Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/63

Deutscher

Stenografischer Bericht

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 5799 B neten ...... 5785 A Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 5800 A Wahl der Abgeordneten Matthias W. Birkwald und Dr. Alexander S. Neu in das Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ Kuratorium der Stiftung „Haus der Ge- DIE GRÜNEN) ...... 5801 A schichte der Bundesrepublik Deutschland“ 5785 B Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 5802 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung...... 5785 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5803 C Absetzung des Tagesordnungspunktes 16 . . . . 5786 A (SPD) ...... 5805 A (CDU/CSU) ...... 5806 C Tagesordnungspunkt 4: Dr. (SPD) ...... 5807 C a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Ver- (CDU/CSU) ...... 5808 D besserter automatischer Informations- austausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur Bekämpfung von Steuer- Tagesordnungspunkt 5: flucht ...... 5786 A a) – Zweite und dritte Beratung des von der b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bundesregierung eingebrachten Ent- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung zes zur Änderung der Abgabenordnung der Richtlinie 2014/59/EU des Euro- und des Einführungsgesetzes zur Abga- päischen Parlaments und des Rates benordnung vom 15. Mai 2014 zur Festlegung ei- Drucksache 18/3018 ...... 5786 A nes Rahmens für die Sanierung und Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister Abwicklung von Kreditinstituten BMF ...... 5786 B und Wertpapierfirmen und zur Än- derung der Richtlinie 82/891/EWG Dr. (DIE LINKE) ...... 5790 A des Rates, der Richtlinien 2001/24/ EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/ (Erfurt) (SPD) ...... 5792 B 56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie (BÜNDNIS 90/ der Verordnungen (EU) Nr. 1093/ DIE GRÜNEN) ...... 5793 D 2010 und (EU) Nr. 648/2012 des (CDU/CSU) ...... 5795 A Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) (Heidelberg) (SPD) ...... 5797 C Drucksachen 18/2575, 18/2626, 18/3088 5810 B II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. , Donnerstag, den 6. November 2014

– Zweite Beratung und Schlussabstim- – zu dem Antrag der Abgeordneten mung des von der Bundesregierung Dr. , , eingebrachten Entwurfs eines Geset- Sven-Christian Kindler, weiterer Abge- zes zu dem Übereinkommen vom ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 21. Mai 2014 über die Übertragung DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag für von Beiträgen auf den einheitlichen eine Verordnung des Europäischen Par- Abwicklungsfonds und über die ge- laments und des Rates zur Festlegung meinsame Nutzung dieser Beiträge einheitlicher Vorschriften und eines ein- Drucksachen 18/2576, 18/2627, 18/3088 5810 C heitlichen Verfahrens für die Abwick- lung von Kreditinstituten und bestimm- b) – Zweite und dritte Beratung des von der ten Wertpapierfirmen im Rahmen eines Bundesregierung eingebrachten Ent- einheitlichen Abwicklungsmechanismus wurfs eines Gesetzes zur Änderung und eines einheitlichen Bankenabwick- des ESM-Finanzierungsgesetzes lungsfonds sowie zur Änderung der Drucksachen 18/2577, 18/2629, 18/3082 5810 C Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Ra- – Zweite und dritte Beratung des von der tes – KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. Bundesregierung eingebrachten Ent- 12315/13 – hier: Stellungnahme gegen- wurfs eines Gesetzes zur Änderung über der Bundesregierung gemäß Arti- der Finanzhilfeinstrumente nach kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Artikel 19 des Vertrags vom 2. Fe- Zum Schutz der Allgemeinheit vor Ein- bruar 2012 zur Einrichtung des zelinteressen – Für eine echte Europäi- Europäischen Stabilitätsmechanis- sche Bankenunion mus Drucksachen 18/2580, 18/2628, 18/3082 5810 D Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 . 5811 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 5811 B Haushaltsauschusses zu dem Antrag des (DIE LINKE) ...... 5813 B Bundesministeriums der Finanzen: Durchführungsbestimmungen zum In- Johannes Kahrs (SPD) ...... 5814 A strument der direkten Bankenrekapita- Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ lisierung durch den Europäischen Sta- DIE GRÜNEN) ...... 5815 C bilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deut- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 BMF ...... 5817 A des ESM-Finanzierungsgesetzes Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) ...... 5819 C Drucksachen 18/2669, 18/3082 ...... 5810 D Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF ...... 5819 D in Verbindung mit Dr. (DIE LINKE) ...... 5820 A Manfred Zöllmer (SPD) ...... 5821 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 5823 A Finanzausschusses Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . 5823 D – zu dem Antrag der Abgeordneten (CDU/CSU) ...... 5824 C Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, , weiterer Abgeordne- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) ...... 5826 B ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (CDU/CSU) ...... 5828 D GRÜNEN: Risiko und Haftung zusam- menführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen Tagesordnungspunkt 6: – zu dem Antrag der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, weiterer Abgeordne- , , Katrin Kunert, weite- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE rer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN: Gemeinsam die Haftung der LINKE: Das Massensterben an den EU-Au- Steuerzahlerinnen und Steuerzahler be- ßengrenzen beenden – Für eine offene, soli- enden – Für einen einheitlichen euro- darische und humane Flüchtlingspolitik päischen Restrukturierungsmechanis- der Europäischen Union mus Drucksachen 18/288, 18/2946 ...... 5832 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 III

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) ...... 5832 C b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 5834 A ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- Christina Kampmann (SPD) ...... 5835 B tokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Än- derung der Konvention zum Schutz der (BÜNDNIS 90/ Menschenrechte und Grundfreiheiten DIE GRÜNEN) ...... 5837 B Drucksachen 18/2847, 18/3072...... 5846 D (CDU/CSU) ...... 5838 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ frastruktur zu der Verordnung der Bundes- DIE GRÜNEN) ...... 5839 D regierung: Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Dr. (SPD) ...... 5840 C Durchführung des Bundes-Immissions- (CDU/CSU) ...... 5842 A schutzgesetzes (Verkehrslärmschutz- verordnung – 16. BImSchV) (DIE LINKE) ...... 5842 C Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065 . 5847 A (CDU/CSU) ...... 5843 C d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucher- (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5844 C schutz: Übersicht 3 – über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- Tagesordnungspunkt 36: sungsgericht Drucksache 18/2921 ...... 5847 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- e)–i) zes zum Vorschlag für einen Beschluss Beratung der Beschlussempfehlungen des des Rates über einen Dreigliedrigen So- Petitionsausschusses: Sammelübersichten zialgipfel für Wachstum und Beschäfti- 103, 104, 105, 106 und 107 zu Petitionen gung und zur Aufhebung des Beschlus- Drucksachen 18/2889, 18/2890, 18/2891, ses 2003/174/EG 18/2892 (neu), 18/2893 ...... 5847 B Drucksache 18/2953 ...... 5846 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Zusatztagesordnungspunkt 2: rung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- buches – Umsetzung europäischer Vor- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- gaben zum Sexualstrafrecht trag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Drucksache 18/2954 ...... 5846 A Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Antrag der Abgeordneten , BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jugend- , Katja Dörner, weiterer Abge- arbeitslosigkeit in Europa bekämpfen – ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Stopp des Programms MobiPro-EU sofort DIE GRÜNEN: Artikel 36 der Istanbul- aufheben Konvention umsetzen – Bestehende Drucksachen 18/1343, 18/1531 ...... 5847 D Strafbarkeitslücken bei sexueller Ge- walt und Vergewaltigung schließen Drucksache 18/1969 ...... 5846 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Tagesordnungspunkt 37: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden a) – Zweite und dritte Beratung des von der Ergebnissen des Weltklimaberichts und Bundesregierung eingebrachten Ent- dem Handlungsbedarf für mehr Klima- wurfs eines Gesetzes zur Änderung schutz ...... 5848 A mautrechtlicher Vorschriften hin- sichtlich der Einführung des euro- (BÜNDNIS 90/ päischen elektronischen Mautdiens- DIE GRÜNEN) ...... 5848 A tes Dr. (CDU/CSU) ...... 5849 B Drucksachen 18/2656, 18/2988 ...... 5846 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 5850 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin Drucksache 18/2991...... 5846 C BMUB ...... 5851 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. (CDU/CSU) ...... 5853 B ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- bung des Asylbewerberleistungsgeset- (DIE LINKE) ...... 5854 C zes Dr. (SPD) ...... 5855 B Drucksachen 18/2736, 18/3073...... 5872 D Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ c) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 5856 B Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla (CDU/CSU) ...... 5857 C Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), (SPD) ...... 5858 D Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: (CDU/CSU) ...... 5860 A Sozialrechtliche Diskriminierung been- den – Asylbewerberleistungsgesetz auf- Dr. (SPD) ...... 5861 A heben Carsten Müller (Braunschweig) Drucksachen 18/2871, 18/3073 ...... 5872 D (CDU/CSU) ...... 5862 A (SPD) ...... 5873 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 5874 A Tagesordnungspunkt 7: Jutta Eckenbach (CDU/CSU) ...... 5875 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn eines Gesetzes zur Änderung des Frei- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 5876 B zügigkeitsgesetzes/EU und weiterer (SPD) ...... 5877 D Vorschriften Drucksachen 18/2581, 18/3004, 18/3077 . 5863 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5878 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 5879 C Drucksache 18/3083 ...... 5863 B (SPD) ...... 5880 B Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI ...... 5863 C Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) ...... 5880 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 5865 A Dr. (SPD) ...... 5866 A Tagesordnungspunkt 9: (Köln) (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, DIE GRÜNEN) ...... 5867 D Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Andrea Lindholz (CDU/CSU) ...... 5869 D GRÜNEN: Grundlagen für Gleichstellung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ im Kulturbetrieb schaffen DIE GRÜNEN) ...... 5869 D Drucksache 18/2881 ...... 5882 B Josip Juratovic (SPD) ...... 5871 B Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5882 B Dr. (CDU/CSU) ...... 5883 C Tagesordnungspunkt 8: Sigrid Hupach (DIE LINKE) ...... 5884 D a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- (SPD) ...... 5885 D wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes Dr. (CDU/CSU) ...... 5886 D und des Sozialgerichtsgesetzes (SPD) ...... 5888 D Drucksachen 18/2592, 18/3000, 18/3073 5872 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Tagesordnungspunkt 10: Drucksache 18/3084...... 5872 C Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- b) Zweite und dritte Beratung des von den rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann- über Maßnahmen im Bauplanungsrecht Kuhn, Luise Amtsberg, Kerstin Andreae, zur Erleichterung der Unterbringung von weiteren Abgeordneten und der Fraktion Flüchtlingen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- Drucksachen 18/2752, 18/3070...... 5889 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 V

Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin (SPD) ...... 5911 B BMUB...... 5889 D Dr. (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 5890 C DIE GRÜNEN) ...... 5912 D (CDU/CSU) ...... 5892 A (CDU/CSU) ...... 5913 C Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5893 B Tagesordnungspunkt 13: Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Hamburg) ...... 5894 C schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) ...... 5895 D Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, , weiterer Nina Warken (CDU/CSU) ...... 5897 A Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kündigung des bila- teralen Atomabkommens mit Brasilien Tagesordnungspunkt 11: Drucksachen 18/2610, 18/2907 ...... 5914 C Bericht des Ausschusses für Verkehr und digi- Dr. Nina Scheer (SPD) ...... 5914 D tale Infrastruktur gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abge- (DIE LINKE) ...... 5915 B ordneten , , Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 5916 A , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Einführung ei- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ ner Pkw-Maut in Deutschland DIE GRÜNEN) ...... 5917 B Drucksachen 18/806, 18/2989 ...... 5898 B Hiltrud Lotze (SPD) ...... 5918 C Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 5898 C (CDU/CSU) ...... 5899 C Tagesordnungspunkt 14: Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5900 D Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher (SPD) ...... 5902 A Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Opera- tion in Darfur (UNAMID) auf Grundlage (CDU/CSU) ...... 5903 C der Resolution 1769 (2007) des Sicherheits- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ rates der Vereinten Nationen vom 31. Juli DIE GRÜNEN) ...... 5904 A 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2173 (2014) vom 27. August 2014 Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 5904 D Drucksache 18/3006 ...... 5919 D Kirsten Lühmann (SPD) ...... 5905 D Dr. , Parl. Staatssekretär BMVg ...... 5920 A Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 5906 D (DIE LINKE) ...... 5921 A (DIE LINKE) ...... 5907 C Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 5921 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 12: DIE GRÜNEN) ...... 5923 A Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 5924 A der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Na- tionen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Tagesordnungspunkt 15: Resolution 1996 (2011) des Sicherheitsrates Erste Beratung des von den Abgeordneten der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann und Folgeresolutionen, zuletzt 2155 (2014) (Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordne- vom 27. Mai 2014 ten und der Fraktion DIE LINKE einge- Drucksache 18/3005 ...... 5908 D brachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär Kontinuität der Beitragssätze in der gesetz- BMVg ...... 5909 A lichen Rentenversicherung (Beitragssatz- gesetz 2014) Jan van Aken (DIE LINKE) ...... 5910 A Drucksache 18/3042 ...... 5925 A VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Tagesordnungspunkt 18: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Zweite und dritte Beratung des von der Bun- dem Antrag der Abgeordneten Sabine desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hupach, Gesetzes zur Verringerung der Abhängig- Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und keit von Ratings der Fraktion DIE LINKE: Kurzzeitig Be- Drucksachen 18/1774, 18/3066...... 5925 B schäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen Drucksachen 18/2786, 18/3067 ...... 5926 D Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weite- Tagesordnungspunkt 24: rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umsatzsteuerbetrug desregierung eingebrachten Entwurfs eines bekämpfen Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mi- Drucksache 18/1968 ...... 5925 C krozensusgesetzes 2005 und des Bevölke- rungsstatistikgesetzes Drucksachen 18/2141, 18/3078...... 5927 B Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 25: Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrar- Erste Beratung des von der Bundesregierung statistikgesetzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Drucksachen 18/2707, 18/3064...... 5925 C Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Tagesordnungspunkt 19: Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerken- Antrag der Abgeordneten Dr. André Hahn, nung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeord- und zur Änderung des Gesetzes über das Ver- neter und der Fraktion DIE LINKE: Anti-Do- fahren in Familiensachen und in den Angele- ping-Gesetz für den Sport vorlegen genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Drucksache 18/2308 ...... 5926 A Drucksache 18/2955 ...... 5927 C

Tagesordnungspunkt 21: Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Erste Beratung des von der Bundesregierung tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung Modernisierung der Finanzaufsicht über des Urheberrechtsgesetzes Versicherungen Drucksachen 18/2602, 18/3069...... 5926 A Drucksache 18/2956 ...... 5927 D

Tagesordnungspunkt 22: Tagesordnungspunkt 27: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Erste Beratung des von der Bundesregierung von der Bundesregierung eingebrachten Ent- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur wurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zu- Anpassung der Abgabenordnung an den satzprotokoll vom 10. November 2010 zum Zollkodex der Union und zur Änderung Europäischen Auslieferungsübereinkom- weiterer steuerlicher Vorschriften men vom 13. Dezember 1957 Drucksache 18/3017 ...... 5928 A Drucksachen 18/2655, 18/3071...... 5926 B Tagesordnungspunkt 28: Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu a) Zweite und dritte Beratung des von der dem Europäischen Übereinkommen vom Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 27. November 2008 über die Adoption von eines Gesetzes zur Durchführung des Kindern (revidiert) Haager Übereinkommens vom 30. Juni Drucksache 18/2654 ...... 5928 A 2005 über Gerichtsstandsvereinbarun- gen Drucksachen 18/2846, 18/3068 ...... 5926 C Nächste Sitzung...... 5928 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 VII

Anlage 1 – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 5929 A Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- lungsfonds und über die gemeinsame Nut- zung dieser Beiträge Anlage 2 – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten rungsgesetzes Dr. , Dr. und – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe- Dr. (alle CDU/CSU) zu instrumente nach Artikel 19 des Vertrags den Abstimmungen: vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) ...... 5930 A und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- legung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Anlage 4 Wertpapierfirmen und zur Änderung der Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Dr. (CDU/CSU) zu den Ab- Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, stimmungen: 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie EU sowie der Verordnungen (EU) 2014/59/EU des Europäischen Parlaments Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- Europäischen Parlaments und des Rates legung eines Rahmens für die Sanierung (BRRD-Umsetzungsgesetz) und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der – Gesetz zu dem Übereinkommen vom Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der 21. Mai 2014 über die Übertragung von Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, lungsfonds und über die gemeinsame Nut- 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ zung dieser Beiträge EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- Europäischen Parlaments und des Rates rungsgesetzes (BRRD-Umsetzungsgesetz) – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfe- – Gesetz zu dem Übereinkommen vom instrumente nach Artikel 19 des Vertrags 21. Mai 2014 über die Übertragung von vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Beiträgen auf den einheitlichen Abwick- Europäischen Stabilitätsmechanismus lungsfonds und über die gemeinsame Nut- zung dieser Beiträge (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) ...... 5929 C (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 5931 C

Anlage 3 Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zu den Ab- , und Susann stimmungen: Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleis- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie tungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes 2014/59/EU des Europäischen Parlaments (Tagesordnungspunkt 8 a)...... 5932 A und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Fest- legung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Anlage 6 Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Bei- 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, tragssätze in der gesetzlichen Rentenversiche- 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/ rung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tagesord- EU sowie der Verordnungen (EU) nungspunkt 15) ...... 5932 C Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) ...... 5932 C Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 5933 B VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Michael Gerdes (SPD) ...... 5934 A (CDU/CSU) ...... 5953 C (Wetzlar) (SPD) ...... 5934 D Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 5954 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 5935 C Dr. (DIE LINKE) ...... 5955 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5936 C DIE GRÜNEN)...... 5956 A

Anlage 7 Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug bekämpfen des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung (Tagesordnungspunkt 17) ...... 5937 B des Urheberrechtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 21) ...... 5956 C Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 5937 B (CDU/CSU) ...... 5956 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . 5938 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 5957 C (SPD) ...... 5939 C Christian Flisek (SPD) ...... 5958 C Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 5940 D (SPD) ...... 5959 A Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5941 D Dr. (DIE LINKE) ...... 5959 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 5960 B Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung Anlage 12 der Abhängigkeit von Ratings (Tagesord- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung nungspunkt 18) ...... 5942 D des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten (CDU/CSU) ...... 5942 D Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen Andreas Schwarz (SPD) ...... 5944 A vom 13. Dezember 1957 (Tagesordnungs- Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 5945 C punkt 22) ...... 5961 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 5961 A DIE GRÜNEN) ...... 5946 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 5962 C (SPD) ...... 5963 C Anlage 9 (DIE LINKE) ...... 5964 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ des Antrags: Anti-Doping-Gesetz für den DIE GRÜNEN)...... 5965 A Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) . . . . 5946 D (CDU/CSU) ...... 5946 D Anlage 13 (CDU/CSU) ...... 5948 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Michaela Engelmeier (SPD) ...... 5949 B – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 5950 A des Haager Übereinkommens vom Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- barungen DIE GRÜNEN) ...... 5951 C – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurz- zeitig Beschäftigten vollständigen Zu- Anlage 10 gang zur Arbeitslosenversicherung ermög- lichen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) ...... 5965 D derung des Agrarstatistikgesetzes (Tagesord- (CDU/CSU) ...... 5965 D nungspunkt 20) ...... 5952 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) ...... 5966 D Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) ...... 5952 B Dr. (SPD) ...... 5967 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 IX

Dirk Wiese (SPD) ...... 5968 B Anlage 16 Sabine Zimmermann (Zwickau) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (DIE LINKE) ...... 5968 D des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- rung der Finanzaufsicht über Versicherungen Katja Keul (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 26) ...... 5980 A DIE GRÜNEN) ...... 5969 C (CDU/CSU) ...... 5980 B Manfred Zöllmer (SPD) ...... 5981 D Anlage 14 Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 5982 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- DIE GRÜNEN)...... 5983 D derung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Tagesord- nungspunkt 24) ...... 5970 C Anlage 17 Andrea Lindholz (CDU/CSU) ...... 5970 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung Matthias Schmidt (Berlin) (SPD)...... 5972 A der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Jan Korte (DIE LINKE) ...... 5972 D Vorschriften (Tagesordnungspunkt 27) ...... 5984 D Dr. (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 5984 D DIE GRÜNEN) ...... 5974 C Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 5985 D Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 5986 C Anlage 15 Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 5988 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ des Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung DIE GRÜNEN)...... 5989 B der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäi- sche Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die ge- Anlage 18 genseitige Anerkennung von Schutzmaßnah- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung men in Zivilsachen und zur Änderung des Ge- des Entwurf eines Gesetzes von der Bundes- setzes über das Verfahren in Familiensachen regierung zu dem Europäischen Überein- und in den Angelegenheiten der freiwilligen kommen vom 27. November 2008 über die Gerichtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) . . . 5975 D Adoption von Kindern (revidiert) (Tagesord- Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . 5975 D nungspunkt 28) ...... 5990 C Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . 5990 D (SPD) ...... 5977 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD)...... 5991 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 5978 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE)...... 5992 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5978 D DIE GRÜNEN)...... 5992 D Christian Lange, Parl. Staatssekretär Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV ...... 5979 B BMJV ...... 5993 C

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5785

(A) (C)

