrifft primär Bereiche der Steuer und des Strafrechts, in denen die Länder mit ihren Verwaltungsstrukturen die Umsetzung der Gesetze vornehmen. Da bei Moralpolitiken häufig eine Regulierung des menschlichen Verhaltens über Strafan- drohung oder finanzielle Anreize bzw. Abschreckung versucht wird, sind die Länder ent- sprechend mit der Umsetzung betraut und hat der Bundesrat folglich die Möglichkeit, seine Zustimmung zu verweigern. In anderen Bereichen hat der Bundesrat nur ein Mitsprache- recht. Ein Veto des Bundesrates könnte der Bundestag überstimmen (vgl. Art. 77 GG). Solche Konflikte zwischen Bundesrat und Bundestag kommen vornehmlich zum Tragen, wenn die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern unterschiedlich sind. So war es in den letzten Jahrzehnten häufiger der Fall, dass es im Bundestag eine konser- vativ-liberale Mehrheit gab und im Bundesrat eine sozialdemokratisch-grüne Mehrheit sowie umgekehrt. In solchen Fällen werden die parteipolitischen Gegensätze und Streitig- keiten in den Bundesrat getragen und können somit zu Reformblockaden führen (Heichel et al. 2015b, S. 38-39). Ein weiterer potenzieller Vetospieler ist der Bundespräsident. Er unterzeichnet das ausgefertigte Gesetz, dass dadurch erst gültig ist (Art. 82 I GG). Auch wenn diese Unter- zeichnung überwiegend symbolischen Charakter hat und dem Bundespräsidenten im ta- gespolitischen Geschäft keine Mitsprache einräumt, so bleibt seine Unterschrift ein not- wendiges Erfordernis. Diese kann er verweigern, wenn er Zweifel an der formellen oder materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes hat.50 Gerade bei Moralpolitiken zur Ent- scheidung über Leben und Tod, die grundlegende Verfassungsprinzipien berühren, ist eine entsprechende ablehnende Haltung des Bundespräsidenten nicht ausgeschlossen. Gerichte können als nachgelagerte VetospielerInnen begriffen werden: Sie können eine Legislativentscheidung zwar nicht unmittelbar blockieren, aber nachträglich für un- gültig erklären. Dazu muss beispielsweise das Bundesverfassungsgericht angerufen wer- den. Es kann nicht von sich aus tätig werden (Heichel et al. 2015b, S. 31). Das geschieht zum Beispiel, wenn das neue Gesetz nicht mit der Verfassung vereinbar scheint. Der Bun-

50 http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Amtliche-Funktionen/amtliche- funktionen.html (abgerufen am 17.04.2016). 90 Theoretischer Rahmen despräsident kann in diesem Fall ein von ihm nicht unterzeichnetes Gesetz dem Bundes- verfassungsgericht zur Prüfung vorlegen, bzw. die anderen politischen AkteurInnen kön- nen gegen die Nichtunterzeichnung Verfassungsbeschwerde einlegen.51 Auch eine aktivere Rolle können die Gerichte einnehmen, nämlich dann, wenn sie den Gesetzgeber auffor- dern, einen verfassungsrechtlich unzureichenden gesetzlichen Zustand zu korrigieren (Hei- chel et al. 2015b, S. 31). Sie prägen nicht nur das Policy-Image einer Politik mit, sondern sie verändern mit ihren Entscheidungen ebenso das Policy-Venue. Institutionelle VetospielerInnen sind unabhängig von der zu behandelnden Politik vorhanden, denn sie sind per se immanent im politischen System. Allerdings werden sie nicht bei allen Politiken gleichermaßen aktiv. In Bezug auf die Biomedizinpolitik kann vermutet werden, dass sie bei manifesten Moralpolitiken eher aktiv werden als bei latenten Moralpolitiken. Dies könnte daran liegen, dass bei Ersteren die Wertevorstellung und Posi- tionen der AkteurInnen kaum verhandelbar sind, während bei Letzteren auch andere As- pekte wie ökonomische Interessen eine Rolle spielen können (Knill 2013b). Folglich lassen sich eher Aushandlungsstrategien anwenden, welche zum Beispiel den Bundespräsidenten und den Bundesrat mit ins Boot holen und so eine Anrufung des Bundesverfassungsge- richts verhindern.

Erwartung 7: Institutionelle VetospielerInnen bremsen die Politikentscheidung bei manifesten Biomedizinpolitiken stärker als bei latenten Politi- ken.

Parteipolitische VetospielerInnen Für eine Gesetzesänderung ist die Zustimmung des Bundestages unabdingbar. Je nach Mehrheitskonstellationen innerhalb der Legislative lässt sich auch feststellen, welche Par- teien einem Gesetzesvorschlag zustimmen müssen, um eine Mehrheit zu erreichen. Eine Mehrheit erreichen zum einen die Regierungsparteien. Damit stellt die Koalition eine po- tenzielle Vetospielerin dar.52 Um den Koalitionsfrieden zu wahren, werden die Regie- rungsparteien es vermeiden, Politiken, über die zwischen ihren Parteien keine Einigung herrscht, zu einer Abstimmung zu bringen (Heichel et al. 2015b). Das würde zum einen zu einer Zerreißprobe für die Koalition führen. Zum anderen würde die Regierung von außen als uneinig und zerstritten und als schwach wahrgenommen werden.

51 http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Amtliche-Funktionen/amtliche- funktionen.html (abgerufen am 17.04.2016). 52 Wenn die Gesetzesänderung einen Verfassungsartikel betrifft, dann ist nicht nur eine einfache Mehrheit, sondern eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. In dem Fall kann es sein, dass die Stimmen der Regierungsparteien nicht ausreichen und mindestens Teile der Opposition zustimmen müssen. 91 Kapitel 4

Die im Abschnitt zur Agendasetzung bereits diskutierten Konfliktlinien kommen auch hier zum Tragen: So ist anzunehmen, dass bei Biomedizinpolitiken konservative, christlich-orientierte Parteien, wie die CDU und CSU, gegen eine Liberalisierung und für Restriktivierungen sind. Daher werden sie Ersteres versuchen zu bremsen bzw. zu verhin- dern und Letzteres zu beschleunigen bzw. durchzusetzen. Bei den säkularen und liberalen Parteien (z. B. SPD und FDP) ist eine eher liberalisierungsfreundliche Haltung zu erwar- ten, und dementsprechend diametral entgegengesetzt sind deren Anstrengungen bei Bio- medizinpolitiken.

Erwartung 8a: Religiös-konservative Parteien bremsen liberalisierende Poli- tikentscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politik- entscheidungen.

Erwartung 8b: Säkulare und liberale Parteien beschleunigen liberalisierende Politikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politik- entscheidungen.

Die Parteien und Regierungskoalitionen können, wie schon besprochen, intern gespalten sein. Eine interne Spaltung verhindert dann eine starke Vetoposition. In der jüngeren Mo- ralpolitikliteratur werden drei Strategien identifiziert, um bei moralisch umstrittenen Poli- tikfeldern durch Entpolitisierung dennoch zu einer Politikentscheidung zu gelangen (Hei- chel und Knill 2013, S. 41-45): Venue-Shifting, Reframing und Gewissensentscheidung. Die politischen AkteurInnen können eine Entpolitisierung bewirken, indem sie ver- suchen, das heikle Thema von der Tagesordnung zu nehmen und anderen Entscheidungsin- stitutionen innerhalb oder außerhalb des politischen Systems zu übergeben. Dieses Venue- Shifting führt dazu, dass das Thema in anderen Arenen behandelt wird und eventuell sogar dort die Entscheidung getroffen wird. Das „heiße Thema“ verschwindet so von der politi- schen Tagesordnung und wird aus dem unmittelbaren öffentlichen Fokus in Gremien mit weniger Aufmerksamkeit verschoben. Die Verantwortung für eine Entscheidung kann da- mit auch ausgelagert werden (Heichel et al. 2015b, S. 42-45). Zudem kann dann eine Ent- scheidung getroffen werden, die nicht im konfrontativen Regierungs-Oppositions-Stil ge- bildet werden muss, wie es im Bundestag üblicherweise der Fall ist. Dadurch kann die Diskussion versachlicht und unabhängig von parteipolitischem Taktieren geführt werden (Heichel et al. 2015b, S. 42-45).

92 Theoretischer Rahmen

Drei alternative Entscheidungsarenen sind dabei denkbar: ExpertInnengremien, Selbstverwaltungsorgane und Gerichte. Diese Gruppen haben neben der geringeren öffent- lichen Aufmerksamkeit zudem den Vorteil, dass sie ExpertInnen im zu behandelnden Thema sind oder ExpertInnen hinzuziehen. ExpertInnengremien können sich innerhalb des Bundestages mit Mitgliedern aus den Fraktionen und externen BeraterInnen konstituieren; die Regierung kann aber ebenso externe Beratungsgremien einberufen. In beiden Fällen werden inhaltliche Vorbereitungen getroffen und Berichte mit Empfehlungen erstellt. Die endgültige Entscheidung verbleibt in den klassischen Arenen Bundestag und Bundesrat. Allerdings ist es diesen möglich, bei einer Entscheidung auf die Empfehlungen der Exper- tInnengremien und ihre Argumentation, die auch sachlicher Natur sein kann, zu verweisen (Heichel et al. 2015b, S. 43-44). Durch Nicht-Entscheidung der Legislative kann indirekt die Entscheidung der Judikative überlassen werden. Dies zeigte sich in der Vergangenheit beispielhaft beim Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften (Heichel et al. 2015b, S. 43-44). Die Politikentscheidung kann ebenso an Selbstverwaltungsorgane ausgelagert wer- den. Im Bereich Leben und Sterben kann dies die Bundesärztekammer sein. Sie legt in ihren Statuten zum Beispiel fest, welche Behandlungen der Ärzteschaft verboten sind. So kann sich die Politik heikler Themen entledigen (Heichel et al. 2015b, S. 42-45). Insgesamt führt diese Verlagerung von Entscheidungen in andere Arenen dazu, dass die Entscheidung eben nicht durch die Legislative getroffen wird. Diese Entscheidung in anderen Arenen nimmt zunächst unmittelbaren Entscheidungsdruck von der Legislative. Entsprechend verlangsamt sich das Reformtempo.53

Erwartung 8c: Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Venue-Shifting. Dies verlangsamt die Poli- tikentscheidung.

Eine weitere Option ist das Reframing. Dies ist der Versuch der politischen AkteurInnen, dem wertgeladenen Thema weitere nicht-moralische Aspekte und Bedeutungen zuzuord- nen, die verhandelbar und konsensfähig sind (Heichel et al. 2015b, S. 42). Dies kann auch im Sinne von Baumgartner und Jones (Baumgartner und Jones 1991, 2009; Jones und Baumgartner 2012) als Versuch der politischen AkteurInnen bezeichnet werden, das Image einer Policy zu ändern. Für die Parteien, insbesondere die Regierungsparteien, ist dies dann eine Option, wenn sie sich des Ausgangs der Verhandlungen und der Abstimmung nicht

53 Es ist natürlich auch denkbar, dass durch das Auslagern überhaupt erst eine Entscheidung möglich wird und daher von einer Beschleunigung des Reformtempos ausgegangen werden kann. Ob dies der Fall ist, wird Gegen- stand der Fallanalyse sein. 93 Kapitel 4 sicher sein können. Wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt wurde, unterscheidet sich eine Mo- ralpolitik von einer Nicht-Moralpolitik unter anderem dadurch, dass Erstere einen Konflikt um unvereinbare Grundsatzpositionen beinhaltet, wohingegen es bei Letzterer mehr um instrumentelle Fragen mit niedrigem Wertekonfliktpotenzial geht. Eine Strategie der politi- schen AkteurInnen könnte nun sein, durch ein Reframing den Fokus vom Wertekonflikt weg und hin zu den technischen oder monetären Aspekten zu lenken und diese zu wesent- lichen Punkten der Politikentscheidung zu machen. So kann der unmittelbare und hohe moralpolitische Handlungsdruck reduziert und die Diskussion auf sachlichere Aspekte der Politik gelenkt werden. Dieses Reframing hat auch zum Ziel, das Moralthema von der öf- fentlichen Agenda zu nehmen. Durch eine Versachlichung nehmen der wahrgenommene Wertekonflikt und damit das Interesse einer breiten Öffentlichkeit ab. So sind Aushand- lungen zwischen den politischen OpponentInnen eher möglich, weil sie nicht mehr unter unmittelbarer Beobachtung ihrer Wählerschaft stehen (Heichel et al. 2015b, S. 42; Mooney 2001a). Reframing geschieht im Wesentlichen durch das strategische Handeln der Akteu- rInnen und ihren Austausch untereinander. Hier spielt der Diskurs eine zentrale Rolle. Durch ihn werden Argumente ausgetauscht, neue Frames formuliert und verbreitet (Schmidt 2008, 2010b, 2010a; Schmidt und Radaelli 2004). Diese Frames konstituieren das neue Policy-Image. Dies beschleunigt die Reformgeschwindigkeit. Eine weitere Möglichkeit, zu einer Entscheidung zu kommen, ist die Deklaration des Themas als Gewissensentscheidung (Heichel et al. 2015b, S. 42-43). Normalerweise sind ParlamentarierInnen im Bundestag dazu angehalten, sich der Parteilinie unterzuordnen und sich in Fraktionsdisziplin zu üben. Gesetzesinitiativen werden innerhalb der Fraktionen erarbeitet, und die ParlamentarierInnen stimmen bei den Abstimmungen entsprechend den Vorgaben der Fraktionsspitze ab. Wenn aber, wie im Fall von Moralpolitiken, die Kon- fliktlinien nicht zwischen, sondern innerhalb der Parteien verlaufen, besteht die Gefahr, dass die einzelnen ParlamentarierInnen sich nicht an die Fraktionsdisziplin halten, weil sie sich eher ihren eigenen Werten verpflichtet fühlen. Um parteiinterne Turbulenzen zu ver- meiden, kann die Fraktionsspitze die umstrittene Politik als Gewissensentscheidung dekla- rieren. Dieses informelle Verfahren führt dazu, dass den Abgeordneten keine Abstim- mungsvorgabe gemacht wird und sie nach ihrem Gewissen abstimmen können (Heichel et al. 2015b, S. 42-43). Es ist eine fraktionsübergreifende Zusammenarbeit möglich, was sich zum Beispiel in gemeinsamen Gesetzentwürfen äußern kann, die zur Abstimmung gestellt werden. Begleitet wird dieser Prozess meist von einer wiederholt von allen Seiten betonten Bedeutsamkeit dieser Entscheidung, welche die Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Regierung auch bei schwierigen Themen unter Beweis stelle. Oft wird dann von einer 94 Theoretischer Rahmen

„Sternstunde des Parlaments“ gesprochen.54 Auch hier findet also über den Diskurs eine Änderung des Images statt, allerdings nicht des Policy-Images, sondern des Entschei- dungsprozess-Images. Zudem wird ein neues Policy-Venue eröffnet, indem eine überpar- teiliche Entscheidung ermöglicht wird. Generell sind Moralpolitiken dazu geeignet, dass bei innerfraktioneller Uneinigkeit eine Gewissensentscheidung deklariert wird. Gerade bei Themen wie Leben und Tod, denen eine besonders tiefe Werteverwurzelung zugesprochen wird, dürfte das der Fall sein. Damit wird eine Reformblockade umgangen, was beschleu- nigende Wirkung auf den Politikprozess hat.

Erwartung 8d: Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Reframing oder Gewissensentscheidung. Diese be- schleunigen die Politikentscheidung.

Gesellschaftliche VetospielerInnen Im Gegensatz zu den institutionellen und parteipolitischen VetospielerInnen haben die ge- sellschaftlichen VetospielerInnen keine formale Vetomacht. Sie sind außerparlamentari- sche AkteurInnen, welche auf indirektem und informellem Weg versuchen, ihre Interessen durchzusetzen (Heichel et al. 2015b, S. 40). Voraussetzung für einen Einfluss auf die poli- tischen Entscheidungen ist zunächst überhaupt ein Zugang zu den relevanten politischen AkteurInnen. Weiter ist eine interne kohärente Position wichtig, um im Auftreten überzeu- gend zu wirken. Interessengruppen versuchen, auf das Policy-Image in ihrem Sinne einzu- wirken und es zu verändern. Schließlich muss eine Interessengruppe über ein großes Mobi- lisierungspotenzial verfügen, um die Politik überzeugen zu können (Fink 2009). Bei Mo- ralpolitiken kommt hauptsächlich der katholischen und evangelischen Kirche die Position als gesellschaftliche Vetospielerinnen zu. Im säkularen Rechtsstaat Deutschland – der sich bei religiöser Neutralität dazu verpflichtet, ein öffentliches religiöses Leben zu ermögli- chen – sind eingetragene Religionsgemeinschaften als Repräsentantinnen der Gesellschaft anerkannt (Baranzke 2007, S. 179). Sie haben, trotz der Mitgliederverluste der letzten Jah- re, immer noch je ein Drittel der BürgerInnen als Mitglieder (Destatis 2013). Dementspre- chend verfügen sie sowohl über die personellen als auch die finanziellen Mittel, um Ein- fluss auf die Politik zu nehmen, und sie haben ein großes Mobilisierungspotenzial. Im Be- reich der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung ist anzunehmen, dass sie

54 Eins der jüngsten Beispiele bezieht sich auf das im November 2015 beschlossene sogenannte „Hospiz-Gesetz“. Die Debatte im Bundestag hatte der Erzbischof von als „Sternstunde des Parlaments“ bezeichnet (http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2015/11/erzbischof-koch-lobt-hospiz-palliativ-gesetz-bundestag.html, abgerufen am 15.04.2016). 95 Kapitel 4 eine liberalisierungskritische Haltung einnehmen und restriktivere Regulierungen befür- worten, weil sie sich für den unbedingten Schutz des Lebens aussprechen. Theoretisch denkbar als weitere potenzielle gesellschaftliche Vetospielerin könnte bei der Sterbehilfe die Hospizbewegung sein. Allerdings ist sie in Deutschland zwar am Wachsen, aber immer noch relativ klein (Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e.V. 2014). Eher kommt die Ärzteschaft infrage, die insbesondere die aktive Sterbehilfe und den assistierten Suizid nicht als Teil der ärztlichen Behandlung ansieht (Bundesärztekam- mer 1998). Für die Liberalisierung der Sterbehilfe könnten potenziell Betroffene eintreten. Doch es liegt in der Natur der Sache, dass es sich hierbei um Alte, Schwache und Kranke handelt, welche kaum mehr in der Lage sind, sich zu organisieren. Es gibt auch kleine Gruppen, die organisationsfähig sind. Insgesamt sind sie aber eine zu kleine Minderheit, um sich argumentativ Gehör verschaffen zu können. Bei der embryonalen Stammzellfor- schung kommt als starke Befürworterin einer Liberalisierung die Ärzteschaft infrage, da die Aussicht auf Therapieentwicklung ihren PatientInnen zugutekommen könnte. Vor al- lem die NaturwissenschaftlerInnen dürften sich stark für die Liberalisierung einsetzen, bzw. eine Restriktivierung verhindern wollen, da sie sich erweiterte und neue Forschungs- felder erhoffen. Die Pharmaindustrie dürfte sich ebenfalls für eine Liberalisierung einset- zen, da sich damit ein neues Absatzfeld von Therapiemaßnahmen eröffnen würde.

Erwartung 9a: Die Kirchen bremsen liberalisierende Politikentscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikentscheidungen.

Erwartung 9b: NaturwissenschaftlerInnen, WirtschaftsvertreterInnen und Ärz- teschaft beschleunigen liberalisierende Politikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politikentscheidungen.

AkteurInnenkoalitionen und Diskurse Die Interessengruppen versuchen, über den Zugang zu den politischen Entscheidungsträge- rInnen und durch den öffentlichen Diskurs Einfluss auf die Politik zu nehmen. Sie wollen die Biomedizinpolitik zugunsten ihrer Interessen framen und so das Policy-Image bestim- men. Wie bereits in den Abschnitten zum diskursiven Institutionalismus (4.1.2) und dem durchbrochenen Gleichgewicht (4.2) ausgeführt wurde, wird die Ausgestaltung von Politi- ken durch den Diskurs bzw. das Policy-Image wesentlich mitbestimmt (Baumgartner und Jones 1991, 2009; Jones und Baumgartner 2012; Schmidt 2008, 2010a, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004). AkteurInnen schließen sich zu Koalitionen zusammen und versuchen

96 Theoretischer Rahmen den Diskurs über eine Policy entsprechend ihren Vorstellungen zu beeinflussen. Diese Ak- teurInnen stammen aus der Gesellschaft wie aus der Politik. Sie bestimmen mit Informa- tionsübermittelung im Diskurs das Policy-Image und versuchen gezielt, Frames zu stärken bzw. zu schwächen. Sie haben damit Einfluss auf das Framing. Der Inhalt und Verlauf des Diskurses unter den an der Regulierung von Biomedizinpolitiken mitwirkenden AkteurIn- nen beeinflusst das Regulierungstempo. Je deutlicher eine Koalition von AkteurInnen den anderen überlegen ist, desto zügiger gelingt es ihr, das Thema in der Öffentlichkeit und in der Politik zu ihren Gunsten zu framen. Baumgartner und Jones postulieren, dass einem Policy-Wandel ein Wandel des Policy-Images vorangeht (Baumgartner und Jones 2009). Folglich haben Diskurskoalitionen, die in einem Diskurs Deutungshoheit über das Policy- Image erlangen, Einfluss auf die Reform und können das Reformtempo beschleunigen.

Erwartung 10: Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das Policy-Image einer Biomedizinpolitik zu dominieren, desto höher ist Tempo der Politikentscheidung.

4.4 Zusammenfassung

Das Kapitel erläutert den theoretischen Rahmen der Studie. Grundlegend sind der Neoin- stitutionalismus sowie als eine seiner Strömungen, der Rational Choice-Institutionalismus und die spezifischeren Varianten des akteurzentrierten und diskursiven Institutionalismus, die sich für die Studie gut kombinieren lassen. Diese theoretische Basis geht von begrenzt rational handelnden AkteurInnen aus. Die Entscheidungen sind durch kognitive und emo- tionale Einflüsse bzw. Beeinträchtigungen nie vollständig rational (Hall und Taylor 1996). Gleichzeitig agieren AkteurInnen immer innerhalb einer Umwelt, die formale und infor- melle institutionelle Regeln setzt, welche als Leitplanken für menschliches Handeln gelten können. Diese Regeln sind jedoch nicht in Stein gemeißelt, sondern können durch Akteu- rInnen auch verändert werden (Mayntz und Scharpf 1995b, 1995a). Die Interaktion von AkteurInnen ist stark durch den Diskurs geprägt. Mit diesem Diskurs werden Koalitionen geschmiedet sowie Policy-Images kreiert, verändert und verworfen (Schmidt 2010a, 2008, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004). Auf diesen grundsätzlichen Überlegungen baut der Ansatz des durchbrochenen Gleichgewichts von Baumgartner und Jones (Baumgartner et al. 2009; Baumgartner und Jones 1991, 2009; Jones und Baumgartner 2004, 2012) auf. Der Ansatz ermöglicht es nun, eine dynamische Komponente in die theoretischen Überlegungen einzufügen und Politik-

97 Kapitel 4 wandel erklären zu können. Baumgartner und Jones (Baumgartner und Jones 1991; Jones und Baumgartner 2012) gehen davon aus, dass sich lange Zeiten keinen oder nur geringfü- gigen inkrementellen Wandels mit plötzlichen Phasen abrupten und umfangreichen Wan- dels in politischen Subsystemen abwechseln. Sie benennen mit dem Policy-Image und dem Policy-Venue zentrale Komponenten für den Wandel, die anschlussfähig an die grundsätz- licheren theoretischen Überlegungen sind. Aus diesen Theorien und Ansätzen werden schließlich in Abschnitt 4.3 eine Reihe von Erwartungen bzgl. des Tempos des Biomedizinpolitikwandels abgeleitet (vgl. Tabelle 4.1). Der Regulierungsprozess wird in zwei Schritte unterteilt: die Agendasetzung sowie die Politikentscheidung. Es werden zunächst jedoch keine Vermutungen darüber aufgestellt, wie diese Fakto- ren unterschiedlich auf die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung wirken und das unterschiedliche Regulierungstempo erklären können. Dies herauszufinden, ist das Ziel der in Kapitel 6 und 7 beschriebenen Fallstudien. Zunächst wird jedoch im folgenden Kapitel 5 das Forschungsdesign vorgestellt und in diesem Rahmen auch detailliert darauf eingegangen, wie die in Tabelle 4.1 aufgestellten Erwartungen empirisch überprüft werden können.

Tabelle 4.1: Erwartungen bezüglich der Biomedizinpolitiken Nr. Agendasetzung Problemperzeption 1a Je höher die Problemperzeption bei den politischen AkteurInnen, desto zügiger findet die Agendasetzung statt. 1b Moralische Panik führt zügiger zur Agendasetzung, als akkumulierte Informatio- nen oder Grundsatzprobleme. Historisch-politische Erblast 2 Die historische Erblast hemmt die Agendasetzung. Externe Einflüsse 3 Internationale rechtliche Vorgaben und/oder Policy-Wandel in anderen Staaten beschleunigen die Agendasetzung. Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polarisierung 4a Eine abweichende Mehrheitsmeinung der Gesellschaft vom regulativen Status quo beschleunigt die Agendasetzung. 4b Eine starke gesellschaftliche Polarisierung beschleunigt die Agendasetzung. Parteiinteressen und -konfliktlinien 5a Verläuft die religiös-säkulare Konfliktlinie quer durch die Regierungskoalition, dann verlangsamt dies die Agendasetzung.

98 Theoretischer Rahmen

Nr. Agendasetzung 5b Bei latenten Politiken kommt es zügiger zu einer Agendasetzung als bei manifes- ten Politiken. Gerichte 6 Gerichtsentscheide forcieren die Agendasetzung. Politikentscheidung Institutionelle VetospielerInnen 7 Institutionelle VetospielerInnen bremsen die Politikentscheidung bei manifesten Politiken stärker als bei latenten Politiken. Parteipolitische VetospielerInnen 8a Religiös-konservative Parteien bremsen liberalisierende Politikentscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikentscheidungen. 8b Säkulare und liberale Parteien beschleunigen liberalisierende Politikentscheidun- gen und bremsen restriktivierende Politikentscheidungen. 8c Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Ve- nue-Shifting. Das verlangsamt das Reformtempo. 8d Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Reframing oder Gewissensentscheidung. Diese beschleunigen das Reformtempo. Gesellschaftliche VetospielerInnen 9a Die Kirchen bremsen liberalisierende Politikentscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikentscheidungen. 9b NaturwissenschaftlerInnen, WirtschaftsvertreterInnen und Ärzteschaft beschleuni- gen liberalisierende Politikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politik- entscheidungen. AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs 10 Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das Policy-Image einer Biomedizinpolitik zu dominieren, desto höher ist das Tempo der Politikent- scheidung. Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

99

5 Forschungsdesign

Das Forschungsdesign beinhaltet die Begründung der Auswahl des Untersuchungsgegen- standes, der Fälle und der Methoden (Plümper 2003, S. 53). Wie in den vorherigen Kapi- teln ausgeführt, handelt es sich beim Untersuchungsgegenstand um die Biomedizinpoliti- ken Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung und bei der Fallauswahl um diese beiden Politiken in Deutschland. Im vorliegenden Kapitel werden der Gegenstand und die Fallauswahl detaillierter begründet (Abschnitt 5.1). Der Forschungsfrage wird mit einer Triangulation qualitativer Methoden nachgegangen, welche ebenfalls eingehend vorgestellt werden. Diese sind die dichte Einzelfallanalyse (Abschnitt 5.2), die Diskursnetzwerkanaly- se (5.3) und der Fallvergleich (5.4). Zudem wird ein Überblick über die Datenquellen und die Auswertungskriterien gegeben (5.5) sowie die Chancen und Grenzen des Forschungs- designs diskutiert (5.6).

5.1 Der Untersuchungsgegenstand

Zwei Biomedizinpolitiken wurden für die Analyse ausgewählt, deren Inhalte an die grund- sätzlichen Fragen des Lebens reichen und besonders hohes Konfliktpotenzial bieten: Was ist ein Leben wert? Wer entscheidet über Leben und Tod? Kann ein Leben gegen ein ande- res aufgewogen werden? Wo sind die Grenzen zwischen Selbstbestimmung über den Kör- per und gemeinschaftlichen Schutzregelungen? Die Gesellschaft muss sich im Zuge des medizinisch-technischen Fortschritts in Verbindung mit ihrer zunehmenden Individualisie- rung und der Loslösung von traditionellen Normvorstellungen diese Fragen stellen und die Regulierung von Biomedizinpolitiken überprüfen und anpassen. Das hat sich in den Regu- lierungsbemühungen vor allem in westlichen Industrienationen in den letzten Jahren ge- zeigt (Knill et al. 2015b; Knill et al. 2015c). Die Diskussion über die Verwendung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken, die Einführung des assistierten Suizids

101 Kapitel 5 oder der Patientenverfügung, die Organspende55 oder der Schwangerschaftsabbruch sind nur ein paar Beispiele für Themen, die den deutschen Gesetzgeber und die Öffentlichkeit beschäftigt haben (Knill et al. 2015c). Biomedizinpolitiken wurden in diesem Zuge in den letzten Jahren wiederholt auf die politische Agenda gesetzt. In manchen Fällen führte dies zu einer Reform, in anderen kam die Politik über die Agendasetzung nicht hinaus (Knill et al. 2015c). Da für viele Themen keine stabile Lösung gefunden wurde und der medizi- nisch-technische Fortschritt neue regulative Herausforderungen mit sich bringen wird, werden sich auch in Zukunft Gesellschaft und Politik mit diesen Fragen an der Grenze von Leben und Tod beschäftigen müssen.

5.1.1 Most similar systems design

Aus der Gruppe der Biomedizinpolitiken werden mit der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung zwei Themen ausgewählt, die einige Gemeinsamkeiten und Differen- zen, aber primär einen zentralen, erklärungsbedürftigen Unterschied in Bezug auf die deut- sche Regulierung aufweisen. Gemeinsam sind ihnen ihre oben aufgeführten und in Kapitel 2 bereits ausführlich dargelegten Eigenschaften als Biomedizinpolitiken. Erklärungsbe- dürftig ist das unterschiedliche Regulierungstempo beider Politiken in Deutschland. Zwar ist die aktive Sterbehilfe eindeutig verboten (§ 218 StGB), doch bei anderen Formen der Sterbehilfe war und ist die Rechtslage diffus. Dies führte in der Praxis zu einer Grauzone (Sahm 1997). Trotz verschiedener Anläufe ist es dem Gesetzgeber in den letzten Jahren nur teilweise und erst nach langer Zeit gelungen, hier Rechtssicherheit herzustellen. Im Fall der Sterbehilfe haben wir es also mit einer zögerlichen, langsamen und unvollständi- gen Regulierung zu tun. Im Gegensatz dazu verlief die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung ge- radezu rasant. 1998 erfolgte der wissenschaftliche Durchbruch (Shamblott et al. 1998). Nicht einmal vier Jahre später, Anfang 2002, verabschiedete der Bundestag das Stamm- zellgesetz (StGZ), welches die verbrauchende embryonale Stammzellforschung unter Auf- lagen erlaubte. Diese Regulierung wurde zudem eindeutig formuliert. Eine Novellierung des Gesetzes im Jahr 2008 verschob den Stichtag. Die Frage stellt sich nun, weshalb der Staat zögerte, die Sterbehilfe umfassend zu re- gulieren und die Entscheidung über Leben und Tod an Dritte abgegeben hat, während er

55 Die niedrige Spendenrate und ein Skandal um die Umgehung der sogenannten Transplantliste führten dazu, dass sich die Politik mit dem Thema beschäftigte, allerdings ohne legislative Auswirkungen. Eine Synopse findet sich bei der Süddeutschen Zeitung Online unter http://www.sueddeutsche.de/thema/Organspende-Skandal (abgerufen am 18.07.2015). 102 Forschungsdesign sich hingegen bei der Stammzellforschung rasch zu einer Liberalisierung durchringen konnte. Die Ergebnisse tragen zu neuen und vertieften Erkenntnissen über die Bestim- mungsfaktoren des Regulierungstempos und damit auch zum Verständnis von Moralpoliti- ken bei. Der Vergleich lehnt sich an das most similar systems design von Przeworski und Te- une (1970, S. 32-34) an. Die Autoren beziehen sich zwar in erster Linie auf den Länder- vergleich (systems). „Intersystematic similarities and intersystemic differences are the fo- cus of «the most similar systems» design (…) Common systemic characteristics are con- ceived of as «controlled for», whereas intersystemic differences are viewed as explanatory variables“ (Przeworski und Teune 1970, S. 33). Die Logik dieses Vergleichs ist auf Politi- ken übertragbar. Die abhängige Variable „Regulierungstempo“ ist unterschiedlich ausge- prägt: Während bei der Sterbehilfe kaum ein Wandel stattgefunden hat und dieser auch sehr schleppend vonstatten ging, verlief der Regulierungswandel bei der embryonalen Stammzellforschung sehr zügig. Die Frage stellt sich nun, welche Erklärungsfaktoren über diese Policies hinweg variieren und das unterschiedliche Regulierungstempo erklären kön- nen. Der theoretische Überbau wird als Leitfaden verwendet. Die im Theoriekapitel 4 aufgestellten Erwartungen bezüglich der potenziellen Erklärungsfaktoren sollen im Rah- men der Fall- und Diskursanalysen daraufhin untersucht werden, ob sie zwischen den bei- den Policies in ihren Ausprägungen bedeutend variieren und als entscheidende Faktoren für das unterschiedliche Regulierungstempo identifiziert werden können. Gleichzeitig er- laubt das methodische Vorgehen, dass im Zuge der Analyse eventuell weitere Erklärungs- faktoren herausgearbeitet werden können, welche das Theoriegerüst erweitern. Die Fall- studie ist damit diszipliniert-konfigurativ angelegt (Muno 2009, S. 119): Sie verbindet „Deduktion und Induktion, indem bestehende Annahmen getestet und über die Analyse des Falls neue Annahmen aufgestellt werden.“ Durch den Abgleich mit der Realität sollen Er- wartungen bestätigt oder verworfen und daraus schließlich Rückschlüsse auf die Theorien gezogen werden. Neben dem Fokus auf das Regulierungstempo wird zwangsläufig auch die Art des Regulierungswandels, also eine etwaige Restriktivierung oder Liberalisierung betrachtet. Nicht direkt beobachtet werden der Regulierungs-Outcome, also die tatsächliche Umset- zung und die praktischen Auswirkungen der formalen Rechtsetzung. Indirekt geht aber natürlich die Praxis der embryonalen Stammzellforschung nach 2002 in der Novellierung der Gesetzgebung von 2008 auf, insofern kommen die tatsächlichen Folgen der Entschei- dung von 2002 zumindest in der Analyse zur Sprache. Gleiches gilt für die Sterbehilfe:

103 Kapitel 5

Jede Entscheidung bzw. Nicht-Entscheidung hat direkte oder indirekte Effekte auf die fol- genden gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen.

5.1.2 Fallauswahl und Untersuchungszeitraum

Die Untersuchung wird in einem Land durchgeführt, da so die institutionellen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weitestgehend konstant sind. So können eine Reihe von potenziellen Erklärungsfaktoren für den unterschiedlichen Umgang mit den bei- den Politiken über Staatsgrenzen hinweg von vorneherein ausgeschlossen werden, so zum Beispiel das politische System oder die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung.56 Zudem ist es der Anspruch dieser Arbeit, eine vertiefende Analyse der beiden Politiken durchzu- führen. Um diese Tiefe zu erreichen, muss aus Kapazitätsgründen auf die Breite im Sinne mehrerer Länder verzichtet werden. Deutschland bietet sich durch die unterschiedlichen Reformgeschwindigkeiten von zwei stark wertbehafteten Biomedizinpolitiken als Untersu- chungsland an. Den Vergleich erleichtert zudem die zeitliche Parallelität beider Politiken. Nach Schneider und Janning (2006, S. 16) umfasst eine Policy „die verbindliche Festlegung bewerteter Handlungsoperationen oder Strategien, um bestimmte Ziele zu er- reichen bzw. Probleme zu lösen.“ Eine Policy schließt demnach nicht nur staatliche Akteu- rInnen ein, sondern auch halb-staatliche und private AkteurInnen, wenn diese ebenfalls mit ihrem Handeln und ihren Strategien zur Zielerreichung bzw. Problemlösung beitragen (Schneider und Janning 2006, S. 16). Einen dementsprechend breiten Fokus nimmt die vorliegende Studie ein und betrachtet all diejenigen AkteurInnen, die an der Regulierung beteiligt sind oder einen direkten oder indirekten Einfluss auf staatliches Handeln neh- men.57 Der Zeitraum der Untersuchung umfasst die Jahre 1990 bis 2014. Der Beginn des Untersuchungszeitraums wurde so gewählt, dass zum einen Deutschland nach der Wieder- vereinigung von 1990 betrachtet werden kann. Zudem ist ein Untersuchungszeitraum von 25 Jahren dazu geeignet, das Reformtempo und gegebenenfalls die sich dabei in ihren Ausprägungen verändernden Erklärungsfaktoren und den diskursiven Verlauf nachzu-

56 Damit wird nicht behauptet, dass keiner dieser Faktoren einen Einfluss auf die Biomedizinpolitik haben kann. Dass dies so ist, hat beispielsweise Fink (2007) bereits in einer quantitativen vergleichenden Studie für die Stamm- zellforschung nachgewiesen. Jedoch wurde in der quantitativen Studie von Hurka et al. (2016, S. 22) auch gezeigt, dass für den Policy-Wandel bei Moralpolitiken politische Institutionen länderübergreifende Unterschiede nicht erklären können. 57 Direkt bedeutet dabei eine unmittelbare Einwirkung auf den politischen Prozess, beispielsweise als Abgeordnete bzw. Abgeordneter oder Partei. Indirekt beteiligte AkteurInnen, wie zum Beispiel Interessenorganisationen, haben zwar keine unmittelbare und institutionalisierte Funktion im politischen Prozess, können aber über ihre Bekannt- heit, Mitgliederstärke oder den Zugang zu politischen EntscheidungsträgerInnen Einfluss auf die Debatte und Entscheidung nehmen. 104 Forschungsdesign zeichnen. Zudem hat die Wahl des Zeitraums praktische Gründe: Die Debatte über eine Regulierung der Sterbehilfe wurde in der Nachkriegszeit jahrzehntelang nicht geführt – sieht man von einem kleinen akademischen Zirkel ab. Erst Mitte der 1990er Jahre geriet das Thema in den breiteren Fokus von Gesellschaft und Politik. Die embryonale Stamm- zellforschung wurde erst durch die Kultivierung von Stammzellen im Labor 1998 zu einem regulierungsbedürftigen Thema. Gleichwohl hatte der Gesetzgeber bereits 1990 mit dem Embryonenschutzgesetz den allgemeinen Status von und Umgang mit Embryonen festge- legt. Dieses Gesetz sollte man in die Analyse miteinbeziehen. Ein technischer Aspekt spricht ebenfalls für den Start der Analyse im Jahr 1990: Erst seit den 1990er Jahren sind viele Archive, so zum Beispiel das Zeitungsarchiv der FAZ, elektronisch dergestalt archi- viert, dass eine umfangreiche Datenrecherche mit angemessenem Ressourceneinsatz mög- lich ist. Im Zuge der Durchführung der Analyse ergeben sich zeitliche Schwerpunkte dann, wenn im Policy-Feld auch Aktivitäten in Form von gesellschaftlichen Diskussionen oder politischen Geschäften zu verzeichnen sind. Das ist bei der Sterbehilfe insbesondere 1998, 2004, 2008 und 2010 der Fall. Die embryonale Stammzellforschung verzeichnet zwei zeit- liche Schwerpunkte: Den Zeitraum 1998 – 2002, also den Vorlauf zur eingeschränkten Erlaubnis der Forschung; und die Jahre 2006 – 2008, in denen über die Verschiebung des Stichtages diskutiert und das entsprechende Gesetz schließlich verabschiedet wurde.

5.2 Dichte Einzelfallanalyse

Das Ziel der Studie ist die Erzielung kausaler Inferenz. Dazu werden die embryonale Stammzellforschung und die Sterbehilfe verglichen. Es ist eine sogenannte within-site- story (Behrens 2003, S. 214), denn es wird ein Vergleich innerhalb des Politikfeldes Bio- medizinpolitik vorgenommen. Die Untersuchung hat instrumentellen Charakter, da sie versucht, die im Theoriekapitel aufgeworfenen Erwartungen an den beiden Fällen zu über- prüfen, zu konkretisieren, zu modifizieren oder zu verwerfen. In den Kapiteln 6 und 7 wer- den daher zunächst die Einzelfallanalysen mit deskriptivem Schwerpunkt durchgeführt.

Mesoperspektive In der Policy-Analyse werden verschiedene Ebenen unterschieden, die analysiert werden können: Die Makro-, Meso-, und Mikroebene. Mikroebene bezieht sich auf die Individuen und ihr soziales Handeln; Mesoebene auf Organisationen; und Makroebene auf Gesell- schaften und deren Teilsysteme (Donges 2011, S. 217). Die Studie ist in erster Linie auf

105 Kapitel 5 der Mesoebene angelegt: Im Fokus der Untersuchung stehen Kollektive wie Parteien, Inte- ressenorganisationen, Allianzen, etc. welche innerhalb von Makrostrukturen agieren. Die Mikroebene wird punktuell dort in die Analyse einfließen, wo Individuen den Politikfort- gang dominieren. Die Makroebene bildet hingegen den institutionellen Rahmen, innerhalb deren die Kollektive und Individuen agieren. Diese Makrostrukturen sind zum Beispiel das politische System Deutschlands, bestehend aus Institutionen wie der Legislative, Exekutive und Judikative und deren verfassungsrechtlichem Verhältnis zueinander. Sie wird nicht direkt untersucht.

Structured focused comparison und Kongruenzmethode Die Fallstudien basieren auf der structured focused comparison und der Kongruenzmetho- de. Beide Methoden sind primär von George und Bennett (2004) entwickelt worden und können für die dichte Einzelfallbeschreibung und den Fallvergleich herangezogen werden. Die Strategie lässt sich sowohl auf den Vergleich der theoretischen Erwartungen mit den empirischen Phänomenen als auch auf die beiden Fälle untereinander und in Bezug auf die Theorie anwenden. George und Bennett (2004) bezeichnen das methodische Vorgehen als strukturiert, wenn der Forscher bzw. die Forscherin Forschungsfragen festhält, welche das Forschungsziel widerspiegeln. Diese Forschungsfragen leiten die Fallstudien und die Da- tensammlung. Damit sind ein systematischer Vergleich und ein systematisches Zusammen- tragen von Erkenntnissen über die Fälle möglich. Dabei wird der Fokus auf bestimmte As- pekte der Fälle gelegt, die zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen, und die ande- ren Aspekte werden ausgeblendet (George und Bennett 2004, S. 67). In dieser Studie sind die formulierten Erwartungen das Pendant zu den von George und Bennett (George und Bennett 2004) bezeichneten Forschungsfragen. Bei der Kongruenzmethode nimmt der Forscher bzw. die Forscherin die abhängige Variable und die unabhängige Variable in den Fokus und prüft, ob die abhängige Variable die Ausprägung annimmt, die angesichts der Ausprägung der unabhängigen Variablen zu erwarten ist (Bennett 2002, S. 32). Das bedeutet, dass beide Fälle systematisch und chrono- logisch durchleuchtet werden mit Blick darauf, ob die im Theoriekapitel postulierten Fak- toren tatsächlich zur Erklärung des Policy-Outputs führen. Mit diesem Abgleich von Erklä- rungsfaktoren mit dem Politikergebnis lässt sich im besten Fall am Schluss feststellen, dass ein Faktor in einem Fall gar nicht vorhanden war oder nur in sehr abgeschwächter Form, während er im anderen Fall stark ausgeprägt war. Wird das systematisch für alle Faktoren vorgenommen, lassen sich Faktoren herausfiltern, die für den Politikwandel relevant sind. Dies wiederum macht es möglich, den theoretischen Rahmen zu konkretisieren, indem

106 Forschungsdesign relevante und irrelevante Erklärungsansätze identifiziert werden können. Durch diese Kon- gruenzmethode werden also Beobachtungen in einem Fall gemacht, dokumentiert und mit den aus den Theorien abgeleiteten Erwartungen abgeglichen (Blatter et al. 2007, S. 148- 157). Durch die Kombination der Kongruenzmethode und der structured focused compari- son kann sichergestellt werden, dass ein kausaler Wirkungspfad aufgezeigt wird und die empirischen Beobachtungen systematisch mit den theoretischen Erwartungen abgeglichen werden.

5.3 Diskursnetzwerkanalyse

Die dichten Einzelfallbeschreibungen werden durch eine Diskursnetzwerkanalyse ergänzt. Sie ist eine stark formalisierte Form der Diskursanalyse, die sich in der Politikwissenschaft in jüngerer Zeit immer größerer Beliebtheit erfreut (vgl. Janning et al. 2009, S. 60-61; 64- 66). Mit der Diskursanalyse lassen sich die an einer Politikentscheidung beteiligten Akteu- rInnen, ihre Interessen und ihre Beziehungen untereinander systematisch erfassen und so ihre Interaktionen im Politikprozess und das Politikergebnis erklären (Knoke 2011, S. 210). So kann man eine Erkenntnis aus dem theoretischen Rahmen in die Analyse umset- zen: Die Perzeption von Problemen und die Entwicklung von Lösungsvorschlägen ist kein vollständig objektiver und rationaler Prozess. „Vielmehr liegt der Grund für die Komplexi- tät der politischen Gestaltungsprozesse in der Unschärfe und Subjektivität von Perzeptio- nen und Interpretationen der am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure und in deren Veränderungen durch einen fortwährenden Diskussionsprozess (…)“ (Janning et al. 2009, S. 60). Es gibt immer umfangreichere und leistungsfähigere Computerprogramme, welche die Datengenerierung, -analyse und -visualisierung vereinfachen und beschleunigen. Nach Raab und Kenis (2007, S. 189) ist die Netzwerkanalyse weder eine neutrale statistische Methode noch eine Theorie. Vielmehr sei sie ein Werkzeug, mit dem man die Beziehungen zwischen sozialen Einheiten aufdecken und so deren soziale Struktur beschreiben könne. „It is nonetheless analytically formal in that it mandates systematic and replicable routines, requires strict coding rules and has an internal logic or algorithm that produces descriptive or inferential results (…)“ (Raab und Kenis 2007, S. 189). Die Netzwerkanalyse als ein Analysekonzept für die Politikfeldanalyse ergänzt und erweitert in Teilen andere Analyse- konzepte wie zum Beispiel die Vetospielertheorie von Tsebelis oder den Advocacy Koali- tionen Ansatz von Sabatier (Raab und Kenis 2007, S. 187). Diese Anschlussfähigkeit soll auch in dieser Studie genutzt werden.

107 Kapitel 5

Ein Diskurs ist „eine nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht werden“ (Keller 2011, S. 68). Mit der Diskursnetzwerkanalyse ist es möglich, die an einer Policy-Diskussion beteiligten AkteurInnen und Gruppen mit ihren Haltungen und Argumenten qualitativ wie quantitativ zu erfassen. Durch den Diskurs werden Normen und Ideen geframed, reframed, hervorgehoben oder fallen gelassen. Die Studie möchte mit der Diskursnetzwerkanalyse überprüfen, ob diese Vermutungen im Fall der Diskurse um die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung tatsächlich eingetreten sind. Un- abhängig davon, ob die Diskursstrukturen (Teilnehmende und vertretene Frames) von äu- ßeren Faktoren wesentlich geändert wurden oder sich durch innere Dynamiken selbst Än- derungen unterworfen haben, sollen sie mit der Diskursnetzwerkanalyse aufgedeckt wer- den. Die Auswertung der Daten erlaubt es, Schlüsse darüber zu ziehen, wer in einem öf- fentlichen Diskurs über die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung eine zent- rale Stellung innehatte und wer nur an der Peripherie der Debatte wahrgenommen wurde. Es lassen sich zudem Diskurskoalitionen identifizieren. Dies sind Gruppen von AkteurIn- nen, die eine teilweise oder vollständige Übereinstimmung in ihren Grundüberzeugungen, Policy-Ansätzen und Strategien aufweisen. Sie versuchen daher, sich zu koordinieren, um ihre Interessen in der Policy-Debatte durchzusetzen. Die Interessen können sich dabei im Verlauf des Diskurses entwickeln, verändern und verfestigen (Schneider und Janning 2006, S. 182).

5.3.1 Analyseprogramme

Für die Diskursnetzwerkanalyse werden zwei Programme verwendet: Der Discourse Net- work Analyzer (DNA) von Leifeld (2011) und das Visualisierungsprogramm visone.58 Der DNA ermöglicht die Erfassung und Auswertung der beiden Diskurse über die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung auf Mikro- und Mesoebene. Das Programm er- fasst hauptsächlich die beteiligten AkteurInnen und ihre im Diskurs verwendeten Argu- mente. Daraus lassen sich Diskurskoalitionen, bestehend aus einzelnen AkteurInnen oder ihren Organisationen, wie auch die verwendeten Argumente bzw. Frames ableiten. Wäh- rend sich mit dem DNA die eingespeisten Daten sammeln, klassifizieren und erste deskrip-

58 http://www.philipleifeld.de/software/discourse-network-analyzer/discourse-network-analyzer-dna.html (abgeru- fen am 17.07.2015); http://visone.info/ (abgerufen am 17.07.2015). 108 Forschungsdesign tive Analysen via Excel-Tabellen anstellen lassen, können mit visone die Netzwerke als Grafiken visualisiert und verschiedene Maße berechnet werden.

5.3.2 Datenaufbereitung

Das Kodierungsverfahren lehnt sich an die „Methode des permanenten Vergleichs“ (Dö- ring und Bortz 2016, S. 545-546) an, die ein Teil der Grounded Theory ist.59 So werden zunächst alle Textstellen markiert, bei denen AkteurInnen eine Aussage bezüglich des Themenbereichs embryonale Stammzellforschung oder Sterbehilfe machen. Dann werden in einem iterativen Prozess Kodierungen vorgenommen. Dabei werden die Aussagen in Aussagegruppen eingeteilt. Die AkteurInnen werden ebenfalls gruppiert und diese Grup- pen ausgeweitet, geteilt oder zusammengefügt. Während dieses Prozesses werden bereits Memos darüber angefertigt, welche Zusammenhänge im Hinblick auf die Theorieprüfung von Interesse sein könnten. In beiden Policy-Feldern wurde zunächst ausdifferenziert ko- diert, was folglich in einer großen Anzahl (über 100) von Sachkategorien resultierte. In einem zweiten Schritt wurden diese Kategorien zu Überkategorien zusammengefasst, um eine Übersichtlichkeit und Verständlichkeit der Datenstruktur zu gewährleisten. Dasselbe gilt für die AkteurInnenkategorie: Wurde zum Beispiel in der ersten Kodierungsrunde noch zwischen den Landesverbänden der verschiedenen Parteien unterschieden, wurden diese im zweiten Schritt zu Bundesparteien zusammengefasst.60 Letztendlich verblieb eine drei- stufige, dokumentierte Kodierung, welche in den Fallstudien aufgewertet wird: Die drei Ebenen Person, Akteur61 und Familien von AkteurInnen (z. B. „“; „Bünd- nis90/Die Grünen“; „Partei“) wurden dokumentiert und lassen sich somit für die Analyse verwenden. Kodiert wurden direkte Zitate und indirekte Rede. Auch Positionierungen wurden als Aussagen markiert. So wurde beispielsweise die Unterstützung eines Gruppen- antrags im Bundestag markiert, wenn die entsprechende Person namentlich als Unterstüt- zerin im Artikel genannt wird. Nicht markiert wurden inhaltlich identische Statements ei-

59 Die Grounded Theory ist keine Theorie, sondern vielmehr ein sozialwissenschaftlicher Ansatz zur systemati- schen Auswertung von qualitativen Daten, die zum Beispiel aus Aussagenkodierungen in Zeitungsartikeln, aber auch Interviews, Beobachtungen etc. stammen können. Glaser und Strauss (1967) entwickelten die Grounded Theory in den 1960er Jahren. Sie verfolgten das Ziel der Theoriegenerierung aus der Datenanalyse. In der vorlie- genden Arbeit wird in erster Linie nicht die Theoriebildung, sondern die Erwartungsüberprüfung angestrebt. 60 Es zeigte sich, dass die Berücksichtigung der Landesverbände zu einer unübersichtlichen Zahl von AkteurInnen führte. Dies hätte die Analyse und Darstellung der Ergebnisse erschwert. Zudem war die Anzahl der Aussagen innerhalb der Landesverbände sehr gering. 61 Ein Akteur oder eine Akteurin ist in den meisten Fällen ein Kollektiv, also eine Partei, eine Organisation oder eine Gruppe mit stark ähnlicher inhaltlicher Ausrichtung, wie zum Beispiel die Gruppe der Naturwissenschaftle- rInnen. Nur in einem Fall besteht ein Akteur aus einer Person: Der Bundespräsident bekleidet ein offizielles Amt und gilt damit als Akteur. 109 Kapitel 5 ner Person am gleichen Tag, also wenn die Aussage in der Zeitung zweimal abgedruckt wurde. Dieser Prozess ist aufwendig, stellt aber sicher, dass den grundlegenden Anforderun- gen an eine Inhaltsanalyse Genüge getan wird.62 Die Markierungen und Kategorisierungen sollen auf Basis aller verwendeten Zeitungsartikel vorgenommen werden und nicht von den ersten gelesenen Zeitungsartikeln abhängen, aus denen sich das Vorgehen bestimmt und als Schablone undifferenziert auf alle Zeitungsartikel gelegt wird. So kann zum Bei- spiel sichergestellt werden, dass es zwischen den einzelnen Kategorien möglichst wenig inhaltliche Überschneidungen gibt, also eine Aussage nur einer Kategorie zugeordnet wer- den kann und jede Person immer demselben Akteur bzw. derselben Akteurin zugehörig ist (Kuckartz 2016, S. 63-96). Für den Themenkomplex Sterbehilfe wurden 1020 Zeitungsartikel mit 1220 Aussa- gen für den gesamten Untersuchungszeitraum 1990 – 2014 identifiziert und markiert. Die Aussagen wurden jeweils einzelnen Personen zugeordnet. Diese Personen wurden in dem mehrstufigen Prozess zu 17 AkteurInnen und diese wiederum zu 4 Familien zusammenge- fasst. Diese schrittweise Zusammenfassung wurde vorgenommen, um eine übersichtliche Darstellung zu ermöglichen und aufzuzeigen, wie sich potenzielle Koalitionen positioniert haben und ob sie in ihren Haltungen geschlossen oder gespalten waren. Die Aussagen wurden zu 21 Aussagekategorien zusammengefasst. Für den ersten Zeitabschnitt 1990 – 1998 wurden 174 Zeitungsartikel gefunden und darin 94 Aussagen markiert; 1999 – 2009 sind es 674 Artikel und 844 Aussagen; 2010 – 2014 sind es 172 Artikel und 282 Aussagen. Die Diskursnetzwerkanalyse der embryonalen Stammzellforschung konzentriert sich auf zwei Zeiträume: Erstens auf den Zeitraum vom 1. Februar 2000 bis zum 30. Januar 2002, dem Tag des Grundsatzentscheids des Bundestages zum Import von Stammzellen und deren Erforschung unter einschränkenden Auflagen. Zweitens vom Beginn der inten- siven Diskussion über die Novellierung dieses Gesetzes ab 26. Juli 2006 bis zur Novellie- rung des Gesetzes mit der Stichtagsverschiebung am 11. April 2008. Die Zeiträume wur- den so gewählt, dass der Diskurs im Vorfeld der jeweiligen Bundestagsentscheidung, also des Policy-Wandels, abgedeckt wird. Indikator für die ausreichende Abdeckung ist die Anzahl der erschienenen Zeitungsartikel in den Jahren 1990 – 2014. Während der für die Analyse ausgewählten Zeiträume ist die Anzahl relativ hoch und verschwindend gering in den anderen Zeiträumen. Im ersten Untersuchungszeitraum Februar 2000 bis Januar 2002 sind es 543 Zeitungsartikel, mit 1029 Aussagen. Im zweiten Untersuchungszeitraum Juli

62 So sollte die Kategorienbildung disjunkt, erschöpfend und präzise sein. Zudem sollten hermeneutische Zirkel und Differenz beachtet werden (Kuckartz 2016). 110 Forschungsdesign

2006 bis April 2008 sind es 223 Zeitungsartikel mit 222 Aussagen. Die Aussagen wurden schrittweise zu 21 Aussagekategorien zusammengefasst. Auch hier wurden schrittweise die Einzelpersonen zu 19 AkteurInnen und 5 Familien zusammengefasst. Die Daten sind in einem Datensatz zusammengefasst (Nebel 2016) und werden in verschiedenen deskriptiven Statistiken und Netzwerken aufbereitet: Der Verlauf der Dis- kussion wird anhand einer Zeitreihe dargestellt, der Umfang der Beteiligung der einzelnen AkteurInnen, ihre Einstellung zur Sterbehilfe bzw. zur embryonalen Stammzellforschung und die Häufigkeit der Verwendung der einzelnen Aussagekategorien werden in Dia- grammen dargestellt. Die Beziehungen der AkteurInnen untereinander und bezüglich der Aussagekategorien werden schließlich in Netzwerkgrafiken präsentiert.

5.4 Vergleich der Fallstudien

Im Zuge der dichten Einzelfallbeschreibungen und der Diskursnetzwerkanalysen lassen sich erste Rückschlüsse auf die Gültigkeit der aufgestellten Erwartungen zielen. Diese werden im Zuge der Analyse in den Kapiteln 6 und 7 bereits beschrieben. Hier dominiert das deskriptive Vorgehen. Um aber einen systematischen Abgleich der empirischen Be- obachtungen mit den theoretischen Erwartungen zu vollziehen, bedarf es des Vergleichs beider Fälle. Diese vergleichende Fallstudie mit analytischem Schwerpunkt wird in Kapitel 8 durchgeführt. Sie lehnt sich wie die dichten Fallbeschreibungen an die structured focused comparison und die Kongruenzmethode an und verbindet sie (George und Bennett 2004). Allerdings wird nun der Fokus etwas anders gesetzt: Ziel ist nicht mehr die systematische und zielführende Datenerfassung. Vielmehr geht es darum, die in den Fallstudien gesam- melten Ergebnisse zusammenzufassen und zu abstrahieren, um die beiden Fälle miteinan- der zu vergleichen und schließlich über die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der Erwartungen und Theorien zu befinden. Hier findet mittels der Kongruenzmethode der eigentliche Ab- gleich von Erklärungsfaktoren mit dem Politikergebnis statt. Mit dem Vergleich lassen sich auch eventuelle Faktoren erkennen, die im Rahmen der Theorie nicht entwickelt und auf- gestellt wurden.

5.5 Quellen und Auswertung

Für die Fallstudien werden mehrere Quellen verwendet. Als Primärquellen dienen offiziel- le Dokumente der verschiedenen Institutionen: Plenarprotokolle und Drucksachen des

111 Kapitel 5

Bundestages63 und des Bundesrates, Wahlkampfprogramme der Bundestagsparteien, Do- kumente der Bundesregierung, Urteile und Pressemitteilungen verschiedener nationaler und internationaler Gerichte, statistische Daten, Umfragedaten, Richtlinien der Europäi- schen Union, Pressemitteilungen der verschiedenen Interessengruppen und Verbände. Zu- dem werden als Sekundärquellen die einschlägige wissenschaftliche Literatur und Zei- tungsartikel verwendet. Nicht berücksichtigt werden zum Beispiel Verordnungen zu ein- zelnen Gesetzen, da hier Sachverhalte reguliert werden, die von nachrangiger Bedeutung für die Analyse sind und deren Berücksichtigung die Kapazitäten der vorliegenden Studie überstrapazieren würde. Für die Diskursnetzwerkanalyse bilden Zeitungsartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die Grundlage. Es gibt eine Reihe von Gründen, die gegen die Verwendung von selbst durchgeführten Interviews oder anderer Datenquellen und für Zeitungsartikel sprechen. Zum einen umfasst der Untersuchungszeitraum 25 Jahre. AkteurInnen zu finden, die noch zu politischen Vorgängen Anfang der 1990er Jahre detaillierte Angaben machen können, ist damit sehr schwierig. Außerdem verfälschen Erinnerungslücken und die Ver- mischung von objektiven Tatsachen mit subjektiven Eindrücken die Berichte. Dies würde vermutlich zu einer zu geringen Rücklaufquote und mangelnder Validität der Daten führen. Zeitungen transportieren im besten Fall die zum jeweiligen Zeitpunkt vorherrschenden Äußerungen und Meinungen in der Bevölkerung und der relevanten AkteurInnen. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass insbesondere politische Personen öffentliche Aussagen bewusst und mit einem bestimmten Ziel tätigen. Es wäre daher vermessen anzu- nehmen, dass via Zeitungsartikel die unverfälschte, wahre, nicht von strategischen Interes- sen überlagerte Haltung von AkteurInnen transportiert wird. Allerdings ließe sich das Problem mit alternativen Datenquellen kaum besser in den Griff bekommen. Zudem ist es das erklärte Ziel der Analyse, den öffentlichen Diskurs abzubilden. Im Rahmen der Analy- se sind Einschätzungen der Einstellungen von AkteurInnen zu den Politiken möglich, aber weitere Annahmen über die innere Haltung sind stark spekulativ und sollten daher als sol- che benannt werden. Durch die Auswahl der FAZ kann bei den dort veröffentlichten Aus- sagen davon ausgegangen werden, dass sie gesellschaftlich relevant sind (oder von der Zeitung mit der Veröffentlichung relevant gemacht wurden). Dass eine Zeitung immer eine „Eigenmeinung“ hat, nach der sie bewusst oder unbewusst Informationen filtert und wei- tergibt, sollte nicht vergessen werden. Allerdings ist mit der FAZ eine der renommiertesten und auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands ausgewählt worden. Zudem wurden in der

63 Die Datenbank des Bundestages wurde mit folgenden Stichwörtern durchsucht: Stammzelle; embryonenschutz- gesetz; stichtagsregelung; stammzellforschung; embryonal; stammzellgesetz; embryo; bzw.: stammzell* ODER embryonenschutzgesetz ODER stichtagsregelung ODER stammzellgesetz ODER embryo*. 112 Forschungsdesign

Analyse Leserbriefe, Kommentare und Glossen nicht berücksichtigt. Diese sind bewusst mit persönlichen Meinungen gefärbt. Als eine weitere Möglichkeit der Datenerhebung über die Medien wären Fernseh- nachrichten denkbar. Doch liegen diese für den Untersuchungszeitraum nicht in Textform vor. Erst seit den 2000er Jahren werden Nachrichten online archiviert. Zudem sind ein Zu- gang zu den Archiven und eine thematische Recherche kaum möglich. Für die Diskursnetzwerkanalyse wurde auf das digitale Archiv der Frankfurter All- gemeinen Zeitung (F.A.Z. biblionet und FAZ 49-92)64 zurückgegriffen. Gängig in der For- schung ist die Verwendung einer der beiden deutschlandweiten Zeitungen Süddeutsche Zeitung (SZ) oder FAZ. Diese Zeitungen haben den Ruf, besonders umfassend und relativ neutral über das politische und gesellschaftliche Geschehen in Deutschland zu informieren. Es werden aus Kapazitätsgründen nur die Daten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er- hoben. Es hat sich bereits bei früheren Studien gezeigt, dass FAZ und SZ sich in ihrer Be- richterstattung weitestgehend ähneln (vgl. Leifeld 2011, S. 162-169). In der Suchmaske der FAZ wurden für die jeweiligen Themenfelder zunächst verschiedene Suchbegriffe und Kombinationen getestet und eine stichprobenartige Sichtung der Ergebnisse vorgenom- men. Daraufhin wurden diejenigen Suchbegriffkombinationen ausgewählt, die am umfang- reichsten und gleichzeitig am genauesten die relevanten Zeitungsartikel ergeben.65 Rele- vant sind all diejenigen Artikel, in denen entweder der Schwerpunkt auf dem jeweiligen Thema liegt oder in denen allgemein über die politischen, juristischen oder gesellschaftli- chen Ereignisse rund um diese Themen informiert wird. Nicht berücksichtigt wurden, ne- ben den bereits erwähnten Textarten, Zitierungen aus anderen Zeitungen, Rezensionen von Büchern, Theateraufführungen oder ähnliches sowie Auslandsartikel (es sei denn, sie be- treffen die deutsche Politik direkt, zum Beispiel eine Entscheidung des EuGH, oder benen- nen konkrete Entscheidungen in anderen Ländern). Äußerungen von WissenschaftlerInnen außerhalb Deutschlands wurden nicht berücksichtigt, wenn sie sich nicht direkt in den deutschen Diskurs eingebracht haben. So werden zum Beispiel Zitate im Zusammenhang mit berichteten Forschungserfolgen beim Klonen als Hintergrundinformation für die Fall- studie verwendet, aber nicht in die Diskursanalyse aufgenommen. Diese Aussagen machen auch nur einen verschwindend kleinen Anteil an der Gesamtzahl von Aussagen aus.

64 Es handelt sich um zwei beschränkte Zugänge: http://faz-archiv-approved.faz.net/intranet/biblionet/ und http://faz-archiv-approved.faz.net/intranet/biblionet/r_asuche/FAZH.ein (abgerufen am 22.04.2016). 65 Für die Sterbehilfe lautete die Suchbegriffkombination: sterbehilfe* ODER patientenverfügung* ODER lebens- verlängernd*. Für embryonale Stammzellforschung: (embryo* UND stamm*) ODER Embryonenschutzgesetz*. 113 Kapitel 5

In den dichten Fallbeschreibungen, den Diskursnetzwerkanalysen und schließlich in der vergleichenden Fallanalyse werden die in Kapitel 4 aufgestellten Erwartungen über- prüft. Anhand welcher Quellen und Kriterien das geschieht, wird im Folgenden vorgestellt.

Problemperzeption Die Problemperzeption ist eine subjektive Einschätzung der AkteurInnen über die Dring- lichkeit eines sozioökonomischen Problems und die Dringlichkeit dieses politisch lösen zu müssen (Blum und Schubert 2011, S. 109). Ob Sterbehilfe oder embryonale Stammzellfor- schung als Problem wahrgenommen werden, lässt sich direkt über die Aussagen im Dis- kurs oder über Sekundäranalysen feststellen. Was die Problemperzeption der politischen AkteurInnen betrifft, dienen hauptsächlich die Plenarprotokolle und die Zeitungsartikel als Quellen. In der Diskursnetzwerkanalyse kann Problemperzeption in der Öffentlichkeit bzw. den Interessengruppen nachgewiesen werden, wenn die am Diskurs beteiligten Ak- teurInnen wiederholt auf einen Sachverhalt hinweisen und ihn als diskussions- oder rege- lungsbedürftig ansehen.

Historische Erblast Die historische Erblast kann in Form von Gesetzen, Richtlinien etc. vorliegen. Diese sind über eine Dokumentenanalyse zu identifizieren. Die historische Erblast im Sinne von Ideen und Normen, ob und wie bestimmte Politiken reguliert werden sollten, kann aus einer his- torischen Betrachtung abgeleitet und in den Aussagen der am Entscheidungsprozess betei- ligten AkteurInnen nachgewiesen werden. So sind auch hier eine Dokumentenanalyse und eine Diskursanalyse angebracht.

Externe Einflüsse Internationale rechtliche Vorgaben können von internationalen Institutionen oder Gerich- ten stammen. Zu unterscheiden sind dabei Institutionen, deren Entscheidungen rechtlich bindende Wirkung für Deutschland haben, so zum Beispiel der Europäische Gerichtshof oder EU-Richtlinien von Institutionen, deren Entscheidungen zwar keine rechtlich binden- de Wirkung haben, aber trotzdem eine Signalwirkung oder normativen Vorbildcharakter für die Politikgestaltung in Deutschland ausstrahlen können. Dies ist meist bei Beschlüssen der UNO bzw. ihrer Unterorganisationen, zum Beispiel der UNESCO oder der WHO der Fall. Entweder sind die Beschlüsse als unverbindliche Richtlinien gestaltet, oder Deutsch- land kann im Einzelfall entscheiden, ob es einer Deklaration oder Resolution rechtlich ver- bindlich beitreten möchte oder nicht.

114 Forschungsdesign

Neben den Regulierungstexten und Gerichtsurteilen werden über Sekundärliteratur die Regulierungen und Reformen in europäischen Staaten und den USA erfasst. Ob Kom- munikation oder Politiktransfer oder -diffusion über Ländergrenzen hinweg stattgefunden hat, lässt sich anhand von öffentlichen Äußerungen der AkteurInnen nachweisen, also in Zeitungsartikeln oder in den Plenarprotokollen. Auch in der Sekundärliteratur wird nach Hinweisen für Kommunikation und Diffusion gesucht. Ausgewählt wurden die europäi- schen Staaten, für die bereits eine Datengrundlage vorhanden ist66, und die USA.

Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polarisierung Werteinstellungen der Gesellschaft und daraus eventuell resultierende Polarisierungen las- sen sich zum einen über Meinungsumfragen feststellen. Nach der Zustimmung zur embry- onalen Stammzellforschung und zur Sterbehilfe wurde unter anderem im European Values Study und diversen deutschen Umfragen (zum Beispiel durch das Institut für Demoskopie Allensbach) gefragt. Zum anderen wird die Gesellschaft ebenso durch die AkteurInnen repräsentiert, die in der Diskursnetzwerkanalyse abgebildet sind. Daher wird über beide Wege versucht, die Einstellungen in der Gesellschaft zu Sterbehilfe und embryonaler Stammzellforschung zu erfassen. In der Diskursanalyse werden dazu auch jene AkteurIn- nen zusammengefasst, welche gesellschaftlichen Organisationen oder anderen, nicht- politischen Organisationen (zum Beispiel der DFG) angehören.

Parteiinteressen und -konfliktlinien Parteiinteressen lassen sich aus Dokumentenanalysen und Sekundärliteraturanalysen fest- stellen. Darin kann, muss aber nicht in vollem Umfang die Haltung zu Sterbehilfe und embryonaler Stammzellforschung festgehalten sein. Daher wird über die Diskursnetzwerk- analyse die Haltung und Begründung der Parteien zu den beiden Themen untersucht. Das bietet den Vorteil, dass innerparteiliche Meinungsunterschiede festgestellt werden können.

Gerichte Insbesondere zur Sterbehilfe hat es in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Urteilen deutscher Gerichtshöfe gegeben. In die Analyse einbezogen werden die Urteile des Bun- desgerichtshofs. Urteile weiterer Gerichte (z. B. von Verwaltungsgerichten) werden aufge- nommen, sofern sie direkten Einfluss auf die Regulierung der Politiken hatten oder in der öffentlichen Debatte registriert wurden. Untersucht wird, ob die Gerichtsurteile den Status quo der Regulierung bestätigen oder liberalere oder restriktivere Urteile gefällt werden.

66 Es wird auf die Daten von Knill et al. (2015c) zurückgegriffen. 115 Kapitel 5

Institutionelle VetospielerInnen Um potenzielle VetospielerInnen zu identifizieren, werden alle AkteurInnen in die Analyse miteinbezogen, welche die rechtliche oder informelle Möglichkeit haben, in den Policy- Zyklus aktiv einzugreifen und die Entscheidung zu beeinflussen bzw. einen Policy-Wandel zu verhindern. AkteurInnen mit den rechtlichen Möglichkeiten sind die klassischen Veto- spielerInnen im politischen System (Gerichte, Bundestag, Bundesrat und Parteikoalitio- nen).

Parteipolitische VetospielerInnen Eine etwaige Entpolitisierung lässt sich in den Bundestagsdokumenten, den Zeitungsarti- keln, der Sekundärliteratur und der Diskursnetzwerkanalyse nachweisen. Entpolitisierung ist dann vorhanden, wenn vormals kontroverse Wertedebatten verschwinden und neue Formulierungen des Konflikts verwendet werden, die einen nicht-wertegeladenen, sondern mehr sachorientierten Charakter haben. Eng damit verbunden ist das Framing von Politi- ken. Dies ist vor allem mit der Diskursnetzwerkanalyse, aber auch durch Dokumentenana- lyse (beispielsweise Plenardebatten, Medienmitteilungen, Parteiprogramme etc.) nachzu- weisen. Venue-Shifting lässt sich aufzeigen, wenn der zentrale Ort der Debatte wechselt bzw. Entscheidungen von der Politik bewusst oder indirekt gesellschaftlichen AkteurInnen oder nachgelagerten politischen Arenen (z. B. dem Nationalen Ethikrat) überlassen wer- den. Gewissensentscheidungen lassen sich durch die entsprechenden Zeitungsmeldungen, durch die Gesetzesanträge, die fraktionsübergreifend formuliert sind und durch die Debatte im Bundestag (Plenarprotokolle) nachweisen.

Gesellschaftliche VetospielerInnen Informelle Möglichkeiten haben gesellschaftliche AkteurInnen bzw. Interessengruppen. Sie können durch starkes Lobbying bei politischen AkteurInnen oder Überzeugungsarbeit in der Gesellschaft einen Policy-Wandel verhindern oder zumindest verlangsamen bzw. abschwächen oder auch beschleunigen. Daher wird mittels Sekundär- und Dokumen- tenanalysen und hauptsächlich der Diskursnetzwerkanalyse untersucht, welche gesell- schaftlichen Interessengruppen sich wie stark in die Debatte eingebracht haben, welche Forderungen sie hatten und mit welchen anderen Gruppen und politischen Entscheidungs- trägerInnen sie Interessenkoalitionen eingegangen sind. In der Diskursanalyse ist die Stär- ke der VetospielerInnen über ihre Zentralität messbar. Je häufiger sich AkteurInnen in den Diskurs einbringen und je mehr KoalitionspartnerInnen sie für ihre Forderungen finden, desto zentraler sind sie in den Netzwerken abgebildet.

116 Forschungsdesign

AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs Koalitionen von AkteurInnen und der von ihnen geführte Diskurs lassen sich auf parlamen- tarischer Ebene über die Parlamentsdokumente, insbesondere die Plenarprotokolle, nach- zeichnen. Ebenfalls geeignet ist die Analyse des öffentlichen Diskurses über die zu Bio- medizinpolitiken veröffentlichten Zeitungsartikel. Durch die systematische und iterative Kategorisierung von Aussagen der AkteurInnen lassen sich Koalitionen aufdecken, die sich jenseits formaler Organisationen zusammenfinden und Frames bzw. Policy-Images zeigen.

Zusammenfassung: Übersicht über die Erwartungen und die verwendeten Quellen Tabelle 5.1 listet die bereits in Abschnitt 4.3 erarbeiteten Erwartungen auf. Zusätzlich sind die in den Fallanalysen verwendeten Quellenarten angegeben.

Tabelle 5.1: Erwartungen und Quellen Nr. Agendasetzung Quellen Problemperzeption 1a Je höher die Problemperzeption bei politischen AkteurInnen, desto zügiger findet die Agendaset- Zeitungsartikel; Plenarproto- zung statt. kolle Bundestag; Sekundärli- 1b Moralische Panik führt zügiger zur Agendaset- teratur zung als akkumulierte Informationen oder Grund- satzprobleme. Historische Erblast Zeitungsartikel; Gesetze; 2 Die historische Erblast hemmt die Agendaset- Plenarprotokolle Bundestag; zung. Sekundärliteratur Externe Einflüsse Internationale Übereinkom- 3 Internationale rechtliche Vorgaben und/oder Po- men; Urteile internationaler licy-Wandel in anderen Staaten beschleunigen die Gerichte; einschlägige Geset- Agendasetzung. ze anderer Staaten (insb. Nachbarstaaten / europäische Staaten); Sekundärliteratur Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polari- sierung 4a Eine abweichende Mehrheitsmeinung der Gesell- Meinungsumfragen; Zei- schaft vom regulativen Status quo beschleunigt tungsartikel; Sekundärlitera- die Agendasetzung. tur 4b Starke gesellschaftliche Polarisierung beschleu- nigt die Agendasetzung. Parteiinteressen und -konfliktlinien Partei-/ Wahlkampfpro- 5a Verläuft die religiös-säkulare Konfliktlinie quer gramme der Parteien; Plenar- durch die Regierungskoalition, dann verlangsamt protokolle; Sekundärliteratur;

117 Kapitel 5

Nr. Agendasetzung Quellen dies die Agendasetzung. Zeitungsartikel 5b Bei latenten Politiken kommt es zügiger zu einer Agendasetzung als bei manifesten Politiken. Gerichte Gerichtsurteile; Sekundärlite- 6 Gerichtsentscheide forcieren die Agendasetzung. ratur Politikentscheidung Quellen Institutionelle VetospielerInnen Plenarprotokolle und Druck- 7 Institutionelle VetospielerInnen bremsen die Poli- sachen Bundestag und Bun- tikentscheidung bei manifesten Politiken mehr als desrat; Zeitungsartikel; Se- bei latenten Politiken. kundärliteratur Parteipolitische VetospielerInnen 8a Religiös-konservative Parteien bremsen liberali- sierende Politikentscheidungen und beschleuni- gen restriktivierende Politikentscheidungen. 8b Säkulare und liberale Parteien beschleunigen Plenarprotokolle und Druck- liberalisierende Politikentscheidungen und brem- sachen Bundestag und Bun- sen restriktivierende Politikentscheidungen. desrat; Partei- und Wahl- 8c Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern kampfprogramme der Partei- gespalten, dann betreiben sie Venue-Shifting. Das en; Zeitungsartikel; Sekun- verlangsamt das Reformtempo. därliteratur 8d Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Reframing oder Gewissensentscheidung. Diese beschleunigen das Reformtempo. Gesellschaftliche VetospielerInnen 9a Die Kirchen bremsen liberalisierende Politikent- Dokumente der Interessen- scheidungen und beschleunigen restriktivierende gruppen (Pressemitteilungen, Politikentscheidungen. weitere Veröffentlichungen); 9b NaturwissenschaftlerInnen, Wirtschaftsvertrete- Zeitungsartikel; Sekundärlite- rInnen und Ärzteschaft beschleunigen liberalisie- ratur rende Politikentscheidungen und bremsen restrik- tivierende Politikentscheidungen. AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs 10 Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoa- Zeitungsartikel; Plenarproto- lition gelingt, das Policy-Image einer Biomedi- kolle Bundestag und Bundes- zinpolitik zu ändern, desto höher ist das Reform- rat; Sekundärliteratur tempo. Quelle: Eigene Darstellung.

5.6 Chancen und Grenzen qualitativer Studien

Qualitativ vergleichende Fallstudien werden auch hin und wieder als „Königsweg der Poli- tikwissenschaft“ (Behrens 2003, S. 210) bezeichnet, da mit ihnen ein quasi- 118 Forschungsdesign experimentelles Design unter konstanten Rahmenbedingungen möglich ist. Ob diese Me- thode nun per se anderen überlegen ist, wie die Königsbezeichnung suggeriert, darf be- zweifelt werden. Allerdings ist sie eine sehr gute Wahl, wenn man Policies detaillierter untersuchen und gleichzeitig zumindest vorsichtige theoretische Gesetzmäßigkeiten formu- lieren möchte, was die kausale Ursache-Wirkungs-Beziehung von Einflussfaktoren und Politikergebnis betrifft. Sie hat, wie alle Methoden, ihre Vor- und Nachteile. Wichtig ist, dass die Methode der Fragestellung angemessen ist und mit Blick auf ihre Möglichkeiten und Restriktionen angewendet wird. Fallanalysen sind nicht nur Informationslieferanten für quantitative variablenorientierte Studien, sondern können ebenso selbst analytische Schlussfolgerungen über kausale Zusammenhänge ziehen, wenn auch auf weniger Fälle bezogen, dafür aber umso fundierter und stichhaltiger. Fallanalysen bieten den Raum für „tiefer gehende Beschreibungen und Interpretation von sozialen und politischen Strukturen und Prozessen“ (Blatter et al. 2007, S. 127). Im Fall der Analyse der Regulierung von Sterbehilfe und embryonaler Stammzellforschung scheint eine qualitative Fallstudie sinn- voll. Zwar gibt es in der Policy-Forschung bereits eine Reihe gut elaborierter Erklärungs- faktoren für den Policy-Wandel. Auf die beiden Themen Sterbehilfe und embryonale Stammzellforschung wurden sie hingegen noch kaum angewendet, insbesondere mit Fokus auf den öffentlichen Diskurs und das Reformtempo (vgl. auch Kapitel 3 zum Forschungs- stand). Die Wahl des Untersuchungsgegenstandes und die Fallauswahl sind gut begründet. Trotzdem bringen sie neben den benannten Vorteilen auch eine Reihe von Nachteilen, die hier kurz erwähnt werden sollen. Ein grundsätzliches Problem bei Studien mit einer gerin- gen Anzahl an Fällen ist deren mangelnde Verallgemeinerbarkeit. Dies ist hier der Fall. Der Fokus auf das Detail und die Konzentration auf zwei Policy-Themen in Deutschland mit dem Ziel, umfangreiche Erkenntnisse zu generieren gehen natürlich zulasten der Gene- ralisierbarkeit und Übertragbarkeit auf andere Themen und Länder. Die Ergebnisse können nicht unreflektiert auf andere deutsche Moralpolitiken und schon gar nicht auf andere Län- der übertragen werden. In letzterem Fall sind die Rahmenbedingungen unter Umständen anders. Die Überprüfung, ob die hier gewonnenen Kenntnisse auf andere Gebiete übertra- gen werden können, kann aber Ziel zukünftiger Studien sein. Dazu dient die Generalisie- rung auf der Theorieebene. Es könnte beispielsweise vermutet werden, dass eine Mehr- heitsdemokratie einen Moralpolitikwandel beschleunigt, da die Mehrheitsverhältnisse zwi- schen konservativen und säkularen Kräften in Parlament und Regierung radikaler wech- seln. In einer stark konservativ-religiös geprägten Gesellschaft wiederum ist eher eine langsame oder keine Liberalisierung zu erwarten. Nichtsdestotrotz kann die Studie als

119 Kapitel 5

Ausgangspunkt und variable Schablone verwendet werden für andere Policy- und Länder- vergleiche. Das Ziel der Diskursnetzwerkanalyse ist es, diejenigen AkteurInnen, Koalitionen und deren Diskursführung zu identifizieren, die Einfluss auf das Regulierungstempo genom- men haben. So sollten Faktoren für den Politikwandel bei der embryonalen Stammzellfor- schung bzw. den Nicht-Politikwandel bei der Sterbehilfe identifiziert werden. Die klassi- sche vergleichende Fallstudie wird mit der Diskursnetzwerkanalyse verknüpft, um den Interessen der einzelnen AkteurInnen und ihrer Koalitionsbildung auf die Spur zu kom- men. Dieses Vorhaben unterliegt natürlich einigen Restriktionen. Die Diskursnetzwerkana- lyse stützt sich auf Artikel der FAZ, also auf öffentlich geäußerte Meinungen. Damit kön- nen aber keine inneren Wertehaltungen der AkteurInnen dokumentiert werden. Ebenso können informelle Absprachen, Koalitionsbildungen etc. nicht unbedingt nachgewiesen werden. Wie stark zum Beispiel die DFG in den Monaten vor der Bundestagsabstimmung auf die Fraktionen zugegangen ist und mit welchen Argumenten sie intern versuchte, die Abgeordneten von einer Liberalisierung zu überzeugen, kann und soll hier nicht abgebildet werden. Das ist auch nicht Ziel der Untersuchung, in der es vor allem um den öffentlich geführten Diskurs geht und darum, wie sich in diesem spätere politische Entscheidungen bereits abzeichneten. Jede Datenreduktion und Konzentration auf bestimmte Aspekte des Datensatzes geht zulasten der Informationsmenge. So könnten im Rahmen der Analyse beispielsweise auch einzelne Personen untersucht oder die Analyse in Sequenzen eingeteilt werden. Doch dies würde sich zum einen weiter von der Fragestellung entfernen und zum anderen den inhalt- lichen wie zeitlichen Rahmen der Studie sprengen. Auch hier lässt sich auf das Potenzial für zukünftige Studien verweisen.

120

6 Fallstudie I – Sterbehilfe

Die Regulierung der Sterbehilfe hat im Untersuchungszeitraum keine grundlegende Ände- rung erfahren. Allerdings gab es im weiteren Sinne mit der Änderung des Betreuungsrech- tes einen Regulierungswandel: Mit der Einführung der Patientenverfügung wurde 2009 ein wesentlicher Schritt bei der Selbstbestimmung von PatientInnen gegangen, der Auswir- kungen auf die praktische Ausgestaltung der passiven Sterbehilfe hat.67 Das vorliegende Kapitel hat einen deskriptiven Schwerpunkt und ist in sechs Ab- schnitte gegliedert. Diese sind nur teilweise chronologisch aufgebaut, um eine thematisch kohärente Beschreibung zu gewährleisten und inhaltliche Doppelungen zu vermeiden. Zu- nächst wird die Historie der Sterbehilfe in Deutschland betrachtet und auf eventuelle histo- rische und politische Erblasten untersucht (6.1). Es wird Blick auf die Regulierungen auf internationaler Ebene und in anderen Staaten geworfen und eruiert, ob und wie weit diese einen externen Einfluss auf die deutsche Regulierung haben (6.2). Die darauffolgenden Abschnitte sind chronologisch aufgebaut und umfassen die Jahre 1990 bis 2014. Der Zeit- raum ist eingeteilt in drei Abschnitte, die sich an der Empirie orientieren: die Entwicklung des Betreuungsrechts von 1990 bis 1998 (Abschnitt 6.3); die Patientenverfügung und die Problematik der organisierten assistierten Sterbehilfe von 1999 bis 2009 (Abschnitt 6.4); sowie die Suche nach einem wirksamen Verbot der organisierten Sterbehilfe von 2010 bis 2014 (Abschnitt 6.5). Jeder dieser Abschnitte 6.3 bis 6.5 ist unterteilt in die dichten Fallbe- schreibungen und die Diskursnetzwerkanalysen. Abschnitt 6.6 fasst die Fallstudie kurz zusammen und legt besonderes Augenmerk auf die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der über- prüften Erwartungen.

67 Zudem wurde 2015 der gewerblich organisierte assistierte Suizid verboten. Da diese Regulierung außerhalb des Untersuchungszeitraums liegt und verfassungsrechtlich umstritten ist, wird darauf in der Analyse nicht eingegan- gen, aber in der Zusammenfassung darauf Bezug genommen. 121 Kapitel 6

6.1 Historisch-politische Erblast

Der Umgang mit dem Tod und mit Sterbewilligen beschäftigt Gesellschaft und Gesetzge- ber bereits seit Jahrhunderten und ist tief verwurzelt in der deutschen Kultur- und Rechts- geschichte. Daher wird in diesem Abschnitt zunächst eine historische Betrachtung vorge- nommen und anschließend die rechtliche Ausgangslage zum Startzeitpunkt des eigentli- chen Untersuchungszeitraums dargestellt.