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei- nen einheitlichen europäischen Restruktu- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rierungsmechanismus begrüße Sie herzlich zur 63. Sitzung des Deutschen Bun- destages. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kol- Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak- legen Klaus Ernst gratulieren, der in den zurückliegen- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Tagen seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des (Beifall) Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre. und eines einheitlichen Verfahrens für die (B) Abwicklung von Kreditinstituten und be- (D) Wir müssen dann noch eine Wahl durchführen. Die stimmten Wertpapierfirmen im Rahmen Fraktion Die Linke schlägt vor, dass in das Kuratorium eines einheitlichen Abwicklungsmechanis- der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepu- mus und eines einheitlichen Bankenab- blik Deutschland der Kollege als wicklungsfonds sowie zur Änderung der Nachfolger für den Kollegen Dr. als or- Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Euro- dentliches Mitglied berufen wird und der Kollege Neu päischen Parlaments und des Rates dem Kollegen Birkwald als stellvertretendes Mitglied nachfolgt, mit anderen Worten, dass sie ihre jeweiligen KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 Positionen tauschen. Hat dagegen jemand schwerwie- hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- gende Bedenken? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 so beschlossen. des Grundgesetzes Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzel- Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- interessen – Für eine echte Europäische führten Punkte zu erweitern: Bankenunion ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard sprache Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Risiko und Haftung zusammenführen – ten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken- Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der test sicherstellen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard fen – Stopp des Programms MobiPro-EU so- Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, fort aufheben weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksachen 18/1343, 18/1531 5786 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 3 Aktuelle Stunde Wer sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daran (C) auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE erinnert, wie langwierig und wie mühsam die Verhand- GRÜNEN lungen allein zur EU-Zinsrichtlinie in den letzten 15 Jah- ren gewesen sind, der wird um die Tragweite des jetzt Haltung der Bundesregierung zu den alarmie- beschlossenen automatischen Informationsaustausches renden Ergebnissen des Weltklimaberichts wissen. Wenn man außerdem bedenkt, dass wir vor mehr und dem Handlungsbedarf für mehr Klima- als zwei Wochen in demselben Finanzministerrat, in dem schutz wir 15 Jahre mit der EU-Zinsrichtlinie nicht so richtig Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- vorangekommen sind, einstimmig beschlossen haben, gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. dass wir den automatischen Informationsaustausch ab 2017 über die sogenannte Amtshilferichtlinie in europäi- Der Tagesordnungspunkt 16 soll abgesetzt werden. sches Recht umsetzen, erkennt man, was hier in kurzer Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rü- Zeit an Veränderungen doch möglich geworden ist. cken entsprechend vor. Mit dem Inkrafttreten dieses Informationsaustausches Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einver- stehen die Länder, die sich daran beteiligen, als Fluchtort ständnis feststellen? – Das ist der Fall. Dann können wir für Kapitalvermögen nicht mehr zur Verfügung. Somit so verfahren. wird es schwieriger – unmöglich wird es nie, aber hof- Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b fentlich schwieriger –, Kapitaleinkünfte vor der recht- auf: mäßigen Besteuerung zu verbergen. Steuerhinterziehung wird unattraktiver. a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen Dieser internationale Informationsaustausch geht auf eine gemeinsame Initiative von Frankreich, Großbritan- Verbesserter automatischer Informationsaus- nien, Italien, Spanien und Deutschland zurück. Wir tausch – Einigung auf wirksamere Regeln zur haben uns früh für diese umfassende internationale Ko- Bekämpfung von Steuerflucht operation eingesetzt. In der immer unübersichtlicher b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- werdenden Welt des 21. Jahrhunderts können ja kleine, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- vor allem aber große Vermögen per Knopfdruck im rung der Abgabenordnung und des Einfüh- Internet auf der ganzen Welt hin- und hergeschoben wer- rungsgesetzes zur Abgabenordnung den. In einer solchen Welt reichen die bisherigen bilate- ralen Doppelbesteuerungs- und Informationsaus- Drucksache 18/3018 tauschabkommen nicht mehr aus. Wir brauchen einen (B) (D) Überweisungsvorschlag: internationalen Ordnungsrahmen, in dem einheitliche Finanzausschuss (f) Standards gelten. Diesen multilateralen Ansatz treiben Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz wir jetzt voran. Haushaltsausschuss Wir haben jetzt 52 Unterzeichnerstaaten. Es werden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sich aber weitere Staaten dem Abkommen anschließen. die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Insgesamt bekennen sich bereits rund 100 Staaten und rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig Gebiete zu diesem Abkommen, darunter auch so wich- einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. tige Finanzzentren wie die Schweiz und Singapur. Ich Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er- bin sicher, dass in kurzer Zeit weitere Staaten folgen hält nun der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang werden. Schäuble. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Luxemburg?) neten der SPD) – Luxemburg hat unterzeichnet. Luxemburg ist schon bei den Unterzeichnerstaaten der vergangenen Woche. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- Auch in Luxemburg haben sich die Dinge geändert. Da zen: bleibt zwar noch viel zu tun, wie wir in den Zeitungen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lesen können. Das ist wahr. Wobei es da, wenn ich es in Herren! Wir haben in der letzten Woche hier in Berlin den Zeitungen richtig lese – zu dem Thema komme ich zusammen mit den Vertretern von 51 weiteren Staaten auch noch –, nicht nur illegale Steuerhinterziehung gibt, und Gebieten eine multilaterale Vereinbarung über den sondern eben auch die Ausnutzung von legalen Gestal- automatischen Informationsaustausch über Finanzkon- tungsmöglichkeiten. ten unterzeichnet. Danach werden ab 2017 die Steuer- (Zuruf von der LINKEN: Das ist wohl wahr!) behörden in Deutschland und in den anderen Unter- zeichnerstaaten in einem automatisierten Verfahren Dagegen etwas zu unternehmen, ist der nächste Schritt. Kontoinformationen von den in ihrem Staat oder Gebiet (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ansässigen Banken und Finanzdienstleistern erhalten, und sie werden diese Daten untereinander austauschen. Neben der Verringerung legaler Gestaltungsmöglich- Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen internatio- keiten ist natürlich zunächst vor allem wichtig, dass wir nale Steuerhinterziehung. dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5787

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Bekämpfung der illegalen Steuerhinterziehung ist des- blockiert! – Gegenruf des Abg. (C) wegen also nicht weniger wichtig. Aber wir haben jetzt [CDU/CSU]: Wir können euch auch bitten, eine neue Phase internationaler Steuerkooperation, weil mitzumachen, wie beim Asyl!) alle eingesehen haben, dass es so nicht weitergehen Es wäre wünschenswert, die Auswirkungen der kalten kann. Das hat auch Konsequenzen für das Bankgeheim- nis. Das drückt in vielen Ländern ja ein wichtiges Progression endlich zu beseitigen. Grundverständnis zwischen Staat und Bürgern aus. Das (Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/ hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Men- DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- schen nicht gegenüber jedermann alles offenlegen wol- schenfrage) len. Das Recht auf Privatheit verstehen wir ja auch vor dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbst- Herr Präsident, ich bekomme hier ein Zeichen, dass bestimmung im Datenschutz in seiner Bedeutung immer Sie mir etwas sagen wollen. besser. Es geht also auch um das Bankgeheimnis. Das Bankgeheimnis besteht mit diesem automatischen Infor- Präsident Dr. Norbert Lammert: mationsaustausch jedenfalls gegenüber den Steuerver- Nein, das war versehentlich. waltungen – das muss man sagen – nicht mehr fort. Aber es bleibt ja Aufgabe des Datenschutzes, dafür zu sorgen, Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- dass die Bürger nicht gegenüber jedermann ihre privaten zen: Verhältnisse offenlegen müssen. Wir legen jedenfalls Dann bitte ich um Nachsicht. auch bei dieser Steuerkooperation hohen Wert auf den Datenschutz. Es müssen auch beim automatischen Infor- mationsaustausch die höchsten Standards gelten. Wir ha- Präsident Dr. Norbert Lammert: ben dafür eine eigene Datenschutzklausel bei der OECD Weil wir bei Regierungserklärungen, Herr Kollege hinterlegt. Gambke, üblicherweise keine Zwischenfragen zulassen, bitte ich, das gegebenenfalls zu einem späteren Zeit- Diese Form von Steuerpolitik ist im Übrigen ein zen- punkt zu tun. traler Baustein einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik. Wir brauchen in Deutschland nachhaltiges wirtschaftli- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- ches Wachstum, und das erreichen wir nur, wenn wir zen: Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern schaffen bzw. erhalten. Investoren brauchen Planungssicherheit Also erinnere ich nur noch einmal daran – wahr- und gute Rahmenbedingungen, um weiter am Wirt- scheinlich wäre das auch die Zwischenfrage gewesen –: schaftsstandort Deutschland zu investieren, um For- Wir haben 2012 ein Gesetz zum Abbau der kalten Pro- (D) (B) schung zu betreiben, um Innovationen zu entwickeln, gression verabschiedet. Es ist aber leider vom Bundesrat um gute Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei spielen zuver- blockiert worden, und bis heute hat sich daran nichts ge- lässige steuerpolitische Rahmenbedingungen eben eine ändert. Aber wir versuchen, in den laufenden Verhand- große, wichtige Rolle. Dazu gehört auch die Zusage, lungen mit den Ländern darüber eine Einigung zu erzie- dass wir in dieser Legislaturperiode keine Steuern erhö- len, damit wir das endlich schaffen können. hen wollen. Jetzt haben wir im Zusammenhang mit dem automati- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Informationsaustausch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Diskussion über die Abgeltungsteuer. Ich Im Übrigen will ich in dem Zusammenhang die Be- erinnere wieder und wieder daran: Die Abgeltungsteuer merkung machen: Unser finanzpolitischer Spielraum ist ist mit dem Argument eingeführt worden – es war in sei- bei der Fortsetzung dieser richtigen Finanzpolitik be- ner kommunikativen Wirkung schwer zu übertreffen –: grenzt. Umgekehrt ist die Bereitschaft des Bundesrats, 25 Prozent von X ist mehr als 45 Prozent von nix. – So- einnahmemindernden Gesetzesvorschlägen zuzustim- lange man die Informationen nicht hat, ist eine Abgel- men – die Zustimmung des Bundesrats zu solchen Ge- tungsteuer in der Abwägung der Argumente – pro und setzen ist notwendig, wie wir spätestens seit dem ge- kontra – zumindest eine mit guten Argumenten verse- scheiterten Gesetz zum Abbau der kalten Progression hene Lösung. Wenn der automatische Informationsaus- wissen –, nicht vorhanden. Deswegen rate ich dazu, tausch eingeführt ist, kann man noch einmal überprüfen, nicht allzu viel Kreativität bei Steuersenkungsvorschlä- ob die Argumente dann noch so gelten. Aber ich rate gen zu entwickeln. Denn da sie kurzfristig nicht zu reali- dazu, dass wir jetzt zunächst einmal warten, bis der auto- sieren sein werden, können sie im Zweifel nur Verunsi- matische Informationsaustausch eingeführt ist. Wir ha- cherung schüren. ben jetzt seine Einführung vereinbart. Ab 2017 soll er (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- funktionieren, und dann können wir es tun. Es ist immer NEN]: Das ist ja einmal eine interessante An- so: Wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten geht, sage!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Fällt man auf die Schnauze!) Das können wir wirtschaftlich überhaupt nicht gebrau- chen. gerät man leicht ins Stolpern. Deswegen gehen wir Schritt für Schritt voran. Das ist sehr viel besser. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kerstin Andreae: Das ist interes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sant: Wir machen nichts, weil der Bundesrat neten der SPD) 5788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Im Übrigen will ich angesichts öffentlicher Debatten, ihre Einkunftsquellen wie Patente und Lizenzen auf (C) die einen manchmal schon amüsieren können, sagen: Tochterunternehmen im Ausland, um von niedrigeren Unser Steuersystem ist im Hinblick auf unseren moder- Steuersätzen zu profitieren. Das führt dann zu Wettbe- nen Industriestandort international wettbewerbsfähig. werbsverzerrungen im Verhältnis zu Unternehmen, die Wir haben keine höhere Unternehmensbesteuerung als überwiegend im Inland operieren. Anders als bei multi- vergleichbare Industriestaaten. Die Unternehmensbe- nationalen Konzernen sind die Strukturen und Geschäfts- steuerung in Deutschland ist etwa im Vergleich zu den modelle kleiner und mittlerer Unternehmen wenig dafür Vereinigten Staaten von Amerika spürbar niedriger. Wir geeignet, die Möglichkeiten der international unter- bieten attraktive Rahmenbedingungen für Investitionen schiedlichen steuerlichen Regulierung auszunutzen. und Innovationen. Wir sollten das weder leichtfertig ge- Deswegen müssen unsere steuerlichen Regelungen an fährden noch leichtfertig zerreden. die höhere Internationalität, Komplexität und auch an Aber natürlich ist entscheidend, dass die bestehenden die neue Wirtschaftswelt der digitalen Dienstleistungen Steueransprüche auch konsequent durchgesetzt werden. angepasst werden. Leider steigen übrigens dabei Dazu ist der automatische Informationsaustausch ein zwangsläufig auch die Anforderungen an Umsetzung wichtiger Schritt, indem er illegale Steuerflucht für die und Vollzug der Regulierung. Einfacher wird es dadurch Zukunft erschwert und im Ausland lagernde Kapitalver- nicht. mögen einer korrekten Besteuerung im Inland zuführt. Wir haben in den letzten Jahren auch bei der Gestal- Damit bekämpfen wir das Problem, dass den öffentli- tung der internationalen steuerlichen Bedingungen für chen Haushalten durch Steuerflucht Steuereinnahmen in Unternehmen eine Menge erreicht. Wir haben – das ge- Milliardenhöhe fehlen. schah wiederum maßgeblich auf unser Betreiben hin – Indem wir bestehende Steueransprüche durchsetzen im Rahmen der G 20 und im Rahmen der OECD Pro- – auch daran muss man erinnern –, sichern wir die jekte gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung Grundlagen unseres Gemeinwesens. Unser Bildungswe- initiiert. Das ist die sogenannte BEPS-Initiative. BEPS sen, unsere Verkehrsinfrastruktur, unsere innere Sicher- steht für Base Erosion and Profit Shifting, also für die heit, unsere hohe soziale Absicherung – all das und noch Erosion der steuerlichen Bemessungsgrundlage und die viel mehr hängt davon ab, dass die öffentlichen Haus- Verlagerung der Profite. Ziel dieses BEPS-Projekts ist halte zuverlässig und auskömmlich finanziert sind. In es, international abgestimmte Standards zu vereinbaren, diesem Land ist Konsens, dass dabei die Besteuerung an um die Möglichkeiten multinational tätiger Unterneh- der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszurich- men zur kreativen Steuergestaltung zu begrenzen. Wir ten ist. Deswegen dürfen die Bezieher höherer Einkom- wollen den internationalen Steuerwettbewerb nicht ab- schaffen, aber wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb (B) men und die Besitzer größerer Vermögen nicht größere (D) Möglichkeiten haben, sich der legalen Besteuerung zu für alle. Gewinne sollen dort besteuert werden, wo die entziehen. Niemand soll sich auf Kosten der Allgemein- zugrundeliegende unternehmerische Aktivität und die heit seiner Steuerpflicht entziehen können. Dieses Prin- tatsächliche Wertschöpfung stattfinden. Wir wollen zip wird durch illegale Steuerflucht infrage gestellt. Doppelbesteuerung – das war schon immer so – verhin- dern, aber wir wollen auch zunehmend verhindern, dass Da natürlich die Menschen nicht ganz ohne Grund es doppelte Nichtbesteuerung gibt. Beides führt nämlich den Eindruck haben, dass Steuerflucht überwiegend bei zu Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Behinderun- größeren Vermögen stattfindet, handelt es sich um ein gen von marktwirtschaftlichen Prozessen. Problem, das mit Fairness und Gerechtigkeit zu tun hat. So verbessern wir mit dem automatischen Informations- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- austausch Fairness und Gerechtigkeit in unserem Lande. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Übrigen sollen sich international tätige Konzerne neten der SPD) genau wie andere Unternehmen auch angemessen an der Finanzierung der öffentlichen Haushalte beteiligen. Es Nun müssen wir auch – damit komme ich zum zwei- kann nicht sein, dass sich wenige auf Kosten vieler be- ten Thema – im Bereich der Unternehmensbesteuerung reichern. Das gilt übrigens für Staaten wie für Unterneh- auf die Sicherung der Einnahmebasis und auf höhere men, und es gilt in beiden Fällen für kleine wie für Steuergerechtigkeit achten. International tätige Kon- große. zerne haben mehr Möglichkeiten – dazu nutzen sie un- terschiedliche Steuerregelungen im In- und Ausland (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) aus –, um ihre Steuerbelastung zu minimieren. Das ist Im Rahmen dieses Projekts hat die OECD in einer be- legal, aber im Übermaß betrieben ist das ein Problem für merkenswert kurzen Zeit – mein britischer Kollege und die Steuergesetzgebung und für die internationale Zu- ich haben die Initiative vor drei Jahren in Mexiko gestar- sammenarbeit. tet – wirklich enorme Fortschritte auf diesem Gebiet zu- stande gebracht. Das muss man mit großem Respekt und In der globalisierten Welt werden Waren- und Kapi- voller Dankbarkeit sagen. talströme immer mobiler; und damit auch die maßgebli- chen Einkunftsquellen. Das ist das objektive Problem. Wir haben jetzt im September in Australien im Kreise Einkünfte stammen zunehmend aus immateriellen Wer- der G-20-Finanzminister die ersten 7 von insgesamt ten, die steueroptimiert ins Ausland verlagert werden 15 Aktionspunkten in Vorbereitung auf den G-20-Gipfel können. So transferieren international tätige Konzerne gebilligt. Die sollen in der kommenden Woche in Bris- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5789

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) bane begrüßt werden. Im kommenden Jahr erwarten wir Des Weiteren soll der Berichtigungszeitraum von bis- (C) internationale Verständigung zu weiteren Punkten. Mit her fünf auf zehn Jahre ausgedehnt werden. Das heißt, diesen konkreten und umsetzbaren Empfehlungen kön- Steuerhinterzieher, die von der Selbstanzeige Gebrauch nen die beteiligten Staaten dann den Gesetzgebungspro- machen wollen, müssen zu allen Steuerstraftaten einer zess beginnen. Steuerart die Angaben in vollem Umfang berichtigen, ergänzen oder nachholen, und zwar für den Zeitraum der Ich will das wichtigste Beispiel kurz erläutern. Im Be- letzten zehn Jahre. reich der Patent- und Lizenzboxen können international agierende Unternehmen ihre Patent- und Lizenzeinnah- Wir haben zugleich Wünsche aus der Praxis nach men an konzerninterne Tochterunternehmen, die ihren mehr Rechtssicherheit im Bereich der Umsatzsteuervor- Sitz in Ländern mit einem niedrigeren Steuersatz haben, anmeldung und der Lohnsteueranmeldung aufgegriffen verschieben und damit die Besteuerung minimieren. und setzen sie mit dem Gesetzentwurf um. Wir stellen Deswegen ist der Inhalt der, dass die steuerliche Begüns- den Rechtszustand, wie er vor dem Schwarzgeldbe- tigung solcher Aktivitäten in Mitgliedsländern nur inso- kämpfungsgesetz galt, wieder her, sodass künftig erneut weit noch erlaubt ist, als sie auf eigenen Forschungs- mehrfache Korrekturen bei den Voranmeldungen im und Entwicklungsarbeiten gründen. So können wir den Laufe eines Jahres möglich sein werden. Das ist sicher- Missbrauch durch Briefkastenfirmen in Zukunft verhin- lich richtig. Diesbezüglich sind wir damals bei der dern. Darauf haben wir uns mit Großbritannien geeinigt. Schwarzgeldbekämpfung ein Stück zu weit gegangen. Wir besprechen im Moment die technischen Fragen für Die Abgabe einer Selbstanzeige in Form der Umsatz- eine Übergangslösung, und die Vereinbarung soll dann steuerjahreserklärung für ein abgelaufenes Jahr soll wie- auf der G-20-Ebene eingebracht werden. Danach werden der unabhängig davon erfolgen können, ob die Umsatz- wir sie in europäisches Recht überführen. Im Zuge des- steuervoranmeldungen für das laufende Jahr fehlerhaft sen können wir in Deutschland ohne Verstoß gegen euro- waren. päisches Recht eine Gesetzgebung auf den Weg bringen, Mit diesen Neuregelungen haben wir einen ausgewo- gemäß der die Abzugsfähigkeit in Deutschland nur noch genen Kompromiss von Verschärfung der Folgen einer zugelassen ist, wenn die Regelungen in dem jeweils an- Steuerhinterziehung und notwendigen Korrekturmög- deren Staat dieser Vereinbarung entsprechen. lichkeiten bei komplexen Voranmeldungen erarbeitet. Die strafbefreiende Selbstanzeige bietet Steuerhinterzie- Im Übrigen hat die irische Regierung, wie Sie mitver- hern weiterhin einen Weg zurück in die Steuerehrlich- folgen konnten, angekündigt – auch dazu haben wir sehr keit. Zugleich tragen wir mit der Verschärfung der Be- viel beigetragen –, dass sie das als „Double Irish“ be- dingungen dem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung. kannte Schlupfloch für Unternehmen – es besteht im (B) Wesentlichen darin, dass man rechtlich in Irland ansässig Mit dem automatischen Informationsaustausch, den (D) sein kann, ohne dort und damit auch in der Europäischen internationalen Standards gegen Steuergestaltung und Union steuerpflichtig zu sein – abschaffen will. Das ist Steuervermeidung und mit der Neuregelung der strafbe- ebenfalls ein wichtiger Schritt. freienden Selbstanzeige unternehmen wir wichtige Schritte in Richtung von mehr Steuergerechtigkeit. Wir Schließlich wollen wir auch in der nationalen Steuer- erhöhen die Steuergerechtigkeit im In- wie im Ausland, politik für mehr Gerechtigkeit und Fairness sorgen. Des- tragen zur Sicherung der Finanzierungsbasis der öffentli- wegen bringen wir den Gesetzentwurf zur Änderung der chen Haushalte bei und stärken damit das Vertrauen der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Ab- Menschen ebenso wie die Rahmenbedingungen für Un- gabenordnung ein, mit dem die Regelungen zur strafbe- ternehmer und Investoren. Wir handeln im Sinne des Ge- freienden Selbstanzeige weiterentwickelt werden sollen. dankens der Generalprävention, demzufolge Gesetze Wir haben uns intensiv mit den Ländern abgestimmt und Regelungen dem Schutz der Allgemeinheit dienen – Steuerverwaltung ist ja Sache der Länderverwaltungen – und das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsord- und sind uns einig, dass wir das Rechtsinstitut der straf- nung, in diesem Fall die Steuerordnung, stärken, sei es durch mehr Transparenz, durch einheitliche Standards befreienden Selbstanzeige grundsätzlich beibehalten, oder durch strengere Regeln. aber die Bedingungen ab kommendem Jahr deutlich ver- schärfen wollen. Wir haben nun die Chance, einen internationalen Ord- nungsrahmen in Steuerfragen zu schaffen, der unserer (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gesellschaft und unserer Wirtschaft nachhaltigen Nut- Richtig!) zen und damit Wohlstand sichern kann, in Deutschland Im Wesentlichen soll die Grenze für die strafbefrei- und weit darüber hinaus. Diese Chance, liebe Kollegin- ende Selbstanzeige von jetzt noch 50 000 Euro auf nen und Kollegen, sollten wir nutzen. 25 000 Euro abgesenkt werden. Bis zu diesem Betrag Herzlichen Dank. bleibt sie straffrei, und es wird auch kein Strafzuschlag erhoben. Ab 25 000 Euro werden in Zukunft bei einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Selbstanzeige nach dem jeweiligen Hinterziehungsbe- trag gestaffelte Strafzuschläge erhoben. Bei einem Hin- Präsident Dr. Norbert Lammert: terziehungsbetrag von 25 000 Euro bis 100 000 Euro Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der soll ein Zuschlag von 10 Prozent gezahlt werden, ab Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. 100 000 Euro bis zu 1 Million Euro 15 Prozent und über 1 Million Euro 20 Prozent. (Beifall bei der LINKEN) 5790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): dieser unsäglich niedrige Unternehmensteuersatz ein (C) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Problem ist? Das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Schäuble, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – hört sich natürlich alles sehr eindrucksvoll an. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir! Das (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist es auch! – haben wir jedes Mal! – Lothar Binding [Hei- Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist delberg] [SPD]: Die SPD hat darauf hingewie- auch so! Sie kapieren es nur nicht!) sen! Ganz klar!) Das Problem ist nur, dass die Geschichte des Kampfes Sie berufen sich jetzt darauf, dass das Double-Irish- gegen die Steuerhinterziehung von Millionären und Modell abgeschafft sei. Der irische Finanzminister hat Konzernen leider eine Geschichte eindrucksvoller An- aber gleich hinzugefügt, dass er großzügige Patentboxen kündigungen ist, denen in der Regel nichts als heiße Luft einführen wird. Das heißt, das, was Sie hier machen, ist gefolgt ist. nichts anderes, als die Öffentlichkeit für dumm zu ver- kaufen. Natürlich kann die Politik das verhindern. Der (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wille fehlt. Das ist das zentrale Problem. Sehen Sie das nicht?) (Beifall bei der LINKEN) Herr Schäuble, Sie haben vorhin selbst kurz auf Luxemburg verwiesen. Es geht heute durch alle Medien, „Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorüber.“ Genau wie Luxemburg – das ist nicht ganz neu und nicht ganz dieser Satz stand übrigens schon einmal im Abschluss- unbekannt – den Konzernen in großem Stil durch das kommuniqué eines Weltfinanzgipfels, und das war im Bereitstellen von Konstruktionen geholfen hat, ihre April 2009. Seitdem sind die Auslandsvermögen in der Steuerquote legal auf etwa 1 Prozent ihrer Gewinne Schweiz um über 14 Prozent gewachsen, die in anderen – teilweise vielleicht sogar 0 Prozent – herunterzudrü- Steueroasen sogar noch mehr. Wir erinnern uns auch gut, cken. Das ist passiert unter Federführung Ihres Kommis- Herr Schäuble, dass Sie noch 2012 ein Abkommen mit sionspräsidentenkandidaten, der inzwischen Präsident der Schweiz abschließen wollten, das genau dieses der Europäischen Kommission ist, des Herrn Juncker. Bankgeheimnis für alle Ewigkeit garantiert und allen Ich muss sagen: Ich finde es schon bemerkenswert, dass Steuerhinterziehern mit Schweizer Konten eine Weißwä- Beihilfe zur Steuerhinterziehung, dass Beihilfe daran, sche garantiert hätte. dass große Konzerne die Allgemeinheit in Europa in (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann Milliarden- und Billionenhöhe schädigen können, hätte man aber nicht die vielen, vielen Verjäh- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine rungen gehabt!) (B) (D) Sauerei!) Da war bei Uli Hoeneß & Co. wahrscheinlich schon der in diesem Europa offensichtlich für höchste Funktionen Champagner kalt gestellt. prädestiniert. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die- Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass Sie sich da- ses Geschäftsmodell ist jetzt vorbei!) mals heftig beschwert haben, als dieses Abkommen im Allein das ist ein riesiger Skandal. Bundesrat gescheitert ist. Wäre es nicht gescheitert, gäbe es das jetzige, das Sie gerade so sehr feiern, überhaupt (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding nicht. [Heidelberg] [SPD]: Umso wichtiger ist, dass wir etwas tun!) (Beifall bei der LINKEN) Herr Schäuble, Wenn Sie sagen, es handele sich um Sie reden gerne vom Rechtsstaat. Aber in Wahrheit legale Möglichkeiten, erwidere ich Ihnen: Es gibt natür- gibt es doch längst zweierlei Recht in diesem Land. Ein lich genauso legale Möglichkeiten, hier in Deutschland Schwarzfahrer kann im Knast landen, wenn er ein paar- diese Art der Steuerhinterziehung von Konzernen zu mal ohne Ticket in der S-Bahn erwischt wird. Ein Klein- verhindern. Sie brauchen nur dafür zu sorgen, dass Li- betrieb, der mit der Zahlung seiner Mehrwertsteuer im zenzgebühren, Patentgebühren und Zinsen, die in Länder Rückstand ist, wird unter massiven Druck gesetzt und fließen, die bekanntermaßen solche Modelle anbieten nicht selten in den Konkurs getrieben. Großen Konzer- und genau diese Gebühren und Zinsen eben nicht besteu- nen dagegen werden Scheunentore an Möglichkeiten er- ern, hier nicht mehr abzugsfähig sind. Natürlich wäre öffnet, Steuern ganz legal nach unten zu drücken. das möglich. Gleichzeitig: Wer als Privatperson die Allgemeinheit um Millionen prellt, soll auch in Zukunft die Chance haben, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sich bei Witterung von Gefahr durch Selbstanzeige Straffreiheit zu erkaufen. Das ist doch ein einziger Skan- Ich kann es nicht mehr hören, dass man sich hinstellt und dal! sagt: Wir können da nichts tun. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Schauen Sie sich Europa an: Was wurde den Krisen- ländern alles diktiert? Die Löhne mussten sinken, die öf- Wenn ein reuiger Bankräuber seine Beute irgendwann fentliche Beschäftigung musste abgebaut werden. Aber zurückgibt, kann auch er nicht als unbescholtener Bürger wer hat auch nur einmal Irland darauf hingewiesen, dass das Haus verlassen. Bankraub bleibt auch dann strafbar, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5791