6.1.1 Historische Betrachtung

Die Selbsttötung und damit die Beihilfe zur Selbsttötung sind seit jeher in Deutschland geächtet gewesen.68 Dieser Status beruht im Wesentlichen auf einer religiösen und einer (rechts-) staatlichen Tradition. Bereits in der Antike wurde der Suizid als „Unrecht an der Gesellschaft“ (Wuktetis 2006, S. 49) angesehen, weil sich der Mensch – damals in erster Linie nicht als Individuum, sondern als dienender Teil seiner Gesellschaft angesehen – mit einem Selbstmord den Verpflichtungen gegenüber seiner Gemeinschaft und seinem Staat unrechtmäßig zu entziehen versuchte (Wuktetis 2006, S. 49-50). Allerdings war der Suizid dann ein legitimes Mittel, wenn angesehenen Mitgliedern der hohen Gesellschaft Leiden erspart werden konnte (Ardelt 2003, S. 424). Aus der Antike stammt der sogenannte hip- pokratische Eid, der die ärztliche Ethik definiert. Er wirkte über die Jahrhunderte als Leit- faden ärztlichen Handelns. Heute wird er zwar nicht mehr wörtlich verwendet, Teile finden sich aber sinngemäß in den ärztlichen Standesregeln wieder (Theuer et al. 2011, S. 17). Aktive Sterbehilfe war und ist demnach explizit verboten. Der Arzt begleitet den Sterben- den, aber er verhilft ihm nicht zum Tod. Ebenso ist in der christlich-jüdischen Tradition die Tötung anderer Menschen verboten. Das ist hauptsächlich festgehalten im sechsten Gebot „Du sollst nicht töten.“69 Dieses Gebot wurde zunächst vom Judentum und später vom Christentum dahin gehend interpretiert, dass die Selbsttötung (mit einigen Ausnahmen) darunter fällt. Dabei wurde im Christentum dieses Verbot im Laufe der Zeit strikter vertre- ten. Nach der christlichen Vorstellung kann allein Gott Leben geben und nehmen. Dem Menschen ist es nicht erlaubt, in dieses göttliche Vorrecht einzugreifen. Diese Haltung hatte zur Folge, dass Selbstmorde (und gescheiterte Selbstmordversuche) geächtet waren und auch bestraft werden konnten (Benzenhöfer 1999, S. 38-46).70

68 Folgende Abschnitte basieren in Teilen auf Preidel und Nebel (2015). 69 Vgl. die Zehn Gebote im Alten Testament, 2. Buch Mose 20:13. 70 Meist ausgenommen von der Ächtung waren Suizide aus heroischen bzw. altruistischen Motiven bzw. als Dienst an der Gesellschaft. 122 Fallstudie I – Sterbehilfe

Mit der fortschreitenden Trennung von Staat und Kirche und der Nationalstaatenbil- dung in Europa änderte sich diese Vorstellung zunächst kaum, und das christliche Ver- ständnis der Ächtung des Selbstmords verankerte sich im Staatsdenken. Ein Selbstmord wurde meist als feige Tat des Suizidenten bzw. der Suizidentin angesehen, um sich aus der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu stehlen (Feldmann 2004, S. 224). Es gab in den zahlreichen kleindeutschen Staaten vor der Reichsgründung bereits Gesetz- und Straf- bücher in unterschiedlich ausgereiftem Ausmaß, welche die Beihilfe zum Selbstmord und teilweise auch den Selbstmord an sich bestraften (zum Beispiel im Allgemeinen Preußi- schen Landrecht, vgl. Fittkau und Gehring 2008, S. 26). Selbstmord als Straftatbestand verschwand im Laufe des 18. Jahrhunderts jedoch aus den meisten Strafgesetzbüchern. Im Zuge der Aufklärung setzte sich nämlich die Einsicht durch, dass eine Selbstmörderin oder ein Selbstmörder und deren bzw. dessen Angehörige nicht mehr bestraft werden müssten. Die Idee, dass Selbstmord zwar moralisch verwerflich sei, aber keiner Bestrafung mehr bedürfe, wurde zunächst in staatsrechtsphilosophischen Schriften verbreitet und schließlich gesetzlich verankert (Holzhauer 2000, S. 27). Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 wurde erstmals für Deutschland ein einheitliches Rechtsgebiet geschaffen. Seit dieser Ver- rechtlichung ist die Sterbehilfe in Deutschland verboten.71 Mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 wurde die Tötung auf Verlangen mit Gefängnis von nicht unter drei Jahren be- straft (§ 216 RStGB). Selbstmord war nicht als Straftatbestand festgehalten, und den Kir- chen wurde 1873 verboten, SuizidentInnen beim Begräbnis zu diskriminieren. Es blieb ihnen aber die Möglichkeit, das übliche Zeremoniell zu verweigern und somit ein stilles Begräbnis vorzunehmen.72 Immer wieder gab es Stimmen, die dafür plädierten, den Selbstmord als selbstbe- stimmte, zu respektierende Entscheidung eines Menschen anzusehen. Viele namhafte Phi- losophen haben sich über die Jahrtausende mit dieser Frage auseinandergesetzt, beispiel- haft seien hier die antiken Denker Platon, Aristoteles und die Stoiker sowie aus dem Eng- land des 16. und 17. Jahrhunderts unter anderem Thomas Morus und Francis Bacon ge- nannt (vgl. dazu ausführlich Benzenhöfer 1999). Auch Vordenker der Kirche, wie Thomas von Aquin, setzten sich mit dem Suizid auseinander (Benzenhöfer 1999, S. 45-46). Mit dem Aufkommen der Eugenik Ende des 19. Jahrhunderts wurden Selbstmord und Sterbehilfe unter einem neuen Gesichtspunkt diskutiert: Primär Rechtswissenschaftle- rInnen und NaturwissenschaftlerInnen trugen zu dieser Debatte bei. Die Eugenik (alt- griechisch eu = ‚gut‘ und genos = ‚Geschlecht‘) war ein theoretisches Konzept von „guten“

71 An dieser grundsätzlichen Strafbarkeit hat sich bis heute nichts geändert (Große-Vehne 2005, S. 3). 72 Preußisches Gesetz über die Grenzen des Rechts zum Gebrauche kirchlicher Straf- und Zuchtmittel vom 13.05.1873. 123 Kapitel 6 und „schlechten“ Erbanlagen, welches zunächst in England populär wurde, aber bald auch in Kontinentaleuropa und weltweit eine breite Anhängerschaft fand. Um 1895 setzte die „Euthanasie“-Debatte im Deutschen Kaiserreich ein. Wurde sie zunächst unter dem Ge- sichtspunkt eines möglichen Rechts auf Selbstmord bzw. Tötung auf Verlangen geführt, wandelte sich die Diskussion nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und in Zeiten des aufkommenden Nationalsozialismus: Nun wurde von der „Vernichtung lebensunwerten Lebens gesprochen“, und was lebensunwert war, wurde durch die Eugenik definiert (Schwartz 1998, S. 620-621). Ziel der BefürworterInnen war es, gute Erbanlagen zu för- dern und schlechte auszumerzen. In Verbindung mit der Vererbungslehre war man der Ansicht, dass die menschliche Rasse von schlechtem Erbmaterial befreit werden müsse. WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen befürworteten die Sterbehilfe aus eugenischen, ökonomischen und selbstbestimmenden Gründen (Schwartz 1998). Praktisch setzte sich diese Idee vielfältig um, zum Beispiel in der Unterdrückung indigener Völker und der menschenunwürdigen Behandlung schwacher, körperlich und vor allem geistig kranker Menschen. Die Zulassung der Sterbehilfe wurde als ein humaner Akt gerechtfer- tigt, der nicht nur den unheilbar Kranken, sondern auch der gesamten Gesellschaft zugute- kommen sollte. So sollte der Wohlfahrtsstaat von den ihn finanziell belastenden Existenzen befreit werden (Große-Vehne 2005, S. 25-29; Woellert und Schmiedebach 2008, S. 16). Weltweit fielen unzählige Menschen dieser Vorstellung zum Opfer. Doch nirgendwo wur- de die Idee der Entledigung „minderwertigen“ Lebens so konsequent umgesetzt wie im nationalsozialistischen Deutschland. Im Dritten Reich wurde zunächst berechnet, was ein „Krüppel“ oder „Erbgeschädigter“ die Gemeinschaft kosten würde. Dann begann man, die „Schwachen auszumerzen“, um die „Erbgesundheit“ des deutschen Volkes und dessen Geldbeutel zu schützen (Sörries 2015, S. 41). Allein dem unter dem euphemistischen Denkmantel der „Euthanasie“ durchgeführten T4-Programm fielen schätzungsweise 70.000 psychisch und physisch beeinträchtigte Menschen zum Opfer (Fittkau und Gehring 2008; Husemann 2015). Insgesamt geht man schätzungsweise von 250.000 Menschen aus, die während der NS-Zeit auf diese Weise gezielt getötet wurden (Woellert und Schmiede- bach 2008, S. 16). Diese Taten prägten die Diskussion und Handhabung der Sterbehilfe in der Bundes- republik Deutschland nachhaltig. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb mit dem fortgesetzten Strafgesetzbuch das Verbot der Sterbehilfe bzw. der Tötung auf Verlangen weiterhin be- stehen. Passive Sterbehilfe und der assistierte Suizid wurden indirekt unter Strafe gestellt (siehe Abschnitt 6.1.2).

124 Fallstudie I – Sterbehilfe

An diesem Rechtszustand wurde zunächst nicht gerüttelt. Aufgrund der nationalsozi- alistischen Vergangenheit wurden das Thema und das Vokabular tabuisiert (Fittkau und Gehring 2008, S. 29; Große-Vehne 2005, S. 182). „Auf dem Konstanzer Juristentag 1947 wird gefordert, über eine ‚echte Euthanasie’ sei nie wieder zu diskutieren“ (Gehring 2014, S. 3). Zu einer ersten Diskussion über juristische Fachkreise hinaus kam es erst um 1980. Die Debatte konzentrierte sich zunächst auf die passive Sterbehilfe und wurde im Wesent- lichen durch die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“ und ihre Vorsitzenden Hans Hennig Atrott und Julius Hackethal vorangetrieben, die eine Legalisierung der Tö- tung auf Verlangen forderten (Fittkau und Gehring 2008, S. 30-31). Durch die Fortschritte in der Intensivmedizin waren ÄrztInnen gehäuft mit der heiklen Situation konfrontiert, unheilbar sterbenskranke PatientInnen mit einer ausgereiften medizinischen Apparatur am Leben erhalten zu können. Da diese PatientInnen oft nicht bei Bewusstsein waren, wussten die ÄrztInnen nicht, ob ihr Vorgehen überhaupt in deren Interesse war. Ein Abschalten der Geräte wäre unter Umständen ein Totschlagdelikt gewesen. Aufgrund dieser rechtlichen Unsicherheit wurden die lebenserhaltenden Apparate selten abgestellt. Da die Politik nicht reagierte und keine eindeutigen Regeln etablierte, definierte 1979 erstmals die Bundesärz- tekammer (1979) Standards für die Anwendung von lebensverlängernden Maßnahmen und sprach sich für ein klares Verbot der Sterbehilfe aus. Diese Standards wurden von der Ärz- teschaft als verbindlich betrachtet. Somit übernahm eine gesellschaftliche Akteurin vom Staat die Aufgabe der detaillierteren Regulierung der Grenzen von Sterbehilfe. 1985 wurde das Thema Sterbehilfe auch zum ersten Mal im Deutschen Bundestag diskutiert: Der Jus- tizausschuss lud zu einer Anhörung von ExpertInnen ein und einigte sich darauf, von einer Reformierung der Sterbehilfepolitik abzusehen (Benzenhöfer 1999). Seit den 1980er Jah- ren fand eine intensivere juristische Diskussion über ein Gesetz zur Regelung der Sterbe- hilfe statt (Fittkau und Gehring 2008, S. 30-31). Die evangelische und die katholische Kirche setzten Mitte der 1980er Jahre eine Ar- beitsgemeinschaft ein, die eine gemeinsame Erklärung zum Schutz des Lebens erarbeitete. Diese wurde 1989 unter dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“ (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 1989) veröffentlicht und dient bis heute als Referenztext der beiden Kirchen in verschiedenen Fragen bezüglich des Lebensschut- zes. Darin stellen die Kirchen fest, dass der Wille des sterbenden Menschen bis zuletzt zu respektieren und auf seinen Wunsch auch der Behandlungsabbruch vorzunehmen sei. Ebenso sei die Leidminderung durch medikamentöse Behandlung gerechtfertigt, selbst wenn dadurch das Risiko eingegangen werde, das Leben durch die Behandlung zu verkür- zen (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 1989). Damit

125 Kapitel 6 bejahen beide Kirchen unter bestimmten Voraussetzungen die passive Sterbehilfe ohne dabei diesen Begriff zu verwenden. Den assistierten Suizid lehnen sie hingegen strikt ab: Ein Christ könne eine Selbsttötung einer Person nur tolerieren, aber nicht verstehen oder gutheißen, denn das Leben sei von Gott gegeben und keiner lebe nur für sich allein. Ein ärztlich assistierter Suizid würde zudem das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt bzw. Ärz- tin und PatientIn zerstören. Vielmehr müsse man eine tröstende Sterbebegleitung anbieten (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 1989).

6.1.2 Rechtliche Ausgangslage 1990

Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar nach § 216 StGB: „Tötung auf Verlan- gen: (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar.“ Der assistierte Suizid ist in Deutschland grundsätzlich straflos. Erforderlich dabei ist, dass der Suizident bzw. die Suizidentin die Tatherrschaft hat, dass er oder sie also die letz- te zum Suizid erforderliche Handlung ausführt. Er oder sie muss sich beispielsweise die tödliche Spritze selbst setzen. Dabei dürfen keine Helferin und kein Helfer aktiv unterstüt- zend tätig werden. Diese Straflosigkeit des assistierten Suizids für die HelferInnen liegt in der limitierten Akzessorietät73 des deutschen Strafrechts. Das bedeutet, dass für eine straf- bare Handlung eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat vorliegen muss, zu der Hilfe geleistet wird. Die Haupttat ist bei einem assistierten Suizid der Selbstmord. Allerdings wird Selbstmord in Deutschland nicht bestraft, es gibt keinen entsprechenden Straftatbe- stand. Auch fällt Selbstmord nicht unter die Tötungsdelikte, da kein anderer Mensch getö- tet wurde (das Tatbestandsmerkmal des anderen Menschen ist eine objektive Vorausset- zung für die Tötungsdelikte gemäß §§ 211 – 216 StGB). Folglich fehlt es an einer vorsätz- lichen und rechtswidrigen Haupttat, es liegt also keine Akzessorietät vor. Damit ist die Beihilfehandlung für die HelferInnen straflos. Letztlich kann es jedoch zu einer Bestrafung nach einem anderen Delikt kommen, denn der oder die Helfende macht sich wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar (§ 323c StGB). Erforderlich dafür ist, dass eine Person in einem Unglücksfall nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich ist und ihr nach den Umständen zuzumuten ist. Dabei wird der Suizid als Unglücksfall gesehen. Wenn der Suizident oder die Suizidentin sich also

73 Akzessorietät (lat. accedere „hinzutreten“) ist ein allgemeiner Rechtsbegriff. Er beschreibt die Abhängigkeit des Bestehens eines Rechtes von dem Bestehen eines anderen Rechts. 126 Fallstudie I – Sterbehilfe umbringen will, dann macht sich diejenige Person nicht strafbar, die ihm oder ihr vorher die tödliche Spritze in die Hand legt. Erst wenn sich der Suizident bzw. die Suizidentin in der Sterbephase befindet und die helfende Person keine Versuche zu ihrer oder seiner Ret- tung unternimmt, macht sie sich wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar. Bei der passiven Sterbehilfe handelt es sich um das Unterlassen oder das Verringern von lebenserhaltenden Maßnahmen. Das ist im deutschen Recht strafbar und fällt unter den Tatbestand der Tötungsdelikte gemäß §§ 211ff. StGB. Aufgrund des § 13 StGB wird es dem Begehen einer Handlung gleichgesetzt, wenn es jemand unterlässt, einen Erfolg ab- zuwenden, sofern er oder sie rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt. Dies bedeutet, dass dem oder der Unterlassenden eine Garantenstellung zukommt, auf- grund deren sie oder er einer Pflicht zum Handeln (eine sogenannte Garantenpflicht) hat. Eine rechtliche Problematik besteht insbesondere da, wo Rechte und Pflichten aufei- nandertreffen. Das ist auch bei den Arztpflichten in Kollision mit Patientenrechten gege- ben. Ein Recht der PatientInnen verwirklicht sich in der Patientenwürde, die wiederum auf dem Grundrecht der Menschenwürde beruht. Nach Art. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar und muss vom Staat geschützt werden. Nach der Objektformel darf der Mensch bei ärztlicher Behandlung nicht zum Objekt degradiert werden und hat einen An- spruch auf die Achtung seiner Würde und damit auf Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf die medizinische Behandlung, die ihn betrifft. Der Wunsch einer Patientin bzw. eines Pati- enten zu sterben beruht auf Art. 2 II 1 GG mit dem Recht auf Leben und körperliche Un- versehrtheit, womit die Patientin bzw. der Patient einen lebensrettenden Eingriff in ihren bzw. seinen Körper verbieten kann. Wird ein solcher Eingriff trotzdem durchgeführt, stellt er eine Körperverletzung da und greift in die körperliche Unversehrtheit ein. Daher gibt es keine entsprechende Pflicht, sich behandeln zu lassen. Die Ärztin bzw. der Arzt hat kein Recht, gegen oder ohne den Willen der PatientInnen eine Behandlung durchzuführen.

6.1.3 Zusammenfassung

In der langen christlichen Geschichte wurde Selbstmord immer als eine Sünde angesehen. Im Zuge der Nationalstaatenbildung übernehmen Staaten diese Sichtweise. Zudem sehen sie sich als Inhaber des Gewaltmonopols, das alleine über Leben und Tod entscheiden darf und jede und jeden seiner BürgerInnen schützt. Dementsprechend hat die Sterbehilfe eine lange Historie der Ablehnung. Durch die Verbrechen während der NS-Zeit wurde Sterbe- hilfe lange Zeit tabuisiert und ihre detailliertere Regulierung der Ärzteschaft überlassen. Während die JuristInnen nach anfänglichem Zögern den Diskurs führten und über Refor-

127 Kapitel 6 men im Sterbehilferecht nachdachten, lehnten die Kirchen, vor allem die katholische Kir- che, eine Liberalisierung strikt ab. Der passiven Sterbehilfe standen sie allerdings positiv gegenüber. Die gesetzliche Ausgangslage war damit 1990 hinsichtlich der aktiven Sterbehilfe strikt und hinsichtlich des assistierten Suizids und der passiven Sterbehilfe uneindeutig. Daher war es für ÄrztInnen schwierig, am Lebensende zum Beispiel über die Abschaltung der lebenserhaltenden Maschinen zu entscheiden. Sie fürchteten sich vor standesrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen, trotz eines eindeutigen Wunsches des Patienten bzw. der Patientin. Eigentlich hätte durch die unklare Rechtslage der Gesetzgeber unter Druck stehen müssen, diese Lücke zu schließen, das Thema also auf die Agenda zu setzen. Wa- rum er dies nicht tat, wird in den nächsten Abschnitten geklärt.

6.2 Externe Einflüsse

Externe Einflüsse auf das deutsche Regulierungstempo können zum einen von internatio- nalen Regimen stammen, die eine direkt bindende Wirkung haben oder eine indirekte nor- mative Vorgabe machen. Zum anderen beeinflussen auch die Regulierungen in anderen Staaten unter Umständen das deutsche Regulierungstempo.

6.2.1 Internationale Regulierungen

Es gibt internationale Übereinkommen, die das Leben des Menschen schützen sollen, allen voran die Menschenrechtscharta der UN und die Menschenrechtskonvention der Europäi- schen Gemeinschaft (EMRK). Daraus lässt sich keine staatliche Verpflichtung einer Hilfe bei der Beendigung des eigenen Lebens ableiten. Im Fall der UN-Charta liegt dies an ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit für die Mitgliedstaaten und der nicht direkten Behandlung des Themas Sterbehilfe. Bei der EMRK wurde die konkrete Auslegung durch verschiedene Gerichtsurteile definiert. Diese Urteile zeugen nicht nur vom europäischen (Rechts-) Ver- ständnis des Freitods und der Beihilfe dazu, sondern haben vermutlich auch direkte oder indirekte Wirkungen auf die deutsche Rechtsprechung. Daher werden die Konvention und diese Urteile kurz vorgestellt. Anschließend wird auf die Bioethik-Konvention und die Empfehlungen des Europarates eingegangen.

128 Fallstudie I – Sterbehilfe

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Die EMRK wurde von den Mitgliedstaaten des Europarates verfasst und trat im September 1953 in Kraft. Sie enthält einen Katalog von Grund- und Menschenrechten, zu dessen Ein- haltung sich die Staaten verpflichten. Wenn eine Person ihre in der EMRK festgelegten Rechte verletzt sieht und alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft hat, kann sie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anrufen. Art. 2 EMRK formuliert das Recht auf Leben. Art. 8 EMRK garantiert die Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen. Dadurch kann der Mensch sein Leben frei gestalten, und diese Freiheit umfasst auch das Recht der Entscheidung über das eigene Leben bzw. Sterben. Vier Klagen vor EGMR sind einschlägig: Haas vs. Schweiz, Pretty vs. das Vereinigte Königreich, Koch vs. Deutschland, und Gross vs. Schweiz.74 Im Fall Haas vs. Schweiz von 2011 handelte es sich um eine Beschwerde eines psy- chisch kranken Mannes, der bei einer Sterbehilfeorganisation um ein tödlich wirkendes verschreibungspflichtiges Mittel gebeten hatte. Das war ihm jedoch verwehrt worden. Er hatte bei der Behörde des betreffenden Kantons sowie beim Bund darum ersucht, das Mit- tel ohne Vorlage einer ärztlichen Verschreibung im Rahmen der Sterbeorganisation bezie- hen zu können. Das Anliegen war verwehrt und dieser Entscheid vom Bundesgericht be- stätigt worden. Der Kläger sah darin eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Allerdings kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ebenfalls zu dem Ergebnis, dass durch die Weigerung der rezeptfreien Abgabe des Mittels die Schweiz nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt hatte. Der Staat muss einer suizidwilligen Person keinen rezeptfreien Zugang zu einem tödlich wirkenden Mittel ermöglichen. Damit wird vom EGMR bestätigt, dass es keinen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Suizid gibt (Bundeskanzleramt Österreich 2011).75 Im Fall Pretty vs. das Vereinigte Königreich (2002) beantragte die Antragstellerin Immunität für ihren Mann für eine zukünftige Handlung. Die Antragstellerin litt unter ei- ner tödlich verlaufenden, qualvollen Motoneuronenerkrankung. Sie wollte sich deshalb das Leben nehmen, war dazu wegen der Krankheit aber nicht mehr selbst in der Lage. Daher sollte ihr Ehemann sie töten. Im Vereinigten Königreich ist die Beihilfe zum Suizid verbo- ten (Suicide Act von 1961). Die Antragstellerin berief sich darauf, dass dieses Verbot unter anderem unvereinbar mit Art. 2 EMRK sei. Der Gerichtshof ist dieser Sichtweise jedoch nicht gefolgt. Im Urteil heißt es, dass die Norm auch die Pflicht umfasse, das Recht auf Leben dadurch sicherzustellen, dass wirksame strafrechtliche Bestimmungen zur Abwen-

74 Für einen weiteren Fall Reed vs. United Kingdom, 04.07.1983, wurde das Urteil nicht veröffentlicht. 75 EGMR, Entscheidung vom 20.01.2011 (Az. 31322/07). 129 Kapitel 6 dung von Straftaten gegen Personen aufgestellt werden, die auch eine entsprechende Straf- verfolgung vorsehen. Demnach lässt sich weder das Recht auf Sterben durch die Hand ei- nes Dritten noch mit Unterstützung einer Behörde aus Art. 2 EMRK ableiten. Eine Verlet- zung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) wurde eben- falls nicht erkannt. Es stehe PatientInnen allerdings offen, eine medizinische, das Leben verlängernde Behandlung abzulehnen, auch wenn dies zum Tode führt, da sonst die Rechte aus Art. 8 § 1 EMRK betroffen wären. Schlussendlich befand das Gericht, dass die Kläge- rin durch die ablehnende nationale Gerichtsentscheidung nicht in ihren Rechten aus der EMRK verletzt werde. Sie kann damit kein Recht auf eine vorherige Zusage geltend ma- chen, wodurch ihr Mann im Rahmen einer Beihilfe zur Selbsttötung Straffreiheit erlangen würde (Otto 2003).76 Im Fall Koch vs. Deutschland von 2012 berief sich der Kläger auf eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 8 ERMK, da das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Me- dizinprodukte sich geweigert hatte, seiner querschnittsgelähmten und auf künstliche Beat- mung angewiesenen Frau die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis des Medika- ments Natrium-Pentobarbital zu erteilen. Das Institut hatte die Abgabe mit der Begründung abgelehnt, eine Selbsttötung sei nicht mit dem Zweck des Betäubungsmittelgesetzes ver- einbar, welcher darin bestehe, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Gegen die Entscheidung wurde Widerspruch eingelegt. Mittlerweile hatte sich die Frau in der Schweiz mithilfe einer Organisation das Leben genommen. Auf das Zurückweisen des Widerspruchs hin erhob der Beschwerdeführer, der Ehemann der Ver- storbenen, erfolglos Klage über mehrere Instanzen. Er brachte das Verfahren vor den EGMR, doch hier fiel das Urteil ebenfalls zu seinen Ungunsten aus. Eine Klageberechti- gung wurde nicht anerkannt. Auch durch diesen Fall gibt es kein Grundsatzurteil im Hin- blick auf das (nicht bestehende) Recht auf Selbsttötung (Bundeskanzleramt Österreich 2012, 2014).77 Im vierten Fall, Gross vs. Schweiz von 2013, hatte die Antragstellerin an einer tödli- chen Krankheit gelitten. Die Abgabe einer Dosis eines tödlich wirkenden Medikaments war von den behandelnden ÄrztInnen und dem Schweizer Gesundheitsamt zurückgewiesen worden. Auf eine Anfechtung hin hatte auch das Schweizer Bundesgericht in letzter In- stanz geurteilt, dass die Weigerung rechtmäßig sei. Vor dem EGMR berief sich die Be- schwerdeführerin auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK, da die Ermöglichung eines schmerzlosen Todes Teil des Rechts auf Privatleben sei. Der Gerichtshof urteilte, dass das

76 EGMR, Entscheidung vom 29.04.2002 (Az. 2346/02). 77 EGMR, Entscheidung vom 19.07.2012 (Az. 467/09). 130 Fallstudie I – Sterbehilfe

Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung ein Grundprinzip sei, auf dem das Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK fußt. Dass die Schweiz keine klare Richtlinie zur Medika- mentenabgabe habe, führe letztendlich zur Verletzung des Art. 8 EMRK. Allerdings wurde nochmals betont, dass dieser Artikel kein Recht auf die Hilfe zur Selbsttötung beinhaltet (Bundeskanzleramt Österreich 2014).78 Welchen Einfluss haben die EMRK und die entsprechenden Urteile durch den EGMR auf die nationale Ausgestaltung der Sterbehilfe? Im Fall der passiven Sterbehilfe steht die EMRK nicht gegen den Wunsch nach Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen. Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) gilt nicht absolut, sondern muss mit anderen, in der EMRK verankerten Rechten abgewogen werden. Insbesondere Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) spielt hier eine Rolle. Im Sterben liegende Men- schen können sich für passive Sterbehilfe entscheiden, da sie einen Anspruch auf Ent- scheidungs- und Willensautonomie haben (Meyer-Ladewig 2011). Ein Recht auf assistier- ten Suizid wurde, wie die obigen Urteile zeigen, mehrmals durch den EMGR verneint. Es stützte damit die nationale Rechtsprechung.

Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin Das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (die sogenannte Bioethik- Konvention) vom November 1996 trat im Dezember 1999 in Kraft.79 Bis 2015 war es von 29 Staaten ratifiziert worden. Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europa- rates, mit dem die EMRK für den Bereich Biologie und Medizin weiterentwickelt wurde. Im Bereich der Biomedizin regelt sie einen Mindeststandard zum Schutz der Menschen- würde und der Menschenrechte in Europa sowie deren Sicherstellung. Art. 5 (Allgemeine Regel betreffend Einwilligung) und Art. 9 (zu einem früheren Zeitpunkt geäußerte Wün- sche) wahren den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts jedes einzelnen Menschen. Sie stärken dadurch das Recht der Patientin oder des Patienten, ihre bzw. seine Behandlungs- wünsche im Sinne einer Patientenverfügung zu äußern und die ÄrztInnen daran zu binden. Allerdings wird dieses Recht in der Bioethikkonvention nur sehr allgemein gefasst. Eine direkte Wirkung auf deutsches Recht hat die Konvention auch nicht, Deutschland hat sie nämlich nie ratifiziert (Ammermann 2005).

Empfehlungen des Europarates Der Europarat hatte sich bereits 1976 mit der Problematik von Menschen am Lebensende beschäftigt und ihnen besonderen Schutz zugesprochen. Die Empfehlung von 1999, „Pro-

78 EGMR, Entscheidung vom 14.05.2013 (Az. 67810/10). 79 http://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/164 (aufgerufen am 31.01.2016). 131 Kapitel 6 tection of the Human Rights and Dignity of the Terminally Ill and the Dying“, fasst diesen Schutz konkreter: „Jeder terminal Kranke und Sterbende besitzt ein intrinsisches Recht auf eine adäquate ganzheitliche palliative Behandlung (…). Zwang und Druck auf den Patien- ten auszuüben, wird strikt untersagt“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 334). Die Emp- fehlung weist auf die Patientenverfügung als ein nützliches Instrument hin, gerade wenn die PatientInnen nicht mehr kommunikationsfähig sind. Aktive Sterbehilfe wird strikt ab- gelehnt. Ein Verzicht auf Therapie oder ein Therapieabbruch könne hingegen sogar ange- zeigt sein, um die terminal Kranken nicht unnötig leiden zu lassen (Oduncu und Eisen- menger 2002, S. 334).

6.2.2 Rechtliche Vorgaben in ausgewählten Staaten

Die Rechtsentwicklung in vielen europäischen Staaten ist seit Jahrzehnten deutlich von Stagnation geprägt.80 Nur vereinzelt gibt es Liberalisierungsbewegungen.81 Tabelle 6.1 gibt einen Überblick über die Entwicklung in ausgewählten Staaten seit 1960.

Tabelle 6.1: Europäischer Regulierungstrend (1960 – 2010)

Anmerkungen: Darstellung des Regulierungsniveaus (y-Achse) über den Zeitraum 1960 – 2010 (x- Achse) für den Politikbereich Sterbehilfe. Deutschland (DE) jeweils fett gedruckt. N=16. Abkür- zungen siehe Anhang 11.3. Quelle: Preidel und Nebel (2015, S. 54).

80 Teile dieses Abschnitts beruhen auf Preidel und Nebel (2015) 81 Aus Kapazitätsgründen können nicht alle Staaten untersucht und hier erläutert werden. Mit der hier behandelten Auswahl werden aber diejenigen Länder abgedeckt, die zum einen durch ihren Entwicklungsstand in der Lage sind, Stammzellforschung zu betreiben und deren Rechtsentwicklung von der deutschen Politik wahrgenommen wurde. 132 Fallstudie I – Sterbehilfe

Auf der horizontalen Achse ist der Zeitverlauf in 10-Jahresschritten abgebildet. In den Zei- len befinden sich die verschiedenen Regulierungsansätze: von dem restriktivsten Modell des Totalverbots jeglicher Form von Sterbehilfe, über die Erlaubnis der passiven Sterbehil- fe und des assistierten Suizids bis zur aktiven Sterbehilfe. Die Länder werden jeweils der liberalsten Kategorie zugeordnet. Erlaubt zum Beispiel ein Land die passive Sterbehilfe und den assistierten Suizid, dann wird es in letztere Kategorie eingeordnet. Diese Einord- nung wird auch vorgenommen, wenn das Land passive Sterbehilfe verbietet oder nicht reguliert hat, aber assistierten Suizid erlaubt (Preidel und Nebel 2015, S. 54). Wie in Deutschland existieren auch in anderen Ländern rechtliche Grauzonen: Ver- schiedene Formen der Sterbehilfe sind in den Gesetzestexten nicht explizit reguliert. Diese Lücken werden durch informellere Regulierungen wie ärztliches Standesrecht oder Inter- pretationen der Gesetze gefüllt, welche als herrschende Rechtsmeinung gelten. Diese im- pliziten Regulierungen sind schwer zu erfassen und nicht in ein formales Regulierungsras- ter zu übersetzen. Daher werden hier nur die gesetzlichen Regulierungen berücksichtigt. In den Jahren 1960 bis 1990 gab es kaum eine Rechtsentwicklung im Bereich der Sterbehilfe. 1960 verboten 11 der 16 aufgeführten Staaten jede Form der Sterbehilfe und belegten sie teilweise mit hohen Strafen (Preidel und Knill 2015, S. 87). Neben Deutsch- land waren dies Länder, die über ganz Europa verteilt sind. Darunter sind sowohl katho- lisch geprägte Staaten wie Portugal, Österreich und Italien, als auch eher säkular geprägte Staaten wie Norwegen, Frankreich oder Dänemark. Ein Verstoß konnte in Frankreich de jure sogar die Todesstrafe zur Folge haben. Die passive Sterbehilfe erlaubten lediglich die Niederlande, Irland und Spanien explizit. Dort hatten PatientInnen das Recht, die medizini- sche, lebenserhaltende Behandlung auf eigenen Wunsch abzubrechen. Der assistierte Sui- zid war bereits in der Schweiz und in Schweden erlaubt, in dem skandinavischen Land waren ÄrztInnen allerdings von dieser Erlaubnis ausgenommen (Preidel und Knill 2015). In den 1990er Jahren trat ein langsamer Wandel ein. Dieser war initiiert durch gesamtge- sellschaftliche Veränderungen, die den Individualismus und das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen priorisierten. Zudem führten die Fortschritte in der Intensivmedizin und der demografische Wandel zu einem Druck auf das Gesundheitswesen: Sollten PatientIn- nen um jeden Preis (ethisch wie ökonomisch) am Leben erhalten werden, oder gab es Um- stände unter denen dem expliziten oder mutmaßlichen Willen der PatientInnen entspre- chend die Abschaltung der lebenserhaltenden Geräte angebracht war? Verschiedene Län- der begannen unter dem Eindruck dieser Frage, Rechtssicherheit für PatientInnen, Angehö- rige und ÄrztInnen zu schaffen. Finnland und das Vereinigte Königreich erlaubten in den 1990er Jahren die passive Sterbehilfe. Ihnen folgten in den 2000er Jahren Norwegen,

133 Kapitel 6

Frankreich, Dänemark, Österreich und Deutschland, wobei die Bundesrepublik im Ver- gleich zum internationalen Trend ein Nachzügler mit der Erlaubnis der passiven Sterbehil- fe im Jahr 2009 (Preidel und Knill 2015; Preidel und Nebel 2015) ist. Die Niederlande (2001) und Belgien (2002) gingen einen Schritt weiter und erlaubten die aktive Sterbehilfe. Portugal, Italien und Griechenland halten weiterhin am Totalverbot der Sterbehilfe fest. Deutschlands Nachbarstaaten Schweiz, Niederlande und Belgien sind mit ihren vergleichsweise liberalen Regulierungen und deren gesellschaftlichen Folgen für Deutsch- land von größerer Bedeutung und werden hierzulande in den Diskussionen um die Sterbe- hilfe häufig erwähnt (vgl. Abschnitte 6.3 bis 6.5). In der Schweiz trat 1942 ein neues Straf- recht in Kraft. Dessen Art. 115 besagt: „Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausge- führt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe be- straft.“82 Dies bedeutet umgekehrt, dass eine Hilfe zum Suizid, die nicht selbstsüchtige Gründe hat, nicht bestraft wird. Es ist vermutlich nicht die Absicht des Gesetzgebers gewe- sen, diese Möglichkeit des assistierten Suizids einzuräumen. Diesen Rechtszustand nutzen die bekannten Schweizer Sterbehilfeorganisationen Exit (gegründet 1982) und Dignitas (1998 als Abspaltung von Exit gegründet). Sie verhelfen sterbewilligen SchweizerInnen, im Fall von Dignitas auch AusländerInnen, zum Tod. Für den Zeitraum von 1998 bis 2009 stellte das Schweizer Bundesamt für Statistik einen kontinuierlichen Anstieg der Sterbehil- fe auf ca. 300 Fälle pro Jahr fest (Bundesamt für Statistik Schweiz 2009). Trotz immer wieder aufkommender Diskussionen um diese Organisationen und eine etwaige Änderung des Strafrechts sowie wiederholter kantonaler Abwehrversuche gegenüber den Organisati- onen, hat sich an der grundsätzlichen Erlaubnis bis heute nichts geändert.83 Diese Regulie- rung der Schweiz hat insofern Auswirkungen auf Deutschland, als es Deutsche gibt, die in die Schweiz fahren, um dort die Hilfe von Dignitas in Anspruch zu nehmen (Dignitas 2015). Auch die deutsche Dependance der Dignitas, die 2005 in Hannover eröffnet wurde, wurde in der Öffentlichkeit diskutiert (vgl. z. B. Reuters 2007) und führte zu politischen Abwehrreaktionen zunächst in Niedersachsen, dann auch auf Bundesebene (vgl. Abschnit- te 6.4 und 6.5). Damit hat die Schweizer Regulierung durchaus Einfluss auf die deutsche Debatte um die Sterbehilfe.

82 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21.12.1937 (Stand am 01.01.2015). 83 Siehe dazu die Information des Schweizer Bundesamts für Gesundheit (http://www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/14149/14173/14182/?lang=de, abgerufen am 31.01.2016) und beispielhaft die Entscheidung des Bundesgerichts von 2010 (http://www.polyreg.ch/bgeunpub/Jahr_2010/Entscheide_2C_2010/2C.9__2010.html, abgerufen am 31.01.2016). 134 Fallstudie I – Sterbehilfe

Ähnlich verhält es sich mit der Regulierung in den Niederlanden und Belgien. Bei- de Länder legalisierten 200184 bzw. 200285 die aktive Sterbehilfe. Im Gegensatz zur Schweiz geschahen diese Änderungen aber absichtlich und zumindest in den Niederlanden als Folge einer bereits seit Jahrzehnten informellen immer liberaleren Handhabung der Sterbehilfe in den Krankenhäusern (Khorrami 2003, S. 21). Diese Liberalisierungen haben ihr Echo in der deutschen Gesellschaft und Politik gefunden, die Signalwirkung zweier unmittelbarer Nachbarstaaten war groß (vgl. Diskursnetzwerkanalyse in diesem Kapitel). In Deutschland wird seither mit einer Mischung aus Wohlwollen und ängstlicher Skepsis nach Westen geblickt: Während die eine Seite die Autonomie begrüßt, die den PatientIn- nen zugesprochen wird, ist die andere entsetzt über die staatlich genehmigte Tötung und befürchtet einen Dammbruch hin zur Sterbehilfe auch gegen den Willen der PatientInnen (vgl. Abschnitte 6.3 bis 6.5).86

6.2.3 Zusammenfassung

Zwar ist der Suizid nicht verboten, da es jedem frei steht, von seinem Recht auf Leben kei- nen Gebrauch zu machen. Eine Strafnorm im Hinblick auf den Suizid würde gegen Art. 8 EMRK verstoßen, da der Person das Recht auf Achtung des Privatlebens genommen wer- den würde. Allerdings kann das nicht dazu führen, dass die lebensunwillige Person eine andere um Assistenz beim Suizid bitten darf. Auf das Leben kann im rechtlichen Sinne nicht wirksam verzichtet werden, und jede Form der Suizidbeihilfe gehört nicht zur Pri- vatsphäre der helfenden Person. Deren Handlung verletzt das öffentliche Interesse am Schutz des Lebens. Nach einschlägiger Interpretation der EMRK darf ein Staat den assis- tierten Suizid verbieten und unter Strafe stellen, er muss dies aber nicht tun. Letztlich fällt eine Abwägung der Risiken und der Missbrauchsgefahr in den Ermessensbereich der ein- zelnen Staaten (Candreia und Scholl 2005; Meyer-Ladewig 2011). Art. 2 EMRK enthält das Lebensschutzrecht eines jeden Menschen, wobei Ausnahmen vorgesehen sind, wonach

84 Niederlande: „Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“ vom 10.04.2001. Danach ist der Arzt bzw. die Ärztin von der grundsätzlichen Strafbarkeit der Tötung auf Verlan- gen und der Anstiftung zum Selbstmord ausgenommen, wenn er oder sie eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt. 85 Belgien: „Gesetz die Euthanasie betreffend“ vom 16.05.2002. Danach ist der Arzt oder die Ärztin unter be- stimmten Voraussetzungen von der Strafe wegen Tötung auf Verlangen und Mordes ausgenommen. 86 Drei Fälle sind von geringerer Relevanz, sollen der Vollständigkeit halber aber erwähnt sein: Schweden taucht in deutschen Debatten nicht auf (vgl. die Diskursnetzwerkanalyse), vermutlich deswegen, weil es der Ärzteschaft explizit verboten ist, assistierten Suizid durchzuführen (in der Schweiz sind ÄrztInnen bei den Sterbehilfeorganisa- tionen tätig) und daher keine so umfangreiche Sterbehilfetätigkeit zu verzeichnen ist wie in der Schweiz. Jenseits der europäischen Grenzen haben zwei Bundesstaaten Aufsehen erregt durch die Einführung des assistierten Sui- zids: Im US-Bundesstaat Oregon wurde er 1998 eingeführt, und dies wurde auch in Deutschland wahrgenommen, allerdings in geringerem Umfang als die Geschehnisse in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien diskutiert (vgl. die Diskursnetzwerkanalyse). Dasselbe gilt für Australien: Dort war von 1995 bis 1997 im Northern Territory der assistierte Suizid erlaubt (Rights of the Terminally Ill Act 1995). Das Gesetz wurde 1997 von einem Bundesge- setz wieder aufgehoben. 135 Kapitel 6 eine absichtliche Tötung rechtmäßig ist. Die Aufzählung der Ausnahmen ist jedoch ab- schließend und gestattet in keinem Tatbestand die direkte aktive Sterbehilfe. Nach ein- schlägiger juristischer Interpretation und gerichtlicher Auslegung lässt sich aus dem Le- bensschutzrecht nicht das Recht zu sterben ableiten (Meyer-Ladewig 2011). Die Bioethikkonvention hat keine rechtlich bindende Wirkung und hat damit allen- falls indirekte Wirkung auf Deutschland. Wie die Empfehlung des Europarates unterstützt sie das Selbstbestimmungsrecht der Patientin oder des Patienten und fordert eine adäquate Behandlung bzw. ermöglicht einen Behandlungsverzicht am Lebensende. Die Patienten- verfügung wird dafür als das geeignete Mittel angesehen. Die passive Sterbehilfe wird dadurch anerkannt, die aktive Sterbehilfe hingegen abgelehnt. Auf internationaler Ebene bestand also eine Offenheit gegenüber Patientenverfügungen, passiver Sterbehilfe und Sterbebegleitung, bevor sich diese Ansichten auch in Deutschland verbreitet hatten. Europäische Staaten haben lange Zeit wie Deutschland an der restriktiven Regulie- rung bzw. der Nicht-Regulierung festgehalten. Seit den 2000er Jahren gibt es allerdings einen Trend zur Anerkennung der passiven Sterbehilfe. Besondere internationale Aufmerk- samkeit erreichten die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Nachbarländern Nieder- lande und Belgien und der bereits seit Jahrzehnten mögliche assistierte Suizid in der Schweiz.

6.3 1990 – 1998: Wandel im Betreuungsrecht

Die folgenden Abschnitte des Kapitels beschäftigen sich mit der Sterbehilfe in Deutsch- land. Der erste Teil umfasst die Jahre 1990 bis 1998 und ist unterteilt in die Fallanalyse und die Diskursnetzwerkanalyse.

6.3.1 Dichte Einzelfallanalyse

Nationale und internationale Entwicklungen 1990 wurde der amerikanische Pathologe im Ruhestand, Jack Kevorkian, über die Landes- grenzen hinaus bekannt, weil er wiederholt Sterbewilligen zum Tod verhalf. Zunächst verwendete er eine selbst gebaute Maschine, die durch den Sterbewilligen bedient wurde und eine tödliche Dosis eines Medikamentes spritzte. Die Fälle wurden auch in Deutsch- land in der Presse aufgenommen und diskutiert (dpa 1990). Kevorkian sorgte in den fol- genden Jahren immer wieder für Aufsehen mit seinen Tötungsangeboten und deren Durch- führungen, auf die Anklagen und Freisprüche folgten (Benzenhöfer 1999, S. 147-151). In

136 Fallstudie I – Sterbehilfe den Niederlanden mündete derweil die jahrzehntelange Diskussion über eine offizielle Duldung der aktiven Sterbehilfe 1993 in eine erste Liberalisierung: Aktive Sterbehilfe blieb verboten, allerdings wurde von einer Bestrafung abgesehen, wenn der Arzt oder die Ärztin eine Reihe von Auflagen erfüllte. Damit wurde eine sich seit den 1960er Jahren entwickelnde Praxis teilweise legalisiert (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 327). Im März 1998 wurde bekannt, dass Kevorkian dem 100. Menschen zum Tod verholfen hatte. Nachdem mehrere Verfahren gegen ihn eingestellt worden waren (epd 1998) wurde er schließlich im April 1999 wegen Mordes zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt (AFP/dpa 1999). 1995 erlaubte das Northern Territory (Australien) der Ärzteschaft, aktive Sterbehilfe zu leisten (Rights of the Terminally Ill Act). 1997 verabschiedete Oregon (USA) den „Death with dignity act“, welcher den ärztlich assistierten Suizid legalisierte. Unter dem Eindruck der internationalen Entwicklungen befürchteten die GegnerInnen der Sterbehilfe eine schleichende Liberalisierung auch in Deutschland. Dementsprechend wurden jene Entwicklungen in der deutschen Diskussion reflektiert (Sahm 1997), zumal es ebenfalls hierzulande Stimmen gab, die sich für eine Liberalisierung aussprachen. So erlangten in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Hans Henning Atrott und die von ihm gegründete „Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben“ (DHGS) große Bekanntheit. Atrott wurde angeklagt, weil er Sterbewilligen Zyankali besorgt haben soll. Bis zu seinem endgültigen Austritt aus der DGHS 1997 waren er und sein Tun regelmäßig Thema in der Öffentlich- keit (Nebel 2016). In dieser Zeit oblag die konkrete Grenzziehung zwischen legalen und illegalen ärztli- chen Handlungen der Ärzteschaft: Das ärztliche Standesrecht87 regelt die Berufsausübung im Wesentlichen dezentral in den Bundesländern. Das Selbstverständnis des Arztes bzw. der Ärztin als HeilerIn und nicht als TodbringerIn hat sich in den Berufsordnungen unter- schiedlich strikt niedergeschlagen. Allerdings war der Grundtenor deutschlandweit dersel- be: ÄrztInnen dürfen PatientInnen nicht zum Tode verhelfen, auch nicht auf deren Wunsch hin. Die Bundesärztekammer führte in diesen Jahren eine intensive Diskussion um die ei- genen Leitlinien zur Sterbebegleitung und zum Behandlungsverzicht. 1993 aktualisierte der Vorstand der Bundesärztekammer seine 1979 verabschiedeten Richtlinien. Darin heißt es: „Zu den Pflichten des Arztes, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern, gehört auch, dem Sterbenden bis zu seinem Tode zu helfen. Die Hilfe besteht in Behandlung, Beistand und Pflege (…)“ (Bundesärzte-

87Das ärztliche Standesrecht ist eine Sammlung verschiedener bundesrechtlicher und landesrechtlicher Vorschrif- ten. Während bundesweite Regelungen zum Beispiel für den Berufszugang gelten, wird die Berufsausübung we- sentlich durch das Landesrecht bestimmt (Ries et al. 2007, S. 79). 137 Kapitel 6 kammer 1993, S. 2404). Lebensverlängernde Maßnahmen dürften abgebrochen werden, wenn der Sterbende unverhältnismäßig leiden müsse und der Tod sowieso mit Sicherheit eintreten werde. Eine gezielte Lebensverkürzung, auch auf Verlangen der Patientin oder des Patienten, sei bei Strafandrohung verboten. Eine Unterstützung bei einer Selbsttötung sei „unärztlich“ (Bundesärztekammer 1993, S. 2404). 1994 wurde die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) gegründet. Sie „steht für die interdisziplinäre und multiprofessionelle Vernetzung aller in der Palliativme- dizin Tätigen: Knapp 60 Prozent der 5.200 DGP-Mitglieder [Stand: 2015, Anm. d. Verf.] kommen aus der Medizin, 30 Prozent aus der Pflege und über zehn Prozent aus weiteren in der Palliativversorgung tätigen Berufsgruppen“ (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedi- zin 2015). Das Anliegen der Fachgesellschaft ist die interdisziplinäre Förderung der Fort- entwicklung der Palliativmedizin. Bereits 1998 wurden die Richtlinien der Bundesärztekammer wiederum aktualisiert. Oduncu und Eisenmenger (2002, S. 333) vermuten darin eine Reaktion auf ausländische Entwicklungen (unter anderem die Euthanasiepraxis in den Niederlanden) und zwei Urteile des Bundesgerichtshofes von 1994 und 1996. In den Richtlinien wurde die Sterbehilfe strikt abgelehnt. Aber es wurde anerkannt, dass es medizinische Situationen geben könne, in denen lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr angebracht seien; dann solle aber kein vollständiger Behandlungsabbruch erfolgen, sondern palliativmedizinische Therapieziele sollten angestrebt werden. Eine Basisbetreuung wurde festgeschrieben, um jeder Patientin und jedem Patienten in jedem Gesundheitsstadium eine adäquate, menschenwürdige Be- handlung zukommen zu lassen. Zudem wurde das Selbstbestimmungsrecht der PatientIn- nen nun deutlich betont. Es fand eine Abkehr vom paternalistischen Arztverständnis statt (Beleites 1998). In den 1990er Jahren flammte immer wieder die Diskussion um die Thesen des aust- ralischen Philosophen Peter Singer auf. Er beschäftigte sich in seinen Schriften unter ande- rem mit der Sterbehilfe und diskutierte lebenswertes und lebensunwertes Leben. 1989 ver- trat er auf einem Symposium die Auffassung, dass schwerstgeschädigte Neugeborene getö- tet werden dürften. Daraufhin ergab sich in Deutschland eine hitzige Diskussion, in deren Verlauf es auch zu unabsichtlichen wie absichtlichen Fehlinterpretationen seiner Aussagen kam. Singer wurde eine nationalsozialistische Argumentation vorgeworfen (Ach und Run- tenberg 2002, S. 181-182).

138 Fallstudie I – Sterbehilfe

Im ALLBUS88 von 1990 wurde erstmals nach der Einstellung zum ärztlich assistier- ten Suizid gefragt. Dass ein Arzt oder eine Ärztin unheilbar kranken PatientInnen auf deren Wunsch hin ein tödliches Gift gibt, fanden 30,6 Prozent der Befragten schlimm oder sehr schlimm; 69,4 Prozent fanden es weniger schlimm oder überhaupt nicht schlimm. Für ein gesetzliches Verbot einer solchen Handlung sprachen sich 33,4 Prozent aus, 66,6 Prozent waren gegen ein gesetzliches Verbot.

Nationale Gerichtsentscheide Im Mai 1991 verurteilte der Bundesgerichtshof eine Fachschwester wegen Totschlags, Tötung auf Verlangen, fahrlässiger Tötung und versuchten Totschlags zu elf Jahren Frei- heitsstrafe. Die Angeklagte hatte schwerstkranken PatientInnen heimlich tödliche Injektio- nen verabreicht. Das Gericht befand: „Auch bei aussichtsloser Prognose darf Sterbehilfe nicht durch gezieltes Töten, sondern nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maß- nahmen geleistet werden, um dem Sterben – gegebenenfalls unter wirksamer Schmerz- medikation – seinen natürlichen, der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen.“89 Der BHG machte deutlich, dass für eine ärztliche Behandlung bzw. den Abbruch einer Behandlung der erklärte oder mutmaßliche Patientenwille entscheidend sei. In einem weiteren Urteil, welches unter anderem die Patientenrechte berührte, hob der Bundesgerichtshof 1994 ein Urteil des Landgerichts Kempten auf. Dieses hatte einen Arzt und den Sohn einer 70-jährigen Patientin wegen des versuchten Totschlags der Frau zu Geldstrafen verurteilt. Die Gesundheit der Frau war durch einen Herzstillstand schwerst in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie war nicht mehr ansprechbar, geh- und stehunfähig und reagierte nur noch sehr eingeschränkt auf Umweltreize. Die beiden Männer hatten das Personal des Pflegeheims angewiesen, die künstliche Ernährung einzustellen und nur noch Tee zuzuführen, auf dass die Frau ohne Schmerzen sterben würde. Die vom Landgericht Kempten verurteilten Männer legten beim Bundesgerichtshof Revision ein. In den Leitsät- zen hielt der Bundesgerichtshof fest: Auch wenn die Richtlinien für eine Sterbehilfe nicht vorliegen, das heißt die Patientin oder der Patient sich durch den Behandlungsabbruch nicht unmittelbar im Sterbevorgang befindet, kann ein solcher trotzdem zulässig sein. Maßgeblich ist vielmehr der mutmaßliche Wille des Patienten bzw. der Patientin. An die- sen Willen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Dabei ist abzustellen auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, religiöse Überzeugungen, sonstige persönliche

88 ALLBUS 1980-2012: Variable Report, Codebuch, S. 1063, 1076, https://dbk.gesis.org/DBKSearch/download.asp?db=D&id=56577 (abgerufen am 15.11.2015). 89 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 08.05.1991 (3 StR 467/90, Leitsatz, Abs. 2). 139 Kapitel 6

Wertvorstellungen, altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen. Kann dadurch kein individueller mutmaßlicher Wille festgestellt werden, wird auf eine allgemeine Wertvorstellung abgestellt. Im Zweifel hat der Schutz des menschlichen Le- bens Vorrang.90 Mit diesem Urteil stärkte der Bundesgerichtshof erneut den PatientInnen- willen und definierte die Umstände, unter denen passive Sterbehilfe erlaubt ist, auch wenn der Tod der Patientin bzw. des Patienten nicht unmittelbar bevorsteht. Dieses Urteil eröff- nete die Möglichkeit einer persönlichen Festlegung medizinischer Behandlungen und war ein Grundstein für die spätere Installierung der Patientenverfügung. In einem weiteren Urteil des Bundesgerichtshofs von 1996 zu einem Revisionsver- fahren gegen eine Ärztin und einen Arzt ging der Bundesgerichtshof auf die grundsätzliche Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit von Medikamenteneinsatz ein: „Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patienten- willen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, dass sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann.“91 Weiter befand das Gericht: „Die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen (…) ist ein hö- herwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungs- schmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen.“92 Mit dieser Urteilsbegründung stärk- te das Gericht wiederum den PatientInnenwillen und sorgte auch für mehr Rechtssicherheit für ÄrztInnen.93 Im Juli 1998 urteilte das Frankfurter Oberlandesgericht, dass Vormundschaftsgerich- te passive Sterbehilfe bei KomapatientInnen anordnen dürfen. Dies sei zulässig, wenn es deren mutmaßlichem Willen entspreche und eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht mehr zu erwarten sei.94

Politische Entwicklungen und Rechtsentwicklung Ab 1989 wurde auf Bundesebene über einen Entwurf eines Gesetzes zur Betreuung Voll- jähriger verhandelt. Federführend stammte der Entwurf aus dem Justizministerium, dessen Minister Hans A. Engelhard (FDP) der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung unter Bundes- kanzler Helmut Kohl (CDU/CSU) angehörte.95 Das Gesetz hatte mit der Regulierung von

90 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.09.1994 (1 StR 357/94). 91 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.11.1996 (3 StR 79/96, Leitsatz, 2. Abs). 92 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.11.1996 (3 StR 79/96, Gründe, S. 5). 93 Denn so wurde die indirekte Sterbehilfe (die Inkaufnahme eines früher eintretenden, aber nicht beabsichtigten Todes durch Schmerzlinderungsmedikation) unter bestimmten Umständen erlaubt. 94 Oberlandesgericht Frankfurt a. M., Beschluss vom 15.07.1998 (Az. 3Z BR 90/9). 95 BR Drs. 59/89, 01.02.1989. 140 Fallstudie I – Sterbehilfe

Sterbehilfe nicht unmittelbar etwas zu tun. Allerdings ersetzte es die ehemals rigide Ent- mündigung, Vormundschaft oder Pflegschaft von geistig oder körperlich Behinderten durch das flexiblere Rechtsinstitut der Betreuung. Damit wurden die betreffenden Personen individueller behandelt und behielten länger ihre rechtliche Unabhängigkeit. Das war der Beginn einer rechtlichen Entwicklung, die 2009 schließlich in die Einführung der Patien- tenverfügung mündete. Daher war diese Gesetzgebung von Anfang der 1990er Jahre von Bedeutung als erster Schritt zu mehr PatientInnenautonomie. Der Abgeordnete Stark (CDU/CSU) sprach im Bundestag von einer wichtigen Reform, welche die Wahrung der Menschenwürde und des Selbstbewusstseins psychisch kranker oder altersbehinderter Mit- bürgerInnen sichern solle.96 Der Bundestag stimmte dem Betreuungsgesetz mit den Stim- men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen zu.97 Die Grünen vo- tierten gegen das Gesetz, da es ihnen in Bezug auf die Sicherung der individuellen Rechte der betreuten Personen nicht weit genug ging. Das Gesetz trat zum 1. Januar 1992 in Kraft. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde im Bundestag über eine Novellierung des Betreu- ungsrechts nachgedacht. Der Entwurf der christdemokratisch-liberalen Bundesregierung sah hauptsächlich Verbesserungen und Ergänzungen in der Vergütung und der Aufga- bendefinition der BetreuerInnen und in der Kostenbeisteuerung vor. Zentraler Gegenstand des Änderungsvorschlags, der federführend aus dem Justizministerium (FDP) stammte, war die Verbesserung des Schutzes der Betroffenen bei Erteilung einer Vorsorgevollmacht. Hier wurde ebenfalls kein direkter oder indirekter Bezug auf die Sterbehilfe genommen. Allerdings wurde auch durch diese Änderungen der PatientInnenwille ein Stück weit ge- stärkt. Die Beratungen fanden 1997 und 1998 statt. Rainer Funke (FDP, Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium) verlangte, dass das Gesetz nun mit der Erfahrung der letzten Jahre verbessert werden müsse, um Verfahrensschwierigkeiten zu beseitigen. Zu- dem sei angesichts knapperer finanzieller Mittel bei gleichzeitig durch den demografischen Wandel steigender Zahl von Betroffenen das Betreuungsrecht anzupassen, um es in der Praxis funktionsfähig zu halten.98 Die Opposition kritisierte die vorgeschlagenen Änderun- gen in mehreren Punkten, zum Beispiel, dass sie angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft nicht weit genug gingen.99 Mit den Stimmen der Regierungsparteien (CDU/CSU und FDP) und gegen die Stimmen der Opposition (SPD, Grüne und PDS) wurde das Gesetz am 3. April 1998 verabschiedet100 und trat zum 1. Januar 1999 in Kraft.

96 BT PlPr. 11/206, 25.04.1990, S. 16135. 97 BT PlPr. 11/206, 25.04.1990, S. 16149. 98 BT PlPr. 13/163, 13.03.1997, S. 14683. 99 Zweite und dritte Beratung: BT PlPr. 13/228, 03.04.1998, S. 20957 - 20966. 100 BT PlPr. 13/228, 03.04.1998. 141 Kapitel 6

6.3.2 Diskursnetzwerkanalyse

In den Jahren 1990 bis 1998 wurde in 174 Zeitungsartikeln der FAZ Sterbehilfe direkt thematisiert. In diesen Zeitungsartikeln konnten 94 Aussagen von AkteurInnen zur Sterbe- hilfe kodiert werden. In Abbildung 6.1 wird die zeitliche Verteilung der Zeitungsartikel (gestrichelte Linie) und der Aussagen (durchgezogene Linie) abgebildet. Dies macht nur rund acht Prozent aller Aussagen im Untersuchungszeitraum 1990 bis 2014 aus. Das ent- spricht der Fallanalyse, in der gezeigt wurde, dass in diesen Jahren die Sterbehilfe wenig Raum in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion einnahm. Die Gesetzgebung zum Betreuungsrecht streifte das Thema Sterbehilfe kaum. Die geringere Anzahl an Aus- sagen im Verhältnis zu den Zeitungsartikeln zeigt auch, dass über die Sterbehilfe zwar ver- einzelt berichtet wurde, sich aber wenige AkteurInnen dazu geäußert haben. Mitte 1996 und Mitte 1998 gab es einen kleinen Anstieg bei den Aussagen, als die Liberalisierung in Australien thematisiert wurde und sich die Bundesärztekammer mit der Sterbehilfe ausei- nandersetzte.

Abbildung 6.1: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (1990 – 1998)

16 14 12 10 8 6 4 2 0 1990-1 1990-5 1990-9 1991-1 1991-5 1991-9 1992-1 1992-5 1992-9 1993-1 1993-5 1993-9 1994-1 1994-5 1994-9 1995-1 1995-5 1995-9 1996-1 1996-5 1996-9 1997-1 1997-5 1997-9 1998-1 1998-5 1998-9

Aussagen Zeitungsartikel Anmerkungen: 174 Zeitungsartikel, 94 Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Aussagekategorien Wie in Kapitel 5 zum Forschungsdesign erläutert, wurden alle Aussagen schrittweise zu zehn Kategorien zusammengefasst. Bei einem Teil dieser Aussagen wurde eine Begrün- dung genannt, diese wurde ebenfalls kodiert. Die Struktur ergab sich im Laufe der Markie- rung und Kodierung und unterscheidet sich insofern von derjenigen bei der embryonalen

142 Fallstudie I – Sterbehilfe

Stammzellforschung, als dass sich die Sterbehilfe in die aktive Sterbehilfe, die passive Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid untergliedert und zudem auch noch andere Themenkomplexe wie die Patientenverfügung, die Sterbebegleitung und der organisierte assistierte Suizid zur Sprache kamen. In Tabelle 6.2 sind diese Kategorien der Forderungen und in Tabelle 6.3 die Kategorien der Begründungen aufgelistet. Zum besseren Verständ- nis sind jeweils eine zweite Spalte mit einer detaillierteren Beschreibung der Forderung bzw. der Begründung und eine dritte Spalte mit einem Aussagebeispiel und der daraus re- sultierenden Kodierung angefügt. Forderungen können Zustimmung oder Ablehnung er- fahren. Bei den Begründungen gibt es diese Unterscheidung hingegen nicht. Diese Kodie- rung wurde deshalb gewählt, damit die daraus resultierenden Abbildungen möglichst intui- tiv zu verstehen sind.

Tabelle 6.2: Aussagekategorien, Forderungen (1990 – 2014)

Forderung Beschreibung Aussagebeispiel und Kodierung ärztlich assistierter Zustimmung oder Ableh- „Weiterhin standesrechtlich untersagt werden Suizid nung des ärztlich assis- solle die Hilfe eines Arztes bei der Selbsttö- tierten Suizids tung“ (FAZ 03.05.2004, S. 8). -> kodiert als Ablehnung des ärztlich assistierten Suizids organisierter assis- Zustimmung oder Ableh- „Justizministerin Heister-Neumann kündigte tierter Suizid nung des gewerblich or- ebenso rasch eine Bundesratsinitiative an, mit ganisierten assistierten der kommerzielle Sterbehilfe unter Strafe ge- Suizids stellt werden sollte“ (FAZ 25.10.2005, S. 4). -> kodiert als Ablehnung des organisierten assis- tierten Suizids Sterbebegleitung Zustimmung oder Ableh- „Wie andere seiner Fachkollegen plädiert er für verbessern nung zum Ausbau von die Verbesserung der palliativen Medizin in Hospizarbeit, Palliativ- Deutschland“ (FAZ 23.10.1996, S. N3). -> medizin, Schmerzthera- kodiert als Zustimmung zur Verbesserung der pie, persönlichem Enga- Sterbebegleitung gement aktive Sterbehilfe Zustimmung oder Ableh- „Die evangelische und die katholische Kirche in nung der aktiven Sterbe- Deutschland lehnen jede Form der aktiven Ster- hilfe behilfe ab“ (FAZ 19.04.1996, S. 6). -> kodiert als Ablehnung der aktiven Sterbehilfe Sterbehilfe gesetz- Zustimmung oder Ableh- „Mit eindrucksvoller Mehrheit hat sich der lich regeln nung der gesetzlichen Deutsche Juristentag daher für eine Reform der Regulierung von Sterbe- strafrechtlichen Regeln für Sterbehilfe und hilfe Sterbebegleitung ausgesprochen“ (FAZ 23.09.2006, S. 43). -> kodiert als Zustimmung zur gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe passive Sterbehilfe Zustimmung oder Ableh- „Wenn vom Patienten nicht ausdrücklich anders nung der passiven Ster- gefordert, ist jegliche intensive Maximalthera- behilfe pie einzustellen. Alles andere wäre Körperver- letzung“ (FAZ 30.08.2004, S. 14). -> kodiert als Zustimmung zur passiven Sterbehilfe

143 Kapitel 6

Forderung Beschreibung Aussagebeispiel und Kodierung Sterbehilfe Allgemeine Äußerung zur „Wissenschaftlicher Fortschritt dürfe nicht für Sterbehilfe ohne nähere therapeutisches Klonen, zur Sterbehilfe oder zur Benennung Verhinderung von Geburten behinderter Kinder genutzt werden“ (FAZ 24.12.2000, S. 1). -> kodiert als Ablehnung der Sterbehilfe Patientenverfügung Zustimmung oder Ableh- „Althoff appelliert auch an junge Menschen, nung der Patientenverfü- derartige Dokumente zu verfassen“ (FAZ gung 28.02.2000, Nr. 49, S. 8). -> kodiert als Zu- stimmung zur Patientenverfügung Patientenverfügung Zustimmung oder Ableh- „Bundespräsident Horst Köhler hat eine klare gesetzlich regeln nung der gesetzlichen gesetzliche Regelung zur Wirksamkeit von Pa- Regulierung der Patien- tientenverfügungen gefordert“ (FAZ tenverfügung 09.10.2005, S. 7). -> kodiert als Zustimmung zur gesetzlichen Regelung der Patientenverfü- gung Patientenverfügung Zustimmung oder Ableh- „Die Enquetekommission will die Patientenver- uneingeschränkt nung der uneingeschränkt fügungen dagegen auf tödlich verlaufende Er- verbindlich gültigen Patientenverfü- krankungen beschränken“ (FAZ 22.03.2005, S. gung 2). -> kodiert als Ablehnung der unbeschränkt verbindlichen Patientenverfügung Anmerkungen: NL = Niederlande; BE = Belgien. Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

Tabelle 6.3: Aussagekategorien, Begründungen (1990 – 2014) Begründung Beschreibung Aussagenbeispiel Akt der Humanität Sterbehilfe ist ein „Euthanasie kann ein Akt der Humanität sein“ menschlicher Akt / ein (FAZ 10.12.2000, S. 8). Akt der Humanität. besser Sterbebe- Sterbebegleitung (Hospiz, „Die Hospizstiftung will unter dem Motto `Weil gleitung Palliativmedizin, Da- Sterben auch Leben ist` dem eilfertigen Ruf Sein, etc.) ist der Sterbe- nach aktiver Sterbehilfe entgegenwirken. Nie- hilfe vorzuziehen. mand müsse Angst vor dem Sterben haben, sagt Geschäftsführer Brysch, wenn Schmerztherapie, Pflege und menschliche Zuwendung zusam- menkämen“ (FAZ 06.06.2000, S. 5). Dammbruch Eine leichte Lockerung „Politiker von Union und Bündnisgrünen be- des Sterbehilfeverbots fürchten einen Dammbruch hin zur Euthanasie“ führt zu einem Damm- (FAZ 02.05.1997, S. 42). bruch und zur Auswei- tung der Sterbehilfe. mit ärztlichen Auf- Die jeweilige Form der „Hoppe wandte sich entschieden dagegen, akti- gaben unvereinbar Sterbehilfe ist unverein- ve Sterbehilfe wie in den Niederlanden zuzulas- bar mit der ärztlichen sen. Eine gezielte Lebensverkürzung sei mit den Aufgabe zu helfen und zu Prinzipien des Arztberufes unvereinbar“ (FAZ heilen. 23.05.2001, S. 1). NL / BE abschre- Die Legalisierung der „Die Deutsche Hospiz-Stiftung hat vor aktiver ckende Beispiele aktiven Sterbehilfe in den Sterbehilfe in Deutschland nach niederländi- Niederlanden und in Bel- schem Vorbild gewarnt. Erfahrungen aus den gien sind abschreckende Niederlanden zeigten, dass es bei 23 Prozent der Beispiele für die Sterbe- Fälle von aktiver Sterbehilfe Komplikationen

144 Fallstudie I – Sterbehilfe

Begründung Beschreibung Aussagenbeispiel hilfeliberalisierung. gebe, teilte die Hospiz-Stiftung am Mittwoch in Dortmund mit“ (FAZ 07.12.2000, S. 4). Recht auf Selbstbe- Jeder Mensch hat ein „Kock sagte weiter, eine solche passive Sterbe- stimmung Recht auf Selbstbestim- hilfe achte die Würde und das Selbstbestim- mung, auch über seinen mungsrecht des Patienten“ (FAZ 03.11.2003, S. Tod. 1). setzt Betroffene Die Legalisierung setzt „Der Anspruch auf Suizidhilfe könnte sich als- unter Druck Betroffene (Alte / Kran- bald in eine vermeintliche Pflicht kehren, um ke) unter Druck, ihren anderen nicht zur Last zu fallen, meinte Hoppe“ Angehörigen / dem Staat (FAZ 25.11.2006, S. 42). nicht länger zur Last zu fallen. unethisch unethisch, unmenschlich, „Wir dürfen nicht über anderes Leben entschei- unchristlich den, selbst wenn es für Außenstehende nicht mehr lebenswert erscheint“ (FAZ 20.04.2004, S. 37). Verbot gegen Men- Verbot der Sterbehilfe „Wir halten es für einen Verstoß gegen die schenwürde verstößt gegen die Men- Menschenwürde, wenn aus dem Schutz mensch- schenwürde. lichen Lebens ein staatlicher Zwang zum Leiden wird“ (FAZ 17.10.2014, S. 1). Verbot unethisch Ein Verbot ist unchrist- „(…) Weltanschauungen dürften nicht der Maß- lich / unmenschlich / stab für staatliche Gesetze sein, heißt es im unethisch. Leitbild, das implizit auch den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften sowie deren gesellschaftlichem Einfluss den Kampf ansagt“ (FAZ 27.11.2014, S. 10). verhindert Schlim- Legalisierung des assis- „Ärztliche Sterbehilfe schütze Betroffene vor meres tierten Suizids verhindert Quacksalbern, Scharlatanen und Geschäftema- durch Beratung Selbsttö- chern, meint auch der rechtspolitische Sprecher tungen und nimmt den der SPD, “ (FAZ 27.08.2014, Druck von der Legalisie- S. 8). rung der aktiven Sterbe- hilfe. Anmerkungen: NL = Niederlande; BE = Belgien. Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

94 Forderungen gab es in den Jahren 1990 bis 1998 (vgl. Abbildung 6.2). Mehr als die Hälfte aller Forderungen betrafen die aktive Sterbehilfe (52 Aussagen, schwarze Säule), die fast ausschließlich abgelehnt wurde (50 Aussagen, hellgraue Säule). Nur 2 Aussagen befürworteten die aktive Sterbehilfe (dunkelgraue Säule). Die passive Sterbehilfe wurde ebenfalls thematisiert (29 Aussagen) und meist befürwortet (23 pro vs. 6 kontra). Folgende Aspekte der Sterbehilfe wurden hingegen kaum thematisiert: Verbesserung der Sterbebe- gleitung, Patientenverfügungen, ärztlich assistierter Suizid und der organisierte assistierte Suizid. Gar nicht im Diskurs erwähnt wurden die gesetzliche Regulierung der Sterbehilfe oder der Patientenverfügung und die Sterbehilfe allgemein. Diese Aussagekategorien wur- den erst in den späteren Untersuchungsjahren verwendet.

145 Kapitel 6

Die hohe Anzahl von Aussagen zur aktiven Sterbehilfe spiegelt die Reaktionen auf die öffentlichkeitswirksamen Taten und Auftritte Kervokians und Singers sowie die Libe- ralisierungen in Oregon und dem Northern Territory wider. Die passive Sterbehilfe wurde vor allem durch die Gerichtsentscheide und die Bundesärztekammer mit der Überarbeitung der entsprechenden Richtlinien thematisiert. Die Ereignisse, welche in der dichten Fallana- lyse identifiziert wurden, zeigen sich also auch in der Netzwerkanalyse.

Abbildung 6.2: Anzahl Forderungen (1990 – 1998)

60 52 50

40 29 23 20

6 5 5 2 3 3 2 1 1 2 2 1 1 0

Summe Zustimmung Ablehnung

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Insgesamt 94 Aussagen; schwarze Säulen = alle Aussagen der Kategorie; dunkelgraue Säulen = Zustimmung zur Kategorie; hellgraue Säulen = Ablehnung der Kategorie. PV = Patientenverfügung; org. ass. = organisierter assistierter. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Gegen die aktive Sterbehilfe brachten die AkteurInnen eine Reihe von Argumenten vor (vgl. Abbildung 6.3). Argumente für die aktive Sterbehilfe wurden nicht vorgetragen. Bei 27 Prozent der Aussagen wurde die Ablehnung damit begründet, dass es sich hier um eine unethische, unmenschliche oder unchristliche Tat handle (im Folgenden und in den Abbil- dungen mit „unethisch“ abgekürzt), weil sie im Endeffekt die Tötung eines Menschen be- deute (hellgrauer Balken). Diese sei weder mit dem Grundgesetz noch der Bibel zu verein- baren. 23 Prozent der Aussagen zur aktiven Sterbehilfe wurden nicht näher begründet (weißer Balken). 19 Prozent lehnten die aktive Sterbehilfe ab, weil sie dazu führe, dass sich potenziell Betroffene von der Gesellschaft, dem Staat oder den nächsten Angehörigen unter Druck gesetzt fühlen könnten, die aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, um niemandem mehr zur Last zu fallen. 15 Prozent setzten anstelle der aktiven Sterbehilfe auf

146 Fallstudie I – Sterbehilfe eine Verbesserung der Sterbebegleitung. Dies umfasste den Ausbau von Hospizen und der Palliativ- bzw. Schmerzmedizin sowie generell mehr Zuwendung zu den Bedürftigen durch die Angehörigen und die Pflege. Bei 14 Prozent der Aussagen wurde eine aktive Sterbehilfe abgelehnt, weil sie mit den ärztlichen Aufgaben unvereinbar sei. 2 Prozent nannten als Grund für die Ablehnung die abschreckenden Beispiele Niederlande und Bel- gien, wo die aktive Sterbehilfe in den 1990er Jahren bereits inoffiziell bzw. durch Ge- richtsurteile weitestgehend legal war (vgl. auch Anhang 11.5).

Abbildung 6.3: Begründungen gegen aktive Sterbehilfe (1990 – 1998, in Prozent)

0 10 20 30 40

unethisch 26.9

ohne 23.1

setzt Betroffene unter Druck 19.2

besser Sterbebegleitung 15.4

mit ärztlichen Aufgabe unvereinbar 13.5

NL und BE abschreckende Beispiele 1.9

Anmerkungen: Insgesamt 52 Aussagen, davon 40 mit Begründung. NL = Niederlande; BE = Belgi- en; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; graue Balken = Begründungen gegen aktive Sterbehilfe. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

In der Kategorie der passiven Sterbehilfe (vgl. Abbildung 6.4) wurde ein Grund für die Zustimmung (dunkelgrauer Balken) und ein Grund für die Ablehnung (hellgrauer Balken) genannt, allerdings wurde bei einer Mehrheit der Aussagen (59 Prozent) keine Begründung genannt (weißer Balken). Bei 24 Prozent wurden die Zustimmung zur passiven Sterbehilfe mit dem Recht einer Jeden bzw. eines Jeden auf Selbstbestimmung begründet (dunkelgrau- er Balken). Es stelle einen zentralen Aspekt der Menschenwürde dar, dass die Menschen am Lebensende selbst darüber bestimmen dürften, ob Therapien fortgeführt oder lebenser- haltende Apparate abgestellt werden. GegnerInnen der passiven Sterbehilfe befürchteten einen Dammbruch (17 Prozent, hellgrauer Balken). Erlaube man erst einmal die scheinbar harmloseste Form der Sterbehilfe, dann würden unweigerlich der assistierte Suizid und schließlich die aktive Sterbehilfe folgen. Zu den weiteren Kategorien wurden keine Be- gründungen für die Zustimmung bzw. Ablehnung genannt.

147 Kapitel 6

Abbildung 6.4: Begründungen für oder gegen passive Sterbehilfe (1990 – 1998, in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60 70

ohne 58.6

Recht auf Selbstbestimmung 24.1

Dammbruch 17.2

Anmerkungen: 29 Aussagen mit Begründung; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dun- kelgrauer Balken = Begründung für passive Sterbehilfe; hellgrauer Balken = Begründung gegen passive Sterbehilfe. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Während bei der aktiven Sterbehilfe Einigkeit in der Ablehnung herrschte, war die Mei- nung bei der passiven Sterbehilfe gespalten, wie die Ablehnung bzw. die Zustimmung und die jeweiligen Begründungen zeigen. Das „Recht auf Selbstbestimmung“ ist dabei grund- sätzlicher Natur, ebenso wie der „Dammbruch“. Zwei fundamentale Werte standen sich hier also gegenüber. In der passiven Sterbehilfe kann man aber nicht von einer Meinungs- polarisierung ausgehen, weil der überwiegende Teil der Äußerungen ohne Begründung gemacht wurde (vgl. auch Anhang 11.5).

AkteurInnen und Familien Welche Gruppen haben sich überhaupt am Diskurs über die Sterbehilfe beteiligt? 17 Ak- teurInnen wurden identifiziert. Abbildung 6.5 gibt die Anzahl ihrer Aussagen wieder und zudem die Anzahl der Zustimmungen und Ablehnungen der Sterbehilfe (umfasst aktive und passive Sterbehilfe und assistierten Suizid). Die Summe aller Aussagen eines Akteurs bzw. einer Akteurin ist mit einer schwarzen Säule wiedergegeben. Diese Summe setzt sich zusammen aus der Anzahl von Aussagen für eine Form der Sterbehilfe (dunkelgraue Säu- len), der Anzahl von Aussagen gegen eine Form der Sterbehilfe (hellgraue Säulen) und anderer unspezifischer Aussagen, die hier nicht abgebildet sind. Am umfangreichsten be- teiligten sich VertreterInnen der Bundesärztekammer und MedizinerInnen mit 38 Aussa- gen im Untersuchungszeitraum 1990 bis 1998. Von diesen Aussagen beschäftigten sich 33 mit den verschiedenen Formen der Sterbehilfe, es gab dazu 10 zustimmende und 23 ableh- nende Aussagen. Es folgten VertreterInnen gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen (10 Aussagen), deren Aussagen für oder gegen die Sterbehilfe sich die Waage halten. Ver- schiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligten sich ebenfalls am Diskurs (9 Aussagen) und hatten eine überwiegend ablehnende Grundhaltung zur Sterbehilfe. Des Weiteren be- 148 Fallstudie I – Sterbehilfe teiligten sich die katholische Kirche (9 Aussagen) und die evangelische Kirche (6 Aussa- gen) an der Diskussion, beide ebenfalls mit überwiegend ablehnenden Aussagen zur Ster- behilfe. Alle anderen AkteurInnen brachten sich in sehr geringem Umfang in die Diskussi- on ein.101

Abbildung 6.5: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (1990 – 1998, absolut) 45 40 38 35 30 25 23 20 15 10 10 9 9 7 7 10 5 6 5 5 5 4 4 3 4 3 3 5 2 1 1 1 1 2 1 2 1 2 1 1 1 1 0

Summe Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen; insgesamt 94 Aus- sagen, davon 24 pro Sterbehilfe, 60 gegen Sterbehilfe, 10 zu anderen Themen; pro/kontra = Aussa- gen für/gegen aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, ärztlich assistierten Suizid oder organisierten assistierten Suizid. Nicht an der Diskussion beteiligt: Enquete-Kommission, Bundespräsident, Na- tionaler Ethikrat/Deutscher Ethikrat, Naturwissenschaften, PDS/Die Linke. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Fasst man diese AkteurInnen zu Familien zusammen (Abbildung 6.6), fällt auf, dass der Diskurs hauptsächlich in der Wissenschaft stattfand, wie die schwarzen Säulen anzeigen (die Darstellung ist analog derjenigen in Abbildung 6.5). Diese machte mit 51 Aussagen mehr als die Hälfte aller Aussagen aus. Davon sprachen sich 30 gegen eine Form der Ster- behilfe (hellgraue Säule) und 15 dafür (dunkelgraue Säule) aus. Die Kirchen und Theolo- gInnen (19 Aussagen) machten die zweitgrößte Gruppe aus, was die Bedeutung der Ster- behilfe für die Kirchen zeigt. In fast allen Aussagen wurde Sterbehilfe abgelehnt. Die Poli- tik (15 Aussagen) und die Gesellschaft (9 Aussagen) haben sich in geringem Umfang in die Debatte eingebracht; auch hier war eine deutliche Mehrheit gegen die Sterbehilfe. Dif- ferenziert man die verschiedenen Sterbehilfeformen, dann zeigt sich, dass überwiegend die aktive Sterbehilfe abgelehnt wurde (vlg. auch Anhang 11.5).

101 Weitere AkteurInnen brachten sich erst im zweiten Untersuchungsabschnitt in den Diskurs ein. Sie sind hier nicht berücksichtigt. 149 Kapitel 6

Abbildung 6.6: Anzahl Aussagen, Familien (1990 – 1998, absolut)

60 51 50 40 30 30 19 20 15 13 15 10 9 7 10 4 3 2 0 Wissenschaft Kirchen&Theologie Politik Gesellschaft

Summe Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe

Anmerkungen: Insgesamt 94 Aussagen, davon 24 pro Sterbehilfe, 60 gegen Sterbehilfe, 10 zu an- deren Themen, hier nicht abgebildet; pro/kontra Sterbehilfe = Aussagen für/gegen aktive Sterbehil- fe, passive Sterbehilfe, ärztlich assistierten Suizid oder organisierten assistierten Suizid. Die Diffe- renz zur Summe stellen Aussagen dar, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet werden. Zusammen- setzung der Familien siehe Anhang 11.7. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Insbesondere die Wissenschaft, darunter die Ärzteschaft, beschäftigte sich mit der Sterbe- hilfe, was in der Novellierung des ärztlichen Standesrechts begründet liegt und der Ausla- gerung der Thematik an nicht-politische Arenen entspricht. Die Kirchen haben sich eben- falls mit der Sterbehilfe beschäftigt, ebenso wie ein kleiner Teil weiterer gesellschaftlicher Gruppen. Die Politik beteiligte sich hingegen kaum an der Diskussion. Dieser Befund deckt sich mit der dichten Fallbeschreibung.

Bezugsnetzwerke Bisher wurde dargestellt, wer sich wie und in welchem Umfang in den Diskurs eingebracht hat. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Argumente welche AkteurInnen beson- ders intensiv genutzt haben und wer hier ähnliche Schwerpunkte setzte, also Koalitionen im Diskurs bildete. Dazu werden nun verschiedene Netzwerke betrachtet (vgl. Abbildung 6.7 bis Abbildung 6.11).102 Zunächst werden die AkteurInnen und ihre Einstellung zu den Aussagekategorien beleuchtet. Das Netzwerk in Abbildung 6.7 zeigt diese Beziehungen auf. Die Rechtecke zeigen die Aussagekategorien, die Ellipsen zeigen die AkteurInnen an.103 Je zentraler die Aussagen und AkteurInnen in der Grafik liegen und je größer die Rechtecke bzw. die El- lipsen sind, desto häufiger haben sich die AkteurInnen geäußert und wurden die Aussage-

102 Dies lässt sich auch in einer Tabelle darstellen. Das ist zwar weniger intuitiv, allerdings sind die Daten ablesbar. Daher findet sich in Anhang 11.5 die entsprechende Datentabelle. 103 Aus Gründen des Platzes und der Übersichtlichkeit wurden diese Formen gewählt und nicht die sonst üblichen Kreise und Quadrate. 150 Fallstudie I – Sterbehilfe kategorien verwendet. AkteurInnen und Kategorien sind mit einer Linie verbunden, wenn diese Kategorien von AkteurInnen verwendet wurden. Je breiter diese Linie, desto relativ häufiger hat der jeweilige Akteur bzw. die jeweilige Akteurin Gebrauch von dieser Kate- gorie gemacht. In dieser Abbildung wird nur die Häufigkeit der Nennung betrachtet, nicht ob diese Kategorie abgelehnt oder ihr zugestimmt wurde.

Abbildung 6.7: Bezugsnetzwerk, komplett (1990 – 1998)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.079. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Die Aussagen zur passiven Sterbehilfe waren im Diskurs zentral, gefolgt von den Aussa- gen zur aktiven Sterbehilfe. Weitere Aussagekategorien (organisierter assistierter Suizid, (verbindliche) Patientenverfügung und ärztlich assistierter Suizid) spielten nur eine unter- geordnete Rolle im Diskurs. Drei Aussagekategorien waren im ersten Zeitraum noch nicht verwendet worden, sie tauchten erst in der zweiten und dritten Periode auf (sie sind außer- halb des Ringes aufgelistet). Ebenso haben sich eine Reihe von AkteurInnen zwischen 1990 und 1998 nicht geäußert; sie brachten sich erst später in die Debatte ein (ebenfalls außerhalb des Ringes aufgelistet). Insbesondere hatten sich VertreterInnen der Bundesärz- tekammer und MedizinerInnen am Diskurs beteiligt. Sie hatten sich mit allen Aussageka- tegorien beschäftigt.

151 Kapitel 6

Alle anderen AkteurInnen hatten sich in geringerem Umfang an der Debatte beteiligt und auch nur bestimmte Aussagen getätigt, so zum Beispiel die katholische Kirche zur Patientenverfügung und der aktiven und passiven Sterbehilfe; VertreterInnen der CDU/CSU und FDP äußerten sich lediglich zur passiven Sterbehilfe, die SPD nur zur akti- ven Sterbehilfe, die Grünen zur passiven und aktiven Sterbehilfe (vgl. auch Anhang 11.5).

Abbildung 6.8: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (1990 – 1998)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.048. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Das Netzwerk stellt der Übersichtlichkeit halber nur Forderungen dar, nicht die Begrün- dungen. Insbesondere die Ärzteschaft und die katholische Kirche begründeten ihre Ableh- nung der aktiven Sterbehilfe. Die Befürchtungen vor einem Dammbruch durch die passive Sterbehilfe stammten aus den Reihen der Grünen und der CDU/CSU. Das Argument des Rechts auf Selbstbestimmung bei der passiven Sterbehilfe nannten hauptsächlich die Ärz- teschaft und die Gesellschaftswissenschaften (vgl. Anhang 11.5). Die Parteien brachten sich nur sehr vereinzelt und auf einzelne Themen bezogen ein, während die anderen Akteu- rInnen sich umfangreicher beteiligten. Die Abbildung 6.7 zeigt an, welche Aussagekategorien die AkteurInnen jeweils be- dient haben, sie bildet aber nicht die Zustimmung oder Ablehnung der jeweiligen Katego-

152 Fallstudie I – Sterbehilfe rie ab. So geht aus der Darstellung zum Beispiel nicht hervor, ob die CDU/CSU eine zu- stimmende oder ablehnende Aussage zur passiven Sterbehilfe gemacht hat.

Abbildung 6.9: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (1990 – 1998)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.042. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Daher zeigen die Abbildung 6.8 und die Abbildung 6.9 jeweils die Zustimmung zur Kate- gorie bzw. deren Ablehnung. Im Vergleich der beiden Netzwerke zeigt sich, dass die pas- sive Sterbehilfe im Zentrum der Zustimmung stand, während die aktive Sterbehilfe stark abgelehnt wurde. Nur aus der Ärzteschaft und aus der Gruppe der Gesellschaftswissen- schaften kamen vereinzelt positive Äußerungen zur aktiven Sterbehilfe. Die passive Ster- behilfe erfuhr lediglich aus den Reihen der Grünen, der CDU/CSU und der Gesellschaft Ablehnung. Wiederum spielten die anderen Aussagekategorien nur eine untergeordnete Rolle. Es gibt im Diskurs keinen wesentlichen Dissens über die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe. Bei der passiven Sterbehilfe überwiegt die Zustimmung deutlich, allerdings ist es erstaunlich, dass sich die CDU/CSU und die Grünen übereinstimmend ablehnend zur passiven Sterbehilfe äußern.

153 Kapitel 6

Netzwerke der AkteurInnen Schließlich können mit Netzwerken auch die Beziehungen und Koalitionen zwischen den AkteurInnen wiedergegeben werden. Abbildung 6.10 zeigt, welche AkteurInnen in einer diskursiven Beziehung stehen, weil sie die gleichen Forderungen stellten. Die Ärzteschaft, bestehend aus der Bundesärztekammer und einzelnen MedizinerInnen, hat hier die meisten Übereinstimmungen mit anderen AkteurInnen gefunden. Sie stimmte primär mit den Ge- sellschaftswissenschaftlerInnen, der katholischen Kirche, der evangelischen Kirche und weitren Stimmen aus der Gesellschaft überein. In der Politik fand sie mit ihren Anliegen ebenfalls Gehör.