Dr. Sahra Wagenknecht (A) wenn man ihn aus Angst vor Aufdeckung selbst zur An- Keine Bundesregierung hat auch nur das Mindeste an (C) zeige bringt. der skandalösen Situation geändert, dass heute, wie in al- ten feudalen Zeiten, die Reichsten der Reichen kaum (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tätige noch Steuern zahlen, während der Fiskus bei denjenigen, Reue gibt es aber auch!) die hart arbeiten und oft viel zu wenig dafür bekommen, Da muss man Sie von CDU und CSU, aber auch Sie von gnadenlos zugreift. Das wird auch das neue Abkommen der SPD natürlich fragen: Finden Sie das Ausrauben der nicht ändern. Allgemeinheit wirklich so viel harmloser als das Ausrau- „Offshore-Leaks“ hat vor einiger Zeit aufgedeckt, ben einer Bank? wer so alles Briefkastenfirmen im Steuerparadies Pa- (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- nama unterhält. Die Liste las sich wie das „Who is Brömer [CDU/CSU]: Lesen Sie im Strafrecht who?“ der deutschen Wirtschaft. Da finden wir all Ihre noch mal nach! Keine Ahnung vom Straf- Freunde und Geldgeber, also die Familien Quandt, recht!) Porsche, Piëch, die Kaffeedynastie Jacobs und viel alten Adel wie Finck, Habsburg und Wittgenstein. Wir als Linke sehen das nicht so, zumal es sich beim Raub an der Allgemeinheit um weit größere Summen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und handelt: Allein in Deutschland schätzt man die Ausfälle wo ist das SED-Vermögen?) durch Steuerbetrug und Steuertricks auf etwa 100 Mil- Panama dürfte sich in Zukunft eines weiter wachsen- liarden Euro jährlich. 100 Milliarden Euro sind fast ein den Zuspruchs erfreuen; denn es gehört zu den Ländern, Drittel des Bundeshaushaltes. Und da behaupten Sie, die dieses Abkommen nicht unterschrieben haben. Auch ohne rot zu werden, es sei kein Geld da für menschen- die Schweiz lässt sich Zeit. Da sagen Sie aber nicht: Da würdige Pflege, für ordentliche Bildung, für eine ausrei- können wir nichts machen. – Wo gutes Zureden nicht chende Zahl von Kitaplätzen, für armutsfeste Rente? hilft, muss man eben ein bisschen ruppiger werden. Was ist denn das für eine Heuchelei? Natürlich ist das Geld da. Es wird nur mithilfe von Banken und Finanz- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh, kriminellen in den Steueroasen dieser Welt versteckt. linke Taktik! – Weitere Zurufe von der CDU/ Das Problem ist doch, wo das Geld bleibt. CSU: Aha! Und wie? – Sollen wir aufrüsten?) (Beifall bei der LINKEN) Ich garantiere Ihnen: Würden Sie alle Zinsen und Divi- denden, die aus Deutschland oder vielleicht sogar aus Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass Poli- der gesamten EU in solche Steueroasen fließen, mit ei- tiker, die so gern über Schuldenbremsen und schwarze (B) ner Quellensteuer von, sagen wir, 50 Prozent belegen, (D) Nullen philosophieren, erkennbar so wenig Ehrgeiz zei- würde die Gesprächsbereitschaft dieser Steueroasen ra- gen, wenn es darum geht, dieses riesige schwarze Loch sant zunehmen. in den öffentlichen Finanzen irgendwann einmal zu stop- fen. (Beifall bei der LINKEN) Nun weiß man zwar, dass die CDU selbst einschlä- Man muss sich natürlich schon fragen, warum Sie die gige Erfahrungen mit Schwarzgeldkonten und Schatten- eigentlichen Organisatoren dieser Steuerflucht, nämlich finanzen hat, die Banken, nach wie vor unbehelligt lassen. Warum schaffen Sie kein Gesetz, dass die Banklizenz in (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Deutschland daran geknüpft ist, dass keine Tochterfir- Na, na, na!) men in Steueroasen unterhalten werden? Finden Sie es Umstände, die nicht zuletzt aufgrund des Schweizer wirklich normal, dass allein die Deutsche Bank Bankgeheimnisses nie restlos aufgeklärt werden konn- 970 Tochterfirmen in Ländern unterhält, die das Netz- ten. Aber man muss natürlich sagen: Auch den SPD- werk Steuergerechtigkeit als Schattenfinanzplätze be- Finanzministern Eichel und Steinbrück fiel zum Thema zeichnet? Was meinen Sie, was die da machen? Die Süd- Steuerhinterziehung nicht viel mehr ein als großzügige seesonne genießen? Amnestien und die Einführung dieser unsäglichen Ab- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das geltungsteuer, die dazu führt, dass Menschen, die hart ar- machen Sie am liebsten!) beiten, per se höhere Steuersätze haben als Menschen, die von ihren Vermögenseinkommen leben. Auch das Es waren übrigens genau diese Hebel, nämlich Quel- gehört schleunigst abgeschafft. lensteuern und Druck auf die Banken, mit denen die USA weltweit Abkommen erzwungen haben, die ihnen (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Hei- jetzt gewährleisten, dass die Kontodaten amerikanischer delberg] [SPD]: Nein, so ist das falsch!) Staatsbürger an sie gemeldet werden. Das Pikante an Wenn Sie von der SPD das wollen, dann bringen Sie diesem Fall ist aber, dass sich die USA am Abkommen doch einen Antrag ein. Wir werden dafür stimmen. Sie über gegenseitigen Informationsaustausch, das Sie hier haben doch eine Mehrheit dafür. beschrieben haben, nicht beteiligen wollen. Das heißt, die US-Steueroase Delaware ist nach wie vor ein super- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Noch attraktiver Standort für ausländische Steuerflüchtlinge mal: So ist das falsch! Eine einfache Rechnung weltweit. Ich stelle fest, dass die Bundesregierung auch zeigt das!) das anscheinend demütig hinnehmen wird. 5792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Sahra Wagenknecht (A) Insoweit muss man schon sagen: Dieses Abkommen sich viele weitere Staaten und internationale Finanz- (C) hat erstens zu wenig Unterzeichner. Zweitens beinhaltet plätze daran beteiligen. Dass das gelingt, hätte ich mir es Regeln, die große Scheunentore an Umgehungsmög- vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. Deswegen lichkeiten öffnen. So werden beispielsweise alte Konten ist das heute ein großer Schritt. gar nicht gemeldet. Gemeldet wird auch nicht, wer An- teile eines Unternehmens von weniger als 25 Prozent (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hält usw. Wir machen Gesetze, die sichern sollen, dass unser Staat von den Bürgerinnen und Bürgern und von den Präsident Dr. Norbert Lammert: Unternehmen finanziert wird. Arbeitnehmerinnen und Frau Kollegin! Arbeitnehmer zahlen ihre Steuer, die Lohnsteuer wird direkt abgeführt. Der Rentner zahlt seine Steuern. Alle Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): zahlen Mehrwertsteuer an der Kasse. Unternehmen ha- Ich komme zum Schluss. – Das heißt, das Ganze ist ben ein wenig mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber im eher ein Konjunkturprogramm für die Nadelstreifenma- Prinzip zahlen auch sie Steuern, zumindest die kleinen fia der auf Steuerflucht- und Steuerhinterziehungsbera- und mittelständischen Unternehmen. tung spezialisierten Firmen und Banken. Die müssen Ein Problem ist dann gegeben, wenn Kapital flexibel sich jetzt ein paar zusätzliche Kniffe ausdenken, um ih- ist und sich verstecken kann. Das betrifft diejenigen, die rer vermögenden Klientel weiterhin das begehrte Pro- über sehr viel Geldvermögen verfügen und es in den ver- dukt „steuerfreie Millionen“ anbieten zu können. gangenen Jahrzehnten quasi als Sport betrieben haben, es in die Schweiz, nach Luxemburg, Liechtenstein und Präsident Dr. Norbert Lammert: in andere Steueroasen zu schaffen und dort anzulegen. Und Sie, Frau Wagenknecht, müssen nun zum Das Ganze geschah unter dem Deckmantel des Daten- Schluss kommen. schutzes und der Autonomie des jeweiligen Ziellandes. Jemand, der arbeitet, muss seine Steuern hier in Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Deutschland zahlen. Im Gegensatz dazu haben manche, Was wir wirklich brauchen in Deutschland, ist endlich die über sehr viel Geld verfügen, keinen einzigen Cent Steuern auf ihre Kapitalerträge gezahlt. Das war ein aso- (Das Mikrofon wird abgeschaltet – Zuruf von ziales Verhalten. der CDU: Jetzt ist es vorbei!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine Politik, die nicht mehr vor der geballten Macht des der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Geldadels kapituliert. Dafür steht die Linke, und dafür (B) GRÜNEN) (D) werden wir weiter kämpfen. Ich glaube, von Günter Grass stammt der Spruch „Der (Beifall bei der LINKEN) Fortschritt ist eine Schnecke“. Das trifft hierauf zu: Die Vorarbeiten für dieses Abkommen laufen seit 2002. Präsident Dr. Norbert Lammert: Hans Eichel hat damals die EU-Zinsrichtlinie auf den Frau Wagenknecht, bei aller Liebe: Bei einem 20-pro- Weg gebracht. Es hat sehr lange gedauert, bis sie be- zentigen Redezeitzuschlag des Präsidenten ist irgend- schlossen wurde. Österreich, Luxemburg haben sich da- wann dann auch der Toleranzrahmen erschöpft. gegen gewehrt. Hier haben wir jetzt insbesondere durch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das Entdeckungsrisiko und auch – da gebe ich Ihnen neten der SPD) recht, Frau Wagenknecht – durch die Drohung der ame- rikanischen Regierung, den europäischen Banken die Li- Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider zenz zu entziehen, wenn sie die Kontodaten amerikani- für die SPD-Fraktion. scher Staatsbürger nicht herausrücken – das sogenannte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten FATCA-Abkommen –, Fortschritte erzielt. Ich hätte mir der CDU/CSU) nicht vorstellen können, dass die Schweiz – mit ein biss- chen Verzögerung, aber sie werden es tun – die Daten von bisher anonymen Kontoinhabern herausrückt. Das Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): ist ein großer und wichtiger Schritt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über zwei Aspekte der Gesetzgebungsmaß- Was hat der Deutsche Bundestag dazu getan? Ich nahmen, die markant sind im Hinblick auf die Frage, wer glaube, schon einiges. Wir Sozialdemokraten haben im- diesen Staat eigentlich finanziert. mer in den Mittelpunkt gestellt, dass die Finanzierung dieses Staates fair sein muss. Aus diesem Grund haben Der erste Aspekt ist, dass wir, wie von Minister wir das Abkommen, das Sie, Herr Minister Schäuble, Schäuble schon angesprochen wurde, die legale Steuer- zur Zeit der vorigen Koalition mit der Schweiz schließen gestaltung von Großkonzernen einschränken wollen. In wollten und welches die Anonymität derjenigen, die ihr dem Land, in dem die Umsätze erwirtschaftet werden, Geld dort haben, sichern sollte, im Bundesrat abgelehnt, müssen die Gewinne auch versteuert werden. Ich werde und nur weil wir es abgelehnt haben, sind Fälle von be- darauf noch zu sprechen kommen. rühmten Fußballmanagern öffentlich geworden, die sich Der zweite Aspekt ist die Abschaffung des Bankge- schon gefreut hatten, in der Anonymität bleiben zu kön- heimnisses innerhalb der Europäischen Union, wobei nen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5793

Carsten Schneider (Erfurt) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten feriert wurden, wo sie marginal besteuert werden. Das ist (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des nicht akzeptabel. Dem müssen wir einen großen Riegel Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) vorschieben. Gewinne müssen dort besteuert werden, wo sie entstehen. Deswegen werden wir die Bedingungen für eine straf- befreiende Selbstanzeige deutlich verschärfen. Der auto- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten matische Informationsaustausch – dafür haben Sie die der CDU/CSU) volle Unterstützung der Großen Koalition – ist der rich- tige Schritt. Ich wünschte mir, die Amerikaner machten Ich erwarte, dass der aktuelle Kommissionspräsident, da auch noch mit, überhaupt keine Frage. Ich hoffe, dass Herr Juncker, der 20 Jahre lang Finanzminister und Pre- ein solcher Informationsaustausch weltweit eingeführt mierminister von Luxemburg war, über die Handlungs- wird. Aber es ist überhaupt schon einmal ein großer weisen der Luxemburger Steuerbehörden Auskunft gibt. Schritt – und dafür will ich mich auch bedanken –, dass Denn jetzt hat er in seiner Funktion als Präsident der Sie 51 Staaten davon überzeugt haben – Singapur, die Europäischen Kommission eine andere Aufgabe. Schweiz etc. –, dieses Abkommen hier in Berlin zu un- Es kann nicht sein, dass wir Deutsche immerzu in terzeichnen und sich gläsern zu machen. Das ist ein gro- Brüssel Kompromisse suchen und Geld geben. Stich- ßer Fortschritt, und dafür sage ich auch: Herzlichen worte sind hier ESM und Bankenrekapitalisierung, über Dank! die wir hier später noch sprechen. Bei all diesen Dingen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird von Deutschland Solidarität erwartet. Das ist die der CDU/CSU) eine Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Staats- einnahmen, um eine ordentliche und gerechte Besteue- Mit der Abgeltungsteuer werden wir uns – die Vorar- rung, was in der Autonomie der Nationalstaaten liegt. beiten müssen vorher laufen – spätestens dann, wenn der Ich sage hier für die SPD: Wir erwarten innerhalb der automatische Informationsaustausch funktioniert, wie- Europäischen Union deutliche Fortschritte in Richtung der beschäftigen. Unser Ziel als Sozialdemokraten ist, einer Fiskalunion, einer gemeinsamen Steuer- und dass Einkommen aus Vermögen genauso besteuert wer- Finanzpolitik. Nur dann sind wir bereit, uns auf der Aus- den muss wie Einkommen aus Arbeit. gabenseite stärker zu engagieren. Beides gehört zusam- (Beifall bei der SPD) men. Der zweite Aspekt, den Sie angesprochen haben, ist (Beifall bei der SPD) die scheinbar legale Steuergestaltung von Großkonzer- Es wird spannend werden, zu sehen, ob dies die Euro- nen. Legal ist, was im jeweiligen Staat vom Parlament (B) päische Kommission mit Herrn Juncker an der Spitze (D) beschlossen wurde. Was „legal“ ist, ist aber noch lange wirklich vorantreibt. Unsere Erwartungshaltung ist klar. nicht moralisch korrekt. Ich habe heute die Süddeutsche Wenn hier nichts passiert, ist das nicht nur ungerecht, Zeitung gelesen; darin ging es auch um die Datengrund- sondern es führt zu extremen Wettbewerbsverzerrungen. lage des Tax Justice Network. Dieses Tax Justice Net- Ein Unternehmen mit 20 Mitarbeitern in meinem Wahl- work hat für die Aufklärung von Steuerbetrug viel mehr kreis Erfurt wird normal besteuert. Es hat überhaupt getan als viele Regierungen in den vergangenen Jahr- keine Chance, seinen Steuersatz von knapp 30 Prozent zehnten. Dafür muss man einmal Danke sagen: dass eine auf unter 1 Prozent zu drücken. Dieses Unternehmen zivilgesellschaftliche Organisation und auch der Journa- steht natürlich im Wettbewerb mit anderen Unterneh- lismus hier vorangehen und etwas aufdecken, was uns men, die keine oder wenig Steuern zahlen. Das ist unge- hilft, gegen Steuerbetrug vorzugehen. recht, das ist unfair. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sollten diejenigen schützen, die sich an die Ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) setze in Deutschland halten. Dafür, Herr Finanzminister, In dieser Hinsicht wünschte ich mir von der Steuerver- haben Sie unsere volle Unterstützung. waltung und auch von den politischen Akteuren in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jeweiligen Ländern viel mehr Initiative. der CDU/CSU) Damit komme ich zu Luxemburg. Man muss sich schon wundern, warum seit den 80er-Jahren Finanzkon- Präsident Dr. Norbert Lammert: zerne ihre Zentralen in Luxemburg haben. Luxemburg Kerstin Andreae ist die nächste Rednerin für die Frak- ist ein schönes Land; aber so groß und mächtig ist es ei- tion Bündnis 90/Die Grünen. gentlich nicht, und so viele produzierende Unternehmen sind da eigentlich nicht ansässig, um den Staat zu finan- zieren. Man muss sich schon fragen, warum Amazon Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dort seinen Europasitz hat. Man muss sich ebenfalls fra- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am gen, warum Länder wie die Niederlande und Irland sehr 2. April 2009 haben die Mitglieder der G 20, also auch hart an der Grenze dessen, was moralisch vertretbar ist Bundeskanzlerin Merkel, die Ära des Bankgeheimnisses – ich meine, diese Grenze wurde bereits überschritten –, für beendet erklärt. Das hat aber den Finanzminister an- durch Steuerdumpinggesetze dafür gesorgt haben, dass scheinend nicht beeindruckt; denn als wäre nichts gewe- Gewinne aus Deutschland, aus dem Vereinigten König- sen, hat er mit der Schweiz darüber verhandelt, Steuer- reich, aus anderen Ländern der EU in ihre Länder trans- betrügern weiterhin Anonymität zu gewähren. Nichts 5794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Kerstin Andreae (A) anderes hätte das deutsch-schweizerische Steuerabkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) men bedeutet. Warum soll der Informationsfluss international erfolgen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber auf nationaler Ebene nicht? Jetzt müssen die Vorbe- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) reitungen dafür getroffen werden – das wäre ein Signal –, dass die Abgeltungsteuer abgeschafft wird. Das wäre in Was wäre das für ein verheerendes Signal gewesen: diesem Zusammenhang richtig. Der Ehrliche zahlt Steuern, dem Unehrlichen wird Ano- nymität gewährt. Fragen Sie doch einmal die Bürgerin- Außerdem müssen – das ist der dritte Punkt – unfaire nen und Bürger in diesem Land: Steuerhinterziehung un- Steuerpraktiken beendet werden. Herr Schneider, ich tergräbt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist habe aufmerksam zugehört, als Sie die legalen Steuerge- wahrlich kein Kavaliersdelikt, sondern dieses Verhalten staltungsmöglichkeiten der Konzerne angesprochen und führt dazu, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft gesagt haben: Wir gehen es an. – In Ihrer Rede habe ich auseinanderbricht, dass sich die Menschen nicht mehr dann aber nichts dazu gehört. An der Stelle bleibt für ernst genommen fühlen und dass die einen für die Infra- mich ein großes Fragezeichen. struktur und das Gemeinwesen zahlen, die anderen nicht. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, dass Kapitalanle- Es darf nicht sein, dass aus dem Gefühl eine Tatsache ger nicht anders behandelt werden als Arbeitnehmer. wird. Wer von seinem Vermögen lebt, soll nicht anders, ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schweige denn besser gestellt werden als jemand, der ei- ner Arbeit nachgeht. Rot-Grün hat diese Pläne im Bundesrat gestoppt und damit diese Ewigkeitsgarantie für Steuersünder glückli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cherweise – so muss man sagen – verhindert. Seither er- Bei diesem ist dem Fiskus bekannt, wie hoch sein Ein- leben wir eine Rückkehr in die Steuerehrlichkeit, die kommen ist. Bei Zinsen, Dividenden und Veräußerungs- sich in diesem Ausmaß keiner hätte vorstellen können: gewinnen greift jedoch die Abgeltungsteuer. Mit dem In- 32 000 Selbstanzeigen von Januar bis September 2014. formationsaustausch, der jetzt verabredet wurde, wird Das sind 3 500 pro Monat oder 120 pro Tag. Wenn es die Situation paradox: Zinsen in Liechtenstein, in Me- noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass dieses ge- xiko oder auf den Cayman Islands sind bekannt, Zinsen plante Steuerabkommen in der Grundkonzeption falsch innerhalb Deutschlands aber nicht. Das heißt, es braucht war, dann ist er hiermit erbracht. Anonymität ist keine auch über die Zinsen und Vermögenserträge auf deut- Alternative zum Informationsaustauch. schen Konten einen Informationsaustausch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (D) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der SPD) Aber auch bei der gerade noch legalen Steuervermei- Viele haben lange dafür gekämpft, innerhalb und au- dung muss gehandelt werden. Deutschland entgehen ßerhalb der Parlamente. Mein besonderer Dank, mein Milliardeneinnahmen. Im Schnitt zahlt ein Mittelständ- Respekt und meine Anerkennung gelten Attac, die die ler 30 Prozent mehr Steuern als ein international agie- Aufhebung des Bankgeheimnisses seit jeher zum Thema render Konzern. Mitverantwortlich dafür sind die soge- gemacht haben. nannten Lizenz- und Patentboxen. Auf internationaler und vor allem auf europäischer Ebene wird versucht, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gegen anzugehen. Die Lizenzboxen locken in verschie- Gemeinnützigkeit im besten Sinne, so möchte ich das denen EU-Ländern mit niedriger Besteuerung. einmal nennen. Danke an Attac! Was erleben wir jetzt? Statt für ein europaweites Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bot zu streiten, liebäugelt der Finanzminister offen da- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- mit, diese Lizenzboxen auch in Deutschland einzufüh- KEN) ren. Damit gefährden Sie zum einen den internationalen Einigungsprozess, und zum anderen schaffen Sie wiede- Sie wissen, ich bin Schwäbin. rum ein Steuerschlupfloch für Großkonzerne. (Christian Freiherr von Stetten: Badenerin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Nein, ich bin gebürtige Schwäbin; darauf bestehe ich. – Wir wollen, dass Sie vorangehen, auch in Europa, und Umsonst gibt es nichts, auch kein Lob. Dass das Bank- sich gegen Lizenzboxen hier und in anderen Ländern geheimnis jetzt fällt, ist richtig. Dafür verdienen Sie un- aussprechen. ser Lob. Es ist richtig, dass das jetzt geschieht. Aber wir brauchen ein paar weitere nächste Schritte, und zwar Ich halte den Vorschlag aus Hessen für eine ganz gute nicht irgendwann, sondern jetzt und mit klaren Signalen. Idee: Patent- und Lizenzausgaben werden nur dann aner- kannt, wenn im Empfängerland mindestens 25 Prozent Erstens muss dieser Datentausch sofort in alle – vor Steuern darauf gezahlt werden. Was wäre das Signal? allem auch in alle neuen – Doppelbesteuerungsabkom- Gewinnverlagerung würde unattraktiver. Die anderen men aufgenommen werden. Zweitens muss die Abgel- Länder wüssten, dass wir es mit der Bekämpfung von in- tungsteuer abgeschafft werden. Wir müssen aus der ternationaler Steuergestaltung ernst meinen, und mit den Anonymität herauskommen. Mehreinnahmen könnten Sie den Mittelstand entlasten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5795