Abbildung 6.10: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (1990 – 1998)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.366; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich in Übereinstimmung mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Die Linkdicke gibt die Häufigkeit der übereinstimmenden Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 6.11 zeigt die Konflikte auf. Die AkteurInnen sind also dann verbunden, wenn sie sich bezüglich der verschiedenen Aussagekategorien widersprechen. Hier zeigt sich, dass die Bundesärztekammer bzw. die MedizinerInnen insbesondere mit den Grünen, den Gesellschaftswissenschaften und der CDU/CSU nicht übereinstimmten. Es bestanden zwi- schen der Ärzteschaft und den Gesellschaftswissenschaften eine Reihe von Übereinstim- mungen, aber auch Konflikte. Beide Netzwerke der Abbildung 6.10 und der Abbildung

154 Fallstudie I – Sterbehilfe

6.11 zeigen noch einmal, wie umfangreich die Bundesärztekammer und weitere Medizine- rInnen am Diskurs beteiligt waren. Insgesamt zeigen die bisherigen Analysen, dass der Umfang der Diskussion gering ist. Dies weist darauf hin, dass Sterbehilfe nicht als gravie- rendes Problem von allen AkteurInnen eingeschätzt wurde. Es gab keine Polarisierung über das Thema und keine einflussreiche Gruppierung, die Agendasetzungsambitionen gezeigt hätte. Die Bundesärztekammer nahm sich dieses Themas bereits im Standesrecht an. Die politischen AkteurInnen zeigten keine Anzeichen, an diesem Status quo etwas än- dern zu wollen. Eine Reihe von AkteurInnen konnte mangels Aussagen nicht in dem Dis- kurs verortet werden. Sie jeweils am linken Rand neben dem äußersten Kreis aufgelistet.

Abbildung 6.11: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (1990 – 1998)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.261; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso häufiger habe verschiedene AkteurInnen haben sich in Konflikt mit dem Akteur bzw. Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der konfliktiven Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

6.3.3 Zusammenfassung

Die hitzigen Debatten um den Philosophen Singer zeigen, dass das Thema Sterbehilfe in Deutschland nicht unbelastet diskutiert werden kann. Hier zeigt sich beispielhaft die Pfadabhängigkeit des Nationalsozialismus auf die Haltung zur Sterbehilfe und dem Schutz des Lebens. Die Policy-Wandel in anderen Staaten wurden in Deutschland registriert und

155 Kapitel 6 diskutiert. Hier gab es also externe Einflüsse und zumindest leichten Problemdruck auf den deutschen Umgang mit der Sterbehilfe. Diese Stoßrichtung wurde jedoch durch die histori- sche Belastung der Thematik durch den Nationalsozialismus und die Auslagerung der Ent- scheidung an Dritte ausgebremst. Die Bundesärztekammer war als starke gesellschaftliche Vetospielerin indirekt vom Staat beauftragt, die Sterbehilfe dort durch die Standesregeln zu regulieren, wo der Gesetzgeber uneindeutig geblieben war. Dies stellt ein Venue-Shifting in eine andere Instanz dar. Die Bundesärztekammer sah zunächst keinen gesetzlichen Re- gelungsbedarf, sondern passte ihre Standesregeln bezüglich der passiven Sterbehilfe an. Aktive Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid lehnte sie rigoros ab. Durch ihre starke Rolle als gesellschaftliche Akteurin und Treuhänderin der Politik in Fragen der Sterbehilfe wurde diese Ablehnung von der Politik auch nicht infrage gestellt bzw. lag auf einer Linie mit der Haltung der meisten politischen AkteurInnen. Es gab eine Problem- perzeption hinsichtlich einer Gesellschaft, deren Mitglieder immer älter und gegen Ende ihres Lebens pflegebedürftig werden. Das zeigt sich zum Beispiel in der Gründung der Gesellschaft für Palliativmedizin und der Gesellschaft für humanes Sterben. Beide Organi- sationen boten Hilfe am Lebensende an, allerdings mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Umfragen belegen eine deutlich liberalere Haltung der Gesellschaft in Fragen der Sterbehilfe, als die Regulierung oder der Umgang der Organisationen und der Politik damit vermuten ließen. Eine Polarisierung der Meinungen, die zu einem offenen gesellschaftli- chen Konflikt geführt hätte, zeigen aber weder die dichte Beschreibung allgemein, noch die Umfragedaten im Besonderen auf. Die Gerichtsentscheide wiesen der passiven Sterbehilfe im Rahmen des Selbstbe- stimmungsrechts aller PatientInnen deutliche Gültigkeit zu. Mit ihren Urteilen zeigten die Gerichte wiederholt auf, dass die bestehende gesetzliche Regulierung gravierende Lücken aufwies, welche das ärztliche Standesrecht nicht schließen konnte. Die Politik ignorierte jedoch im ersten Abschnitt des Untersuchungszeitraums die passive Sterbehilfe, obwohl die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels durchaus wahrgenommen wurden, wie sich in den Novellierungen im Betreuungsrecht zeigte. In den Jahren 1990 bis 1998 fällt der Umfang des Diskurses relativ gering aus. Die- ser nahm auch nicht Bezug auf etwaige politische Aktivitäten im Bereich der Sterbehilfe, sondern thematisierte einzelne Aktivitäten von Personen, internationale Regulierungen und die Beschäftigung der Bundesärztekammer mit dem Thema Sterbehilfe. Dementsprechend gering fiel die Beteiligung von politischen AkteurInnen am Diskurs aus. Am umfang- reichsten beteiligten sich WissenschaftlerInnen, und in dieser Gruppe brachten sich die MedizinerInnen und deren Vertretung, die Bundesärztekammer, am stärksten ein. Themati-

156 Fallstudie I – Sterbehilfe siert wurden vor allem die aktive und die passive Sterbehilfe. Erstere wurde aus ethischen Gründen fast unisono abgelehnt, wobei sich vor allem die Bundesärztekammer vehement dagegen aussprach. Die passive Sterbehilfe erfuhr hingegen breite Unterstützung von einer Reihe von AkteurInnen. Entsprechend der Beteiligung bilden die MedizinerInnen das Zentrum des Diskursnetzwerkes. Sie stimmen vor allem mit den Gesellschaftswissenschaf- ten, den Kirchen und weiteren gesellschaftlichen AkteurInnen überein. Mit den Grünen, der CDU/CSU und den Gesellschaftswissenschaften gab es auch eine Reihe von konflikti- ven Aussagen.

6.4 1999 – 2009: Auf dem Weg zur Patientenverfügung

Der zweite Teil der Fallanalyse umfasst die Jahre 1999 bis 2009. Er markiert zum einen den ersten Abschluss der Änderung des Betreuungsrechts. Zum anderen beginnt um die Jahrtausendwende der intensivere Diskurs über die Sterbehilfe. Das Thema rückt zuneh- mend auf die öffentliche und schließlich auf die politische Agenda.

6.4.1 Dichte Einzelfallanalyse

Nationale und internationale Entwicklungen Zunächst schoben die JuristInnen die Diskussion über die Sterbehilfe an. Der 63. Deutsche Juristentag 2000 forderte die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung, die Ärztinnen und Ärzte, Vorsorgebevollmächtigte und BetreuerInnen binden sollte (Jetter 2005). Im Jahr 2001 legalisierten die Niederlande endgültig die aktive Sterbehilfe und damit auch den ärztlich assistierten Suizid, da im niederländischen Recht zwischen diesen beiden Formen nicht unterschieden wird. Die Ärztin bzw. der Arzt darf PatientInnen töten oder ihnen beim Suizid assistieren, wenn diese ihr Ersuchen freiwillig und nach reiflicher Über- legung gestellt haben, ihr Zustand aussichtslos und ihr Leiden unerträglich ist und sie aus- reichend informiert wurden. Mindestens eine weitere unabhängige Ärztin oder ein weiterer unabhängiger Arzt muss hinzugezogen werden. Der Patient oder die Patientin muss min- destens 12 Jahre alt sein (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 327). Ein Jahr später, 2002, legalisierte auch Belgien die aktive Sterbehilfe. Das Gesetz ist liberaler als das niederländi- sche, da die Sterbewilligen nicht einen unmittelbar tödlichen Krankheitsverlauf haben müssen und bei psychischen Leiden Zugang zur Sterbehilfe haben (Oduncu und Eisen- menger 2002, S. 330).

157 Kapitel 6

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin führte 2002 eine Umfrage unter ihren Mitgliedern bezüglich deren Einstellung zur Sterbehilfe durch: 90 Prozent der Befragten lehnten die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, 75 Prozent die Legalisierung des assis- tierten Suizids und 94 Prozent den assistierten Suizid für psychisch Kranke ab. Als wesent- liche Gründe wurden die persönliche Werte, die Erfahrungen mit der Palliativmedizin, das Wissen um alternative Behandlungsmöglichkeiten, die Kenntnis der ethischen Leitlinien und die nationale Regulierung genannt (Müller-Busch et al. 2005, S. 333).104 Die katholische und evangelische Kirche veröffentlichten angesichts der Rechtsent- wicklungen in den Nachbarstaaten und der Debatte in Deutschland über die aktive Sterbe- hilfe 2003 eine gemeinsame Textsammlung kirchlicher Erläuterungen zur aktiven Sterbe- hilfe, um „an die vielen guten Gründe [zu, Anm. d. Verf.] erinnern, die für Sterbebeglei- tung, aber gegen aktive Sterbehilfe sprechen.“ Letztere „ist und bleibt eine ethisch nicht vertretbare, gezielte Tötung eines Menschen in seiner letzten Lebensphase, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt“ (Deutsche Bischofskonfe- renz und Evangelische Kirche in Deutschland 2003, S. 5). Große Aufmerksamkeit über die Landesgrenzen hinaus erlangte das Schicksal der US-Amerikanerin Terri Schiavo. Sie hatte 1990 einen Herzinfarkt erlitten und befand seit- her in einem vegetativen Zustand, den die ÄrztInnen als aussichtslos einstuften. Während ihr Mann die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen wollte und sich dabei auf eine frühere Willensäußerung seiner Frau berief, forderten Schiavos Eltern eine Fortsetzung der Maßnahmen. Der Fall wurde schließlich 2003 vor Gericht entschieden, das eine Abschal- tung der Geräte anordnete. Daraufhin setzte der Gouverneur von Florida ein Gesetz durch, welches die Wiederanschaltung der Geräte veranlasste (Rüb 2003). Nach weiteren erbitter- ten juristischen Auseinandersetzungen starb Terri Schiavo 2005, nachdem die künstliche Ernährung eingestellt worden war. Fast zeitgleich wurde der Fall des Franzosen Vincent Humbert bekannt: Er war nach einem Unfall fast vollständig gelähmt, stumm und blind und bat wiederholt um Sterbehilfe, auch per offenem Brief an den Staatspräsidenten Jac- ques Chirac. In Frankreich waren zu diesem Zeitpunkt aktive und passive Sterbehilfe ver- boten. Vincents Mutter verabreichte ihrem Sohn schließlich eine tödliche Dosis Schlafmit- tel. Sie wurde zunächst verhaftet und dann wieder freigelassen. Vincent Humbert fiel ins Koma, die ÄrztInnen stellten die Geräte ab. Sowohl der Fall Schiavo als auch der Fall Humbert wurde von einer kontroversen öffentlichen Debatte über die Sterbehilfe begleitet (ap 2003).

104 Befragt wurden 411 Mitglieder, Rücklaufquote: 61 % (N=251). 158 Fallstudie I – Sterbehilfe

Im Jahr 2004 aktualisierte die Bundesärztekammer wiederum (nach 1993 und 1998) die Grundsätze zur Sterbebegleitung. Neu aufgenommen oder konkretisiert wurden die Ermittlung und Respektierung des Patientenwillens, die Definition von Gesundheitszu- ständen am Lebensende und palliativ-medizinische Maßnahmen: „Die ärztliche Verpflich- tung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt es Situatio- nen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-medizinische Versorgung in den Vordergrund (…). Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhalten- de Therapien künstlich in die Länge gezogen werden“ (Bundesärztekammer 2004). Aktive Sterbehilfe blieb weiterhin ausdrücklich verboten. Im April 2004 legalisierte Frankreich die passive Sterbehilfe. Unter bestimmten Vo- raussetzungen durften nun lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden. Ab Mitte der 2000er Jahre wurden SterbehilfebefürworterInnen in Deutschland aktiv und forderten so politische Reaktionen heraus. Zwei bundesweit beachtete Fälle waren Dignitas und Roger Kusch. Die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas eröffnete in Hannover 2005 ein Büro. In der Schweiz ist die Organisation neben EXIT dafür bekannt, Sterbewilligen zum Tode zu verhelfen. Dignitas wollte bewusst die deutsche Justiz herausfordern und einen Präzedenzfall schaffen, um den assistierten Suizid in Deutschland durchzusetzen (Reuters 2007). In Reaktion auf die Büroeröffnung strebte das Land Niedersachsen ein Verbot der organisierten Sterbehilfe an. Dignitas Schweiz veröffentlicht jährlich eine Statistik. Darin gibt die Organisation die Anzahl der Freitodbegleitungen an. Seit 1999 gibt es Freitodbe- gleitungen von Personen mit deutschem Wohnsitz. Zunächst war es eine Person pro Jahr. Die Zahl stieg im Laufe der Jahre auf 78 im Jahr 2004 an. Im Jahr der Gründung der deut- schen Dependance wurde der Höhepunkt mit 120 Personen mit deutschem Wohnsitz er- reicht, welche die Freitodbegleitung durch die Organisation in Anspruch genommen hat- ten. In den folgenden Jahren ging diese Zahl zurück und lag 2014 bei 80 (Dignitas 2015). Dass diese Zahlen vergleichsweise gering sind, zeigt ein Blick auf die absolute Anzahl an SuizidentInnen: Im Jahr 2013 waren 1,1 Prozent aller Todesfälle in Deutschland durch Suizid verursacht. In absoluten Zahlen sind das in jenem Jahr 10.076 Todesfälle (Destatis 2014). Neben den Sterbehilfeorganisationen erregten auch die Aktivitäten des Hamburger Justizsenators Roger Kusch (CDU) Aufsehen. Er sprach sich zunächst für die Legalisie- rung der aktiven Sterbehilfe aus und berichtete dann auch von eigener Beihilfe zum Suizid in mehreren Fällen. Kusch trat aus der CDU aus, gründete 2006 eine neue Partei und war in dieser Zeit wiederholt im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit durch seine mehrfa-

159 Kapitel 6 chen Beihilfen zum Suizid. Nach mehreren Fällen assistierten Suizids verbot das Verwal- tungsgericht Hamburg 2009 schließlich diese Aktivitäten (Pergande 2009). Das Verbot stützte sich im Wesentlichen auf den Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz. Zudem befand das Gericht, dass Roger Kusch ein nicht erlaubtes Gewerbe betreibe (da er für die Beihilfe zum Suizid mehrere Tausend Euro verlangte) und seine Tätigkeiten als sozial unwertig und gemeinschaftsschädlich verboten seien.105 Mit der breiteren Wahrnehmung der Sterbehilfeorganisationen und dem Aufsehen um Roger Kusch wurde in der Diskussion nun der ärztlich assistierte Suizid in zwei unter- schiedliche Gruppen aufgeteilt: Der ärztlich assistierte Suizid im Rahmen des üblichen Behandlungsverhältnisses wurde vom organisierten assistierten Suizid unterschieden. Letz- terer konnte, musste aber nicht von einer Ärztin oder einem Arzt durchgeführt werden. Wesentlich war hier der gewerbliche Charakter der Sterbehilfe. 2006 veröffentlichte der Nationale Ethikrat eine Stellungnahme zu „Selbstbestim- mung und Fürsorge am Lebensende“. Darin hielt er die Ergebnisse der Diskussion des Ra- tes über das Sterben und den Umgang der Gesellschaft damit sowie terminologische, straf- rechtliche und ethische Aspekte fest.

„Keine Diskussion über aktive Sterbehilfe in Deutschland kann sich davon frei machen, dass unter der Herrschaft der Nationalsozialisten die Tötung unheilbar kranker Menschen ein politisches Programm war, dem zwischen 1939 und 1941 nahezu 100.000 Menschen zum Opfer fielen (…) kann niemand dem Schatten der deutschen Geschichte bei diesem Thema entrinnen. Das gilt unab- hängig davon, ob man Argumente, die daraus abgeleitet werden, für berechtigt hält oder nicht“ (Nationaler Ethikrat 2006, S. 36-37).

Der Ethikrat empfahl, „die Tötung auf Verlangen für unheilbare Kranke nicht rechtlich zuzulassen“ (Nationaler Ethikrat 2006, S. 92). Auch in Fragen der passiven Sterbehilfe war man sich einig: Jeder habe das Recht, eine medizinische Behandlung abzulehnen. In der Frage des organisierten assistierten Suizids gingen die Meinungen hingegen auseinander: Während ein Teil der Mitglieder diesen strikt ablehnte, sprach sich ein anderer Teil unter bestimmten Voraussetzungen dafür aus (Nationaler Ethikrat 2006). Der 66. Deutsche Juristentag 2006 plädierte mehrheitlich für eine gesetzliche Rege- lung der passiven Sterbehilfe, der Lebensverkürzung als Nebenwirkung der Behandlung (indirekte Sterbehilfe) und für eine Verbindlichkeit der Patientenverfügung. Er forderte eine Klarstellung im Strafgesetzbuch, darüber dass das Unterlassen, Begrenzen oder Been-

105 Hamburger Verwaltungsgericht, Beschluss vom 06.02.2009 (8 E 3301/08). 160 Fallstudie I – Sterbehilfe den lebenserhaltender Maßnahmen unter folgenden Bedingungen eine straflose Behand- lungsbegrenzung sei (passive Sterbehilfe): Es besteht für solche Maßnahmen keine medi- zinische Indikation; die Unterlassung wird von der betroffenen Person ausdrücklich und ernstlich verlangt; die Unterlassung wurde von der einwilligungsunfähigen Person in einer Patientenverfügung für den Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit angeordnet. Lebenserhal- tende Maßnahmen, zum Beispiel das Verwenden einer Sonde, dürften nur mit ausdrückli- cher oder mutmaßlicher Einwilligung erfolgen. Bei freiwilligem Suizid solle die unterlas- sene Hinderung und Hilfeleistung nicht mehr strafbar sein, auch dann nicht, wenn die as- sistierende Person eine Garantenstellung106 habe. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der ärztlichen Suizidbegleitung und die Legalisierung der Tötung auf Verlangen wie in den Niederlanden lehnte der Juristentag hingegen ab (Deutscher Juristentag 2006). 2007 veröffentlichte die Bundesärztekammer zusammen mit ihrer Zentralen Ethik- kommission Empfehlungen an die ÄrztInnen zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. Darin verwies sie auf die Musterberufsord- nung, nach der jede Behandlung unter Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Patientin bzw. des Patienten zu erfolgen habe. „Der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten ist grundsätzlich verbindlich, deshalb dürfen sich Ärzte nicht über die in einer Patientenverfügung enthaltenen Willensäußerungen hinwegsetzen.“ Die ÄrztInnen sollten ihre Patienten, insbesondere Ältere und Menschen mit unheilbaren Leiden, ermutigen, „die künftige medizinische Versorgung mit dem Arzt ihres Vertrauens zu besprechen und ihren Willen zum Ausdruck zu bringen“ (Bundesärztekammer 2007, S. 891-892). Die Bundes- ärztekammer lehnte eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids ab. Sie sah die Tö- tung und auch die Beihilfe zur Selbsttötung als unvereinbar mit den ärztlichen Pflichten an und befürchtete eine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patient bzw. Patientin. Die PatientInnen müssten sich dann darum sorgen, ob ihr Arzt bzw. ihre Ärztin sie heilen wollte oder eine Lebensbeendigung als die bessere Alternative ansehe (Hoppe und Hübner 2009, S. 305). Die evangelische Kirche äußerte sich umfassend zur Diskussion über den ärztlich as- sistierten Suizid. Sie lehnte eine rechtliche Einschränkung der Garantenpflicht des Arztes oder der Ärztin und eine Verankerung des ärztlich assistierten Suizids ab; „jedoch wird der Verantwortungs- und Handlungsspielraum des Arztes im Blick auf die Beurteilung des

106 „Man macht sich strafbar, wenn man durch sein Handeln gegen ein Strafgesetz verstößt. Bei gewissen Tatbe- ständen wird indes das Nichtstun bestraft. Allgemein gilt: Wer nichts unternimmt, um einen vom Gesetz verbote- nen Sachverhalt zu verhindern, macht sich strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Tatbestand nicht eintritt. Diese Verpflichtung zum Tätig-werden wird als Garantenpflicht bezeichnet. Sie kann auf einem Gesetz, einem Vertrag oder einem besonderen Vertrauensverhältnis beruhen“ (rechtslexikon.net, abgerufen am 17.10.2015). 161 Kapitel 6 jeweiligen Einzelfalls unterstrichen“ (Evangelische Kirche in Deutschland 2008, S. 6). Zudem wird vorgeschlagen, den gewerbsmäßig organisierten assistierten Suizid und damit die Sterbehilfeorganisationen gesetzlich zu verbieten (Evangelische Kirche in Deutschland 2008, S. 6). Als das Thema Patientenverfügung ab 2007 im Plenum des Bundestages diskutiert wurde, veröffentlichten die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland Stellungnahmen. Beide begrüßten die Debatte und sahen in der Patientenver- fügung eine wirksame Hilfe für PatientInnen und ÄrztInnen (Deutsche Bischofskonferenz 2007b; Evangelische Kirche in Deutschland 2007a). Die Bischofskonferenz lehnte die Ein- stellung lebensnotwendiger Behandlungen bei WachkomapatientInnen und Dementen strikt ab und hielt dieses Vorgehen für aktive Sterbehilfe (Deutsche Bischofskonferenz 2007b). Die evangelische Kirche wiederum erklärte daraufhin, dass ein Behandlungsver- zicht auf Basis einer Patientenverfügung keine aktive Sterbehilfe sei, sondern ein zulässi- ger Behandlungsabbruch (Locher 2013, S. 327). Hierin waren sich die beiden Kirchen also uneins. In den 2000er Jahren wuchs die Anzahl der Hospiz- und Palliativdienste. Waren es 1996 (Beginn der Erhebung) noch ca. 400 ambulante Dienste, so stieg die Anzahl bis 2007 auf ca. 1400 an. Die Anzahl der stationären Hospize und Palliativstationen wuchs ebenfalls von 1996 (jeweils ca. 25) bis 2007 (jeweils ca. 150) (Deutscher Hospiz- und PalliativVer- band e.V. 2014). Die ambulanten und vor allem die stationären Palliativdienste sind häufig an die deutschlandweit 2000 (Stand: Jahr 2007) Krankenhäuser angeschlossen (Destatis 2015a). Der Vergleich der Anzahl zeigt, dass diese Dienste erst an einem kleinen Teil der Krankenhäuser angeboten wurden. In den Jahren 1999 bis 2009 wurde eine Reihe von Bevölkerungsumfragen zu den verschiedenen Formen der Sterbehilfe durchgeführt. Im ALLBUS107 von 2000 wurde wie- der danach gefragt, wie schlimm der Befragte folgendes Szenario fände: Ein Arzt gibt ei- nem unheilbar kranken Patienten auf dessen Verlangen hin ein tödliches Gift. 32,9 Prozent fänden dies schlimm bzw. sehr schlimm, 67,1 Prozent weniger schlimm bzw. überhaupt nicht schlimm. 26,9 Prozent wollten, dass diese Handlung gesetzlich verboten wird, 73,1 Prozent lehnten ein gesetzliches Verbot ab. Im Vergleich zu den Umfragedaten von 1990 zeigt sich, dass es zwar etwas mehr Befragte waren, die eine solche Handlung schlimm fanden, aber insgesamt weiterhin eine deutliche Mehrheit diese Handlung als weniger bis

107 ALLBUS 1980-2012: Variable Report, Codebuch, S. 1063, 1076, https://dbk.gesis.org/DBKSearch/download.asp?db=D&id=56577 (abgerufen am 15.11.2015). 162 Fallstudie I – Sterbehilfe gar nicht schlimm bewertete. Die deutliche Mehrheit der GegnerInnen eines gesetzlichen Verbots war weiter gewachsen. Auch das Institut für Demoskopie Allensbach führte 2001 eine Umfrage durch. Die Ergebnisse fasste das Institut so zusammen: „Anders als die Sprecher von Ärzteverbänden, Kirchen und Parteien steht jedoch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Forderung, unheilbar schwerstkranken Menschen aktiv Sterbehilfe zu gewähren, positiv gegenüber. 64 Prozent der Westdeutschen und sogar 80 Prozent der Ostdeutschen stimmten (…) dem Standpunkt zu: (…) Ein schwerkranker Patient im Krankenhaus soll das Recht haben, den Tod zu wählen und zu verlangen, dass der Arzt ihm eine todbringende Spritze gibt“ (Insti- tut für Demoskopie Allensbach 2001, S. 1). 19 Prozent der Befragten in West- und 6 Pro- zent in Ostdeutschland lehnten eine solche Forderung ab. Der Aussage „Ich finde, dass Sterbehilfe für schwerkranke Menschen ein guter Weg ist, um sie nicht so leiden zu lassen. Solange ein schwerkranker Mensch noch bei Bewusstsein ist, sollte er selbst entscheiden können, ob er leben oder sterben möchte“ stimmten 60 Prozent der Protestanten, 69 Pro- zent der Katholiken und 80 Prozent der Konfessionslosen bzw. Menschen mit anderem Glauben zu (Institut für Demoskopie Allensbach 2001). Die katholische Bevölkerung war damit mehrheitlich anderer Auffassung als ihre Kirche. Im Jahr 2008 führte das Institut wiederum eine repräsentative Umfrage zu aktiver und passiver Sterbehilfe durch. Die Ergebnisse zeigten, dass 58 Prozent der Befragten die aktive Sterbehilfe befürworteten, wenn der Schwerstkranke ausdrücklich danach verlange. 19 Prozent sprachen sich gegen die aktive Sterbehilfe aus, 23 Prozent konnten sich nicht festlegen. „Dass die Kirchen aktive Sterbehilfe übereinstimmend ablehnen, hat auf die Ein- stellungen unter den Mitgliedern der beiden großen Konfessionsgemeinschaften nur gerin- gen Einfluss. Für 56 Prozent der ProtestantInnen und 50 Prozent der KatholikInnen steht bei der Einstellung zur aktiven Sterbehilfe mehr im Vordergrund, dass Schwerkranke nicht länger leiden sollen, als sie selbst es ertragen können und wollen“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2008, S. 1-2). Auch bei der passiven Sterbehilfe war die Meinungslage eindeu- tig. 72 Prozent der Befragten stimmten zu, dass ÄrztInnen lebensverlängernde Maßnahmen in bestimmten Situationen auf Wunsch der Patientin bzw. des Patienten unterlassen sollten. 11 Prozent lehnten dies ab, 17 Prozent waren unentschieden (Institut für Demoskopie Al- lensbach 2008, S. 8). 2008 befragte das TNS Emnid die Bevölkerung zur Patientenverfügung. 68 Prozent der Befragten waren für die Verbindlichkeit einer solchen Verfügung, 26 Prozent lehnten diese Verbindlichkeit ab, sechs Prozent machten keine Angaben (statista 2008).

163 Kapitel 6

Nationale Gerichtsentscheide Bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom März 2003 in einer Betreuungssache ging es um einen Sohn, der die künstliche Ernährung seines Vaters einstellen wollte. Er berief sich auf eine von seinem Vater unterzeichnete Verfügung. In dieser hatte der Vater festgelegt, dass er unter anderem bei irreversibler Bewusstlosigkeit und schwerster und dauerhafter Schädigung seines Gehirns auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten wolle. Der Bundesgerichtshof befand: Bei einer Krankheit mit tödlichem Verlauf sind le- benserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen zu unterlassen, sofern ein entsprechender Wille der (zu dato einwilligungsfähigen) Patientin bzw. des Patienten vorliegt. Ist ein ent- sprechender Wille nicht gegeben, ist eine entsprechende Entscheidung anhand des mut- maßlichen Willens der Patientin bzw. des Patienten zu treffen. Im konkreten Fall eines Wachkomas musste die Betreuerin bzw. der Betreuer das Einverständnis des Vormund- schaftsgerichts zur Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen einholen. Damit wurde weiter das Selbstbestimmungsrecht der PatientInnen gestärkt.108 In seiner Entscheidung in einem Rechtsstreit urteilte der Bundesgerichtshof im Juni 2005: „Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, dass die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen jedenfalls nicht den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals rechtfertigt für sich genommen die Fort- setzung der künstlichen Ernährung in einem solchen Fall nicht.“ Die Entscheidung stärkte ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. der Patientin, vornehmlich ge- genüber einem Pflegeheim.109

Politische Entwicklungen und Rechtsentwicklung Das Bundesjustizministerium (SPD) und das Bundesgesundheitsministerium (Bünd- nis90/Die Grünen – SPD) setzten eine Arbeitsgruppe ein, die einen Leitfaden „Patienten- recht in Deutschland“ verfasste und im Juni 2002 veröffentlichte. In dem Bericht wurden die Patientenrechte auf Grundlage des geltenden Rechts zusammenfassend dargestellt. Die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin des Bundestages beschäftigte sich ebenfalls mit dem Thema Sterbehilfe. Sie formulierte das gesellschaftli- che Ziel, Menschen ein Sterben in Würde zu ermöglichen und ihre Wünsche und Bedürf- nisse zu berücksichtigen. Diese bestünden meist darin, in gewohnter Umgebung und ohne Schmerzen sterben zu können. Diesem Wunsch werde aber viel zu selten nachgekommen.

108 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.03.2003 (XII ZB 2/03). 109 Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.06.2005 (XII ZR 177/03). 164 Fallstudie I – Sterbehilfe

Die meisten Menschen stürben in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Die Hospizangebote und die Palliativmedizin seien trotz Fortschritten immer noch unzureichend. Die Kommis- sion sprach sich für umfangreiche Verbesserungen in der Betreuung Sterbender aus und forderte eine intensivere Auseinandersetzung von Politik und Gesellschaft mit dem Um- gang mit dem Lebensende.110 Im Jahr 2002 fanden Bundestagswahlen statt. Von den Bundestagsparteien beschäf- tigte sich nur die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm mit der Sterbehilfe und erklärte ihre Unterstützung für ein Sterben in Würde und sprach sich gegen die aktive Sterbehilfe aus (CDU 2002, S. 34). In Reaktion auf das Urteil des Bundesgerichtshofs 2003 setzte Bundesjustizministe- rin (SPD) im September 2003 die Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“111 ein: Die Gruppe veröffentlichte im Juni 2004 ihren Bericht. Ihr Ziel war es gewesen, „Fragen der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu diskutieren und Eck- punkte für die Abfassung einer Patientenverfügung zu erarbeiten sowie zu prüfen, ob Ge- setzesänderungen in diesem Bereich erforderlich erscheinen, und hierfür ggf. Vorschläge zu unterbreiten“ (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004, S. 4). Neben Thesen zum Selbstbestimmungsrecht von PatientInnen und Vorschlägen zu Inhalt, Form und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen formulierte die Arbeitsgruppe auch Emp- fehlungen an den Gesetzgeber: Regelungen zur Patientenverfügung sollten im Betreuungs- recht konkretisiert werden. Dazu gehörten die Erforderlichkeit einer Vertreterentscheidung bei Vorliegen einer Patientenverfügung, die Bindung des Vertreters an den Patientenwillen und die Erforderlichkeit einer Zustimmung des Vormundschaftsgerichts zu Vertreterent- scheidungen (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004, S. 44). Im Straf- recht schlug die Gruppe eine Ergänzung von § 216 StGB um einen Absatz (3) vor: „Nicht strafbar ist 1. die Anwendung einer medizinisch angezeigten Leid mindernden Maßnahme, die das Leben als nicht beabsichtigte Nebenwirkung verkürzt, 2. das Unterlassen oder Be- enden einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme, wenn dies dem Willen des Pati- enten entspricht“ (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004). Sie begründe- te diesen Vorschlag damit, dass die aktive Sterbehilfe verboten bleiben sollte. Die passive Sterbehilfe sei hingegen durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht strafbar. In der Praxis gebe es jedoch bei ÄrztInnen und PatientInnen erheblich Unsicherheiten, da

110 Schlussbericht der Enquete Kommission des Bundestages, BT Drs. 14/9020, 14.05.2002, S. 197. 111 „Die Arbeitsgruppe wurde von Herrn Vorsitzendem Richter am Bundesgerichtshof a.D. Klaus Kutzer geleitet. Ihr gehörten Vertreterinnen und Vertreter der Ärzteschaft und der Patienten, der Wohlfahrtspflege, der Hospizbe- wegung und der Kirchen sowie der Konferenz der Justizministerinnen und -minister, Justizsenatorinnen und - senatoren und der Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren der Länder an“ (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004, S. 4). 165 Kapitel 6 die Rechtslage oft nicht bekannt sei. Mit der vorgeschlagenen Ergänzung sollte Rechtssi- cherheit geschaffen und der Druck, die aktive Sterbehilfe zu erlauben, vermindert werden (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004, S. 50-51). Im September 2004 veröffentlichte die Enquete-Kommission ihren Zwischenbericht zum Thema Patientenverfügungen.112 Darin stelle sie ethische Überlegungen zur Patien- tenverfügung an, berichtete über die Rechtslage in Deutschland und in ausgewählten euro- päischen Ländern, erörterte verschiedene Regelungsoptionen und gab schließlich Empfeh- lungen für die rechtliche Regelung von Patientenverfügungen ab. Zusammengefasst emp- fahl sie, „die Gültigkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder Behandlungsverzicht vorsehen, der zum Tode führen würde, auf Fallkonstellationen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird. Maßnahmen der Basisversorgung kön- nen durch Patientenverfügungen nicht ausgeschlossen werden.“113 Sie argumentierte wie die Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“, dass die Stärkung der Patienten- verfügung im Vordergrund stehe und man den BefürworterInnen der aktiven Sterbehilfe den Wind aus den Segeln nehmen könne. Es brauche aber auch eine Reichweitenbeschrän- kung der Patientenverfügung, um den staatlichen Schutz des Lebens weiterhin garantieren zu können und etwaigen Druck auf alte und kranke Menschen angesichts von Ressourcen- knappheit zu verhindern.114 Die Kommission empfahl dem Bundestag, „zu regeln, dass eine Patientenverfügung schriftlich niedergelegt sein und eine Unterschrift enthalten muss.“115 Sie führte weiter Empfehlungen bezüglich der konkreten Abfassung der Verfü- gung und über die Ausgestaltung der vorangehenden Aufklärungs- und Beratungsgesprä- che durch Berater aus.116 Weiter riet sie dazu, „dass die Ablehnung der Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten in eine medizinisch indizierte lebenserhaltende Maßnah- me der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht bedarf.“117 Auch wollte sie diese Empfehlungen im BGB gesetzlich umgesetzt sehen.118 Im November 2004 stellte Justizministerin Zypries (SPD) einen Entwurf eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vor. Hauptsächlich sollte eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung erfolgen. Im Entwurf wurden jedoch zentrale Inhalte des von der fraktionsübergreifend arbeitenden Enquete-Kommission erstellten Berichts nicht

112 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004. 113 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 38. 114 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 38. 115 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 40. 116 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 39-44. 117 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 44. 118 BT Drs. 15/3700, 13.09.2004, S. 45. 166 Fallstudie I – Sterbehilfe berücksichtigt. Nach interner wie öffentlicher Kritik und der absehbaren Ablehnung des Entwurfs spätestens im unionsdominierten Bundesrat zog Zypries den Entwurf zugunsten eines geplanten Entwurfs der SPD-Fraktion zurück (Deutscher Richterbund 2005; Müller 2005; Preidel und Nebel 2015, S. 58; Tolmein 2005). Die Justizministerkonferenz lehnte „eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe we- gen der Unantastbarkeit fremden Lebens, wegen der Gefahr eines Dammbruchs beim Le- bensschutz und wegen der Sorge vor Missbrauch weiterhin mit Entschiedenheit ab.“ Sie bat die Bundesjustizministerin, „in der neuen Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vor- zulegen, der Rechtssicherheit bei der medizinischen Betreuung am Ende des Lebens ge- währleistet und dabei insbesondere dem Institut der Patientenverfügung einen hohen Rang einräumt.“119 2005 fanden vorgezogene Bundestagswahlen statt. Die FDP forderte in ihrem Wahl- programm die gesetzliche Verbindlichkeit der Patientenverfügung und den Ausbau der Hospizarbeit (FDP 2005, S. 37). In den Jahren 2004 und 2005 beriet der Bundestag über einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur zweiten Änderung des Gesetzes des Betreuungsrechts. Hier sollten vor allem die Rechte psychisch Kranker und Behinderter gestärkt werden. Die Vorsorgevoll- macht sollte als privatautonome Regelung anerkannt werden. Zudem ging es um ein zu reformierendes Vergütungssystem und die Stärkung des Ehrenamtes, um den steigenden Kosten entgegenzuwirken. „Der Gesetzgeber sollte klarstellen, ob und unter welchen Be- dingungen die Einwilligung eines Vorsorgebevollmächtigten, eines Betreuers oder eines gesetzlichen Vertreters im Sinne des Gesetzentwurfs für medizinische Entscheidungen am Lebensende, zum Beispiel die Beendigung von medizinischen Maßnahmen – zu denken wäre etwa an die Beendigung der Ernährung durch PEG-Sonde –, einer vormundschaftsge- richtlichen Genehmigung bedarf, insbesondere bei Vorhandensein einer Patientenverfü- gung und Vorsorgevollmacht“ (Markus Grübel, CDU/CSU).120 Der Gesetzentwurf wurde vom Bundestag einstimmig verabschiedet121, und der Bundesrat stimmte zu.122 In den drei parlamentarischen Beratungen wurde nur einmal die Sterbehilfe angesprochen. Das Gesetz trat zum 1. Juli 2005 in Kraft.123 Im März 2006 brachten die von der CDU regierten Bundesländer Saarland, Thürin- gen und Hessen einen Gesetzentwurf in den Bundesrat ein, der einen neuen Straftatbestand

119 Beschluss der Herbsttagung der Justizministerkonferenz, Beschluss TOP II.3 Reform des § 216 StGB – Einset- zung einer Arbeitsgruppe, 17.11.2004. 120 BT PlPr. 15/94, 04.03.2004, S. 8416. 121 BT PlPr. 15/158, 18.02.2005, S. 14833-14841. 122 BR Drs. 121/05(Beschluss), 18.03.2005. 123Zweites Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (2. BtÄndG), BGBl. I/23, 26.04.2005, S. 1073. 167 Kapitel 6 schaffen sollte: Der geschäftsmäßige assistierte Suizid sollte verboten werden.124 Sie be- gründeten den Vorstoß unter anderem mit der zunehmenden Anzahl an Sterbehilfeorgani- sationen in Deutschland, „deren Anliegen es ist, einer Vielzahl von Menschen eine schnel- le und effiziente Möglichkeit für einen Suizid zu verschaffen.“125 Durch diese Organisatio- nen bestünden Gefahren der Kommerzialisierung und der Entstehung eines Erwartungs- drucks auf alte und gebrechliche Menschen, diese Hilfe auch anzunehmen.126 Im Rechts- ausschuss, der sich mit dem Entwurf zunächst befasste, stellten Baden-Württemberg (CDU/FDP-Regierung) und Bayern (CSU) im April 2008 eine Neufassung des Entwurfs vor. Auf einen Gesetzentwurf konnte man sich letztendlich nicht verständigen, war sich aber in der Sache einig, dass gewerbsmäßige organisierte Sterbehilfe verboten werden soll- te. Daher wurde der Entwurf vom Bundesrat schließlich 2008 nicht verabschiedet und dem Bundestag vorgelegt, sondern eine entsprechende Resolution formuliert.127 Im März 2007 wurde eine Orientierungsdebatte im Bundestag zur gesetzlichen Rege- lung von Patientenverfügungen geführt.128 In der Debatte zeichneten sich bereits teilweise die Lager ab, welche 2009 ihre entsprechenden Gesetzentwürfe in den Lesungen diskutie- ren ließen: Eine Gruppe strebte eine uneingeschränkte Gültigkeit der Patientenverfügung an, denn eine Reichweitenbeschränkung hielt sie für unvereinbar mit der aktuellen Recht- sprechung und den Verfassungsgrundsätzen. Der Mensch habe das „uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht“ (Joachim Stünker, SPD).129 Es bräuchte zudem „einfache, rechtspolitisch klare und verantwortbare Regeln“ (Rolf Stöckel, SPD).130 Die zweite Grup- pe wog das Selbstbestimmungsrecht eines Einzelnen mit der Fürsorgepflicht des Staates ab und wollte daher die Reichweite der Verfügung beschränken. Die Abgeordneten wollten sicherstellen, „dass der nicht mehr äußerungsfähige Patient bei einem erkennbaren Irrtum bei der Abfassung seiner Verfügung nicht an ihrem Inhalt festgehalten wird (…) Die Be- endigung eines Lebens darf man nie auf einen Irrtum stützen“ (, CDU/CSU).131 2008 und 2009 wurden drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zur Regulierung der Patientenverfügung vorgelegt. Sie enthielten unterschiedliche Vorschläge zur Ausge- staltung der Patientenverfügung. Im ersten Gesetzentwurf132, der unter anderem von den

124 BR Drs. 230/06, 27.03.2006. 125 BR Drs. 230/06, 27.03.2006, S. 3. 126 BR Drs. 230/06, 27.03.2006, S. 4. 127 BR Drs. 436/08(Beschluss), 04.07.2008. 128 BT PlPr. 16/91, 29.03.2007, S. 9120-9158. 129 BT PlPr. 16/91, 29.03.2007, S. 9120. 130 BT PlPr. 16/91, 29.03.2007, S. 9156. 131 BT PlPr. 16/91, 29.03.2007, S. 9123. 132 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008. 168 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abgeordneten Joachim Stünker (SPD), (FDP), Lukrezia Jochimsen (PDS/Die Linke) und (Bündnis90/Die Grünen) stammte, hielten die Verfas- serInnen fest, dass die Patientenverfügung die praktische Umsetzung des im Grundgesetz verankerten Selbstbestimmungsrechts sei. Mit dem überarbeiteten Gesetz solle für alle Beteiligten Rechtssicherheit hergestellt werden. „Es soll sichergestellt werden, dass der das Betreuungsrecht prägende Grundsatz der Achtung des Selbstbestimmungsrechts entschei- dungsunfähiger Menschen auch bei medizinischen Behandlungen beachtet wird.“133 Die AntragstellerInnen wollten die schriftliche Patientenverfügung als verbindlich erklären, unabhängig von „Art und Stadium der Erkrankung.“134 Bei besonders schwerwiegenden Entscheidungen bedürfe es einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts. In der Erläu- terung zum Gesetzesvorschlag wurde das Problem diskutiert, dass „in der Praxis zum Teil noch Verunsicherung im Umgang mit Patientenverfügungen [besteht, Anm. d. Verf.]. Das betrifft insbesondere ihre Bindungswirkung und Geltung in allen Stadien einer Erkran- kung.“135 Explizit wurde auf die beiden Urteile des Bundesgerichtshofs von 2003 und 2005 Bezug genommen.136 „Ziel des Gesetzentwurfs ist es, durch eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung für alle Beteiligten mehr Rechtssicherheit zu schaffen.“137 In der De- batte wurde versichert, dass dieser Gesetzentwurf die aktive Sterbehilfe nicht erlaube (Joachim Stünker, SPD).138 Markus Grübel (CDU/CSU) äußerte sich dazu: „Wir waren uns einig, dass aktive Sterbehilfe oder Ähnliches keine Antwort einer menschlichen Ge- sellschaft auf die Frage von Leiden und Krankheit sein kann. Die Antwort darauf liegt vielmehr in der Palliativmedizin und Hospizarbeit, wobei eine gute Versorgung in der Flä- che, sowohl ambulant als auch stationär, notwendig ist.“139 Ein weiterer Antrag (Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfü- gung im Betreuungsrecht, Patientenverfügungsgesetz – PatVerfG)140 stammte unter ande- rem von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach (CDU/CSU), René Röspel (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Bündnis90/Die Grünen) und (FDP). „Ziel des Entwurfs ist eine Klarstellung der Rechtslage und die Schaffung von Verhaltenssicherheit für alle Be- teiligten. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen soll auch im Fall des Verlusts der Einwilligungsfähigkeit respektiert und gestärkt werden. Zugleich müssen Lebensschutz,

133 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008, S. 2-3. 134 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008, S. 3. 135 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008, S. 2. 136 Bundesgerichtshof, Beschlüsse vom 17.03.2003 (BGHZ 154, 205) und vom 08.06.2005 (BGHZ 163, 195). 137 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008, S. 3. 138 BT PlPr. 16/172, 26.06.2008, S. 18260-18261. 139 BT PlPr. 16/172, 26.06.2008, S. 18263. 140 BT Drs. 16/11360, 16.12.2008. 169 Kapitel 6

ärztliche Fürsorge und Patientenwohl gewahrt werden.“141 Der Entwurf sah ebenfalls eine Verankerung der Patientenverfügung im Gesetz vor, zusätzlich aber eine Einschränkung in deren Gültigkeit, falls die Verfügung nicht mit ärztlicher Beratung erstellt wurde. Der dritte Entwurf142, der unter anderem von Wolfgang Zöller (CDU/CSU), Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU), Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) und weiteren Abgeord- neten eingebracht wurde (Entwurf eines Gesetzes zur Klarstellung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, Patientenverfügungsverbindlichkeitsgesetz – PVVG) versuchte ei- nen Mittelweg zwischen den beiden anderen Entwürfen zu gehen: So sollten Patientenver- fügungen – auch mündliche – grundsätzlich gültig sein. Allerdings müssten die Ärztin oder der Arzt und die Betreuerin bzw. der Betreuer gemeinsam prüfen, ob die Patientenverfü- gung auf die eingetretene Situation zutreffe und dem mutmaßlichen Willen der Patientin oder des Patienten entspräche. Bei keiner Einigung würde das Vormundschaftsgericht ein- geschaltet. Zudem wurde von einer Reihe von Abgeordneten, darunter Hubert Hüppe, und (alle CDU/CSU), der Antrag „Gesetzliche Überregulierung der Patientenverfügung vermeiden“ eingebracht und debattiert.143 Die AntragstellerInnen wollten einen Verzicht auf einen Gesetzesbeschluss, da keine Patientenverfügung die man- nigfaltigen Situationen abdecken könne, in denen sich ein Patient oder eine Patientin be- fänden. Die gegenwärtige Rechtsprechung und die Richtlinien der Bundesärztekammer reichten aus, um die PatientInnen adäquat zu betreuen. Die zweite und dritte Beratung aller Entwürfe fand im Juni 2009 statt.144 Die meisten Abgeordneten sahen den medizinischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte als Segen, aber auch als Ursache für die Notwendigkeit der gesetzlichen Regulierung des Vorgehens am Lebensende bzw. bei schwerkranken PatientInnen. Sie verneinten unisono, dass das Thema die aktive Sterbehilfe berühre. Lukrezia Jochimsen (PDS/Die Linke) erklärte, die Men- schen wollten dringend Rechtssicherheit.145 Joachim Stünker (SPD) forderte das uneinge- schränkte Selbstbestimmungsrecht der PatientInnen: „Es geht bei unserer Entscheidung letztendlich um das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht jedes einzel- nen Menschen.“146 Michael Kauch (FDP) forderte ebenfalls Patientenautonomie: „Nie- mand muss eine Patientenverfügung abfassen; wer sich aber dafür entscheidet, festzulegen, was ihm wichtig ist, der hat auch den Anspruch darauf, dass dieses Parlament seinen Wil-

141 BT Drs. 16/11360, 16.12.2008, S. 2. 142 BT Drs. 16/11493, 18.12.2008. 143 BT Drs. 16/13262, 29.05.2009. 144 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, 25094-25124. 145 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25101. 146 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25109. 170 Fallstudie I – Sterbehilfe len achtet.“147 Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) argumentierte hingegen, dass eine Be- schränkung der Patientenverfügung keine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts sei. Sie diene vielmehr als „Schutz zum Wohle des Patienten. Auch für diesen Schutz muss dieser Gesetzgeber Sorge tragen.“148 Wolfgang Zöller (CDU/CSU) argumentierte ähnlich und wollte daher zur Absicherung eine individuelle Beurteilung des aktuellen Patientenwil- lens.149 Hubert Hüppe (CDU/CSU) forderte, überhaupt keine derartige gesetzliche Rege- lung zu treffen, da diese hinter die bisherige Nicht-Regulierung qualitativ zurückfallen würde. Er glaube, „dass man den Versuch, etwas zu regeln, das man nicht regeln kann, nicht unternehmen sollte.“150 Schließlich wurde der Stünker-Gesetzentwurf im Juni 2009 angenommen, der Bundesrat verzichtete auf eine Anrufung des Vermittlungsausschus- ses.151 Das Gesetz trat zum 1. September 2009 in Kraft.152 Darin wird die Patientenverfü- gung definiert als die schriftliche Festhaltung der Einwilligung oder Untersagung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen des Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe für den Fall der eige- nen Einwilligungsunfähigkeit durch einen einwilligungsfähigen Volljährigen.153 Der Pati- ent oder die Patientin hat die Möglichkeit, sein Selbstbestimmungsrecht für die Zukunft für noch ungewisse Fälle auszuüben, wenn er oder sie schriftlich festhält. Die Patientenverfü- gung ist bindend, insbesondere für die BetreuerInnen. Widersetzt sich zum Beispiel ein Arzt oder eine Ärztin dem Willen des Patienten oder der Patientin, so kann es zu strafrecht- lichen Sanktionen kommen, da dies den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Straf- rechtlich führte die Patientenverfügung dazu, dass der medizinische Behandlungsabbruch gerechtfertigt ist und dem Krankheitsprozess sein Lauf gelassen wird, sofern das dem Wil- len der Patientin bzw. des Patienten entspricht. Die Reichweite wurde nicht eingeschränkt, sodass die Patientenverfügung in jedem Stadium der Krankheit gilt, auch unabhängig von der Art der Krankheit. Eine Patientenverfügung ist jedoch dann als unbeachtlich anzuse- hen, wenn der Wille der Patientin bzw. des Patienten den Tatbestand einer Tötung auf Ver- langen darstellen (und damit einer aktiven Sterbehilfe gleichstehen) würde.154 Liegt keine Patientenverfügung in diesem Sinne vor, so wird auf Basis des mutmaßlichen Willens der Patientin bzw. des Patienten entschieden, sofern es dafür Anhaltspunkte gibt (§ 1901a II 3.

147 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25100. 148 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25112. 149 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25097. 150 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25098. 151 BT PlPr. 16/227, 18.06.2009, S. 25124, Namentliche Abstimmung: 318 Ja-Stimmen, 232 Nein-Stimmen, 5 Enthaltungen; BR PlPr. 860, 10.07.2009, S. 281A-283A. 152 Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (3. BtÄndG), BGBl. I/48, 31.07.2009, S. 2286-2287. 153 § 1901a 3. BtÄndG. 154 BT Drs. 16/8442, 06.03.2008, S. 3, Gliederungspunkt B und S. 7-8 A 1. c) des (später angenommenen) Gesetz- entwurfs. 171 Kapitel 6

BtÄndG). In diesem Fall entscheidet die Betreuerin oder der Betreuer über die Behand- lung. In den Wahlprogrammen der Parteien für die Bundestagswahlen 2009 sprach sich die CDU/CSU gegen die aktive Sterbehilfe und für einen Ausbau der Palliativmedizin und für ein Sterben in Würde aus (CDU-Bundesgeschäftsstelle 2009, S. 35). Die Grünen und die FDP wollten ebenfalls den Ausbau der Hospize und der Palliativmedizin fördern (Bündnis 90/Die Grünen 2009, S. 122).

6.4.2 Diskursnetzwerkanalyse

Wie die Fallbeschreibung zeigt auch die Analyse der Aussagen, dass sich die Debatte um die Sterbehilfe in den Jahren 1999 bis 2009 deutlich intensiviert hat. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 674 Zeitungsartikel der FAZ veröffentlicht, welche die Sterbehilfe the- matisieren. In diesen Zeitungsartikeln wurden 844 Aussagen zur Sterbehilfe kodiert. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem ersten Untersuchungszeitraum 1990 bis 1998, in denen es 94 Aussagen in 174 Artikeln waren. In den meisten Monaten schwankte die Anzahl von Artikeln und Aussagen zwischen 5 und 20, in manchen Monaten fand kaum eine öffentliche Diskussion in der FAZ statt (vgl. Abbildung 6.12). Die gestrichelte Linie zeigt die Anzahl der Zeitungsartikel an, die durchgezogene Linie diejenige der Aussagen. In fünf Monaten gab es mehr als 30 Aussa- gen: Im April 2001 wurde in Deutschland über die Entscheidung der Niederlande, die akti- ve Sterbehilfe zu erlauben, diskutiert. Insbesondere VertreterInnen der beiden Kirchen sprachen sich wiederholt und vehement gegen eine solche Liberalisierung in Deutschland aus. Auch Stimmen aus der Politik und der Bundesärztekammer lehnten eine Liberalisie- rung ab, Letztere befürwortete stattdessen einen Ausbau der Sterbebegleitung. Die Diskus- sion setzte sich im Mai noch fort und flachte danach ab. Im April 2004 kündigten Abge- ordnete der SPD, FDP und Grünen einen Gesetzesantrag zur Sterbehilfe an. Sie wollten die Tötung auf Verlangen eingeschränkt zulassen. Das führte zu einer Reaktion der Opponen- tInnen einer Liberalisierung. Im Oktober 2005 lösten die Eröffnung einer deutschen Dependance der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas und die Vorkommnisse um den Sterbehelfer Roger Kusch zusammen mit den Äußerungen der FDP eine erneute Debatte über die aktive Sterbehilfe aus. Im März 2007 und Juni 2008 befasste sich der Bundestag jeweils mit der Patientenver- fügung. Die umfangreiche Diskussion bestätigt die Erkenntnisse der dichten Fallanalyse: Die Sterbehilfe erreichte erhöhte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.

172 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.12: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (1999 – 2009) 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1999-1 1999-6 2000-4 2000-9 2001-2 2001-7 2002-5 2003-3 2003-8 2004-1 2004-6 2005-4 2005-9 2006-2 2006-7 2007-5 2008-3 2008-8 2009-1 2009-6 1999-11 2001-12 2002-10 2004-11 2006-12 2007-10 2009-11

Aussagen Zeitungsartikel Anmerkungen: 674 Zeitungsartikel, 844 Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Aussagekategorien In den Jahren 1999 bis 2009 wurden 844 Aussagen getätigt. Die Verteilung auf die Forde- rungen gibt die Abbildung 6.13 wieder. Die schwarzen Säulen geben jeweils die Summe der Aussagen an, welche sich in Zustimmung (dunkelgraue Säulen) und Ablehnung (hell- graue Säulen) aufteilen. Auch im zweiten Beobachtungszeitraum beschäftigten sich die AkteurInnen am häufigsten mit der aktiven Sterbehilfe (272 Aussagen), und eine starke Mehrheit (220) lehnte sie ab (hellgraue Säule), während nur eine Minderheit sie befürwor- tete (dunkelgraue Säule). Die in diesem Zeitraum im Bundestag behandelte und schließlich gesetzlich verankerte Patientenverfügung war nun auch öffentlich diskutiert worden. Vor allem wurde darüber gestritten, ob eine Patientenverfügung unter allen Umständen ver- bindlich sein sollte (184 Aussagen). 82 Aussagen sprachen sich dafür aus, eine Mehrheit von 102 lehnte dies ab und wollte die Wirksamkeit in bestimmten Situationen einschrän- ken. Die grundsätzliche Akzeptanz einer Patientenverfügung war allerdings vorhanden (58 Aussagen, davon 56 dafür), und eine gesetzliche Regelung wurde von einer Mehrheit be- fürwortet (48 Aussagen, davon 30 dafür). Im Zuge der Diskussion der aktiven Sterbehilfe kam auch eine Debatte über eine Verbesserung der Sterbebegleitung auf. Diese wurde un- eingeschränkt befürwortet (140 Aussagen), da man darin ein wirksames Mittel gegen den Wunsch nach einer aktiven oder assistierten Tötung erkannte.

173 Kapitel 6

Abbildung 6.13: Anzahl Forderungen (1999 – 2009)

300 272

250 220 200 184 140 150 140 102 100 82 66 58 56 52 42 48 50 30 3735 24 18 26 16 2 2 10 7 3 4 6 2 4 0

Summe Zustimmung Ablehnung

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Insgesamt 844 Aussagen, Angaben in absoluten Zahlen; schwarze Säulen = alle Aussagen der Kategorie; dunkelgraue Säulen = Zustimmung zur Kategorie; hellgraue Säulen = Ablehnung der Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Unter dem Sammelbegriff Sterbebegleitung fanden sich Vorschläge und Forderungen zum Ausbau der Hospize, der allgemein besseren Betreuung von Alten und Kranken und einer verbesserten Schmerztherapie. Angesichts der Absichten der Dignitas, den assistierten Sui- zid in Deutschland bekannt zu machen, wurde intensiver über den organisierten assistierten Suizid diskutiert (66 Aussagen), wobei die Stimmen überwiegend ablehnend waren (24 pro vs. 42 kontra). In wesentlich geringerem Umfang wurden befürwortend die passive Sterbe- hilfe (37 Aussagen) diskutiert. Auch die der ärztlich assistierte Suizid (26 Aussagen), die Sterbehilfe allgemein (7) und eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe (6) waren Gegen- stand von Diskussion und wurden ablehnend beurteilt. Der Diskussionsumfang um die passive Sterbehilfe blieb im zweiten Untersuchungs- abschnitt konstant, verringerte sich also relativ zu den anderen Kategorien, welche häufiger thematisiert wurden. Die Patientenverfügung nahm einen wichtigen Stellenwert im Diskurs ein, genauso wie der organisierte assistierte Suizid. Damit finden sich in der Diskursanaly- se die gleichen Muster wie in der dichten Fallbeschreibung. In der Diskussion hatten eine Reihe von AkteurInnen ihre Haltungen zur aktiven Sterbehilfe, zum ärztlich assistierten Suizid, zum organisierten assistierten Suizid und zur

174 Fallstudie I – Sterbehilfe passiven Sterbehilfe begründet. Das ist eine deutliche Zunahme im Vergleich zum ersten Beobachtungszeitraum 1990 bis 1998.

Abbildung 6.14: Begründungen aktive Sterbehilfe (1999 – 2009, in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60

ohne 53.0

unethisch 25.2

besser Sterbebegleitung 6.7

setzt Betroffene unter Druck 4.8

NL / BE abschreckende Beispiele 4.8

mit ärztlichen Aufgabe unvereinbar 2.6

Verbot unethisch 1.5

Akt d. Humanität 1.5

Anmerkungen: Insgesamt 272 Aussagen; NL = Niederlande; BE = Belgien; weißer Balken = Aus- sagen ohne Begründung; dunkelgraue Balken = Begründungen für aktive Sterbehilfe; hellgraue Balken = Begründungen gegen aktive Sterbehilfe. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Bei Forderungen zur aktiven Sterbehilfe wurden diese in etwa der Hälfte aller Forderungen begründet (vgl. Abbildung 6.14), die andere Hälfte blieb ohne Begründung (weißer Bal- ken). Rund 25 Prozent aller Forderungen bezeichneten diese Form der Sterbehilfe als un- ethisch, unmenschlich oder unchristlich. Für unethisch hielt eine Reihe von AkteurInnen die aktive Sterbehilfe, besonders häufig äußern sich dahingehend die Kirchen, SPD und CDU/CSU. Rund 7 Prozent hielten eine bessere Sterbebegleitung für die bessere Lösung als sich zu töten und plädierten daher beispielsweise für einen Ausbau der Palliativmedizin und des Hospizwesens. In diese Richtung äußerten sich primär die Kirchen und Vertrete- rInnen gesellschaftlicher Gruppen. In rund 5 Prozent aller Forderungen wurde die Befürch- tung geäußert, dass allein die Möglichkeit der legalen aktiven Sterbehilfe potenziell Be- troffene unter Druck setzen könnte, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um Angehörigen und dem Staat nicht zur Last zu fallen. Diese Befürchtung herrschte vor allem bei der CDU/CSU. Weitere Stimmen – die meisten aus der Ärzteschaft – hielten die aktive Sterbe- hilfe mit der ärztlichen Aufgabe für unvereinbar. Eine kleine Minderheit plädierte für die aktive Sterbehilfe, weil sie ein Verbot für unethisch hielt und weil es einem Akt der Hu- manität entspreche, Menschen die freie Entscheidung über ihren Tod zu überlassen. Diese Stimmen kamen vereinzelt von mehreren AkteurInnen (vgl. auch Anhang 11.5).

175 Kapitel 6

Abbildung 6.15: Begründungen ärztlich assistierter Suizid (1999 – 2009, in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60

ohne 53.8

unethisch 26.9

Verbot unethisch 7.7

besser Sterbebegleitung 7.7

verhindert Schlimmeres 3.8

Anmerkungen: Insgesamt 26 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgraue Balken = Begründungen für ärztlich assistierten Suizid; hellgraue Balken = Begründungen gegen ärztlich assistierten Suizid. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 6.16: Begründungen organisierter assistierter Suizid (1999 – 2009, in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

ohne 81.8

unethisch 9.1

Verbot unethisch 6.1

verhindert Schlimmeres 3.0

Anmerkungen: Insgesamt 66 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgraue Balken = Begründungen für organisierten assistierten Suizid; hellgrauer Balken = Begründung gegen organisierten assistierten Suizid. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Auch bei etwa der Hälfte der Aussagen zum ärztlich assistierten Suizid wurde keine Be- gründung mitgeliefert (vgl. weißer Balken in Abbildung 6.15). Wie bei der aktiven Sterbe- hilfe lehnten die meisten begründenden Stimmen den ärztlich assistierten Suizid ab, weil sie ihn für unmenschlich, unethisch oder unchristlich hielten (hellgrauer Balken, 27 Pro- zent). Diese Stimmen stammten von der Ärzteschaft und der evangelischen Kirche. Etwa 8 Prozent (SPD und Gesellschaft) sprachen sich für diese Art des Suizids aus, weil sie um- gekehrt ein Verbot für unethisch hielten (dunkelgrauer Balken). Die Ärzteschaft (8 Prozent der Aussagen) zog eine Sterbebegleitung vor und glaubt, dass mit einer verbesserten Be- treuung, die Betroffenen gar nicht den Wunsch hätten, assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen. Nur VertreterInnen der Gesellschaft begründeten den Wunsch nach einem legalen assistieren Suizid damit, dass so schlimmere Formen wie die aktive Sterbehilfe verhindert 176 Fallstudie I – Sterbehilfe werden könnten. Der ärztlich assistierte Suizid sei regulierbar und erfolge nach überwach- ten, ärztlichen Kriterien und keiner müsse sich selbst töten. Während man sich also bei der aktiven Sterbehilfe einig ist über die Ablehnung, ist diese Haltung beim ärztlich assistier- ten Suizid nicht ganz so stark ausgeprägt und beide Seiten bringen Gründe für ihre Einstel- lung vor (vgl. auch Anhang 11.5). Mit Bezug auf den organisierten assistierten Suizid gab die große Mehrheit keine Begründung ab (vgl. weißer Balken in Abbildung 6.16). Auch hier sind die Meinungen diametral entgegengesetzt. Während die GegnerInnen – primär die CDU/CSU – dieses Verfahren für unethisch hielten, sprachen die BefürworterInnen aus der Gesellschaft von einem unethischen Verhalten, wenn man das Verfahren verbiete. Wiederum wurde von ihnen vereinzelt das Argument vorgebracht, dass durch diese Form der Suizidhilfe die ak- tive Sterbehilfe und zudem durch die Beratung überhaupt erst ein Suizid verhindert werden könne. Dass insgesamt nur rund 18 Prozent der Aussagen mit einer Begründung versehen sind, könnte ein Hinweis auf eine nicht abgeschlossene Meinungsbildung sein (vgl auch Anhang 11.5).

Abbildung 6.17: Begründungen passive Sterbehilfe (1999 – 2009, in Prozent) 0 20 40 60 80

ohne 75.7

Recht auf Selbstbestimmung 24.3

Anmerkungen: Insgesamt 37 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgraue Balken = Begründungen für passive Sterbehilfe. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Die passive Sterbehilfe wurde von den BefürworterInnen mit der Begründung unterstützt, dass jeder ein Recht auf Selbstbestimmung und damit auch das Recht auf Behandlungsun- terlassung bzw. -abbruch habe (vgl. Abbildung 6.17). Diese Stimmen stammten von diver- sen AkteurInnen. Für die anderen Kategorien wurden keine Begründungen genannt. (vgl. auch Anhang 11.5).

AkteurInnen Abbildung 6.18 zeigt die Anzahl der Aussagen, die jeder Akteur und jede Akteurin im Zeitraum 1999 bis 2009 getätigt hat. Die Summe aller Aussagen eines Akteurs bzw. einer Akteurin ist mit einer schwarzen Säule wiedergegeben. Diese Summe setzt sich zusammen aus der Anzahl von Aussagen für eine der verschiedenen Formen der Sterbehilfe (dunkel- 177 Kapitel 6 graue Säulen), der Anzahl von Aussagen gegen verschiedene Formen der Sterbehilfe (hell- graue Säulen) und anderer unspezifischer Aussagen, die hier nicht abgebildet sind. Die CDU/CSU hatte sich am häufigsten im Diskurs geäußert (144 Aussagen). Davon bezog sich knapp die Hälfte der Aussagen auf eine Sterbehilfeform. Die meisten Aussagen dazu sind ablehnend (50). Am zweithäufigsten äußerten sich die SozialdemokratInnen (124 Aussagen). Hier machten die Aussagen zu einer Sterbehilfeform einen deutlich kleineren Anteil an allen Aussagen aus (43), und die meisten waren ablehnender Natur (32). Das zeigt, dass die Diskussion auf der politischen Ebene angekommen war.

Abbildung 6.18: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (1999 – 2009, absolut)

160 144 140 124 120 96 85 100 79 76 80 50 55 50 60 41 48 43 32 37 35 40 24 15 11 17 14 18 16 14 12 11 11 20 7 6 3 8 6 4 7 1 0 7 4 2 3 4 3 4 1 8 4 3 2 1 0

Summe alle Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen; insgesamt 844 Aussagen, davon 120 pro Sterbehilfe, 282 kontra Sterbehilfe, 442 zu anderen Themen, hier nicht abgebildet; pro/kontra = Aussagen für/gegen aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, ärztlich assis- tierten Suizid oder organisiertem assistierten Suizid. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Weiterhin brachten sich gesellschaftliche AkteurInnen in bedeutendem Umfang ein (96 Aussagen), auch hier mit wesentlich mehr ablehnenden Stimmen zur Sterbehilfe. Bei der Bundesärztekammer und den MedizinerInnen (insgesamt 85 Aussagen, davon 35 gegen die Sterbehilfe) sowie bei der evangelischen Kirche (insgesamt 79 Aussagen, davon 41 gegen die Sterbehilfe) überwog die Ablehnung. Die katholische Kirche beschäftigte sich beson- ders intensiv mit der Frage der Sterbehilfe (51 von 76 Aussagen) und lehnte sie fast uniso- no (48) ab. Bei der FDP (55) und den VertreterInnen der Rechtswissenschaft (50) überwo- gen die befürwortenden Stimmen, bei den Grünen (43) machte die Sterbehilfefrage nur einen kleinen Anteil der Aussagen aus. Alle weiteren AkteurInnen brachten sich nur in sehr geringem Umfang (unter 20 Aussagen) in die Debatte ein.

178 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.19: Anzahl Aussagen, nach Familien (1999 – 2009, absolut)

450 425 400 350 300 250 200 167 156 150 104 93 96 100 52 39 48 37 50 12 17 0 Politik Kirchen&Theologie Wissenschaft Gesellschaft

Summe alle Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe

Anmerkungen: Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 844 Aussagen, davon 120 pro Sterbehilfe, 282 kontra Sterbehilfe. 442 Aussagen sind zu anderen Kategorien, hier nicht abgebildet. Zusam- mensetzung der Familien siehe Anhang 11.7. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Fasst man die AkteurInnen zu Familien zusammen, dann zeigt sich im Vergleich der schwarzen Säulen, dass sich die Politik am intensivsten mit dem Thema beschäftigte (425 Aussagen, vgl. Abbildung 6.19). Sterbehilfe ist in der politischen Diskussion angekom- men. Es folgte die Kirche (167), während die Wissenschaft nicht mehr Wortführerin in der Debatte war (156). Die Gesellschaft machte weiterhin die kleinste Gruppe aus (96). In al- len Gruppen wurden die verschiedenen Formen der Sterbehilfe thematisiert, allerdings nahmen sie nur bei der Kirche einen wesentlichen Raum ein. In allen Familien wurde Ster- behilfe mehrheitlich abgelehnt (vergleiche die dunkel- und hellgrauen Säulen). Die Ab- lehnung bezog sich in den meisten Fällen auf die aktive Sterbehilfe. Die anderen Formen der Sterbehilfe wurden in geringem Umfang diskutiert, der assistierte Suizid dabei mehr- heitlich abgelehnt, die passive Sterbehilfe hingegen befürwortet. Die Daten stehen analog zur dichten Fallbeschreibung, wo aufgezeigt wurde, dass die Politik sich des Themas an- nahm und die Kirchen und die Bundesärztekammer sich häufig öffentlich äußerten bzw. die MedizinerInnen ihre Richtlinien bezüglich der Sterbehilfe überarbeiteten (vgl. Anhang 11.5).

Bezugsnetzwerke Betrachtet man das Netzwerk aus Kategorien und AkteurInnen (Abbildung 6.20), dann bestätigt sich der Eindruck der vorangegangenen Datenbeschreibung und der dichten Fall-

179 Kapitel 6 beschreibung: Die aktive Sterbehilfe war auch im Zeitraum von 1999 bis 2009 zentraler Diskussionspunkt.

Abbildung 6.20: Bezugsnetzwerk, komplett (1999 – 2009)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.294. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Daneben wurden die verbindliche Patientenverfügung und die Verbesserung der Sterbebe- gleitung intensiv diskutiert. Weniger Aufmerksamkeit erfuhren die anderen Kategorien. Besonders intensiv brachten sich die CDU/CSU und die SPD ein, gefolgt von den Kirchen. Das Netzwerk ist wesentlich dichter als im Zeitraum 1990 bis 1998, was die erhöhte Betei- ligung veranschaulicht. Betrachtet man die Zustimmung zu den einzelnen Kategorien (Abbildung 6.21), dann erfuhr die Forderung einer verbesserten Sterbebegleitung die meiste Unterstützung von fast allen Seiten. Auch die Patientenverfügung und deren Verbindlichkeit wurden breit unter- stützt, insbesondere die SPD setzte sich für Letzteres ein. Dagegen wurde die aktive Ster- behilfe in breiter Front abgelehnt (vgl. Abbildung 6.21). Insbesondere die CDU/CSU, die Kirchen, die SPD, die Bundesärztekammer und MedizinerInnen und die VertreterInnen

180 Fallstudie I – Sterbehilfe verschiedener gesellschaftlicher Organisationen sprachen sich dagegen aus. Die CDU/CSU war gegen eine verbindliche Patientenverfügung, ebenso waren Teile der SPD und der Grünen skeptisch. Die anderen Forderungen waren weniger im Fokus der Debatte.

Abbildung 6.21: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (1999 – 2009)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.22. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Obwohl der organisierte assistierte Suizid im Untersuchungszeitraum auf die politische Agenda gesetzt und versucht wurde, ein Verbot herbeizuführen, war trotzdem die aktive Sterbehilfe zentrales Thema im Netzwerk der ablehnenden Aussagen (vgl. Abbildung 6.22). Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die meisten AkteurInnen starke Sorge hat- ten, dass es einen Dammbruch bei der aktiven Sterbehilfe geben könnte und daher konstant betonten, dass diese Form der Sterbehilfe keine Option sei. Diese Fixierung ist insofern erstaunlich, als es neben der vergleichsweise kleinen Organisation Dignitas keine wesentli- che Gruppierung gab, die sich für eine Liberalisierung eingesetzt hätte. Sie könnte darin begründet sein, dass aktive Sterbehilfe als Moralpolitik für viele starke Aversionen hervor- gerufen hat. Zudem kann die Ankündigung der Dignitas, assistierten Suizid anzubieten, Einfluss auf die Thematisierung der aktiven Sterbehilfe gehabt haben.

181 Kapitel 6

Abbildung 6.22: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (1999 – 2009)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.151. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Netzwerke der AkteurInnen Die Netzwerke in Abbildung 6.23 und Abbildung 6.24 zeigen an, zwischen welchen Akt- euren es übereinstimmende Aussagen bzw. konfliktive Aussagen gab. Ein dichtes Netz- werk an kohärenten Aussagen gab es zwischen den beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD, gesellschaftlichen AkteurInnen, die beiden Kirchen und der Bundes- ärztekammer sowie MedizinerInnen. Die FDP war sich in häufig mit der SPD einig und die Grünen mit der SPD und der CDU/CSU. Abbildung 6.24 zeigen an, welche AkteurInnen im Konflikt miteinander standen. Wiederum stehen die CDU/CSU und die SPD im Zentrum und ebenso nehmen die Bun- desärztekammer und die MedizinerInnen wieder eine zentrale Position ein. Die Links zei- gen, dass es zwischen den beiden Volksparteien auch eine große Anzahl an konfliktiven Aussagen gegeben hat. Damit haben sie sich nur teilweise auf einen gemeinsamen Stand- punkt einigen können. Zusammen mit den Daten der Abbildung 6.18 lässt sich daraus schließen, dass die Koalitionen über Parteigrenzen hinweg staatfanden und man sich teil- weise parteiintern nicht einig war. Weitere Konflikte gab es zwischen der CDU/CSU, FDP und gesellschaftlichen AkteurInnen und zwischen den Grünen und der SPD.

182 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.23: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (1999 – 2009)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.856; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich in Übereinstimmung mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der übereinstimmenden Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 6.24: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (1999 – 2009)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.935; Ellipsen = AkteurIn. Je breiter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellipse, umso häufiger haben sich verschiedene AkteurInnen sich im Konflikt mit dem Akteur bzw. Akteu- rin geäußert. Die Linkdicke gibt die Häufigkeit der konfliktiven Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

183 Kapitel 6

6.4.3 Zusammenfassung

Im zweiten Abschnitt des Untersuchungszeitraums brachten sich wesentlich mehr Organi- sationen ein. Während die JuristInnen eine gesetzliche Regulierung eher vorantrieben, re- gelten die ÄrztInnen die Sterbehilfe weiter über ihr Standesrecht. Die Kirchen lehnten eine Liberalisierung im Wesentlichen ab, wobei die evangelische Kirche liberalen Reformen aber offen gegenüberstand. Die Bevölkerung war weiterhin wesentlich liberaler eingestellt als die großen Organisationen, die politischen AkteurInnen und der rechtliche Status quo. Die historische Erblast durch den Nationalsozialismus wurde vom Nationalen Ethikrat auf- gegriffen. Die Gerichtsentscheidungen stärkten weiterhin die Patientenautonomie und deuteten auf die Gesetzeslücken hin. Die Problemperzeption stieg bei der passiven Sterbehilfe und beim assistierten Suizid in der Politik an, Letzteres sicher durch die prominenter und in Deutschland aktiver werdenden Sterbehilfeorganisationen. Die Interessen waren dabei we- der partei- noch koalitionsintern homogen. Daher scheiterten auch verschiedene Anläufe zur Regulierung in Bundesrat und Bundestag. Im Fall der Patientenverfügung wurde die Entscheidung bald als Gewissensentscheidung deklariert und erfolgreich zur Abstimmung gebracht. Dies war im Untersuchungszeitraum die einzige wesentliche rechtliche Regulie- rung im Bereich der Sterbehilfe. Die passive Sterbehilfe wurde damit indirekt erlaubt. Die Liberalisierungen in den Niederlanden und Belgien wurden in der deutschen Öffentlichkeit und Politik wahrgenommen und diskutiert. Der Diskurs war wesentlich umfangreicher, was vor allem auf die Liberalisierungen in den Niederlanden und Belgien und deren Rezeption in Deutschland, das Aufkommen von Sterbehilfeorganisationen und die Agendasetzung und Politikentscheidung der Patien- tenverfügung zurückzuführen ist. Weiterhin dominierte das Thema aktive Sterbehilfe den Diskurs, gefolgt von der Patientenverfügung und der Diskussion über eine Verbesserung der Sterbebegleitung. Die aktive Sterbehilfe wurde weiterhin mit deutlicher Mehrheit abge- lehnt, bei der Patientenverfügung herrschte Uneinigkeit, ob diese verbindlich sein sollte. Über eine Verbesserung der Sterbebegleitung waren sich alle Diskursteilnehmer einig. Auch der organisierte assistierte Suizid wurde thematisiert, wenngleich in geringerem Um- fang. Die Meinungen dazu waren mehrheitlich ablehnend. Im Gegensatz zu den Jahren 1990 bis 1998 brachte sich die Politik nun am umfang- reichsten von allen Familien ein. Insbesondere die CDU/CSU und die SPD beteiligten sich am Diskurs. Es gab große Übereinstimmung zwischen den Volksparteien und den Kirchen,

184 Fallstudie I – Sterbehilfe den MedizinerInnen und gesellschaftlichen AkteurInnen. Viele Konflikte wurden aller- dings ebenfalls zwischen der CDU/CSU und der SPD und der FDP festgestellt.

6.5 2010 – 2014: Herausforderung organisierter assistierter Suizid

Mit der Einführung der verbindlichen Patientenverfügung endete 2009 der zweite Ab- schnitt des Untersuchungszeitraums. Im dritten und letzten Abschnitt von 2010 bis Ende 2014 rückte die organisierte Suizidhilfe in das Zentrum der Debatte.

6.5.1 Dichte Einzelfallanalyse

Nationale und internationale Entwicklungen 2010 befragte das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bundesärztekammer ÄrztInnen zu ihrer Haltung zur Sterbehilfe. Die repräsentative Umfrage zeigte, dass 62 Prozent eine gesetzliche Regelung des ärztlichen Suizids ablehnten. Ungefähr ebenso viele lehnten den ärztlichen Suizid ab. 37 Prozent konnten sich allerdings vorstellen, unter be- stimmten Umständen Sterbehilfe zu leisten (wenn die Prognose aussichtslos, der Leidens- druck hoch und der Patient oder die Patientin dem Arzt bzw. der Ärztin gut bekannt ist). GegnerInnen und BefürworterInnen der Sterbehilfe sahen die Gefahr, dass PatientInnen den Wunsch nach Sterbehilfe äußern, um ihren Angehörigen nicht mehr zur Last zu fallen. Als Alternative zur Sterbehilfe sahen viele den Ausbau der Palliativmedizin für wichtig an (Simon 2010). Anfang 2011 wurden wiederum die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbe- begleitung überarbeitet. Wesentlich war die Streichung des Passus, dass die Mitwirkung des Arztes bzw. der Ärztin bei der Selbsttötung dem ärztlichen Ethos widerspreche. Neu hieß es: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe“ (Bundesärztekammer 2011b, S. 346). Das kann als Lockerung des Spielraums für ÄrztIn- nen interpretiert werden. Am 114. Deutschen Ärztetag wurde allerdings mit großer Mehr- heit eine Neufassung von § 16 der (Muster-) Berufsordnung verabschiedet. Darin wurde erstmals ein Verbot der ärztlichen Sterbehilfe formuliert, welches deutlich über das Straf- recht hinausging. Der im Mai 2012 tagende 115. Deutsche Ärztetag begrüßte das von der Bundesregierung geplante Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe, forderte darüber hinaus aber auch ein generelles Verbot der organisierten Sterbehilfe (Deutscher Ärztetag 2012). Im Vergleich zum Zeitraum 1996 bis 2007 stagnierte die Anzahl der ambulanten Hospiz- und Palliativstationen bei ca. 1400 Stationen. Die Entwicklung der stationären

185 Kapitel 6

Einrichtungen zeigte hingegen weiterhin Wachstum an von 2007 (jeweils ca. 150) bis 2014 (über 200 stationäre Hospize und 250 Palliativstationen). Zum Vergleich: 2014 gab es in Deutschland ca. 2000 Krankenhäuser (Destatis 2015a). 2012 wurde für die ALLBUS155 wiederum folgende Frage gestellt: „Für wie schlimm halten Sie es, wenn ein Arzt einem unheilbar kranken Patienten auf dessen Verlangen hin ein tödliches Gift gibt?“ 30,3 Prozent der Befragten fanden dies schlimm oder sehr schlimm, 69,6 Prozent weniger bis überhaupt nicht schlimm. Die Verteilung blieb damit seit 1990 fast stabil. Im Auftrag der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ stellte TNS Emnid im Frühjahr 2014 in einer Umfrage folgende Frage: „Glauben Sie, bei einer prinzipiellen Freigabe der Sterbehilfe durch Ärzte könnten sich Schwerkranke, Pflegebedürftige oder ältere Men- schen mehr als bisher zum Freitod gedrängt fühlen, um anderen nicht zur Last zu fallen?“ 45 Prozent glaubten das nicht, 52 Prozent glaubten es (statista 2014).