Kerstin Andreae (A) Es wird immer gesagt, für die degressive AfA und die Informationsaustausch haben wir durch viele Doppelbe- (C) steuerliche Forschungsförderung sei kein Geld da. Nun steuerungsabkommen organisiert. Hier geschah der Aus- bietet sich die Möglichkeit, die Finanzierung zu sichern. tausch aber nur auf Anfrage. Das war ein fürchterlich an- strengender Prozess, der dazu beigetragen hat, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steuervermeidung und Steuerhinterziehung fröhliche Sie müssen einen umfassenden Informationsaus- Urständ gefeiert haben. tausch gewähren. Sie müssen jetzt die Voraussetzungen Vor diesem Hintergrund ist das, was geschehen ist, schaffen, dass die Abgeltungsteuer fällt, und Sie müssen wirklich beeindruckend. Dahinter steckt sehr viel Arbeit. verhindern, dass neue Steuergestaltungsmöglichkeiten Frau Andreae und Frau Wagenknecht, ich glaube, dass für Großkonzerne geschaffen werden. Wenn Sie das ma- Sie das unterschätzen. Mit den Steuern verhält es sich so chen, dann kommen wir zusammen. wie beim Fußball: Jeder meint, davon Ahnung zu haben. Herzlichen Dank. Wir haben in Deutschland ein paar Millionen Bundes- trainer und wahrscheinlich genauso viele Finanzminis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ter, die davon überzeugt sind, zu wissen, wie das Steuer- system gestaltet werden muss. Je nach Blickwinkel sind Präsident Dr. Norbert Lammert: die Steuern zu hoch oder zu niedrig. Auf jeden Fall sei Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Ralph das System viel zu kompliziert. Viele meinen, dass an- Brinkhaus das Wort. dere zahlen müssten, nur sie selber nicht. Jeder hat also eine Meinung dazu und ist überzeugt, dass das ganz ein- (Beifall bei der CDU/CSU) fach sei.

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Die Vorschläge, die durch das Land geistern, sind Le- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gion. So hieß es einst – durchaus sympathisch –, das zum wiederholten Mal ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Oppo- Steuersystem werde so stark vereinfacht, dass man seine sition bemüht sich krampfhaft, irgendetwas zu kritisie- Steuererklärung auf einem Bierdeckel machen könne. ren. Aber so richtig gelingt das nicht; denn anscheinend Dann wurde von Stufentarifen gesprochen und davon, ist das, was wir hier vollbracht haben, ziemlich gut. die Zahl der Steuerparagrafen zu halbieren. Das alles führt nur nicht weiter. Das möchte ich Ihnen anhand des Frau Andreae, ich konnte Ihren Ausführungen an der automatischen Informationsaustausches, des von Herrn einen oder anderen Stelle nicht mehr folgen. Ich glaube, Schäuble angesprochenen BEPS-Abkommens und der da ist auch einiges durcheinandergegangen. Sie haben strafbefreienden Selbstanzeige beispielhaft erläutern. gesagt, dass Menschen, die über Kapitaleinkünfte verfü- (B) (D) gen, nicht besser behandelt werden sollen als andere. Wir alle sind uns, glaube ich, einig, dass das Steuer- Das stimmt, aber man sollte sie auch nicht schlechter be- system ergiebig sein soll, damit der Staat seine Aufgaben handeln. Sie möchten mit Ihrer Vermögensteuer bzw. erfüllen kann. Es soll zudem einfach und gerecht sein. Vermögensabgabe insbesondere den Menschen, die Ka- Aber es muss auch fair sein. Ein Steuersystem ist dann pitaleinkünfte erzielen, ganz tief in die Tasche greifen. fair, wenn jeder, dem das Gesetz die Last der Steuerzah- lung auferlegt, seine Steuern tatsächlich zahlt. Man muss (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans ehrlich sagen: Da waren wir in der Vergangenheit nicht Michelbach [CDU/CSU]: Das sind die Steuer- immer ganz so gut. erhöher à la Trittin!) Blicken wir auf die 80er- und 90er-Jahre zurück. Da- Eigentlich ist heute ein Tag großer Freude. Alle Steu- mals waren die Steuersätze sehr hoch. Gleichzeitig gab erpolitiker müssten eigentlich vor Begeisterung platzen; es sehr viele Möglichkeiten, sich von der Steuerlast zu denn das, was in der letzten Woche hier in Berlin er- befreien, legal durch Abschreibungsmodelle und Ver- reicht wurde, ist in der Tat ein Meilenstein. Ich möchte lustzuweisungsgesellschaften, translegal durch eine meine Rede dazu nutzen, meine Begeisterung als Steuer- weite Dehnung der Gesetze und auch illegal. Es stimmt, politiker mit Ihnen allen zu teilen. Der Austausch von dass damals viele Menschen ihr Geld in die Schweiz ge- Steuerdaten gehört zu den sensibelsten Bereichen in den bracht haben, weil sie sich dem deutschen Steuersystem Beziehungen zwischen Staaten. Das hat damit zu tun, entziehen wollten. Deshalb haben alle Bundesregierun- dass jeder eifersüchtig auf seine Steuergesetzgebung gen, egal von welcher Partei sie gestellt wurden, daran achtet. Bekanntlich sind die Steuergesetzgebung und das gearbeitet, die entsprechenden Schlupflöcher zu schlie- Budgetrecht die Königsrechte eines jeden Parlaments. ßen. Das war nicht immer einfach. Zuerst haben wir die Hier lässt man sich ungern in die Karten schauen. deutsche Steuergesetzgebung sukzessive verschärft. Des Weiteren haben die Finanzgerichte entsprechende Ur- Es ist sicherlich richtig – das wurde bereits von meh- teile gefällt. Auf internationaler Ebene wurden Doppel- reren Rednern angesprochen –, dass es einige Staaten besteuerungsabkommen geschlossen. Hier ist sehr viel gab und gibt, die Steuerhinterziehung und Steuervermei- kleinteilige Kärrnerarbeit geleistet worden. dung als Geschäftsmodell entwickelt haben. Insofern ist es umso erstaunlicher, dass in der letzten Woche über Deswegen finde ich es bedauerlich, dass das alles 50 Staaten – weitere werden folgen – ein Abkommen quasi mit einem Federstich weggewischt und behauptet unterschrieben haben, das vorsieht, dass freiwillig und wird, nichts sei passiert. Tatsächlich ist sehr viel passiert. automatisch Steuerdaten an andere Staaten weitergege- Aber wir müssen auch sehen: Wir sind immer wieder im ben werden. Das ist ein riesiger Sprung. Den bisherigen wahrsten Sinne des Wortes an unsere Grenzen gestoßen, 5796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Ralph Brinkhaus (A) nämlich an die Grenzen unseres Landes; denn uns fehl- tionspartner sehr zügig in nationales Recht umsetzen. (C) ten die Informationen über das Geld, das auf irgendeine Auch das ist ein Meilenstein, der von diesem Bundes- Weise ins Ausland gebracht wurde. Deswegen konnten finanzminister und dieser Bundesregierung gesetzt wor- wir es nicht besteuern. Es ist daher sehr wichtig, dass der den ist. Auch darüber können wir uns freuen. Darauf nun vereinbarte automatische Informationsaustausch tat- können wir sehr stolz sein. sächlich umgesetzt wird. Die Grundlage für eine faire Besteuerung ist, dass wir wissen, wer wo sein Geld lie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen hat. neten der SPD) (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] Wenn ich von Fairness im Steuersystem rede, dann [SPD]) gehört dazu auch, dass derjenige, der in diesem Steuer- system Fehler macht, die Möglichkeit hat, diese Fehler – Danke, Lothar. zu korrigieren, und zwar zu korrigieren, ohne dass er (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gleich kriminalisiert wird. Das haben wir jetzt erreicht. Carsten Schneider hat es (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So gesagt: Das ging nicht innerhalb von anderthalb Jahren, ist das!) sondern das ist ein Prozess, der seit mindestens 2002 an- dauert. Wolfgang Schäuble hat jetzt den Ball ins Tor ge- Wir sprechen heute über die strafbefreiende Selbstan- schossen. Wir sind nun so weit, dass wir auf einem Stand zeige. Die Regelungen für die strafbefreiende Selbstan- sind, den wir uns vor wenigen Jahren wirklich nicht zu zeige, die es seit Jahrzehnten gibt, sind in der letzten Le- erträumen gewagt haben. Das ist gut und richtig. gislaturperiode von der christlich-liberalen Koalition maßgeblich verschärft und stark eingeengt worden. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist nach diesem Gesetz der christlich-liberalen Koalition nicht mehr möglich, mit der strafbefreienden Selbstan- Deswegen können wir uns heute einmal so richtig da- zeige zu zocken. rüber freuen. Natürlich sind wir mit der ganzen Aktion noch nicht Dabei sind wir allerdings ein wenig über das Ziel hi- fertig. Wir werden andere Staaten integrieren müssen. nausgeschossen; denn es gibt einen Bereich, in dem Ich bin übrigens sehr optimistisch, dass beispielsweise Fehler gemacht werden, die aus dem ganz normalen die Schweiz sehr schnell nachfolgen wird und dass auch wöchentlichen oder monatlichen Geschäftsbetrieb her- andere Länder nachfolgen werden. Aber wir müssen rühren. Das geschieht dann, wenn ich monatlich eine auch an anderen Stellen arbeiten. Umsatzsteuervoranmeldung abgeben oder wenn ich (B) Lohnsteueranmeldungen vornehmen muss. Die Men- (D) Ich habe gerade gesagt, dass wir ein faires Steuersys- schen, die dabei vielleicht einen Fehler gemacht haben tem haben wollen. Ein faires Steuersystem bedeutet und diesen korrigieren müssen, sind durch die Verschär- auch, dass derjenige, der auf Einkommen in Deutschland fung, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht keine Steuern zahlt, diese Steuern in anderen Ländern haben, in einen Bereich gerutscht, in dem es nicht mehr zahlt. Das Problem, das sich entwickelt hat – die Namen klar ist, ob es sich um eine Korrektur von Fehlern oder der Firmen, die das in einer großen Extensität betrieben einen Hinterziehungsakt handelt. haben wie Google und Amazon, sind genannt worden –, ist die doppelte Nichtbesteuerung. Doppelte Nichtbe- Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf steuerung heißt, dass Einkommen weder in Deutschland zur strafbefreienden Selbstanzeige ändern. Das heißt, noch in einem anderen Staat versteuert werden. wir werden das erreichen, was wir immer erreichen wollten: Die gewerbliche Wirtschaft, die Steuern zahlt, Das ist in der Tat nicht nur ein Gerechtigkeitspro- kann Fehler korrigieren – das muss auch möglich sein –, blem, sondern das ist auch – das ist mehrfach angespro- aber diejenigen, die bewusst Steuern hinterziehen, kön- chen worden – ein Wettbewerbsproblem, weil ein Mittel- nen das nicht mehr, weil man mit dem Instrument der ständler in Erfurt, dem Wahlkreis von Carsten Schneider, strafbefreienden Selbstanzeige nicht mehr zocken kann. nicht die Chance hat, die doppelte Nichtbesteuerung zu Auch das ist gut und richtig, und das ist der zweite organisieren. Das ist vielmehr ein zweifelhaftes Privileg Punkt, den wir heute auf den Weg bringen werden. von großen Konzernen. Deshalb müssen wir dagegen vorgehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Auch da hat sich unser Bundesfinanzminister sehr verdient gemacht, indem er vor zwei Jahren mit seinem Zur Fairness im Steuersystem gehört aber auch, dass britischen Kollegen George Osborne die sogenannte ich nicht 99,9 Prozent der Steuerpflichtigen unnötig be- BEPS-Initiative angestoßen hat. Die BEPS-Initiative be- laste, um 0,1 Prozent der Steuerhinterzieher zu erwi- deutet, dass sich alle OECD-Staaten darauf einigen, dass schen. Deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein und man nach gleichen Standards arbeitet und eines nicht dürfen den normalen und ehrlichen Steuerpflichtigen mehr passiert, nämlich die doppelte Nichtbesteuerung. nicht mit Bürokratie belasten und ihm Dokumentations- Auch da sind wir schon sehr weit. Man hat dieses Mam- pflichten auferlegen, die ihm das Leben und die tägliche mutprojekt in 15 Teilprojekte aufgeteilt. Sieben davon Arbeit unglaublich schwer machen und die nur dazu die- sind schon abgeschlossen, acht werden im nächsten Jahr nen, dass man einen minimalen Prozentsatz von Steuer- folgen. Wir werden das gemeinsam mit unserem Koali- hinterziehern tatsächlich aufdeckt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5797