Nationale Gerichtsentscheide Im Juni 2010 hatte das Bundesgericht über eine Revision des Landgerichts Fulda zu befin- den. In der Sache ging es um einen auf Medizinrecht spezialisierten Rechtsanwalt, der we- gen versuchten Totschlags verurteilt worden war. Er hatte der Tochter einer Wachkomapa- tientin geraten, den Schlauch, über den die Kranke künstlich ernährt wurde, durchzu- schneiden, um so den Tod der Patientin herbeizuführen. Der Bundesgerichtshof urteilte, dass die Zulässigkeit eines Behandlungsabbruchs nicht mehr nur auf die Phase beschränkt wird, in der die Grunderkrankung unmittelbar zum Tode führt. Vielmehr wird auf § 1901a III BGB abgestellt, wonach eine vorherig geäußerte Einwilligung oder eine mut- maßliche Einwilligung ausreichend ist. Ausschlaggebend für einen zulässigen Behand- lungsabbruch ist der Umfang der Einwilligung, also ob die bereits im Vorfeld gegebene Einwilligung auch den entsprechenden Sachverhalt umfasst. Es wurde erneut festgestellt, dass es verfassungsrechtlich vom Selbstbestimmungsrecht der Patientin bzw. des Patienten umfasst ist, wenn sie oder er einen Behandlungsabbruch wünscht, aufgrund dessen es zum Tode kommt. Im deutschen Recht ist ein Kurierzwang nicht vorgesehen, sodass es zu res- pektieren ist, wenn der Patient oder die Patientin nicht in die notwendige Behandlung ein- willigt. Dies wurde insbesondere noch durch das Dritte Betreuungsänderungsgesetz recht- lich festgehalten, wobei es sich aber bereits vorher schon aus den genannten Gründen (le- diglich in geringerem Umfang) ergab. Weiterer Schwerpunkt in dem Urteil war die Klä-

155 ALLBUS 1980-2012: Variable Report, Codebuch, S. 1063. Die Frage nach einem gesetzlichen Verbot wurde im Gegensatz zu 1990 und 2000 in dieser Welle nicht gestellt https://dbk.gesis.org/DBKSearch/download.asp?db=D&id=56577 (abgerufen am 15.11.2015). 186 Fallstudie I – Sterbehilfe rung, ob es sich bei dem Behandlungsabbruch um ein Tun oder Unterlassen handelt. Dabei wurde festgestellt, dass auch einem Behandlungsabbruch verschiedene Handlungen vo- rausgehen. Damit wurde aber nicht die aktive Sterbehilfe erlaubt (so wie teilweise vermu- tet), sondern es wurde weiterhin eine strikte Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbe- hilfe gezogen. „Eine Rechtfertigung durch Einwilligung kommt nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränkt, einen Zustand (wieder-) herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt, indem zwar Leiden gelindert, die Krank- heit aber nicht (mehr) behandelt wird, sodass der Patient oder die Patientin letztlich dem Sterben überlassen wird. Nicht erfasst sind dagegen Fälle eines gezielten Eingriffs, der die Beendigung des Lebens vom Krankheitsprozess abkoppelt.“156 Auch wurde auf den Unter- schied zwischen der verbotenen aktiven Sterbehilfe und der zulässigen indirekten aktiven Sterbehilfe hingewiesen. Bei letzterer Form wird aufgrund einer medizinisch indizierten palliativen Maßnahme der Tod als unbeabsichtigt eintretende Nebenfolge in Kauf genom- men. Die Zulässigkeit wird durch einen gerechtfertigten Notstand (nicht wie bei der passi- ven Sterbehilfe durch eine Einwilligung) begründet. Nicht erforderlich ist die Schriftlich- keit der Patientenverfügung.157 Auch mit diesem Urteil stärkte der Bundesgerichtshof das Selbstbestimmungsrecht der PatientInnen. Im April 2011 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass die Berufung eines bzw. einer Bevollmächtigten einer (zusätzlichen) Betreuung vonseiten eines Gerichts nicht im Wege steht und zwar gerade dann nicht, wenn erhebliche Zweifel an der Redlichkeit des Bevoll- mächtigten angezeigt sind. Im konkreten Fall hatte eine ältere Frau einen dritten Bevoll- mächtigten eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war sie allerdings schon geistig erheblich ein- geschränkt. Zudem hatte dieser Bevollmächtigte versucht, an das Vermögen der Frau zu gelangen.158 Mit einer Aufsehen erregenden Entscheidung machte das Verwaltungsgericht Berlin im März 2012 von sich reden: Einem Arzt (Zweiter Vorsitzender des deutschen Sterbehil- fevereins Dignitas) war von der Ärztekammer Berlin 2007 untersagt worden, einer sterbe- willigen Person todbringende Substanzen für deren Suizid zu überlassen. Die Ärztekam- mer stützte sich dabei auf ihre Grundregeln des Berufs. Das Gericht entschied jedoch, dass aufgrund der herrschenden Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 GG) und der Gewissens- freiheit des Arztes (Art. 4 I GG) kein uneingeschränktes Verbot des ärztlich assistierten Suizids hätte ausgesprochen werden dürfen. Durch diese Grundrechte sei es nicht erlaubt, einem Arzt oder einer Ärztin die Beihilfe zum Suizid zu verbieten, wenn „ein Arzt auf-

156 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.06.2010 (2 StR 454/09). 157 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.06.2010 (2 StR 454/09). 158 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.04.2011 (XII ZB 584/10). 187 Kapitel 6 grund einer lang andauernden, engen persönlichen Beziehung in einen Gewissenskonflikt geraten würde, weil die Person, die freiverantwortlich die Selbsttötung wünsche, unerträg- lich und irreversibel an einer Krankheit leide und alternative Mittel der Leidensbegrenzung nicht ausreichend zur Verfügung stünden“ (Verwaltungsgericht Berlin 2012). Weiter hielt das Gericht fest, dass ein Verbot der Abgabe todbringender Medikamente an Gesunde oder psychisch Kranke möglich sei ebenso wie ein Verbot von organisierter Sterbehilfe, wie Dignitas sie anbiete (Verwaltungsgericht Berlin 2012). Mit dieser Entscheidung kippte das Gericht im Endeffekt die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizids. In einem Verfahren über die Anwendung der Patientenverfügung (§§ 1901 – 1904 BGB), befand der Bundesgerichtshof im September 2014: „Liegt keine Patientenver- fügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaß- liche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten“ (Pressestelle Bundesgerichtshof 2014). Im Fall einer fehlenden Patientenverfügung die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen trotzdem erfolgen. Allerdings ist dabei eine Reihe von Auf- lagen zu erfüllen. Im konkreten Fall war eine Frau infolge einer Gehirnblutung in ein Wachkoma gefallen. Der Ehemann und die Tochter hatten die Einstellung der lebenserhal- tenden Maßnahmen beim Betreuungsgericht beantragt. Sie beriefen sich auf frühere Aus- sagen der Frau, nach denen sie sich gegen die Inanspruchnahme von lebenserhaltenden Maßnahmen im Fall einer schweren Krankheit ausgesprochen hatte. Das Gericht hatte die- sen Antrag zurückgewiesen, schlussendlich wurde der Fall dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.159

Politische Entwicklungen und Rechtsentwicklung Im März 2010 brachte das Land Rheinland-Pfalz einen Gesetzesantrag zur Strafbarkeit der Werbung für Suizidbeihilfe in den Bundesrat ein.160 Begründet wurde der Antrag damit, dass es „nicht hinnehmbar und mit dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht vereinbar ist (…), wenn Menschen in verzweifelter Lebenssituation durch entsprechende Werbung

159 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.09.2014 (XII ZB 202/13). 160 BR Drs. 149/10, 23.03.2010. 188 Fallstudie I – Sterbehilfe geradezu zum Suizid ermuntert und eingeladen werden (…). Weiter ist zu befürchten, dass die Anpreisung der Möglichkeit des scheinbar leichten Übergangs vom Leben zum Tod in Teilen der Bevölkerung eine zutiefst unmoralische und unmenschliche Erwartungshaltung gegenüber schwerstkranken und alten Menschen zu erzeugen geeignet ist.“161 Der Gesetz- entwurf wurde im Bundesrat als verfehlt kritisiert, da er zum einen „leidende Menschen nicht vor Missbrauch schützen und sicherstellen [kann, Anm. d. Verf.], dass sie in ihrer freien und bewussten Willensentscheidung unbeeinflusst bleiben“ (Minister Busemann, Niedersachsen).162 „Vor allem fordert ein solcher Straftatbestand geradezu den Umkehr- schluss heraus: Wo nur die Werbung strafbar ist, da ist die umworbene Leistung eben er- laubt“ (Ministerin Beate Merk, CSU, Bayern).163 Der Bundesrat lehnte 2012 schließlich die Einbringung des Gesetzentwurfs in den Bundestag ab.164 Im Juli 2012 wurde der Gesetzesvorschlag von Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger (FDP) zum Verbot der Sterbehilfe bekannt. Danach sollte die gewerbs- mäßige Sterbehilfe verboten werden, die nichtgewerbsmäßige Sterbehilfe sollte straffrei bleiben. Als nichtgewerbsmäßige HelferInnen galten unter anderem LebensgefährtInnen, gute Bekannte, FreundInnen und auch ÄrztInnen oder Pflegekräfte. Dieser Vorschlag rief heftige Kritik des Ärzteverbandes und der CDU hervor. Eine Legalisierung der Sterbehilfe insbesondere für ÄrztInnen würde medizinisch-ethische Werte infrage stellen und dem Missbrauch Tür und Tor öffnen (Mihm 2012). Im Oktober 2012 legte die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttö- tung vor.165 Federführend war wiederum das Bundesjustizministerium (FDP) mit der Aus- arbeitung des Entwurfes betraut gewesen. Als Problem wurde genannt, dass in Deutsch- land die Zahl der Fälle zunehme, in denen entgeltliche Suizidhilfe angeboten werde und dass dabei nicht ein Beratungsangebot, sondern der kommerzielle Aspekt im Vordergrund stehe. Zu befürchten sei, dass sich so mehr Menschen umbringen würden, als wenn es die- se Angebote nicht gäbe.166 Diese Angebote sollten mittels eines neuen Straftatbestandes im StGB verboten werden, denn „[d]as Leben eines Menschen steht in der Werteordnung des Grundgesetzes an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter (…). Gleichzeitig sollte aber sichergestellt werden, dass Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen sich nicht strafbar machen, wenn sie nur Teilnehmer an der Tat sind und selbst

161 BR Drs. 149/10, 23.03.2010, S. 1. 162 BR PlPr. 901, 12.10.2012, S. 438. 163 BR PlPr. 901, 12.10.2012, S. 440. 164 BR PlPr. 901, 12.10.2012, S. 441. 165 BT Drs. 17/11126, 22.10.2012. 166 BT Drs. 17/11126, 22.10.2012, S. 1. 189 Kapitel 6 nicht gewerbsmäßig handeln.“167 Während der ersten Beratung im Bundestag fand keine Aussprache im Plenum statt, der Entwurf wurde direkt in die Ausschüsse überwiesen.168 Im Mai 2013 wurde der Gesetzentwurf zum Verbot der kommerziellen Sterbehilfe von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nach heftigem CDU-internen Widerstand und offener Kritik durch die Kirchen zurückgezogen. Die OpponentInnen fühlten sich durch das Vorgehen der Ministerin überrumpelt und lehnten die indirekte Legalisierung der or- ganisierten Sterbehilfe strikt ab (Alexander 2013). Im Vorfeld der Bundestagswahl von 2013 benannte von allen Bundestagsfraktionen nur die CDU/CSU in ihrem Wahlkampfprogramm ihre Ziele bezüglich der Sterbehilfe di- rekt: „Die palliativmedizinischen Versorgungsangebote werden wir weiter ausbauen. Wir unterstützen den Einsatz für ein Sterben in Würde, etwa in den Hospizen oder durch ambu- lante und ehrenamtliche Sterbebegleitung. CDU und CSU lehnen die aktive Sterbehilfe ab und setzen sich dafür ein, dass die gewerbsmäßige und organisierte Hilfe zur Selbsttötung künftig unter Strafe gestellt wird“ (CDU-Bundesgeschäftsstelle 2013, S. 49). Die FDP er- klärte, die „Rahmenbedingungen zur Versorgung mit Palliativmedizin und Hospizangebo- ten“ weiter verbessern zu wollen (FDP 2013, S. 38). 2014 wurde die gesetzliche Regulierung der Sterbehilfe wieder in Angriff genom- men, dieses Mal unter der Federführung des Bundesgesundheitsministers Hermann Gröhe (CDU/CSU): „Meine Überzeugung ist, dass nicht nur die gewerbsmäßige – also ein beson- ders verwerfliches Geschäftemachen mit der Lebensnot von Menschen –, sondern jede Form der organisierten Selbsttötungshilfe verboten werden muss. Schwerstkranke und sterbende Menschen brauchen in ihrer letzten Lebensphase liebevolle Zuwendung und bestmögliche Pflege. Sie können sich darauf verlassen, palliativmedizinische Hilfe, zu der auch das Lindern von Schmerzen gehört, zu bekommen“ (Bingener und Bubrowski 2014). Im November 2014 fand eine umfangreiche Orientierungsdebatte im Bundestag ohne spezifische Vorlage statt. Bundestagspräsident Norbert Lammert führte in die Debatte ein: „Dabei wird der Gesetzgeber seine ganze Sorgfalt nicht nur der Frage widmen müssen, wo es zwischen individueller Selbstbestimmung auf der einen Seite und ärztlicher Verantwor- tung auf der anderen Seite Handlungs- und Regelungsbedarf gibt, sondern auch, ob über- haupt und wie dieser Handlungsbedarf in allgemein verbindlichen gesetzlichen Regelun- gen überzeugend gelöst werden kann.“169 In der vierstündigen Debatte waren sich die Par- lamentarierInnen einig, dass die Pflege, Palliativmedizin und Hospizarbeit in Deutschland ausgebaut werden müsse. So würde bei vielen alten und kranken Menschen der Wunsch

167 BT Drs. 17/11126, 22.10.2012, S. 1. 168 BT PlPr. 17/211, 29.11.2012, S. 25892-25893. 169 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6116. 190 Fallstudie I – Sterbehilfe nach Sterbehilfe erst gar nicht aufkommen bzw. ihnen die Angst vor einem qualvollen Tod genommen werden. Viele betonten die Würde und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen.170 Viele Abgeordnete bezogen sich dabei auf die Menschenwürde und argu- mentierten auch auf Basis der Bibel bzw. christlicher Wertevorstellungen (vgl. u. a. , CDU/CSU und Claudia Lücking-Michel, CDU/CSU).171 Bei der Frage nach der Sterbehilfe gingen die Meinungen auseinander. Während die Mehrheit der RednerInnen, die aus den Reihen der CDU/CSU und SPD stammten, die organisierte Sterbehilfe verbie- ten wollten, sprachen sich Abgeordnete der Linken und Grünen für deren Erlaubnis aus. In Bezug auf ihre Tätigkeit wollten die meisten den ÄrztInnen einen kleinen Entscheidungs- freiraum belassen für extreme Einzelfälle.172 So betonte Manfred Brand (CDU/CSU): „Dabei wollen wir weder ärztliche Beihilfe noch Beihilfe aus der Familie in Notlagen unter Strafe stellen.“173 Er befürchtete allerdings einen Dammbruch, wenn man die Sterbehilfe weiter legalisieren würde. „In Belgien und in den Niederlanden sind Tausende Tote (…) aufgrund der dort auch so genannten Euthanasiegesetze zu beklagen. Immer hat es mit en- gen Kriterien begonnen, mit zahlenmäßig kleinen Ausnahmen. Aber diese Kriterien halten einfach nicht.“174 Die liberalere Regelung in den Nachbarländern wurde von den meisten RednerInnen als abschreckendes Beispiel genannt, es gab aber auch andere Meinungen. „Dort [in Belgien und den Niederlanden, Anm. d. Verf.] gibt es nicht nur eine akzeptierte und transparente Praxis der Sterbehilfe; sogar die aktive Sterbehilfe ist erlaubt. So ist für Betroffene wirklich Selbstbestimmung möglich, auch bei der Beendigung ihres Lebens, ohne die Gefährdung anderer“ (Valerie Wilms, Bündnis90/Die Grünen).175 Es gab Abge- ordnete, die ärztliche Sterbehilfe auch in engem Rahmen für nicht akzeptabel hielten, weil sie sich nicht mit dem hippokratischen Eid und dem Berufsethos in Einklang bringen las- sen würde.176 Renate Künast (Bündnis90/Die Grünen) sah es nicht als Aufgabe des Staates an, „für den Menschen zu entscheiden, sondern ihn vor Fremdbestimmung zu schützen.“177 Peter Hintze (CDU/CSU) sprach von einem Misstrauen gegenüber den ÄrztInnen, wenn man nun den assistierten Suizid explizit strafbewehren wolle.178 (Die Linke) verneinte die Pflicht zum Leben und plädierte daher „dafür, die von Angehörigen, Nahestehenden, Ärztinnen und Ärzten und Sterbehilfevereinen geleistete Beihilfe zum

170 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6116-6162. 171 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6121, 6136. 172 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6116-6162. 173 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6116. 174 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6117. 175 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6158. 176 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6137. 177 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6120. 178 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6121. 191 Kapitel 6

Freitod auch weiterhin straflos zu lassen.“179 Kritisiert wurde teilweise der „Flickentep- pich“ (, SPD) 180, der durch die unterschiedlichen ärztlichen Regelungen in den Bundesländern herrsche. Während in manchen Bundesländern dem Arzt bzw. der Ärz- tin eine minimale Entscheidungsfreiheit bleibe, sei sie in anderen Bundesländern nicht (mehr) vorhanden.181 Die Orientierungsdebatte wurde ergebnisoffen geführt und weitere Aussprachen waren für 2015 geplant.

6.5.2 Diskursnetzwerkanalyse

Zwischen 2010 und 2014 wurden von der FAZ 172 Artikel zur Sterbehilfe publiziert, darin konnten 282 Aussagen von AkteurInnen identifiziert werden. Das ist ein deutlicher Rück- gang im Vergleich zum Zeitraum 1999 bis 2009 (674 Zeitungsartikel mit 844 Aussagen), auch wenn man den geringeren zeitlichen Umfang berücksichtigt. Nach der Entscheidung des Bundestages 2009, die Patientenverfügung gesetzlich zu verankern, und gescheiterten Versuchen, die Sterbehilfe darüber hinaus zu regulieren, flachte die Diskussion zunächst wieder ab.

Abbildung 6.25: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (2009 – 2014) 100

80

60

40

20

0 2010-1 2010-3 2010-5 2010-7 2010-9 2011-1 2011-3 2011-5 2011-7 2011-9 2012-1 2012-3 2012-5 2012-7 2012-9 2013-1 2013-3 2013-5 2013-7 2013-9 2014-1 2014-3 2014-5 2014-7 2014-9 2010-11 2011-11 2012-11 2013-11 2014-11

Aussagen Zeitungsartikel Anmerkungen: 172 Zeitungsartikel, 282 Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

179 vgl. zum Beispiel BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6134, 6144. 180 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6157. 181 BT PlPr. 18/66, 13.11.2014, S. 6157. 192 Fallstudie I – Sterbehilfe

Dies lässt sich in Abbildung 6.25 ablesen, wo die Anzahl der Zeitungsartikel mit der ge- strichelten Linie und die Anzahl der Aussagen mit der durchgezogenen Linie wiedergege- ben ist. Die Anzahl der Artikel und Aussagen bewegte sich bis Mitte 2012 unterhalb von 10 pro Monat. Im August 2012 erreichten die Aussagen eine Anzahl von 30. In diesem Monat wurde der Gesetzesvorschlag von Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger (FDP) zum Verbot der Sterbehilfe kontrovers diskutiert. Es gab Kritik aus der Politik, und vor allem die Ärzteschaft wehrte sich gegen eine Liberalisierung. In der zweiten Hälfte 2014 wurde ein erneuter Anlauf der Bundesregierung unternommen, den assistierten Suizid zu regulieren. Das führte zu entsprechenden Diskussionen, die sich ge- gen Ende des Jahres hin intensivierten, im Wesentlichen als Begleitung der Grundsatzde- batte des Bundestages im November 2014.

Aussagekategorien Abbildung 6.26 gibt die verschiedenen Forderungen wieder mit der Summe der Aussagen (schwarze Säulen), den zustimmenden Aussagen (dunkelgraue Säulen) und den ablehnen- den Aussagen (hellgraue Säulen). In diesem Zeitraum fand der ärztlich assistierte Suizid die größte Aufmerksamkeit im Diskurs. 133 Forderungen beschäftigten sich mit diesem Thema, und eine Mehrheit stimmte dafür (81 pro vs. 52 kontra). Dies ist ein Novum, denn bisher hatte der ärztlich assistierte Suizid nicht im Zentrum der Diskussion gestanden und war zudem stets abgelehnt worden. Auch dem organisierten assistierten Suizid kam deut- lich mehr Aufmerksamkeit zu, allerdings wurde diese Form der Suizidhilfe klar abgelehnt. Diese Aufmerksamkeit hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die passive Sterbehil- fe zusammen mit der Patientenverfügung Ende 2009 reguliert und danach kaum mehr dis- kutiert wurde (6 Aussagen bzw. 1 Aussage). Mit großem Abstand wurde die Verbesserung der Sterbebegleitung diskutiert (31 Aussagen), die weiterhin unumstritten befürwortet wurde. Die aktive Sterbehilfe wurde deutlich weniger diskutiert (12) und nach wie vor mehrheitlich abgelehnt. Weiterhin gab es eine kleine Anzahl von Aussagen, die danach verlangten, die Sterbehilfe insgesamt nicht zu versuchen gesetzlich zu regulieren, sondern dem ärztlichen Standesrecht zu überlassen. Diese Befunde entsprechen den Ergebnissen der dichten Fallbeschreibung und bestätigen die Feststellung, dass die Formen des assis- tierten Suizids in Politik und Öffentlichkeit in diesem Untersuchungsabschnitt im Fokus standen.

193 Kapitel 6

Abbildung 6.26: Anzahl Forderungen (2010 – 2014)

140 133 120

100 81 85 80 73

60 52

40 31 31

20 12 12 10 9 8 6 6 2 1 5 4 1 1 1 0

Anzahl Aussagen Zustimmung Ablehnung

Anmerkungen: Angaben in absoluten Zahlen; insgesamt 282 Aussagen; schwarze Säulen = alle Aussagen der Kategorie; dunkelgraue Säulen = Zustimmung zur Kategorie; hellgraue Säulen = Ablehnung der Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Zur aktiven und zur passiven Sterbehilfe äußerten diverse AkteurInnen im Diskurs auch Begründungen, allerdings bei der aktiven Sterbehilfe nur bei einem kleinen Anteil der Aussagen (Abbildung 6.27). 75 Prozent der Aussagen zur aktiven Sterbehilfe waren ohne eine Begründung erfolgt (weißer Balken), in jeweils ca. 8 Prozent der Aussagen plädierten die AkteurInnen anstatt dessen für eine Verbesserung der Sterbebegleitung und bezeichne- ten die Entwicklung in den Niederlanden und Belgien als abschreckende Beispiele (hell- graue Balken). Einige Aussagen lehnten ein Verbot als unethisch ab (dunkelgrauer Bal- ken). Bezüglich der passiven Sterbehilfe (Abbildung 6.28) wurden fast gar keine Begrün- dungen abgegeben. Ein kleiner Teil befürwortete diese Form, weil es ein Recht auf Selbst- bestimmung gebe.

194 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.27: Begründungen aktive Sterbehilfe (2010 – 2014, in Prozent) 0 10 20 30 40 50 60 70 80

ohne 75.0

besser Sterbebegleitung 8.3

NL / BE abschreckende Beispiele 8.3

Verbot unethisch 8.3

Anmerkungen: Insgesamt 12 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgrau- er Balken = Begründungen für aktive Sterbehilfe; hellgraue Balken = Begründungen gegen aktive Sterbehilfe; NL = Niederlande, BE = Belgien. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 6.28: Begründungen passive Sterbehilfe (2010 – 2014, in Prozent)

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

ohne 83.3

Recht auf Selbstbestimmung 16.7

Anmerkungen: Insgesamt 6 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgrauer Balken = Begründungen für passive Sterbehilfe. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Auch zum ärztlich assistierten Suizid und zum organisierten assistierten Suizid lieferte nur ein kleiner Anteil der AkteurInnen eine Begründung für ihre Zustimmung oder Ablehnung (Abbildung 6.29 und Abbildung 6.30), eine überwiegende Mehrheit (73,7 % bzw. 91,8 %) gab begründete ihre Haltung nicht.

Abbildung 6.29: Begründungen ärztlich assistierter Suizid (2010 – 2014, in Prozent) 0 20 40 60 80

ohne 73.7

unethisch 12.8

Verbot gegen Menschenwürde 7.5

besser Sterbebegleitung 3.0

verhindert schlimmeres 3.0

Anmerkungen: Insgesamt 133 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkel- graue Balken = Begründungen für ärztlich assistierten Suizid; hellgraue Balken = Begründungen gegen ärztlich assistierten Suizid.

195 Kapitel 6

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 6.30: Begründungen organisierter assistierter Suizid (2010 – 2014, in Prozent) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

ohne 91.8

Verbot gegen Menschenwürde 5.9

unethisch 2.4

Anmerkungen: Insgesamt 85 Aussagen; weißer Balken = Aussagen ohne Begründung; dunkelgrau- er Balken = Begründungen für organisierten assistierten Suizid; hellgrauer Balken = Begründungen gegen organisierten assistierten Suizid. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

AkteurInnen Abbildung 6.31 fasst die AkteurInnen und ihre Beteiligung am Diskurs zusammen. Die dunkelgrauen Säulen geben die Zustimmungen, die hellgrauen Säulen Ablehnungen der Sterbehilfe wieder. Am umfangreichsten hat sich die CDU/CSU eingebracht (69 Aussagen). Die meisten Aussagen drehten sich um die verschiedenen Formen der Sterbehilfe, die mehrheitlich abgelehnt wurden.

Abbildung 6.31: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (2010 – 2014)

80 69 70 60 56 50 43 37 40 40 31 30 20 23 15 15 16 15 13 20 12 12 11 10 9 7 7 8 5 8 6 8 6 5 10 1 1 4 1 2 1 0

Summe Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen; insgesamt 282 Aussagen, davon 97 pro, 137 kontra Sterbehilfe, 47 Aussagen zu anderen Themen. Keine Äuße- rungen von Deutschem Ethikrat, Enquete-Kommission, Bundespräsident, NaturwissenschaftlerIn- nen, Politik, Theologen.

196 Fallstudie I – Sterbehilfe

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Auch bei den VertreterInnen der Bundesärztekammer und den MedizinerInnen (56 Aussa- gen) nahm das Thema Sterbehilfe den größten Raum ein und wurde mit deutlicher Mehr- heit abgelehnt. Die SPD (40 Aussagen) und VertreterInnen gesellschaftlicher Gruppen (31 Aussagen) befürworteten hingegen mehrheitlich die Sterbehilfe. Die katholische Kirche (23 Aussagen) lehnte sie hingegen wieder strikt ab, die FDP (15 Aussagen) war unent- schieden, die Grünen und die Gesellschaftswissenschaftten mehrheitlich dafür. Die Linke, die evangelische Kirche und die Rechtswissenschaften beteiligten sich nur in geringem Umfang an der Diskussion. Der Deutsche Ethikrat, die Enquete-Kommission, der Bundes- präsident, Naturwissen¬schaftler¬In-nen und weitere AkteurInnen hatten sich in diesem Zeitraum gar nicht mehr geäußert. In Abbildung 6.32 geben die schwarzen Säulen jeweils die Summe, die dunkelgrauen die zustimmenden und die hellgrauen die ablehnenden Aussagen wieder. Wieder hatten sich AkteurInnen der Politik am häufigsten in der Debatte geäußert (143) und dies häufig direkt zu den verschiedenen Formen der Sterbehilfe. Das spiegelt unter anderem die Tatsa- che wider, dass der assistierte Suizid im Bundestag behandelt wurde. Eine leichte Mehrheit äußerte sich ablehnend. Nur etwa halb so oft brachten sich WissenschaftlerInnen in die Debatte ein, auch sie mit überwiegender Ablehnung der Sterbehilfe. Bei den Kirchen war die Ablehnung noch deutlicher, bei den VertreterInnen der Gesellschaft überwogen die positiven Stimmen leicht. Dieses Mal machten nicht die Aussagen zur aktiven Sterbehilfe den größten Anteil aus, sondern zum ärztlich assistierten und organisierten assistierten Sui- zid, die deutlich abgelehnt wurden.182

182 Siehe Anhang 11.5. 197 Kapitel 6

Abbildung 6.32: Anzahl Aussagen, nach Familien (2010 – 2014)

160 143 140 120 100 77 80 63 56 60 43 40 26 31 31 20 15 20 11 1 0 Politik Wissenschaft Kirchen&Theologie Gesellschaft

Summe Aussagen pro Sterbehilfe kontra Sterbehilfe Anmerkungen: Insgesamt 282 Aussagen, davon 98 pro, 137 kontra Sterbehilfe. 47 Aussagen sind zu anderen Kategorien, hier nicht abgebildet. Zusammensetzung der Familien siehe Anhang 11.7. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Bezugsnetzwerke Die folgenden Bezugsnetzwerke stellen dar, welche AkteurInnen welche Aussagekatego- rien verwendet haben. Das erste Bezugsnetzwerk (Abbildung 6.33) bildet alle Aussagen ab, es wird hier also angezeigt, welchen Aspekt der Sterbehilfe die AkteurInnen besonders interessiert bzw. nicht interessiert hat. Es wird noch kein Unterschied zwischen befürwor- tenden und ablehnenden Aussagen gemacht. Die Abbildung zeigt deutlich, dass der ärzt- lich assistierte Suizid und der organisierte assistierte Suizid eine zentrale Rolle in der De- batte einnahmen. Mit Abstand folgt die Verbesserung der Sterbehilfe. Wie schon die bishe- rigen Auswertungen gezeigt haben, brachten sich insbesondere die katholische Kirche, die CDU/CSU, die SPD und die Bundesärztekammer bzw. die MedizinerInnen ein. Vertrete- rInnen der Gesellschaft machten zu weniger verschiedenen Aspekten der Sterbehilfe eine Aussage. Eine Reihe von AkteurInnen hatte sich nicht mehr an der Debatte beteiligt. Die Patientenverfügung war nach ihrer Regulierung von 2009 kein Thema mehr und so nahm auch der Umfang der Äußerungen zur passiven Sterbehilfe und zur gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe ab.

198 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.33: Bezugsnetzwerk, komplett (2010 – 2014)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.132. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Das Netzwerk in Abbildung 6.34 zeigt Verbindungen dort an, wo AkteurInnen sich positiv zu einem Aspekt der Sterbehilfe geäußert haben. Während der ärztlich assistierte Suizid und die Verbesserung der Sterbebegleitung Zustimmung erfuhren, rutscht der organisierte assistierte Suizid im Vergleich zu Abbildung 6.33 nach außen. Bei der CDU/CSU wurde Zustimmung zum ärztlich assistierten Suizid und zur verbesserten Sterbebegleitung signa- lisiert. Ebenso gab es Stimmen aus der SPD, der Gesellschaft und der Ärzteschaft, die sich positiv zum ärztlich assistierten Suizid äußerten. Alle anderen Kategorien wurden nur ver- einzelt genannt. Dem organisierten assistierten Suizid konnten nur einzelne Stimmen von Interessenorganisation, VertreterInnen der Rechtswissenschaft, SPD, PDS/Die Linke und der Grünen etwas abgewinnen.

199 Kapitel 6

Abbildung 6.34: Bezugsnetzwerk, Zustimmung (2010 – 2014)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.09. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Wie das Netzwerk in Abbildung 6.35 zeigt, wurde primär der organisierte assistierte und danach folgend der ärztlich assistierte Suizid abgelehnt. Die CDU/CSU lehnte vor allem den kommerziell organisierten Suizid ab. Es gab auch Stimmen aus den Reihen des Christ- demokraten, die den ärztlich assistierten Suizid verbieten wollten. Die Bundesärztekammer und die MedizinerInnen sprachen sich gegen beide Formen des assistierten Suizids aus. Ebenfalls ablehnend äußerten sich die katholische Kirche und die SPD. Im Vergleich der beiden Abbildungen zeigt sich, dass vor allem die CDUC/CSU in- tern gespalten waren, was den ärztlich assistierten Suizid betrifft. Die SPD hingegen hegte weitgehende Sympathie für diese Form der Suizidbeihilfe. Die Ärzteschaft war sich hin- sichtlich des ärztlich assistierten Suizids ebenfalls nicht einigt. Bei den ablehnenden Aus- sagen wurde eine generell größere Zurückhaltung der AkteurInnen festgestellt, als bei den zustimmenden Aussagen.

200 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.35: Bezugsnetzwerk, Ablehnung (2010 – 2014)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.071 Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Begründungen für die einzelnen Formen der Sterbehilfe nicht in die Abbildung aufgenommen. Den ärztlich assistierten Suizid hiel- ten vor allem die MedizinerInnen und die katholische Kirche für unethisch, während diver- se Stimmen wiederum ein Verbot für unethisch hielten (vgl. Anhang 11.5). Insgesamt zeigt sich, dass die Parteien dem ärztlich assistierten Suizid nicht völlig ablehnend gegenüber- stehen, aber sehr wohl dem organisierten assistierten Suizid.183

Netzwerke der AkteurInnen Schließlich werden wiederum Diskursetzwerke der AkteurInnen betrachtet, getrennt nach Zustimmungen zu bzw. Ablehnung von Aussagekategorien. Die Ärzteschaft, die SPD, Ak- teurInnen der Gesellschaft und die CDU/CSU teilten eine Reihe von inhaltlichen Gemein- samkeiten (Abbildung 6.36), waren sich aber auch in einer Reihe von Punkten nicht einig (Abbildung 6.37). Wobei zwischen den beiden Parteien in der Summe die Übereinstimmung überwog. Im Konfliktnetzwerk spielten die gesellschaftlichen Stimmen eine größere Rolle, sie stan-

183 Dies entspricht der Tatsache, dass es über Letzteres Ende 2015 zu einer Abstimmung und dem Verbot kam. 201 Kapitel 6 den insbesondere der CDU/CSU und der Ärzteschaft gegenüber. Die Gespaltenheit in der Großen Koalition und zur Bundesärztekammer erschwerte zunächst die Politikentschei- dung.

Abbildung 6.36: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (2010 – 2014)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.431; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich in Übereinstimmung mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der übereinstimmenden Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

202 Fallstudie I – Sterbehilfe

Abbildung 6.37: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (2010 – 2014)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.418; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellipse, umso häufiger habe verschiedene AkteurInnen haben sich in Konflikt mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der konfliktiven Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

6.5.3 Zusammenfassung

Zentrales Thema im letzten Untersuchungsabschnitt war der assistierte Suizid, und zwar hauptsächlich in der Form des organisierten assistierten Suizids. Es gab dazu keine neuen Entwicklungen im Ausland oder auf internationaler Ebene, welche die Diskussion ange- schoben hätten. Vielmehr waren die Sterbehilfeorganisationen (vor allem der deutsche Ableger der Schweizer Dignitas) den PolitikerInnen ein Dorn im Auge. Anläufe zu einem entsprechenden Verbot waren schon im zweiten Untersuchungsabschnitt unternommen worden und gescheitert. Nachdem die Einführung der Patientenverfügung und damit die indirekte Regulierung der passiven Sterbehilfe geglückt waren, rückte nun der assistierte Suizid in den Fokus. Während die Gesellschaft dazu eine relativ liberale Einstellung hatte und sich gesellschaftliche Gruppierungen kaum in die Diskussion einbrachten184, verblieb die Diskussion eines Verbots auf der politischen Agenda. Das Berliner Urteil kann als wegweisend eingestuft werden, da es die „Macht“ der Bundesärztekammer in einem wesentlichen Punkt reduzierte: Die Selbstregulierung und Durchsetzung der Standesregeln gegenüber der eigenen Ärzteschaft waren nicht mehr ab- solut möglich. Dieses Urteil könnte auf den Gesetzgeber als Katalysator gewirkt haben.

184 Was auch daran liegen könnte, dass die Diskussionen erst während des Jahres 2015 konkreter wurden, im Vor- lauf der Abstimmung Ende 2015. Dieser Zeitraum liegt aber außerhalb des Untersuchungszeitraums. 203 Kapitel 6

Man wollte verhindern, dass ÄrztInnen im Rahmen der Angebote der Sterbehilfeorganisa- tionen Sterbehilfe anbieten. Das kann schlussendlich zur Gesetzgebung vom November 2015 beigetragen haben, die hier aber nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Weitere Urteile der Gerichte unterstreichen die absolute Gültigkeit des Patientenwillens. Die partei- und koalitionsinterne Gespaltenheit führte zum Scheitern von Gesetzes- initiativen. Erst die offene Debatte und die Gewissensentscheidung bei der Patientenverfü- gung führten zum Erfolg. Unterstützend dürfte sich hier auch ausgewirkt haben, dass es durch die Gerichtsurteile und die Forderungen der Ärzteschaft nicht mehr möglich war, die Materie unreguliert zu belassen. Der Umfang des Diskurses fiel wesentlich geringer aus als im vorherigen Zeitab- schnitt (auch dann, wenn man den geringeren zeitlichen Umfang berücksichtigt). Erst ge- gen Ende des Zeitraums, im vierten Quartal 2014, nahm die Diskussion noch einmal Fahrt auf, als es im Zuge der Kontroverse um den organisierten assistierten Suizid zu einer ersten Aussprache im Bundestag kam. Der ärztlich assistierte und der gewerblich organisierte assistierte Suizid waren die Themen, welche am umfangreichsten diskutiert wurden. Wie- der brachten sich die politischen AkteurInnen am umfangreichsten in die Diskussion ein, allen voran die CDU/CSU und die SPD. Weiterhin waren die MedizinerInnen bzw. die Bundesärztekammer sehr engagiert. Zwischen diesen drei Akteurinnen gab es eine große Übereinstimmung, aber auch verschiedene Konflikte. Konträre Aussagen kamen von den MedizinerInnen und der CDU/CSU auf der einen und VertreterInnen gesellschaftlicher Gruppen auf der anderen Seite. Hier zeichnet sich die Agendasetzung ab, die schließlich Ende 2015 zur Regulierung des gewerblichen assistierten Suizids führte. Dies liegt jedoch außerhalb des Untersuchungszeitraums.

6.6 Zusammenfassung und Abgleich mit Erwartungen

Im letzten Abschnitt dieses Analysekapitels zur Sterbehilfe werden zunächst die Erkennt- nisse komprimiert dargestellt. Anschließend werden Bezüge zu den formulierten Erwar- tungen aus dem Theoriekapitel hergestellt. Ein vollständiger Abgleich mit den Erwartun- gen ist hier noch nicht möglich. Dieser erfolgt in Kapitel 8.

6.6.1 Zusammenfassung

Selbsttötung und Sterbehilfe waren seit jeher in der christlichen Kultur tabuisiert und sank- tioniert. Der Mensch erhalte sein Leben von Gott und daher könne nur Gott das Leben

204 Fallstudie I – Sterbehilfe wieder nehmen, so die religiöse Vorstellung vom Kreislauf des Lebens. Dieses Leben dür- fe von anderen nicht angetastet werden, dies verbiete das sechste Gebot. Im Zuge der Nati- onalstaatsbildung und Säkularisierung beanspruchte der Staat die Gewalt über die Durch- setzung gesellschaftlicher Normen und die Setzung von Recht und Unrecht. Christlich- religiöse Überzeugungen gingen teilweise in der Rechtsetzung auf. Während der Straftat- bestand des Selbstmords schon seit Langem aus den Gesetzbüchern getilgt wurde, ist Mord sanktioniert, und Beihilfe zum Selbstmord wird durch die unterlassene Hilfeleistung indi- rekt zum Straftatbestand (Benzenhöfer 1999; Feldmann 2004; Holzhauer 2000; Wuktetis 2006). Werden die Selbsttötung und die Sterbehilfe lange Zeit als Folge der Verbrechen im Nationalsozialismus tabuisiert (Fittkau und Gehring 2008; Schwartz 1998), scheint dieses Tabu in den letzten Jahren kontroversen Diskussionen über das Für und Wider der ver- schiedenen Sterbehilfeformen gewichen zu sein. Über Landesgrenzen hinweg beachtete Einzelschicksale, kritisch beobachtete „Einzelkämpfer“ wie Roger Kusch, Gerichtsurteile über Einzelfälle mit wegweisender Richtung und die Äußerungen von Berufsgruppen und Interessenorganisationen wie JuristInnen, Ärzteschaft und den Kirchen sorgten dafür, dass das Thema in der Öffentlichkeit präsent war. Die Diskussion wurde öffentlich geführt, davon zeugen die 1020 Zeitungsartikel der FAZ mit 1220 Aussagen, die über die 25 Untersuchungsjahre identifiziert wurden. Zwei Entwicklungen haben die Diskussion über die Sterbehilfe in den letzten Jahren vorange- trieben: zum einen die gesellschaftliche Liberalisierung und Emanzipierung von christli- chen Lehren. Das Recht auf Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Leben gelte auch für das Lebensende, so BefürworterInnen einer Liberalisierung der Sterbehilfe. Weder kirchliche Lehren noch der Staat hätten das Recht, den BürgerInnen vorzuschreiben, wie lange und unter welchen Umständen sie zu leben hätten. Weiter gab es gemäßigte Stim- men, die anmahnten, zumindest bei der passiven Sterbehilfe dafür zu sorgen, dass die Ärz- tInnen nicht mehr alles versuchten, um Sterbenden das Leben zu verlängern, wenn dies nur eine Qual für die Menschen bedeutete. Das ist nämlich die zweite Entwicklung, welche die Sterbehilfediskussion vorantrieb: Durch die medizinisch-technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hatten sich von KritikerInnen als „Apparatemedizin“ kritisierte Behand- lungsoptionen ergeben, die mit großem finanziellem Einsatz die Lebensverlängerung der todkranken PatientInnen ermöglichten. Für ÄrztInnen wurde es zunehmend schwierig, zu entscheiden, wann eine Therapie abgebrochen werden sollte. Moralisch wie rechtlich woll- ten und konnten sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, nicht alles versucht zu haben, um den PatientInnen zu helfen.

205 Kapitel 6

Ende der 1980er Jahre begann die Bundesregierung das Betreuungsrecht grundle- gend zu überarbeiten. Das führte mittelfristig dazu, dass den PatientInnen mehr Rechte in die Hand gegeben wurden. Gleichzeitig fiel eine Reihe von Gerichtsentscheiden, welche die Rechtsetzung per Urteil weiterentwickelten, insbesondere im Bereich der passiven Sterbehilfe. Was der Staat bis dato nicht geschafft hatte, übernahmen das Bundesverfas- sungsgericht und die Landesgerichte: Sie definierten Umstände, unter denen unerwünschte Behandlungen eingestellt werden durften, auch wenn dies zum Tode der PatientInnen füh- ren konnte. Bis Mitte der 1990er Jahre wurde das Thema Sterbehilfe in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. In Ermangelung legislativer Tätigkeit sind Gerichtsentscheide zu einem wichtigen Wegweiser geworden: So definierte beispielsweise der Bundesgerichtshof 1994 den Patientenwillen als ausschlaggebendes Kriterium, um eine medizinische Behandlung zu beenden. Mit dem Urteil wurde die Legalität der passiven Sterbehilfe bekräftigt (Ben- zenhöfer 1999).185 Verschiedene Urteile zur Sterbehilfe, die Diskussion innerhalb der Ärz- teschaft und die Änderung des ärztlichen Standesrechtes sowie die beginnende politische Diskussion über eine Änderung des Betreuungsrechts führten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu einer intensiveren Diskussion. Es zeigt sich, dass in den Jahren von 1990 bis 1998 die Beteiligung an der Diskussion eher gering war und sich hauptsächlich die Ärzteschaft eingebracht hatte. Zentral wurden die passive und die aktive Sterbehilfe disku- tiert. Während die passive Sterbehilfe Zustimmung erfuhr, wurde die aktive Sterbehilfe vehement abgelehnt. Die Ärzteschaft erfuhr vor allem Übereinstimmung mit den christli- chen Kirchen und der Gesellschaft. Mit den Grünen, den Gesellschaftswissenschaften und der CDU/CSU fand sie in geringerem Umfang einen Konsens. Die Entwicklungen in den Nachbarländern – insbesondere in der Schweiz, den Nie- derlanden und in Belgien – hatten Folgen für Deutschland. Die in der Schweiz ansässige Sterbehilfeorganisation Dignitas eröffnete in den 2000er Jahren eine Zweigstelle in Deutschland. Es wurde zunehmend bekannt, dass sich Sterbewillige zudem in die Schweiz begaben, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Die Niederlande und Belgien legalisier- ten 2001 bzw. 2002 die aktive Sterbehilfe. In Deutschland wurden diese Entwicklungen kritisch beobachtet. In den 2000er Jahren wurde das Thema insgesamt mehr diskutiert als im Jahrzehnt zuvor. Allerdings war die Volatilität hoch. Auch international Aufsehen erre- gende juristische Auseinandersetzungen über individuelle Sterbehilfe (zum Beispiel der Fall Terri Schiavo in den USA) wurden in Deutschland diskutiert. Die Versuche der Bun- desregierung, mittels Arbeitsgruppen, sowie des Bundestages, mittels der Enquete- Kommission, eine gesetzliche Konkretisierung der unzureichend regulierten Sterbehilfe

185 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.09.1994 (1 StR 357/94). 206 Fallstudie I – Sterbehilfe vorzubereiten, wurden in den Zeitungen ebenso thematisiert wie weitere einschlägige Ge- richtsurteile. Ab Mitte der 2000er Jahre engagierten sich SterbehilfebefürworterInnen verstärkt in der deutschen Öffentlichkeit. Vor allem die VertreterInnen der Schweizer Sterbehilfeorga- nisation Dignitas forderten eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Dies und die Tatsa- che, dass Dignitas einen deutschen Ableger gründete, stießen auf breites Echo. In den fol- genden Jahren wurde die Patientenverfügung entwickelt. Sie sollte es jeder einzelnen Per- son ermöglichen, ihre Behandlungswünsche festzuhalten, für den Fall, dass sie diese später nicht mehr mündlich äußern könnte. Die Bundesärztekammer stand dieser Entwicklung zunächst skeptisch gegenüber (1993), begrüßte sie dann aber als wesentliche Hilfe für die Entscheidung des Arztes bzw. der Ärztin (1998). Problematisch war jedoch weiterhin, dass angesichts einer fehlenden verbindlichen und einheitlichen Formvorlage der Patientenver- fügung die Unsicherheit in der Bevölkerung und bei der Ärzteschaft anhielt und es immer wieder zu Konflikten über die Umsetzung des mutmaßlichen Patientenwillens kam. 2003 erging ein weiteres Urteil des Bundesgerichtshofs, in dem die passive Sterbe- hilfe und die Patientenverfügung gestärkt wurden: „Ist ein Patient einwilligungsunfähig und hat sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen, so müssen lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn dies seinem zuvor – etwa in Form einer sog. Patientenverfügung – geäußerten Willen entspricht.“186 Daraufhin engagierte sich die Politik dafür, die Grauzone in der Patientenverfügung zu beseitigen und eine gesetzliche Basis für die Sterbehilfe zu formulieren. Die Initiative begann unter der rot-grünen Bundesregierung. Im Bundestag beschäftigte sich die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ mit dem Thema.187 Zudem setzte die Regierung eine ExpertInnenkommission ein, in der unter anderem JuristInnen, ÄrztInnen und die Kir- chen vertreten waren (Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 2004). Bundes- justizministerin Brigitte Zypries (SPD) präsentierte 2004 einen Gesetzesvorschlag. Danach sollten schriftliche und mündliche Patientenverfügungen erlaubt und für den behandelnden Arzt verbindlich sein. Im Bundestag ließ sich jedoch keine Mehrheit für den Vorschlag finden. Nach den Bundestagswahlen von 2005 bildeten CDU/CSU und SPD eine Große Koalition. Das Thema Patientenverfügung wurde in der neuen Legislaturperiode wieder aufgegriffen (CDU/CSU/SPD 2005). Die Abstimmung wurde als Gewissensentscheidung deklariert, und somit konnten die Abgeordneten ohne Fraktionsdisziplin abstimmen. 2009 gelang die Abstimmung über drei verschiedene Initiativen, und so wurde die schriftliche

186 Bundesgerichtshof, Urteil vom 17.03.2003, XII ZB 2/03, S. 1. 187 BT Drs. 15/5980, 06.09.2005. 207 Kapitel 6

Patientenverfügung eingeführt. Im Zeitraum von 1999 bis 2009 dominierten dann die CDU/CSU, die SPD, AkteurInnen aus der Gesellschaft und die beiden Kirchen den Dis- kurs. Auch die anderen Bundestagsparteien äußern sich häufiger, was zeigt, dass das The- ma auf der politischen Agenda angekommen war. Im Zentrum der Diskussion stand die Forderung nach Verbesserungen in der Sterbebegleitung, die starke Unterstützung erfuhr, und die aktive Sterbehilfe, welche weiterhin strikt abgelehnt wurde. Mit einer neuen Herausforderung sah sich der Gesetzgeber ab Mitte der 2000er Jahre konfrontiert durch Einzelpersonen und Organisationen, die in Deutschland Menschen Hilfe beim Suizid anboten und dies teilweise auch durchführten. Bekanntheit erlangten hier der deutsche Ableger des Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas und der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU/CSU). Während Gerichte das Vorgehen Kuschs schließ- lich stoppten, versuchte der Gesetzgeber bis 2014 vergeblich, den organisierten assistierten Suizid zu verbieten. Ein Versuch scheiterte, da die Formulierung des Gesetzentwurfs den assistierten Suizid für nichtgewerbliche Helfer zugelassen hätte. Mitte 2012 rief der Ge- setzentwurf von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Kont- roversen hervor und wurde kurze Zeit später verworfen. Zum Ende des Jahres 2014 nahm die Diskussion wieder Fahrt auf, weil der Bundestag eine Grundsatzdebatte über die Ster- behilfe durchführte. Weitere Entwicklungen gab es in der Ärzteschaft seit den 1990er Jahren. Die Unter- stützung des Selbstmords durch die Bereitstellung von tödlichen Medikamenten wurde und wird nicht offiziell gutgeheißen. Die entsprechende Formulierung in den Leitlinien änderte sich jedoch. Wurde die Assistenz früher als Verstoß gegen das ärztliche Ethos verboten, so wird sie heute lediglich als nicht-ärztliche Aufgabe deklariert (Bundesärztekammer 2010, 2011b). Der Deutsche Ärztetag von 2011 entschied, dass es ÄrztInnen generell verboten ist, dem Todeswunsch von PatientInnen zu entsprechen und bei der Selbsttötung unterstüt- zend tätig zu werden (Bundesärztekammer 2011a). 2012 urteilte jedoch das Berliner Ver- waltungsgericht, dass es der dortigen Landesärztekammer nicht per se erlaubt sei, ÄrztIn- nen zu verbieten, ihren PatientInnen todbringende Medikamente zu überlassen.188 2010 bis 2014 bestritten hauptsächlich die Regierungsparteien, CDU/CSU und SPD, und die Ärzte- schaft den Diskurs. Übereinstimmungen fanden sich in der Gruppe von CDU/CSU, SPD, Kirchen, Gesellschaft, Ärzteschaft, wobei es zwischen CDU/CSU und SPD auch eine Rei- he von Konflikten gab. Der ärztlich assistierte Suizid erfuhr Unterstützung. Dies vor allem, weil man ihn im Vergleich zum organisierten assistierten Suizid für vertretbar hielt.

188 Verwaltungsgericht Berlin, Entscheidung vom 30.03.2012 (Z. 9 K 63.09). 208 Fallstudie I – Sterbehilfe

Die Inhalte der Diskursnetzwerkanalyse Abbildung 6.38: Bezugsnetzwerke, 1990 – lassen sich anhand der Abbildung 6.38 zu- 2014 sammenfassend veranschaulichen: Der Vergleich der Bezugsnetzwerke für die drei Zeiträume 1990 bis 1998, 1999 bis 2009 und 2010 bis 2014 (vgl. Abbildung 6.38) zeigt nochmals den Wandel im Diskurs über den gesamten Untersuchungszeitraum auf. Im ersten Abschnitt waren die passive

und die aktive Sterbehilfe zentrale Themen 1990 – 1998 und wurden vor allem von MedizinerInnen und der Bundesärztekammer diskutiert. Insgesamt zeigt das „dünne“ Netzwerk, dass der Diskurs nicht sonderlich ausge- prägt war, was der politischen Nicht- Behandlung entspricht. In den Jahren 1999 bis 2009 gab es dann eine umfangreiche Diskussion über die aktive Sterbehilfe. Zu- dem rückten die Patientenverfügung und

die Sterbebegleitung in den Fokus. Nun 1999 – 2009 brachten sich mehrere AkteurInnen ein, und insbesondere die Parteien beteiligten sich am Diskurs. Dies spiegelt die Agendaset- zung und schließlich Politikentscheidung der Patientenverfügung wider. Hier zeigt sich das erhöhte Reformtempo. Im letzten Zeitraum nahm der Diskurs wieder ab. Vor allem der ärztlich assistierte Suizid und der organisierte assistierte Suizid wurden debat-

tiert. Eine erste Orientierungsdebatte fand 2010 – 2014 Ende 2014 im Bundestag statt, welche die Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung. öffentliche Diskussion entsprechend befeu- erte.

209 Kapitel 6

6.6.2 Erkenntnisse

Im diesem Abschnitt werden entlang der im Theoriekapitel 4 entwickelten Erwartungen die empirischen Erkenntnisse aus der dichten Fallbeschreibung und den Diskursanalysen kompakt dargestellt. Ein Abgleich mit den Erwartungen und eine Beurteilung, welche Er- wartungen bestätigt werden können, ist hier noch nicht möglich. Dies kann erst im Ver- gleich mit den Erkenntnissen zur embryonalen Stammzellforschung in der vergleichenden Fallanalyse in Kapitel 8 geschehen. Zunächst werden die im Rahmen der Agendasetzung potenziell wirkenden Faktoren Problemperzeption, historische Erblast, externe Einflüsse, gesellschaftliche Werteinstel- lungen, parteipolitische Präferenzen und Gerichte betrachtet. Es folgenden die Faktoren der Politikentscheidung: institutionelle, parteipolitische und gesellschaftliche VetospielerInnen sowie AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs.

Problemperzeption Vier Faktoren spielten bei der Problemperzeption in unterschiedlichem Ausmaß eine Rolle: der medizinisch-technische Fortschritt, die diversen Gerichtsurteile, die Rechtsentwicklun- gen in den Nachbarländern Niederlande, Belgien und Schweiz sowie der gesellschaftliche Wandel. Durch den medizinisch-technischen Fortschritt ist es möglich, das Leben von Men- schen zu verlängern, auch bei schwersten Krankheiten bzw. im hohen Alter. Dafür müssen allerdings unter Umständen Konsequenzen in Kauf genommen werden, wie anhaltende schwere physische und psychische Beschwerden, welche für die Betroffenen zu einer im- mensen Belastung werden können. Es kann dann der Wunsch nach Sterbehilfe im Raum stehen. Dies führte immer wieder zu Konflikten darüber, wann und unter welchen Umstän- den eine Person aus dem Leben scheiden darf, wann beispielsweise lebenserhaltende Maß- nahmen fortgesetzt oder abgebrochen werden sollten. Dieser Konflikt kreiste damit im Wesentlichen um die passive Sterbehilfe. Viele ÄrztInnen waren sich hierin unsicher und entschieden sich daher eher für eine lebensverlängernde Behandlung, wenn die PatientIn- nen sich nicht mehr äußern konnten. Die ÄrztInnen fürchteten gegen den Willen der Pati- entInnen zu handeln, wenn sie ihn oder sie sterben ließen, und sich darüber hinaus auch strafbar zu machen. Dahingegen kam es vor, dass Angehörige behaupteten, der Patient oder die Patientin hätte die lebensverlängernde Behandlung nicht gewollt. Das deutsche Recht war auf diese Entwicklungen nicht ausgelegt, da im Bereich Sterbehilfe eine teilwei-

210 Fallstudie I – Sterbehilfe se restriktive, teilweise eine Nicht-Regulierung vorherrschte. Der Gesetzgeber hatte sich dieses Problems jedoch lange nicht angenommen und sich auf das ärztliche Standesrecht verlassen. Diese Rechtsunsicherheit hatte jedoch zur Folge, dass es zu einer wachsenden Zahl von Gerichtsverfahren über die Zulässigkeit von einzelnen Fällen passiver Sterbehilfe kam, was jeweils deutlich die regulatorischen Lücken aufzeigten (siehe auch Abschnitt zu den Gerichten). Zudem wuchs seit den 1990er Jahren die Zahl unterschiedlichster Patientenver- fügungen. Diese waren nicht normiert und führten daher ebenfalls zu Verunsicherung bei Angehörigen und ÄrztInnen bzgl. ihrer Gültigkeit. Gleichzeitig hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten eine radikale Entwick- lung und Veränderung durchgemacht, die unter anderem zu einer starken Konzentration auf das Individuum geführt hat. Diese Individualisierung führte dazu, dass verstärkt über das Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung – auch über sein Leben und seinen Tod – diskutiert wurde. Dies zeigt sich zum einen in Umfragen zur Sterbehilfe, in denen die deutsche Bevölkerung eine liberale Haltung eingenommen hatte. Zum anderen manifestierte sich diese Entwicklung in der Gründung von Sterbehil- fevereinen, die auf Angebots- wie Nachfrageseite Wachstum verzeichneten. Diese Sterbe- hilfevereine forderten mit ihren Vorstößen beim assistierten Suizid wiederum eine Reakti- on der Politik heraus. Die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas gründete 2005 eine deutsche Dependance, mit der sie den assistierten Suizid anbieten wollte. Dies führte zur Agendasetzung der gewerblichen Sterbehilfe in Form von Gesetzgebungsinitiativen auf Landes- und Bundesebene. Diese Agendasetzung erfolgte insgesamt relativ langsam, da es sich um eine akku- mulierte Problemperzeption eines Grundsatzproblems und nicht um eine plötzliche und umfassende moralische Panik handelte.

Historisch-politische Erblast Bei der Sterbehilfe kann man von drei Formen der Erblast sprechen: der christlichen, der nationalsozialistischen und der sich daraus ergebenden regulatorischen Erblast. Die christliche Erblast ist die über Jahrhunderte kultivierte Vorstellung des Selbst- mords als Sünde. Das von Gott gegebene Leben darf aus dieser Sicht nicht vom Menschen selbst verwirkt werden. Ebensowenig darf folglich die Assistenz zum Suizid erfolgen. Die- se Vorstellung herrschte vor allem bei den Kirchen lange vor. Allerdings haben sie sich in den letzten Jahren von der absoluten Verbotshaltung abgewendet und unterstützen die pas- sive Sterbehilfe.

211 Kapitel 6

Das nationalsozialistische Erbe wirkte in der Bundespolitik seit Jahrzehnten nach, gerade bei umstrittenen biomedizinischen Politiken. Das zeigte sich bei der Sterbehilfe bereits in der Begriffsverwendung: Während in den anderen Staaten von „Euthanasie“ ge- sprochen wird, verwendet man in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg den Begriff „Sterbehilfe“, um eine begriffliche Bezugnahme auf die Euthanasieprogramme des Dritten Reichs zu vermeiden. Niemand kann „dem Schatten der deutschen Geschichte bei diesem Thema entrinnen. Das gilt unabhängig davon, ob man Argumente, die daraus abgeleitet werden, für berechtigt hält oder nicht“ (Nationaler Ethikrat 2006, S. 37). Das Thema wurde zwar in juristischen Fachkreisen früh diskutiert und die Bundesärztekammer befasste sich wiederholt damit, doch eine umfassende politische und öffentliche Auseinandersetzung fand lange Zeit nicht statt. In den größeren Debatten der jüngeren Zeit wurde von Gegne- rInnen einer Liberalisierung eingewandt, dass man keinen Dammbruch wolle, der zur Tö- tung von als unwertes Leben definierten Lebens führe. Eine weitere Erblast stellt auch die bisherige Regulierung dar, die von den beiden be- reits genannten Faktoren beeinflusst ist. Sie ist in Teilen restriktiv und in Teilen nicht ge- nau definiert. Diese Regulierung und deren praktische Handhabung sind dabei eng mit den Lehren aus dem Nationalsozialismus verbunden. Die aktive Sterbehilfe ist seit jeher direkt verboten und der assistierte Suizid für ÄrztInnen durch die Garantenstellung und die Stan- desregeln indirekt ebenfalls nicht erlaubt. An diesen Verboten wurde – anders als zum Bei- spiel in den Niederlanden – nie gerüttelt. Während sich im Nachbarland seit den 1950er Jahren zunächst inoffiziell eine Akzeptanz der ärztlichen Sterbehilfe herausbildete, die durch Gerichtsurteile und später durch Gesetze offiziell legitimiert wurde, hat es diese schleichende Aufweichung des Verbots in Deutschland nicht gegeben. Bezüglich der akti- ven Sterbehilfe, der unterlassenen Hilfeleistung und der Garantenstellung hat der Gesetz- geber eindeutige Regulierungen vorgenommen. In manchen Bereichen hat er die detaillier- te Handhabung der Ärzteschaft überlassen, welche in ihrer Berufsordnung eine eigene nicht-staatliche Regulierung der Sterbehilfeformen für ihre ÄrztInnen festlegte. Die Regu- lierungstiefe war daher nicht sonderlich ausgeprägt. Diese Tatsache erklärt, warum der Gesetzgeber lange Zeit gezögert hat, dieses Thema auf die politische Agenda zu setzen und eine Entscheidung zu treffen; Denn die Selbstregulierung verhinderte zunächst teilweise den Druck, eine unmittelbare Regulierung zu schaffen.

Externe Einflüsse Es gibt eine Reihe von internationalen Übereinkommen zum Schutz des Menschen und seiner Würde. Sie machen aber keine Vorgaben zur Sterbehilfe oder garantieren gar ein

212 Fallstudie I – Sterbehilfe

Recht darauf. In verschiedenen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrech- te wurde das wiederholt bestätigt und damit verdeutlicht, dass jedes Land autonom über die Zulässigkeit und das Ausmaß der Zulassung von Sterbehilfe entscheidet. Umgekehrt kann festgestellt werden, dass es gegen die Liberalisierung in den Niederlanden und Belgien keine BeschwerdeführerInnen gab, die vor einem internationalen Gericht auf ein Verbot der aktiven Sterbehilfe geklagt hätten. Auch hatten die verschiedenen Gerichtsprozesse kaum für Resonanz in der deutschen Diskussion gesorgt. Daher kann davon ausgegangen werden, dass diese Urteile weder direkt noch indirekt Einfluss auf den deutschen Gesetz- geber genommen haben. Wenn überhaupt, dann kann davon ausgegangen werden, dass durch die Urteile deutlich wurde, dass jedes Land autonom über die Regulierung der Ster- behilfe entscheiden kann. Etwas anders sieht es in Bezug auf die Regulierungen in anderen Staaten aus, wie im Abschnitt zur Problemperzeption bereits erwähnt wurde. Regulierungswandel gab es in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg kaum. In den letzten Jahren ist in den westlichen Industrienationen ein Trend zu Liberalisierung und Konkretisierung der Gren- zen der passiven Sterbehilfe zu verzeichnen. Insbesondere stechen die unmittelbaren Nachbarstaaten Deutschlands, nämlich die Schweiz, die Niederlanden und Belgien, hervor. In der Schweiz ist der assistierte Suizid seit 1942 unter bestimmten Umständen legal. Das führte in den letzten Jahrzehnten dazu, dass eine steigende Zahl an Deutschen das Angebot von Schweizer Sterbehilfeorganisationen in Anspruch nahm. Dies wurde in Deutschland durchaus wahrgenommen und als Problem diskutiert. Auch die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden (1993, 2001) und Belgien (2002) wurde in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert und erreichte die Politik: Während die einen darin einen Schritt zur Patientenautonomie sahen, befürchteten die anderen einen Dammbruch hin zur unfrei- willigen Sterbehilfe. Die Bundesärztekammer konkretisierte daraufhin das Standesrecht, die Kirchen mahnten zum Schutz jeden Lebens. So fachte der Regulierungswandel in den anderen Staaten direkt die politische Diskussion an und führte dazu, dass die unklare Regu- lierung der Sterbehilfe als Problem wahrgenommen wurde.

Gesellschaftliche Werteinstellung und Polarisierung In der deutschen Bevölkerung war im Untersuchungszeitraum eine zunehmende Zustim- mung zur passiven Sterbehilfe zu verzeichnen, und die Einstellung zum assistierten Suizid war auch wesentlich liberaler als bei den meisten am Diskurs beteiligten AkteurInnen. Eine Polarisierung in Sinne von zwei ähnlich starken Gruppen, die sich pro bzw. kontra Sterbe- hilfe aussprachen und einander unversöhnlich gegenüberstanden, war in der Bevölkerung

213 Kapitel 6 nicht zu verzeichnen. Die zunehmend liberale Haltung gegenüber dem individuellen Ent- scheid für Leben oder Tod hat aber zu einer größeren Akzeptanz der Sterbehilfe insgesamt geführt und damit ein deutlich liberaleres Klima in der Gesellschaft geschaffen. Ohne dass dies einen radikalen Meinungswandel darstellt, welcher die Sterbehilfe aktiv auf die politi- sche Bühne gehoben hätte, kann man davon ausgehen, dass der Gesetzgeber zumindest eine positive Grundhaltung insbesondere gegenüber der Sterbehilfe in der Bevölkerung wahrgenommen hat. Bei der Sterbehilfe gab es zwei starke gesellschaftliche Akteurinnen, die katholische und die evangelische Kirche. Beide brachten sich konstant in die Diskussion ein und lehn- ten den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe vehement ab. Der passiven Sterbehil- fe standen sie offen gegenüber, insbesondere was das Sterbenlassen Todkranker am Le- bensende betraf. Eine ähnlich starke Organisation, die sich auf der anderen Seite ebenso vehement für den assistierten Suizid oder die aktive Sterbehilfe ausgesprochen hätte, gab es in Deutschland nicht. Dazu waren die Sterbehilfeorganisationen zu klein und ver- gleichsweise wenig in der Gesellschaft verwurzelt. Die ÄrztInnen waren sich weitestge- hend einig in ihrer Ablehnung der aktiven Sterbehilfe und des assistierten Suizids, und die Stimmen aus der Rechtswissenschaft haben zwar eine eher offene Position an den Tag ge- legt, ohne dabei aber eine geschlossene und durchsetzungsfähige Pro-Position einzuneh- men. Angesichts der restriktiven Gesetzeslage gab es daher keine starken gesellschaftli- chen AkteurInnen, die ein Interesse oder die Ressourcen gehabt hätten, die Gesellschaft zu mobilisieren, um das Thema Sterbehilfe auf die politische Agenda zu hieven und den Po- licy-Wandel voranzubringen. In den 2000er Jahren trugen allerdings die gezielten und öffentlichkeitswirksamen inszenierten Aktionen von Einzelpersonen wie Roger Kusch und Sterbehilfeorganisatio- nen, allen voran Dignitas, im Bereich der assistierten Sterbehilfe dazu bei, die GegnerIn- nen dieser Sterbehilfeform zu aktivieren. Folglich wurde das Thema von den Kirchen und der Ärzteschaft und dann von den politischen AkteurInnen als Problem definiert und auf die Agenda gesetzt. Dies weist auf, dass auch kleine Organisationen einen Einfluss auf das Politikgeschehen haben, wenn es sich um sensible und möglicherweise nicht ausreichend regulierte Politiken handelt, bei denen es weniger um das Ausmaß einer Handlung als vielmehr um die grundsätzliche Frage nach Richtig und Falsch geht und bei denen die Aufmerksamkeit der politischen AkteurInnen entsprechend hoch ist und die Position und Handlung der Organisation oder Person extrem sind.

214 Fallstudie I – Sterbehilfe

Parteiinteressen und -konfliktlinien Die Bundestagsparteien hatten in Bezug auf die Sterbehilfe eine schwierige Position. Zum einen waren sie sich – mit einigen anderslautenden Einzelstimmen – in Bezug auf die akti- ve Sterbehilfe einig. Es sollte bei einem Verbot bleiben. Bei den anderen Formen der Ster- behilfe gingen die Meinungen auseinander, und dies meist nicht über die Parteigrenzen hinweg, sondern innerhalb der Parteien. So waren die Parteien gespalten in der Frage, ob der assistierte Suizid erlaubt werden sollte oder nicht. Von den Fraktionen sprach sich al- lein die FDP fast geschlossen für eine Liberalisierung aus. Bei den anderen Fraktionen zeigte sich in den Debatten und den öffentlichen Äußerungen deutlich die interne Hetero- genität. Trotz des vorhandenen religiösen Parteiencleavages positionierte sich keine Partei eindeutig zur Sterbehilfe. Die implizite Regelung wurde von keiner Partei angetastet, im stillschweigenden Konsens, dass dieses „heiße Eisen“ nicht zu einem Konflikt im Bundes- tag führen sollte. Diese Fragmentierung hatte bisher auch Auswirkungen auf das Agieren der CDU/CSU-Fraktion. Von den christlich-konservativen Parteien könnte man annehmen, dass ihnen an einem klaren Verbot der Sterbehilfeformen gelegen sei. Im Fall der passiven Sterbehilfe hatten die Kirchen aber eine liberalere Haltung entwickelt, und beim assistier- ten Suizid gab es zwischen den beiden Kirchen unterschiedliche Ansichten. Daher wurde bei den Christdemokraten, wie bei den anderen Parteien, eine konsequente Agendasetzung vermieden. Im Untersuchungszeitraum waren die religiöse Konfliktlinie nicht immer in der Re- gierung verankert. Angesichts der dominierenden Nicht-Regulierung im Bereich der Ster- behilfe kann über den Effekt dieser Konfliktlinie keine direkte Aussage gemacht werden. Allerdings kann indirekt über die Regulierung der Patientenverfügung und die Agendaset- zung zur Regulierung des gewerblich assistierten Suizids angenommen werden, dass der religiöse Cleavage keine Rolle gespielt hat. Dies auch deswegen, weil es keine parteiinter- ne Kohärenz bei den Themen gab.

Gerichte Die Sterbehilfe ist ein Paradebeispiel für judikative Aktivität bei gleichzeitigem legislati- vem Stillstand. Diese Entscheide erhöhten den Druck auf die Legislative, die Unklarheiten in der Gesetzgebung zu beseitigen und ggf. den liberalen Tonus der Gerichtsurteile im Zu- ge einer Rechtskonkretisierung umzusetzen. Die Urteile fielen oft zugunsten der Sterbehel- ferInnen und dem mutmaßlichen PatientInnenwillen aus und so wiederholt die Grenzen der zulässigen Sterbehilfe ausgelotet und in die liberale Richtung verschoben. Dabei sind die

215 Kapitel 6

Gerichte dort tätig geworden, wo die gesetzlichen Regelungen unkonkret geblieben sind. Damit haben sie zunächst eine Agendasetzung vermutlich eher verlangsamt, indem sie heikle Kontroversen entschieden und damit Druck vom Gesetzgeber genommen haben, das Recht zu konkretisieren. Allerdings häuften sich die Urteile, und der allgemeine Tenor in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik war, dass hier die Gerichte die ureigenen Aufgaben der untätigen Politik übernehmen würden. Die Agendasetzung fand schließlich nicht statt durch eine ultimative Aufforderung eines Gerichts an den Gesetzgeber, sich des Themas anzunehmen, oder durch ein Urteil, das der Gesetzgeber strikt ablehnte und daher ein ent- sprechendes Gesetz erlassen wollte. Stattdessen wurde Agendasetzung im Bereich der pas- siven Sterbehilfe betrieben, weil der Gesetzgeber unter Druck geriet, dieses Thema endlich zu regeln und nicht durch die Gerichtsentscheide konkretisieren zu lassen. Der Faktor hängt eng mit der oben bereits diskutierten akkumulierten Problemperzeption zusammen.

Institutionelle VetospielerInnen Der Bundespräsident hat weder die Unterschrift unter ein ausgefertigtes Gesetz verweigert, noch sich im Vorfeld kritisch geäußert. Das Bundesverfassungsgericht wurde nicht angeru- fen. Der Bundesrat hingegen hatte eine blockierende Funktion in der Sterbehilfepolitik. 2005 stellte bei einer rot-grünen Bundesregierung und entsprechender Mehrheit im Bun- destag die christdemokratisch-liberale Opposition in der zweiten Kammer die Mehrheit. Sie stoppte das Reformprojekt der Regierung zur Patientenverfügung. Der Bundesrat wur- de allerdings auch von parteiinternen KritikerInnen genutzt, um Reformen zu beeinflussen: So wurden im Entwurf zum Verbot der kommerziellen Sterbehilfe, das aus dem FDP- geführten Justizministerium stammte, bereits Zugeständnisse an einzelne Landesregierun- gen gemacht, da eine potenzielle Blockade des zustimmungspflichtigen Gesetzes im Bun- desrat antizipiert wurde. Damit hatte der Bundesrat einen Regulierungswandel ausge- bremst. Zudem wurden innerhalb des Bundesrates Reformvorschläge blockiert, wobei dies parteiübergreifend passierte. So kann der Bundestag in diesem Fall ebenfalls als Vetospie- ler aufgefasst werden.

Parteipolitische VetospielerInnen Bei der dritten Änderung des Betreuungsrechts ging es direkt um die Patientenverfü- gung.189 Der Entwurf dazu wurde fraktionsübergreifend im Bundestag eingebracht. Ein Vetospiel der Parteien war so von vornherein unmöglich.

189 Die Einführung des Betreuungsrechts 1992 wurde mit Ausnahme der Grünen von allen Parteien getragen, die ersten Änderungen im Betreuungsrecht 1998 wurden im klassischen Regierungs-Oppositions-Stil, die zweiten Änderungen 2005 wiederum einstimmig verabschiedet. Allerdings sollte man dieses Gesetz bei der Bewertung 216 Fallstudie I – Sterbehilfe

Die Uneinigkeit innerhalb der Parteien bezüglich der Sterbehilfe blockierte mehrmals den Reformprozess. Bei der Patientenverfügung scheiterte der erste Entwurf von Bundes- justizministerin Brigitte Zypries an dem mangelnden Rückhalt in den Regierungsparteien. Bei den verschiedenen Anläufen zum Verbot der organisierten Sterbehilfe waren die Aus- einandersetzungen ebenfalls nicht entlang der Parteigrenzen, sondern mitunter innerhalb der Parteien verlaufen, die Konflikte aus der Agendasetzung setzten sich also fort. So musste die jeweilige Justizministerin 2004 (SPD) und 2013 (FDP) einen Gesetzentwurf nach partei- bzw. regierungsinterner Kritik zurückziehen. 2014 wurde unter Gesundheits- minister Gröhe (CDU/CSU) ein erneuter Anlauf zum Verbot unternommen, diesmal stand am Anfang jedoch kein Gesetzentwurf, sondern eine ergebnisoffene Orientierungsdebatte im Bundestag, die im Inhalt nicht den Parteigrenzen folgte. Insgesamt zeigte sich nur bei der FDP eine weitestgehende Geschlossenheit in Fra- gen der Sterbehilfe. Sie strebte eine Liberalisierung an. Alle anderen Bundestagsparteien waren heterogen in ihrer Meinung, nur beim organisierten assistierten Suizid gab es jeweils eine deutliche Mehrheit von GegnerInnen in jeder Partei (außer bei der FDP). Daher gab es in Fragen der Sterbehilfe im Untersuchungszeitraum nie geschlossene parteipolitische Ve- tospielerInnen, die aktiv eine Entscheidung hätten verhindern können. Vielmehr ist durch die interne Uneinigkeit keine Entscheidung zustande gekommen, indem beispielsweise eigene Gesetzentwürfe zurückgezogen wurden. Die Handhabung der Sterbehilfe durch die politischen EntscheidungsträgerInnen ist durch Nicht-Politisierung, Venue-Shifting und schließlich Gewissensentscheidung geprägt. Es fand zunächst ein Venue-Shifting statt, indem man die Regulierung der Ärzteschaft und den Gerichten überließ. Unter dem Eindruck der aktiv werdenden Sterbehilfeorganisatio- nen und der sich häufenden Gerichtsurteile sah sich der Gesetzgeber schließlich gezwun- gen, aktiv zu werden. Das heikle Thema wurde dann versucht zu entpolitisieren. In der rot- grünen Regierungszeit entschied man sich dafür, das Thema von der Tagespolitik mög- lichst fernzuhalten. So ließen sich kontroversen Debatten im Bundestag vermeiden, bei denen man nicht geschlossen hätte auftreten können, da die Meinungen zur Sterbehilfe innerparteilich auseinandergingen. Das Geschäft wurde an eine Expertenkommission und an die Enquete-Kommission des Bundestages delegiert. Trotzdem gelang es der Regierung nicht, im folgenden Gesetzentwurf eine geschlossene Position einzubringen. Dies lag da- ran, dass einseitig die Vorarbeit der Expertenkommission berücksichtigt und die der En- quete-Kommission nicht beachtet wurde.

eher außen vor lassen, da es wie erwähnt nur indirekt mit der Patientenverfügung und damit mit der passiven Ster- behilfe zu tun hat. 217 Kapitel 6

Die Einführung der Patientenverfügung von 2009 ist geglückt, weil die Entscheidung im Bundestag entpolitisiert wurde: Sie wurde als Gewissensfrage deklariert. Damit wurde die Fraktionsdisziplin aufgehoben und eine fraktionsübergreifende Zusammenarbeit er- möglicht. So war es den Abgeordneten möglich, fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe zu formulieren. Durch die Deklaration als Gewissensentscheidung wurde das Thema auch als so bedeutsam genug geframed, um es den Parteien zu gestatten, ihren Abgeordneten indi- viduelle Entscheidungsfreiheit zuzugestehen. Während diese Strategie für die Patientenverfügung aufging und das Gesetz verab- schiedet werden konnte, war dies für die jüngeren Diskussionen zum organisierten assis- tierten Suizid zunächst nicht geglückt. Im Untersuchungszeitraum kam es zwar zur Agen- dasetzung, eine Entscheidung scheiterte aber zunächst.190

Gesellschaftliche VetospielerInnen Lange Zeit gab es in der Gesellschaft keine starke Interessengruppe, die sich für eine Än- derung der Gesetzeslage im Bereich der Sterbehilfe engagiert hatte. Die Bundesärztekam- mer regelte die Sterbehilfe in ihren Richtlinien und verfuhr dabei strikt. Sie sah daher keine Veranlassung, eine gesetzliche Regelung anzustreben. Die beiden Kirchen sahen mit der Gesetzeslage in Verbindung mit der Handhabung der Sterbehilfe in der Praxis ihre Interes- sen gewahrt, weswegen auch von ihnen keine Anstrengungen zu einer Reform ausgingen. Organisierte BefürworterInnen einer Liberalisierung stellen eine kleine Minderheit dar. So wurde 1980 die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben gegründet. 1985 hatte sie 12.000 Mitglieder (Schneider et al. 1986), im Jahr 2015 waren es 25.000. Sie hatte als einzige Pro-Sterbehilfe Interessengruppe im Vergleich zu den OpponentInnen – in erster Linie die Kirchen und die Ärzteschaft – geringen Einfluss auf die öffentliche Debatte und die Politik. Insbesondere die beiden christlichen Kirchen und die Ärzteschaft haben sich in die Diskussion über die Sterbehilfe eingebracht. Diese Organisationen verfügen zwar über kein gesetzlich garantiertes Mitspracherecht in politischen Entscheidungen. Allerdings verfügen sie durch ihre großen Mitgliederzahlen (die Kirchen insgesamt im Untersu- chungszeitraum zwischen 47 Millionen und 58 Millionen, die Ärzteschaft rund 450.000 im Jahr 2012) über ein breites Mobilisierungspotenzial. Sie nehmen eine eindeutig ablehnende Haltung bezüglich des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe und eine wohlwol- lende Haltung bezüglich der passiven Sterbehilfe ein. Durch ihre Größe und ihr gesell-

190 Erst Ende 2015 – also außerhalb des Untersuchungszeitraums – wurde mit einer fraktionsübergreifenden Strate- gie eine politische Entscheidung herbeigeführt. 218 Fallstudie I – Sterbehilfe schaftliches Ansehen haben diese Organisationen einen informellen Zugang zu den Bun- destagsparteien. Die Ärztelobby wurde eine Zeit lang auch als „unüberwindlich[e] Blocka- de“ (Bandelow 2007, S. 272) im politischen Geschehen angesehen. War sie zunächst ge- gen die gesetzlich verankerte Patientenverfügung, so änderte sie ihre Meinung später und unterstützte die Verfügung. Sie setzte sich angesichts der erstarkenden Sterbehilfe- BefürworterInnen und der Sterbehilfeorganisationen für ein gesetzlich klar geregeltes Ver- bot des organisierten assistierten Suizids ein (Bundesärztekammer 2012). Die Kirchen und die Ärzteschaft haben sich in die gesellschaftliche und politische Diskussion eingebracht und konkret auf Gesetzesvorhaben mit mündlichen und schriftlichen Äußerungen reagiert. Da ihnen traditionell ein Zugang zu politischen AkteurInnen nachgesagt wird (Heichel et al. 2015b), wird ihre Meinung von den politischen AkteurInnen gehört. Kirchen und Ärz- tInnen befürchteten die Legalisierung der gewerblichen Sterbehilfe und wollten dies ver- hindern. Das zeigte sich beispielsweise an der Kritik am Gesetzentwurf zum Verbot der ge- werblichen Sterbehilfe von 2012/2013. Hier bildeten Kirchen und Ärzteschaft eine enge argumentative Koalition mit der CDU/CSU, welche dem Entwurf ebenfalls ablehnend ge- genüberstand. Es ließ sich im Rahmen der Fallanalyse nicht mit Sicherheit feststellen, ob der Gesetzentwurf schließlich aufgrund der Kritik von ÄrztInnen und Kirchen zurückgezo- gen wurde. Es ist allerdings zu vermuten, dass diese Äußerungen zumindest unterstützende Wirkungen hatten. Die Naturwissenschaften und die Wirtschaft haben sich nicht wesent- lich am Entscheidungsprozess beteiligt.

AkteurInnenkoalitionen und Diskurs Im ersten Untersuchungszeitraum standen vor allem die passive und die aktive Sterbehilfe im Zentrum der allerdings nur in sehr geringem Umfang stattfindenden Debatte. Die Par- teien machten im Diskurs nur eine Minderheit aus, was die geringe Politisierung des The- mas widerspiegelt. Vor allem waren MedizinerInnen und die Bundesärztekammer an der Diskussion beteiligt, die sich mehrheitlich gegen die Sterbehilfe und eine Liberalisierung aussprachen. Erst im zweiten Untersuchungszeitraum nahm die Diskussion zu – vor allem über die aktive Sterbehilfe und die Patientenverfügung und Sterbebegleitung. Sie war wiederum geprägt von einer ablehnenden Haltung gegenüber der aktiven Sterbehilfe. Nun beteiligten sich mehr AkteurInnen, insbesondere die Parteien. Im letzten Zeitraum nahm der Umfang des Diskurses wieder ab. Vor allem der ärztlich assistierte Suizid und der organisierte as- sistierte Suizid wurden debattiert.

219 Kapitel 6

Die Aktivitäten auf politischer Ebene spiegeln sich deutlich im Diskurs wider, insbe- sondere über den Umfang der Beteiligung der Parteien. In der Tendenz zeigt sich in den Diskursdaten auch die Regulierung: So wurde die aktive Sterbehilfe durchgehend abge- lehnt, bei der Patientenverfügung setzte hingegen ein Umdenken ein. Das Thema wurde zunächst prominenter im Diskurs thematisiert und schließlich politisch umgesetzt. Die Ent- scheidung zum assistierten Suizid von 2015 zeichnete sich im Untersuchungszeitraum durch die erhöhte Sichtbarkeit im Diskurs und die ablehnende Haltung bereits ab. Im Fall der Patientenverfügung, die indirekt die passive Sterbehilfe reguliert, konn- ten die BefürworterInnen das positive Image schließlich durchsetzen, dass eine vollum- fängliche Verfügung, welche den Willen des Patienten oder der Patientin verschriftlicht, dem Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen zur Geltung verhilft und damit eingeführt werden sollte. Ebenso setzte sich beim assistierten Suizid die Ansicht der GegnerInnen durch, dass der gewerblich angebotene Suizid verboten werden sollte. Diese Deutungsho- heiten ließen sich in den Diskursnetzwerkanalysen nachweisen.

220

7 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Die embryonale Stammzellforschung war 1990 durch das Embryonenschutzgesetz unzu- reichend reguliert worden. Es folgte das Stammzellgesetz von 2002 und dessen Novellie- rung im Jahr 2008. Auf diese beiden Policy-Wandel wird im vorliegenden Kapitel der de- skriptive Schwerpunkt gelegt. Daher ist Kapitel 7 weitestgehend aber nicht vollständig analog zu Kapitel 6 aufgebaut. Zunächst wird die Historie der Forschung an Embryonen und ihre gesetzliche Regulierung in Deutschland auf eventuelle historisch-politische Erb- lasten untersucht (Abschnitt 7.1). Die Regulierungen auf internationaler Ebene und in aus- gewählten Staaten werden im Hinblick auf externe Einflüsse betrachtet (Abschnitt 7.2). Der kompakten und übersichtlichen Darstellung wegen sind die internationalen Entwick- lungen nicht in die anschließenden chronologisch aufgebauten Abschnitte integriert. Diese drei Abschnitte befassen sich mit der Regulierungshistorie von 1990 bis 2014. Jeder Zeit- raum ist unterteilt in die dichte Fallbeschreibung und die Diskursnetzwerkanalyse. Der erste Zeitraum reicht von 1990 mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) bis zum Stamm- zellgesetz (StZG) von 2002 (Abschnitt 7.3). Die zweite Phase (Abschnitt 7.4) umfasst die Jahre 2002 bis 2008, also bis zum Jahr der Stichtagsverschiebung. Die dritte Phase beginnt 2008 nach der Novellierung und endet 2014 (Abschnitt 7.5). Für die ergänzenden Diskurs- netzwerkanalysen werden die unmittelbar vor den Gesetzentscheidungen stattfindenden öffentlichen Kontroversen untersucht (2000 bis 2002 und 2006 bis 2008). Abschnitt 7.6 schließt das Kapitel mit einer Zusammenfassung ab.

7.1 Historisch-politische Erblast

Einerseits hat die embryonale Stammzellforschung selbst eine relativ kurze Geschichte im Vergleich zur Sterbehilfe, da das Verfahren zur Kultivierung und Erforschung der Stamm- zellen im Labor erst 1998 entwickelt wurde. Was der Embryo ist – Mensch oder Zellhau- 221 Kapitel 7 fen –, ob er einen eigenen Lebenszweck hat oder ob Dritte über ihn verfügen dürfen, wurde andererseits nicht erst seit 1998 in wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kreisen diskutiert. Der Umgang mit dem ungeborenen Leben ist im Rahmen des Schwan- gerschaftsabbruchs bereits seit Jahrhunderten immer wieder reflektiert worden. Der Ab- schnitt liefert deshalb zunächst eine historische Betrachtung des Konflikts über das unge- borene Leben und fasst anschließend die rechtliche Ausgangslage zum Startzeitpunkt des eigentlichen Untersuchungszeitraumes im Jahr 1990 zusammen.

7.1.1 Historische Betrachtung

Bereits in der Antike und im frühen Christentum machten sich Gelehrte Gedanken, wie und wann Leben entsteht und „beseelt“ wird. Dazu gab es im Verlauf der Jahrtausende unterschiedliche Ansichten. Die meisten Denker gingen von einer schrittweisen Entwick- lung aus. So nahm Aristoteles an, dass ein Embryo bzw. Fetus zunächst eine pflanzliche, dann eine tierische und schließlich erst mit 40 Tagen (beim männlichen Fetus) bzw. 90 Tagen (beim weiblichen Fetus) eine menschliche Seele habe. Auch im Christentum wurden Stufen der Entwicklung unterschieden, die sich teilweise auf die antike Lehre stützten. Die katholische Kirche ging von 1140 bis 1869 von einer Sukzessivbeseelung aus. Der Schwangerschaftsabbruch war zu allen Zeitpunkten in der Geschichte der Kirche verboten, aber durch die verschiedenen Stadien der Embryoentwicklung ergaben sich auch unter- schiedliche Strafen: So war der frühe Schwangerschaftsabbruch eine mit Buße belegte Sünde. Geschah der Abbruch zu einem Zeitpunkt, zu dem der Fetus bereits beseelt war, so war es aus kirchlicher Sicht ein Mord, der mit Exkommunikation oder dem Tod bestraft wurde. Die Beseelung fand spätestens mit 80 Tagen statt. Vermutlich ging daraus die heu- tige 3-Monats-Frist zum straffreien Schwangerschaftsabbruch hervor (Büchler und Frei 2011). Die Reformatoren wichen in diesen Fragen zunächst nicht von der Haltung der ka- tholischen Kirche ab. Von der Vorstellung der Sukzessivbeseelung nahm die katholische Kirche 1869 Ab- stand und ging nun davon aus, dass der Fetus von Beginn an beseelt sei. Im „Donum Vi- tae“ von 1987 hielt sie fest: „Von dem Augenblick an, in dem die Eizelle befruchtet wird, beginnt ein neues Leben, welches weder das des Vaters noch das der Mutter ist, sondern das eines neuen menschlichen Wesens, das sich eigenständig entwickelt. Es würde niemals menschlich werden, wenn es das nicht schon von diesem Augenblick an gewesen wäre“ (Kongregation für die Glaubenslehre 1987).

222 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Die evangelische Kirche hatte sich in den letzten Jahrzehnten wiederholt mit der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und daher mit dem Status des Embryos bzw. Fetus auseinandergesetzt (vgl. u. a. Evangelische Kirche in Deutschland 1987; Evangelische Kir- che in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 2003). Eine einheitliche Meinung gibt es dazu innerhalb der Kirche nicht. Allerdings steht sie insgesamt der Abwägung der Rechte der Frau und des Embryos und damit der Fristenlösung unter bestimmten Indikati- onen offen gegenüber. Diese liberalere Haltung und das vielfältigere Meinungsbild inner- halb der evangelischen Kirche spiegeln sich auch in den Positionen zur embryonalen Stammzellforschung wider. Der Rechtsstaat hatte seit seiner Bildung rechtliche Regelungen für den Umgang mit dem ungeborenen Leben verfasst. In Deutschland war seit der Einführung des Strafgesetz- buches von 1871 der Schwangerschaftsabbruch in § 218 geregelt und der Embryo ge- schützt. Die Indikationsregelung wurde mit der Zeit permissiver, seit 1995 gilt eine Fris- tenlösung.191 Die mitunter heftigen politischen Kontroversen und Gerichtsentscheidungen über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs kreisten auch um die Frage, ab wann menschliches Leben beginnt und wie es gegen die Wünsche und das Selbstbestimmungs- recht der Frau abgewogen werden kann. In den zwei wegweisenden Urteilen zum Schwan- gerschaftsabbruch von 1975 und 1993192 hatte sich das Bundesverfassungsgericht zwar zum Lebens- und Würdeschutz des ungeborenen Lebens geäußert: „Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biolo- gisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis.“193 Eine nähere Spezifizierung hatte das Gericht allerdings nicht vorgenommen. BefürworterInnen der embryonalen Stammzellforschung folgerten aus dieser Formulierung, dass das Gericht sich zur Forschung gar nicht geäußert habe, denn der Embryo betreffe den Zeitraum vor dem 14. Tag. Zudem brauche man für die Forschung in-vitro Embryonen, welche im Ver- gleich zur Schwangerschaft nicht in-vivo seien (Fink 2007, S. 122). Die damalige Präsi- dentin des Bundesverfassungsgerichtes, Jutta Limbach, sprach sich gegen eine Bewertung der Embryonenforschung durch das Gericht aus. Sie hielt die Zeit für noch nicht reif für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diesen Fragen (Fink 2007, S. 122). Eine zweite historische Entwicklung hatte Auswirkung auf die moderne Diskussion über den Lebensschutz des Embryos: Die massenhafte Ermordung von Menschen im Nati- onalsozialismus ist eine Zäsur im Umgang mit menschlichem Leben (siehe zur ausführli-

191 Strafgesetzbuch (StGB) § 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. 192 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 25.02.1975 (39,1); Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 28.05.1993 (88, 203). 193 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 25.02.1975 (39,1, Abs. 133). 223 Kapitel 7 cheren Diskussion Abschnitt 6.1.1). Diese Zeit wird als abschreckendes Beispiel dafür an- gesehen, was passiert, wenn man beginnt, menschliches Leben zu bewerten und nicht von einem absoluten Schutz jedes menschlichen Lebensstadiums ausgeht. Dieses Argument wurde im Diskurs auch auf das ungeborene Leben bezogen (vgl. Abschnitt 7.3.2).

7.1.2 Rechtliche Ausgangslage 1990

Maßgebliche Grundlage für den Umgang mit menschlichen Embryonen und rechtliche Referenzen in der Diskussion über die embryonale Stammzellforschung um die Jahrtau- sendwende waren das Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) und die verfassungsrechtlichen Bestimmungen in Deutschland (Weschka 2010, S. 16). Daher werden in diesem Abschnitt diejenigen Inhalte des Embryonenschutzgesetzes betrachtet, die relevant für die Embryonenforschung waren, und es wird auf verfassungs- rechtliche Überlegungen zum grundsätzlichen Schutz des Embryos eingegangen (zu den biologischen Grundlagen und technischen Verfahren der embryonalen Stammzellfor- schung siehe Abschnitt 2.3.1 und das Glossar in Anhang 11.1). Das Embryonenschutzgesetz wurde am 13. Dezember 1990 verabschiedet und trat zum 1. Januar 1991 in Kraft. Das Gesetz verbot die Verwendung menschlicher Embryonen zu nicht ihrer Erhaltung dienenden Zwecken. „Wer in Deutschland embryonale Stammzel- len gewinnt, macht sich gemäß § 2 Abs. 1 Embryonenschutzgesetz wegen missbräuchli- cher Verwendung von Embryonen strafbar (…)“ (Weschka 2010, S. 75). Auch die Herstel- lung von Embryonen eigens zur Stammzellgewinnung ist verboten. Nach § 1 I 2 Embryo- nenschutzgesetz macht sich strafbar, „wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt.“ Ebenso soll § 1 I 5 ESchG sicherstellen, dass im Rahmen der In-vitro- Fertilisation nicht absichtlich überzählige Embryonen hergestellt werden, um diese dann für die Forschung zu verwenden.194 Die Forschung an pluripotenten embryonalen Stammzellen war durch das Embryo- nenschutzgesetz von 1990 nicht verboten worden. Dieses schützte den Embryo und die ihm gleichgestellten totipotenten Zellen. Bei den Stammzelllinien, welche Wissenschaftle- rInnen für ihre Forschung verwenden wollen, geht man jedoch von einer pluripotenten Eigenschaft aus (Weschka 2010, S. 74). Auf Basis der einfachgesetzlichen Regelung wäre es somit den WissenschaftlerInnen aus rechtlicher Sicht erlaubt gewesen, Stammzellen zu

194 Zur moralischen Kontroverse über die Verwendung überzähliger Embryonen aus In-vitro-Fertilisation siehe Beckmann (2009) und Pinter (2003, S. 79-83). 224 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung importieren und an ihnen zu forschen. Straffrei ist die Forschung an importierten Stamm- zelllinien für die ForscherInnen unter bestimmten Auflagen (siehe dazu ausführlich Weschka 2010, S. 77-78). Ebenso können deutsche ForscherInnen im Ausland forschen, soweit es das dortige Recht zulässt. Vor allem ersterer Sachverhalt war von den AutorIn- nen des Embryonenschutzgesetzes allerdings nicht beabsichtigt worden, sondern stellt wohl eine Regulierungslücke dar (Weschka 2010, S. 77-78). Neben der oben behandelten einfachgesetzlichen Regelung sind auf Verfassungsebe- ne drei Artikel von Bedeutung für die Forschung an embryonalen Stammzellen: „Die Wür- de des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 IGG); „Jeder hat das Recht auf Leben und körper- liche Unversehrtheit“ (Art. 2 II GG) und „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“ (Art. 5 III GG). Die Art. 1 und 2 des Grundgesetzes sprechen dem Menschen unantastbare Würde und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu. Umfassten beide Arti- kel den Embryo, würde sich jede weitere einfachgesetzliche Regulierung erübrigen, denn dann wäre die Vernichtung von Embryonen zu Forschungszwecken verfassungsrechtlich verboten. Ob dies der Fall ist, lässt sich aber aus dem Grundgesetz nicht direkt ableiten. Zudem wird in Art. 5 III GG die Forschungsfreiheit garantiert. Das bedeutet, dass den WissenschaftlerInnen die Forschung nur dann verboten werden darf, wenn aus ihrem For- schungsvorhaben ein Konflikt mit höherrangigem Verfassungsrecht entsteht. Auf diese drei Artikel wurde in der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion um die emb- ryonale Stammzellforschung immer wieder Bezug genommen, sowohl zur Rechtfertigung als auch zum Verbot der Forschung. Das Bundesverfassungsgericht befasste sich im Zuge des Konfliktes um die Regulie- rung des Schwangerschaftsabbruchs mit dem rechtlichen Status des Embryos bzw. Fe- tus.195 „Die Verfassungsrichter gingen nämlich von der «Pflicht» des Staates, das Leben zu schützen, aus. Eine Pflicht, welche sowohl gegen den Staat selbst als auch gegen Handlun- gen der Mutter zur Geltung gebracht werden musste (…)“ (Betta 1995, S. 81-85). Ihre Rechtsprechung hat dem Ungeborenen Menschenwürde zugesprochen, sofern eine indivi- duelle (Nichtteilbarkeit), von genetischer Identität geprägte menschliche Entwicklung vor- handen ist. Der Embryo erfüllt diese Kriterien von Anfang an, sodass er als Mensch im Sinne von Art. 1 I GG angesehen wird und vom Schutzbereich als umfasst gilt. Nach der Objektformel wird die Würde des Menschen verletzt, sofern der konkrete Mensch zum Objekt und damit zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt wird.

195 Siehe insbesondere Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 25.02.1975 (39, 1-95) und Bundesverfas- sungsgericht, Entscheidung vom 28.05.1993 (88, 203). 225 Kapitel 7

Von der Menschenwürde, deren Schutzgehalt unantastbar ist, ist das Recht auf Leben nach Art. 2 II 1 GG abzugrenzen. Unter Letzterem könnten auch Tötungshandlungen ge- rechtfertigt werden. Ist die Tötungshandlung jedoch nicht legitimiert, so stellt sie zugleich eine Verletzung der Menschenwürde dar. Für die Tötung von menschlichen Embryonen gibt es so keine Rechtfertigung, insbesondere nicht zu Forschungszwecken. Folglich stellt die Tötung von menschlichen Embryonen eine Verletzung der Menschenwürde sowie eine Verletzung des Rechts auf Leben dar. Vom Menschenwürdeschutz umfasst sind auch in- vitro-fertilisierte Embryonen (Epping und Hillgruber 2015). Das Problem des Zusammenspiels von Embryonenschutz und Forschungsfreiheit liegt darin, dass die Beschränkungen im Embryonenschutzgesetz (und später im Stamm- zellgesetz) Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit darstellen, die in der Verfassung jedoch garantiert wird. Sie umfasst laut Bundesverfassungsgericht „vor allem die auf wissen- schaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidun- gen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe.“196 Erfasst ist nicht nur die Grundlagenforschung, sondern auch die Entwicklung neuartiger therapeutischer Verfahren für die Behandlung schwerer und bisher unheilbarer Krankheiten (Dederer 2003, S. 986). Die Forschungsarbeiten müssen hochrangigen Forschungszielen dienen, um der Güterabwägung standzuhalten. Ihnen muss ein solches Gewicht zukommen, dass dem konkreten Forschungsvorhaben der Vorrang vor dem postmortal nachwirkenden Men- schenwürdeschutz gebührt, der den getöteten menschlichen Embryonen in-vitro zukommt. Weder aus den Urteilen der obersten Gerichte, noch aus der rechtswissenschaftlichen Dis- kussion wurde ein eindeutiger und absoluter Schutz des Embryos gefolgert.

7.1.3 Zusammenfassung

Die Vernichtung von Leben im Nationalsozialismus belastete in Deutschland die Diskussi- on und Regulierung der embryonalen Stammzellforschung. Zusammen mit der christlichen Vorstellung des absoluten Schutzes jeden Lebens waren die Voraussetzungen für die recht- liche Regulierung sehr restriktiv und konservativ. Der Schutz des Lebens und der Men- schenwürde ist zum Beispiel im Grundgesetz gleich zu Anfang genannt, dementsprechend wird ihnen höchste Priorität durch den Staat eingeräumt. Gleichzeitig war die Frage um- stritten, wann genau das Leben beginnt. Durch die stark moralisch aufgeladenen Debatten zum Schwangerschaftsabbruch war die Diskussion über den Embryo und die Forschung entsprechend vorgeprägt. Insgesamt war der Status quo 1990 einerseits sehr restriktiver

196 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 11.01.1994 (1 BvR 434/87). 226 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Natur. Andererseits war durch die Unklarheit, ob der verfassungsmäßig garantierte Le- bensschutz auf den Embryo zutrifft und die Lücke im Embryonenschutzgesetz, welche den Import von embryonalen Stammzellen nicht verbot, eine Forschung in Deutschland theore- tisch trotzdem möglich. Diese Konstellation bildete den unsicheren rechtlichen Boden, auf dem sich die NaturwissenschaftlerInnen und die DiskutantInnen über das Für und Wider der Forschung bewegten. Historisch gesehen gab es also einen restriktiven Geist, der aller- dings nicht vollständig in der Gesetzgebung aufgegangen war.

7.2 Externe Einflüsse

Externe Einflüsse auf das deutsche Regulierungstempo können zum einen von internatio- nalen Regimen stammen, die eine direkt bindende Wirkung haben oder eine indirekte nor- mative Vorgabe machen. Zum anderen beeinflussen auch die Regulierungen in anderen Staaten unter Umständen das deutsche Regulierungstempo.

7.2.1 Internationale Regulierungen

Es gab eine Reihe von internationalen Übereinkünften, die den Status und Schutz des Men- schen und teilweise auch des Embryos behandelten. Es stellt sich die Frage, ob sie der deutschen Regulierung von 2002 einen verbindlichen rechtlichen Rahmen setzten.

Übereinkünfte der Vereinten Nationen (UN) Auf UN-Ebene gibt es das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989, die All- gemeine Erklärung über das menschliche Genom und die Menschenrechte der UNESCO von 1997 und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Diese beinhalten jedoch keine Regelungen, aus denen sich für die Staaten der Umgang mit Embryonen oder gar ein Gebot oder Verbot der Forschung mit Embryonen ableiten ließe (Vöneky und Petersen 2006; Weschka 2010, S. 291-395). Die rechtlich nicht bindende „UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom“ von 1997 wurde in Deutschland zu- dem nicht ratifiziert. Kritisiert wurde hauptsächlich das der Deklaration zugrunde liegende Ethikverständnis sowie eine Reihe inhaltlicher Formulierungen, Lücken und Auslassungen (Ach und Runtenberg 2002, S. 196).

Übereinkünfte auf europäischer Ebene Der Europarat hatte die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfrei- heiten des (EMRK) 1950 verabschiedet; 1953 wurde sie von Deutschland ratifiziert. Nach 227 Kapitel 7

Art. 2 EMRK wird das Recht auf Leben gesetzlich geschützt. Auf die Konvention bezog sich der Europäische Gerichtshof im Fall Evans vs. United Kingdom.197 Er stellte darin fest, dass er dem Embryo in-vitro unter Art. 2 EMRK „keinen Schutz zuerkennt, der über den in den jeweiligen Mitgliedstaaten gewährleisteten Schutz des Rechts auf Leben menschlicher Embryonen hinausgeht“ (Weschka 2010, S. 393). Die Biomedizin-Konvention des Europarates und das Zusatzprotokoll zum Verbot des Klonens menschlichen Lebens wurden vom Europarat Ende 1996 verabschiedet. Es lag erstmals auf internationaler Ebene ein verbindliches Regelwerk für die Medizin vor. Art. 18 II Biomedizin-Konvention verbietet zwar die Herstellung von Embryonen eigens zu Forschungszwecken, allerdings schließt sie damit andere Herstellungsgründe (zum Bei- spiel In-vitro-Fertilisation) nicht aus. Aufgrund fehlender Übereinkunft in moralisch um- strittenen Themen (Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch, embryonale Stammzellfor- schung etc.) wurden Grundprinzipien nur vage angesprochen, sodass es zu keinem ver- bindlichen Gebot oder Verbot kam (Fülle 2007, S. 144). „Beim Komplex des Embryonen- schutzes wird die Eindeutigkeit, mit der beispielsweise das deutsche Embryonenschutzge- setz die sogenannte «verbrauchende» Forschung an überzähligen Embryonen verbietet, nicht erreicht. Auf der anderen Seite wird diese Forschung auch nicht erlaubt, vielmehr wird zum ersten Mal die Forderung nach einem «angemessenen Schutz» ausgesprochen“ (Fülle 2007, S. 144). Deutschland ist dieser Biomedizinkonvention innerhalb des Untersu- chungszeitraums nicht beigetreten. Ein weiteres Regelwerk stellt das Menschenrechtsübereinkommen des Europarates von 1999 dar. Es ist allerdings nur ein Rahmenübereinkommen und wurde von Deutsch- land ebenfalls nicht ratifiziert, weil es die Embryonen aus deutscher Sicht nicht umfassend genug schützt (Ach und Runtenberg 2002, S. 189). Auch auf EU-Ebene gab es keine expliziten Gebote oder Verbote bezüglich des Sta- tus und der Behandlung des Embryos in-vitro. Weder die in der Verfassungsordnung der Europäischen Union als verbindlicher Rechtssatz anerkannte Menschenwürdegarantie noch das Lebensrecht umfassen den Embryo in-vitro. Sekundärrechtliche Regelungen stellten lediglich einen indirekten Schutz fest (Vöneky und Petersen 2006, S. 368-369). Ein unbe- dingter Schutz des Embryos lässt sich aus keinem Dokument der Europäischen Union ab- leiten. „Aus dem Primärrecht ergeben sich auch keine klaren Vorgaben. Es ergibt sich aus der Grundrechtecharta (GRCh) kein Hinweis darauf, ob der Menschenwürdeschutz auch

197 Die Britin Natallie Evans hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf die Über- lassung ihrer, in einer Klinik lagernden, befruchteten Eizellen geklagt. Ihr Ex-Partner, der Samenspender, hatte die Einwilligung zur Lagerung nach der Trennung zurückgezogen, und die Klinik musste nach britischem Recht diese Eizellen nun vernichten. Evans unterlag vor Gericht (Entscheidung vom 07.03.2006, Az. 6339/05). 228 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung frühere Entwicklungsstadien des menschlichen Lebens, gar Embryonen, umfasst“ (Molnár- Gábor 2012, S. 14). Durch die Bestimmungen der Forschungsrahmenprogramme und im Patentrecht wurden die Staaten und deren ForscherInnen dazu angehalten „bestimmte Ver- haltensweisen im Umgang mit Embryonen zu unterlassen“ (Fülle 2007, S. 113). So wurden beispielsweise Forschungsprojekte, welche die Zerstörung von Embryonen voraussetzten, von den früheren EU-Forschungsrahmenprogrammen nicht gefördert. Vor allem Deutsch- land drängte wiederholt darauf, diese Forschung nicht zu finanzieren um damit nicht indi- rekt Projekte zu unterstützen, die im eignen Land möglicherweise niemals zulassen wür- den. Im Dezember 2001 einigten sich die ForschungsministerInnen der Europäischen Uni- on darauf, „Forschungsprojekte an sogenannten überzähligen Embryonen vorerst nicht mit Geldern der EU zu fördern (…) Die Förderung soll so lange zurückgestellt werden, bis es eine Einigung auf europäischer Ebene gibt“ (n.n. 2001h). Das Unionsrecht überließ es den Mitgliedstaaten, eigene Regelungen zu finden (Vö- neky und Petersen 2006, S. 369). Einem diskutierten Verbot von oder einer Beschränkung im Import von Stammzelllinien aus dem Ausland hätten theoretisch die Bestimmungen des EG-Vertrags zum freien Warenverkehr entgegenstehen können. Das EG-Recht lässt hier jedoch mit dem Argument des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit den Staaten genügend Spielraum, um den Import von embryonalen Bestandteilen zu verbieten (Brewe 2006, S. 292-293). Es gab also keine internationale direkte und verbindliche Regulierung, aus der sich für die Staaten der Umgang mit Embryonen oder gar ein Verbot der Forschung mit Embryonen ableiten ließe (Vöneky und Petersen 2006; Weschka 2010, S. 291-395).

7.2.2 Rechtliche Vorgaben in ausgewählten Staaten

Der Durchbruch in der embryonalen Stammzellforschung im Jahr 1998 forderte alle in- dustrialisierten Staaten heraus.198 Sie hatten eine hoch entwickelte Wirtschaft und somit zumindest die finanziellen und wissenschaftlichen Ressourcen und auch das Interesse für die Erforschung von humanen embryonalen Stammzellen. Die Reaktionen der Staaten auf den Forschungsdurchbruch fielen jedoch in regulativer Hinsicht unterschiedlich aus.199 Ein Grund dafür dürfte sein, dass in den Ländern 1998 unterschiedliche Regulie- rungen zum Embryonenschutz herrschten, die von Nicht-Regulierung über ein explizites Verbot bis zur expliziten Erlaubnis reichten (Nebel 2015, S. 92-93). So wiesen Belgien,

198 Teile dieses Abschnitts beruhen auf (Nebel 2015). 199 Aus Kapazitätsgründen können nicht alle Staaten untersucht und hier erläutert werden. Mit der hier behandelten Auswahl werden aber diejenigen Länder abgedeckt, welche zum einen durch ihren Entwicklungsstand in der Lage sind, Stammzellforschung zu betreiben und deren Rechtsentwicklung zum anderen von der deutschen Politik wahrgenommen wurde. 229 Kapitel 7

Griechenland, Finnland, Irland, Italien, Portugal und die Schweiz bis 1995 keine derartige Regulierung auf; neben Deutschland war auch in Norwegen und Frankreich die embryona- le Stammzellforschung mit den bereits existierenden Embryonengesetzen verboten. In Dä- nemark, in den Niederlanden, Österreich200 und Spanien war ein Import von Stammzellli- nien im Rahmen der bestehenden Gesetze möglich. In Großbritannien war die Herstellung von Stammzelllinien eigens zu Forschungszwecken bereits erlaubt (Nebel 2015, S. 93). Nach 1998 fanden in vielen Ländern Gesetzesanpassungen statt. Schweden, Belgi- en oder Großbritannien hatten bereits ein sehr liberales Regime bzw. nahmen weitere Libe- ralisierungen vor. Andere Länder wie beispielsweise Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, die Niederlande, die Schweiz und Spanien ermöglichten die Herstellung von Stammzelllinien aus überzähligen Embryonen der In-vitro-Fertilisation. Eine Gruppe von Ländern hatte zunächst keine Regulierung und entschied sich im Laufe der Jahre in unter- schiedlichem Ausmaß für eine Liberalisierung (Nebel 2015). Bis Januar 2002, also vor der Entscheidung in Deutschland, hatten einige Staaten ihre Regulierung geändert, teilweise nach kontroversen Debatten. Vergleichende Studien zeigen allerdings, dass in kaum einem Land die Diskussion dermaßen intensiv und ausdauernd über Grundrechtsfragen und den moralischen und rechtlichen Status des Embryos geführt wurde (Druml und Wolfslehner 2011; Gottweis 2002). Großbritannien entschied sich im Januar 2001 für eine Zulassung des therapeutischen Klonens und ging sogar über die Zulassung der Stammzellforschung hinaus. Schweden ließ die Herstellung von embryonalen Stammzellen aus der In-vitro- Fertilisation von Embryonen im eigenen Land bereits zu. Keine weiteren Änderungen nahmen bis 2002 Belgien, Dänemark, Finnland, Griechenland, Irland, Italien, Norwegen, Österreich, Portugal und Spanien vor, allerdings gab es dort ebenfalls Diskussionen, ob und wie die Gesetzeslage angepasst werden sollte. In den USA ist die Regelung humaner embryonaler Stammzellforschung Sache der einzelnen Bundesstaaten. Allerdings nahm die nationale Regierung Einfluss auf die Forschung über deren Finanzierung. Präsident George W. Bush verbot 2001 staatlichen Forschungseinrichtungen die Herstellung neuer Stamm- zelllinien (Bush 2001). Für alte Linien, welche bereits vor August 2001 bestanden, galt dieses Verbot nicht. Zudem waren private Forschungsprojekte vom Verbot nicht betroffen. Diese internationalen Entwicklungen wurden in Deutschland in den Debatten thema- tisiert. BefürworterInnen der Forschung befürchteten, Deutschland könnte international wissenschaftlich wie wirtschaftlich den Anschluss verlieren (Bannas und Schwägerl 2001; n.n. 2001b; u .a. Riebsamen und Wegener 2001).

200 Das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) von 1992 ist bezüglich der Forschung an embryonalen Stammzel- len nicht eindeutig. 230 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Tabelle 7.1: Europäischer Regulierungstrend (1995 – 2013)

Anmerkungen: Darstellung des Regulierungsniveaus (y-Achse) über den Zeitraum 1995 – 2013 (x- Achse) für den Politikbereich embryonale Stammzellforschung. Deutschland (DE) jeweils fett ge- druckt. N=16. Abkürzungen siehe Anhang 11.3. Quelle: Nebel (2015, S. 93).

Tabelle 7.1 fasst die Entwicklung in ausgewählten europäischen Staaten zusammen. In den Zeilen sind fünf verschiedene Regulierungstypen abgebildet: Das Verbot der embryonalen Stammzellforschung stellt die restriktivste Regulierungsform dar. Staaten ohne Regulie- rung werden als liberaler eingestuft. Die dritte Kategorie umfasst Länder, in denen der Im- port von Stammzelllinien erlaubt ist. Liberaler sind Länder eingestuft, in denen die Herstel- lung von Stammzellen aus überzähligen Embryonen der In-vitro-Fertilisation erlaubt ist. Am liberalsten werden Länder eingestuft, welche die Herstellung von Embryonen explizit für die Forschung erlauben. Es werden die Regulierungen für die Jahre 1995, 2000, 2005, 2010 und 2013 angegeben; Damit ist die Entwicklung der Länder im Vergleich ablesbar (Nebel 2015, S. 93).

7.2.3 Zusammenfassung

Von internationalen Übereinkommen geht kein direkter Zwang auf Deutschland aus, den Embryo zu schützen oder ihn der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen. Die Übereinkünfte sind in diesen Fragen zu vage gehalten und teilweise von 231 Kapitel 7

Deutschland nicht unterzeichnet worden. Die EU überlässt den Embryonenschutz weitest- gehend ihren Mitgliedstaaten. Diese internationale Unverbindlichkeit liegt teilweise darin begründet, dass die Staaten sich nicht auf ein konkretes Regelwerk einigen konnten. Man kann maximal von einer indirekten Wirkung der supranationalen Ebene auf die deutsche Regulierung ausgehen: Da das Thema international, vor allem auf EU-Ebene, immer wie- der diskutiert wurde, war der deutsche Gesetzgeber auch immer wieder aufgefordert, sich damit auseinanderzusetzen und sich zu überlegen, ob und in welche Richtung er seine Inte- ressen international durchsetzen wollte. Wie sich im weiteren Verlauf der Fallanalyse zei- gen wird, wurden vor allem die Tätigkeiten auf EU-Ebene wiederholt im deutschen Regu- lierungskontext aufgegriffen. Die Liberalisierungen in den anderen Staaten hatten einen indirekten Einfluss auf die deutsche Debatte und setzten den deutschen Gesetzgeber unter Druck. Wie die folgende Analyse noch deutlicher zeigen wird, wurde befürchtet, man würde wirtschaftlich und wis- senschaftlich den Anschluss in diesem zukunftsträchtigen Forschungsgebiet verlieren, wenn man nicht zügig eine liberale Reform durchführte. Der externe Einfluss über die Re- formen in anderen Staaten war gegeben und kann auch als Teil der Problemperzeption auf- gefasst werden.

7.3 1990 – 2002: Vom Embryonenschutzgesetz zum Stammzellgesetz

Die erste Phase des Untersuchungszeitraums umfasst die Zeit nach der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes 1990 und bis zur Einführung des Stammzellgesetzes 2002.

7.3.1 Dichte Einzelfallanalyse

Der wissenschaftliche Durchbruch Das Embryonenschutzgesetz war 1990 unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Fort- schritte im Bereich der Reproduktionsmedizin verabschiedet worden. Der Embryo war insbesondere seit der erfolgreichen extrakorporalen Befruchtung einer Eizelle und der ge- glückten Geburt im Jahr 1978 immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt. Um den Embryo als ein werdendes Leben zu schützen, wurde die Herstellung von Embryonen ei- gens zur Stammzellgewinnung wie auch die Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen an sich in Deutschland nach dem Embryonenschutzgesetz verboten. In den folgenden Jahren wurde an diesen Grenzen nicht gerüttelt. Im weiter gefassten Bereich der Biomedizin wurde hingegen geforscht. So richtete die DFG 1997 das Programm „Bio-

232 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung ethik“ ein und finanzierte darunter Projekte mit Stammzellen nicht-embryonalen Ur- sprungs (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008a). Im November 1996 verabschiedete der Europarat die Bioethik-Konvention201, wel- che völkerrechtlich verbindlich unter anderem den Umgang mit der Embryonenforschung regelte. Diese Forschung wurde nicht ausdrücklich verboten. Dies war einer der Gründe, weshalb sich Deutschland der Stimme enthielt und das Abkommen im Untersuchungszeit- raum nicht ratifizierte. Im Jahr 1997 rückte das Klonverfahren mit dem erfolgreichen Klo- nen des Schafes Dolly in Schottland in den öffentlichen Fokus (vgl. u. a. Hohenthal, Carl Graf von 1997; Winnacker 1997). Danach wurden weltweit wissenschaftliche Erfolge beim Klonen von Tieren gemeldet (Hobom 1998). Das Klonen von Menschen wollte der Bundestag verhindern.202 Er forderte die Bundesregierung auf, sich für eine internationale Ächtung einzusetzen.203 Die DFG bekräftigte, dass sie aus ethischer Sicht die Manipulati- on am menschlichen Embryo bzw. Zellkern für nicht zulässig halte (Deutsche Forschungs- gemeinschaft 1997). Das Menschenrechtsübereinkommen des Europarates204 von 1999 stellte ein „Rah- menübereinkommen mit gemeinsamen allgemeinen Grundsätzen zum Schutz des Men- schen im Zusammenhang mit den biomedizinischen Wissenschaften“ dar (Ach und Run- tenberg 2002: 186). In Deutschland wurde das Übereinkommen nach breiter öffentlicher Kritik nicht ratifiziert. Es war umstritten, „weil es (1) biomedizinische Forschung auch an nicht-einwilligungsfähigen Menschen unter bestimmten Voraussetzungen zulässt, (2) Ex- perimente an und mit menschlichen Embryonen nicht grundsätzlich ausschließt, (3) Ein- griffe in das menschliche Genom zu präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken erlaubt und (4) der Klonierung von Menschen nicht entschieden genug entgegen- tritt.“ (Ach und Runtenberg 2002: 189). Zwei Veröffentlichungen Ende 1998 gaben das Startsignal für die erneute Debatte über den Schutz des Embryos: Der US-amerikanische Biologe James Thomson publizierte mit KollegInnen in Science die Resultate ihrer Forschung: Ihnen war es erstmals gelungen, Stammzellen von humanen Embryonen zu isolieren und zu kultivieren (Thomson et al. 1998). In der gleichen Ausgabe wurde die Möglichkeit diskutiert, diese Stammzellen zu Therapiezwecken bei schweren Krankheiten einzusetzen. Thomson äußerte die Hoffnung „that within my lifetime I will see diseases treated by these therapies“ (Marshall 1998). In

201 http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/164.htm (abgerufen am 13.03.2015). 202 Klonen ist eine Manipulation embryonaler Stammzellen. Vgl. Glossar in Anhang 11.1. 203 BT Drs. 13/7243, 18.03.1997. 204 http://conventions.coe.int/treaty/ger/treaties/html/164.htm (abgerufen am 24.04.2016). 233 Kapitel 7 die gleiche Richtung ging die Publikation von John Gearhart und KollegInnen, die Stamm- zellen aus abortierten Feten gewonnen hatten (Shamblott et al. 1998). Die DFG beschloss daraufhin, eine Arbeitskommission „Humane embryonale Stammzellen“ einzusetzen (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008a). Basierend auf deren Arbeit veröffentlichte die Forschungsgemeinschaft im März 1999 eine Stellungnahme. Darin diskutierte sie den Stand der Forschung und auch die sich daraus ergebenden ethi- schen Grundsatzfragen. Sie hielt unter anderem fest, dass sie „derzeit keinen Handlungs- bedarf für eine Änderung der deutschen Rechtslage“ sehe, und sie wollte, dass dieser be- ginnende „Meinungsbildungsprozess über ethische und embryologische Fragen im Zu- sammenhang mit der Forschung an Stammzellen in Deutschland wie im Ausland auf brei- ter Basis geführt wird, und wird sich an ihm beteiligen“ (Deutsche Forschungsgemein- schaft 1999). Ab Ende 1999 wurde innerhalb der DFG die Einrichtung eines Schwerpunktpro- grammes 1109 „Embryonale und gewebespezifische Stammzellen: Regenerative Zellsys- teme für einen Zell- und Gewebeersatz“ beraten und ein Ethik-Berater-Gremium eingerich- tet, welches bei möglicherweise umstrittenen Anträgen beraten sollte. Weiter gab die DFG ein Rechtsgutachten in Auftrag, das die Zulässigkeit des Imports von im Ausland herge- stellten pluripotenten embryonalen Stammzelllinien prüfen sollte (Deutsche Forschungs- gemeinschaft 2008a). 1999 wurde im European Values Study (GESIS 2013) unter anderem die deutsche Bevölkerung gefragt, ob sie wissenschaftliche Experimente mit humanen Embryonen für gerechtfertigt halte. Von den rund 2000 Befragten verweigerten nur 52 die Aussage bzw. wählten die „weiß nicht“- Kategorie. 80 Prozent der Befragten hielt die Forschung unter keinen Umständen für gerechtfertigt, nur 1 Prozent hielten die Forschung unter allen Um- ständen für gerechtfertigt. Die restlichen Befragten verorteten sich zwischen den beiden Extremen. Im Mai 2000 wurde von der DFG das vorgeschlagene Schwerpunktprogramm 1109 für eine Laufzeit von sechs Jahren eingerichtet und im Juni öffentlich ausgeschrieben. Im Oktober wurden die Projekte ausgewählt. Darunter befand sich auch eines der beiden Bon- ner Neurobiologen Oliver Brüstle und Otmar Wiestler. Sie beabsichtigten, an importierten humanen embryonalen Stammzelllinien zu forschen. Sie stützten sich mit ihrem Antrag auf die oben erwähnte Regulierungslücke, nach der zwar die Herstellung, aber nicht der Import und die Erforschung solcher Zellen verboten waren. Das Ethik-Berater-Gremium der DFG gab für diese Forschung im Januar 2001 seine Zustimmung (Deutsche Forschungsgemein- schaft 2008a).

234 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Die öffentliche und politische Diskussion Mit der Ausschreibung des Schwerpunktprogrammes und der öffentlichen Forderung Brüstles, die Stammzellforschung in Deutschland zuzulassen, setzte die öffentliche Dis- kussion Mitte 2000 umfänglich ein (Brüstle 2000; Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008a). Die Debatte konzentrierte sich im Wesentlichen auf zwei Fragen: Ist die embryo- nale Stammzellforschung ethisch und rechtlich in Deutschland zulässig? Und gibt es alter- native Forschungsmöglichkeiten, zum Beispiel an adulten Stammzellen? Parallel gab es in dieser Zeit auch eine Diskussion über das sogenannte therapeuti- sche Klonen.205 Manche Bundestagsabgeordneten befürchteten, dass diesem Verfahren Vorschub geleistet würde durch die Ankündigung ausländischer WissenschaftlerInnen, es anwenden zu wollen und durch Liberalisierungen in anderen Ländern (zum Beispiel Groß- britannien 2001). Die FDP war diesem Verfahren gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen, wenn es zum medizinisch-technischen Fortschritt und damit zur Therapieentwicklung bei- trage. Die Bundesregierung (SPD und Bündnis90/Die Grünen) stand dem Verfahren eher skeptisch gegenüber und verwies auf die unsicheren Erfolgsaussichten der Forschung und auf das bestehende Verbot des therapeutischen Klonens.206 Wahrgenommen wurden in der deutschen Debatte auch die Liberalisierungen in an- deren Ländern, so zum Beispiel in Großbritannien: Dort wurde bereits mit dem Human Reproductive Cloning Act 2001 das Klonen von embryonalen Stammzellen zu therapeuti- schen Zwecken erlaubt (n.n. 2000c). Die DFG, die sich früher für den Verzicht auf die Forschung ausgesprochen hatte, unternahm in den nächsten Monaten eine Kehrtwende (Schwägerl 2001a). Zunächst äußer- ten sich verschiedene Stimmen gegenüber der Presse. So erklärte DFG-Präsident Ernst- Ludwig Winnacker in der Süddeutschen Zeitung im August 2000, die Empfehlung der DFG an die Politik, dass man das Embryonenschutzgesetz nicht ändern solle, habe in den kommenden 12 Monaten Bestand (n.n. 2000b). Doch in den nächsten Monaten mehrten sich die öffentlichen Forderungen von WissenschaftlerInnen, die Forschung an embryona- len Stammzellen in Deutschland zuzulassen (Giersberg 2000; siehe u. a. Müller-Jung 2000). Dies zeigte den Meinungsumschwung in der DFG an, der sich am 3. Mai 2001 dann auch in Form einer Pressekonferenz manifestierte. In ihrer 2. Stellungnahme zur Stamm- zellforschung positionierte sich die DFG neu: Angesichts der wissenschaftlichen Entwick- lungen sah sie die Forschung an adulten Stammzellen als nicht mehr ausreichend an. Sie

205 „Therapie“ ist hier ein missverständlicher Begriff. Bei dem Verfahren wird ein Zellkern einer menschlichen Körperzelle in eine menschliche Eizelle eingesetzt. Der Zellkern der Eizelle wurde zuvor entfernt. Dieses Verfah- ren ist bis dato durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 in Deutschland verboten. 206 Siehe zum Beispiel Anfragen an die Bundesregierung: BT PlPr. 14/49, 30.06.1999, S. 4313-4314; BT Drs. 14/360, 05.02.1999, S. 4-5; 33-34; BT Drs. 14/6229, 01.06.2001. 235 Kapitel 7 wollte daher eine Parallelforschung an humanen adulten und embryonalen Stammzellen ermöglichen. Dazu empfahl Ernst-Ludwig Winnacker „dem Gesetzgeber, den Import von im Ausland hergestellten pluripotenten Stammzelllinien, der nach geltendem Recht ja ge- stattet ist, da diese Zellen ja nicht totipotent sondern nur pluripotent sind, in der Tat zu ge- statten, allerdings mit Einschränkungen“ (Winnacker 2001). Diese Einschränkungen sahen vor, dass nur der Import von aus überzähligen Embryonen gewonnenen Stammzelllinien erlaubt sein sollte und vorheriger Genehmigung bedürfe. Weiter schlug Winnacker die Entwicklung einer internationalen Zusammenarbeit vor, um Anforderungen und Standards für die Zelllinien zu formulieren, und damit deren Anzahl gering zu halten. Sollten die im- portierten Zelllinien von mangelhafter Qualität sein, dann solle sich der Gesetzgeber über- legen, WissenschaftlerInnen in Deutschland „aktiv die Arbeit an der Gewinnung embryo- naler Stammzelllinien zu ermöglichen“ (Winnacker 2001). Die katholische Kirche und die evangelische Kirche positionierten sich als vehemen- teste Kritikerinnen eines Verbrauchs von Embryonen für die Forschung. Sie hatten sich bereits seit den 1980er Jahren wiederholt zum Status und Umgang mit Embryonen geäu- ßert, teilweise in gemeinsam verfassten Stellungnahmen. So veröffentlichten die beiden Kirchen 1989 die Schrift „Die besondere Würde des menschlichen Lebens.“ Darin nahmen sie zur embryologischen Forschung Stellung: Beim vorgeburtlichen Leben handele es sich um ein „individuelles menschliches Leben, das als menschliches Leben immer ein werden- des ist. Es kann darum auch nicht strittig sein, dass ihm bereits ein schutzwürdiger Status zukommt und es nicht zum willkürlichen Objekt von Manipulationen gemacht werden darf“ (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 1989). In ihrem gemeinsamen Text zur Präimplantationsdiagnostik bekräftigten die Kirchen diese Sicht und forderten einen absoluten Schutz des Embryos vor jeglichen Eingriffen, die seine Entwicklung gefährden (Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutsch- land 1997). Die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre veröffentlichte 1987 die „Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“ (Ratzinger 1987). Darin erklärte sie, dass sie dem Embryo in all seinen Entwicklungsstadien die gleiche ethische Bedeutung eines menschlichen Lebens zuweise. Daraus folge, dass jede Forschung unerlaubt sei, die eine „Gefahr für die körperliche Un- versehrtheit oder das Leben des Embryos bedeutete“ (Ratzinger 1987). Die katholische Kirche stützte sich in ihrer ablehnenden Haltung auf diese Veröffentlichungen. Im Jahr 2000 konkretisierte der Vatikan seine Haltung gegenüber dem Embryo und der Forschung, indem er auf die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen einging. Die Päpstliche Akademie für das Leben verfasste eine „Erklärung über die Herstellung sowie

236 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung die wissenschaftliche und therapeutische Verwendung von menschlichen embryonalen Stammzellen“ (Päpstliche Akademie für das Leben 2000). Darin begründete sie ihre ableh- nende Haltung zur Gewinnung und Verwendung von embryonalen Stammzellen: Sie be- trachtete den menschlichen Embryo von der Verschmelzung der Keimzellen an als „ein menschliches Subjekt mit einer ganz bestimmten Identität, das sich von diesem Zeitpunkt an kontinuierlich entwickelt und in keinem nachfolgenden Stadium als einfache Zellmasse betrachtet werden kann (…) Daraus folgte: Als menschliches Individuum hat es das Recht auf eigenes Leben. Deshalb ist jeder Eingriff, der nicht zum Wohl des Embryos geschieht, ein Akt, der dieses Recht verletzt“ (Päpstliche Akademie für das Leben 2000). Ein Ab- bruch der Entwicklung des Embryos sei „ein schwer unmoralischer und deshalb völlig un- erlaubter Akt (…) Ein guter Zweck macht eine in sich schlechte Tat nicht gut“ (Päpstliche Akademie für das Leben 2000). Diese Leitlinien des Vatikans galten für die katholische Kirche in Deutschland uneingeschränkt. Dementsprechend argumentierten die katholischen Kirchenvertreter in der Diskussion über die Stammzellforschung. Vor allem Kardinal Meisner äußerte sich wiederholt öffentlich und befürchtete einen Dammbruch, sollte die Stammzellforschung erlaubt werden (Huber 2001; Meisner 2002). Die evangelische Kirche in Deutschland nahm im Vorfeld der Entscheidung von 2002 die gleiche Haltung ein wie die katholische Kirche. Auch sie hatte sich bereits seit Jahren mit dem Status und Schutz des vorgeburtlichen Lebens beschäftigt. In der schriftli- chen Kundgebung zur Synode von 1987 in Berlin hieß es bereits, dass Eingriffe an menschlichen Embryonen, die deren Vernichtung in Kauf nähmen, ethisch nicht vertretbar seien. Die Synode warnte ausdrücklich vor der verbrauchenden Embryonenforschung und forderte eine gesetzliche Regulierung (Evangelische Kirche in Deutschland 1987). Diese Haltung bekräftigte sie in der gemeinsamen Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ mit der Deutschen Bischofskonferenz 1989 (Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz 1989). Auf diese Erklärung stützte sich die evangelische Kir- che im Jahr 2001, als sie zur Diskussion über die embryonale Stammzellforschung Stel- lung bezog: Sie bekräftigte ihre Aussagen von 1989 und fügte hinzu: „Schon die kleinste Bewegung in Richtung auf die Zulassung «verbrauchender» Forschung an Embryonen überschreitet eine wesentliche Grenze. Es geht hier um den Schutz oberster Rechtsgüter, letzten Endes um die Achtung vor der Würde des Menschen und seines Rechtes auf Leben, die in Art. 1 und 2 des Grundgesetzes verankert sind“ (Evangelische Kirche in Deutschland 2001). Sie erkannte das Ziel der Forschung, die Entwicklung von Therapien, an, da dies aus christlicher Sicht der Nächstenliebe entspreche. Allerdings: „Aber auch ein hochrangi- ges Ziel darf nicht um jeden Preis verfolgt werden. Die Mittel, die eingesetzt werden, um

237 Kapitel 7 das Ziel zu erreichen, müssen ethisch vertretbar sein. Darüber hinaus kommt es darauf an, alle Therapieversprechungen nüchtern zu prüfen und mit ihnen nicht die Illusion einer leid- freien Welt zu nähren“ (Evangelische Kirche in Deutschland 2001). Gleichzeitig trat die Kirche dafür ein, dass die strengen deutschen Maßstäbe des Embryonenschutzgesetzes in die internationale Diskussion eingebracht werden sollten (Evangelische Kirche in Deutsch- land 2001). Wie Kardinal Meisner und andere katholische Kirchenvertreter äußerten sich VertreterInnen der evangelischen Kirche wiederholt besorgt in den Medien, allen voran Bischof Wolfgang Huber (u. a. Huber 2001) und Ratsvorsitzender Manfred Kock (Schwä- gerl 2002). Im Gegensatz zu den katholischen Theologen gab es unter den evangelischen Theologen aber auch Stimmen, die eine weniger strikte Haltung bezüglich des Embryonen- schutzes an den Tag legten. So äußerte sich eine Gruppe namhafter evangelischer Theolo- gen (unter anderen Prof. Dr. Reiner Anselm, Universität Göttingen, und Prof. Dr. Johannes Fischer, Universität Zürich). Sie argumentierten, dass die evangelische Ethik und die evan- gelische pluralistische Meinungskultur unterschiedliche Positionen bezüglich der embryo- nalen Stammzellforschung zulassen würden. Ihr Ziel war es, aus den verschiedenen Positi- onen einen Kompromiss zu entwickeln. Sie sahen in der Ethik des Heilens eine berechtigte moralische Begründung. „Sucht man nach einer Lösung des Konflikts, die den genannten Bedingungen genügt, so kann ein Kompromiss darin bestehen, Forschung an sogenannten überzähligen oder «verwaisten» Embryonen (…) zuzulassen. Das gilt ebenso für die For- schung an Stammzelllinien, die bereits existieren. Die Herstellung von Embryonen zu For- schungszwecken ist jedoch derzeit nicht zu verfolgen“ (Anselm et al. 2002). Neben den Kirchen äußerte sich eine Reihe weiterer VertreterInnen verschiedener Verbände, allerdings in wesentlich geringerem Umfang (siehe dazu die Diskursnetzwerka- nalyse in Abschnitt 7.3.2). Darunter waren Interessengemeinschaften wie die „Kritische Bioethik“ oder „Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig bewahren“, welche die kirchliche Argumentation für den Schutz des Embryos vertraten (Pinter 2003). In der medialen De- batte traten sie allerdings kaum in Erscheinung. NaturwissenschaftlerInnen sowie die DFG brachten sich umfangreich in die Debatte ein. Neben den Antragstellern Oliver Brüstle und Otmar Wiestler äußerte sich beispiels- weise auch der Generalsekretär des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft in , Manfred Erhardt. Seine Abwägung zwischen der Stammzellforschung und dem Schutz des Embryos falle zugunsten Ersterer aus, wenn die verwendeten Embryonen durch künstliche Befruchtung entstanden seien und andernfalls vernichtet werden würden (n.n. 2001f). An- fang 2002 unterzeichneten Vorsitzende deutscher Wissenschaftsvereinigungen einen Ap- pell für den Import von Stammzelllinien (Wissenschaftsrat, Leibniz-Gemeinschaft, Helm-

238 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung holtz-Gemeinschaft, Hochschulrektorenkonferenz, Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer- Gesellschaft, DFG). Darin äußerten sie „ihren Wunsch nach einer Entscheidung, die in Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Güter Lebensschutz und Freiheit der For- schung nicht zuletzt den Erwartungen vieler kranker und hilfsbedürftiger Menschen Rech- nung trägt“ (Winnacker et al. 2002). BefürworterInnen der Forschung äußerten die Hoff- nung, dass mit den Ergebnissen die Entwicklung von Therapieverfahren für schwere Krankheiten wie Diabetes, Multiple Sklerose oder Parkinson möglich sei (Kaulen 1999). Es wurden allerdings unter den NaturwissenschaftlerInnen Zweifel an raschen Therapie- entwicklungen laut. Man war sich uneinig über die Möglichkeiten der Forschung an huma- nen embryonalen Stammzellen. Auch ethische Bedenken wurden angebracht, ob die Stammzellen nicht einem werdenden Leben, welchem bereits zu schützende Menschen- würde zukomme, entnommen würden und dieses Leben damit getötet würde (Giersberg 2000). Es gab Stimmen, die Brüstle und Wiestler kritisierten und sagten, dass es gute und vielversprechende Alternativen zur Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen gebe, zum Beispiel adulte Stammzellen (siehe u. a. Schwägerl 2001c, 2001i). In der Gruppe der sich öffentlich äußernden ÄrztInnen207 war die Haltung skeptisch: Da man den Embryo als frühes Leben einstufte, sprach man ihm Schutzwürdigkeit zu und lehnte folglich seine Vernichtung zum Zwecke der Forschung ab (n.n. 2001c). Eine einge- schränkte Forschung an überzähligen Embryonen konnten sich Teile der Ärzteschaft hin- gegen vorstellen (Müller-Jung 2000; siehe u. a. Schwägerl 2001e). Die Bundesärztekam- mer lehnte den Import und die Forschung ab (Deutscher Ärztetag 2001). Es brachten sich andere Wissenschaftsdisziplinen in die Debatte ein, wenn auch in vergleichsweise geringe- rem Umfang. Die PhilosophInnen äußerten sich in der Mehrheit gegen eine Forschung. Otfried Höffe, Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philo- sophie an der Universität Tübingen, trug die zentralen Argumente in einem Gastbeitrag der FAZ (Höffe 2001) zusammen: „der Vorrang des elementaren Lebensschutzes (Tötungs- verbots) vor dem Hilfsgebot und der Umstand, dass mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle das im strengen Sinn menschliche Leben beginnt.“ Allerdings gab es auch hier Meinungen, dass dem Embryo nicht unbedingt der gleiche Status und Schutz zukomme wie dem Menschen; eine embryonenverbrauchende Forschung sei daher möglich. Diese

207 Die Gruppe der NaturwissenschaftlerInnen ist von der Gruppe der Ärzteschaft nicht immer genau zu trennen, da MedizinerInnen sowohl in der Forschung als auch gleichzeitig als behandelnde ÄrztInnen tätig sein können. Daher wurde die Unterscheidung daran festgemacht, ob sich die Person hauptsächlich in ihrer Funktion als behandelnder Arzt oder behandelnde Ärztin oder als NaturwissenschaftlerIn äußerte. Dass es dabei einen verbleibenden Graube- reich gibt, wird in Kauf genommen. Die Alternative, eine Gruppe zu bilden, würde den unterschiedlichen Mei- nungsmehrheiten nicht gerecht. 239 Kapitel 7

Ansicht vertrat zum Beispiel der Berliner Rechts- und Sozialphilosoph Volker Gerhardt (Deckers 2001). Auch die RechtswissenschaftlerInnen waren in ihrer Auffassung über die Rechtmä- ßigkeit der Forschung gespalten. Manche sahen im deutschen Recht Wertungswidersprü- che hinsichtlich des Schutzes des Embryos und verwiesen auf die fehlende Definition des Embryos und seines Schutzes durch ein europäisches Recht. Eine vorsichtige Öffnung des Embryonenschutzgesetzes sei daher möglich (so zum Beispiel Hasskarl in Gelinsky 2000). Der Rechtswissenschaftler Christian Starck (2001) argumentierte hingegen gegen die Ver- wendung überzähliger Embryonen, da diese schon rechtswidrig entstanden seien.208 VertreterInnen der Wirtschaft äußerten sich – zumindest öffentlich – ebenfalls wenig und eher skeptisch. Bernd Wegener, Vorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeuti- schen Industrie, bezeichnete die Forschungsneugier als unzureichendes Argument, um Le- ben zu vernichten. Zudem sei nicht erkennbar, dass die Forschung auf absehbare Zeit zu Therapieentwicklungen führen würde. Man solle besser an adulten Stammzellen weiterfor- schen (Geyer 2001).

Diskussionen in der Politik Auch ParteienvertreterInnen äußerten sich in zunehmendem Maße. Die intensivere Mei- nungsbildung begann Mitte 2000 und zeigte die innerparteiliche Gespaltenheit. Politike- rInnen der CDU/CSU stellten sich nicht geschlossen hinter die Forderung der Kirchen, die Forschung und den Import zu verbieten. Vielmehr gab es zwei Lager: So wollte Jürgen Rüttgers, CDU-Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, die potenziellen wirtschaftli- chen und wissenschaftlichen Chancen durch die Forschung nicht durch „hektische Gesetz- gebung“ gefährden. Gleichzeitig betonte er, dass die Forschungsfreiheit ihre unüberwindli- che Grenze am absoluten Wert des Menschen finde» (Hohenthal 2001). Der rheinland- pfälzische CDU-Vorsitzende Christoph Böhr lehnte hingegen als Christ die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken ab (Schwägerl 2001d). Der CSU-Generalsekretär Thomas Goppel verurteilte den geplanten Import embryonaler Stammzellen als unseriös und leichtfertig, da die Forschung unabsehbare Folgen habe (n.n. 2001e). Auch in der SPD gab es verschiedene Lager. Die Bundestagsabgeordnete Margot von Renesse (SPD) änderte beispielsweise ihre zunächst skeptische Haltung zu einer Be- fürwortung der eingeschränkten Forschung (Fischer und Renesse 2001), und Wolfgang Clement (SPD, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen) war entschiedener Befürwor-

208 Nach Embryonenschutzgesetz ist die überzählige Herstellung von befruchteten Eizellen für eine künstliche Befruchtung nicht erlaubt. 240 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung ter der Forschung (Schwägerl 2001d). Die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wodarg (SPD) und René Röspel (SPD) lehnten die Forschung ab und brachten später einen ent- sprechenden Gesetzesantrag in den Bundestag ein, um die Menschenwürde des Embryos zu schützen. Sie verwiesen auf die Potenziale alternativer Forschungen (Schwägerl 2001d, 2001g). VertreterInnen von Bündnis90/Die Grünen nahmen eine mehrheitlich ablehnende Haltung ein. Sie hielten die Forschung für grundsätzlich unvereinbar mit der Menschen- würde des Embryos (Schwägerl 2001b). Monika Knoche (Bündnis90/Die Grünen) sprach von „einer Vernutzung, Verwertung und Verwerfung menschlichen Lebens“ (Muscat 2001). Auch die PDS war fast unisono gegen die Forschung (n.n. 2001a). Die FDP hinge- gen positionierte sich früh und weitestgehend geschlossen für eine Zulassung der For- schung (dpa/afd 2000). Bundespräsident Johannes Rau lehnte die verbrauchende Embryo- nenforschung klar ab (Geyer 2001a). Die Bundesregierung war sich nicht einig: Aus Regierungsreihen waren zunächst ab- lehnende Stellungnahmen zu vernehmen: Bundesforschungsministerin (SPD) und Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis90/Die Grünen) spra- chen sich gegen Import und Forschung aus (dpa/afd 2000). Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Ministerin Bulmahn (SPD) änderten jedoch relativ zügig ihre Mei- nung: Schröder äußerte sich in der Wochenzeitung „Die Woche“ zur Forschung und war der Meinung, dass die ökonomischen Interessen und die wirtschaftlichen Chancen für die Pharmaindustrie in den Überlegungen berücksichtigt werden müssten. Moralische Beden- ken und „ideologische Scheuklappen“ der ForschungsgegnerInnen kritisierte er.209 Ge- sundheitsministerin Fischer (Bündnis90/Die Grünen) blieb bei ihrem „Nein“ (n.n. 2000a), wurde jedoch im Januar 2001 von (SPD) in ihrem Amt abgelöst. Diese schwenkte wiederum auf den Pro-Forschungskurs ein, unter anderem mit dem Argument, Deutschland könne sich in Europa keine Insellösung leisten (Stüwe 2001). Damit verblieb nur Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) als vehemente und prominente Gegnerin der Forschung im Kabinett. Im Mai 2001 erklärte Wolfgang Clement (SPD), er wolle den von der Universität Bonn geplanten Import von Stammzelllinien unterstützen. Er reiste mit einer Gruppe von WissenschaftlerInnen nach Israel, um eine mögliche Forschungskooperation zwischen der dortigen Universität von Haifa und der Universität Bonn auszuloten. In Israel ist die Her- stellung von humanen embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken erlaubt. Als we- sentliche Gründe gab Clement an, die Forschungsfreiheit dürfe nicht eingeschränkt werden und es bestehe eine christliche Pflicht der Nächstenliebe, was die Entwicklung von Thera-

209 Die Woche, 20.12.2000, Verweis in (n.n. 2000c). 241 Kapitel 7 pien erfordere. Das Echo in der deutschen Öffentlichkeit war groß; ParteikollegInnen und die Opposition kritisierten den Vorstoß scharf: Man sei noch in der politischen Meinungs- findung, während Clement versuche, praktisch Fakten zu schaffen (Heims 2001). Ende Mai 2001 wurde bekannt, dass der Biochemie-Professor Stefan Rose-John vom Zentrum für Biochemie der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Zelllinien importieren wollte. Er pochte darauf, dass der Import der Stammzellen nach dem Embryonenschutzge- setz legal sei. Nach öffentlichem Druck zog Rose-John Anfang Juli seine Importabsicht zurück (Wormer 2001). Allerdings war nicht auszuschließen, dass bereits Stammzelllinien importiert wurden, was nur deshalb nicht öffentlich bekannt wurde, weil die Forschung privatwirtschaftlich war, also nicht über eine DFG-Finanzierung lief. Auch die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Bun- destages beschäftigte sich mit dem Thema. Sie wurde im März 2000 durch den Bundestag eingesetzt.210 Ihr Auftrag ist es zur „Vertiefung des öffentlichen Diskurses und zur Vorbe- reitung politischer Entscheidungen (…), unter angemessener Berücksichtigung der be- troffenen gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Verbände sowie der Kirchen, Emp- fehlungen für die ethische Bewertung, für Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umgangs sowie für gesetzgeberisches und administratives Handeln in Bezug auf medizinische Zu- kunftsfragen zu erarbeiten.“211 Die Berichte der Kommission212 und die Äußerungen ein- zelner Mitglieder zeigten, dass eine Mehrheit der embryonalen Stammzellforschung skep- tisch bis ablehnend gegenüberstand (Schwägerl 2001j). Im Mai 2001 richtete Bundeskanzler Schröder den Nationalen Ethikrat ein. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage von CDU/CSU-Abgeordneten führte die Bundesregierung aus: „Der Ethikrat soll das nationale Forum des Dialogs über ethische Fragen werden (…). Er soll die verschiedenen gesellschaftlichen Positionen widerspiegeln und Impulse in die breite Öffentlichkeit geben. Mit der Berufung des Rates verbindet sich die Absicht, die bisher segmentierte Diskussion von Expertenkreisen und gesellschaftlichen Gruppen zu- sammenzuführen.“213 Er bestand aus bis zu 25 Mitgliedern aus verschiedenen wissen- schaftlichen Disziplinen, „die in besonderer Weise naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, soziale, rechtliche, ökologische und ökonomische Belange repräsentieren“ (§ 3 (1) Einrichtungserlass). Der Ethikrat war unabhängig und „unterbreitet Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln“ (§ 2 (3) Einrichtungserlass). In der Folge äußerten sich viele seiner Mitglieder positiv gegenüber der Stammzellfor-

210 BT PlPr. 14/96, 24.03.2000, S. 8960. 211 BT Drs. 14/3011, 24.03.2000, S. 1. 212 BT Drs. 14/9020, 14.05.2002. 213 BT Drs. 14/5350, 14.02.2001, S. 6. 242 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung schung, was bei BeobachterInnen den Verdacht aufkommen ließ, Schröder habe ein ethi- sches Gegengewicht zur Enquete-Kommission des Bundestages einrichten wollen (Graupner 2001). Im Juni 2001 sprach sich die European Science Foundation, der auch die DFG ange- hört, für eine europaweite Erlaubnis der Forschung an embryonalen Stammzellen aus. Die Organisation erhoffte sich von der Forschung die Entwicklung von Therapien für viele chronische Krankheiten (n.n. 2001d). Damit wurde der Inhalt der Debatte bis zur Gesetzesverabschiedung des Bundestages ein Jahr später abgesteckt: Während die OpponentInnen einer embryonalen Stammzellfor- schung, allen voran die Kirchen, die Forschung vollständig ablehnten, forderten die DFG und weitere BefürworterInnen einen Import unter Auflagen oder sogar die Herstellung von Zelllinien in Deutschland.

Das Thema kommt auf die Agenda des Bundestages Im Juni 2001 gab die Bundesregierung Antwort auf eine große Anfrage der FDP-Fraktion. Diese fragte unter anderem, welche Folgerungen die Bundesregierung aus dem britischen und amerikanischen Vorstoß zur Lockerung der wissenschaftlichen Arbeit mit embryona- len Stammzellen ziehe. „Die Bundesregierung bezieht die Entwicklung in den beiden ge- nannten Staaten in ihre Überlegungen mit ein.“ Es müsse aber eine innerstaatlich begrün- dete Entscheidung getroffen werden, wobei man internationale Entwicklungen nicht außer Betracht lassen könne.214 Sie gab zudem Antwort auf Fragen zum wirtschaftlichen Poten- zial der biomedizinischen Forschung und Entwicklung in Deutschland: Man sehe bedeu- tendes Entwicklungspotenzial, auch für den Arbeitsmarkt. Daher investiere man mehrere hundert Millionen DM in die Förderung im Biotech-Bereich, mit dem „Ziel, den Prozess der Umsetzung von biotechnologischem Wissen in neue Produkte, Produktionsverfahren und Dienstleistungen insbesondere über junge Firmen zu unterstützen und voranzutrei- ben.“215 Die Bundesregierung erhoffte sich einen wachsenden Wirtschaftszweig, der zu- kunftssichere Arbeitsplätze schaffen und damit zur Senkung der Arbeitslosenquote beitra- gen könne. Diese Chance würde vergeben, wenn man den Anschluss an die internationale Forschung verlöre.216 Im Juli 2001 wurde das Thema erstmals im Rahmen einer Aussprache im Plenum des Bundestages behandelt.217 Grundlage waren drei Anträge, die aus den verschiedenen Frak-

214 BT Drs. 14/6229, 01.06.2001, S. 2-3. 215 BT Drs. 14/6229, 01.06.2001, S. 13. 216 BT Drs. 14/6229, 01.06.2001, S. 13-17. 217 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001. 243 Kapitel 7 tionen stammten: Ulrike Flach und ihre Fraktion der FDP brachten einen Antrag unter dem Titel „Kein Verbot und kein Moratorium für den Import humaner embryonaler Stammzel- len“ ein.218 Entsprechend dem Titel forderte die FDP, den Import von pluripotenten huma- nen embryonalen Stammzellen nicht zu verbieten und auch kein Moratorium zu verhängen. Sie begründete dies mit dem Embryonenschutzgesetz von 1990, nachdem der Import von Stammzellen dieser Art nicht verboten sei. Dieses Gesetz beziehe sich auf totipotente Stammzellen, pluripotente seien über dieses Stadium jedoch hinaus und „können sich nach Ansicht der Wissenschaftler nur noch in bestimmte Gewebezellen (etwa Herz-, Leber-, oder Nervenzellen), jedoch nicht mehr eigenständig zu einem Embryo und damit auch nicht zu einem Menschen entwickeln.“219 „Der Deutsche Bundestag sieht in dem Import und der Forschung an pluripotenten embryonalen Stammzellen eine große Chance, Hei- lungsmöglichkeiten für Krankheiten wie Diabetes, Parkinson, Alzheimer, Epilepsie, oder Mukoviszidose zu entwickeln.“220 Die FDP stimmte in dieser Haltung mit der Bundesre- gierung und insbesondere dem Bundesministerium für Bildung und Forschung überein.221 Die CDU/CSU-Fraktion forderte in ihrem Antrag hingegen: „Kein Import und keine Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland bis zu einer Entscheidung des Deutschen Bundestages.“222 Sie sah in dem Gesetz von 1990 eine Lücke, da der Gesetzge- ber damals die Weiterentwicklung in der Stammzellforschung nicht habe vorhersehen kön- nen. Daher solle ein Moratorium gelten und so der Import unterbleiben, bis der Bundestag auf Grundlage der Empfehlungen der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der moder- nen Medizin“ eine verbindliche Entscheidung getroffen habe. Die DFG wurde explizit auf- gefordert, bis dahin keine entsprechenden Forschungsvorhaben zu fördern.223 Der dritte Antrag stammte von den Regierungs-Fraktionen SPD und den Grünen: „Für eine sorgfältige und umfassende Prüfung des Imports und der Forschung mit embryo- nalen Stammzellen.“224 Der Bundestag sollte sich noch in jenem Jahr mit „der Frage der Forschung an importierten, humanen, pluripotenten embryonalen Stammzellen (…) unter Berücksichtigung von Stellungnahmen der Enquete-Kommission, des Nationalen Ethikra- tes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (…) befassen.“225 Bis dahin sollten die ForscherInnen nicht einer Entscheidung vorgreifen. Eine Entscheidung über Importverbote

218 BT Drs. 14/6550, 04.07.2001. 219 BT Drs. 14/6550, 04.07.2001, S. 2. 220 BT Drs. 14/6550, 04.07.2001, S. 1. 221 BT Drs. 14/6550, 04.07.2001, S. 1. 222 BT Drs. 14/6314(neu), 19.06.2001. 223 BT Drs. 14/6314(neu), 19.06.2001, S. 2. 224 BT Drs. 14/6551, 04.07.2001. 225 BT Drs. 14/6551, 04.07.2001, S. 1. 244 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung und formelle Moratorien sei ohne diese Stellungnahmen unangebracht.226 Unmittelbar vor der Beratung im Bundestag ließ Bundeskanzler Schröder (SPD) am 4. Juli 2001 bei der Jahresversammlung der DFG erkennen, dass er einen Import von humanen embryonalen Stammzellen für eine Lösung halte (Schwägerl 2001f). In der am 5. Juli 2001 stattfindenden Beratung im Deutschen Bundestag wurden die wesentlichen Argumente der schriftlichen Anträge wiederholt.227 Zudem gingen die meis- ten RednerInnen auf die ethisch schwierige Entscheidungslage ein, da es sich um „Fragen des Lebens, des Menschseins, des Schutzes des menschlichen Lebens und der menschli- chen Würde“ handele (Maria Böhmer, CDU/CSU)228 und betonten den Willen zur frakti- onsübergreifenden Zusammenarbeit bei diesem Thema. Die Entscheidungshoheit liege beim Deutschen Bundestag und dieser sei gewillt, eine rasche, aber gründlich abgewogene Entscheidung zu treffen. Während Ulrike Flach (FDP) für die Forschungsfreiheit argumen- tierte229, sah Andrea Fischer von den Grünen die Entscheidung der Gesellschaft auf einen möglichen Verzicht von Forschung als bedeutender an.230 Ilja Seifert (PDS), René Röspel (SPD) und Wolfgang Wodarg (SPD) warnten vor einem blinden Optimismus, was die möglichen Heilungschancen anginge, und davor, dass hinter unseriösen Heilungsverspre- chen wirtschaftliche Interessen stünden. Die alternative Forschung an adulten Stammzellen solle nicht unterschätzt werden.231 Horst Seehofer (CDU/CSU-Fraktion) argumentierte hingegen: „für mich gibt es auch eine ethische Verpflichtung, alles Verantwortbare zu tun, um die Suche der ForscherInnen nach Möglichkeiten zur Überwindung und Beherrschung von Krankheiten zu unterstützen. Für mich gibt es auch eine ethische Begründungspflicht, wenn jemand einen solchen Weg aus nicht tragfähigen Gründen versperrt.“232 Bei der abschließenden Abstimmung wurden die Anträge der CDU/CSU und FDP abgelehnt, und der Antrag der Koalitionsfraktionen „Für eine sorgfältige und umfassende Prüfung des Imports und der Forschung mit embryonalen Stammzellen“233 angenommen. Damit sollte die Diskussion fortgesetzt werden; die ForscherInnen wurden bis zu einer endgültigen Entscheidung des Bundestages gebeten, keine Importe von humanen embryo- nalen Stammzellen vorzunehmen. Auch in den USA wurde über die embryonale Stammzellforschung intensiv disku- tiert. Im August 2001 beschloss Präsident George W. Bush, die Forschung zu fördern. Die-

226 BT Drs. 14/6551, 04.07.2001, S. 1, 2. 227 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17961-17976. 228 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17962. 229 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17966 - 17967. 230 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17967 - 17969. 231 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17969 - 17972. 232 BT PlPr. 14/182, 05.07.2001, S. 17973. 233 BT Drs. 14/6551, 04.07.2001. 245 Kapitel 7 se Entscheidung wurde auch Gegenstand der deutschen Debatte. BefürworterInnen wie Ulrike Flach (FDP) und Wolfgang Clement (SPD) fühlten sich in ihrer Forderung nach einer Liberalisierung bestätigt (n.n. 2001g). Ende August meldeten Düsseldorfer Medizine- rInnen, dass es ihnen erstmals gelungen sei, HerzinfarktpatientInnen mit körpereigenen Stammzellen erfolgreich zu behandeln (Schwägerl 2001h). Im Oktober 2001 drängte die DFG den Bundestag, über die Zulässigkeit des Imports endlich zu entscheiden, denn sie wollte ihrerseits über Brüstles Forschungsantrag befinden. Infolge der internationalen politischen Entwicklungen durch die Terroranschläge des 11. September in den USA geriet jedoch die Tagesordnung des Bundestages durcheinander. Bundestagspräsident (SPD) wandte sich im November direkt an die DFG und nannte Ende Januar 2002 als wahrscheinliches Datum der Entscheidung. Er bat die DFG, die Entscheidung über den Brüstle-Antrag solange zu verschieben (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008a). Gleichzeitig baute die DFG ihr Schwerpunktprogramm „Embryonale und gewebespezifische Stammzellen“ finanziell aus und förderte auch For- schung an adulten Stammzellen. Diese Strategie richtete sich auf Basis der Erwartung aus, dass 2002 die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt werden würde (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008a). Im November veröffentlichte die Enquete-Kommission (39 Mitglieder)234 ihren Be- richt zur Stammzellforschung.235 Darin arbeitete sie die historische Entwicklung und den wissenschaftlichen Sachstand der humanen embryonalen Stammzellen und deren Erfor- schung sowie die Regulierung auf internationaler Ebene auf. Die allgemeinen ethischen und rechtlichen Probleme der Forschung und die zwei grundsätzlich verschiedenen Positi- onen innerhalb der Kommission wurden dargelegt: Nach den VertreterInnen der „gradua- listischen Auffassung erscheint eine Abwägung der Schutzwürdigkeit des Embryos in sei- nen frühen Entwicklungsstadien angesichts hochrangiger Ziele deshalb als vertretbar, weil dem Embryo in diesem Entwicklungsstadium noch nicht der volle moralische Status zuge- ordnet werden muss, wie dies für spätere Stadien gilt.“236 Für VertreterInnen der restrikti- ven Position war hingegen „eine Abwägung entweder gänzlich ausgeschlossen oder nur in der Form legitim, wie sie bei einem anders nicht aufzulösenden Konflikt von zwei Gütern gleichen Ranges vorgenommen werden darf.“237 Eine überwiegende Mehrheit der Kom- missionsmitglieder argumentierten, dass die Menschenwürde und der Lebensschutz des Embryos absolut seien. Eine Verzwecklichung zur Forschung schlossen sie aus. Eine Min-

234 Davon 26 Abgeordnete (10 SPD, 8 CDU/CSU, 4 Bündnis 90/Die Grünen, 2 FDP, 2 PDS) und 13 Sachverstän- dige. 235 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001. 236 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 34. 237 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 34. 246 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung derheit der Mitglieder zweifelten daran, dass „ein vollständiges Importverbot verfassungs- und europarechtlich begründet werden kann“ und wollten den Import daher „unter engen Voraussetzungen tolerieren.“238 Die Gruppe der BefürworterInnen eines Imports unter Auflagen – darunter auch die Vorsitzende Margot von Renesse (SPD) – formulierte eine Reihe von Bedingungen, um den Nachweis der Geeignetheit, Notwendigkeit und Verhält- nismäßigkeit zu erbringen und eine Ausweitung auf die Herstellung neuer Stammzelllinien zu verhindern. Eine zentrale Bedingung war die Beschränkung des Imports auf Stammzell- linien, die vor einem zu bestimmenden Stichtag zu gewinnen seien.239 Der Bericht der En- quete-Kommission sollte eine Entscheidungshilfe für die ParlamentarierInnen darstellen. Im gleichen Zeitraum präsentierte Margot von Renesse (SPD) ihren Vorschlag, nur solche Stammzelllinien unter Auflagen zu importieren, die vor einem bestimmten Stichtag herge- stellt wurden (Schwägerl 2001j). Im Dezember 2001 veröffentlichte der Nationale Ethikrat seine Stellungnahme „Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen“ (Nationaler Ethikrat 2001). Er diskutierte darin ebenfalls das Für und Wider der Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen, indem er rechtsethische Überlegungen zum Status früher embryonaler Lebensphasen an- stellte und diese mit weiteren Rechtsgütern abwog. Daraus wurden vier Handlungsoptio- nen gefolgert. Option A sah den zeitlich befristeten Import von pluripotenten Stammzellen unter Bedingungen als „vertretbar, weil die Gewinnung solcher Stammzellen aus überzäh- ligen Stammzellen für ethisch zulässig gehalten wird. Daher wäre auch die Gewinnung solcher Stammzellen (…) auch im Inland vertretbar“ (Nationaler Ethikrat 2001, S. 49). Als Bedingungen werden unter anderem genannt, dass die Stammzellen aus überzähligen In- vitro-Fertilisations-Verfahren stammen müssten; dass sie unabhängig vom Forschungsvor- haben und vor seiner Beantragung gewonnen würden; dass der Import zunächst für drei Jahre gewährt und dann neu bewertet werde; eine Stichtagsregelung wurde abgelehnt (Na- tionaler Ethikrat 2001, S. 51). Option B befürwortete einen „vorläufige[n], befristete[n] und an strenge Bedingungen gebundene[n] Import“ (Nationaler Ethikrat 2001, S. 51). Die Bedingungen waren weitestgehend identisch mit jenen von Option A. Option C sah die vorläufige Ablehnung des Stammzellimports und ein Moratorium vor (Nationaler Ethikrat 2001, S. 54). Der Gesetzgeber solle bis Ende 2004 eine Reihe von offenen Fragen klären. Option D erklärte den Import als ethisch unzulässig, da die Stammzellgewinnung die Tö- tung menschlicher Embryonen bedeuten würde. Schließlich sprachen sich von den 25 Mit- gliedern des Rates 15 für die Importoption B aus, davon stimmten neun Mitglieder ebenso

238 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 57-58. 239 BT Drs. 14/7546, 21.11.2001, S. 56. 247 Kapitel 7

Option A zu. 10 Mitglieder wünschten sich ein Moratorium, davon befürworteten vier Mitglieder auch ein vollständiges Verbot (Nationaler Ethikrat 2001, S. 58). Damit sprach sich die Enquete-Kommission des Bundestages mehrheitlich für ein Verbot des Imports aus. Der Nationale Ethikrat war hingegen mehrheitlich für den Import und eine große Gruppe konnte sich auch die Herstellung der Stammzelllinien in Deutsch- land vorstellen.

Die Entscheidungsfindung im Bundestag Nach einer fast zweijährigen, umfangreichen und öffentlichen Debatte wurden schließlich am 30. Januar 2002 im Bundestag drei fraktionsübergreifende Anträge240 beraten: Der An- trag „Schutz der Menschenwürde angesichts der biomedizinischen Möglichkeiten – Kein Import embryonaler Stammzellen“241 wurde federführend unter anderem von den Abge- ordneten Wolfgang Wodarg (SPD), Dr. Hermann Kues (CDU/CSU), Monika Knoche (Bündnis90/Die Grünen), Jochen Borchert (CDU/CSU), Wolfgang Thierse (SPD), Ilse Falk (CDU/CSU) und René Röspel (SPD) formuliert. Er sah das gesetzlich fixierte Verbot des Imports von Stammzelllinien und der Forschung an solchen Linien vor.242 In der An- tragsbegründung stützten sich die AutorInnen auf den Zwischenbericht der Enquete- Kommission, nach dem menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samen- zelle beginne. Dem Embryo käme verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde zu, und eine Tötung sei ethisch nicht vertretbar. Durch einen Import würde auch die Gewin- nung gebilligt. Außerdem gingen die AutorInnen davon aus, dass eine strenge Importrege- lung langfristig nicht aufrechtzuerhalten sei. Weiter kritisierten sie die Absicht, „Frauen zu «Rohstofflieferantinnen» für die Forschung“ zu machen.243 Naturwissenschaftliche Heil- versprechen müsse man begründet anzweifeln, und das Erlauben der Forschung berge die Gefahr eines Dammbruchs hin zum therapeutischen Klonen. Aus diesen Gründen solle man besser die Forschung an adulten Stammzellen fördern.244 Der zweite Entwurf „Verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stamm- zellen für eine ethisch hochwertige Medizin“ stammte maßgeblich aus den Federn der Ab- geordneten Ulrike Flach (FDP), (CDU/CSU) und Peter Hintze (CDU/CSU) und forderten eine weitestgehende Freigabe des Imports und der Forschung. Dabei sollten nicht genutzte Embryonen aus künstlichen Befruchtungen (In-vitro-

240 BT Drs. 14/8101-8103, 29.01.2002. Bei den Anträgen handelte es sich nicht um Gesetzentwürfe. Der erfolgrei- che Antrag wurde erst nach der Abstimmung in einen Gesetzesvorschlag gegossen, welcher im Frühjahr 2002 den Bundestag passierte. 241 BT Drs. 14/8101, 29.01.2002. 242 BT Drs. 14/8101, 29.01.2002, S. 2. 243 BT Drs. 14/8101, 29.01.2009, S. 3. 244 BT Drs. 14/8101, 29.01.2002, S. 3-4. 248 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Fertilisation) für hochrangige Forschungszwecke verwendet werden. Sollte der Import nicht ausreichen, dann wollte man sich die Herstellung von Stammzelllinien in Deutsch- land offenhalten.245 Die AutorInnen begründeten ihren Antrag mit der „Hoffnung vieler schwer kranker Menschen auf neue Chancen zur Entwicklung von Therapien und Hei- lungsmöglichkeiten.“246 Mittelfristig müsste die vergleichende Forschung an humanen embryonalen und adulten Stammzellen möglich sein, um langfristig auf ausschließlich adulte Stammzellen umsteigen zu können.247 Der dritte Entwurf „Keine verbrauchende Embryonenforschung: Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbieten und nur unter engen Voraussetzungen zulassen“ liest sich als ein Kompromissantrag: Die AutorInnen – u. a. Maria Böhmer (CDU/CSU) und Margot von Renesse (SPD) – wollten den Import grundsätzlich verbieten und nur unter folgenden Voraussetzungen Ausnahmen machen: Alternativen sind „nicht in vergleichbarer Weise erfolgversprechend (…) [d]er Import humaner embryonaler Stamm- zellen wird auf bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten Stichtag – spätestens zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über diesen Antrag – etabliert wurden, beschränkt (…) [, das] Einverständnis der Eltern zur Gewinnung von Stammzellen aus einem Embryo muss vorliegen (…) [d]ie Hochrangigkeit des Forschungsvorhabens (…) muss nachgewie- sen werden. Die ethische Vertretbarkeit wird durch eine (…) Zentrale Ethikkommission geprüft. Die Erfüllung der genannten Voraussetzungen stellt eine (…) Kontrollbehörde sicher (…).“248 Sie begründeten ihren Antrag mit dem Potenzial der Forschung, die Be- handlung bisher unheilbarer Krankheiten zu ermöglichen. Diese Stammzellen seien zudem keine Embryonen, „weil sie sich nicht zu einem vollständigen menschlichen Organismus entwickeln können. Ein unmittelbarer Grundrechtsschutz kann für sie nicht in Anspruch genommen werden (…) Gleichwohl ist der Import (…) rechtlich und ethisch problema- tisch, da ihre Gewinnung (…) die Tötung von Embryonen voraussetzt.“249 Daher sollten alternative Forschungsvorhaben gefördert werden und auf europäischer Ebene auf eine Beschränkung der Forschung auf bestehende Stammzelllinien hingewirkt werden.250 Die Beratung nahm über drei Stunden in Anspruch, 39 Abgeordnete ergriffen das Wort.251 Viele RednerInnen betonten die Wichtigkeit und Grundsätzlichkeit der Entschei- dung und lobten die Diskussion der letzten Monate, die weitestgehend frei gewesen sei von

245 BT Drs. 14/8103, 29.01.2002, S. 2-3. 246 BT Drs. 14/8103, 29.01.2002, S. 1. 247 BT Drs. 14/8103, 29.01.2002, S. 2. 248 BT Drs. 14/8102, 29.01.2002, S. 3-4. 249 BT Drs. 14/8102, 29.01.2002, S. 3. 250 BT Drs. 14/8102, 29.01.2002, S. 3. 251 Die schriftlichen Erklärungen von Abgeordneten werden in der Analyse nicht berücksichtigt, da sie im unmit- telbaren Diskurs des Bundestages keine wesentliche Rolle gespielt haben. 249 Kapitel 7 parteipolitischen Auseinandersetzungen und in der Öffentlichkeit breit geführt worden sei. Viele RepräsentantInnen betonten, dass ethische Überlegungen gegeneinander abgewogen werden müssten. Einige Abgeordnete beriefen sich dabei auch auf ihre christlichen Werte- vorstellungen.252 Die BefürworterInnen einer Liberalisierung der Forschung betonten, wie wichtig die Erlaubnis der Forschung für die Therapieentwicklung sei. „Wer den Import ablehnt, ver- zichtet bewusst auf durchaus vorhandene Chancen, Therapien für schwere, lebensbedro- hende Krankheiten zu entwickeln (…) muss irgendwann aus der Stammzellforschung ge- wonnene Medikamente unseren Patienten vorenthalten“ (Ulrike Flach, FDP).253 Dabei ent- spräche der „Wille zu heilen dem humanitären Auftrag, Alten, Schwachen und Kranken zu helfen“ (Katherina Reiche, CDU/CSU).254 Die Forschung an adulten Stammzellen wurde als sinnvoll, aber nicht ausreichend betrachtet.255 Flach warnte zudem davor, dass ein Im- portverbot „zu einem Export von deutschen Wissenschaftlern ins Ausland sowie dazu füh- ren [kann, Anm. d. Verf.], dass (…) unsere Kontrollmöglichkeiten für eine verantwor- tungsbewusste Forschung eingeschränkt werden und unsere Patienten Hilfe im Ausland suchen.“256 Die BefürworterInnen argumentierten auch, „die zu importierenden Stamm- zelllinien sind pluripotente Stammzellen und können sich nicht mehr zu einem Menschen entwickeln“ (Katherina Reiche, CDU/CSU).257 Das Lebensrecht des Embryos sei nicht absolut, das würde schon die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch zeigen (Katherina Reiche, CDU/CSU).258 Vielmehr bestehe eine „abgestufte Schutzwürdigkeit des menschli- chen Lebens“ (Pia Maier, PDS).259 Zudem sei die Forschung an diesen Zellen in anderen Ländern bereits erlaubt, dort sei ein ethisch motiviertes Verbot kein Thema gewesen (Kat- herina Reiche, CDU/CSU, und , FDP).260 Die bei einer künstlichen Befruchtung überzähligen Zellen würden so noch einem sinnvollen, weil vielleicht lebens- rettenden Zweck zugeführt (Peter Hintze, CDU/CSU und Wolfgang Gerhardt, FDP).261 Die GegnerInnen einer Liberalisierung sahen die ethische Verpflichtung zur Heilung und die Forschungsfreiheit als hohe Güter an. Allerdings: „Jeder Embryo, ob er sich im Körper der Frau oder in der Petrischale befindet, hat die gleiche, aus sich selbst kommende Kraft, sich als Mensch zu entwickeln, zur Person zu werden“ (Monika Knoche, Bünd-

252 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21193-21235. 253 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21197. 254 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21201. 255 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21197. 256 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21198. 257 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21201. 258 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21201. 259 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21215. 260 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21201, 21222. 261 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21205, 21221. 250 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung nis90/Die Grünen).262 „Die Würde des Menschen nimmt in der Rangordnung der abzuwä- genden Güter die erste Stelle ein“ (Hermann Kues, CDU/CSU),263 und die Debatte sei in den letzten Monaten „zu einem Symbolfall der Forschungsfreiheit hochstilisiert“ worden (Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD).264 Viele GegnerInnen zweifelten die erhofften Hei- lungschancen an.265 Die Tötung von Embryonen wurde mit der Tötung eines Menschen gleichgesetzt.266 Einen Import lehnten sie als „nachträgliche Billigung der vorangegange- nen Tötung der Embryonen außerhalb Deutschlands“ (Hermann Kues, CDU/CSU)267 ab. Ein Dammbruch wurde befürchtet, wenn die vorgesehenen Stammzelllinien nicht ausreich- ten.268 Die Regulierungen im Ausland könnten nicht maßgebend für die deutsche Gesetz- gebung sein. Vielmehr habe Deutschland hier eine europäische Verantwortung und müsse sich der Signalwirkung seiner Entscheidung bewusst sein.269 Jochen Borchert (CDU/CSU) hielt es für einen Widerspruch, eine verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland abzulehnen, aber Stammzellen zu importieren, die „aus der Vernichtung von Embryonen gewonnen worden sind.“270 Petra Bläss (PDS) und René Röspel (SPD) sahen in der For- schung auch die Gefahr eines irreversiblen Irrtums.271 Vielmehr solle man die Forschung an adulten Stammzellen fördern.272 Margot von Renesse (SPD), Ko-Autorin des dritten Antrags, betonte, dass es sich hierbei nicht um einen Kompromiss, sondern um eine Verständigung handele.273 Eine ver- brauchende Embryonenforschung lehne sie ab und dieses Verbot könne mit der Stichtags- regelung erreicht werden. Ein gänzliches Verbot hielt sie außerdem für nicht verfassungs- konform.274 Maria Böhmer (CDU/CSU) stellte klar, dass der Mensch kein Experimentier- feld und kein Ersatzteillager sei.275 Durch die Stichtagsregelung würde die Forschung an Stammzelllinien möglich, deren Embryos bereits irreversibel tot seien.276 Die Unterstütze- rInnen dieses Antrags sahen auch eine wesentliche Aufgabe in der Förderung der For- schung an adulten Stammzellen.277 Weitere Abgeordnete betonten ebenfalls die Schutz-

262 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21198. 263 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21194. 264 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21212. 265 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21193-21235. 266 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21203. 267 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21195. 268 unter anderem BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21195, 21212, 21220. 269 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21202-21203. 270 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21208. 271 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21213, 21230. 272 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21208, 21227. 273 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21195. 274 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21196. 275 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21199. 276 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21200. 277 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21200, 21207. 251 Kapitel 7 würde des Embryos und die Ethik des Heilens und begründeten, dass mit der Stichtagsre- gelung beiden Ansprüchen Genüge getan werden könne.278 Man wolle sich nicht der For- schung verschließen, wenn deren im Ausland gewonnenen Erkenntnisse dann aber doch in Deutschland in Form von Therapien genutzt werden würden.279 Bundeskanzler Schröder (SPD) brachte ebenfalls sich in die Debatte ein: Ein totales Importverbot hielt er nicht nur für „unangemessen, sondern auch verfassungsrechtlich problematisch.“280 Die Heilung von Krankheiten sei ein wichtiger Grund für die For- schung, außerdem dürfe man sich nicht von der internationalen Forschung abkoppeln.281 Am 30. Januar 2002 stimmte der Bundestag über die drei Anträge ab.282 In der ersten namentlichen Abstimmung erreichte keiner der drei Anträge die erforderliche Mehrheit. Am meisten Stimmen (263) erhielt der Verbotsantrag, gefolgt von 225 Stimmen für den Importantrag. Am wenigsten Stimmen (106) erhielt der Liberalisierungsantrag. Dieser wurde daher in der zweiten Runde nicht mehr berücksichtigt. Bei der zweiten namentli- chen Abstimmung setzte sich der Importantrag mit 339 Stimmen gegen den Verbotsantrag mit 266 Stimmen durch. Der erfolgreiche Antrag wurde in den folgenden Wochen von den AutorInnen zu einem Gesetzentwurf weiterentwickelt, in verschiedenen Ausschüssen bera- ten und im Bundestag am 25. April in zweiter und dritter Beratung behandelt.283 Diese Beratungen waren wesentlich kürzer, da die grundsätzliche Entscheidung bereits im Januar 2002 gefallen war und es nun im Wesentlichen nur noch um die Formulierung des Geset- zes mit spezifischen Bestimmungen ging. Das Gesetz wurde mit 360 Ja- und 190 Nein- Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommen.284 Anschließend ging der Gesetzentwurf in den Bundesrat, welcher auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses verzichtete. Somit trat das ausformulierte Stammzellgesetz am 1. Juli 2002 in Kraft.285 Das neue Gesetz ging über den Gesetzesantrag hinaus, denn es verbot nicht nur den Import, sondern auch die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen (§ 1 StZG). So wurden die bereits in Deutschland befindlichen Stammzelllinien von dem Gesetz erfasst.286 Die im Gesetz formulierten Voraussetzungen für Ausnahmen deckten sich weitestgehend, aber nicht vollständig mit jenen im Gesetzesantrag: Die Stammzelllinien müssen vor dem

278 Siehe u. a. BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21211, 21214, 21219. 279 Siehe u. a. BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21195, 21219, 21228. 280 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21209. 281 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002, S. 21209-21210. 282 BT PlPr. 14/214(neu), 30.01.2002. 283 BT PlPr. 14/233, 25.04.2002. Titel: Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zu- sammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) (BT Drs. 14/8394, 27.02.2002). 284 BT PlPr. 14/233, 25.04.2002, S. 23232; BR Drs. 344/02, 31.05.2002. 285 Stammzellgesetz (StZG), BGBl. I/42, 29.06.2002, S. 2277-2280. 286 BT PlPr. 14/233, 25.04.2002, S. 23210. 252 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Stichtag 1. Januar 2002 gewonnen worden sein (§ 4 II 1a StZG); Die importierten Stamm- zellen müssen aus embryonalen Stammzelllinien stammen, es darf sich also nicht um die Ursprungsstammzellen des Embryos handeln (Weschka 2010, S. 87); Die Stammzellen dürfen ausschließlich aus zu Fortpflanzungszwecken künstlich hergestellten Embryonen stammen, die überzählig sind und unentgeltlich der Forschung überlassen wurden (§ 4 II StZG); Auf die ausdrückliche Zustimmung der Eltern des Embryos wurde – im Ge- gensatz zum Antrag – verzichtet, hingegen ein „Ordre-Public-Vorbehalt“ (Weschka 2010, S. 93) eingefügt, wonach der Import dann verboten ist, „wenn die Gewinnung der embryo- nalen Stammzellen offensichtlich im Widerspruch zu tragenden Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung erfolgt ist“ (§ 4 III StZG); Und die Antragstellerin bzw. der Antragsteller muss wissenschaftlich begründen, dass es sich um hochrangige Forschungsziele im Rah- men der Grundlagenforschung oder Therapieentwicklung handelt, und dass diese Ziele nicht mit alternativen Forschungen erreichbar sind (§ 5 StZG). Das Gesetz richtete die Zentrale Ethikkommission ein, welche die Anträge prüft und über deren Zulassung ent- scheidet. Diese Kommission ist am Robert Koch-Institut angesiedelt und besteht aus neun von der Bundesregierung auf drei Jahre berufenen Fachpersonen aus Biologie, Ethik, Me- dizin und Theologie (§§ 6 – 9 StZG). Verstöße gegen das Gesetz werden mit bis zu drei Jahren Haftstrafe oder Geldstrafe bedroht (§ 13 StZG). Nach der Verabschiedung gab es keine Versuche der OpponentInnen einer Liberali- sierung, das Gesetz zu kippen, indem man das Bundesverfassungsgericht angerufen oder einen neuen Gesetzesantrag in den Bundestag eingebracht hätte. Nach der Entscheidung schwächte sich die Diskussion schlagartig ab.

7.3.2 Diskursnetzwerkanalyse

Bis in die späten 1990er Jahre wurde eher allgemein über Stammzellen mit Bezug auf das Klonen von Menschen debattiert. Diese Debatte konkretisierte sich hinsichtlich der embry- onalen Stammzellforschung Anfang 1999. DFG-Präsidenten Ernst-Ludwig Winnacker erklärte noch im März 1999, eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes sei nicht not- wendig (Kaulen 1999). Die Debatte nahm Fahrt auf, als Winnacker im Februar 2000 von dieser Position abwich und äußerte, er sei zwar Befürworter des Embryonenschutzgesetzes, aber der Druck auf ihm Laste, diese Position aufzugeben (Bahnen 2000). Dies wurde als Startpunkt der Diskursnetzwerkanalyse gewählt. Bis zur grundsätzlichen Entscheidung für eine Stichtagslösung im Bundestag am 30. Januar 2002 wurde die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen kontrovers dis-

253 Kapitel 7 kutiert. In der Zeitspanne bis zur endgültigen Gesetzesverabschiedung am 25. April 2002 im Bundestag bzw. am 31. Mai 2002 im Bundesrat gab es kaum noch grundsätzliche De- batten, vielmehr wurden verfahrenstechnische und regulative Details diskutiert. Das erklärt die starke Abnahme der Argumente in den letzten vier Monaten vor der Verabschiedung des Gesetzes. Die Analyse konzentriert sich damit auf den Zeitraum von Februar 2000 bis Januar 2002. In diesem Zeitraum konnten in der FAZ 543 Artikel identifiziert werden, welche die embryonale Stammzellforschung thematisierten. In diesen Artikeln wurden 1029 Aussagen kodiert. Zunächst werden die Daten genauer betrachtet: Dabei interessieren insbesondere drei Dinge: die zeitliche Verteilung der Artikel und der getätigten Aussagen sowie die am Dis- kurs beteiligten AkteurInnen. Abbildung 7.1 zeigt die Anzahl der FAZ-Artikel zur embry- onalen Stammzellforschung (gestrichelte Linie) und der in diesen Artikeln kodierten Aus- sagen (durchgezogene Linie).

Abbildung 7.1: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (01.02.2000 – 30.01.2002) 300

250

200

150

100

50

0 2000-2 2000-3 2000-4 2000-5 2000-6 2000-7 2000-8 2000-9 2001-1 2001-2 2001-3 2001-4 2001-5 2001-6 2001-7 2001-8 2001-9 2002-1 2000-10 2000-11 2000-12 2001-10 2001-11 2001-12

Zeitungsartikel Aussagen Anmerkungen: 543 Zeitungsartikel, 1029 Aussagen, pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

In den ersten Monaten gab es mehr Zeitungsartikel als Aussagen. Dies deutet darauf hin- deutet, dass es zwar Entwicklungen im Bereich der Stammzellforschung gab, die durch die FAZ vermeldet wurden, sich aber noch relativ wenige AkteurInnen dazu geäußert hatten. Ab Mitte 2000 war dann – bis auf den Oktober 2001 – die Anzahl der Aussagen immer gleich oder höher als die Anzahl der Zeitungsartikel. Es kamen also vermehrt Aussagen verschiedener AkteurInnen in den Artikeln vor. Zwei deutliche Hochpunkte der öffentli- chen Diskussion sind zu erkennen: In der Zeit um die erste Beratung im Bundestag Mitte

254 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

2001 und im Vorlauf der Entscheidung des Bundestages im Januar 2002. Der Verlauf der medialen Aufmerksamkeit entspricht den Befunden zur öffentlichen Diskussion wie sie in der dichten Fallbeschreibung dargelegt wurde. In der ersten Hälfte des Jahres 2000 berichtete die FAZ vorwiegend von der Diskus- sion über WissenschaftlerInnen der University of Edinburgh, die beim Europäischen Pa- tentamt ein Verfahren der Manipulation von menschlichen Stammzellen zur Patentierung beantragt und dieses Patent irrtümlicherweise erhalten hatten. Ab Mitte 2000 trat die DFG verstärkt öffentlich für die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland ein. In Großbritannien gab es Überlegungen, noch einen Schritt weiterzugehen und das Klonen menschlicher Stammzellen zuzulassen. Diese Entwicklungen stießen in Deutschland eine breitere Debatte über den Umgang mit diesem Forschungszweig an. Als das britische Par- lament im Dezember 2000 das Klonen erlaubte, gewann die Debatte in Deutschland weiter an Intensität. In den folgenden Monaten entbrannte die Diskussion, ob und wie weit die Erforschung embryonaler Stammzellen erlaubt werden sollte und ob man eine einheitliche Regulierung auf internationaler Ebene anstreben sollte. Die EU beschäftigte sich auch mit der Forschung, und Stimmen aus Deutschland forderten, dass auf europäischer Ebene ein restriktives Regime durchgesetzt werden sollte. Im Juli gab es eine umfangreiche Ausspra- che im Bundestag. Im dritten Quartal 2001 nahm die Berichterstattung zunächst ab. Die DFG machte öffentlich Druck auf die Politik, bald zu einer Entscheidung zu kommen. Der Bundestag kündigte Beratungen und eine Entscheidung für Januar 2002 an. Bis zu diesem Abstimmungstag hin nahm die öffentliche Diskussion nochmals stark zu. Die Häufigkeit der Aussagen und Zeitungsartikel deckt damit die in der dichten Fallanalyse beschriebenen Vorgänge treffend ab. Abbildung 7.2 zeigt die Anzahl der zustimmenden Aussagen (schwarze Linie) und ablehnenden Aussagen (dunkelgraue Linie) zur embryonalen Stammzellforschung sowie neutrale Aussagen (hellgraue Linie), die keine Präferenz anzeigen. Bis Mitte 2001 machte die Anzahl der neutralen Aussagen einen wesentlichen Anteil an allen Aussagen aus, in manchen Monaten war sie sogar zahlenmäßig den zustimmenden oder ablehnenden Aussa- gen überlegen. Eine Wende setzte im zweiten Quartal 2001 ein. Die Summe aller Aussa- gen stieg stark an, wobei die Zahl der neutralen Aussagen nur kurz anstieg und die meiste Zeit deutlich unter den zustimmen und ablehnenden Aussagen lag. Im Monat der Abstim- mung lag sie fast bei null. Dies bedeutet, dass die AkteurInnen kaum mehr neutrale Aussa- gen machten, sondern mit ihren Aussagen Zustimmung oder Ablehnung zum Thema Stammzellforschung ausdrückten. Auch deutlich erkennbar ist, dass sich die zustimmenden und ablehnenden Aussagen über den gesamten Zeitraum die Waage hielten. Im Rahmen

255 Kapitel 7 der ersten großen Aussprache im Bundestag im gab es sogar etwas mehr ablehnende als zustimmende Aussagen. Der Verlauf dieser drei Aussagetypen bestätigt die Fallanalyse: Die AkteurInnen positionierten sich zum Ende hin deutlicher auf der Pro- oder Kontra- Seite, bzw. die neutralen Stimmen verstummten. Zwischen Mai 2001 und Januar 2002 gab es intensive Diskussionen, die vermutlich Einfluss auf die Einstellung der AkteurInnen zur embryonalen Stammzellforschung hatten.

Abbildung 7.2: Anzahl Aussagen zur Stammzellforschung (01.02.2000 – 30.01.2002) 140

120

100

80

60

40

20

0 2000-2 2000-3 2000-4 2000-5 2000-6 2000-7 2000-8 2000-9 2001-1 2001-2 2001-3 2001-4 2001-5 2001-6 2001-7 2001-8 2001-9 2002-1 2000-10 2000-11 2000-12 2001-10 2001-11 2001-12

Zustimmung Ablehnung neutral

Anmerkungen: Einstellung zur embryonalen Stammzellforschung. Insgesamt 418 Zustimmungen, 460 Ablehnungen, 151 neutrale Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Aussagekategorien Alle Aussagen wurden schrittweise zu 17 Kategorien zusammengefasst. Die Aussagen sind in zwei Gruppen eingeteilt: Zum einen Aussagen, die als Forderungen formuliert waren, aber keine Begründungen lieferten. Zum anderen Aussagen, die eine Begründung für oder gegen die embryonale Stammzellforschung darstellten. Diese Struktur ergab sich im Laufe der Markierung und Kategorisierung der Aussagen und unterscheidet sich damit von der Struktur bei der Analyse der Sterbehilfe. Während dort über mehrere Varianten der Sterbe- hilfe und über die Sterbebegleitung und Patientenverfügung diskutiert wurde, gab es bei der embryonalen Stammzellforschung keine Variation (bis auf einige Aussagen zum Klon- Verfahren), zentraler Diskussionspunkt war die Stammzellforschung selbst. Ein weiterer Unterschied zur Sterbehilfe ist, dass bei den Daten zur embryonalen Stammzellforschung nicht nur die Forderungen Zustimmung und Ablehnung erfahren können, sondern auch die Begründungen. Tabelle 7.2 listet die Forderungen und Tabelle 7.3 die Begründungen auf.

256 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Zum besseren Verständnis wird jede Kategorie beschrieben und ein Beispiel mit Kodie- rung geliefert.

Tabelle 7.2: Aussagekategorien, Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Forderung Beschreibung Beispiel und Kodierung Forschung Aussage zugunsten oder „Gerd Kempermann vom Max-Delbrück-Centrum gegen die Forschung, ohne für Molekulare Medizin (MDC) war als Vertreter der weitere Begründung Stammzellenforscher geladen, setzte indes zu einem für Naturwissenschaftler leidenschaftlich zu nennen- den Plädoyer an, am deutschen Sonderweg festzuhal- ten und nicht in die Forschung an embryonalen Stammzellen einzusteigen“ (FAZ 18.05.2001, S. 49). -> kodiert als Ablehnung der Forschung Import Aussage für oder gegen „Deshalb hätten die Grünen die SPD gebeten, den den Import von embryona- Import embryonaler Stammzellen auf anderem Wege len Stammzellen, ohne zu verhindern und dabei etwa die Forschungsförde- weitere Begründung rung zu nutzen“ (FAZ 20.06.2001, S. 2). -> kodiert als Ablehnung des Imports limitierte Aussage für oder gegen die „(…) sei es auch nötig, die Forschung an Stammzel- Forschung limitierte Forschung von len von Embryonen bis zu einem Alter von 14 Tagen embryonalen Stammzellen, zuzulassen“ (FAZ 05.05.2001, S. 1). -> kodiert als ohne weitere Begründung Zustimmung zur limitierten Forschung Klonen Aussage, über die embryo- „Zum anderen solle das therapeutische Klonen ge- nale Stammzellforschung stattet werden, also die Übertragung des Erbmateri- hinaus (nicht) zu liberali- als aus einer Körperzelle in eine entkernte Eizelle, sieren: Für oder gegen das die sich dann unter geeigneten Bedingungen wie eine reproduktive oder thera- befruchtete Eizelle verhält“ (FAZ 27.05.2001, S. 3). peutische Klonen sowie -> kodiert als Zustimmung zum Klonen Keimbahntherapie ohne weitere Begründung. Zeit lassen Aufforderung, sich mit der „Wir müssen viel genauer als heute wissen, was in Entscheidung Zeit zu las- Zukunft möglich ist, um in breitem gesellschaftli- sen und/oder einen gesell- chem Konsens entscheiden und festlegen zu können, schaftlichen Konsens an- was davon wirklich werden soll und was nicht“ zustreben oder die Vernei- (FAZ 25.01.2001, S. 4). -> kodiert als Zustimmung nung desselben ohne wei- zum Zeit lassen tere Begründung limitierter Aussage für oder gegen „Eine Mehrheit des Nationalen Ethikrats hat sich am Import den Import von embryona- Donnerstag für einen Import embryonaler Stammzel- len Stammzellen, ohne len nach Deutschland ausgesprochen, allerdings un- weitere Begründung ter strengen Auflagen“ (FAZ 30.11.2001, S. 1). -> kodiert als Zustimmung zum limitierten Import Internat. Ko- Aufforderung, internatio- „Rasch müsse für deutsche Stammzellforscher das operation nale gesetzliche Überein- Kooperationsverbot mit ausländischen Kollegen kommen zur Forschung fallen“ (FAZ 26.07.2006, S. 1). -> kodiert als Zu- anzustreben / internationa- stimmung zur internationalen Kooperation le Forschungskooperatio- nen zu etablieren

257 Kapitel 7

Gesetz über- Aufforderung, das Embry- „Eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes arbeiten onenschutzgesetz / das sei notwendig, sagte der für Patente zuständige Be- Stammzellgesetz zu über- richterstatter der Unionsfraktion im Bundestag, arbeiten Norbert Hauser. Das Embryonenschutzgesetz sei derzeit lückenhaft“ (FAZ 17.01.2001, S. 4). -> ko- diert als Zustimmung zur Überarbeitung des Geset- zes eigene Her- Embryonen bzw. embryo- „Gleichzeitig beharrte er jedoch auf früheren Plänen stellung nale Stammzellen sollen in der DFG, dass embryonale Stammzellen unter be- Deutschland für die For- stimmten Bedingungen in Deutschland selbst herge- schung hergestellt werden. stellt werden sollten“ (FAZ 02.02.2002, S. 4). -> kodiert als Zustimmung zur eigenen Herstellung Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

Tabelle 7.3: Aussagekategorien, Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Begründung Beschreibung Beispiel Embryo Embryo absolut schüt- „Lehmann sagte, Leben dürfe nicht vernichtet und schützen zenswert / besitzt Men- verbraucht werden, auch wenn das für einen noch so schenwürde (wichtiger als guten Zweck geschehe“ (FAZ 21.12.2000, S. 1). Forschungs-/Wirtschafts- /Heilungsinteressen) Alternativen Anstelle der embryonalen „Der Schwerpunkt müsse vielmehr auf die Erfor- nutzen Stammzellen zum Beispiel schung von Alternativen zum Klonen menschlicher adulte Stammzellen für die Embryonen gelegt werden, sagte Bulmahn und ver- Forschung verwenden wies auf Fortschritte in der Forschung an sogenann- ten adulten Stammzellen, also den Stammzellen er- wachsener Menschen“ (FAZ 21.12.2000, S. 1) Heilungsethik medizinische Chance nut- „Wenn wir in zehn oder zwanzig Jahren imstande zen, Ethik des Heilens sein könnten, bestimmte Krankheiten zu behandeln, wer hat dann das Recht, jetzt zu entscheiden, dass zum Beispiel der Parkinson-Kranke weiterhin gefäl- ligst an diesem Leiden sterben soll?“ (FAZ 21.01.2001, Nr. 3, S. 9) Forschung Die Forschung ist aus ethi- „Die Menschenwürde könne auch verletzt werden, ethisch schen / christlichen / mora- indem man etwas nicht zulässt oder bewusst unter- lischen Gründen geboten bindet“ (FAZ 02.08.2006, S. N2 ) wiss. Interes- Forschung wichtig für „Sonst bestehe die Gefahr, dass Deutschland bei se wissenschaftliches Voran- dieser Forschung das Nachsehen hat“ (FAZ kommen / Wissenschafts- 18.08.2000, S. 1). standort Deutschland Dammbruch Dammbruch durch die „Von einer Überschreitung des Rubikon, vor dem Forschung / durch den nicht nur die Justizministerin warnt, wollte Clement Import von Stammzellen jedenfalls nichts wissen, wie sich hinterher heraus- stellte“ (FAZ 18.06.2001, S. 51) wirt. Interes- Forschung wichtig für „Gegen die These, der Verzicht auf embryonale se Wirtschaftsstandort Stammzellforschung schade dem Wirtschaftsstand- Deutschland ort, erklärt Wegener: Ich kann hier keinen Standort- nachteil erkennen (…).“ (FAZ 28.07.2001, S. 41).

258 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Begründung Beschreibung Beispiel Widerspruch Widerspruch zwischen „Zwischen dem Abtreibungsurteil und dem gesetzli- Verbot des Schwanger- chen Schutz extrakorporal erzeugter Embryonen schaftsabbruchs und einer besteht kein Wertungswiderspruch im Grundsätzli- Erlaubnis der embryonalen chen“ (FAZ 30.05.2001, S. 55) Stammzellforschung Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

Von den insgesamt 1029 kodierten Aussagen waren 600 fordernde Aussagen und 429 be- gründete Aussagen. Das Säulendiagramm (Abbildung 7.3) gibt die Verteilung der Aussa- gen in absoluten Zahlen an.

Abbildung 7.3: Anzahl Forderungen und Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002) 160 136 138 140 133 120 111 96 100 88 77 81 80 71 74 72 74 62 60 56 61 60 48 52 42 47 47 39 35 40 27 28 25 19 23 21 21 20 14 14 13 14 13 13 13 11 20 8 10 9 7 5 5 8 6 5 2 4 0

Summe Zustimmung Ablehnung

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 1029 Aussagen, davon 600 Forderungen, 429 Begründungen; schwarze Säulen = Summe aller Aussagen zur Kategorie; dunkelgraue Säulen = Zustimmung zur Kategorie; hellgraue Säulen = Ablehnung der Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Zunächst werden auf der linken Seite die Aussagekategorien aufgeführt, die eine Forde- rung angeben, dann folgen in der rechten Hälfte die Begründungen. Beide Gruppen sind jeweils nach Kategoriengröße sortiert. Angegeben ist jeweils die Summe (schwarze Säule), welche sich aus den Zustimmungen (dunkelgraue Säule) und Ablehnungen (hellgraue Säu- le) ergibt. In der Gruppe der Forderungen waren am häufigsten Aussagen (136) zur For- schung allgemein zu finden. Fast doppelt so häufig wurde die Forschung abgelehnt (88), als sich Aussagen für die Forschung fanden (48). Ein weiterer Streitpunkt war der Import

259 Kapitel 7 von embryonalen Stammzellen (133 Aussagen). Diese Möglichkeit wurde in Betracht ge- zogen, um die Embryonen nicht in Deutschland verbrauchen zu müssen, sondern diese Arbeit an ausländischen Forschungseinrichtungen durchführen zu lassen. Da in anderen Staaten die Herstellung von embryonalen Stammzellen und deren Er- forschung zu diesem Zeitpunkt bereits erlaubt war, wurde vorgeschlagen, sich an die dorti- gen Institute zu wenden. Dieser Importvorschlag fand BefürworterInnen (62 Aussagen), wobei die Anzahl der GegnerInnen (71 Aussagen) leicht überwog. Ein weiterer Vorschlag war, die Forschung zumindest eingeschränkt, also unter restriktiven legislativen Auflagen und unter Aufsicht eines Kontrollgremiums, zu erlauben (96), was stark befürwortet wurde (77 pro vs. 19 kontra). Gerade zu Beginn des Untersuchungszeitraums beherrschten auch die Fragen nach weitergehenden Forschungsvorhaben wie der Keimbahntherapie oder dem reproduktiven und therapeutischen Klonen den Diskurs (74 Aussagen), angestoßen durch den Policy-Wandel in Großbritannien und verschiedentliche Aussagen anerkannter Wis- senschaftlerInnen. Die Haltung war dazu deutlich ablehnend (14 pro vs. 60 kontra). Eine weitere Aussage forderte, sich mit der Entscheidung für oder gegen die Forschung mehr Zeit zu lassen und einen gesellschaftlichen Konsens zu finden (56 Aussagen). Diese Forde- rung kam auf, als der Diskurs Fahrt aufnahm und Liberalisierungen in anderen Ländern und die Aussagen von NaturwissenschaftlerInnen, man wolle eine möglichst baldige For- schung auch in Deutschland, dazu führten, dass die Debatte unter Zeitdruck geführt wurde. 42 Mal wurde dieser Wunsch geäußert, 14 Mal wurde er abgelehnt und gefordert, eine ra- sche politische Entscheidung zu treffen. 47 Aussagen befürworteten den beschränkten Im- port von embryonalen Stammzellen: Nur bereits existierende Stammzelllinien sollten ver- wendet werden dürfen, die Genehmigung des Imports müsse durch eine Kommission er- folgen. Diese und weitere Auflagen wurden vorgeschlagen, und diesen wurde nicht wider- sprochen. 21 Aussagen sprachen sich dafür aus, dass Deutschland eine internationale Re- gulierung oder Forschungskooperationen anstreben solle, 2 Aussagen lehnten dies ab. 13 Aussagen sahen gar keine Notwendigkeit, die bisherige Regulierung zu überarbeiten, 8 Aussagen sprachen sich dafür aus. 10 Aussagen forderten die Herstellung von Embryonen oder embryonalen Stammzellen für die Forschung in Deutschland, 4 Aussagen lehnten dies ab. Die häufigste Begründung (138 Aussagen) bezog sich auf den Status des Embryos. Umstritten war, ob dem Embryo ethisch und rechtlich gesehen der Status eines frühen menschlichen Lebens zukommt. In diesem Fall würde er Menschenwürde besitzen und damit ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Das würde wiederum bedeuten, dass er nicht für nachrangige Ziele wie Fortschritte in der Forschung oder wirt-

260 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung schaftliche Interessen beschädigt oder „getötet“ werden dürfte. Eine deutliche Mehrheit (111) der Aussagen stimmte dieser Meinung zu. Dagegen sprach eine Minderheit (27) dem Embryo diesen Status ab. Vor allem GegnerInnen einer Liberalisierung betonten, die For- scherInnen sollten Forschungsalternativen nutzen (72 Aussagen). Sie argumentierten, dass es bereits große Fortschritte in der Verwendung von adulten Stammzellen gebe. Dieser Weg sollte weiterverfolgt werden. Die OpponentInnen dieser Alternativlösung (9 Aussa- gen) argumentierten, dass diese adulten Stammzellen nicht mehr in dem Maße teilungsfä- hig seien wie embryonale Zellen und daher für die Grundlagenforschung nicht einsetzbar seien. In der Diskussion über den Sinn und Zweck der embryonalen Stammzellforschung wurde auch häufig das Argument einer „Ethik des Heilens“ (74 Aussagen) ins Feld ge- führt. BefürworterInnen der Forschung argumentierten, dass die Forschung großes Poten- zial habe, Therapien für schwere Krankheiten zu ermöglichen. Man erhoffte sich die Ent- wicklung von Therapien zur Heilung von Alzheimer, Parkinson und anderen neurologi- schen Krankheiten. Diese medizinischen Chancen dürfe man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Man habe auch eine Verantwortung und ethische Verpflichtung gegenüber den Menschen, die an diesen Krankheiten leiden würden. Eine Therapie könne man ihnen nicht vorenthalten. Dieses Argument wurde von einer deutlichen Mehrheit unterstützt (61 Aus- sagen), eine Minderheit lehnte diese Sichtweise ab (13 Aussagen), weil dieses Heilverspre- chen unrealistisch sei und die Schutzwürdigkeit des Embryos nicht aushebeln könne. Eine weitere Gruppe von Aussagen drehte sich um die Frage, ob die Forschung aus ethischen, moralischen oder christlichen287 Gründen erlaubt oder verboten sein sollte (52). Eine deut- liche Mehrheit lehnte aus diesen Gründen die Forschung ab (39), eine Minderheit befür- worte sie (13). BefürworterInnen der Forschung argumentierten teilweise auch, dass die embryonale Stammzellforschung sehr wichtig für den Wissenschafts- und Forschungs- standort Deutschland sei (28). Dieser Forschungszweig sei zukunftsträchtig und man dürfe nicht von anderen Ländern abgehängt werden. Man befürchtete zudem einen Braindrain deutscher WissenschaftlerInnen ins Ausland, wenn sie hierzulande nicht ihren Forschungs- interessen nachgehen könnten. Eine Minderheit lehnte diese Vorstellung ab (7), bzw. ver- neinte, dass dieses Interesse im Vergleich zu anderen Interessen wie dem Schutz des Emb- ryos legitim sei. Ein weiterer Streitpunkt kreiste um die Frage, ob eine Liberalisierung ei- nen Dammbruch darstelle (25 Aussagen). Für ForschungsgegnerInnen war auch eine nur eingeschränkte Erlaubnis der Forschung ein irreversibler Schritt, eine Übertretung der Grenze zum Ge- und Verbrauch des Menschen (20 Aussagen). Es gäbe dann keine Schran- ke mehr, die vor weiteren Liberalisierungen, zum Beispiel hin zum Klonen, schützen wür-

287 Diese Begriffe wurden von den AkteurInnen verwendet. 261 Kapitel 7 de. Dieses Argument wurde in 5 Aussagen abgelehnt. Umstritten war das Argument über die Bedeutung der Forschung für den Wirtschaftsstandort Deutschland (5 pro vs. 8 kontra). Eine kleine Anzahl an Aussagen sah einen Widerspruch, wenn man den Schwanger- schaftsabbruch und damit die Tötung von Embryonen erlaube, die embryonale Stammzell- forschung aber verbiete (6 Aussagen). Fünf Aussagen lehnten diesen Vergleich als irrefüh- rend ab. Von allen Aussagen, die einen direkten Schluss auf die Zustimmung oder Ableh- nung der embryonalen Stammzellforschung zulassen, lehnten 55 Prozent aller Aussagen die Forschung ab, 45 Prozent befürworteten sie. Die thematischen Schwerpunkte im Diskurs entsprachen denjenigen, welche in der dichten Fallanalyse angesprochen wurden: Zentraler Streitpunkt war, ob eine Forschung an embryonalen Stammzellen überhaupt legal sei und ob man Stammzelllinien importieren dürfe. Letzterer Diskussionspunkt ergab sich aus der bereits angesprochenen Regulierungs- lücke. Als zentrale Begründungen wurden der absolute Schutz des Embryos, die Nutzung von Forschungsalternativen und die Ethik des Heilens identifiziert. Das sind Begründun- gen, wie sie auch in den Stellungnahmen der Organisationen und in den Bundestagsdebat- ten häufig verwendet wurden.

AkteurInnen Welche AkteurInnen und Familien brachten sich in den Diskurs ein? Abbildung 7.4 bildet die im Diskurs beteiligten 19 kollektiven AkteurInnen ab und gibt ihre Einstellung zur embryonalen Stammzellforschung wider. Dargestellt ist die absolute Anzahl von allen Aussagen (schwarze Säulen) welche sich unterteilt in Aussagen für die Forschung (dun- kelgraue Säulen), gegen die Forschung (mittelgraue Säulen) und neutrale Aussagen (hell- graue Säulen). Wichtig ist zu beachten, dass die Aussagen als pro oder kontra Stammzell- forschung interpretiert wurden, auch wenn sie dazu nur indirekt Stellung genommen ha- ben. So wird beispielsweise die Aussage „Der Embryo besitzt absolut schützenswerte Menschenwürde“ der Kontra-Forschungs-Gruppe zugeordnet. Aussagekategorien, bei de- nen keine eindeutige pro oder Kontra-Haltung abgeleitet werden konnte, werden der Kate- gorie „neutral“ zugeordnet (zum Beispiel die Aussage, sich mit der Entscheidung Zeit zu lassen).288

288 Zudem „internat. Kooperation“; „Gesetz überarbeiten“; „Widerspruch“. 262 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.4: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (01.02.2000 – 30.01.2002)

250 237 218

200

150 124 108 101 100 83 84 85 76 58 57 50 38 39 41 41 37 36 30 30 35 17 30 22 20 17 1518 16 14 19 8 13 17 1312 13 10 9 8 6 76 5 7 5 6 5 0

Summe Zustimmung Ablehnung neutral

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 1029 Aussagen, davon 418 für, 460 gegen die Forschung, 151 neutrale Aussagen. Zahlen unter 5 sind nicht angegeben. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Mit Abstand am häufigsten brachten sich die SPD (237 Aussagen) und die CDU/CSU (218) in den Diskurs ein. In beiden Parteien gab es BefürworterInnen und OpponentInnen der Forschung. Während sich die CDU/CSU mehrheitlich gegen die Forschung aussprach (84 pro vs. 108 kontra), verzeichnete die SPD eine leichte Mehrheit zugunsten der For- schung (101 pro vs. 83 kontra). Bei den SozialdemokratInnen gab es auch eine relativ gro- ße Gruppe von neutralen Aussagen (53). Der drittgrößte Akteur waren die Naturwissen- schaftlerInnen (124 Aussagen), die sich mit deutlicher Mehrheit für die Forschung aus- sprachen (76 pro vs. 38 kontra). Die Grünen (85 Aussagen), kleiner Koalitionspartner im rot-grünen Regierungsbündnis, stellten sich wiederum mehrheitlich gegen die Forschung (17 pro vs. 58 kontra). Die DFG brachte sich als Wissenschaftsorganisation und damit auch als Sprachrohr und Interessenvertreterin der WissenschaftlerInnen in den Diskurs ein (57 Aussagen) und befürwortete die Forschung deutlich (39), nur eine Minderheit sprach sich dagegen aus (8). Die FDP (41 Aussagen) befürwortete deutlich (30 pro vs. 1 kontra) die Forschung. Die Bundesärztekammer und weitere MedizinerInnen (41 Aussagen) waren sich nicht einig, eine knappe Mehrheit (13 Aussagen pro vs. 17 Aussagen kontra) sprach

263 Kapitel 7 sich aber dagegen aus. Eine weitere Gruppe waren die Theologen (37 Aussagen)289, die in ihrer Meinung gespalten waren, sich aber mehrheitlich gegen die Forschung aussprachen (15 pro vs. 18 kontra). Die Kirchen waren in ihrer Haltung eindeutig: Die evangelische Kirche (36 Aussagen, davon 2 pro vs. 30 kontra) und die katholische Kirche (35 Aussagen, davon 0 pro vs. 30 kontra) lehnten die Forschung ab. Folgende Gruppen brachten sich mit unter 30 Aussagen in vergleichsweise geringem Umfang ein: Die Rechtswissenschaften (22 Aussagen), die WirtschaftsvertreterInnen (20), die Enquete-Kommission des Bundes- tages (13)290, der Bundespräsident (10), die PDS/Die Linke (7 Aussagen) und VertreterIn- nen gesellschaftlicher Gruppen (6) sprachen sich mehrheitlich gegen die Forschung aus. Mehrheitlich befürwortende Aussagen findet man beim Nationalen Ethikrat (19 Aussagen) und der Politik (8).291 VertreterInnen gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen (13) wa- ren unentschieden. Die in der Diskursanalyse festgestellte Beteiligung verschiedener Ak- teurInnen bestätigt die Erkenntnis der dichten Fallbeschreibung: Embryonale Stammzell- forschung wurde vor allem von der DFG, den NaturwissenschaftlerInnen, den Medizine- rInnen und den Kirchen und Theologen diskutiert. Ebenso war sie unter den Bundestags- parteien ein zentrales Thema. Abbildung 7.5 fasst die AkteurInnen zu Familien zusammen. Angegeben sind wieder jeweils die Summe aller Aussagen (schwarze Säulen), und darunter die zustimmenden (dunkelgraue Säulen), die ablehnenden (mittelgraue Säulen) und die neutralen (hellgraue Säule) Aussagen. Es zeigt sich, dass die Politik am stärksten im Diskurs vertreten war (618 Aussagen) und mit einer leichten Mehrheit der Aussagen gegen die Forschung stellte (238 pro vs. 277 kontra). Rund ein Sechstel der Aussagen war neutral. Am zweithäufigsten brachte sich die Wissenschaft ein (270 Aussagen) und dies mit einer deutlichen Befürwor- tung der Forschung (145 pro vs. 99 kontra). In der Gruppe der Kirchen und Theologen (114) war hingegen eine deutliche Mehrheit gegen die Forschung (30 pro vs. 65 kontra). Wirtschaft (20) und Gesellschaft (7) machten einen sehr kleinen Anteil der Aussagen aus, beide Gruppierungen weisen eine Mehrheit gegen die Forschung auf.

289 Da einige Aussagen nicht eindeutig evangelischen oder katholischen Theologen zugeordnet werden konnten, wurden die Theologen bereits in der Organisationsgruppenbildung zusammengefasst. 290 Tatsächlich haben sich VertreterInnen der Enquete-Kommission wesentlich umfangreicher in die Debatte ein- gebracht. Allerdings sind diese Mitglieder eben gleichzeitig Abgeordnete und werden zu den Parteien gezählt. Damit verbleiben in der Gruppe der Enquete-Kommission nur solche Aussagen, welche nicht eindeutig einer Ab- geordneten oder einem Abgeordneten zugerechnet werden konnten. Summiert man allerdings die Aussagen aller Enquete-Mitglieder, dann ist ebenfalls eine deutliche Mehrheit gegen die Forschung. 291 Hierunter fallen zum Beispiel VertreterInnen der Konferenz der LandesgesundheitsministerInnen und ehemalige RichterInnen des Bundesverfassungsgerichts. 264 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.5: Anzahl Aussagen, nach Familien (01.02.2000 – 30.01.2002)

800 618 600

400 277 238 270 145 200 103 114 99 65 26 30 19 20 4 14 2 7 1 5 1 0 Politik Wissenschaft Kirche&Theologie Wirtschaft Gesellschaft

Summe Zustimmung Ablehnung neutral

Anmerkungen: Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 1029 Aussagen, davon 418 für, 460 gegen die Forschung, 151 neutrale Aussagen. Zusammensetzung der Familien siehe Anhang 11.7. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Bezugsnetzwerke Bisher wurde dargestellt, welche AkteurInnen und Familien sich in welchem Umfang in den Diskurs eingebracht haben und wie sie grundsätzlich zur embryonalen Stammzellfor- schung standen. Darüber hinaus stellt sich nun die Frage, welche Argumente welche Ak- teurInnen besonders intensiv genutzt haben und welche AkteurInnen hier ähnliche Schwerpunkte setzten, also Koalitionen im Diskurs bildeten. Dazu werden verschiedene Netzwerke betrachtet (vgl. Abbildung 7.6 bis Abbildung 7.12).292 Zunächst werden die AkteurInnen und ihre Einstellungen zu den Aussagekategorien beleuchtet. Das Netzwerk in Abbildung 7.6 zeigt diese Beziehungen auf. Die Rechtecke zeigen die Kategorien, die Ellipsen zeigen die AkteurInnen an. Je zentraler die Aussagen und AkteurInnen liegen und je größer die Rechtecke bzw. die Ellipsen sind, desto häufiger haben sich die AkteurInnen geäußert und wurden die Aussagekategorien verwendet. Ak- teurInnen und Kategorien sind mit einer Linie verbunden, wenn diese Kategorien von Ak- teurInnen verwendet wurden. Je breiter diese Verbindung, desto relativ häufiger hat die jeweilige Akteurin bzw. der jeweilige Akteur Gebrauch von dieser Kategorie gemacht. In dieser Abbildung wird nur die Häufigkeit der Nennung betrachtet, nicht ob eine Kategorie abgelehnt oder ihr zugestimmt wurde.

292 Das lässt sich auch in einer Tabelle darstellen. Dies ist weniger intuitiv, allerdings sind die Daten ablesbar. Daher findet sich in Anhang 0 die entsprechende Datentabelle. 265 Kapitel 7

Abbildung 7.6: Bezugsnetzwerk, komplett (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.298. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Die SozialdemokratInnen und die CDU/CSU haben sich am umfangreichsten in den Dis- kurs eingebracht und waren in einer Reihe von Aussagekategorien vertreten. Die SPD nahm insbesondere Bezug auf die Zeitfrage der Entscheidung, die Frage nach der Schutz- würdigkeit des Embryos, die Nutzung von Alternativen, eine limitierte Forschung und den Import bzw. den limitierten Import von embryonalen Stammzellen. Für die CDU/CSU waren die wichtigsten Diskussionsthemen der Status des Embryos und ein limitierter Im- port von embryonalen Stammzellen. Die anderen Parteien waren weniger intensiv an der Debatte beteiligt. Die Grünen beschäftigten sich wie die CDU/CSU am häufigsten mit dem Status des Embryos und dem limitierten Import. Die FDP befasste sich mit der Heilungs- ethik, der limitierten Forschung und dem Import von embryonalen Stammzellen. Im Ge- gensatz zu den anderen Parteien behandelte sie die Frage nach dem Status des Embryos überhaupt nicht. Die PDS/Die Linke brachte sich kaum ein. Weitere Gruppen aus der Poli- tik brachten sich nicht zentral ein oder haben sich nicht dezidiert mit einem bestimmten 266 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Thema auseinandergesetzt. Aus der Gruppe von Wissenschaften haben sich die Naturwis- senschaften und die DFG am häufigsten eingebracht. Die NaturwissenschaftlerInnen be- schäftigten sich vor allem mit der Frage nach dem Import von embryonalen Stammzellen, der Heilungsethik, einer limitierten Forschung und möglichen Alternativen zu den embry- onalen Stammzellen. Die DFG maß der Forschung bzw. der eingeschränkten Forschung und dem Import große Bedeutung bei. Die Ärzteschaft und die Gesellschaftswissenschaf- ten beschäftigten sich mit verschiedenen Aussagen, ohne eine eindeutige Präferenz für ein Thema aufzuzeigen. Der Nationale Ethikrat beschäftigte sich mit der Frage nach dem limi- tierten Import. Die Rechtswissenschaft befasste sich mit dem Status des Embryos. Die evangelische Kirche und die katholische Kirche nahmen insbesondere Bezug auf den Schutz des Embryos. Die Theologen thematisierten diesen Schutz ebenso und beschäftig- ten sich zudem mit der Frage nach der Legitimität einer limitierten Forschung. Die Wirt- schaftsvertreterInnen haben sich weniger auf bestimmte Aussagen konzentriert. Vertrete- rInnen gesellschaftlicher Gruppen haben sich in sehr geringem Umfang in den Diskurs eingebracht. Um den Diskurs näher betrachten zu können, werden die Grafiken ausdifferenziert. Zum einen werden die Forderungen und Begründungen getrennt betrachtet, zum anderen wird jeweils zwischen der Zustimmung zu den Forderungen bzw. den Begründungen und deren Ablehnung unterschieden. In Abbildung 7.7 und Abbildung 7.8 sind die AkteurInnen in Bezug auf die Forderungen abgebildet. Die AkteurInnen und Aussagekategorien, die außerhalb des Netzwerks liegen, haben sich im Diskurs nicht eingebracht bzw. wurden nicht verwendet. Das bedeutet, dass Stimmen aus der Gesellschaft und die katholische Kir- che keinen Forderungen zugestimmt (vgl. Abbildung 7.7) und die Politik und die Gesell- schaftswissenschaften keine Forderungen ablehnt haben. Die Forderung nach dem limitier- ten Import hat niemand abgelehnt (vgl. Abbildung 7.8). Im Zentrum der Forderungen stand die gesetzlich erlaubte limitierte Forschung an embryonalen Stammzellen. Insbesondere die SPD, DFG, FDP, NaturwissenschaftlerInnen, Theologen und CDU/CSU sprachen sich dafür aus. Von der SPD wurde zudem der Import stark befürwortet. Gleichzeitig wollten sich die SozialdemokratInnen Zeit für die Entschei- dung lassen und den gesellschaftlichen Konsens in diesem Konflikt anstreben. Die CSU/CSU sprach sich umfangreich für die Forschung und den limitierten Import aus, woll- te sich mit der Entscheidung aber auch Zeit lassen. Die anderen AkteurInnen haben sich in geringerem Umfang an der Diskussion beteiligt. Die Grünen befürworteten den limitierten Import und wollen ebenfalls genügend Zeit für eine Entscheidung. Die DFG und die Na-

267 Kapitel 7 turwissenschaftlerInnen sprachen sich neben der limitierten Forschung für den Import von embryonalen Stammzelllinien aus.

Abbildung 7.7: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.196. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Am häufigsten wurde von denen am Diskurs beteiligten AkteurInnen die Forschung abge- lehnt. Insbesondere die CDU/CSU und die SPD waren hier engagiert. Damit wurde die am allgemeinsten gefasste Kategorie am häufigsten angesprochen, bzw. die AkteurInnen äus- serten sich nur unspezifisch, aber ablehnend zur embryonalen Stammzellforschung. Des Weiteren wurde relativ häufig auf weitergehende Forschungsvorhaben, wie das Klonen, den Import und die limitierte Forschung negativ eingegangen. Insbesondere in der CDU/CSU äußerten sich viele Stimmen ablehnend zum Import. In geringerem Umfang lehnten einzelne AkteurInnen auch eine Überarbeitung des bestehenden Gesetzes ab. An- dere AkteurInnen wollten sich nicht weiter Zeit lassen mit einer Entscheidung, sondern zu einer raschen Lösung kommen.

268 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.8: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Forderungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.153. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Wie für die Forderungen sind für die Begründungen zwei Diskursnetzwerke dargestellt, jeweils für positive Aussagen (Abbildung 7.9) und für negative Aussagen (Abbildung 7.10). Der Schutz des Embryos und die Forderung, Alternativen zur Verwendung von embryonalen Stammzellen für die Forschung zu finden, waren die beiden zentralen Be- gründungen, die Zustimmung bei den AkteurInnen fanden. Sie wurden wiederum vor al- lem von der SPD und der CDU/CSU verwendet. Die Parteien bezogen sich aber auch posi- tiv auf die Heilungsethik. Die SPD bekundete zudem, dass wirtschaftliche Interessen für die Forschung sprächen. Die NaturwissenschaftlerInnen betonten zum einen die Verwen- dung von Alternativen und hoben zum anderen das Argument der Heilungsethik hervor. Die Theologen, die evangelische Kirche und die katholische Kirche setzten sich vor allem mit der Frage nach dem Status des Embryos auseinander. Die beiden Kirchen kamen zu dem Schluss, dass dem Embryo ein absolut schützenswerter menschlicher Status zukom- me. Die Theologen hingegen waren zwar mehrheitlich, aber nicht einstimmig der Ansicht,

269 Kapitel 7 dass der Embryo absolut schützenswert sei. Die VertreterInnen gesellschaftswissenschaft- licher Disziplinen hielten den Embryo mehrheitlich für absolut schützenswert.

Abbildung 7.9: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.197. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Am häufigsten abgelehnt wurde das Argument, die Forschung sei aus ethischen Gründen richtig. Insbesondere die Kirchen, SPD, CDU/CSU und die Grünen hielten die Forschung für unethisch bzw. unchristlich. Auch die Kirchen und die Ärzteschaft standen der For- schung ablehnend gegenüber. Einige AkteurInnen hielten den Embryo hingegen nicht für unbedingt schützenswert, darunter Stimmen aus der CDU/CSU, dem Nationalen Ethikrat, den Theologen und der SPD. Die NaturwissenschaftlerInnen waren auch der Meinung, dass es keine Alternative zur Verwendung von embryonalen Stammzellen gebe. Wirt- schaftsvertreterInnen brachten sich kaum in den Diskurs ein, sie lehnten aber das Argu- ment ab, die Forschung sei wichtig für das wissenschaftliche oder wirtschaftliche Voran- kommen. Der Nationale Ethikrat hielt die Embryonen nicht für absolut schützenswert.

270 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.10: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Begründungen (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.14. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Es zeigt sich darüber hinaus, dass die eher unpopulären Argumente der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten durch die Stammzellforschung nie als einzige Argu- mente von den AkteurInnen vorgebracht wurden. Die AkteurInnen betonten auch immer die ethische Bedeutung der Forschung bzw. brachten die „Ethik des Heilens“ als Argument vor.

Netzwerke der AkteurInnen Schließlich können mit den Netzwerken von AkteurInnen die Beziehungen und Koalitio- nen zwischen den AkteurInnen aufgezeigt werden. Abbildung 7.11 zeigt, welche Akteu- rInnen in Beziehung standen, weil sie die gleichen Forderungen und Begründungen befür- worteten bzw. ablehnten. Die CDU/CSU und die SPD standen sich hinsichtlich ihrer Aus- sagen sehr nahe. Zudem hatten sie eine große Übereinstimmung mit Aussagen der Kirchen und Theologen. Die SPD befand sich zudem auch in Übereinstimmung mit den Naturwis- senschaftlerInnen und der DFG, diese Verbindung war etwas stärker als bei der CDU/CSU.

271 Kapitel 7

Die Grünen waren ebenfalls mit der CDU/CSU und der SPD verbunden. Zudem übten die NaturwissenschaftlerInnen und die DFG den Schulterschluss.

Abbildung 7.11: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.977; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich die Akteurin bzw. der Akteur geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich in Übereinstimmung mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der übereinstimmenden Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 7.12 wiederum verbindet AkteurInnen miteinander, die in Bezug auf die Forde- rungen und Begründungen in einem Konflikt standen. Es zeigt sich, dass die zentralen Ak- teurInnen eine Reihe von Konflikten bezüglich verschiedener Aussagen hatten. Insbeson- dere zwischen SPD, CDU/CSU, den Grünen und den Naturwissenschaften herrschten Un- einigkeiten bezüglich der Stammzellforschung. Die CDU/CSU und die DFG waren sich ebenfalls nicht einig. Vereinzelt widersprachen sich auch NaturwissenschaftlerInnen auf der einen Seite und die katholische Kirche und die evangelische Kirche auf der anderen Seite. Beide Kirchen und die Theologen widersprachen auch in einigen Fällen der CDU/CSU und der SPD.

272 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.12: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (01.02.2000 – 30.01.2002)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.889; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich im Konflikt mit dem Akteur bzw. der Akteu- rin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der konfliktiven Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

7.3.3 Zusammenfassung

Mit dem medizinischen Durchbruch von 1998 rückten die Themen Embryonen und ihr Schutz zwar nicht erstmalig in den gesellschaftlichen und politischen Fokus. Doch nun warf die Regulierungslücke ein konkretes Problem auf, mit dem man sich beschäftigen musste. Mit den im Folgenden genannten Begleiterscheinungen kann hier durchaus von einer moralischen Panik gesprochen werden. Die Problemperzeption war nicht nur bei be- stimmten gesellschaftlichen AkteurInnen, sondern auch in der Politik sehr hoch. Das unter- stützte die rasche Agendasetzung. Eine gesellschaftliche Polarisierung lag in diesem Feld zumindest in der Bevölkerung nicht vor. Sie lehnte die Forschung an Embryonen mit deut- licher Mehrheit ab. Es gab mit der DFG und NaturwissenschaftlerInnen einflussreiche Ko- alitionen, die auf eine Zulassung der Forschung drängten. Sie befürchteten, von der inter- nationalen Forschung abgehängt zu werden, ein Argument, das auch in der Politik Gehör fand. Mit den beiden christlichen Kirchen gab es ebenso starke Gegnerinnen der For- schung. Zusammen mit der unklaren Rechtslage führte dies zu einer zügigen Agendaset- zung. Das geschah, obwohl sich die meisten Bundestagsparteien intern uneinig waren über die Art der Reform und sich in Teilen der Argumentation den BefürworterInnen und in Teilen den GegnerInnen anschlossen. Der äußere Druck auf die Politik war so stark, dass 273 Kapitel 7 sie das Thema nicht von der Agenda fernhalten konnte. Gerichte haben bei der embryona- len Stammzellforschung keinen Einfluss auf die Agendasetzung genommen. Allenfalls kann von einem indirekten judikativen Effekt ausgegangen werden, da im Urteil zur Schwangerschaftsabbruchsregulierung der genaue Zeitpunkt, ab dem der Embryo ge- schützt ist, nicht eindeutig festgelegt worden war. Die Entscheidungsfindung war eine große Herausforderung. Die parteipolitischen VetospielerInnen waren bis auf die FDP intern gespalten und daher nicht in der Lage, eine kohärente Strategie für eine Liberalisierung oder Restriktivierung oder eine Nicht- Entscheidung zu entwickeln. Die gesellschaftlichen VetospielerInnen nahmen rege an der Diskussion teil und versuchten, Einfluss auf die politischen EntscheidungsträgerInnen zu nehmen. Sie führten dazu wertbasierte Argumentationen ins Feld. Angesichts des hohen äußeren Drucks zu einer Entscheidung zu kommen, war eine gänzliche Auslagerung der Entscheidung an Dritte (zum Beispiel eine Selbstregulierung durch die DFG) nicht möglich. Allerdings wurde teilweise ein Venue-Shifting vorgenom- men, indem man die Enquete-Kommission und den Nationalen Ethikrat beauftragte, Lö- sungsvorschläge auszuarbeiten. Schlussendlich wurde die Abstimmung als Gewissensent- scheidung deklariert, um sie nicht an parteiinternen Konflikten scheitern zu lassen. Die BefürworterInnen der Forschung schafften es, zwischen den beiden Gesetzesvorschlägen, welche auf der einen Seite ein totales Verbot und auf der anderen Seite eine Erlaubnis vor- sahen, einen Kompromissantrag zu formulieren. Durch ein geschicktes Framing und eine günstige Abstimmungsabfolge setzte sich der Kompromissantrag durch, der letztendlich die Forschung erlaubte. Der Diskurs wurde mit über 1000 Aussagen sehr umfangreich geführt. Insgesamt zeichnen die verschiedenen Netzwerkgrafiken ein Bild, welches die Eindrücke der dichten Fallanalyse bestätigt und konkretisiert. So brachten sich die CDU/CSU und die SPD am häufigsten in den Diskurs ein. Sie waren sich intern nicht einig, ob die Forschung erlaubt werden sollte oder nicht. Die am häufigsten geäußerte Forderung war jene nach einer Er- laubnis der Forschung unter Auflagen, und am zweithäufigsten wurde nach einem einge- schränkten Import verlangt. Diese Forderungen setzten sich letztendlich in der Abstim- mung im Bundestag durch. Uneingeschränkte Forschung und Import wurden hingegen abgelehnt. Die Analyse der Begründungen zeigt, dass drei der vier am häufigsten verwen- deten Argumente auf tief verwurzelten Werten basierten (Heilungsethik, absoluter Schutz des Embryos, unethische Forschung) und nur ein Argument ein rationales war (Nutzung von Alternativen). Ebenso wurde die wirtschaftliche und wissenschaftliche Bedeutung der Forschung genannt, allerdings wurden diese Argumente deutlich weniger verwendet als

274 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung diejenigen der Heilungsethik und des Schutzes des Embryos. Die zentralen AkteurInnen hatten alle sowohl Übereinstimmungen als auch Konflikte bezüglich ihrer Aussagen. So zeigen sich deutliche Konflikte zwischen CDU/CSU, SPD und den Grünen. Dies waren große Hindernisse für eine Kompromissfindung. Zudem waren die Parteien intern gespal- ten. Umso stärker müssen also die Problemperzeption, der Druck von außen und die Kom- promissstrategie gewesen sein, um diese potenzielle Blockade auszuhebeln.

7.4 2002 – 2008: Vom Stammzellgesetz zur Stichtagsverschiebung

Das Thema ebbte zwar nach der Entscheidung von 2002 ab, verschwand aber nicht voll- ständig von der medialen, öffentlichen und politischen Agenda. Durch die enge inhaltliche Verknüpfung zwischen der embryonalen Stammzellforschung und anderen biomedizini- schen Verfahren wie dem therapeutischen reproduktiven Klonen, der In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik oder auch dem Schwangerschaftsabbruch wurden For- schungsfortschritte und Regulierungsänderungen anderer Staaten wahrgenommen und dis- kutiert.293

7.4.1 Dichte Einzelfallanalyse

Internationale Übereinkünfte Der Europarat verabschiedete 2003 eine Entschließung betreffend die Forschung an menschlichen Stammzellen. Darin forderte er seine Mitgliedstaaten unter anderem auf, „sich für gesellschaftlich und ethisch vertretbare wissenschaftliche Techniken einzusetzen, um die Nutzung pluripotenter Zellen voranzubringen und neue Methoden der regenerativen Medizin zu entwickeln; (…) den ethischen Aspekten der Forschung gegenüber rein nutz- wertbestimmten und finanziellen Aspekten den Vorrang zu geben.“294 Im Juni 2002 wurde vom Europäischen Parlament und dem Rat das 6. Rahmenpro- gramm der Europäischen Gemeinschaft beschlossen.295 In dessen Folge nahm der Rat im September 2002 die Entscheidung über ein spezifisches Programm für Forschung, techno- logische Entwicklung und Demonstration im Bereich der Biowissenschaften, Genomik und Biotechnologie an.296 Ziel war unter anderem die Bekämpfung schwerer Krankheiten (Brewe 2006, S. 256-266). 2007 beschloss die Europäische Union, embryonale Stammzell-

293 Siehe zum Beispiel BT Drs. 15/43, 08.11.2002, S. 4-5; BT Drs. 14/8944, 26.04.2001; BT Drs. 14/8322, 26.02.2002; BT PlPr. 15/24, 12.02.2003, S. 1839-1840; BT Drs. 15/2865, 01.04.2004. 294 BT Drs. 15/2137, 03.12.2003, S. 41. 295 1513/2002/EG, 27.06.2002. 296 2002/834/EG, 30.09.2002. 275 Kapitel 7 forschung eingeschränkt zu fördern. Deutschland ging diesen Kompromiss ein und gab damit seine absolute Opposition zu jeglicher Forschung auf. Im März 2004 wurde die Richtlinie zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheits- standards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen erlassen.297 „Ausdrücklich soll die Richtlinie Entscheidungen der Mitgliedstaaten über die Verwendung bzw. Nichtverwen- dung spezifischer Arten menschlicher Zellen, einschließlich Keimzellen und embryonaler Stammzellen, nicht beeinträchtigen“ (Brewe 2006, S. 263). Die Europäische Grundrechtecharta trat im Rahmen des Lissabonner Vertrags 2009 in Kraft. Fülle (2007, S. 113) hält dazu fest, dass sich die dort festgehaltene Menschenwür- degarantie nicht auf die Würde des Embryos in-vitro beziehe. Die „Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte“ der UNESCO von 2005 (nicht rechtlich bindend) wurde von Deutschland unterzeichnet. Die Erklärung stellte „bioethische Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse auf die Grundlage der allgemein verbindlichen Men- schenrechte und Grundfreiheiten.“298

Regulierungen in anderen Staaten Nach der deutschen Regulierung 2002 gab es auch legislative Änderungen in anderen Staa- ten. So erlaubten die Niederlande (2002), Dänemark (2003), die Schweiz (2005), Frank- reich (2004) und Griechenland (2004) unter unterschiedlich strikten Auflagen die Herstel- lung von Stammzelllinien aus überzähligen Embryonen aus In-vitro-Fertilisation. Belgien ging 2003 einen Schritt weiter und erlaubte wie Schweden und Großbritannien die Herstel- lung von Embryonen eigens für die Forschung. Großbritannien erlaubte 2007 das Spenden von Eizellen zu Forschungszwecken. Diese Liberalisierungen wurden auch in Deutschland wahrgenommen und in den Medien diskutiert (vgl. Abschnitt 7.4.2).

Nach der Verabschiedung des Stammzellgesetzes Unmittelbar nach der Entscheidung von 2002 äußerte sich die Bundesregierung auf eine entsprechende kleine Anfrage nach einer europäischen Durchsetzung der deutschen restrik- tiven Forschungsregulierung: „Ja, die Bundesregierung kommt der Aufforderung des Bun- destagsbeschlusses vom 30. Januar 2002 nach und setzt sich sowohl bei den Verhandlun- gen zum Rahmenprogramm [das Forschungsrahmenprogramm der EU, Anm. d. Verf.] als auch zu den spezifischen Programmen nachdrücklich dafür ein, dass dessen Vorgaben ent-

297 2004/23/EG 31.03.2004. 298 http://www.unesco.de/bioethik_erklaerung_05.html (abgerufen am 17.11.2015). 276 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung sprechend umgesetzt werden.“299 Im Juli 2002 wurde ein Antrag angenommen, der die internationale Ächtung des Klonens menschlicher Embryonen forderte.300 In den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl 2002 thematisierte die FDP die Entscheidung. Sie sprach sich für eine umfassendere Forschung aus (FDP 2002, S. 46-47). Die CDU/CSU wollte an der bestehenden Regelung festhalten (CDU 2002). Die Grünen lehnten die verbrauchende Embryonenforschung ab (Bündnis 90/Die Grünen 2002, S. 54). Im Jahr 2003 kam in Deutschland eine Diskussion über das 6. und später über das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU auf. Die EU-Kommission und eine Mehrheit des EU- Parlamentes standen der Förderung der verbrauchenden embryonalen Stammzellforschung offen gegenüber. Der Bundestag forderte die Bundesregierung dazu auf, abzusichern, dass das Forschungsprogramm deutschen Interessen entsprechen würde, also keine Forschungs- projekte gefördert würden, welche die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken beabsichtigten. Schließlich beschloss das EU-Parlament im Dezember 2006, dass die EU Projekte förderte, wenn die Stammzellen von überzähligen Embryonen stammten. Die Zer- störung der Embryonen zur Gewinnung der Stammzellen wurde nicht gefördert, den For- scherInnen stand es aber frei, die Zellen bei HerstellerInnen zu erwerben. Es wurde keine Stichtagsregelung eingeführt (n.n. 2006). Damit war die europäische Regelung liberaler als die deutsche.

Die öffentlichen und politischen Diskussionen intensivieren sich Ab 2004 intensivierte sich die Debatte über eine Liberalisierung der Stammzellforschung in Deutschland wieder und gelangte auch bald auf die politische Agenda. Angesichts der bevorstehenden Liberalisierung der embryonalen Stammzellforschung in der Schweiz be- antragte die FDP-Fraktion eine Aktuelle Stunde. Dort bemängelte Ulrike Flach (FDP): „Deutschland wird eine Insel, eine Insel des moralischen Diskurses in einem Meer der Be- wegung und des Fortschritts (…) Überall in der Welt werden die Chancen, die die embry- onale Stammzellforschung bietet, offensiv aufgegriffen. In Deutschland hegen und pflegen wir den Status Quo.“301 Sie forderte im Namen der Fraktion die Abschaffung der Stich- tagsregelung, damit die StammzellforscherInnen mit dringend benötigten neuen Stammzel- len forschen könnten.302 VertreterInnen der SPD-, Grünen- und CDU/CSU-Fraktionen be-

299 BT Drs. 14/8944, 26.04.2002, S. 43. 300 BT Drs. 14/9682, 03.07.2002; BT PlPr. 14/248, 04.07.2002, S. 25196A. 301 BT PlPr. 15/145, 02.12.2004, S. 13468. 302 BT PlPr. 15/145, 02.12.2004, S. 13469. 277 Kapitel 7 zeichneten die vorhandenen Stammzellen als ausreichend für die Forschung und sahen keinen Anlass, das Gesetz zu revidieren.303 Mitte 2004 legte die Bundesregierung den Ersten Stammzellbericht vor. Darin wurde festgehalten, dass bis Dezember 2003 an das Robert Koch-Institut sieben Anträge auf die Genehmigung des Imports und der Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken gestellt worden waren. Fünf Anträge waren bis dahin genehmigt worden, darunter auch ein Antrag von Oliver Brüstle.304 Der Bericht ging weiter auf den aktuellen Forschungsstand ein und schloss unter anderem mit dem Fazit, dass gegenwärtig auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen noch nicht verzichtet werden könne. 2004 wurde ein Gerichtsprozess öffentlich bekannt: Oliver Brüstle hatte 1997 ein Pa- tent angemeldet, das isolierte und gereinigte neurale Vorläuferzellen betraf. Diese Zellen wurden aus humanen embryonalen Stammzellen gewonnen und sollten für therapeutische und somit wirtschaftliche Zwecke genutzt werden können. Das Patent betraf Stammzellli- nien, die in Deutschland rechtmäßig verwendet werden dürfen. Das Patent wurde 1999 erteilt.305 Greenpeace klagte 2004 vor dem Bundespatentgericht gegen die Erteilung dieses Patents. Die Umweltorganisation begründete diese Klage im Wesentlichen mit dem Ver- stoß gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten. Die Vernichtung menschlicher Embryonen zu kommerziellen Zwecken verstoße gegen die in Art. 1 I GG und Art. 2 II 1 GG verfassungsrechtlich garantierten elementaren Rechtsgüter wie Menschen- würde des menschlichen Embryos. Das Gericht gab Greenpeace in Teilen Recht. Das Pa- tent wurde insoweit für nichtig erklärt, als es sich auf Verfahren bezieht, die es ermögli- chen, Vorläuferzellen aus Stammzellen menschlicher Embryonen zu gewinnen.306 Darauf- hin legte Brüstle beim Bundesgerichtshof Berufung ein (Molnár-Gábor 2012, S. 2-5). Im Juni 2005 legten Mitglieder der FDP-Fraktion einen Gesetzentwurf zur „Ände- rung des Stammzellgesetzes“ vor. Darin forderten sie die Abschaffung des Stichtages.307 Dem Entwurf wurde im Bundestag nicht weiter nachgegangen, vermutlich weil die vorge- zogenen Bundestagswahlen im Herbst 2005 den Vorgang automatisch ad acta legten. Zunehmend wurden Stimmen aus der Forschung laut, dass die Stammzellen, welche vor dem Stichtag gewonnen worden waren, zu alt und zu verunreinigt seien, um adäquate Forschung betreiben zu können (Müller-Jung 2005; Schwägerl 2006a). Diese Linien seien auch durch ihre Kultivierung auf Mausnährzellen für die Entwicklung von Therapien für

303 BT PlPr. 15/145, 02.12.2004, S. 13469-13471. 304 BR Drs. 583/04, 30.07.2004. 305 Am 19.12.1997 beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldetes Patent DE 197 56 864 C1. 306 Bundespatentgericht, Entscheidung vom 05.12.2006 (3 Ni 42/04, S. 4-5). 307 BT Drs. 15/5584, 01.06.2005. 278 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung den Menschen unbrauchbar (Weschka 2010, S. 88). Zudem schränkte die geringe Anzahl verfügbarer Stammzelllinien die Forschung ein. Diese reichten zwar für die Grundlagen- forschung, allerdings nicht für die Therapieentwicklung aus (Weschka 2010, S. 88). Diese Problematik verschärfte sich im Laufe der Zeit, da sich die Zahl verwendbarer Stammzell- linien immer weiter reduzierte auf ca. 21 Linien Anfang 2007 (Löser et al. 2008, S. 290). Die seit 2006 neu kultivierten Stammzellen wurden nach einem einheitlichen Kodex der guten Herstellungspraxis und zudem vollständig xenogenfrei, das heißt ohne die Verwen- dung von tierischen Produkten, gewonnen. Diese Bedingung wurde als wichtige Voraus- setzung für die potenzielle klinische Anwendung von humanen embryonalen Stammzellen angesehen. Zudem wurden seit 2002 Linien krankheitsspezifisch beschrieben und könnten daher sowohl zur Erforschung dieser Krankheiten als auch zur Medikamentenentwicklung verwendet werden, so die BefürworterInnen einer Gesetzesnovellierung (Löser et al. 2008, S. 293-394). Der deutschen Forschung war der Zugang zu diesen jüngeren Stammzelllinien durch das Stammzellgesetz verwehrt. Ein weiterer Kritikpunkt waren die Strafvorschriften des Stammzellgesetzes: In Verbindung mit dem Strafgesetzbuch ergab sich die Situation, dass deutsche ForscherInnen sich dann strafbar machten, wenn sie sich an im Ausland an- gesiedelten Forschungskooperationen beteiligten, deren Forschung nicht den Anforderun- gen des deutschen Stammzellgesetzes entsprach. Dies war praktisch immer der Fall, denn eine Erfüllung der Anforderungen hätte das Gesetz sowie die Forschung ad absurdum ge- führt (Weschka 2010, S. 103). Es wurde befürchtet, dass durch die inadäquaten Stammzell- linien, die geringe Forschungsförderung, die thematischen Forschungsbeschränkungen und die Rechtsunklarheit Deutschland international als Kooperationspartner unattraktiv würde und im eigenen Land die Forschung zum Erliegen komme (Löser et al. 2008, S. 304; Weschka 2010, S. 89). So seien die Forschungsumstände in Deutschland so unattraktiv, dass deutsche ForscherInnen Arbeitsplätze im Ausland attraktiver fänden (Krones et al. 2008). Die DFG beklagte, die „vor dem Stichtag 1. Januar 2002 gewonnenen Stammzellli- nien sind veraltet und verunreinigt. Wir geben bei der Arbeit mit diesen Linien gutes Steu- ergeld für veraltete Ausgangsmaterialien aus. Wir fordern daher eine Änderung des Stammzell-Import-Gesetzes oder – mindestens – eine nachlaufende Stichtagsregelung. Das heißt, dass auch nach dem 1. Januar 2002 gewonnene Stammzelllinien nach Deutschland importiert werden dürfen“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2005). Außerdem forderte die DFG die Aufhebung der Strafandrohung für deutsche ForscherInnen in diesem Bereich. Sie wollte so einen Zugang zu internationalen Forschungskooperationen erhalten (Deut- sche Forschungsgemeinschaft 2005).

279 Kapitel 7

Seit dem Stammzellgesetz von 2002 bis Ende 2007 wurden 23 Forschungsvorhaben genehmigt.308 In einer qualitativen Umfrage unter StammzellforscherInnen im In- und Ausland, unmittelbar vor der Entscheidung von 2008 zur Lage der Stammzellforschung in Deutschland, beklagten viele Befragte die Unangemessenheit der bis dato geltenden Rege- lungen. Eine deutliche Mehrheit der ForscherInnen forderte mehr Forschungsfreiheit bzw. weniger gesetzliche Restriktionen (Krones et al. 2008). Die AutorInnen schlossen aus den Ergebnissen der Befragung unter anderem, dass es möglicherweise deshalb einen Brain- drain deutscher StammzellforscherInnen ins europäische Ausland und in die USA gebe (Krones et al. 2008, S. 1048). 2005 fanden Bundestagswahlen statt. In ihrem Wahlprogramm lehnten die Grünen die embryonale Stammzellforschung ab (Bündnis 90/Die Grünen 2005, S. 76). Die FDP hingegen sprach sich für die Forschung aus, weil es eine „Ethik des Heilens“ gäbe (FDP 2005, S. 25). Durch die Wahl wurde die rot-grüne Regierung durch eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ersetzt. Zur Bundeskanzlerin wurde (CDU/CSU) gewählt. Sie gehörte zwar einer christlich orientierten Partei an, zeigte sich aber in vielen gesellschaftspolitischen Fragen offen gegenüber liberalen Ideen. Ende 2006 signalisierte sie den StammzellforscherInnen ein Entgegenkommen mit der Überlegung, den Stichtag zu verschieben (Schwägerl 2006e). Spätestens damit erreichte das Thema nun die politi- sche Agenda. Die öffentliche Debatte intensivierte sich wieder, erreichte allerdings nicht mehr ein so großes Ausmaß wie in den Jahren 2000 – 2002. Die Lager der BefürworterIn- nen und GegnerInnen brachten im Wesentlichen dieselben Argumente ein, teilweise etwas modifiziert. So argumentierten BefürworterInnen, dass man mit den vorhandenen Stamm- zelllinien nicht mehr arbeiten könne und die Erlaubnis zur Forschung in der gegenwärtigen Ausgestaltung keinen Sinn mehr mache. Im Juli 2006 beschloss die Bundesregierung, per Juli 2007 den Deutschen Ethikrat einzusetzen. Dieser Rat ersetzte den Nationalen Ethikrat. Im Gegensatz zu seinem Vorgän- ger wurden die Mitglieder des neuen Rates jeweils zur Hälfte durch den Bundestag und die Bundesregierung ausgewählt und vom Bundespräsidenten ernannt.309 Dem neuen Rat soll- te so nicht mehr nachgesagt werden können, er sei ein Legitimationsorgan für umstrittene Vorhaben der Regierung. Im Juli 2006 wurde das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU endgültig festge- zurrt. Deutschland und andere Staaten setzten sich mit ihrer Forderung durch, dass für das therapeutische Klonen und andere Verfahren, bei denen Embryonen hergestellt und ver-

308 http://www.rki.de/DE/Content/Gesund/Stammzellen/Register/register_node.html (abgerufen am 15.03.2015). 309 Ethikratgesetz, BGBl. I/31, 19.07.2007, S. 1385. 280 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung nichtet werden, keine Fördergelder aus dem Programm fließen würden. Allerdings beka- men die „europäischen Wissenschaftler (…) offiziell und mit formaler deutscher Zustim- mung EU-Mittel zur Forschung mit allen weltweit verfügbaren Stammzelllinien, auch den frisch gewonnenen. Deutsche ForscherInnen sind davon allerdings ausgenommen“ (Schwägerl 2006b). Diese Übereinkunft wurde von Bundesforschungsministerin (CDU/CSU) mit den anderen EU-MinisterInnen getroffen (Kafsack 2006). Deutschland begab sich in den Spagat, über die EU Forschung an jungen embryonalen Stammzelllinien zuzulassen und zu kofinanzieren, allerdings diese Forschung in Deutsch- land zu verbieten. So wurden prompt Stimmen in der Unionsfraktion und innerhalb der Regierung laut, die angesichts der Liberalisierung auf EU-Ebene auch eine entsprechende Lockerung des Embryonenschutzes in Deutschland forderten. Das wurde von Schavan und dem Bundeskabinett aber zunächst abgewiesen (Schwägerl 2006c, 2006d).

Die Stichtagsverschiebung wird vorgeschlagen Im November 2006 schlug der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, eine Stichtagsverschiebung vor, um den Embryonenschutz zu retten. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Annette Schavan konnten sich eine einmalige Stich- tagsverschiebung vorstellen, eine vollständige Freigabe, wie von der DFG gefordert, lehn- ten sie aber ab (Müller-Jung und Schwägerl 2007; Schwägerl 2006e). Die katholische Kir- che wies den Vorschlag einer Stichtagsverschiebung vehement zurück. Der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, warnte vor der Aufgabe eines gesellschaftlichen Grundkonsenses. Der Embryonenschutz sei nicht zu halten, wenn man Ausnahmen rechtfertige (Katholische Nachrichtenagentur 2006). Damit schlugen die evangelische und die katholische Kirche nun getrennte Wege in der Frage des Embryonen- schutzes ein. Derweil billigte im April 2007 das Europäische Parlament ein liberales EU- Regelwerk für neuartige medizinische Therapiemethoden. Zwar konnten die einzelnen Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen. Trotzdem fürchteten konservative und grüne GegnerInnen der Regulierung, dass „Präparate aus der embryonalen Stammzellfor- schung oder Mischformen von Mensch und Tier überall in der EU auf den Markt kommen könnten. Die BefürworterInnen der Regelung setzten hingegen auf Fortschritte bei der Be- kämpfung von Krankheiten wie Demenz, Krebs oder Muskelschwund“ (Stabenow 2007). Die internationalen Forschungsmeldungen rissen unterdessen nicht ab. So wurden sowohl im Bereich des Klonens Fortschritte vermeldet wie auch bei den Versuchen, anstelle von

281 Kapitel 7 embryonalen adulte Stammzellen zu verwenden (Gelinsky 2007; Müller-Jung und Schwä- gerl 2007). Im Zweiten Stammzellbericht von 2007 berichtete die Bundesregierung von 14 Ge- nehmigungen bis Ende 2005 und über die Fortschritte in der Forschung und weiterhin of- fene Forschungsfragen. Sie sah weiterhin keine Möglichkeit zum Verzicht auf die humane embryonale Stammzellforschung. Das Stammzellgesetz und das Genehmigungsverfahren hätten sich bewährt.310 Im Mai 2007 fand eine Anhörung zum Stammzellgesetz von Exper- ten im Bundestag (Bildungsausschuss) statt. In den Monaten darauf folgte eine Diskussion über das Für und Wider einer Stichtagsverschiebung, mit ähnlichen Argumenten der Be- fürworterInnen und GegnerInnen wie auch schon Jahre zuvor im Vorfeld der Stichtagsein- führung 2002. Neu war, dass sich die AkteurInnen untereinander uneins über die potenziel- le Alternative adulter Stammzellen waren. In diesem Bereich wurden parallel zur Diskus- sion im Jahr 2007 aus verschiedenen Laboren rund um die Welt Forschungserfolge gemel- det (siehe u. a. Schwägerl 2007a). Ein Teil der ForscherInnen, mit Unterstützung der DFG, beharrte darauf, dass der Zugang zu jüngeren embryonalen Stammzelllinien alternativlos sei und die adulten Stammzellen für die weitere Forschung allein nicht ausreichten und lediglich einen komplementären Forschungsbereich darstellten (Hacker 2007). Andere ForscherInnen hingegen sahen die Zukunft gerade in der Erforschung der adulten Stamm- zellen und glaubten nicht, dass man die ethisch umstrittene Erforschung der embryonalen Stammzellen unbedingt weitertreiben müsse. Allerdings sahen auch sie die embryonale Stammzellforschung als Goldstandard, an dem man sich vorerst noch orientieren müsse (Schwägerl 2007b). Eine wirkliche Gegnerschaft bestand also innerhalb der Wissenschaft nicht. Die OpponentInnen der embryonalen Stammzellforschung sahen in der Forschung an adulten Stammzellen allerdings eine echte Alternative und forderten daher, den Stichtag zu belassen wie er ist (siehe zum Beispiel Julia Klöckner (CDU/CSU) in der FAZ (2007)). Der Nationale Ethikrat veröffentlichte im Juli 2007 seine Stellungnahme zur embry- onalen Stammzellforschung. Darin empfahl die Mehrheit seiner Mitglieder, die Stichtags- regelung abzuschaffen und durch eine Einzelfallprüfung zu ersetzen. Die Stammzellen sollten weiterhin importiert werden, allerdings sollten die Quellen unter anderem keine kommerziellen Interessen haben (Nationaler Ethikrat 2007). Die Evangelische Synode erklärte im November 2007, dass sie eine einmalige Ver- schiebung des Stichtags für vertretbar halte, wenn durch die Verunreinigung der Stamm- zelllinien die Grundlagenforschung nicht fortgeführt werden könne. Wiederum sei nur die Verschiebung auf einen zurückliegenden Stichtag akzeptabel. Zudem sollte der Forschung

310 BT Drs. 16/4050, 11.01.2007 (Bundesregierung, Zweiter Stammzellbericht). 282 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung an adulten Stammzellen Vorrang eingeräumt werden (Evangelische Kirche in Deutschland 2007b). Die katholische Kirche lehnte eine Stichtagsverschiebung hingegen entschieden ab. In Reaktion auf die Stellungnahme des Nationalen Ethikrates führte sie aus, dass dem Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an uneingeschränkter Lebensschutz zukomme. „Die Förderung selbst hochrangiger Forschungsinteressen darf unter keinen Umständen dazu führen, dass embryonale Menschen verzweckt werden. Man darf nicht den Lebens- schutz der Forschungsfreiheit unterordnen. Es gibt keinen Grund für eine Abkehr von lang- fristigen Wertentscheidungen“ (Deutsche Bischofskonferenz 2007a). Im Januar 2008 unternahm das Umfrageinstitut TNS Infratest im Auftrag des Vereins Lebensrecht e.V. eine Bevölkerungsumfrage zum Thema embryonale Stammzellforschung. Das Ergebnis zeigte, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen gegen die verbrauchende Forschung war und die alternative Forschung an adulten Stammzellen bevorzugte (Sahm 2008).

Entscheidungsfindung im Bundestag Vier Gesetzentwürfe zur Änderung des Stammzellgesetzes und einen Antrag hatten die Abgeordneten bis Anfang Februar 2008 erarbeitet. Der „Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des Stammzellgesetzes“ (unter anderem von den Abgeordneten René Röspel (SPD), (CDU/CSU) und Jörg Tauss (SPD)) schlug eine einmalige Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 vor.311 Als Alternative wurde die Einführung eines nach- laufenden oder rollenden Stichtages in Betracht gezogen. Die AutorInnen begründeten ihren Vorschlag damit, dass der deutschen Forschung immer weniger Stammzelllinien zur Verfügung stünden, da der bisherige Stichtag alt sei und die Qualität der damals gewonne- nen Stammzelllinien eine moderne Forschung nicht zulasse. Zudem ergebe sich für deut- sche ForscherInnen, welche sich an internationalen Forschungsvorhaben beteiligten, ein Strafbarkeitsrisiko, wenn bei dieser Forschung jüngere Stammzelllinien verwendet wür- den.312 Das Gesetz sollte dahin gehend präzisiert werden, dass es nur für das Inland gilt, deutsche ForscherInnen in internationalen Forschungskooperationen also nicht rechtlich verfolgt würden.313 Der „Entwurf eines Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin – Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes“ stammte unter anderem von den Abgeordneten Ulrike Flach (FDP), Rolf Stöckel (SPD), Katherina Reiche (CDU/CSU), und Peter Hintze

311 BT Drs. 16/7981, 06.02.2008. 312 BT Drs. 16/7981, 06.02.2008, S. 6. 313 BT Drs. 16/7981, 06.02.2008, S. 4. 283 Kapitel 7

(CDU/CSU) und verlangte eine vollständige Streichung des Stichtages.314 Argumentiert wurde, dass „Stammzellforschung stark eingeschränkt [ist] und die Erforschung neuer The- rapien zur Heilung schwerer Krankheiten behindert.“315 Durch den bisherigen Stichtag würden deutsche WissenschaftlerInnen, die sich in internationalen Forschungskooperatio- nen befinden, kriminalisiert und die medizinische Forschung in Deutschland von der „westlichen Wertegemeinschaft abgeschnitten.“316 Der dritte Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG)“ wollte den Genehmigungsvorbehalt für die Einfuhr und Ver- wendung humaner embryonaler Stammzellen aus dem Stammzellgesetz streichen.317 Die AntragstellerInnen (darunter Hubert Hüppe (CDU/CSU), Marie-Luise Dött (CDU/CSU) und Maria Eichhorn (CSU)) wollten ein Verbot der Einfuhr und der Verwendung von Stammzelllinien in Deutschland erreichen. Die AntragstellerInnen argumentierten, dass seit Beginn der Forschung mit embryonalen Stammzellen keine Therapien für unheilbare Krankheiten entwickelt worden seien.318 Zudem gebe es inzwischen alternative Möglich- keiten der Stammzellgewinnung, zum Beispiel aus dem Fruchtwasser oder durch die Ver- wendung von adulten Stammzellen.319 Der Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes“, u. a. von Priska Hinz (Bündnis90/Die Grünen), Julia Klöckner (CDU/CSU) und Herta Däubler-Gmelin (SPD) sah eine Konkretisierung der Strafbarkeit im Stammzellgesetz auf das Inland vor.320 Damit sollte die bisherige Rechtsunsicherheit wegfallen, die bei der Beteiligung von deut- schen WissenschaftlerInnen an internationalen Forschungsprojekten drohte. Der Antrag „Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellforschung för- dern“ stammte federführend von denselben RepräsentantInnen wie der vierte Gesetzent- wurf.321 Sie wollten das bestehende Stammzellgesetz nicht ändern, da die Forschung an adulten Stammzellen erfolgreich und im Gegensatz zur Forschung mit humanen embryona- len Stammzellen ethisch unbedenklich sei. Es lägen „seit der Debatte um das Stammzell- gesetz in den Jahren 2001/2002 keine überzeugenden neuen wissenschaftlichen, rechtli-

314 BT Drs. 16/7982(neu), 05.02.2008. 315 BT Drs. 16/7982(neu), 05.02.2008, S. 2. 316 BT Drs. 16/7982(neu), 05.02.2008, S. 2. 317 BT Drs. 16/7983, 06.02.2008. 318 BT Drs. 16/7983, 06.02.2008, S. 2. 319 BT Drs. 16/7983, 06.02.2008, S. 2. 320 BT Drs. 16/7984, 06.02.2008. 321 BT Drs. 16/7985(neu), 06.02.2008. 284 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung chen oder ethischen Argumente vor, die eine Änderung des Stammzellgesetzes und des Stichtages begründen.“322 Am 14. Februar fand die erste und am 11. April 2008 die zweite und dritte Beratung über die vier Gesetzentwürfe und den Antrag statt.323 Etwa fünf Stunden waren für die Be- ratungen insgesamt vorgesehen, über 50 RednerInnen meldeten sich zu Wort.324 Wiederum war die Debatte geprägt von den fraktionsübergreifenden Anträgen, was sich auch in den mehrmaligen positiven Äußerungen über die sachliche, wenig persönlich konfrontative Diskussionskultur widerspiegelte. Die BefürworterInnen einer einmaligen Stichtagsver- schiebung wollten die Stammzellforschung in Deutschland weiterführen.325 Sie argumen- tierten, dass die mit der Entscheidung von 2002 verwendbaren Stammzelllinien nun veral- tet und für die Forschung bald nicht mehr brauchbar seien. Mit der Zulassung von jüngeren Stammzellen würde man das „Versprechen an die Forschung, mit Stammzellen arbeiten zu können“ einhalten (René Röspel, SPD).326 Die Abgeordneten hofften zwar auf die zeitnahe Ersetzung von humanen embryonalen durch adulte Stammzellen in der Forschung. Damit dies jedoch möglich sei, müsse die Forschung an Ersteren zunächst fortgeführt werden.327 Durch sie erhoffe man sich „langfristig Therapien für bisher unheilbare Krankheiten“ (Ilse Aigner, CDU/CSU).328 Die Grundlagenforschung solle im Sinne der grundgesetzlich ga- rantierten Forschungsfreiheit weiter möglich sein. Gleichzeitig würde kein Embryo für die Forschung verbraucht.329 So würde der Mittelweg von 2002 fortgeführt, der einen vernünf- tigen Ausgleich zwischen den beiden Verfassungsgütern Forschungsfreiheit und Men- schenwürde darstelle.330 Ein Bogen „zwischen der Ethik des Heilens und der Ethik des Lebens“ würde gespannt, so Patrick Meinhardt (FDP).331 Meinhardt sah große Teile der evangelischen Kirche hinter seiner Meinung, da deren Ratsvorsitzender, Wolfgang Huber, die Stichtagsverschiebung als vertretbaren Kompromiss bezeichnet habe.332 Brigitte Zyp- ries (SPD) und Carsten Müller (CDU/CSU) betonten auch, dass die Forschung wichtig für den Forschungsstandort Deutschland sei. Die WissenschaftlerInnen müssten international konkurrenzfähig sein.333 Zypries hielt die Ansicht, dass „diese einzelnen, nicht entwick-

322 BT Drs. 16/7985(neu), 06.02.2008, S. 2. 323 Um Redundanzen zu vermeiden, werden die drei Beratungen hier zusammen vorgestellt. 324 Die schriftlichen Erklärungen von Abgeordneten werden in der Analyse nicht berücksichtigt, da sie im unmit- telbaren Diskurs des Bundestages keine wesentliche Rolle gespielt haben. 325 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14920; BT PlPr.16/155, 11.04.2008, u. a. S. 16291. 326 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14888. 327 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14909; BT PlPr. 16/155, S. 16297. 328 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14895. 329 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14901-14902, 14905. 330 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14905, 14908, 14916. 331 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14916. 332 BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16301. 333 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14911; BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16299. 285 Kapitel 7 lungsfähigen Stammzellen (…) Menschenwürde [besäßen], postmortal und quasi vom Embryo abgeleitet“ für falsch und für eine juristische Einzelmeinung.334 Horst Seehofer (CDU/CSU) stellte die rhetorische Frage, wieso es keine Debatte über die überzähligen Embryonen gäbe, die bei einer Schwangerschaft nicht gebraucht würden, aber eine Debatte über die Forschung an solchen Embryonen.335 Die UnterstützerInnen des Antrags keiner Stichtagsverschiebung (bzw. des Inland- verbots), sahen keinen zwingenden Grund für die Verschiebung: An den bisherigen Stammzelllinien würde aktuell weitergeforscht, die bisherigen Heilversprechen hätten sich nicht erfüllt und inzwischen sei die Forschung an adulten Stammzellen erfolgversprechen- der und würde häufig angewendet.336 Würde der Stichtag nun verschoben, wäre das nicht nur ein Bruch des Kompromisses von 2002, den damals auch GegnerInnen der Forschung mitgetragen hätten, sondern würde zudem zu weiteren Stichtagsverschiebungen in der Zu- kunft führen.337 Der Vorschlag „den Stichtag einmalig (Hervorhebung im Original) zu ver- schieben, stellt für uns ein Abrücken von diesem Kompromiss dar. Ich fühle mich sogar ein wenig betrogen, nachdem ich 2002 den Kompromiss mitgetragen habe“ (, Bündnis90/Die Grünen).338 Zudem sehe man die Konsequenzen der embryonalen Stamm- zellforschung in anderen Staaten. Frauen „würden dazu überredet, angehalten und teilweise auch bezahlt, dass sie bei der Fortpflanzung entweder ihre Embryonen oder sogar Eizellen direkt für die Stammzellforschung spenden (…) So werden nicht nur Frauenkörper, son- dern auch Embryos zur Ware degradiert“ (Priska Hinz, Bündnis90/Die Grünen).339 Die meisten BefürworterInnen des Antrags sahen in einem Embryo einen Menschen von An- fang an und schätzten die Menschenwürde als ein höheres Gut als die Forschungsfreiheit ein.340 Mit ähnlichen Argumenten brachten sich die AntragstellerInnen eines Verbots der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ein. Hubert Hüppe (CDU/CSU) beton- te, „dass menschliches Leben für Forschungszwecke getötet wird.“341 Mit Bezug auf die Befürchtungen von behinderten Menschen, dass das Leben verzwecklicht wird, forderte er, die Forschung einzustellen.342 Das Argument, dass es die vergleichende Forschung von

334 BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16304. 335 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14918. 336 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14889, 14890, 14895, 14896, 14917; BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16292, 16295. 337 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14890, 14896, 14903, 14907, 14910; BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, u. a. S. 16307. 338 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14910. 339 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14890. 340 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14915, 14919; BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, u. a. S. 16292, 16300. 341 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14893. 342 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14893. 286 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung embryonalen und adulten Stammzellen brauche, bezweifelte er stark.343 Die Antragstelle- rInnen argumentierten mit der Menschenwürde des Embryos, die absoluten Vorrang habe und sich deshalb eine Forschung verbiete.344 Maria Eichhorn (CDU/CSU) sah auch, dass Frauen in anderen Ländern zu Rohstofflieferanten gemacht würden und ebenfalls die Men- schenwürde verletzt würde.345 Die Forschung an adulten Stammzellen sei hingegen ethisch unproblematischer und erfolgversprechend.346 Die vierte Gruppe wollte den Stichtag gänzlich streichen und damit eine Forschung an allen verfügbaren Stammzellen ermöglichen. Ihre VertreterInnen betonten die „Ethik des Heilens“, den moralischen Auftrag, die Forschung an jungen Stammzelllinien zuzulas- sen, um die Entwicklung von Therapien für unheilbare Krankheiten zu ermöglichen.347 Peter Hintze (CDU/CSU) erklärte: „Für mich hat ein kranker Mensch, um dessen Heilung es geht, in der Tat einen höheren Stellenwert als die sehr achtenswerte biologische Sub- stanz, aus der ein Mensch entstehen kann.“348 Die RednerInnen bestritten nicht, dass mit dem Verschmelzen ein erstes Entwicklungsstadium menschlichen Lebens besteht. „Aber ist diese befruchtete Eizelle werdendes, menschliches Leben? Nein, ihr fehlt (…) nämlich das Einnisten in die Gebärmutter“ (Renate Schmidt, SPD).349 Die Stichtagsregelung habe sich nicht bewährt, weil sie die deutschen ForscherInnen vom internationalen Fortschritt abhänge und gleichzeitig weltweit die Entstehung von Stammzelllinien nicht eingeschränkt habe.350 „Die Einschränkungen des aktuellen Gesetzes stellen eine folgenschwere Behinde- rung der medizinischen Forschung sowie eine grundgesetzwidrige Einschränkung der Wis- senschaftsfreiheit dar“ (Katherina Reiche, CDU/CSU).351 „Die medizinische Forschung in Deutschland hat einen moralischen und juristischen Anspruch darauf, dass sie mit geeigne- ten Zelllinien arbeiten kann“ (Peter Hintze, CDU/CSU).352 Bei der Abstimmung wurden schließlich die Anträge zur Streichung des Stichtages und zu einem Verbot des Imports und der Forschung abgelehnt. Angenommen wurde der Antrag zur Stichtagsverschiebung mit 346 Ja- gegen 228 Nein-Stimmen bei 6 Enthaltun- gen.353 Die Anträge zum Inlandverbot und zur Nicht-Änderung entfielen damit.354 Der

343 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14894. 344 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14898, 14912. 345 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14912. 346 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14912. 347 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14891, 14901, 14911, 14922; BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, u. a. S. 16301, 16307. 348 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14921. 349 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14900, 14901. 350 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, u. a. S. 14891, 14897, 14904; BT PlPr. 14/155, 11.04.2008, S. 16297. 351 BT PlPr. 16/142, 14.02.2008, S. 14897, 14908. 352 BT PlPr. 14/155, 11.04.2008, S. 16305. 353 BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16315-16317. 354 BT PlPr. 16/155, 11.04.2008, S. 16317. 287 Kapitel 7

Gesetzentwurf passierte auch den Bundesrat (er verzichtete auf die Anrufung des Vermitt- lungsausschusses)355, und das novellierte Gesetz trat am 20. August 2008 in Kraft.356 Es ersetzte den alten Stichtag (1. Januar 2002) durch den neuen (1. Mai 2007). Zudem wurde präzisiert, dass das Gesetz nur für das Inland gilt (§2 und § 4 II 1 StZG).

7.4.2 Diskursnetzwerkanalyse

Den Beginn des zweiten Analysezeitraums markierte die Entscheidung Deutschlands im Juli 2006, dem 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramm zuzustimmen, obwohl darin die embryonale Stammzellforschung gefördert wurde. Dies hatte Deutschland mit Verweis auf seine strikte Haltung zuvor immer abgelehnt. Mit dieser Kehrtwende wurde die Debat- te in Deutschland eingeleitet, ob eine Novellierung des bestehenden Embryonenschutzge- setzes von 2002 notwendig sei und wenn ja, welche Änderungen notwendig seien. Der Untersuchungszeitraum endet am 11. April 2008 mit der Zustimmung des Bundestages zur Verschiebung des Stichtages. Im Zeitraum von Juli 2006 bis April 2008 wurden von der FAZ 223 Artikel zum Thema embryonale Stammzellforschung publiziert. Darin konnten 222 Aussagen kodiert werden. Abbildung 7.13 zeigt die Anzahl der Zeitungsartikel (gestrichelte Linie) und der Aussagen (durchgezogene Linie). Abbildung 7.14 gibt die Anzahl der zustimmenden, ab- lehnenden und neutralen Aussagen zur Stammzellforschung an. Betrachtet man den Ver- lauf der Veröffentlichungen, dann fallen drei Phasen erhöhter Aufmerksamkeit auf: Ende 2006, im Mai 2007 und ab September 2007 steigt die Kurve an. Zu Beginn des Betrach- tungszeitraumes im Juli 2006 gab es eine Reihe von Artikeln zu US-Präsident George Bushs Veto gegen eine erweiterte embryonale Stammzellforschung in den Vereinigten Staaten. Größere Aufmerksamkeit erreichte die Zustimmung Deutschlands zum 7. For- schungsrahmenprogramm 2007 – 2013 der EU. Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU/CSU) stimmte zu, obwohl im Programm Forschungsprojekte gefördert werden konnten, die embryonale Stammzellen verbrauchten und so gegen das deutsche Recht verstießen. Folglich wurde die Frage gestellt, ob sich die restriktive deutsche Regu- lierung noch halten könne.

355 BR PlPr. 844, 23.05.2008, S. 138. 356 Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes, BGBl. I/37, 20.08.2008, S. 1708. 288 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.13: Anzahl Zeitungsartikel und Aussagen (26.07.2006 – 11.04.2008)

60

50

40

30

20

10

0

Zeitungsartikel Aussagen Anmerkungen: Insgesamt 223 Zeitungsartikel, 222 Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 7.14: Anzahl Aussagen zur Stammzellforschung (26.07.2006 – 11.04.2008)

25

20

15

10

5

0

Zustimmung Ablehnung neutral

Anmerkungen: Einstellung zur embryonalen Stammzellforschung. 95 Zustimmungen, 87 Ableh- nungen, 40 neutrale Aussagen; pro Monat. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Im November 2006 nahm der Diskurs wieder für zwei Monate Fahrt auf, als aus den Rei- hen der CDU, namentlich von der Annette Schavan und Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine Lockerung des Stammzellengesetzes in Aussicht gestellt wurde. Zudem wurde be- kannt, dass in Großbritannien weitere Forschungsvorstöße geplant waren und in Australien das Klonverbot aufgehoben wurde. Im Mai 2007 begann sich der Bundestag offiziell mit dem Stammzellgesetz zu beschäftigen, als der Forschungsausschuss sich des Themas an-

289 Kapitel 7 nahm. Im Juni desselben Jahres wurde bekannt, dass es ForscherInnen erstmals gelungen war, Körperzellen in embryonale Stammzellen zu transformieren. In den folgenden Monaten äußerten sich verschiedene AkteurInnen dazu, ob das Stammzellgesetz gelockert und der Stichtag aufgehoben oder verschoben werden sollte und ob dies angesichts der Forschungsfortschritte an Alternativen zu embryonalen Stamm- zellen überhaupt nötig sei. Im dritten Quartal 2007 stieg die Zahl der Zeitungsartikel und Aussagen an. Im Bundestag bildeten sich fraktionsübergreifende Gruppen. Sie äußerten sich verschiedentlich zu den Chancen und Risiken der Forschung. Im Laufe der Zeit kon- kretisierte sich eine Abstimmung über die Änderung des Stammzellgesetzes, und in der Folge intensivierte sich der öffentliche Diskurs. Im Februar 2008 wurden die Gruppenan- träge formuliert. Im März nahm der Umfang des Diskurses ab. Die Anzahl der zustimmen- den, ablehnenden und neutralen Aussagen schwankte stark (vgl. Abbildung 7.14). Wie im ersten Untersuchungszeitraum zeigt sich hier, dass die Anzahl der neutralen Aussagen zum Zeitpunkt der Entscheidung geringer war als die der Ablehnungen und Zustimmungen.

Aussagekategorien In der Diskussion von 2006 bis 2008 wurden zwei Forderungen und eine Begründung neu verwendet (vgl. Tabelle 7.4): die Forderung den Stichtag zu verschieben, die Forderung den Stichtag abzuschaffen und die Begründung, dass jüngere Stammzelllinien nötig seien, um die Forschung fortsetzen zu können.

Tabelle 7.4: Aussagekategorien, zusätzlich (26.07.2006 – 11.04.2008) Aussage Beschreibung Aussagenbeispiel Forderung: Den Stichtag ver- „Es sei durchaus möglich, dass Wissenschaft- Stichtag ver- schieben. ler künftig Zugang zu Stammzell-Linien be- schieben kämen, die nach dem Stichtag 1. Januar 2002 hergestellt worden seien. Am Stichtag selbst müsse aber festgehalten werden“ (FAZ 11.09.2007, S. 5) Forderung: Den Stichtag gänzlich „Einen Wegfall der Stichtagsregelung schloss Stichtag ab- abschaffen. die Forschungsministerin hingegen abermals schaffen aus“ (FAZ 20.10.2007, Nr. 244, S. 6). Begründung: Für weiterhin erfolg- „Schavan wiederum erklärte, man brauche jüngere reiche Forschung sind frische embryonale Stammzellen, um die Stammzellen jüngere, weil bessere jüngsten Erfolge mit umprogrammierten Haut- nötig Stammzelllinien nötig. zellen, deren Eigenschaften den begehrten embryonalen Stammzellen nahe kommen, be- stätigen zu können“ (FAZ 20.01.2008, S. 6) Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

290 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.15: Anzahl Aussagen (26.07.2006 – 11.04.2008)

90 78 80 70 60 50 46 40 32 33 27 30 21 19 16 14 16 20 15 11 9 8 9 6 5 6 7 5 5 4 5 4 4 10 3 1 4 1 3 3 3 2 2 2 2 1 2 1 1 4 2 1 1 0

Summe Zustimmung Ablehnung

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 222 Aussagen; schwarze Säulen = Summe aller Aussagen zur Kategorie; dunkelgraue Säulen = Zu- stimmung zur Kategorie; hellgraue Säulen = Ablehnung der Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Zunächst werden die im Diskurs verwendeten Argumente betrachtet (vgl. Abbildung 7.15). Die Aussagen sind wieder nach Forderungen (links) und Begründungen (rechts) aufgeteilt. Im Gegensatz zur ersten Diskussion wurden die Forderungen des limitierten Imports, der Überarbeitung des Embryonenschutzgesetzes, die Begründungen mit wirtschaftlichen Inte- ressen und einem Widerspruch zwischen Schwangerschaftsabbruch und Stammzellfor- schung nicht mehr verwendet. Die Säulen geben an, wie häufig die Argumente anteilig an allen Argumenten verwendet wurden und wie hoch der Anteil der Ablehnung des jeweili- gen Arguments bzw. der Befürwortung war. Am häufigsten wurde über die Frage diskutiert, ob der Stichtag verschoben werden sollte (78 Aussagen). Eine Mehrheit sprach sich dafür aus (46 pro vs. 32 kontra). Diskutiert wurde zudem, ob die Stichtagsregelung gänzlich abgeschafft werden sollte (33 Aussagen), wobei hier die Mehrheit noch deutlicher war (27 pro vs. 6 kontra). Dieser Befund ent- spricht demjenigen aus der dichten Fallanalyse. Allerdings kann davon nur bedingt auf die Einstellung zur embryonalen Stammzellforschung geschlossen werden, da sich GegnerIn- nen und BefürworterInnen für eine Abschaffung des Stichtags aussprachen, Erstere im Rahmen eines kompletten Verbots der Forschung, Letztere im Sinne einer weiteren Libera- lisierung. Auch über ein grundsätzliches Ja (5 Aussagen) oder Nein (16 Aussagen) zur For-

291 Kapitel 7 schung wurde diskutiert, dies aber in deutlich geringerem Umfang als über die beiden ers- ten Fragen. Weiterhin wurde gefordert, eine internationale Regulierung oder Forschungs- kooperation zu vereinbaren (6 Aussagen) anstelle eines nationalen Alleingangs in der Re- gulierung; drei Mal wurde diese Forderung abgelehnt. Es wurde zudem noch grundsätzlich über die Frage diskutiert, ob die Forschung eingeschränkt erlaubt sein sollte, oder nicht, wobei sich eine deutliche Mehrheit für Ersteres aussprach (7 pro vs. 1 kontra). Zu den For- derungen bezüglich des Klonens, des Zeit-Lassens, der Herstellung von Embryonen bzw. Stammzelllinien in Deutschland und des Imports wurden jeweils unter fünf Aussagen ge- macht, weswegen hier nicht näher auf sie eingegangen wird. Wieder kam die Frage nach dem Status des Embryos auf (19 Aussagen). Eine deutli- che Mehrheit (14) argumentierte, dass der Embryo Menschenwürde besitze und damit sei- ne Entwicklung nicht abgebrochen werden dürfe. Er sei absolut schützenswert und dürfe nicht für die Forschung geopfert werden; dem widersprach eine Minderheit (5). 15 Aussa- gen unterstützten das Argument, dass die Forschung wichtig für den wissenschaftlichen Fortschritt und für den Wissenschaftsstandort Deutschland sei. Man dürfe sich nicht inter- national abhängen lassen dadurch, dass die WissenschaftlerInnen an alten, verunreinigten Stammzelllinien arbeiten müssen. Dem widersprach eine Aussage. 9 Aussagen beharrten wiederum auf den möglichen Forschungsalternativen wie der Verwendung adulter anstelle embryonaler Stammzellen. Demgegenüber argumentierten 2 Aussagen, dass dies keine gleichwertige Alternative sei. Zudem wurde diskutiert, ob jüngere Stammzelllinien für die Forschung notwendig seien, was eine deutliche Mehrheit (4 pro vs. 1 kontra) bejahte. Die Diskussion über einen Dammbruch durch die Neuregelung, über die Heilungsethik und ob die Forschung ethisch ist oder nicht, wurde nur in sehr geringem Umfang geführt, weswe- gen auf sie nicht näher eingegangen wird.

AkteurInnen Im Folgenden werden die AkteurInnen und Familien näher betrachtet. Abbildung 7.16 bil- det die am Diskurs beteiligten 16 AkteurInnen und ihre Einstellung zur embryonalen Stammzellforschung ab. In absoluten Zahlen sind jeweils die Summe aller Aussagen und die Anzahl der befürwortenden und ablehnenden Aussagen zur embryonalen Stammzell- forschung sowie Aussagen aufgeführt, aus denen sich keine unmittelbare Einstellung zur Forschung ablesen lässt. Während es im Diskurs des ersten Zeitraums um die grundsätzli- che Erlaubnis bzw. das Verbot der Forschung gegangen war, lag jetzt die Betonung auf der Frage, ob die Forschung mit neuen Stammzellen erlaubt werden sollte. Das ist insofern zu beachten, als dass eine ablehnende Haltung hier grundsätzlicher Natur sein kann, aber auch

292 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung nur bezogen auf eine Forschung mit neuen Stammzellen. Aus Gründen der Übersichtlich- keit wurde diese Dimension nicht in die Datenpräsentation aufgenommen.

Abbildung 7.16: Anzahl Aussagen, nach AkteurInnen (26.07.2006 – 11.04.2008, absolut)

70 61 60

50

40 32 30 27 24 21 2323 22 20 15 15 10 13 10 10 10 8 9 7 8 10 45 56 4 55 5 5 6 6 4 3 23 32 1 1 3 22 2 2 21 1 22 1 1 0

Summe Zustimmung Ablehnung neutral

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 222 Aussagen, davon 95 Zustimmungen, 87 Ablehnungen und 40 neutrale Aussagen. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Auch im Vorfeld zur Stichtagsverschiebung haben sich Mitglieder der CDU und CSU am häufigsten in den Diskurs eingebracht (61 Aussagen). Die Anzahl der Aussagen von Be- fürworterInnen und OpponentInnen der embryonalen Stammzellforschung hielt sich fast die Waage mit einer leichten Mehrheit für die BefürworterInnen (27 pro vs. 24 kontra). Am zweithäufigsten (32 Aussagen) und als entschiedene BefürworterInnen äußerten sich die NaturwissenschaftlerInnen (21 pro vs. 3 kontra). Die katholische Kirche sprach sich geschlossen (23 Aussagen) gegen die Forschung aus, es gab von ihr auch keine neutralen Aussagen. Bei der SPD (insgesamt 22 Aussagen) sprach sich eine deutliche Mehrheit (13) für die Forschung aus, lediglich 4 Aussagen waren ablehnender Natur. Ähnlich sah das Verhältnis bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus (15 Aussagen, davon 10 pro und 2 kontra). Bei den Rechtswissenschaften hielten sich Zustimmung und Ablehnung (5 pro, 6 kontra) fast die Waage. Die evangelische Kirche war im Vergleich zum ersten Un- tersuchungszeitraum in ihrer Meinung gespalten (5 pro vs. 5 kontra). Die FDP äußerte sich nun ebenfalls kritischer, eine Mehrheit sprach sich allerdings weiterhin für die Forschung aus (3 pro vs. 2 kontra). Die VertreterInnen von Bündnis90/Die Grünen lehnten die For-

293 Kapitel 7 schung weiterhin stark ab (1 pro vs. 7 kontra), VertreterInnen des Nationalen Ethikrats stimmten für die Forschung (bei drei neutralen Aussagen), die Gesellschaftswissenschaftle- rInnen gegen die Forschung. Folgende AkteurInnen waren mit weniger als fünf Aussagen im Diskurs vertreten und werden hier nicht näher vorgestellt: die Theologen, VertreterInnen der Bundesärzte- kammer und der Ärzteschaft, VertreterInnen von PDS/Die Linke, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Auch hier bestätigt die Analyse die Ergebnisse aus der dichten Fallbeschrei- bung: Vor allem die Parteien, WissenschaftlerInnen und Kirchen bestritten den Diskurs. Wiederum werden die AkteurInnen zu fünf Gruppierungen zusammengefasst (vgl. Abbildung 7.17). Wie im ersten Untersuchungsabschnitt 2000 bis 2002 nahm die Politik am intensivsten am Diskurs teil und zeichnete sich für rund 50 Prozent (104) aller Aussa- gen verantwortlich. Dabei war das Verhältnis von die Forschung befürwortenden und ab- lehnenden Aussagen fast ausgeglichen (45 pro vs. 37 kontra), die Anzahl der neutralen Aussagen war ebenfalls beachtlich (22). Darauf folgte die Wissenschaft mit 78 Aussagen, mit einer deutlichen Mehrheit für die Forschung (41 pro vs. 19 kontra). Beide Gruppen – Politik und Wissenschaft – hatten im Gegensatz zu den anderen Gruppen auch neutrale Aussagen zu verzeichnen. Die Aussagen der Kirchen und Theologen (37) waren in der Mehrheit deutlich gegen die Forschung (7 pro vs. 30 kontra). Der Diskursanteil von Wirt- schaft und Gesellschaft war sehr gering.

Abbildung 7.17: Anzahl Aussagen, nach Familien (26.07.2006 – 11.04.2008, absolut)

120 104 100

78 80

60 45 41 37 37 40 30 22 19 18 20 7 2 2 1 1 0 Politik Wissenschaft Kirche&Theologie Wirtschaft Gesellschaft

Summe Zustimmung Ablehnung neutral Anmerkungen: Angaben in absoluten Zahlen. Insgesamt 222 Aussagen, davon 95 Zustimmungen, 87 Ablehnungen und 40 neutrale Aussagen. Zusammensetzung der Familien siehe Anhang 11.7. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

294 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Bezugsnetzwerke Bisher wurde dargestellt, welche AkteurInnen und Familien sich in welchem Umfang in den Diskurs eingebracht haben und wie sie grundsätzlich zur embryonalen Stammzellfor- schung standen. Es stellt sich auch für diesen Zeitabschnitt die Frage, welche Argumente besonders intensiv genutzt wurden und welche AkteurInnen ähnliche Schwerpunkte setz- ten, also Koalitionen im Diskurs bildeten. Dazu werden die gleichen Netzwerktypen wie für den Zeitraum 2000 bis 2002 betrachtet (vgl. Abbildung 7.18 bis Abbildung 7.24).357

Abbildung 7.18: Bezugsnetzwerk, komplett (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.108. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Für die meisten Organisationsgruppen war die grundsätzliche Frage nach einer Stichtags- verschiebung die wichtigste in der zweiten Diskursrunde. So auch für die VertreterInnen der CDU/CSU und der SPD. Des Weiteren wurde über die Abschaffung des Stichtages

357 Das lässt sich auch in einer Tabelle darstellen. Dies ist weniger intuitiv, allerdings sind die Daten ablesbar. Daher findet sich in Anhang 0 die entsprechende Datentabelle. 295 Kapitel 7 diskutiert, eine Frage, die primär FDP, RechtswissenschaftlerInnen und Naturwissenschaft- lerInnen beschäftigte. Ebenso wurde die grundsätzliche Frage nach der Forschung gestellt. Die NaturwissenschaftlerInnen machten zudem Aussagen zum wissenschaftlichen Interes- se an der Forschung. Dieses Mal gar nicht im Diskurs vertreten waren die Enquete-Kommission des Bun- destages, der Bundespräsident und sonstige politische VertreterInnen. Nicht verwendete Kategorien (im Vergleich zum ersten Diskurs) waren die Fragen nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Forschung, nach der eingeschränkten Zulassung des Stammzellenimports, einem eventuellen Widerspruch zwischen einem Forschungsverbot und dem legalen Schwangerschaftsabbruch und nach der Überarbeitung des Embryonenschutzgesetzes. Teilweise sind diese Aussagekategorien zeitlich bedingt hinfällig geworden, teilweise schienen sie für die AkteurInnen an Bedeutung verloren zu haben.

Abbildung 7.19: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Forderungen (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.081. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

296 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Wiederum werden nun zunächst die Aussagekategorien betrachtet, welche eine Forderung zum Gegenstand haben. Um die Übersicht zu gewährleisten, werden zwei Abbildungen verwendet: Abbildung 7.19 zeigt die Befürwortung, Abbildung 7.20 die Ablehnung von Forderungen. In beiden Netzwerken ist die Forderung einer Stichtagsverschiebung zentral. Sie war stark umstritten, da es viel Zustimmung und Ablehnung gab. VertreterInnen der SPD und der CDU/CSU befürworteten die Verschiebung des Stichtages, bei den Christde- mokraten gab es aber auch eine Reihe von Aussagen, die sich gegen eine solche Verschie- bung aussprachen. Im Diskurs wurde auch die Abschaffung des Stichtages behandelt, wo- für sich eine Reihe von AkteurInnen aussprach. Zudem gab es noch Aussagen, welche die Forschung grundsätzlich ablehnten, diese stammten hauptsächlich von der CDU/CSU und der katholischen Kirche. Letztere widersprach vehement einer Stichtagsverschiebung, wäh- rend die evangelische Kirche hier Zustimmung äußerte. Insgesamt beteiligten sich weniger AkteurInnen an der Diskussion, als im ersten Untersuchungsabschnitt.

Abbildung 7.20: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Forderungen (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.056. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

297 Kapitel 7

In beiden Netzwerken ist die Forderung einer Stichtagsverschiebung zentral. Sie war stark umstritten, da es viel Zustimmung und Ablehnung gab. VertreterInnen der SPD und der CDU/CSU befürwortete die Verschiebung des Stichtages, bei den Christdemokraten gab es aber auch eine Reihe von Aussagen, die sich gegen eine solche Verschiebung aussprachen. Im Diskurs wurde zudem die Abschaffung des Stichtages behandelt, wofür sich eine Reihe von AkteurInnen aussprach. Ebenso gab es noch Aussagen, welche die Forschung grund- sätzlich ablehnten, diese stammten hauptsächlich von der CDU/CSU und der katholischen Kirche. Letztere widersprach zudem vehement einer Stichtagsverschiebung, während die evangelische Kirche hier auch Zustimmung äußerte. Insgesamt beteiligten sich weniger AkteurInnen an der Diskussion, als im ersten Untersuchungsabschnitt.

Abbildung 7.21: Bezugsnetzwerk, Zustimmung zu Begründungen (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.066. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Bei den Begründungen (Abbildung 7.21 und Abbildung 7.22) ergibt sich ein ähnliches Bild: Weder haben sich alle AkteurInnen geäußert, noch wurden alle Aussagekategorien verwendet. Die CDU/CSU hat sich am häufigsten zustimmend zum Schutz des Embryos

298 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung und zur Nutzung von Forschungsalternativen geäußert und stimmte damit mit den Prioritä- ten der katholischen Kirche überein. Die SPD brachte sich in wesentlich geringerem Um- fang mit Begründungen ein, sowohl im Vergleich zur CDU/CSU als auch im zeitlichen Vergleich. Die NaturwissenschaftlerInnen betonten wieder ihr wissenschaftliches Interesse und die Bedeutung von jüngeren Stammzelllinien für den Forschungsfortschritt. Die Rechts- und Gesellschaftswissenschaften betonten den Schutz des Embryos. Ablehnende Äußerungen zu den einzelnen Kategorien gab es kaum, weswegen nur ein rudimentäres Netzwerk vorhanden ist (vgl. Abbildung 7.22). Die FDP, die NaturwissenschaftlerInnen und die RechtswissenschaftlerInnen verneinten einen absoluten Schutz des Embryos in dem frühen Stadium, in dem die Stammzellen entnommen werden. Die Naturwissenschaft- lerInnen und die DFG glaubten auch weiterhin nicht, dass alternative Forschungstechniken ein adäquater Ersatz für embryonale Stammzellen sein könnten. Auf die ökonomische Be- deutung der Forschung wurde nicht mehr eingegangen.

Abbildung 7.22: Bezugsnetzwerk, Ablehnung von Begründungen (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.024. Rechtecke = Aussagekategorien; Ellipsen = AkteurInnen. Breite Rechtecke = Anzahl Nennungen durch AkteurInnen; Breite Ellipsen = Anzahl Äußerungen von AkteurInnen; Zentralität der Kategorie = Anzahl der Aussagen; Linkdi- cke = relative Häufigkeit der Aussagen zur Kategorie. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

299 Kapitel 7

Zusammenfassend machen die Bezugsnetzwerke deutlich, dass die CDU/CSU im Zentrum des Diskurses stand. Sie hat sich also am häufigsten und mit Bezügen zu verschiedenen Argumenten eingebracht. Die SozialdemokratInnen waren etwas weniger im Diskurs ver- treten. Thematisch waren die Stichtagsverschiebung oder -abschaffung zentrale Diskussi- onsthemen. Besonders häufig wurde die Verschiebung des Stichtags abgelehnt, ihr aber auch zugestimmt – dies zeigt den zentralen Diskussionspunkt deutlich auf. Begründungen positiver Art wurden in geringem Ausmaß in den Diskurs eingebracht. Ablehnende Be- gründungen wurden noch seltener verwendet. Hier wurde meistens von den Befürworte- rInnen der Forschung die Ansicht abgelehnt, dass der Embryo geschützt werden müsste. Verneinungen fanden also praktisch nicht statt, was auf eine geringe Konfliktintensität hinweist.

Netzwerke von AkteurInnen Betrachtet man das Netzwerk von Übereinstimmungen (vgl. Abbildung 7.23), fällt wieder die starke Verbindung zwischen der CDU/CSU und der SPD auf.

Abbildung 7.23: Netzwerk der AkteurInnen, Übereinstimmung (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.515; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der Akteur bzw. die Akteurin geäußert. Je zentraler die Ellip- se, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich in Übereinstimmung mit dem Akteur bzw. der Akteurin geäußert. Linkdicke gibt die Häufigkeit der übereinstimmenden Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

300 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Hier zeigt sich wiederum die Übereinstimmung, welche über die Parteigrenzen und über die religiös-säkulare Grenze hinweg stattfand. Die CDU/CSU stimmte darüber hinaus so- wohl mit der DFG und den NaturwissenschaftlerInnen als auch mit den Kirchen in zahlrei- chen Aussagen überein. Bei der SPD war die Konstellation ähnlich, außer dass sie kaum Übereinstimmungen mit der katholischen Kirche fand. Insgesamt stand die CDU/CSU mit einer Reihe von anderen AkteurInnen im Kon- flikt. So gab es eine Reihe von Uneinigkeiten zwischen der CDU/CSU auf der einen Seite und die SPD und Kirchen auf der anderen Seite (vgl. Abbildung 7.24). Mit den Naturwis- senschaftlerInnen und den Grünen gab es ebenso Konflikte. In geringerem Ausmaß gab es konträre Aussagen zwischen der katholischen Kirche und der SPD. Zudem waren sich die SPD und ihr Oppositionspartnerin, die Grünen, nicht in allen Punkten einig.

Abbildung 7.24: Netzwerk der AkteurInnen, Konflikt (26.07.2006 – 11.04.2008)

Anmerkungen: Abkürzungen siehe Anhang 11.4; Dichte = 0.432; Ellipsen = AkteurInnen. Je brei- ter die Ellipse, desto häufiger hat sich der die Akteurin bzw. der Akteur geäußert. Je zentraler die Ellipse, umso mehr verschiedene AkteurInnen haben sich im Konflikt mit der Akteurin bzw. dem Akteur geäußert. Die Linkdicke gibt die Häufigkeit der konfliktiven Aussagen wieder. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

7.4.3 Zusammenfassung

In vielerlei Hinsicht verlief der Policy-Wandel im zweiten Untersuchungsabschnitt ähnlich demjenigen im ersten Abschnitt. Hier soll daher nur im Schwerpunkt auf die Unterschiede

301 Kapitel 7 eingegangen werden. Zunächst rückte die historische und politische Erblast etwas in den Hintergrund, da man auf Basis der Entscheidung von 2002 diskutierte, mit der der Import bereits zugelassen worden war. Die Problemperzeption war etwas geringer, da es bereits eine gültige Regulierung, gab mit der die Forschung ermöglicht wurde. Es gab keine Ge- setzeslücke, auf Basis derer die DFG hätte Druck ausüben können. Druck gab es allerdings durch die weiteren Liberalisierungen in anderen Staaten, die liberalere Forschungsförde- rung durch die EU und die Klage der NaturwissenschaftlerInnen, dass mit den zugelasse- nen Stammzelllinien keine adäquate Forschung betrieben werden könne. Die Bevölkerung war weiterhin mit deutlicher Mehrheit gegen die Forschung. Die BefürworterInnen und GegnerInnen unter den Organisationen waren weitgehend dieselben wie bei der ersten Entscheidung. Allerdings gab es einen zentralen Unterschied: Nun sprach sich die evangelische Kirche mehrheitlich für eine Stichtagsverschiebung aus, wäh- rend die katholische Kirche weiterhin strikt dagegen war. Damit war das Lager der Gegne- rInnen geschwächt worden. Gerichtsentscheidungen spielten im zweiten Untersuchungs- zeitraum keine Rolle. Der Ablauf zur Entscheidung von 2002 wurde als Schablone für 2008 verwendet: Die Abstimmung wurde als Gewissensentscheidung von der Fraktions- disziplin befreit. Daher kam es relativ rasch zu einer befriedenden Entscheidung. Der Diskurs fiel im zweiten Untersuchungsabschnitt wesentlich geringer aus. Zent- ral waren die Fragen, ob man den Stichtag verschieben oder gänzlich abschaffen sollte. Für beide Fragen fand sich eine Mehrheit, die sich jeweils dafür aussprach. Am umfangreichs- ten haben sich die CSU/CSU, die Naturwissenschaften, die Kirchen und die SPD in den Diskurs eingebracht. Der Schutz des Embryos und die Nutzung von Forschungsalternati- ven auf der einen Seite und das wissenschaftliche Interesse und die Heilungsethik auf der anderen Seite waren die zentralen Gründe gegen und für die embryonale Stammzellfor- schung. Große Übereinstimmung und eine Reihe von Konflikten gab es zwischen der CDU/CSU und der SPD, welche nach wie vor intern gespalten waren. Uneinigkeit herrsch- te ebenso zwischen den Parteien und den Kirchen. Das ökonomische Argument verlor im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitraum an Bedeutung und tauchte schließlich gar nicht mehr im Diskurs auf.

7.5 2008 – 2014: Nach der Stichtagsverschiebung

Nach der Stichtagsverschiebung ebbte das Thema unmittelbar ab und wurde im Untersu- chungszeitraum nicht mehr auf die öffentliche oder politische Agenda gesetzt. Dement- sprechend knapp gestaltet sich die folgende Fallanalyse.

302 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Die Reaktionen auf die Entscheidung zur Stichtagsverschiebung von 2008 fielen un- terschiedlich aus: Während die Verschiebung den einen zu weit ging (zum Beispiel Jürgen Rüttgers, FAZ, 13. April 2008), zeigte sich beispielsweise die DFG mit der Entscheidung des Bundestages zufrieden. Ihr Präsident Matthias Kleiner hielt die Entscheidung für einen guten und wichtigen Schritt. Die StammzellforscherInnen würden „die jetzt eröffneten Möglichkeiten mit hohem Verantwortungsbewusstsein und mit ihren festen ethischen Prin- zipien nutzen“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008b). Im Mai 2009 und Februar 2011 veröffentlichte die Bundesregierung ihre Unterrich- tung mit ihrem dritten und vierten Erfahrungsbericht über die Durchführung des Stamm- zellgesetzes.358 Sie berichtete von der Prüfung und Genehmigung von Anträgen auf Ein- fuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken und über den Stand der Forschung in diesem Bereich. In ihren Schlussfolgerungen resümierte die Regierung, dass die Stammzellforschung weiterhin Grundlagenforschung darstelle, auch wenn sich die möglichen Anwendungen im Bereich der Medizinentwicklung und der Therapieverfahren deutlich konkretisiert hätten.359 Die Stichtagsverschiebung von 2008 sei notwendig gewesen, da die Forschung nun eine tragfähige Basis habe und international vernetzbar und konkurrenzfähig sei.360 Bis Ende 2014 wurden 98 einschlägige Forschungsgenehmigungen erteilt.361 „Die Forschung an pluripotenten Stammzellen des Menschen hat sich seit 1998 rapide entwi- ckelt. Bis Ende 2011 wurde beispielsweise Forschung an hES362-Zellen in wenigstens 35 Ländern betrieben, schon bis Ende 2009 waren weltweit mehr als 1000 hES-Zell-Linien etabliert und publiziert worden (…) und bis Ende 2011 lagen 2500 Studien über For- schungsergebnisse an hES-Zellen vor“ (Löser et al. 2012, S. 228). Am 18. Oktober 2011 erging das Urteil des EuGH im Fall Brüstle gegen Greenpeace. Nachdem das Bundespatentgericht 2006 das Patent von Oliver Brüstle bezüglich der hu- manen neuralen Vorläuferzellen teilweise für nichtig erklärt hatte, hatte der Wissenschaft- ler vor dem Bundesgerichtshof geklagt (vgl. Abschnitt 7.4.1). Dieser entschied 2009, dass er ein Urteil vorläufig zurückstellen und zunächst dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Interpretation der EU-Biopatentrichtlinie (RL 98/44/EG) stellen würde. In dieser Richt- linie ging es um die Patentierbarkeit von biotechnologischen Erfindungen. Der Bundesge- richtshof wollte wissen, wie einige Bestimmungen dieser Richtlinie auszulegen seien und

358 BT Drs. 16/12956, 07.05.2009; BT Drs. 17/4760, 15.02.2011. 359 BT Drs. 17/4760, 15.02.2011, S. 24. 360 BT Drs. 17/4760, 15.02.2011, S. 24. 361 http://www.rki.de/DE/Content/Gesund/Stammzellen/Register/register_node.html (abgerufen am 15.03.2015). 362 hES = humane embryonale Stamm~. 303 Kapitel 7 ob diese Richtlinie im Endeffekt die Patentierung erlaube (Molnár-Gábor 2012, S. 5-6).363 Der EuGH stellte in seinem Urteil364 – welches auf der Biopatentrichtlinie basierte365 – grundsätzlich fest, dass bei der Verwertung biologischen Materials die Grundrechte ge- wahrt werden. Der menschliche Körper könne in seiner Entwicklung nicht patentiert wer- den. Der Begriff „menschlicher Embryo“ treffe auf die befruchtete Eizelle bereits zu, Sie stehe unter dem Schutz der Menschenwürde und entziehe sich industriellen und kommer- ziellen Interessen. Der EuGH bezog sich dabei ausdrücklich nur auf die Patentierbarkeit. Die wissenschaftliche Verwendung von Embryonen sei nicht Gegenstand der Biopa- tentrichtlinie. „Damit dürfen Forscher zwar zunächst weiter an der Gewinnung von Ner- venzellen aus embryonalen Stammzellen forschen, nur dürfen sie die Früchte dieser For- schung nicht durch ein Patent schützen lassen“ (Molnár-Gábor 2012, S. 21, 23). Auf Basis dieser Entscheidung urteilte der Bundesgerichtshof im November 2012: „[D]ie uneinge- schränkte Patentierung von Vorläuferzellen, die aus menschlichen embryonalen Stammzel- len gewonnen werden, ist (…) ausgeschlossen, wenn in der Patentschrift ausgeführt wird, als Ausgangsmaterial kämen Stammzelllinien und Stammzellen in Betracht, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden.“366 Im April 2013 wurde das Patent Brüstles vom Europäischen Patentamt (EPA) widerrufen. Begründet wurde dies damit, dass „the patent as granted needs to be revoked on the ground that it covers subject-matter not dis- closed in the original patent application, which is not allowable under the applicable Euro- pean Patent Convention (EPC)“ (Europäisches Patentamt 2013). Abbildung 7.25 gibt die Anzahl der veröffentlichten Zeitungsartikel im Zeitraum nach der Stichtagsverschiebung bis zum Ende des Untersuchungszeitraums an. Es zeigt sich, dass die Anzahl deutlich abgenommen hat im Vergleich zu den beiden Zeiträumen vor den Reformen von 2002 und 2008. Insgesamt sind es 239 Zeitungsartikel; die Aussa- gen wurden nicht mehr kodiert, da sie nur sehr vereinzelt auftraten. Eine Diskursanalyse ist auf dieser geringen Datenbasis nicht zielführend. Daher wird in diesem Untersuchungszeit- raum darauf verzichtet.

363 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.12.2009 (Xa ZR 58/07). 364 Europäischer Gerichtshof, Entscheidung vom 18.10.2011 (C-34/10). 365 „Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, sind von der Patentierbarkeit ausgenommen (…). Im Sinne von Absatz 1 gelten unter anderem als nicht patentierbar: [...] c) die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken; […].“ („Inventions shall be considered unpatentable where their commercial exploitation would be contrary to ordre public or morality; however, exploitation shall not be deemed to be so contrary merely because it is prohibit- ed by law or regulation. On the basis of paragraph 1, the following, in particular, shall be considered unpatentable: […] (c) uses of human embryos for industrial or commercial purposes; […] )“, Art. 6 Richtlinie 98/44. 366 Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 27.11.2012 (X ZR 58/07, S. 1). 304 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Abbildung 7.25: Zeitungsartikel (01.05.2008 – 31.12.2014, absolut)

12

10

8

6

4

2

0

2008-05 2008-08 2008-11 2009-02 2009-05 2009-08 2009-11 2010-02 2010-05 2010-08 2010-11 2011-02 2011-05 2011-08 2011-11 2012-02 2012-05 2012-08 2012-11 2013-02 2013-05 2013-08 2013-11 2014-02 2014-05 2014-08 2014-11 Anmerkung: Zeitungsartikel pro Monat, insgesamt 230. Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

7.6 Zusammenfassung und Abgleich mit Erwartungen

7.6.1 Zusammenfassung

Die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung in Deutschland erfolgte in zwei Schritten mit der Einführung der Stichtagsregelung 2002 und der Stichtagsverschiebung 2008. Initialzündung war die 1998 erstmals erfolgreiche Kultivierung humaner embryona- ler Stammzellen im Labor. Diesen bahnbrechenden wissenschaftlichen Fortschritt in der Stammzellforschung hatte Deutschland, wie viele andere Länder auch, nicht antizipiert und dementsprechend nicht in den bestehenden Gesetzen reguliert. So konnte man zwar aus dem Embryonenschutzgesetz von 1990 einen Geist des Schutzes von künstlich im Labor erzeugten Embryonen herauslesen. In Verbindung mit dem Grundgesetz und der gerichtli- chen Rechtsprechung konnte man damit einen unbedingten Schutz des Embryos vermuten. Allerdings war das eben nur eine Interpretationsmöglichkeit. BefürworterInnen der For- schung beriefen sich auf die grundrechtlich gesicherte Forschungsfreiheit und sprachen dem Embryo in-vitro den gleichen schutzwürdigen Status ab, der einem Embryo in-vivo oder einem weiter fortentwickelten Embryo zukommt. Somit prallten zwei grundlegende ethische Ansprüche aufeinander: Auf der einen Seite argumentierten die BefürworterInnen, dass mit der Forschung Therapien für schwere Krankheiten entwickelt werden könnten. Der Mensch habe ein grundlegendes Recht auf Heilung, das ihm nicht vorenthalten werden

305 Kapitel 7 dürfe. GegnerInnen der Forschung argumentierten, dass der Zweck nicht die Mittel heilige: Ein Embryo sei ein menschliches Wesen, das unter keinen Umständen verzwecklicht wer- den dürfe. Der Gesetzgeber wurde um die Jahrtausendwende in diesem ethischen Dilemma zu- sätzlich durch mehrere Faktoren unter zeitlichen Entscheidungsdruck gesetzt. Zum einen war durch das Embryonenschutzgesetz der Import von im Ausland hergestellten Stamm- zelllinien nicht verboten. ForscherInnen in Deutschland äußerten sich entweder dahin ge- hend, die Zellen zu importieren, oder drohten ihren Arbeitsplatz ins Ausland zu verlegen. Andere Ländern hatten nämlich entweder bereits liberalere Gesetze, welche die Forschung ermöglichten (zum Beispiel Großbritannien) oder waren dabei, diese dahingehend zu än- dern (zum Beispiel Frankreich). Aus diesem Grund drängten BefürworterInnen der For- schung auch darauf, dass Deutschland zügig sein Gesetz liberalisieren sollte, wenn es wis- senschaftlich und wirtschaftlich auf diesem Gebiet konkurrenzfähig bleiben wolle. Angesichts dieser ethischen Zwangslage, des zeitlichen Drucks und der wissen- schaftlichen und wirtschaftlichen Ansprüche wurde insbesondere von Anfang 2000 bis Anfang 2002 in der Öffentlichkeit und der Politik intensiv über die Stammzellforschung diskutiert. Aus dem Lager außerhalb der Politik brachten sich insbesondere die DFG, die NaturwissenschaftlerInnen, die Kirchen und die Theologen in die Debatte ein. Es gab mit den NaturwissenschaftlerInnen und der DFG auf der einen Seite und den beiden Kirchen auf der anderen Seite zwei starke Lager von BefürworterInnen und OpponentInnen der Forschung. Fast alle Parteien waren intern über die Frage der Forschung gespalten, insbe- sondere die SPD und die CDU/CSU hatten keine eindeutige Haltung zur Forschung. Die Grünen und die Linke neigten eher zur Ablehnung. Die FDP war die einzige Bundestags- partei, die fast geschlossen auf eine liberale Regulierung drängte. Als es schließlich im Bundestag auf eine Entscheidung zulief, präsentierte die Vorsitzende der Enquete- Kommission des Bundestages, Margot von Renesse (CDU/CSU) mit KollegInnen einen Gesetzesantrag, der sich wie ein Kompromiss las: Ein Stichtag sollte eingeführt werden, der zeitlich vor dem Datum der Verabschiedung des Gesetzes lag. Alle Stammzelllinien, die bis dahin im Ausland hergestellt worden waren, sollten deutsche ForscherInnen für ihre Forschung importieren dürfen. Damit würden keine Embryonen explizit für die deutsche Forschung getötet. Von Renesse und ihre MitstreiterInnen präsentierten ihren Vorschlag als Kompromiss zwischen den beiden Lagern des völligen Verbots bzw. der völligen Libe- ralisierung der Forschung. Dieses geschickte Framing hatte Erfolg, der Bundestag ent- schied sich im Januar 2002 für die Einführung des Stichtags.

306 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

In den nächsten Jahren verschwand das Thema Stammzellforschung nicht völlig von der medialen und politischen Bildfläche, schließlich waren andere Bereiche (zum Beispiel das Klonen) aktuell geworden. Des Weiteren wurden auch Vorgänge auf EU-Ebene und in anderen Ländern aufmerksam beobachtet. Ab 2006 mehrten sich dann Stimmen, die äußer- ten, dass die zur Verfügung stehenden Stammzelllinien mittlerweile eine unzureichende Qualität aufwiesen. Daher forderten WissenschaftlerInnen, die DFG und verschiedene Po- litikerInnen, den Stichtag ganz abzuschaffen oder mindestens zu verschieben. Wieder gab es über einige Monate kontroverse Auseinandersetzungen über das Für und Wider einer Gesetzesänderung. Die Argumente waren im Wesentlichen die gleichen wie in der ersten Debatte. Neu war allerdings, dass sich die evangelische Kirche eine Stichtagsverschiebung vorstellen konnte. Mit dem Dissens zwischen der katholischen und der evangelischen Kir- che bröckelte die Bastion der Gegnerschaft. Im April 2008 stimmte der Bundestag schließ- lich der Stichtagsverschiebung zu. Der Umfang der zweiten Debatte war wesentlich geringer: Wurden für die erste De- batte 2000 bis 2002 insgesamt 1029 Aussagen kodiert, so waren es für die zweite Debatte 2006 bis 2008 lediglich 222 Aussagen.367 Besonders auffällig ist, dass die Enquete- Kommission, der Bundespräsident und die Politik allgemein keine Äußerungen mehr zu verzeichnen haben.368 Die SPD, die Grünen, Theologen, VertreterInnen der Bundesärzte- kammer und MedizinerInnen, VertreterInnen der Wirtschaft und der Gesellschaft haben sich überproportional weniger in die Debatte eingebracht, sowohl im Vergleich zu den anderen AkteurInnen als auch im Vergleich zur ersten Untersuchungsperiode. Der ver- gleichsweise geringste Rückgang ist bei der katholischen Kirche zu beobachten. Folglich zeigt sich auch bei den Gruppierungen eine deutliche Abnahme der Aussagen. Insbesonde- re VertreterInnen von Wirtschaft und Gesellschaft waren während beider Perioden kaum am Diskurs beteiligt. Ein Vergleich der beiden Bezugsnetzwerke (vgl. Abbildung 7.26) zeigt auf, dass der Diskurs im ersten Zeitraum wesentlich umfangreicher war und eine Reihe von Forderun- gen und Begründungen mehrfach einflossen. Die GegnerInnen der Forschung wollten den Embryo unbedingt schützen und schlugen Forschungsalternativen vor. BefürworterInnen betonten die Ethik des Heilens. In die Diskussion wurde eine limitierte Forschung, also eine Forschung unter einschränkenden Auflagen, als Kompromissvorschlag eingebracht.

367 Es bleibt auch dann eine Differenz bestehen, wenn man die unterschiedlich langen Beobachtungszeiträume berücksichtigt. Bei der Auswahl der Zeiträume wurde jeweils beachtet, wann die intensive Diskussion einsetzte, es also mehr Aussagen pro Monat gab. 368 Dafür gibt es naheliegende Gründe: Das Amt des Bundespräsidenten bekleideten in beiden Debatten verschie- dene Personen; „Politik“ ist eine Sammelgruppe von verschiedenen AkteurInnen, und in der Gruppe der Enquete- Kommission sind diejenigen Abgeordneten, die nicht einer Partei zugeordnet werden konnten. Bei insgesamt ge- ringer Anzahl der Aussagen schrumpfen gerade diese kleinen Gruppen stark. 307 Kapitel 7

Im zweiten Untersuchungszeitraum ging es weniger um eine grundsätzliche Auseinander- setzung über die ethische (Un-)Zulässigkeit der Forschung, sondern mehr darum, ob der Stichtag verschoben oder gänzlich abgeschafft werden sollte. In beiden Diskursnetzwerken waren die politischen AkteurInnen von Anfang an und in großem Umfang beteiligt. Des Weiteren beteiligten sich die NaturwissenschaftlerInnen und die DFG prominent am Dis- kurs.

Abbildung 7.26: Bezugsnetzwerke, gesamter Zeitraum

Anmerkungen: Abbildung links: 01.02.2000 bis 30.01.2002 (entspricht Abbildung 7.6); Abbildung rechts: 26.07.2006 bis 11.04.2008 (entspricht Abbildung 7.18). Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

7.6.2 Erkenntnisse

Analog zu Abschnitt 6.6.2 (Sterbehilfe) werden in diesem Abschnitt auf Basis der im The- oriekapitel 4 entwickelten Erwartungen die empirischen Erkenntnisse aus der dichten Fall- beschreibung und den Diskursanalysen zusammengetragen. Ein Abgleich mit den Erwar- tungen und eine Beurteilung, welche Erwartungen bestätigt werden können, ist allein auf Basis der Erkenntnisse zur embryonalen Stammzellforschung nicht möglich. Daher werden im darauffolgenden Kapitel 8 im Rahmen einer vergleichenden Fallanalyse von Sterbehilfe und Stammzellforschung Aussagen über die Gültigkeit der theoretischen Erwartungen ge- macht. Zunächst folgen die im Rahmen der Agendasetzung potenziell wirkenden Faktoren Problemperzeption, historische Erblast, externe Einflüsse, gesellschaftliche Werteinstel- lungen, parteipolitische Präferenzen und Gerichte. Es folgenden die Faktoren der Politik- entscheidung: institutionelle, parteipolitische und gesellschaftliche VetospielerInnen sowie AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs.

308 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung

Problemperzeption Die Problemperzeption speiste sich vor allem aus dem plötzlichen medizinisch-technischen Fortschritt, der gesetzlichen Regulierungslücke und den rezipierten und antizipierten Libe- ralisierungsbestrebungen anderer Länder. Die embryonale Stammzellforschung wurde schlagartig Thema in Politik und Öffent- lichkeit mit dem Forschungsfortschritt von 1998. Die Entwicklung in den anderen Staaten wurde insbesondere von den ForschungsbefürworterInnen als Problem wahrgenommen, denn sie fürchteten, dass Deutschland in einem zukunftsträchtigen Feld wissenschaftlich und damit wirtschaftlich abgehängt werden würde. Die NaturwissenschaftlerInnen, allen voran Oliver Brüstle und Otmar Wiestler, drängten auf eine rasche Entscheidung der Politik. Brüstle und Wiestler hatten mit ihrem Antrag auf Forschungsgelder bei der DFG diesen Stein endgültig ins Rollen gebracht. Die DFG übte öffentlich verbalen Druck auf die politischen EntscheidungsträgerInnen aus. Dieser Druck war effektiv, denn rein rechtlich war der Import von embryonalen Stammzel- len nicht verboten und das Projekt hätte daher eingeleitet werden können. Die DFG und die ForscherInnen warteten quasi aus Kulanz, machten 2001 aber mehrmals deutlich, dass sie – sollte der Gesetzgeber nicht zu einer raschen Entscheidung kommen – das Projekt durch- führen würden. Die Politik wurde unter starken Zugzwang gesetzt. Zudem konnte nicht ausgeschlossen werden, dass an privaten Instituten nicht bereits mit Stammzellen gearbei- tet wurde. Druck wurde auch innerhalb der Politik aufgebaut. So reiste der damalige Minister- präsident Wolfgang Clement im Mai 2001 nach Haifa, um sich über die Forschungs- und Importmöglichkeiten zu informieren. Die Reise war vermutlich eine gezielte Provokation, um die Bundesebene zum Handeln aufzufordern. Druck entstand zudem durch die Argu- mentation der BefürworterInnen, die Forschung ermögliche unter Umständen die Entwick- lung von Therapien zur Heilung schwerer Krankheiten. Diese Möglichkeit nicht zu nutzen sei unethisch gegenüber den kranken Menschen. Der Druck auf die Politik, zu einer Ent- scheidung zu kommen, war entsprechend hoch und wurde auch so wahrgenommen, wie der Umfang und Inhalt der Diskursnetzwerkanalyse zeigt. Im Fall der Novellierung des Gesetzes 2008 war die Ausgangslage eine ähnliche, wenngleich die Debatte wesentlich weniger umfassend und aufgeregt geführt wurde. Die WissenschaftlerInnen beklagten die mangelnde Qualität der vorhandenen Stammzelllinien. Eine konkurrenzfähige Forschung sei nicht möglich. Folglich fürchtete man wiederum um die internationale Wettbewerbsfähigkeit und um die Therapieentwicklung.

309 Kapitel 7

In der Regulierung der embryonalen Stammzellforschung war die Problemperzeption außergewöhnlich hoch, weil die BefürworterInnen nicht nur starke Argumente und die Status quo-Regelung auf ihrer Seite hatten, sondern weil sie die Politik zudem unter erheb- lichen zeitlichen Druck setzen konnten. Die Wahrnehmung als Grundsatzproblem in Ver- bindung mit dem moralischen Schock des wissenschaftlichen Fortschritts setzte die emb- ryonale Stammzellforschung auf die politische Agenda.

Historisch-politische Erblast In der deutschen Embryonenforschungspolitik wirkten die christliche Tradition des unbe- dingten Lebensschutzes und das nationalsozialistische Erbe nach. Letzteres hatte auch Ein- fluss auf die Regulierung des Embryonenschutzes in Deutschland. Zwar wurde in der Aus- einandersetzung selten ein direkter Bezug zum Dritten Reich und seiner wertenden Abstu- fung und schließlich Vernichtung von Leben hergestellt. Der Diskurs wurde allerdings inhaltlich bei grundlegenden Verfassungsprinzipien angesetzt. Es wurde hauptsächlich darüber gestritten, ob der Embryo bereits Träger der Menschenwürde sei und damit um- fangreichen Schutz genieße. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 I GG) und „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 II GG) sind zwei zentrale Grundrechte, auf welche die ForschungsgegnerInnen abhoben. Dass diese Diskus- sion nicht zwangsläufig dergestalt verlaufen muss, zeigt zum Beispiel die Debatte in den USA, die stärker an Sachfragen orientiert war (Gottweis 2002). Die implizite Sorge, durch eine liberale Forschungsregulierung das menschliche Leben zu missachten und zu instru- mentalisieren, war bereits Anlass für das restriktive Embryonenschutzgesetz von 1990 ge- wesen. Dieses Gesetz wiederum war Ausgangspunkt für die Regulierung von 2002, berei- tete also einen konservativen Boden für den Politikwandel. Der hohe Schutz des Embryos verpflichtete zu einem ethisch verantwortungsvollen Umgang mit dem werdenden Leben. Von dieser impliziten Vorgabe konnte sich der Diskurs um die embryonale Stammzellfor- schung nicht lösen. Insofern hatte die Erblast in Form des in christlichen Werten begründeten Schutzes des ungeborenen Lebens und des nationalsozialistischen Erbes und der damit zusammen- hängenden Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs und des Embryonenschutzes eine bremsende Wirkung auf die Regulierung der embryonalen Stammzellforschung. Anderer- seits kann man auch von einer historischen Erblast durch eine unabsichtlich unvollständige Regulierung sprechen. Diese betraf den Import von im Ausland aus Embryonen hergestell- ten Stammzelllinien und deren Erforschung in Deutschland. Diese Regulierungslücke trat schlagartig zutage, als die Erstellung von Stammzelllinien technisch möglich wurde, und

310 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung war somit ein Druckmittel in den Händen der ForschungsbefürworterInnen. Hier zeigt sich die enge Verzahnung von regulatorischer Erblast und der bereits beschriebenen Problem- perzeption.

Externe Einflüsse Der sichtbare internationale Einfluss war eher informeller Natur. Der Grund liegt darin, dass es eine direkte internationale, rechtlich verbindliche Regulierung der embryonalen Stammzellforschung zu therapeutischen Zwecken bis heute nicht gibt. Es gab zwar Ver- einbarungen, die direkte oder indirekte Aussagen über den Schutz des Menschen und den Umgang mit dem menschlichen Genom machten. Diese waren aber nicht bindend und teilweise auch von Deutschland nicht ratifiziert worden. Jeder Staat entscheidet somit selbst, ob und unter welchen Auflagen er die Forschung erlaubt. Im zweiten Untersu- chungsabschnitt wurde die Entscheidung der EU zur Förderung einschlägiger Forschung im Forschungsrahmenprogramm von Deutschland mitgetragen. Dies führte dazu, dass in Deutschland ein nationales Verbot von den ForschungsbefürworterInnen als nicht mehr angemessen angesehen wurde. Die liberale Regulierung bzw. die Liberalisierungen in anderen Ländern (Israel, USA, Frankreich, Großbritannien) wurden in der deutschen Diskussion sehr wohl wahrge- nommen. Entweder hatten diese Länder bereits eine liberale Regulierung, die Herstellung und Erforschung der Stammzelllinien erlaubte, oder sie machten sich daran, eine Liberali- sierung vorzunehmen. Das führte zu gefühltem wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Wettbewerbsdruck, dem sich Deutschland ausgesetzt sah. Dies manifestierte sich nicht zuletzt an den Äußerungen des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und in Bun- desforschungsministerin Edelgard Bulmahn. Sie befürchteten, dass Deutschland im wirt- schaftlichen und wissenschaftlichen Wettbewerb abgehängt werden könnte.

Gesellschaftliche Werteeinstellung und Polarisierung Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung war gegen die embryonale Stammzellforschung (EVS 2001). Von einer Polarisierung in der Gesellschaft kann nicht gesprochen werden, denn es gab keine extremen Lager von BefürworterInnen und OpponentInnen. Auch wurde der Protest nicht auf die Straße getragen. Als gesellschaftliche Interessenorganisationen brachten sich in erster Linie die katho- lische und evangelische Kirche und die Naturwissenschaften bzw. die DFG ein. Im Vorfeld der Regulierung von 2002 standen die Kirchen als Gegnerinnen den Naturwissenschaften als Befürworterinnen gegenüber. Weniger umfassend, aber eher ablehnend nahm die Ärz-

311 Kapitel 7 teschaft am Diskurs teil. Alle Beteiligten verfügten durch ihre Organisationsstärke über einen privilegierten Zugang zu den politischen AkteurInnen. Der kontroverse Diskurs und das öffentliche Drängen beider Seiten auf eine eindeutige Regulierung setzten den Gesetz- geber zusätzlich unter Handlungsdruck und beförderten das Thema auf die politische Agenda.

Parteiinteressen und -konfliktlinien Die Bundestagsparteien waren in Bezug auf die Regulierung der Stammzellforschung in- tern gespalten. Lediglich die FDP sprach sich fast geschlossen für die Zulassung der For- schung aus. In den anderen Parteien gab es sowohl Stimmen, die ähnlich wie die Kirchen von einem absoluten Lebensschutz sprachen und damit gegen die Forschung waren, als auch Stimmen, die sich für die Forschungsfreiheit aussprachen und die Entwicklung von Therapiemöglichkeiten fördern wollten. Insbesondere die CDU/CSU befand sich in einem Konflikt, da sie traditionell eng mit den Kirchen verbunden ist. Aber auch die SPD und die Grünen waren sich intern nicht einig. Folglich gab es für keine der Parteien einen strategi- schen Anlass, dieses Thema auf die politische Agenda zu setzen. Im Gegenteil: Eine Agendasetzung im klassischen Modus des Parteienwettbewerbs hätte den Parteien gescha- det, da sich kaum eine klar auf eine Position hätte einigen können. Die Agendasetzung und die Politikentscheidung von 2002 fielen in die Zeit der rot- grünen Regierung, diejenigen von 2008 in die Zeit der CDU/CSU-SPD-Regierung. Daher kann die Vermutung, dass eine religiös-säkulare Konfliktlinie innerhalb der Regierung die Agendasetzung hemmt, nicht bestätigt werden.

Gerichte Bezüglich der embryonalen Stammzellforschung haben Gerichte nie über ein Urteil direkt Einfluss auf die Agendasetzung genommen. Indirekt wurde mit den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch in den 1970er und 1990er Jahren ein hoher Schutz des ungebo- renen Lebens durch die Gerichte festgelegt, allerdings ohne einen detaillierten abgestuften Lebensschutz des Embryos zu definieren. Das Bundesverfassungsgericht „hatte zwar in seinen beiden Abtreibungsurteilen festgelegt, wie es den Lebens- und Würdeschutz bei ungeborenem Leben interpretiert, dabei aber offen gelassen, wann dieser Würdeschutz genau einsetzt“ (Fink 2007, S. 122). Daher können diese Entscheidungen allenfalls als den Diskurs und die Entscheidung indirekt beeinflussend angesehen werden. Auch wurde we- der nach der Entscheidung von 2002 noch nach der von 2008 Verfassungsklage erhoben,

312 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung das Bundesverfassungsgericht hat sich also nie direkt zur embryonalen Stammzellfor- schung geäußert.

Institutionelle VetospielerInnen Die potenziellen Vetospieler Bundesrat, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht haben die Entscheidung des Bundestages nicht blockiert bzw. wurden nicht angerufen. Bei der embryonalen Stammzellforschung lag die politische Initiative beim Bundes- tag, welcher relativ zügig entschied, eine Gewissensentscheidung auf Basis von fraktions- übergreifenden Anträgen zuzulassen. Folglich sank die Wahrscheinlichkeit einer Politik- blockade durch den Bundesrat drastisch. Man kann zudem davon ausgehen, dass durch die als „Sternstunde des Parlaments“369 gefeierte Debatte und Entscheidung es dem Bundesrat kaum möglich war, den befriedenden Kompromiss abzulehnen, ohne einen Imageschaden in der Öffentlichkeit zu erleiden und einen innerparteilichen Eklat auszulösen. Daher stand eine Ablehnung des Gesetzentwurfs nicht zur Debatte. Das Framing als befriedender Kompromiss verhinderte vermutlich zudem eine An- fechtung durch die unterlegenen GegnerInnen vor dem Bundesverfassungsgericht. Damit wurde der zweite potenzielle Vetospieler nicht aktiv. Bundespräsident Johannes Rau hatte sich im Vorfeld der Entscheidung von 2002 mehrmals äußerst kritisch gegenüber der Forschung an Stammzellen geäußert. Aber er stellte sich letztendlich nicht gegen das Gesetz.

Parteipolitische VetospielerInnen Die FDP war fast geschlossen für die Forschung, die PDS/Die Linke ebenso geschlossen dagegen. Beide hatten aber 2002 keine Blockademacht im Bundestag, auch nicht indirekt über eine Beteiligung in der Regierungskoalition. Sie konnten sie eine Regulierung zu ih- ren Gunsten nicht erzwingen. Die großen Parteien SPD und CDU waren in der Frage ge- spalten, die Grünen schlugen sich argumentativ eher auf die Seite der konservativen Grup- pe in der CDU/CSU-Fraktion, waren sich aber auch nicht einig. Angesichts dieser inner- parteilichen Uneinigkeit müsste man insgesamt von einer Blockade des Regulierungspro- zesses ausgehen, da keine Partei ein Interesse daran haben könnte, durch eine Abstimmung die interne Gespaltenheit deutlich zu zeigen. Jedoch war eine Nicht-Entscheidung aufgrund des hohen äußeren Drucks nicht mög- lich. Insbesondere die Tatsache, dass die Regulierungslücke es der DFG erlaubt hätte, bei

369 Die Diskussion und die Entscheidung des Gesetzgebers wurden verschiedentlich als „Sternstunde des Parla- ments“ (Berndt und Frank 2012) bezeichnet.

313 Kapitel 7 einer Nicht-Entscheidung die Forschungsvorhaben mit embryonalen Stammzellen zu fi- nanzieren, setzte den Gesetzgeber unter Zugzwang. Es fand teilweise ein Venue-Shifting in andere Arenen statt: So wurde die Debatte, ob und unter welchen Umständen die Forschung ethisch vertretbar sei, dem Nationalen Ethikrat übergeben. Zudem befasste sich die Enquete-Kommission des Bundestages mit dem Thema. Deren Vorsitzende Margot von Renesse (SPD) war Federführerin jenes Ge- setzentwurfs, der später in der Abstimmung angenommen und als Stammzellgesetz verab- schiedet wurde. Der Ethikrat und die Kommission wurden allerdings nicht benutzt, um die Diskussion aus der Öffentlichkeit in nicht-öffentliche Gremien zu verschieben. Vielmehr erhofften sich die politischen AkteurInnen eine ausgewogene ethische Beurteilung und Lösungsfindung in den Gremien, die eine Regulierung ermöglichen würde. Neben diesem unvollständigen Venue-Shifting wurde die Entscheidung auch als Gewissensentscheidung deklariert, damit alle Abgeordneten nach ihrem Gewissen entscheiden konnten und keine Fraktionsdisziplin verlangt wurde.

Gesellschaftliche VetospielerInnen Als relevante gesellschaftliche Interessengruppen haben sich die NaturwissenschaftlerIn- nen bzw. die DFG, die beiden Kirchen und die Ärzteschaft und Theologen in der Analyse herausgestellt. Im Vorfeld der Entscheidung von 2002 waren die beiden Kirchen vehement gegen eine Erlaubnis der Forschung. Die Ärzteschaft stand der Forschung mehrheitlich ablehnend gegenüber. Allerdings gab es mit den NaturwissenschaftlerInnen und der DFG zwei eng verbun- dene starke Interessengruppen, die sich ebenso konsequent für die Forschung aussprachen. Als eine dritte Gruppe brachten sich die Theologen breit in den Diskurs ein, waren in ihrer Meinung jedoch gespalten. Die Kirchen verwendeten nicht nur rein religiöse Argumente, sondern argumentier- ten mit philosophischen und verfassungsmäßigen Grundsätzen. Dadurch gelang es ihnen auch, außerhalb des unmittelbaren kirchlichen Wirkungskreises Verbündete für ihre Hal- tung zu finden. So war ein großer Teil der Grünen aus ähnlichen Gründen gegen eine Libe- ralisierung. Bei ihrem im politischen System engsten Verbündeten waren die Kirchen aber nur teilweise erfolgreich: Die christlichen Parteien CDU und CSU folgten ihrer Argumen- tation nur in Teilen. Dies lag unter anderem an der Überzeugungskraft der Forschungsbe- fürworterInnen. Diese sprachen sich nämlich in gleicher Grundsätzlichkeit für eine For- schung aus, um Leben retten zu können. Bei der zweiten Debatte, die 2006 einsetzte, brö- ckelte zudem die Allianz zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche. Letzte-

314 Fallstudie II – Embryonale Stammzellforschung re sah nun nämlich durchaus gute Gründe für eine Forschung und konnte sich einem abso- luten Verbot, wie die katholische Kirche es forderte, nicht mehr anschließen.

AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs Von zentraler Bedeutung war 2002 in den Debatten über die drei Anträge, dass derjenige Antrag, der die Einführung eines Stichtages und Auflagen für Import und Forschung vor- sah, von seinen AutorInnen als Kompromiss und ethischer Ausweg aus dem Dilemma ge- framed wurde. Diese Strategie war schließlich erfolgreich. Dem Embryo sollte möglichst umfangreicher Schutz zukommen, und kein Embryo sollte für die deutsche „Forschung“ geopfert werden. Dazu sollte die Stichtagsregelung dienen. Gleichzeitig würde die For- schung auf internationalem Niveau ermöglicht und damit die Therapieentwicklung voran- getrieben werden können. Bundeskanzler Schröders Wandlung zeigt beispielhaft die Diskursstrategie der For- schungsbefürworterInnen: Als er im Dezember 2000 öffentlich die Berücksichtigung öko- nomischer Interessen bei den Überlegungen zur embryonalen Stammzellforschung ver- langte, waren das Entsetzen und der öffentliche Gegenwind groß. Zukünftig argumentierte Schröder nicht mehr mit wirtschaftlichen Interessen, sondern mit der sozialethischen Be- deutung der Forschung. Es gäbe eine moralische Pflicht, das Leiden von Kranken zu been- den. Von den AntragstellerInnen, und von den anderen ParlamentarierInnen wurde im Vorfeld der Abstimmung wiederholt betont, dass es eine schwierige Entscheidung sei und man die anderen Meinungen und die Entscheidung des Bundestages insgesamt respektieren werde. Der Begriff „Sternstunde des Parlaments“ wurde wiederholt verwendet, um die schwierige und zugleich besonnene Debatte zu betonen. Auch damit gelang es, zu einer befriedenden Entscheidung zu kommen.

315

8 Vergleich der Fallstudien I und II

Die beiden Fallstudien zeigen, dass der Gesetzgeber unterschiedlich mit den Herausforde- rungen der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung umgegangen ist. Mit dem 2002 verabschiedeten Stammzellgesetz (StZG) reagierte er sehr zügig auf die medizi- nische Innovation von Ende 1998, welche die Kultivierung von Stammzellen im Labor ermöglicht hatte. Die Forschung an Stammzellen wurde unter Einschränkungen erlaubt. 2008 wurde das Gesetz überarbeitet. Trotz stark moralisch aufgeladener Diskussionen im Vorfeld der beiden Entscheidungen wurde ein stabiler, befriedender Kompromiss gefun- den. Die Grenzen der zulässigen Sterbehilfe sind im Untersuchungszeitraum im Wesentli- chen durch Gerichtsurteile und ärztliches Standesrecht bestimmt. Es gab bisher keine um- fassende ordnungspolitische Antwort auf die steigende gesellschaftliche Nachfrage. Durch die rechtsverbindliche Patientenverfügung konnte 2009 die passive Sterbehilfe allerdings näher bestimmt werden, und den PatientInnen wurde mehr Selbstbestimmung am Lebens- ende zugebilligt. Der ärztlich assistierte Suizid und eine spezielle Form davon, der gewerb- lich organisierte assistierte Suizid, sind hingegen in den vergangenen zehn Jahren wieder- holt auf die politische Agenda gesetzt worden, ohne im Untersuchungszeitraum zu einer Politikentscheidung zu reifen. Es stellt sich folglich die Frage, welche Faktoren bei biomedizinischen Moralpoliti- ken für das Regulierungstempo verantwortlich sind. Zur Erklärung dieser unterschiedli- chen Handhabung werden die in Kapitel 4 aufgestellten Erwartungen anhand der Ergebnis- se aus den deskriptiven Fallanalysen der Kapitel 6 und 7 auf ihre Erklärungskraft über- prüft: Diese Überprüfung erfolgt für die Phasen der Agendasetzung (8.1) und der Ent- scheidungsfindung (8.2). Die Ergebnisse werden in Abschnitt 8.3 zusammengefasst.

317 Kapitel 8

8.1 Agendasetzung

Nun werden die im Theoriekapitel 4 aufgestellten Erwartungen für die Agendasetzung mit den Erkenntnissen aus den Fallstudien zur Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellfor- schung abgeglichen. Dazu werden jeweils zunächst die Erwartungen in Erinnerung geru- fen. Am Ende jedes Abgleichs wird ein Fazit bezüglich der Gültigkeit der Erwartungen gezogen.

Problemperzeption Bezüglich der Problemperzeption wurden zwei Erwartungen aufgestellt:

Erwartung 1a: Je höher die Problemperzeption bei den politischen AkteurInnen, desto zügiger findet die Agendasetzung statt.

Erwartung 1b: Moralische Panik führt zügiger zur Agendasetzung als akkumu- lierte Informationen oder Grundsatzprobleme.

Die Sterbehilfe und die embryonale Stammzellforschung sind klassischerweise Grundsatz- probleme, weil sie einen Konflikt zwischen grundlegenden Werten generieren. Bei der Sterbehilfe zeigte sich zudem eine Akkumulation der Problemperzeption, bedingt durch die Liberalisierungen im Ausland (vor allem in Belgien und den Niederlanden), durch den zunehmenden „Sterbetourismus“ in die Schweiz, die Ausweitung des Tätigkeitsfeldes der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas nach Deutschland sowie durch wiederholte Gerichtsentscheide auf Basis von Einzelfällen. Dieser wachsende Druck lastete auf den politischen EntscheidungsträgerInnen und zwang sie schlussendlich, das Thema auf die Agenda zu setzen. Bei der embryonalen Stammzellforschung war hingegen keine langsame Akkumula- tion der Problemperzeption zu verzeichnen, auf welche die politischen Entscheidungsträge- rInnen hätten strategisch reagieren können. Vielmehr war die Wahrnehmung als Problem durch den wissenschaftlichen Fortschritt schlagartig da und kann daher als „moralischer Schock“ bezeichnet werden. Der Druck war sehr hoch durch die unsichere Abwägung von Verfassungsprinzipien und die de facto Regulierungslücke, welche den Import und die Erforschung von Stammzelllinien erlaubte. Die deutschen WissenschaftlerInnen drängten auf eine politische Entscheidung. Man fürchtete zudem, im internationalen Wettbewerb zurückzufallen, sollte man die Forschung nicht erlauben. Das würde zu wissenschaftlichen

318 Vergleich der Fallstudien I und II und ökonomischen Einbußen führen. Die GegnerInnen empfanden eine Liberalisierung als ethisch verwerflich und wollten sie unbedingt verhindern. Somit zeigt sich bei der Sterbehilfe im Zeitverlauf, dass es mit wachsender Problem- perzeption zu einer Agendasetzung kommen kann, dies jedoch wesentlich langsamer, als bei einer moralischen Panik bzw. einem Schock. Die Erwartungen können daher im Ver- gleich der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung bestätigt werden: Je höher eine Problemperzeption bei den politischen AkteurInnen, desto zügiger findet die Agen- dasetzung statt. Damit eng zusammenhängend lässt sich feststellen, dass eine moralische Panik zügiger zur Agendasetzung führt, als akkumulierte Informationen oder Grundsatz- probleme.

Historisch-politische Erblast Für die historisch-politischen Erblast wurde folgende Erwartung formuliert:

Erwartung 2: Die historische Erblast hemmt die Agendasetzung.

Es zeigte sich, dass sie für die empirische Realität zu stark vereinfachend formuliert wor- den war. Bei der Sterbehilfe und der embryonalen Stammzellforschung kamen nämlich drei Formen der Erblast zum Tragen: Die christliche, die nationalsozialistische und die regulatorische Erblast. Da beide Politiken biomedizinischer Art sind, sind die Erblasten ähnlich gelagert. So wurde in der Vergangenheit durch die christlichen Kirchen ein unbedingter Schutz des Lebens vertreten. Dieser hat sich direkt in der Ablehnung des Selbstmordes und der Beihil- fe dazu manifestiert. Auch lehnten die Kirchen den Verbrauch von Embryonen zu For- schungszwecken ab, weil es sich bei ihnen um absolut schützenswertes Leben handele. Durch die Verbrechen der Nationalsozialisten, welche aktive Sterbehilfe betrieben hatten, gab es ein großes Bestreben in der Bundesrepublik, Menschenleben unter allen Umständen zu schützen. Dies schlug sich im Grundgesetz mit dem unbedingten Schutz der Menschenwürde und im Strafgesetzbuch mit dem Verbot der aktiven Sterbehilfe nieder. Gleichzeitig wurde das Thema jahrzehntelang tabuisiert und die detaillierte rechtliche Ausgestaltung der Ärzteschaft überlassen. Auch die embryonale Stammzellforschung stand im Verdacht, gegen diesen unbedingten Lebensschutz zu verstoßen. Allerdings ist die Ver- bindung zu den nationalsozialistischen Verbrechen aus zwei Gründen indirekter: Zum ei- nen handelt es sich bei der Forschung nicht um Sterbehilfe am geborenen Menschen, son- dern um einen Verbrauch von Embryonen, bei dem kein Konsens über ihren Status als

319 Kapitel 8 menschliches Leben herrscht. Zum anderen war das junge Thema nicht über lange Zeit als Tabu behandelt und in nicht-politische Regulierungsarenen ausgelagert worden. Somit kann bezüglich der nationalsozialistischen Erblast und der darauf fußenden Behandlung und Regulierung der Themen ein Unterschied zwischen den beiden Politiken ausgemacht werden: Die Sterbehilfe stand durch ihren direkten Bezug zum Euthanasiepro- gramm im Dritten Reich unter wesentlich skeptischerer Betrachtung der AkteurInnen. Zu- dem wurde das Thema jahrzehntelang tabuisiert und an die Ärzteschaft zur Selbstregulie- rung ausgelagert, was den Gesetzgeber davon befreite, sich damit zu befassen. Die embry- onale Stammzellforschung ist hingegen wesentlich jünger als die Sterbehilfe, und hier wurde daher nicht der Pfad der Auslagerung an Dritte eingeschlagen. Bei diesem Thema konnte man zwar auch einen Bezug zu grundlegenden Verfassungsprinzipien herstellen und an die Lehren aus dem Dritten Reich anknüpfen. Allerdings war der Vergleich abstrak- ter, da damals keine Embryonen vernichtet worden waren. Hinsichtlich der Erwartung kann konstatiert werden: Die historische Belastung hemmte die Agendasetzung, daran sind grundsätzlich beide Politiken betroffen. Allerdings sollte man das unterschiedliche Ausmaß beachten. Dazu kann man das christliche, das na- tionalsozialistische und das regulatorische Erbe differenzieren. Die historische Belastung durch den Nationalsozialismus hatte bremsende Wirkung auf die Agendasetzung. Diese Wirkung war umso stärker, je direkter der Inhalt einer Biomedizinpolitik mit dem Unrecht aus dem Dritten Reich vergleichbar ist. Die regulatorische Erblast bremste umso mehr, je umfangreicher die Materie in der Vergangenheit reguliert wurde bzw. an Dritte zur Selbst- regulierung ausgelagert worden war.

Externe Einflüsse Es wurde auch die Annahme getroffen, dass es externe Einflüsse auf die Agendasetzung der Sterbehilfe und embryonalen Stammzellforschung gebe:

Erwartung 3: Internationale rechtliche Vorgaben und/oder Policy-Wandel in anderen Staaten beschleunigen die Agendasetzung.

Bei der Sterbehilfe und bei der embryonalen Stammzellforschung gab es im Untersu- chungszeitraum keine internationalen Regime, die eine direkte rechtliche Vorgabe zum nationalen Umgang mit diesen Politiken gemacht hätten. Einen Einfluss auf die Agen- dasetzung hat es von supranationaler Ebene nicht gegeben. Es gibt zwar internationale Übereinkommen und im Fall der Sterbehilfe auch Urteile, diese haben jedoch keine bin-

320 Vergleich der Fallstudien I und II dende Wirkung bzw. keine Aufforderung an den deutschen Gesetzgeber beinhaltet, eine nationale rechtliche Anpassung vorzunehmen. Indirekte Einflüsse gab es bei beiden Politiken durch den Regulierungswandel in an- deren Staaten. Bei der Sterbehilfe wurde durch die liberalen Regulierungen in den Nach- barstaaten Schweiz, Niederlande und Belgien und ihre teilweise direkten Auswirkungen („Sterbetourismus in die Schweiz“) zumindest eine Diskussion in Deutschland angestoßen. Einen externen Einfluss unterhalb verbindlicher Vorgaben gab es insbesondere im Fall der embryonalen Stammzellforschung über den Regulierungswandel in anderen Län- dern und auf europäischer Ebene (durch das 7. Forschungsrahmenprogramm). Dieser Druck auf den deutschen Gesetzgeber, auf die Liberalisierungen der anderen Staaten zu reagieren, zeigte sich deutlich in der Diskussion über eine Reform der bestehenden strikten Regulierung des Embryonenschutzes. Er herrschte über die Agendasetzung hinaus und wirkte in der Phase der Politikentscheidung. Daher muss die Erwartung bzgl. des externen Einflusses differenziert werden: Inter- nationale rechtliche Vorgaben hatten keinen Einfluss auf die Agendasetzung, wohl aber die Liberalisierungen in anderen Staaten. Diese wirkten auf beide Politiken. Unterschieden werden kann allerdings zwischen der Liberalisierung der Sterbehilfe, welche im deutschen Diskurs eine überwiegende Abwehrhaltung hervorrief und keine ökonomischen Wettbe- werbsnachteil befürchten ließ und den Liberalisierungsabsichten auf dem Gebiet der Stammzellforschung in anderen Staaten, durch die ebensolche Befürchtungen über wissen- schaftliche und wirtschaftliche Nachteile aufkamen. Daher sollten im Fall von Biomedi- zinpolitiken zwischen monetären externen und ideellen externen Einflüssen differenziert werden: Erstere führen vergleichsweise zügiger zur Agendasetzung und beeinflussen auch die Politikentscheidung.370 Zudem zeigt sich im Vergleich innerhalb der Sterbehilfe, dass eine Agendasetzung dann zügiger erfolgt, wenn externe Ereignisse direkten Einfluss auf Deutschland nehmen, wie es im Fall der Sterbehilfeorganisation Dignitas geschehen ist. Mithin lässt sich weiter zwischen den Wirkungsgraden unterscheiden: Je unmittelbarer externe Einflüsse auf Deutschland wirken, desto zügiger findet die Agendasetzung statt.

Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polarisierung Die Wirkung von gesellschaftlichen Werteinstellungen und Polarisierung muss nach der Analyse differenzierter betrachtet werden als dies durch die aufgestellten Erwartungen a priori vermutet wurde:

370 Darüber hinaus ist auch zu vermuten, dass latente Moralpolitiken generell anfälliger für monetären externen Einfluss sind als manifeste Moralpolitiken. Dies kann hier aber nicht mit Sicherheit bestimmt werden und müsste in weiteren Untersuchungen geprüft werden. 321 Kapitel 8

Erwartung 4a: Eine abweichende Mehrheitsmeinung der Gesellschaft vom regu- lativen Status quo beschleunigt die Agendasetzung.

Erwartung 4b: Eine starke gesellschaftliche Polarisierung beschleunigt die Agen- dasetzung.

Sowohl bei der Sterbehilfe als auch bei der embryonalen Stammzellforschung gab es in der Bevölkerung keine Polarisierung. Hier lässt sich also kein entscheidender Unterschied im Hinblick auf das unterschiedliche Regulierungstempo feststellen. Wie die Umfragen zeig- ten, war die Mehrheit der Befragten gegen eine embryonale Stammzellforschung und für eine liberalere Regulierung der Sterbehilfe. Diese abweichende Meinung vom Status quo scheint sich aber nicht auf die Agendasetzung niedergeschlagen zu haben, da sich kein zeitlicher oder inhaltlicher Zusammenhang nachweisen ließ. So wurde von den politischen oder gesellschaftlichen AkteurInnen im Diskurs nie auf die Meinung der Bevölkerung um- fassend Bezug genommen oder diese als Rechtfertigung für eine Agendasetzung oder Poli- tikentscheidung herangezogen. Daher kann die Erwartung, dass die Meinung der Bevölke- rung einen Einfluss auf die Agendasetzung hat, wenn sie vom Status quo abweicht, für die vorliegende Studie nicht bestätigt werden. Die sich öffentlich äußernden Interessengruppen, wie beispielsweise die Kirchen, waren gegen den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe. Bei der passiven Sterbehilfe gab es im Untersuchungszeitraum ein Umdenken, welches zum Policy-Wandel beitrug. Das Thema Sterbehilfe war im Untersuchungszeitraum immer wieder Gegenstand von akademischen und gesellschaftlichen Debatten. Von der Politik wurde es hingegen ver- gleichsweise selten aufgegriffen. In ein paar Fällen erfolgten jedoch eine politische Prob- lemdefinition und eine Agendasetzung: insbesondere ab 1999, als die Patientenverfügung auf politischer Ebene diskutiert wurde, und Mitte der 2000er Jahre mit der einsetzenden Diskussion über die organisierte Sterbehilfe. Bei der embryonalen Stammzellforschung gab es eine starke Polarisierung über die am Diskurs beteiligten Interessengruppen. Damit wurde das Thema Gegenstand umfassen- der öffentlicher Debatten und kam auf die politische Agenda. Biomedizinpolitiken werden umso zügiger auf die politische Agenda gesetzt, je kontroverser und umfassender die Dis- kussionen von Interessengruppen betrieben werden. Eine Agendasetzung findet auch statt, wenn es einflussreiche Interessengruppen gibt, die eine Abweichung vom Status quo for- dern.

322 Vergleich der Fallstudien I und II

Ein entscheidender Unterschied ist zudem, ob das Streitthema bereits durch den Ge- setzgeber reguliert ist oder nicht-staatlicher Selbstregulierung unterliegt. Ist Ersteres – wie bei der embryonalen Stammzellforschung – der Fall, dann kommt das Thema nur auf die Agenda, wenn es mindestens eine einflussreiche gesellschaftliche Organisation gibt, die einen Regulierungswandel anstoßen will. Unterliegt das Thema aber nicht-staatlicher Selbstregulierung, gibt es also eine Regulierungslücke, kommt das Thema auch durch ver- gleichsweise kleine gesellschaftliche AkteurInnen auf die politische Agenda. Indem diese AkteurInnen die Lücke nutzen, fordern sie den Staat heraus. Die zahlenmäßig stärkere Gegnerschaft wird nun eine staatliche Regulierung anstreben. So wurde bei der Sterbehilfe die Agendasetzung durch die Dignitas bzw. Roger Kusch forciert. Daher hat sich die libe- ralere gesellschaftliche Einstellung an einzelnen Stellen kristallisiert in Form von radikalen Kleingruppen oder Einzelpersonen. Dies war vor allem möglich, weil es eine Regulie- rungslücke gab. Es kann zusammenfassend konstatiert werden, dass über den Einfluss der Bevölke- rung auf Biomedizinpolitiken keine direkte Aussage gemacht werden kann. Allerdings zeigt sich dieser Einfluss teilweise in der Formierung und Agitation von Interessengrup- pen, die bei abweichender Haltung vom Status Quo und durch Polarisierung Agendaset- zung betreiben können. Dies ist umso eher der Fall, wenn eine Regulierungslücke herrscht, welche den Gruppen Spielraum für provokative Aktionen oder Drohungen gegenüber dem Gesetzgeber lässt.

Parteiinteressen und -konfliktlinien Zwei Erwartungen wurden bezüglich der Parteiinteressen und –konfliktlinien aufgestellt.

Erwartung 5a: Verläuft die religiös-säkulare Konfliktlinie quer durch die Re- gierungskoalition, dann verlangsamt dies die Agendasetzung.

Erwartung 5b: Bei latenten Politiken kommt es zügiger zu einer Agendasetzung als bei manifesten Politiken.

Wie bereits in den Abschnitten zu den Erkenntnissen aus den jeweiligen Fallanalysen (6.6.2 und 7.6.2) dargelegt wurde, kann die Annahme, dass eine in der Regierungskoalition vorhandene religiös-säkulare Konfliktlinie zu einer Verzögerung der Regulierungsge- schwindigkeit führt, nicht bestätigt werden. Die Vermutung, dass latente Biomedizinpoliti- ken eine zügigere Agendasetzung erfahren als manifeste, kann hingegen bejaht werden. Die Sterbehilfe als manifeste Biomedizinpolitik wurde lange Zeit von der politischen 323 Kapitel 8

Agenda ferngehalten, da die interne Gespaltenheit der Parteien nicht durch Aushandlungs- prozesse überwunden werden konnte. Die embryonale Stammzellforschung fand hingegen sehr zügig den Weg auf die politische Agenda, und es kam sehr schnell zu einer Politikent- scheidung. Hier könnte eine Rolle gespielt haben, dass latente Moralpolitiken generell mehr Spielraum zur Aushandlung lassen, weil sie auch nicht-wertbasierte Interessen bein- halten. Hier waren sie vor allem ökonomischer Natur, denn viele AkteurInnen befürchte- ten, wirtschaftlich und wissenschaftlich hinter anderen Staaten zurückzufallen. Im Fall der embryonalen Stammzellforschung fand tatsächlich eine Aushandlung statt, an deren Schluss ein Gesetzesantrag in Form eines Kompromisses stand.

Gerichte Auch die Erwartung bezüglich des Einflusses der Gerichte muss nach den Fallanalysen differenzierter betrachtet werden:

Erwartung 6: Gerichtsentscheide forcieren die Agendasetzung.

Die Judikative verzeichnet im Fall der embryonalen Stammzellforschung keine direkte und allenfalls eine indirekte Einflussnahme durch die Entscheidungen zum Schwangerschafts- abbruch. Gerichtsurteile zur Forschung hat es nie gegeben. Bei der Sterbehilfe gab es hingegen eine Reihe von wegweisenden Einzelfallent- scheidungen. Diese hatten ihren Ursprung in der herrschenden rechtlichen Grauzone, die durch diese Urteile teilweise geklärt wurde. Die Gerichte nahmen zunächst Druck vom Gesetzgeber, zu einer legislativen Regulierung zu gelangen. Daher sind Gerichte, solange sie keine direkte Aufforderung an den Gesetzgeber richten, eine konkrete Regulierung zu ändern, mit ihren Urteilen zunächst Bremser der Regulierungsgeschwindigkeit. Häufen sich aber die Gerichtsurteile, welche aufgrund von mangelnder gesetzlicher Klarheit gefällt wurden, dann erhöht sich der Druck auf den Gesetzgeber, und es kommt schließlich zur Agendasetzung. Die Erwartung über den Einfluss von Gerichten auf die Agendasetzung wird daher spezifiziert. Es wird von einem u-förmigen Zusammenhang ausgegangen: Zunächst kön- nen Gerichte das Reformtempo verlangsamen, da sie durch ihre Entscheidungen den Druck von der Politik nehmen, eine legislative Entscheidung zu treffen. Mit zunehmender Zeit- spanne und einer wachsenden Zahl von Urteilen üben sie jedoch zunehmenden Druck zur Agendasetzung aus. Im Vergleich zur embryonalen Stammzellforschung wurden bei der

324 Vergleich der Fallstudien I und II

Sterbehilfe also zunächst die Agendasetzung und das Reformtempo durch die Gerichtsur- teile verlangsamt.

8.2 Entscheidungsfindung

Die Diskussion über die Patientenverfügung führte schließlich 2009 zu deren gesetzlicher Umsetzung. Die Diskussion über die organisierte Sterbehilfe verlief dagegen trotz mehre- rer Anläufe bis Ende des Untersuchungszeitraums im Sande, Gesetzentwürfe wurden in den Bundestag eingebracht und wieder verworfen, Debatten verschoben oder durchgeführt ohne legislative Folgen. Die embryonale Stammzellforschung schaffte es relativ zügig auf die politische Agenda. Ebenso zügig kam es zu einer grundsätzlichen Entscheidung An- fang 2002. Welche Faktoren führten zu diesem unterschiedlichen Tempo in der Entschei- dung für einen Regulierungswandel?

Institutionelle VetospielerInnen Es wurde erwartet, dass der Einfluss der institutionellen VetospielerInnen mit der Art der Biomedizinpolitik zusammenhängt.

Erwartung 7: Institutionelle VetospielerInnen bremsen die Politikentscheidung bei manifesten Biomedizinpolitiken stärker als bei latenten Politi- ken.

Im Fall der embryonalen Stammzellforschung ist keiner bzw. keine der potenziellen Veto- spielerInnen aktiv geworden und hat eine Politikentscheidung verhindert. Bei der Sterbe- hilfe ist eine Initiative bereits innerhalb des Bundesrates blockiert worden. Zudem wurden Anstrengungen einer Regulierung mit Hinsicht auf die antizipierte Ablehnung des Bundes- rates im Bundestag bzw. von den Regierungsparteien verworfen. Die institutionellen Veto- spieler Bundesrat und Bundestag sind also aktiv geworden, allerdings haben sie sich nicht nur gegenseitig blockiert. Es wurden auch innerhalb der Institutionen Initiativen wieder abgesetzt. Dies war nicht immer parteipolitisch motiviert. Vielmehr antizipierte man die ablehnende Haltung der jeweils anderen Kammer bzw. war intern mit den eigenen Vor- schlägen nicht zufrieden. Institutionelle VetospielerInnen spielten also eine Rolle beim Regulierungstempo, da sie dieses im Fall der Sterbehilfe deutlich verlangsamten. Die Er- gebnisse stützen die Erwartung, dass VetospielerInnen bei manifesten Moralpolitiken eher

325 Kapitel 8 eine Politikentscheidung blockieren und somit das Reformtempo verlangsamen als bei la- tenten und eher aushandelbaren Politiken.

Parteipolitische VetospielerInnen Bezüglich des Einflusses von parteipolitischen VetospielerInnen wurden vier Erwartungen formuliert. Die Erwartungen 8a und 8b, welche Zusammenhänge der ideologischen Grund- ausrichtung der Parteien mit ihren Bestrebungen zur Restriktivierung bzw. Liberalisierung von Biomedizinpolitiken und damit über das Reformtempo aufstellen, müssen verworfen werden.

Erwartung 8a: Religiös-konservative Parteien bremsen liberalisierende Politik- entscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikent- scheidungen.

Erwartung 8b: Säkulare und liberale Parteien beschleunigen liberalisierende Po- litikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politikent- scheidungen.

Bei beiden Biomedizinpolitiken waren bis auf die FDP alle Bundestagsparteien intern ge- spalten: Im Fall der Sterbehilfe war es tatsächlich vor allem die CDU/CSU, die eine ver- schärfte Gesetzgebung forderte. Allerdings war sie intern nicht völlig homogen. Zudem sprachen sich auch Teile der SPD für eine Restriktivierung des assistierten Suizids aus. Bei der embryonalen Stammzellforschung gingen die Grenzen ebenfalls quer durch die Partei- en. Daher lässt sich der Unterschied im Reformtempo nicht durch die ideologische Aus- richtung der Parteien erklären. Die Erwartungen 8c und 8d müssen eingehender betrachtet werden:

Erwartung 8c: Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Venue-Shifting. Dies verlangsamt die Politikent- scheidung.

Erwartung 8d: Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann betreiben sie Reframing oder Gewissensentscheidung. Diese be- schleunigen die Politikentscheidung.

326 Vergleich der Fallstudien I und II

Sowohl bei der embryonalen Stammzellforschung als auch bei der Sterbehilfe fand ein Venue-Shifting statt. In beiden Fällen kam dies durch die interne Gespaltenheit der politi- schen Parteien zustande. Man hoffte mit der Auslagerung der heiklen Politik, sich des Themas zu entledigen oder einen konsensfähigen Entscheidungsvorschlag zu erhalten. Bei der Sterbehilfe wurden im Laufe der Zeit beide externen Gruppen bemüht, die Ärzteschaft und die Enquete-Kommission. Bei der embryonalen Stammzellforschung gab es im Ge- gensatz zur Sterbehilfe keine Selbstregulierung über ein Pendant zur Ärzteschaft, aber auch eine Auslagerungsstrategie an die Enquete-Kommission und den Nationalen Ethikrat. So kann zum einen davon ausgegangen werden, dass diese Auslagerung zu einem verlangsamten Reformtempo führt, weil sie den Druck von den politischen AkteurInnen nimmt, eine gesetzliche Regulierung vorzunehmen. Diese Auslagerung unterscheidet sich jedoch von derjenigen an Gruppen, die Teile des politischen Systems sind und von der Politik direkt beauftragt wurden, sich eines Regulierungsgegenstandes anzunehmen, mit dem Ziel einen Vorschlag zur Novellierung zu erarbeiten (beispielsweise die Enquete- Kommission des Bundestages). Sie unterscheidet sich auch von Instanzen, wie dem Natio- nalen bzw. Deutschen Ethikrat, der um eine Experteneinschätzung zur ethischen Abwä- gung gebeten wird. In diesen Fällen kann eine Auslagerung zwar zunächst zu einer Ver- langsamung des Reformprozesses führen, weil eine Instanz mehr in den Entscheidungspro- zess eingeschaltet wird. Da diese Instanz jedoch zur Überwindung der Blockade in den politischen Arenen beiträgt, führt dies zur Politikentscheidung und insgesamt zu einem höheren Reformtempo als ohne diese Instanzen. Wie bei den Gerichten kann hier von ei- nem zeitlich u-förmigen Zusammenhang ausgegangen werden. Ein zweiter Faktor ist hier von entscheidender Bedeutung: der Problemdruck. Dieser muss groß sein, um auch in den oben genannten Instanzen ein hohes Behandlungstempo zu gewährleisten und die Ent- scheidungsprozesse nicht versanden zu lassen. Dies ist im Fall der embryonalen Stamm- zellforschung so geschehen: Die Enquete-Kommission und der Nationale Ethikrat beschäf- tigten sich mit dem Thema, gleichzeitig war die Problemperzeption (siehe Abschnitt 8.1) extrem hoch, was eine zügige Behandlung in diesen Gremien zur Folge hatte. Dieser Druck war hingegen bei der Sterbehilfe kaum vorhanden. Hier kann die Verknüpfung zur bisher nicht vollständigen Spezifizierung der Wirkung des historischen und politischen Erbes und externer Einflüsse vorgenommen werden: Gibt es eine plötzliche, stark anstei- gende Problemwahrnehmung, kann die bremsende Wirkung historischer Pfadabhängigkei- ten überwunden werden. Liegt die Regulierung zudem beim Staat und nicht bei externen AkteurInnen, dann beschleunigen sich die Problemdefinition und die Agendasetzung. Des Weiteren konnte bei der embryonalen Stammzellforschung beobachtet werden, dass es

327 Kapitel 8

über alternative Venues zu einer Kompromissfindung und Gesetzesvorschlägen kam, wel- che eine stabile Mehrheit fanden. Daher muss die Erwartung 8c modifiziert werden: Venue-Shifting verlangsamt zwar zunächst den politischen Prozess durch das Hinzuschalten weiterer Instanzen, kann aber insgesamt eine beschleunigende Wirkung haben, weil diese Instanzen einen tragfähigen Kompromissvorschlag erarbeiten können. Zudem muss der Ko-Faktor einer hohen Prob- lemperzeption vorhanden sein, um zeitlichen Druck auszuüben und das Tempo des Ent- scheidungsprozesses hochzuhalten. Bei Venue-Shifting in politikferne Instanzen, welche die Regulierungslücke „verwalten“ und praktisch füllen, wird das Reformtempo gebremst. Bezüglich des Einflusses des Reframing und der Gewissensentscheidung muss die Erwartung ebenfalls konkretisiert werden: Es gibt einen Unterschied zwischen dem (Re-) Framing des Politikgegenstandes und dem Framing des Politikentscheidungsprozesses. Im Fall der embryonalen Stammzellforschung wurde letztere Form angewendet: Die Strategie, eine Gewissensentscheidung im Bundestag zuzulassen, wurde als optimales und befrieden- des Verfahren geframed und eine Beschleunigung und hohe Akzeptanz des Abstimmungs- ergebnisses erreicht. So wurden nicht nur parteipolitische Konflikte umgangen. Man sorgte auch für eine allgemein hohe Akzeptanz der Entscheidung, sodass etwaige Blockadeversu- che über den Bundesrat oder durch Anrufung der Gerichte unterblieben. Die Entscheidung selbst konnte zwar nicht durch ein Reframing von der moralischen Kontroverse befreit und versachlicht werden. Aber man ging den umgekehrten Weg: Die Entscheidung wurde als außergewöhnliche Herausforderung für jeden Abgeordneten und jede Abgeordnete ge- framed. Damit ließ sich die Gewissensentscheidung wiederum rechtfertigen und eine hohe Akzeptanz der Entscheidung sichern. Diese Strategie führte 2002 und 2008 zum Erfolg. Diese Framingstrategie wurde bei der Sterbehilfe im Untersuchungszeitraum kaum angewendet. Lediglich bei der Einführung der Patientenverfügung gelang ein positives Framing der Gewissensentscheidung. Sie führte zu einem stabilen Politikergebnis.371 Zusammengefasst kann man sagen, dass das Reframing des Politikgegenstandes als nicht-moralische Biomedizinpolitik weder bei der Sterbehilfe noch bei der embryonalen Stammzellforschung erfolgt ist. Daher kann diese Strategie nicht als Erklärungsfaktor für das Reformtempo herangezogen werden. Allerdings kann man schlussfolgern, dass das Framing des Entscheidungsprozesses beschleunigend auf das Reformtempo wirkt. Hier gehen Framing und Gewissensentscheidung Hand in Hand.

371 Es kann vermutet werden, dass hier ein (politikübergreifender) Lerneffekt auch Auswirkungen auf die Entschei- dung zur Patientenverfügung und auf die Entscheidung zum assistierten Suizid 2015 hatte. Nachdem andere Stra- tegien versagt hatten, glückte die Abstimmung als Gewissensentscheidung, begleitet von einem entsprechenden Framing. Dies ist aber nur eine Vermutung und sollte in weiteren Studien überprüft werden. 328 Vergleich der Fallstudien I und II

Gesellschaftliche VetospielerInnen Die Erwartungen bezüglich der gesellschaftlichen VetospielerInnen lauteten:

Erwartung 9a: Die Kirchen bremsen liberalisierende Politikentscheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikentscheidungen.

Erwartung 9b: NaturwissenschaftlerInnen, WirtschaftsvertreterInnen und Ärz- teschaft beschleunigen liberalisierende Politikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politikentscheidungen.

Sowohl bei der Sterbehilfe als auch bei der embryonalen Stammzellforschung haben ge- sellschaftliche VetospielerInnen versucht, auf die politischen EntscheidungsträgerInnen Einfluss zu nehmen, wie die umfangreichen Diskurse zeigen. In beiden Fällen haben die Kirchen und die Ärzteschaft eine restriktive Haltung an den Tag gelegt, wobei sich die Ärzteschaft bei der Sterbehilfe wesentlich umfangreicher einbrachte als bei der embryona- len Stammzellforschung. Die Kirchen haben sich insbesondere bei der embryonalen Stammzellforschung im Zeitverlauf gespalten: Während die katholische Kirche die For- schung immer ablehnte, war die evangelische Kirche bei der Debatte über die Stichtags- verschiebung mit ihrer pluralistischen Meinungskultur diverser und liberaler eingestellt. Daher muss die Erwartung 9a, dass sich die Kirchen gegen eine Liberalisierung stemmen, modifiziert werden. Die Kirchen können eine Entscheidung, die ihrem Willen entgegenläuft, zwar nicht verhindern. Sie können sie aber verzögern, indem sie die Debatte als Vetospielerinnen beeinflussen. Eine Spaltung zwischen katholischer und evangelischer Kirche bedeutet dann eine weitere Schwächung des Nein-Lagers und damit eine Abnahme der Kontroverse und Zunahme des Reformtempos. Diese Erkenntnis lässt sich jedoch nur teilweise aus dem Vergleich der beiden Politiken gewinnen, sondern vor allem über den Längsschnitt in der embryonalen Stammzellforschung mit den beiden Entscheidungen von 2002 und 2008. Durch das unterschiedlich umfangreiche Engagement der Ärzteschaft über beide Politiken hinweg kann man schließen, dass es im Fall der embryonalen Stammzell- forschung eine weniger umfangreiche Opposition durch gesellschaftliche Gruppen gab, als bei der Sterbehilfe. Dies hatte eine positive Wirkung auf das Reformtempo. Die Erwartung, dass NaturwissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und Wirtschaftsvertrete- rInnen das Reformtempo in Richtung Liberalisierung erhöhen, muss ebenfalls verworfen bzw. durch eine neue, allgemeinere Erwartung ersetzt werden. Diese AkteurInnen haben sich in die Debatte um die Sterbehilfe so gut wie gar nicht eingebracht. Bei der embryona-

329 Kapitel 8 len Stammzellforschung war die Ärzteschaft gegen eine Liberalisierung, die Naturwissen- schaftlerInnen waren dafür. Einfluss auf das Reformtempo hat die Hegemonie der BefürworterInnen oder der GegnerInnen. Bei der Sterbehilfe gab es keine umfassend tätige und einflussreiche Interes- sengruppe, welche für eine Liberalisierung geworben hat. Bei der embryonalen Stammzell- forschung hingegen schon. Dort waren BefürworterInnen wie GegnerInnen wesentlich umfangreicher aktiv, was zunächst die Agendasetzung beschleunigte. Wie der Vergleich der beiden Entscheidungen zur Stammzellforschung zeigt, kommt eine Politikentscheidung umso schneller und mit weniger Kontroversen zustande, je deutlicher die Hegemonie einer Seite ausfällt. 2008 war nur noch mit der katholischen Kirche eine große Gegnerin einer Liberalisierung verblieben, die evangelische Kirche war in ihrer Haltung gespalten. Dem- entsprechend dominierte das Lager der BefürworterInnen die Debatte. Die Debatte zur zweiten Entscheidung wurde in wesentlich geringerem Umfang geführt.

AkteurInnenkoalitionen und Diskurse Und schließlich wurde eine Erwartung bezüglich der Koalitionen und Diskurse formuliert:

Erwartung 10: Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das Policy-Image einer Biomedizinpolitik zu dominieren, desto höher ist das Tempo der Politikentscheidung.

Die Diskursanalyse der Sterbehilfe zeigte auf, dass das Thema zunächst kaum in der Öf- fentlichkeit und noch weniger in den politischen Reihen diskutiert wurde. Die ver- schiedensten kollektiven AkteurInnen brachten sich ein. Die Uneinigkeit innerhalb und zwischen den AkteurInnen spiegelte sich im Diskurs wider. Die Bundestagsparteien ver- mieden zunächst eine Regulierung des Themas und haben damit das Feld anderen überlas- sen, namentlich der Ärzteschaft und den Gerichten. Als das Thema auf die politische Agenda gesetzt wurde, gelang eine Politikentscheidung erst, nachdem als es zur Gewis- sensentscheidung deklariert wurde. Im aktuellen Fall des assistierten Suizids wurde die Federführung vom Justizministerium zum Gesundheitsministerium verlagert, vermutlich um mit einem gesundheitspolitischen Framing den Konflikt zu entschärfen. Dies war auch bei der embryonalen Stammzellforschung der Fall. Hier wurde der Diskurs jedoch wesentlich kompakter und umfangreicher geführt. Die BefürworterInnen der Forschung setzten den GegnerInnen mit der „Ethik des Heilens“ ein starkes Pro- Argument entgegen. Gleichzeitig wurde ein Gesetzentwurf, der eine eingeschränkte Libe-

330 Vergleich der Fallstudien I und II ralisierung vorsah, von den BefürworterInnen geschickt als Kompromisslösung geframed. So kam es im Fall der embryonalen Stammzellforschung sehr rasch zu einer tragfähigen politischen Entscheidung. Die GegnerInnen der Forschung beriefen sich auf Art. 1 GG, der die Würde des Menschen als unantastbar deklariert. Andererseits pochten BefürworterInnen der For- schung auf Art. 5 GG, der die Forschungsfreiheit garantiert. Insgesamt wurde das Thema als ethischer Grundkonflikt zwischen Menschenwürde und Heilungsauftrag geframed. Dass dies keinesfalls das übliche Muster ist, zeigt zum Beispiel die Debatte in den USA, wo man wesentlich praxisorientierter und unter dem Nutzenaspekt über die Vor- und Nachteile der Forschung debattierte und weniger einen Konflikt über die mögliche Tötung von menschlichem Leben sah (Gottweis 2002: 460). Bei beiden Moralpolitiken bemühten sich die beteiligten AkteurInnen intensiv da- rum, die Debatten jeweils mit Argumenten zu ihren Gunsten zu framen. Bei der embryona- len Stammzellforschung erfolgte schließlich eine Entscheidung zugunsten der Forschung, weil es einer Gruppe von Politikern gelang, ihren Vorschlag als Kompromiss in einer fest- gefahrenen Situation zu präsentieren. Bei der Sterbehilfe war es den BefürworterInnen möglich, die Patientenverfügung und damit die passive Sterbehilfe als legitime Forderung nach Selbstbestimmung zu framen. Beim ärztlich assistierten Suizid konnte keine Seite ihre Ansicht durchsetzen. Beim gewerblich organisierten assistierten Suizid war wiederum das Argument vorherrschend, dass man andere nicht gegen Geld töten solle. Es muss allerdings in beiden Fällen angeführt werden, dass die Diskurse vor allem Auswirkungen auf die anderen gesellschaftlichen und politischen AkteurInnen hatten. Die breite Bevölkerung wurde davon nicht angesprochen. Das zeigt sich darin, dass sie mehr- heitlich weiterhin gegen die embryonale Stammzellforschung war und sich eine liberalere Haltung in der Sterbehilfe wünschte. Daher kann die Erwartung bestätigt werden: Je um- fassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das Policy-Image zu ändern bzw. zu dominieren, desto höher ist das Reformtempo.

8.3 Zusammenfassung

Von den 17 aufgestellten Erwartungen aus dem Theoriekapitel (siehe Abschnitt 4.4) wur- den ein paar verworfen und ein paar wurden durch die Ergebnisse der Fallstudien vorläufig bestätigt. Eine Reihe von Erwartungen konnten modifiziert werden. Die Tabelle 8.1 und die Tabelle 8.2 sind eine auf Basis dieser Erkenntnisse aktualisierte Darstellung der Erwar- tungen. Die rechte Spalte gibt an, ob eine Erwartung bestätigt werden konnte; ob sie ver-

331 Kapitel 8 worfen werden musste, weil sie entweder nicht überprüfbar war oder nicht mit den Er- kenntnissen aus den Fallstudien übereinstimmte; ob sie modifiziert wurde und damit Gül- tigkeit erlangte; oder ob sie durch die Ergebnisse gänzlich neu formuliert wurde.

Tabelle 8.1: Erkenntnisse bzgl. der aufgestellten Erwartungen der Agendasetzung Nr. Erwartung Fazit Problemperzeption 1a Je höher die Problemperzeption bei den politischen AkteurInnen, bestätigt desto zügiger findet die Agendasetzung statt. 1b Moralische Panik führt zügiger zur Agendasetzung, als akkumulier- bestätigt te Informationen oder Grundsatzprobleme. Historisch-politische Erblast 2 Es wird differenziert zwischen dem christlichen, nationalsozialisti- modifiziert schen und regulatorischen Erbe. Die historische Belastung durch den Nationalsozialismus bremst die Agendasetzung. Diese Wirkung ist umso stärker, je direkter der Inhalt einer Biomedizinpolitik mit dem Unrecht aus dem Dritten Reich vergleichbar ist. Die regulatori- sche Erblast bremst umso mehr, je umfangreicher die Materie in der Vergangenheit reguliert wurde bzw. an Dritte zur Selbstregulierung ausgelagert ist. Externe Einflüsse 3 Der Einfluss internationaler rechtlicher Vorgaben konnte nicht verworfen/ überprüft werden, weil es keine entsprechenden Regime gibt. Daher modifiziert ist hier kein Einfluss vorhanden. Der Policy-Wandel in anderen Staaten beschleunigt die Agendasetzung. Je unmittelbarer externe Einflüsse auf Deutschland wirken, desto zügiger findet die Agen- dasetzung statt. Monetäre Einflüsse beschleunigen die Agendaset- zung stärker als ideelle Einflüsse. Gesellschaftliche Werteinstellungen und Polarisierung 4a Eine abweichende Mehrheitsmeinung der Gesellschaft vom regula- verworfen tiven Status quo beschleunigt die Agendasetzung. 4b Eine starke gesellschaftliche Polarisierung beschleunigt die Agen- verworfen dasetzung. 4c Unterliegt die Biomedizinpolitik im Wesentlichen nicht-staatlicher neu Regulierung, dann können auch vergleichsweise kleine AkteurInnen Einfluss auf die Agendasetzung nehmen. Liegt die Regulierung hin- gegen in staatlicher Hand, dann kommt das Thema auf die Agenda, wenn es mindestens einen starken gesellschaftlichen Akteur bzw. eine starke Akteurin gibt, der bzw. die einen Regulierungswandel anstoßen will. Parteiinteressen und –konfliktlinien 5a Verläuft die religiös-säkulare Konfliktlinie quer durch die Regie- verworfen rungskoalition, dann verlangsamt dies die Agendasetzung. 5b Bei latenten Politiken kommt es zügiger zu einer Agendasetzung als bestätigt bei manifesten Politiken.

332 Vergleich der Fallstudien I und II

Nr. Erwartung Fazit Gerichte 6 Der Einfluss von Gerichten auf die Agendasetzung ist – zeitlich modifiziert betrachtet – u-förmig. Zunächst können Gerichte das Reformtempo verlangsamen, da sie durch ihre Urteile den Druck von der Politik nehmen, eine legislative Entscheidung zu treffen. Mit zunehmender Zeitspanne und Anzahl an Urteilen steigt der Druck jedoch stark an, es kommt schließlich zur Agendasetzung. Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

Tabelle 8.2: Erkenntnisse bzgl. der aufgestellten Erwartungen der Politikentscheidung Nr. Erwartung Fazit Institutionelle VetospielerInnen 7 Institutionelle VetospielerInnen bremsen die Politikentscheidung modifiziert bei manifesten Politiken stärker als bei latenten Politiken. Dies tun sie auch durch interne Gespaltenheit. Parteipolitische VetospielerInnen 8a Religiös-konservative Parteien bremsen liberalisierende Politikent- verworfen scheidungen und beschleunigen restriktivierende Politikentschei- dungen. 8b Säkulare und liberale Parteien beschleunigen liberalisierende Poli- verworfen tikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politikentschei- dungen. 8c Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann modifiziert betreiben sie Venue-Shifting. Das verlangsamt zwar zunächst den Entscheidungsprozess, kann aber insgesamt eine beschleunigende Wirkung haben, wenn ein tragfähiger Kompromissvorschlag erar- beitet wird. Zudem muss der Ko-Faktor einer hohen Problem- perzeption vorhanden sein, um zeitlichen Druck auszuüben und damit das Tempo des Entscheidungsprozesses hochzuhalten. Bei Venue-Shifting in politikferne Instanzen, welche die Regulierungs- lücke „verwalten“ und praktisch füllen, wird die Politikentschei- dung gebremst. 8d Sind Parteien oder Regierungskoalitionen intern gespalten, dann modifiziert betreiben sie ein Reframing des Entscheidungsprozesses und der Gewissensentscheidung. Diese beschleunigen die Politikentschei- dung. Hier gehen Reframing und Gewissensentscheidung Hand in Hand. Gesellschaftliche VetospielerInnen 9a Die katholische Kirche versucht, liberalisierende Politikentschei- modifiziert dungen zu bremsen und restriktivierende Politikentscheidungen zu beschleunigen. Ohne den Partner EKD und mit starken progressiven gesellschaftlichen VetospielerInnen gelingt ihr das weniger gut. 9b NaturwissenschaftlerInnen, WirtschaftsvertreterInnen und Ärzte- verworfen schaft beschleunigen liberalisierende Politikentscheidungen und bremsen restriktivierende Politikentscheidungen.

333 Kapitel 8

Nr. Erwartung Fazit 9c Eine Politikentscheidung kommt umso schneller zustande, je deutli- Neu cher die Hegemonie einer gesellschaftlichen Koalition von Veto- spielerInnen ausfällt. AkteurInnenkoalitionen und der Diskurs 10 Je umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das bestätigt Policy-Image einer Biomedizinpolitik zu dominieren, desto höher ist das Tempo der Politikentscheidung. Quelle: Eigene Entwicklung und Darstellung.

334

9 Fazit und Ausblick

Das Kapitel gibt zunächst einen zusammenfassenden Überblick über das Ziel der Disserta- tion, die Durchführung und die Ergebnisse (Abschnitt 9.1). Es wird auf die Grenzen und mögliche Erweiterungen der Studie hingewiesen (Abschnitt 9.2). Das Kapitel schließt mit einem Ausblick auf die zukünftigen Herausforderungen in der Biomedizinpolitik in Deutschland (9.3) und dem möglichen politischen Umgang mit ihnen (9.4).

9.1 Zusammenfassung der Dissertation

Die vorliegende Dissertation ist der Frage nachgegangen, weshalb die embryonale Stamm- zellforschung und die Sterbehilfe in Deutschland in einem sehr unterschiedlichen Tempo reguliert wurden. Auf der einen Seite erfuhr die embryonale Stammzellforschung eine sehr zügige Regulierung. Der Gesetzgeber reagierte auf die wissenschaftliche Innovation von 1998 bereits 2002 mit einer entsprechenden Gesetzesänderung. Auf der anderen Seite hatte er in den letzten Jahrzehnten Mühe, sich des Themas Sterbehilfe anzunehmen und eine Gesetzesänderung vorzunehmen. Lediglich bei der passiven Sterbehilfe gelang im Jahr 2009 mit der Patientenverfügung eine indirekte Regulierung. Dabei ähneln sich diese Bio- medizinpolitiken: Bei beiden geht es um grundsätzliche Fragen nach Leben und Tod, nach den Grenzen des Lebens, um Selbstbestimmung und konkurrierende grundsätzliche Werte. Daher hätte man ein ähnliches Muster in der Regulierung vermuten können. Die bisherige Forschung zu Moralpolitiken ist relativ jung und hat ihren Ausgangs- punkt in US-amerikanischen Studien in den 1990er Jahren (vgl. u. a. Meier 1994, 2001; Mooney 2001c; Smith und Tatalovich 2003; Studlar 2001; Tatalovich et al. 1994). Im Lau- fe der Jahre beschäftigte sich die europäische Forschung zunehmend mit Moralpolitiken (vgl. u. a. Green-Pedersen 2007; Engeli et al. 2012; Hurka et al. 2016; Knill 2013a; Hei- chel et al. 2015a; Minkenberg 2002; Studlar und Burns 2015). Bisher ist man zum einen 335 Kapitel 9 der Frage nachgegangen, welche Faktoren einen liberalen oder restriktiven Regulierungs- wandel bedingen. Eine breite Diskussion gibt es auch über die Frage, was Moralpolitiken überhaupt sind, wie sie sich charakterisieren und von anderen Politiktypen unterscheiden lassen. Die Regulierungen in den westlichen Industrienationen zeigen insgesamt einen ein- deutigen liberalen Trend: Moralpolitiken werden tendenziell eher liberalisiert als restrikti- viert. Auffällig sind allerdings die unterschiedlichen Geschwindigkeiten in der Liberalisie- rung, und dies nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen Politiken in einem Staat (Adam et al. 2015; Knill et al. 2015c). Zu diesem Phänomen gibt es bisher wenige For- schungsarbeiten (Knill et al. 2014a; Adam et al. 2015). Es ist nicht klar, ob und wie weit die Faktoren, welche klassischerweise in der Staatstätigkeitsforschung zur Erklärung von Politikwandel herangezogen werden, unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Moralpo- litikregulierung erklären können. Zudem zeigen einzelne Studien auf, dass gerade bei um- strittenen, wertegeladenen Politiken der Diskurs in der Öffentlichkeit und unter den betei- ligten AkteurInnen einen Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen kann. Eine weitere Forschungslücke besteht in Bezug auf die Verbindung von institutionel- len Rahmenbedingungen, Erwartungen der klassischen Staatstätigkeitstheorien und dem Einfluss der AkteurInnen und ihres Diskurses auf die Regulierung bzw. Regulierungsge- schwindigkeit. Bei den stark wertbasiert und damit konfliktgeladen Moralpolitiken werden umfangreiche und kontroverse Diskurse im Vorfeld von politischen Entscheidungen ge- führt. Wenn übliche Verfahrensregelungen wie die Fraktionsdisziplin, bei moralpolitischen Entscheidungen aufgehoben werden, wird der Diskurs für die AkteurInnen umso wichtiger. Hier können sie versuchen, Verbündete für ihre Interessen zu finden.

Vorgehen In der Dissertation wurde ein Theoriegerüst auf Basis des akteurzentrierten (Mayntz und Scharpf 1995a, 1995b), des diskursiven Neoinstitutionalismus (Schmidt 2008, 2010a, 2010b; Schmidt und Radaelli 2004) und des durchbrochenen Gleichgewichts (vgl. u. a. Baumgartner und Jones 1991, 2009) entwickelt, welche klassische Erklärungsansätze um Erwartungen zum Einfluss von Diskursen erweiterten. Dabei wurden die Phasen der Agen- dasetzung und Politikentscheidung unterschieden. Um die aufgestellten Erwartungen zu überprüfen, wurde für den Untersuchungszeit- raum 1990 bis 2014 eine umfangreiche qualitative Untersuchung durchgeführt. Die dichten Einzelfallbeschreibungen wurden jeweils für die Sterbehilfe und die embryonale Stamm- zellforschung erstellt. Darin wurden die deutsche Regulierungsgeschichte sowie die exter- nen Einflüsse und die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse im Untersuchungszeit-

336 Fazit und Ausblick raum beschrieben und erste Rückschlüsse auf die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der Erwar- tungen gezogen. Diese Einzelfallbeschreibungen wurden ergänzt durch umfangreiche Netzwerkanalysen des öffentlichen Diskurses. Auch hier wurden die Ergebnisse mit den Erwartungen abgeglichen. Die anschließende vergleichende Fallanalyse nahm einen sys- tematischen Vergleich der beiden Politikfelder in Bezug auf die aufgestellten Erwartungen vor.

Ergebnisse Es zeigte sich, dass die meisten Erkenntnisse durch den Vergleich der beiden Politikfelder gewonnen werden konnten. Aber vereinzelt lieferte auch der intertemporale Vergleich wichtige Informationen. Die Problemperzeption spielte bei beiden Biomedizinpolitiken eine Rolle, jedoch wesentlich stärker bei der embryonalen Stammzellforschung. Sowohl die Sterbehilfe als auch die embryonale Stammzellforschung sind als Moralpolitiken mit Grundsatzproblemen behaftet. Jeder Einzelfall, beispielsweise jeder bekanntwerdende Fall eines assistierten Suizids oder des Verbrauchs eines Embryos zur Herstellung einer Stammzelllinie, kann einen Konflikt über grundlegende Werte auslösen. Dementsprechend führte im Untersu- chungszeitraum allein die Ankündigung von Sterbehilfeorganisationen, assistierten Suizid in Deutschland anbieten zu wollen, bzw. die Ankündigung der DFG, den Import von Stammzelllinien durchführen zu wollen, zu einem großen Echo und umfassenden Diskus- sionen in der Öffentlichkeit. Bei der Sterbehilfe zeigte sich zudem eine akkumulative Stei- gerung der Problemperzeption, bedingt durch Reformen in Nachbarstaaten, die Aktivitäten der Sterbehilfeorganisationen und diverse Gerichtsurteile, welche auf die unzureichende Regulierung hinwiesen. Diese zunehmende Problemperzeption führte nach Jahren schluss- endlich zur Agendasetzung. Im Unterschied dazu löste der Entwicklungsfortschritt von 1998 bei der Stammzellforschung einen moralischen Schock aus, führte viel schneller zur Agendasetzung und damit zu einem wesentlich höheren Reformtempo, als bei der Sterbe- hilfe. Bei beiden Biomedizinpolitiken kam die historisch-politische Erblast in Form der christlichen, nationalsozialistischen und regulatorischen Erblast zum Tragen. Die Agen- dasetzung der Sterbehilfe wurde allerdings dadurch stärker ausgebremst: Der inhaltliche Zusammenhang zum Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten war stärker als bei der Stammzellforschung; es gab eine jahrzehntelange Tradition der Tabuisierung in Deutsch- land; und die praktische Umsetzung des Sterbehilfeverbots war lange Zeit der Bundesärz- tekammer überlassen worden. Durch diese Auslagerung war der Gesetzgeber nicht unmit-

337 Kapitel 9 telbar gefordert, eine Agendasetzung zu betreiben. Daher wirkte die Erblast wesentlich stärker bremsend auf die Sterbehilfe als auf die embryonale Stammzellforschung. Externe Einflüsse gab es bei beiden Politiken nicht über internationale Übereinkom- men. Die Staaten sind frei in ihrer Regulierung. Indirekte Einflüsse gab es allerdings durch den Regulierungswandel in anderen Staaten. Bei der embryonalen Stammzellforschung wurden nicht nur die bereits bestehenden liberaleren Regime der anderen Staaten als Be- drohung der eigenen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit wahr- genommen, sondern auch beabsichtigte Liberalisierungen. Diese Sorge zeigte sich in den Diskussionen über eine Reform der deutschen Regulierung und wirkte über die Phase der Agendasetzung hinaus bis zur Politikentscheidung. Zudem rief die Liberalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden und Belgien in Deutschland mehrheitlich eine Abwehrre- aktion hervor, was den Status quo verstärkte; während es bei der Stammzellforschung hin- gegen zu einer Diskussion über die Liberalisierung kam. Die Einstellung der Bevölkerung hatte keinen Einfluss auf die Agendasetzung. Die Bevölkerung war zudem über beide Themen nicht polarisiert. Allerdings hatte die Gesell- schaft im Fall der Sterbehilfe eine insgesamt liberalere Haltung und im Fall der Stammzell- forschung eine konservativere Einstellung als die politischen AkteurInnen. Dass dies je- doch einen Einfluss auf die Agendasetzung gehabt hätte, lies sich in den Fallanalysen nicht nachweisen. In der politischen Debatte wurde die Einstellung der Bevölkerung nicht the- matisiert. Es handelte sich eher um eine Elitendiskussion mit breiter Beteiligung der Inte- ressenorganisationen. Letztere können zwar als das indirekte Sprachrohr der Bevölkerung verstanden werden. Es gab aber keine AkteurInnen, die sich mit ihren Äußerungen explizit auf die Bevölkerungsmeinung bezogen hätten. Allerdings kann es einen Unterschied bei der Agendasetzung machen, ob die umstrit- tene Politik bereits gesetzlich reguliert ist oder nicht-staatlicher Selbstregulierung unter- liegt. In letzterem Fall besteht eine Regulierungslücke und dadurch kommt das Thema auch durch vergleichsweise kleine gesellschaftliche AkteurInnen auf die politische Agen- da. Diese AkteurInnen fordern unter Ausnützung der Regulierungslücke den Staat heraus. Die Gegnerschaft wird dann eine staatliche Regulierung anstreben. Dieses Muster ließ sich im Fall des assistierten Suizids beobachten. Hier provozierten radikale Kleingruppen und Einzelpersonen die Agendasetzung. Der Einfluss von Parteiinteressen und -konfliktlinien auf die Agendasetzung weicht von den sonst üblichen Mustern ab. Die Erwartung, dass eine in der Regierungskoalition vorhandene religiös-säkulare Konfliktlinie zu einer Verzögerung der Regulierungsge- schwindigkeit führt, konnte nicht bestätigt werden. Die latente Biomedizinpolitik der emb-

338 Fazit und Ausblick ryonalen Stammzellforschung erfuhr aber eine zügigere Agendasetzung als die manifeste Politik der Sterbehilfe. Letztere wurde lange Zeit von der politischen Agenda ferngehalten, da die Parteien intern über das Thema uneinig waren und diese Blockade nicht durch Aus- handlungsprozesse überwinden konnten. Die embryonale Stammzellforschung wurde hin- gegen sehr zügig auf die Agenda gesetzt, vermutlich weil hier mit dem ökonomischen As- pekt ein weiteres, nicht moralisch gefärbtes und aushandelbares Interessen vorhanden war. Der Einfluss von Gerichten ließ sich über die Beobachtung innerhalb der Sterbehil- fepolitik im Zeitverlauf, nachweisen. Es zeigte sich, dass Gerichte das Reformtempo zu- nächst verlangsamen können, da sie durch ihre Urteile den Druck auf die politischen Ak- teurInnen reduzieren, eine Regulierung vorzunehmen. Mit zunehmender Zeitspanne und wachsender Zahl von Urteilen erhöhte sich jedoch der Druck, da das politische System nicht vorsieht, dass die Judikative legislative Aufgaben übernimmt. Ein Vergleich mit der embryonalen Stammzellforschung konnte hier nicht erfolgen, denn Gerichtsurteile zur For- schung hat es nicht gegeben. So kann dort kein aktiver Einfluss der Judikative nachgewie- sen werden. Man kann allerdings umgekehrt davon sprechen, dass durch die Passivität der Gerichte der Druck auf dem Gesetzgeber lastete, eine Regulierung vorzunehmen. Institutionelle VetospielerInnen spielten eine Rolle beim Regulierungstempo, da sie dieses im Fall der Sterbehilfe deutlich ausbremsten. Des Weiteren kann davon ausgegan- gen werden, dass VetospielerInnen bei manifesten Moralpolitiken eher eine Politikent- scheidung blockieren und somit das Reformtempo verlangsamen als bei latenten und damit aushandelbaren Politiken. Ähnlich wie bei den Erwartungen zu den Parteiinteressen, können hinsichtlich der parteipolitischen VetospielerInnen die aufgestellten Erwartungen nur teilweise bestätigt werden. Einen Zusammenhang zwischen der ideologischen Grundausrichtung der Parteien und dem Reformtempo gibt es nicht, da bis auf die FDP alle Bundestagsparteien bei beiden Biomedizinpolitiken intern gespalten waren. Es fand ein Venue-Shifting durch die interne Gespaltenheit der Parteien statt. Zwei Formen der Auslagerung können unterschieden wer- den: das interne und das externe Venue-Shifting: Eine Auslagerung an einen gesellschaftli- chen Akteur oder eine Akteurin – wie bei der Sterbehilfe geschehen – reduzierte den Druck auf die politischen AkteurInnen, eine gesetzliche Regulierung vorzunehmen. Bei einer Auslagerung an AkteurInnen, die Teile des politischen Systems sind und einen Auftrag zur Erarbeitung eines Kompromissvorschlags erhalten – wie bei der embryonalen Stammzell- forschung geschehen – kommt es hingegen zu einer schnelleren Politikentscheidung. Wo- hin das Venue-Shifting geht, hängt vermutlich auch mit der Höhe der Problemperzeption und dem Engagement der Öffentlichkeit und von Interessengruppen zusammen. Je größer

339 Kapitel 9 bzw. umfangreicher diese Faktoren sind, desto weniger ist es dem Gesetzgeber möglich, sich der Politik mittels externen Venue-Shiftings zu entledigen. Eine hohe Problemperzep- tion sorgt grundsätzlich dafür, dass das Thema auf der Agenda bleibt. Zudem kann Venue- Shifting zwar den Prozess zunächst verlangsamen, führt aber insgesamt zu einer stabilen Politikentscheidung. Eine Konkretisierung der Erwartung ist auch in Bezug auf das Refra- ming und die Gewissensentscheidung erfolgt: So sollte man zwischen dem (Re-)Framing des Politikgegenstandes und dem Framing des Politikentscheidungsprozesses unterschei- den. Bei der embryonalen Stammzellforschung wurde letztere Form erfolgreich angewen- det. Durch die Strategie, eine Gewissensentscheidung im Bundestag zuzulassen und dies als optimales Verfahren zu framen, wurde eine Beschleunigung und hohe Akzeptanz des Abstimmungsergebnisses erreicht. Diese Strategie wurde bei der Sterbehilfe nicht ange- wendet. Eine Ausnahme bildet die Entscheidung zur Patientenverfügung, dort war sie ebenfalls erfolgreich. Ein Reframing des Politikgegenstandes als nicht-moralische Biome- dizinpolitik ist bei beiden Biomedizinpolitiken nicht erfolgt. Das Framing des Entschei- dungsprozesses hatte hingegen beschleunigende Wirkung auf das Reformtempo. Bei beiden Biomedizinpolitiken haben gesellschaftliche VetospielerInnen versucht, Einfluss zu nehmen. Auch hier ließen sich Erkenntnisse durch die Betrachtung der beiden Politiken im Längsschnitt gewinnen. Die Beteiligung der Ärzteschaft bei Diskussion über die embryonale Stammzellforschung und die Beteiligung der Naturwissenschaften und VertreterInnen der Wirtschaft an der Debatte über die Sterbehilfe waren sehr gering. Die Kirchen brachten sich bei beiden Politiken in die Diskussion ein, sie konnten eine liberali- sierende Entscheidung allerdings nicht verhindern, sondern allenfalls als VetospielerInnen verzögern. Die Spaltung zwischen katholischer und evangelischer Kirche führte zu einer Schwächung des Nein-Lagers und dadurch zu einem erhöhten Reformtempo. Die Koalitionen von AkteurInnen und die von ihnen geführten Diskurse hatten einen Einfluss auf das Reformtempo. Zum einen spiegelten sich die in den Fallanalysen festge- stellten Erklärungsfaktoren für das Reformtempo auch in den Diskursanalysen wieder. In beiden Fällen bemühten sich die AkteurInnen intensiv darum, ihr Framing durchzusetzen. Bei der embryonalen Stammzellforschung setzten sich die BefürworterInnen schließlich nicht nur mit ihrem inhaltlichen Framing durch, sondern framten zudem den Entschei- dungsprozess: Es gelang ihnen, ihren Vorschlag als Kompromiss in einer festgefahrenen Situation zu framen. Bei der Sterbehilfe gelang es BefürworterInnen, die Patientenverfü- gung und damit die passive Sterbehilfe als legitime Forderung nach Selbstbestimmung zu framen. Beim ärztlich assistierten Suizid und bei der aktiven Sterbehilfe behielten hinge- gen die GegnerInnen die Deutungshoheit. Der Vergleich der beiden Politiken zeigte auf: Je

340 Fazit und Ausblick umfassender und zügiger es einer Diskurskoalition gelingt, das Policy-Image zu ändern bzw. zu dominieren, desto höher ist das Reformtempo.

Weitere Erkenntnisse Neben den durch die Überprüfung der theoretischen Erwartungen gewonnenen Ergebnis- sen, förderten die Fallanalysen weitere Erkenntnisse zutage, die hier kurz vorgestellt wer- den. Es zeigte sich bei beiden Politiken, dass die Einstellung der Bevölkerung wenig Ein- fluss auf den Gang der Debatte und den Politikprozess hatte. Zwar kann man davon spre- chen, dass sich die Interessen in Interessengruppen bündeln und von diesen im öffentlichen Diskurs und in der politischen Arena vertreten werden. Diese Rezeption geschieht jedoch gerade dann unvollständig, wenn wenige, starke InteressensvertreterInnen am Diskurs be- teiligt sind. Die Fallanalysen zeigen, dass es sich vielmehr um einen Elitendiskurs handel- te. Diese Erkenntnis widerspricht der gängigen Vorstellung von Moralpolitiken, bei denen gerade PolitikerInnen sensibel auf die Haltung ihrer Wählerschaft reagieren. Die Kirchen sind als Vetospielerinnen erfolgreich, wenn es weitere gesellschaftliche Verbündete gibt bzw. eine gute Verbindung zu entscheidenden politischen AkteurInnen vorhanden ist. Wenn es jedoch starke gesellschaftliche GegenspielerInnen gibt bzw. ein- flussreiche politische AkteurInnen nicht geschlossen auf der Linie der Kirchen liegen, dann haben diese kaum eine Chance, ihre Anliegen durchzusetzen. Der kirchliche Einfluss schwindet insbesondere dort, wo großer Druck auf politischen EntscheidungsträgerInnen lastet (z. B. ökonomischer Druck). Das war vor allem bei der embryonalen Stammzellfor- schung der Fall, als man Sorge hatte, den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen An- schluss an die anderen Nationen zu verlieren. Bei der Sterbehilfe hingegen gab es keinen ökonomischen Druck, und Liberalisierungen in anderen Staaten traten nur vereinzelt auf und hatten eine eher abschreckende Wirkung. Des Weiteren fiel im Vergleich der beiden Diskurse auf, dass der ökonomische Druck bei der embryonalen Stammzellforschung eine Rolle spielte. Jedoch wurde er nicht sehr prominent als Pro-Forschungsargument in den Vordergrund gestellt. Dies kann daran liegen, dass wirtschaftliche Argumente bei ethisch umstrittenen Politikfeldern als verpönt angesehen werden. Ob diese Vermutung aber zutrifft, bedürfte weiterer Untersuchungen auf Individualebene. Externe Einflüsse können entgegengesetzte Effekte haben. Während bei der embryo- nalen Stammzellforschung die Liberalisierungen in anderen Staaten die Agendasetzung in Deutschland beförderten, hatten sie bei der Sterbehilfe einen eher hemmenden Effekt: Die Einführung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden und in Belgien wurde in Deutsch-

341 Kapitel 9 land eher mit Unbehagen beobachtet; man fürchtete einen Dammbruch. Gleichzeitig häuf- ten sich die spektakulären Einzelfälle im In- und Ausland, die deutlich machten, dass die Sterbehilfe einer eindeutigeren Regulierung bedarf. Einen Unterschied machte, auf welche Interessengruppenkonstellation die externen Einflüsse in Deutschland trafen. Sie haben daher eher einen verstärkenden Effekt, als das Potenzial zu einer völligen Umkehr der je- weiligen Politik. Ergänzend sei hier auf die Regulierung des gewerblich assistierten Suizids hingewie- sen. Diese glückte erst Ende 2015 und war nicht Bestandteil der Untersuchung.372 Im Vor- feld der Entscheidung zur Patientenverfügung von 2009 war es den politischen AkteurIn- nen gelungen, mittels Kommissionen fern vom politischen Tagesgeschäft eine Lösung zu erarbeiten. Entscheidend war dann, dass die Abstimmung ohne Fraktionsdisziplin als Ge- wissensentscheidung stattfand. Sie ermöglichte eine Reform. Diese Strategie wurde zu- nächst im Fall des organisierten assistierten Suizids nicht angewendet, Regulierungsversu- che scheiterten folglich. Die Regierung aus CDU/CSU und SPD, welche Ende 2013 ihr Amt antrat, schien daraus gelernt zu haben. Im jüngsten Anlauf wurde die Politik zum ei- nen vom Justizministerium in das Gesundheitsministerium verlagert, also teilweise ein Reframing vorgenommen. Nun ging es nicht nur um die Feststellung von Recht und Un- recht, sondern auch um gesundheitspolitische Fragen wie die Behandlung von PatientInnen am Lebensende. Dies drückte sich darin aus, dass es parallel zu einer Diskussion über die Verbesserung der Sterbebegleitung kam. Zum anderen wurde bereits früh angekündigt, das Thema und die Abstimmung als Gewissensfrage ohne Fraktionsdisziplin zu behandeln (Bingener 2014). So kam es zu einer erfolgreichen Abstimmung, die global gesehen eine Restriktivierung vornahm, indem sie den gewerblich assistierten Suizid verbot.373

9.2 Grenzen der Studie und mögliche Anknüpfungspunkte

In der Studie wurde der Versuch unternommen, auf Basis eines breiten theoretischen Ge- rüstes der Frage nach dem Regulierungstempo bei Biomedizinpolitiken nachzugehen. So war es ein zentrales Anliegen, den relativ neuen Ansatz des diskursiven Institutionalismus aufzunehmen, um die Bedeutung des Diskurses am politischen Entscheidungsprozess nachzuweisen. Um diesen Nachweis zu verfestigen bzw. zu verfeinern oder zu modifizie- ren, wäre eine Übertragung auf andere Moralpolitiken denkenswert. Auch stellt sich die

372 Annahme des Gesetzentwurfs: Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw45_de_sterbebegleitung/392450 (abgerufen am 14.07.2016), (BT Drs. 18/5357, 01.07.2015). 373 BT PlPr. 18/134, S. 13136. 342 Fazit und Ausblick

Frage, ob bei Nicht-Moralpolitiken der Diskurs eine entscheidende Rolle bei der Agen- dasetzung oder der Politikentscheidung spielt. Die Studie ging der Frage nach, welche Faktoren das Regulierungstempo bei Moral- politiken bestimmen. Während für die embryonale Stammzellforschung ein Gesetz ausge- arbeitet wurde, in dem relativ detaillierte Verbote und Gebote in Bezug auf die Forschung formuliert wurden, ist im Fall der Sterbehilfe neben dem schleppenden Regulierungstempo auch die vergleichsweise magere gesetzliche Formulierung auffallend. Die aktive Sterbe- hilfe ist im Strafgesetzbuch verboten, daher erübrigt sich eine detailliertere Ausformulie- rung. Aber beim assistierten Suizid und bei der passiven Sterbehilfe führte die wenig de- tailliert ausformulierte Gesetzgebung bisher zu Verunsicherung darüber, was erlaubt und was verboten ist. Die geringe Regulierungstiefe hat vermutlich ähnliche Ursachen wie das langsame Regulierungstempo: Wo der Gesetzgeber sich nur schwer oder kaum auf eine Regulierung verständigen kann, bleibt es bei rudimentären Vorschriften, die detaillierte Handhabung wird anderen Arenen (zum Beispiel der Bundesärztekammer und Gerichten) überlassen. Ob diese Vermutung allerdings stimmt, müsste in einer weiteren Studie unter- sucht werden. Zudem stellt sich die Frage, ob das für alle Moralpolitiken gilt, oder ob es zwischen den einzelnen Moralpolitiken oder Moralpolitikgruppen (zum Beispiel Suchtpoli- tiken und Biomedizinpolitiken) Unterschiede gibt. Darüber hinaus ist auch fraglich, ob sich hier ein signifikanter Unterschied zwischen Moralpolitiken und Nicht-Moralpolitiken ergibt; nicht nur, was die Regulierung, sondern auch was die Sanktionierung angeht. Wenn man davon ausgehen kann, dass der Staat sowohl an der Regulierungs- als auch an der Sanktionsdimension Änderungen vornehmen kann, dann wäre es möglich, dass er den Sanktionsspielraum bei Moralpolitiken relativ groß lässt, um die konkreten Strafzumes- sung den Gerichten zu überlassen (Knill et al. 2015b). Des Weiteren fokussiert die qualitative Studie auf zwei Moralpolitiken in Deutsch- land und nimmt dadurch einen sehr begrenzten Blickwinkel ein. Auf Basis der gewonne- nen Erkenntnisse wäre eine Studie mit einer größeren Anzahl von Biomedizinpolitiken, z. B. auch der Präimplantationsdiagnostik oder Schwangerschaftsabbruch, interessant. Ebenso wäre ein vergleichender Blick auf andere Länder lohnenswert. Die hier verwende- ten Erwartungen könnten beispielsweise quantifiziert und damit als Hypothesen in einer quantitativen Studie überprüft werden. Auch zeigte sich während der Analyse, dass eine Beobachtung der verschiedenen Organisationen (Parteien, Interessengruppen etc.) auf Individualebene detailliertere Ergeb- nisse möglich machen würde, dies jedoch im Rahmen einer Dissertation nicht zusätzlich leistbar ist. Die Diskursnetzwerkanalyse könnte wesentlich detaillierter und umfangreicher

343 Kapitel 9 ausfallen. Allerdings wird sie explizit zur Unterstützung und Ergänzung der Fallstudien durchgeführt und ist dementsprechend reduziert auf die im Diskurs beteiligten AkteurInnen und deren zentrale Argumente. Zur Diskursanalyse muss zudem einschränkend darauf hin- gewiesen werden, dass ein Blick in die „Köpfe“ der AkteurInnen natürlich nicht möglich ist. Ob geäußerte Standpunkte oder Argumente der „wahren“ Einstellungen oder rationalen Abwägungen der AkteurInnen entspringen, ist mit diesem Forschungsdesign nicht fest- stellbar.

9.3 Zukünftige Herausforderungen in der Biomedizinpolitik…

Gesamtgesellschaftlich ist eine interessante Entwicklung im Umgang mit dem Tod zu be- obachten: Einerseits wird die Sterbehilfe nicht mehr tabuisiert wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Forderungen nach einem selbstbestimmten Ableben ha- ben zugenommen. Andererseits leben heute viele Menschen, als gäbe es keinen Tod. Ge- storben wird immer weniger im vertrauten Kreis, sondern in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen. Das hat auch mit der sich wandelnden Familienstruktur zu tun. Abschieds- und Trauerrituale gehen immer weiter zurück. Das Sterben geschieht im kleinen Kreis und ist heute viel privater als früher. Dieser Wandel stellt die Politik vor regulative Herausfor- derungen. Zum einen muss die adäquate Versorgung von Menschen an ihrem Lebensende gesichert werden, da diese Aufgabe immer häufiger sozialen Einrichtungen zufällt. Zum anderen geht mit der individualisierten und liberaleren Gesellschaft der Anspruch vieler Menschen einher, selbst über ihren Tod entscheiden zu dürfen. Die Rechtslücken bei der Sterbehilfe werden als negativ ausgelegt. Aber sind sie das wirklich? Im Vorfeld der Abstimmung zur gewerblichen Sterbehilfe im Bundestag im No- vember 2015 plädierten unter anderem die ehemalige Justizministerin Herta Däubler- Gmelin und die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Christiane Woopen, dafür, keine Regulierung vorzunehmen (Frank 2014; Lüer 2015). Regulierungslücken haben verschie- dene Konsequenzen für den Politikprozess, wie die vorliegende Studie aufgezeigt hat. Trotzdem stellt sich die Frage, ob in solch sensiblen, schwierigen und hochumstrittenen Feldern eine nicht-staatliche Regulierung, z. B. durch die Bundesärztekammer, sinnvoller ist. Sie wiederum könnte ihren ÄrztInnen mehr Spielraum im Einzelfall zugestehen. Damit wird unter Umständen eine passendere Versorgung der PatientInnen gewährleistet, als dies über eine starre Gesetzgebung möglich wäre. Schlussendlich ist dies eine Ermessenssache, welche im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt werden sollte.

344 Fazit und Ausblick

Eine Aufhebung des Verbots der aktiven Sterbehilfe ist in Deutschland nicht zu er- warten. Dies wird vor allem durch den Elitenkonsens verhindert, der sich teilweise auch aus der historischen Belastung des Themas erklärt. Dieser Konsens umfasst Parteien und Verbände. Diese Einigkeit spiegelt allerdings nur bedingt die Einstellung der Bevölkerung wider. Bei der passiven Sterbehilfe wurde mit der Patientenverfügung teilweise der Druck zur politischen Regulierung genommen. Nach dem Ende des Untersuchungszeitraums wurde 2015 der gewerblich assistierte Suizid verboten. Ob diese Regulierungen so Bestand haben werden, darf bezweifelt werden. Zu groß ist das Interesse kleiner, aber engagierter Gruppierungen und Einzelpersonen, hier eine Liberalisierung herbeizuführen. Daher wird das Thema Sterbehilfe mit all seinen Facetten die Politik und Gesellschaft weiterhin be- schäftigen. Die Definition von Sterbehilfeformen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterscheidung in der Praxis schwieriger ist, weil es verschiedenste Stadien einer Krank- heit oder Verletzung gibt und manchmal nicht klar ist, wann der Sterbeprozess genau ein- setzt, und wann der Arzt oder die Ärztin von weiteren Therapien zur Lebenserhaltung ab- sehen sollte. Die Patientenverfügungen sind hier ein guter Anfang. Allerdings reicht ein Dokument oft nicht aus, um den Wünschen der PatientInnen vollkommen zu entsprechen, wenn diese nicht mehr kommunikationsfähig sind. Sogenannte Advanced Care Planning Programme, welche in anderen Ländern, zum Beispiel den USA, bereits eingeführt wur- den, wären sinnvoll. Hier werden die Patientenverfügungen in eine umfangreichere Beglei- tung und Kommunikation mit den PatientInnen eingebettet. Bei der embryonalen Stammzellforschung kam in den letzten Jahren keine Diskussi- on mehr auf um eine erneute Verschiebung des Stichtages. Dies mag vor allem daran lie- gen, dass die geringen Fördermittel durch den Bund und die DFG für die embryonale Stammzellforschung zu einer Verlagerung des Forschungsschwerpunktes in Deutschland mittlerweile auf die adulten Stammzellen und sogenannten iPS-Zellen374 geführt haben; deren Herstellung ist ethisch nicht umstritten. So kann das Thema der Herstellung und Verwendung von embryonalen Stammzellen durch den wissenschaftlichen Fortschritt und eine politisch-finanzielle Steuerung für Deutschland wohl ad acta gelegt werden. Weiterhin umstritten sein werden im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts voran- getriebene neue Verfahren im Bereich der Biomedizin. Diese zukunftsträchtigen For- schungsfelder werden Gesellschaft und Politik auch in Zukunft vor schwierige ethische Entscheidungen stellen. So hat beispielsweise Anfang 2016 Großbritannien als erstes Land

374 Induzierte pluripotente Stammzellen sind pluripotente Stammzellen, welche durch die künstliche Reprogram- mierung von nicht-pluripotenten Zellen hergestellt werden. Das Verfahren wurde 2006 entwickelt. 345 Kapitel 9 die Genmanipulation an Embryonen zu Forschungszwecken erlaubt. Eine Wissenschaftle- rin hatte ihren Antrag auf Zulassung dieses Verfahrens damit begründet, dass dadurch die Ursachen für Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit herausgefunden werden könnten.375 Dadurch ist eine Fortsetzung der Debatte um die Chancen und Grenzen von ethisch um- strittener Biomedizinforschung angezeigt.

9.4 … und mögliche Wege der politischen Handhabung

Im Zuge dieser Entwicklung wird sich die Frage stellen, wie sich Deutschland und andere Staaten zukünftig positionieren. Die Entscheidung zur embryonalen Stammzellforschung mag den Konflikt zwar befriedet haben. Allerdings muss man erkennen, dass die als „par- lamentarische Sternstunde“ gefeierte Entscheidung lediglich ein ethisch umstrittenes Ver- fahren ins Ausland verlagert hat, die deutsche Forschung aber davon profitieren sollte. Man kann dies auch als Doppelmoral auffassen. Der deutsche Gesetzgeber wird sich ver- mutlich nicht bei allen zukünftigen umstrittenen Biomedizinpolitiken mit einer solchen Art des Kompromisses zu einer Entscheidung leiten lassen können. Die Politik wird sich zukünftig auf neue Herausforderungen im Bereich der Biome- dizinpolitik einstellen müssen. Dabei wird es einen Unterschied machen, ob die neuen Technologien von der bestehenden Gesetzgebung abgedeckt sind oder ob sich eine Regu- lierungslücke auftut. In letzterem Fall könnte der Gesetzgeber stärker unter Zugzwang ge- raten, vor allem dann, wenn es einflussreiche gesellschaftliche AkteurInnen mit starken Interessen gibt. Hier sollte der Gesetzgeber vorbereitet sein und die im Zuge der Regulie- rung der embryonalen Stammzellforschung entwickelten Entscheidungsarenen (z. B. En- quete-Kommission und Ethikrat) frühzeitig aktivieren. So ist eine strukturierte und zielfüh- rende Debatte möglich. Damit kann eine moralische Panik und zeitlicher Entscheidungs- druck – so wie es bei der Stammzellforschung der Fall war – möglicherweise vermieden oder zumindest in geordnete Bahnen gelenkt werden. Bei der Sterbehilfe und bei der embryonalen Stammzellforschung war die Gesell- schaft weder polarisiert, noch gab es Anzeichen von öffentlichen Protesten. Dies, obwohl laut Umfrageergebnissen die Bevölkerung mehrheitlich jeweils gegenteiliger Meinung war, als der schlussendliche politische Entscheid ausfiel. Sollte sich für zukünftige Biome- dizinische – und generell moralpolitische – Entscheidungen dieses Bild wandeln und eine Polarisierung in der Bevölkerung stattfinden, dann wären die politische Elite und Interes-

375 http://www.welt.de/wissenschaft/article151722303/Skepsis-gegenueber-Gen-Chirurgie-bei-Embryos.html (ab- gerufen am 05.06.2016). 346 Fazit und Ausblick sensorganisationen gut beraten, sich auf dieses Szenario vorzubereiten. Eine befriedende Entscheidungsstrategie kann wichtig für den sozialen Frieden sein. Die Legislative sollte sich auch überlegen, ob sie bei heiklen Themen zukünftig eine Entscheidung vermeidet und damit an Gerichte auslagert. Mit dieser Strategie lassen sich zwar Konflikte innerhalb der Parteien umgehen. Sie geht aber auf Dauer auf Kosten der Glaubwürdigkeit der legislativen Organisationen und Organe, wenn diese nicht fähig sind, ihrer Verantwortung der Regulierung von gesellschaftlichen Problemen nachzukommen. Wie diese Studie gezeigt hat, wird bei wertbasierten Politiken oft keine parteiweite Kohärenz erreicht. Die Konfliktlinie läuft nicht entlang der Parteigrenzen, sondern mitten durch sie hindurch. Eine frühe Ankündigung der Gewissensentscheidung bei umstrittenen Moralpolitiken scheint für die Zukunft angezeigt zu sein. So können überhaupt erst offene und von Fraktionszwängen befreite Diskussion und Meinungsbildungsprozesse stattfinden, welche wiederum eine Politikentscheidung ermöglichen. Hier kann das Framing des Ent- scheidungsprozesses ein wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Politikentscheidung wer- den. Denn ein Reframing des Politikinhaltes scheint, insbesondere bei manifesten Moral- politiken, nur sehr schwer möglich. So wird nicht nur der Entscheidungsprozess beschleu- nigt, sondern auch die Positionen der Parteien weniger kritisch zur Diskussion gestellt. Angesichts der Entwicklungen in der Biomedizin werden diese Politiken auch zu- künftig einen kleinen Anteil aller von den politischen EntscheidungsträgerInnen zu regulie- renden Themen ausmachen. Und weiterhin dürften diese Kontroversen große gesellschaft- liche und politische Aufmerksamkeit erregen. Es bleibt abzuwarten, ob diese last-exit- Strategie der Entscheidungsfindung auch in Zukunft bei bioethischen Policies zum Tragen kommt. Sie hat sich bisher bewährt und könnte daher von politischen AkteurInnen auf- grund des Lerneffekts bei zukünftigen Entscheidungen angewendet werden, bei denen der klassische Entscheidungsprozess im Regierungs-Oppositions-Stil zum Scheitern verurteilt scheint.

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377

Nachweise Titelei

Zitat Kant, Immanuel (2013 [1787]) Kritik der reinen Vernunft. Berlin: Hofenberg, S. 454.

Fotos Befruchtete Eizelle: https://pixabay.com/de/befruchtete-eizelle-leben-entstehung-267976/ (aufgerufen am 16.10.2015) Petrischale: https://pixabay.com/de/wasser-pipette-strahl-tropfen-342240/ (aufgerufen am 16.10.2015) Steinengel: https://pixabay.com/de/engel-steinengel-skulptur-grab-849222/ (aufgerufen am 16.10.2015) Hände: https://pixabay.com/de/h%C3%A4nde-alte-jung-halten-pflege-216982/ (aufgerufen am 16.10.2015)

378 Anhang

11 Anhang

11.1 Glossar

Aktive Sterbehilfe – Nicht vom Sterbewilligen selbst, sondern von weiterer Person ausge- führter Tötungsvorgang. Es ist eine intendierte, beispielsweise von einem Arzt „aktiv herbeigeführte, vorzeitige Beendigung des Lebens durch vorsätzliche Verabreichung le- bensbeendender Substanzen“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 330).

Ärztlich assistierter Suizid – wie assistierter Suizid, allerdings von einem Arzt ausgeführt assistierter Suizid – auch: Beihilfe zum Suizid; ein Dritter hilft dem Sterbewilligen „bei der Verwirklichung von dessen selbstständig gefasster Entscheidung, sein Leben zu be- enden, zum Beispiel durch Bereitstellung eines tödlichen Medikaments (…). Im Gegen- satz zur aktiven Sterbehilfe bestimmt der [Dritte, Anm. d. Verf.] hier weder den Ge- schehensablauf noch führt er die Tötungshandlung selbst aus“ (Oduncu und Eisenmen- ger 2002, S. 331).

Beihilfe zum Suizid – siehe assistierter Suizid

Blastozyste – „frühes embryonales Entwicklungsstadium, beim Menschen etwa am 4. bis 6. Tag nach der Befruchtung, bestehend aus ca. 100 bis 200 Zellen. Die äußere Zellschicht (Trophoblast) ist später an der Plazenta beteiligt, die innere Zellmasse (Embryoblast) besteht aus Vorläuferzellen für den späteren Embryo“ (Enquete-Kommission 2002: 183)

Eizelle – weibliche Keimzelle

379

Embryo – „als Embryo wird im medizinischen Sprachgebrauch die Frucht in der Gebär- mutter während der Zeit der Organentwicklung bezeichnet, d. h. etwa vom Zeitpunkt der Nidation in die Gebärmutterschleimhaut bis zum Ende des dritten Schwanger- schaftsmonats. Im Anschluss an die Organentwicklung wird bis zum Ende der Schwan- gerschaft vom Fetus gesprochen. (…) Nach § 8 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) gilt als Embryo bereits die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung“ (Enquete-Kommission 2002: 185) gewerblich organisierter assistierter Suizid – wie assistierter Suizid, allerdings wird er von einer Organisation angeboten und ggf. gegen Bezahlung durchgeführt

In-vitro – lateinisch „im Glas“; Bezeichnung für organische Vorgänge, die außerhalb des Organismus stattfinden; in der Naturwissenschaft Bezeichnung für Experimente in künstlicher, kontrollierter Umgebung, tatsächlich oder sinnbildlich im (Reagenz-)Glas.

In-vivo – lateinisch „im Lebendigen“; Bezeichnung für Vorgänge, die im Organismus ab- laufen

Indirekte (aktive) Sterbehilfe – Die indirekte aktive Sterbehilfe beschreibt „die unbeabsich- tigte, nicht-intendierte Inkaufnahme des vorzeitigen Todeseintritts als Nebenwirkung einer sinnvollen Therapiemaßnahme bei Einwilligung des [Sterbewilligen, Anm. d. Verf.] nach vollständiger Aufklärung (…) Die primäre Absicht ist hier (…) die Linde- rung von Leiden“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 331). Diese Form der Sterbehilfe ist in vielen Ländern nicht als selbstständiger Tathergang in der Rechtsetzung oder Rechtsprechung bekannt, vielmehr gehen diese Handlungen als übliche ärztliche Praxis in der Behandlung von PatientInnen auf. Die Grenzen zur aktiven Sterbehilfe und zur passiven Sterbehilfe sind fließend.

In-vitro-Fertilisation (IVF) – „Vereinigung von Ei- und Samenzelle außerhalb des Körpers (in-vitro); die In-Vitro-Fertilisation gehört zu den etablierten Verfahren der Fortpflan- zungsmedizin“ (Enquete-Kommission 2002: 188)

Klonen, reproduktives – „Verfahren der künstlichen Mehrlingsbildung, bei dem – im Un- terschied zum therapeutischen Klonen – die Geburt eines genidentischen Individuums intendiert ist“ (Enquete-Kommission 2002: 192)

380 Anhang

Klonen, therapeutisches – „Verfahren der künstlichen Mehrlingsbildung, das auf die Phase in-vitro beschränkt bleibt und insbesondere zur Gewinnung genetisch identischen Zell- oder Gewebeersatzes eingesetzt werden könnte“ (Enquete-Kommission 2002: 192)

Multipotenz – Stammzellen, die noch multipotent sind. Sie können sich noch in eine Reihe von bestimmten Zelltypen ausdifferenzieren, aber im Gegensatz zu pluripotenten Zellen nur in eine geringe Anzahl verschiedener Typen. organisierter assistierter Suizid – siehe gewerblich organisierter assistierter Suizid

Palliativmedizin – „Die Palliativmedizin konzentriert sich auf die bestmögliche medizini- sche, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Behandlung und Begleitung schwerst- kranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen. Gemeinsames Ziel ist es, für weitgehende Linderung der Symptome und Verbesserung der Lebensqualität zu sor- gen – in welchem Umfeld auch immer Betroffene dies wünschen.“ (Deutsche Gesell- schaft für Palliativmedizin, https://www.dgpalliativmedizin.de/, abgerufen am 01.11.2015)

Passive Sterbehilfe – der bewusste Behandlungsverzicht von Sterbewilligen oder die aktive Einstellung von Behandlungsmaßnahmen, was dann zum Tod des Sterbewilligen führt (Oduncu und Eisenmenger 2002: 331). „Bei Abbruch der lebensverlängernden Maß- nahmen in aussichtslosen Situationen, zum Beispiel durch das aktive Abschalten der Beatmungsmaschine, ist nicht der Abbruch die Todesursache, sondern die Krankheit des [Sterbewilligen, Anm. d. Verf.]“ (Oduncu und Eisenmenger 2002, S. 331)

Pluripotenz – „Entwicklungspotenzial einer Zelle oder eines Gewebes, sich unter geeigne- ten Bedingungen in mehr als einen Zell- oder Gewebetyp differenzieren zu können“ (Enquete-Kommission 2002: 191). Im Gegensatz zu totipotenten Zellen, nicht zu einem vollständigen Lebewesen entwickelbar. reproduktives Klonen – siehe Klonen, reproduktives

Samenzelle – männliche Keimzelle

Stammzelle – Sammelbezeichnung für eine Gruppe uneinheitlicher Zellen, die „mindestens die folgenden zwei Eigenschaften (…) haben: Stammzellen sind Vorläuferzellen von

381

hoch differenzierten Zellen; Nach einer Teilung der Stammzellen können die Tochter- zellen entweder wieder zu Stammzellen werden (self-renewal) oder sich gewebespezi- fisch, zum Beispiel zu Herz-, Nerven-, Haut- oder Muskelzellen, differenzieren. Stammzellen treten zuerst in der frühen Embryonalentwicklung auf.“ (http://www.drze.de/im-blickpunkt/stammzellen, aufgerufen am 17.01.2015)

Stammzelle, adulte – Stammzelle, welche nicht aus dem Embryo stammt, zum Beispiel Stammzelle aus Nabelschnurblut; auch gewebespezifische Stammzelle genannt

Stammzelle, embryonale – jene Stammzelle, die in der frühen Embryonalentwicklung auf- tritt (http://www.drze.de/im-blickpunkt/stammzellen, aufgerufen am 17.01.2015)

Stammzelllinie – „Stammzellen, die in spezifischen Nährmedien über längere Zeiträume kultiviert werden können und sich durch bestimmte Merkmale und Zellfunktionen aus- zeichnen“ (Enquete-Kommission 2002: 192)

Sterbehilfe – Hilfe eines Dritten, um bei einer sterbewilligen Person den Tod herbeizufüh- ren. Allgemein werden aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, assistierter Suizid und indirekte Sterbehilfe unterschieden.

Suizid – Selbstmord, Freitod, Selbsttötung; beschreibt aktive Handlungen oder das Unter- lassen von Handlungen einer Person, welche zum eigenen Tod führen; aktive Handlung kann zum Beispiel die Einnahme von Medikamenten sein; Unterlassen kann zum Bei- spiel die Einstellung der Nahrungsaufnahme bedeuten therapeutisches Klonen – siehe Klonen, therapeutisches

Totipotenz – Begriff wird in der naturwissenschaftlichen Literatur uneinheitlich verwendet. „In der klassischen Embryologie wird die Totipotenz einer Zelle als die Fähigkeit ver- standen, sich zu einem ganzen Individuum zu entwickeln. (…) Im Embryonenschutzge- setz (§ 8 ESchG) wird Totipotenz als Fähigkeit zur Ganzheitsbildung definiert“ (Enque- te-Kommission 2002: 193).

Zygote – „befruchtete Eizelle als Produkt der Verschmelzung der Zellkerne von Ei- und Samenzelle, Ausgangszelle der embryonalen Entwicklung (…)“ (Enquete-Kommission 2002: 194).

382 Anhang

11.2 Dokumentenrecherche

Dokumentenrecherche Die Datenbank des Bundestages (bundestag.de, abgerufen am 01.05.2014) wurde mit fol- genden Stichwörtern durchsucht: • Embryonale Stammzellforschung: „Stammzelle; embryonenschutzgesetz; stichtagsrege- lung; stammzellforschung; embryonal; stammzellgesetz; embryo“ • „stammzell* ODER embryonenschutzgesetz ODER stichtagsregelung ODER stamm- zellgesetz ODER embryo*“

FAZ-Artikelrecherche und Kodierung Für die Diskursnetzwerkanalyse wurden Zeitungsartikel der Frankfurter Allgemeinen Zei- tung verwendet (digitale Archive „F.A.Z. biblionet“ und „FAZ 49-92“). Für die Suchmas- ke wurden diejenigen Suchbegriffkombinationen ausgewählt, die am umfangreichsten und gleichzeitig am genauesten die relevanten Zeitungsartikel ergaben: • Sterbehilfe: „sterbehilfe* ODER patientenverfügung* ODER lebensverlängernd*“ / „sterbehilfe ODER euthanasie ODER „töten auf verlangen“ ODER „assistierter suizid“ • Embryonale Stammzellforschung: „(embryo* UND stamm*) ODER Embryonenschutz- gesetz*“ Nicht berücksichtigt wurden: Leserbriefe; zitierte Meldungen aus anderen Zeitungen; Überblick über Inhalte von Zeitschriften; Artikel, die sinngemäß nichts mit Sterbehilfe oder embryonaler Stammzellforschung zu tun haben; Artikel aus der Regionalausgabe. Nicht markiert wurden: Gerichtsentscheidungen; Aussagen aus dem Ausland, solange sie keinen direkten Bezug auf Deutschland nehmen (Vatikan davon ausgenommen, da er uni- versal alle Völker ansprechen möchte); Rezensionen; FAZ.net-Artikel (nicht im Print er- schienen); doppelt abgedruckte Aussagen vom gleichen Tag (zum Beispiel zusammenfas- sender und ausführlicher Artikel); Ausstellungsrezensionen, Kommentare, Leserbriefe.

383

11.3 Abkürzungen Staaten

AT Österreich BE Belgien CH Schweiz DE Deutschland DK Dänemark ES Spanien FI Finnland FR Frankreich GB Großbritannien GR Griechenland IE Republik Irland IT Italien NL Niederlande NO Norwegen PT Portugal SE Schweden

384 Anhang

11.4 Abkürzungsverzeichnis

Art. Artikel ärzt. Ärztlich ass. assistierter Az. Aktenzeichen BÄK Bundesärztekammer BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BRat Bundesrat BT Bundestag bzgl. bezüglich CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU Christlich-Soziale Union in Bayern DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft Drs. Drucksache e.V. eingetragener Verein EG Europäische Gemeinschaft EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EKD Evangelische Kirche in Deutschland EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EU Europäische Union FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDP Freie Demokratische Partei GG Grundgesetz internat. internationale Koop. Kooperation org. organisierter PDS Partei des demokratischen Sozialismus PlPr. Plenarprotokoll PV Patientenverfügung S. Seite / Seiten SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StGB Strafgesetzbuch StR Strafsenat SZ Süddeutsche Zeitung UN United Nations USA United States of America vgl. vergleiche vs. Versus wiss. wissenschaftlich wirt. wirtschaftlich z. B. zum Beispiel

385

Anhang

11.5 Weitere Analyseergebnisse Sterbehilfe

Tabelle 11.1: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (1990 – 1998)

(in %)

(in %)

(in %)

(in %) %) (in %)

(in %) (in

gesetzlich regeln gesetzlich (in %) verbindlich

AkteurInnen Sterbehilfe assive aktive Sterbehilfe ärztlich assistierter Suizid assistierter ärztlich p PV org. ass. Suizid ass. org. PV Sterbebegleitung verbessern Sterbebegleitung Summe Aussagen (N) PV Summe in % von allen BÄK+MedizinerInnen 55 5 26 5 3 5 38 40,4 Gesellschaft 67 33 9 9,6 Gesellschaftswissenschaft 50 10 30 10 10 10,6 katholische Kirche 78 11 11 9 9,6 EKD 83 17 6 6,4 Bündnis90/DieGrünen 20 80 5 5,3 Politik 60 20 20 5 5,3 Theologie 25 50 25 4 4,3 CDU/CSU 67 3 3,2 Rechtswissenschaft 67 33 3 3,2 FDP 100 1 1,1 SPD 100 1 1,1 Anmerkungen: Angegeben sind die Häufigkeit der Nennung jeder Aussagekategorie je Akteur bzw. Akteurin in Prozent (durch Rundungen in der Summe Abweichungen von 100% möglich). Fett = am häufigsten verwendete Aussagekategorie(n) durch AkteurIn. Dunkelgraue Schraffierung = Mehrheit dafür (60 % oder mehr der Aussagen dafür); hellgraue Schraffierung = keine eindeutige Position (41 – 59 % der Aussagen positiv bzw. negativ); keine Schraffierung = Mehrheit dagegen (60 % oder mehr der Aussagen dagegen). Quelle: Eigene Darstellung.

387

Tabelle 11.2: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (1999 – 2009)

(in %) (in %)

(in %) (in %)

(in %) (in %)

(in %)

(in %) (in %)

(in %)

ass. Suizid

gesetzlich regeln gesetzlich verbindlich

AkteurInnen aktive Sterbehilfe ärztlich ass. Suizid org. passive Sterbehilfe Patientenverfügung PV PV Sterbebegleitung verbessern Sterbebegleitung Sterbehilfe Summe Aussagen (N) regeln gesetzlich Sterbehilfe Summe in % von allen CDU/CSU 34 8 3 5 9 29 12 1 144 17 SPD 24 1 7 3 2 8 41 13 2 124 15 Gesellschaft 30 3 22 1 10 5 2 25 1 96 11 BÄK+ MedizinerInnen 34 11 5 6 11 8 24 1 1 85 10 EKD 42 4 6 7 13 3 5 20 1 79 9 katholische Kirche 58 3 3 4 7 1 5 20 76 9 FDP 33 2 2 4 9 2 36 11 2 55 7 Rechtswissenschaft 16 12 24 8 14 2 14 6 4 50 6 Bündnis 90/DieGrünen 14 2 9 54 21 43 5 Enquete-Kommission 6 11 6 50 28 18 2 Politik 38 6 6 19 6 25 16 2 Bundespräsident 14 7 21 14 36 7 14 2 Theologie 58 17 8 8 8 12 1 Nationaler/Deutscher Ethikrat 18 27 18 18 9 9 11 1 PDS/DieLinke 9 9 64 18 11 1 Gesellschaftswisseschaft 88 13 8 7 Naturwissenschaft 50 50 2 0 Anmerkungen: Angegeben sind die Häufigkeit der Nennung jeder Aussagekategorie je Akteur bzw. Akteurin in Prozent (durch Rundungen in der Summe Abweichungen von 100% möglich). Fett = am häufigsten verwendete Aussagekategorie(n) durch den Akteur bzw. die Akteurin. Dunkelgraue Schraffierung = Mehrheit dafür (60 % oder mehr der Aussagen dafür); hellgraue Schraffierung = keine eindeutige Position (41 – 59 % der Aussagen positiv bzw. negativ); keine Schraffierung = Mehrheit dagegen (60 % oder mehr der Aussagen dagegen). Quelle: Eigene Darstellung.

388 Anhang

Tabelle 11.3: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (2010 – 2014)

(in %) (in %)

(in %)

(in %) (in %)

(in %)

(in %)

(in %) ass. Suizid

AkteurInnen terbehilfe aktive Sterbehilfe ärztlich ass. Suizid org. passive Sterbehilfe Patientenverfügung verbessern Sterbebegleitung S Summe Aussagen (N) regeln gesetzlich Sterbehilfe Summe in % von allen CDU/CSU 4 35 44 1 13 3 69 25 BÄK+MedizinerInnen 5 57 23 2 11 2 56 20 SPD 5 48 25 3 8 5 8 40 14 Gesellschaft 3 52 29 16 31 11 katholische Kirche 39 30 4 9 4 13 23 8 FDP 27 47 20 7 15 5 Gesellschaftswissenschaft 15 68 21 19 5 Bündnis 90/DieGrünen 60 20 20 10 3 PDS/DieLinke 11 44 22 22 9 3 EKD 38 13 13 25 13 8 3 Rechtswissenschaft 0 67 33 0 0 0 0 6 2 Nationaler/Deutscher 50 50 2 1 Anmerkungen: Ohne Enquete-Kommission, Bundespräsident, Naturwissenschaft, Politik, Theolo- gie; ohne Patientenverfügung gesetzlich regeln, Patientenverfügung uneingeschränkt verbindlich. Angegeben sind die Häufigkeit der Nennung jeder Aussagekategorie je Akteur bzw. Akteurin in Prozent (durch Rundungen in der Summe Abweichungen von 100% möglich). Fett = am häufigsten verwendete Aussagekategorie(n) durch den Akteur. Dunkelgraue Schraffierung = Mehrheit dafür (60 % oder mehr der Aussagen dafür); hellgraue Schraffierung = keine eindeutige Position (41 – 59 % der Aussagen positiv bzw. negativ); keine Schraffierung = Mehrheit dagegen (60 % oder mehr der Aussagen dagegen). Quelle: Eigene Darstellung.

389

Tabelle 11.4: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (1990 – 1998)

AkteurInnen

(N)

tung

i Setzt Betroffene unter Setzt Betroffene unter Druck (N) NL / BE abschreckende Beispiele (N) r Aufgabe ätztliche mit unvereinbar (N) Summe Aussagen (N) ohne (N) unethisch (N) - Sterbebe Besser gle

BÄK+MedizinerInnen 6 4 1 6 4 21 Gesellschaft 1 2 2 1 1 7 Gesellschaftswissenschaft 1 1 2 1 5 katholische Kirche 1 3 2 1 7 EKD 1 1 2 1 5 Bündnis90/DieGrünen 1 1 Politik 1 1 1 3 Theologie 1 1 Rechtswissenschaft 1 1 2 SPD 1 1 Quelle: Eigene Darstellung.

Tabelle 11.5: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (1990 – 1998) AkteurInnen

(N)

(N)

mmbruch Summe Aussagen ohne (N) Recht auf Selbstb e- stimmung Da (N) BÄK+MedizinerInnen 8 2 10 Gesellschaft 3 3 Gesellschaftswissenschaft 1 2 3 katholische Kirche 1 1 EKD 1 1 Bündnis90/DieGrünen 1 3 4 Politik 1 1 Theologie 2 2 CDU/CSU 2 2 Rechtswissenschaft 1 1 FDP 1 1

Quelle: Eigene Darstellung.

390 Anhang

Tabelle 11.6: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (1999 – 2009) AkteurInnen

t Betroffene unter t Betroffene unter vereinbar (N) vereinbar n ohne (N) unethisch (N) i- Sterbebegle Besser tung (N) Setz Druck (N) abschreckende /BE NL Beispile (N) Aufgabe ärztlicher mit u Verbot unethisch (N) Akt der Humanität Summe (N) CDU/CSU 26 10 4 5 1 2 48 SPD 17 10 2 1 30 Gesellschaft 11 4 6 2 3 1 27 BÄK+ MedizinerInnen 18 3 2 1 4 1 29 EKD 15 13 3 1 1 33 katholische Kirche 13 21 4 2 3 1 43 FDP 17 1 18 Rechtswissenschaft 7 1 8 Bündnis 90/DieGrünen 4 2 6 Politik 2 1 1 1 1 6 Theologie 5 2 7 Nationaler/Deutscher Ethikrat 1 1 2 PDS/DieLinke 1 1 Gesellschaftswisseschaft 4 1 1 1 7 Naturwissenschaft 1 1 Quelle: Eigene Darstellung.

Tabelle 11.7: Begründung für Haltung zum ärztlich assistierten Suizid (1999 – 2009)

AkteurInnen

m-

ohne (N) unethisch (N) Verbot unethisch (N) i- Sterbebegle Besser tung (N) Verhindert schli (N) meres Summe (N) SPD 1 1 Gesellschaft 1 1 1 3 BÄK+ MedizinerInnen 2 5 2 9 EKD 1 2 3 katholische Kirche 2 2 FDP 1 1 Rechtswissenschaft 6 6 Politik 1 1 Quelle: Eigene Darstellung.

391

Tabelle 11.8: Begründung für Haltung zum organisierten assistierten Suizid (1999 – 2009)

AkteurInnen

ot unethisch (N) ohne (N) unethisch (N) Verb verhindert schlimme- (N) res Summe (N) CDU/CSU 8 3 1 12 SPD 8 8 Gesellschaft 15 1 3 2 21 EKD 5 5 katholische Kirche 1 1 2 FDP 1 1 Rechtswissenschaft 11 1 12 Bündnis 90/DieGrünen 1 1 Politik 1 1 Nationaler/Deutscher Ethikrat 3 3 Quelle: Eigene Darstellung.

Tabelle 11.9: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (1999 – 2009) AkteurInnen

ohne (N) Recht auf Selbstb e- stimmung (N) Summe (N) CDU/CSU 4 4 SPD 4 4 Gesellschaft 1 1 BÄK+ MedizinerInnen 2 1 3 EKD 5 1 6 katholische Kirche 2 1 3 FDP 2 2 Rechtswissenschaft 2 2 4 Bündnis 90/DieGrünen 4 4 Enquete-Kommission 1 1 Politik 1 2 3 Nationaler/Deutscher Ethikrat 1 1 1 Quelle: Eigene Darstellung.

392 Anhang

Tabelle 11.10: Begründung für Haltung zur aktiven Sterbehilfe (2010 – 2014)

AkteurInnen

n allenn

ohne (N) i- Sterbebegle Besser tung (N) abschreckende /BE NL Beispiele (N) Verbot unethisch (N) Summe in % vo CDU/CSU 3 3 SPD 2 2 BÄK+ MedizinerInnen 3 1 4 PDS/DieLinke 1 1 Gesellschaftswisseschaft 1 1 2 Quelle: Eigene Darstellung.

Tabelle 11.11: Begründung für Haltung zur passiven Sterbehilfe (2010 – 2014) AkteurInnen

ohne (N) Recht auf Selbstb e- stimmung (N) Summe in % von allen CDU/CSU 1 1 SPD 1 1 katholische Kirche 1 1 FDP 2 1 3 Quelle: Eigene Darstellung.

Tabelle 11.12: Begründung für Haltung zum ärztlich assistierten Suizid (2010 – 2014)

AkteurInnen

e-

tung (N) i

unethisch (N) ohne (N) Verbot gegen Menschenwü r- Sterb Besser begle Verhindert schlimmeres Summe (N) CDU/CSU 22 1 3 26 SPD 15 1 2 1 18 Gesellschaft 13 1 1 15 BÄK+ MedizinerInnen 21 7 2 2 2 35 EKD 2 1 3 katholische Kirche 3 5 1 9 FDP 3 1 4 Rechtswissenschaft 4 4 Bündnis 90/DieGrünen 6 6 Politik 1 1 PDS/DieLinke 3 1 4 Gesellschaftswissenschaft 5 1 1 1 8 Quelle: Eigene Darstellung.

393

Tabelle 11.13: Begründung für Haltung zum organisierten assistierten Suizid (2010 – 2014) AkteurInnen

nethisch (N) ohne (N) n- Verbot gegen Me schenwürde (N) u Summe (N) CDU/CSU 30 30 SPD 10 10 Gesellschaft 4 4 8 BÄK+ MedizinerInnen 12 1 13 EKD 1 1 katholische Kirche 6 1 7 FDP 7 7 Rechtswissenschaft 2 2 Bündnis 90/DieGrünen 2 2 PDS/DieLinke 2 2 Gesellschaftswisseschaft 2 2 Quelle: Eigene Darstellung.

394 Anhang

11.6 Weitere Analyseergebnisse embryonale Stammzellforschung

Tabelle 11.14: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeiten (01.02.2000 – 30.01.2002)

en nutzen Aussagen (N)

AkteurInnen

Embryo schützen Forschung Import limitierte Forschung Alternativ Klonen Heilungsethik Zeit lassen Forschung ethisch limitierter Import wiss. Interesse Dammbruch internat. Koop. Gesetz überarbeiten eigene Herstellung wirt. Interesse Widerspruch SUMME SPD 9 10 14 8 8 6 7 12 1 4 5 3 4 4 2 1 1 237

CDU/CSU 14 18 17 7 5 6 6 5 2 8 2 3 2 1 1 218 Naturwissen- 5 13 13 8 21 5 18 3 4 4 2 2 1 1 119 schaft Bündnis 90/ 11 20 15 5 8 6 2 6 11 12 1 2 1 1 85 Die Grünen DFG 4 13 13 16 5 13 5 4 3 4 9 2 5 2 5 56

FDP 17 7 17 20 15 6 7 5 2 2 5 41 BÄK+ Mediziner- 13 8 10 13 5 18 8 38 3 8 3 40 Innen Theologie 43 3 3 27 5 11 22 37

EKD 25 11 11 8 6 8 3 3 23 8 3 3 3 36 katholische 26 6 14 9 6 14 49 3 3 3 35 Kirche Nationaler / 17 13 4 4 13 4 17 13 4 4 4 23 Dt. Ethikrat Rechtswis- 45 14 18 5 21 5 9 22 senschaft Wirtschaft 5 20 10 5 10 5 5 20 20 20 Gesellschafts- 47 7 7 13 13 7 7 15 wissenschaft Enquete- 38 23 8 8 59 8 8 13 Kommission Bundes- 40 0 10 10 100 10 10 10 präsident Politik 25 13 13 25 25 8

Gesellschaft 43 29 14 14 7 PDS/ DieLin- 14 29 29 14 14 7 ke Anmerkungen: Angegeben sind die Häufigkeit der Nennung jeder Aussagekategorie je Akteur bzw. Akteurin in Prozent (durch Rundungen in der Summe Abweichungen von 100% möglich). Fett = am häufigsten verwendete Aussagekategorie(n) durch den Akteur. Dunkelgraue Schraffierung = Mehrheit dafür (60 % oder mehr der Aussagen dafür); hellgraue Schraffierung = keine eindeutige Position (41 – 59 % der Aussagen positiv bzw. negativ); keine Schraffierung = Mehrheit dagegen (60 % oder mehr der Aussagen dagegen). Quelle: Eigene Darstellung.

395

Tabelle 11.15: AkteurInnen und Kategorien, Häufigkeit und Haltung (26.07.2006 – 11.04.2008)

Aussagen (N)

hung ethisch AkteurInnen eigene Herstellung eigene Import SUMME jüngere Stammzellen nötig Heilungsethik Dammbruch Klonen Zeit lassen Forsc Stichtag verschieben Stichtags abschaffen Forschung schützen Embryo wiss. Interesse nutzen Alternativen internat. Koop. Forschung limitierte CDU/CSU 43 11 13 5 2 5 7 2 2 2 3 2 3 2 61 Natur- 17 17 7 38 7 3 3 3 3 29 wissenschaft katholische Kirche 35 17 17 13 4 4 4 4 23 SPD 64 23 9 5 22 DFG 20 20 7 13 7 7 7 7 13 15 Rechts- 13 27 20 33 7 15 wissenschaft Nationaler 9 27 9 27 27 11 Ethikrat EKD 70 10 10 10 10 FDP 30 50 10 10 10 Bündnis90/ 56 22 11 11 9 Die Grünen Gesellschafts- 17 50 17 17 6 wissenschaft Theologie 50 25 25 4 BÄK+MedizinerI 50 50 2 nnen PDS/DieLinke 50 50 2 Wirtschaft 50 50 2 10 Gesellschaft 1 0 Anmerkungen: Angegeben sind die Häufigkeit der Nennung jeder Aussagekategorie je Akteur bzw. Akteurin in Prozent (durch Rundungen in der Summe Abweichungen von 100% möglich). Fett = am häufigsten verwendete Aussagekategorie(n) durch den Akteur bzw. die Akteurin. Dunkelgraue Schraffierung = Mehrheit dafür (60 % oder mehr der Aussagen dafür); hellgraue Schraffierung = keine eindeutige Position (41 – 59 % der Aussagen positiv bzw. negativ); keine Schraffierung = Mehrheit dagegen (60 % oder mehr der Aussagen dagegen). Quelle: Eigene Darstellung.

396 Anhang

11.7 Zusammensetzung Familien

Wissenschaft: Gesellschaftswissenschaft, Naturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Nationaler Ethikrat/ Deutscher Ethikrat, Bundesärztekammer und MedizinerInnen

Kirchen & Theologie: Evangelische Kirche Deutschland, Katholische Kirche, Theologie

Politik: Enquete-Kommission des Bundestags, Bundespräsident, Bündnis 90/DieGrünen, CDU/CSU, FDP, PDS/DieLinke, Politik, SPD

Gesellschaft: Gesellschaft

Wirtschaft: Wirtschaft

397