Ralph Brinkhaus (A) Beim BEPS-Projekt und bei vielen anderen Projekten dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Das ist (C) stellt sich die Frage, ob wir nicht an der einen oder ande- viel ambitionierter als Versprechungen, das Steuersys- ren Stelle über das Ziel hinausschießen. Wenn wir das tem mit einem großen Wurf komplett zu reformieren Ganze wirklich ernst nehmen und wenn wir sagen: oder zu revolutionieren. Insofern freue ich mich auf die „Keine zusätzlichen Belastungen für die Wirtschaft, Arbeit in dieser Legislaturperiode. keine zusätzliche Bürokratie, keine zusätzlichen Doku- mentationspflichten“, dann müssen wir das, was wir hier Danke. im steuerlichen Bereich beschließen, sehr genau dahin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gehend überprüfen, ob es am Ende des Tages stimmt. Ich sage Ihnen auch: Mir ist es lieber, in Kauf zu nehmen, Präsident Dr. Norbert Lammert: dass der eine oder andere einmal „durchrutscht“, als dass man die gesamte Wirtschaft mit unzumutbaren Bürokra- Lothar Binding ist der nächste Redner für die SPD- tie- und Informationspflichten belastet. Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insofern werden wir diesen Punkt sehr genau im Auge behalten. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wenn man einmal einen Strich unter die drei Aspekte, Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! die ich gerade genannt habe – unter den automatischen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Carsten Informationsaustausch, unter dieses BEPS-Projekt, das Schneider und Ralph Brinkhaus haben sehr gut auf den eine internationale Nichtbesteuerung vermeidet, und un- Punkt gebracht, worum es heute geht: Letztendlich geht ter die Verschärfung der strafbefreienden Selbstanzeige –, es um international gerechte und faire Besteuerung der zieht, dann muss man eins sagen: Steuerpolitik ist Kärr- Unternehmen und darum, dass Arbeitnehmer, Konzerne nerarbeit, ist kleinteilig, dauert lange und geht nicht und auch alle anderen fair besteuert werden und keiner schnell. Deswegen kann ich allen nur sagen: Glauben mehr belastet wird, als es ihm, bezogen auf die gesell- Sie niemandem, der behauptet: Ich habe im steuerpoliti- schaftlichen Leistungen, zugemutet werden kann. Der schen Bereich den großen Wurf in der Tasche. Ich kenne heutige Beschluss ist ein riesiger Schritt in diese Rich- den grünen Knopf, auf den man nur drücken muss, und tung. dann haben wir ein supereinfaches Steuersystem, das Sahra Wagenknecht hat uns die Steuersätze in Irland völlig gerecht ist, das es vermeidet, dass international an vorgeworfen. Das hat mich ein bisschen irritiert. Sie hat irgendeiner Stelle Steuern hinterzogen werden. – Das uns auch das Verhalten von Luxemburg vorgeworfen. (B) Ganze ist harte Arbeit. (D) (Zurufe von der SPD: Wo ist sie denn?) Wir in dieser Koalition und insbesondere unser Fi- nanzminister haben uns auf den Weg gemacht, diese Auch das hat mich ein bisschen irritiert; schließlich harte Arbeit zu leisten. Wir haben heute ein wichtiges könnte sie ja wissen, dass wir weder in dem einen noch Etappenziel erreicht. Wir werden in der nächsten Zeit in dem anderen Land regieren. weitere Etappenziele erreichen. Ich denke, dass wir dann ein viel besseres Steuersystem haben, als wir es vorher (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) gehabt haben. Es geht natürlich darum, mit diesen Ländern zu verhan- Jetzt vielleicht noch einige Sätze zu dem Thema Steu- deln; das stimmt. Aber auch da wäre Sahra Wagenknecht ervereinfachung. Das, was ich gerade im Hinblick auf gut beraten gewesen, uns zu helfen; denn gerade sie ver- das internationale Steuerrecht ausgeführt habe – dass es fügt über ein besonderes Insiderwissen bezüglich Irland: in diesem Zusammenhang viele kleine Projekte und ( [CDU/CSU]: Wo ist denn viele kleinteilige Maßnahmen gibt, die das Ganze besser Sahra Wagenknecht? – Klaus Ernst [DIE machen –, gilt auch für die Steuervereinfachung. Auch LINKE]: Ha, ha, ha! Können Sie nicht sach- daran werden wir uns im nächsten Jahr machen. Wir lich diskutieren?) werden ein Verfahrensvereinfachungsgesetz auf den Weg bringen, und wir werden mit Hunderten kleinerer Sie hat lange dort in einer Weise gelebt, die es ihr er- Maßnahmen versuchen, das Steuerrecht unbürokrati- möglicht, genau zu wissen, wie internationale Steuer- scher zu machen, Dokumentationspflichten abzuschaf- politik funktioniert. fen, das Ganze gerechter und fairer zu machen. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der denke, das wird uns auch gelingen. Wir haben mit unse- CDU/CSU) rem Koalitionspartner verabredet, dass wir das zustande bringen. Da ziehen wir an einem Strang; da sind wir uns Ich will das nicht näher ausführen. Interessanterweise total einig. fehlen bestimmte Aspekte in den Ausführungen zu ihrer Biografie. Vielleicht sollten Sie darüber einmal genauer Ein Steuersystem muss nicht nur dafür sorgen, dass nachdenken. genügend Steuern da sind, dass der Staat finanziert wer- den kann, sondern es muss auch handhabbar sein, muss (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] Aber wenn man verlässlich sein, muss fair sein und muss partnerschaft- einen Bayern heiratet, möchte man auch nicht lich sein. Dafür zu sorgen, das ist das, was wir uns in unbedingt nur Leberkäse essen!) 5798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Im Rahmen des Global Forum, einer von der OECD men werden Zinsen überwiesen, um Gewinne aus (C) initiierten Vereinigung, der 122 Länder angehören, ist Deutschland zu transferieren. Eine sehr alte Methode ein Steuerabkommen vereinbart worden. Das ist ein Rie- funktioniert über Verrechnungspreise. Das alles ist be- senprojekt. Wir wissen, 122 Länder miteinander verhan- kannt. deln zu lassen, ist keine ganz leichte Aufgabe. Es gibt eine zweite Ebene. Neuerdings fangen be- Die Schweiz ist unter diesen 122 Ländern. Aber sie stimmte Länder an, zur Gestaltung einzuladen. Ich er- unterzeichnet das Abkommen noch nicht; vielleicht un- wähne noch einmal die niederländische Patentbox, in die terzeichnet sie es im nächsten Jahr. Wir sehen, wie man Patente legt, um anschließend Gewinne in diese schwer es ihr fällt, von der Hoffnung auf das Deutsch- Box zu überweisen – dort steuerfrei, hier gewinn- Schweizer Steuerabkommen zum automatischen Infor- mindernd, sodass man in Deutschland Steuern spart und mationsaustausch und zur Aufgabe des Bankgeheimnis- in den Niederlanden nicht zahlen muss. ses zu kommen. Das ist für die Schweiz, glaube ich, ein unendlich langer Weg. Wenn sie den jetzt zu Ende geht, Die Frage ist, ob das, was wir jetzt machen, eigentlich haben wir sehr viel erreicht, haben wir international gut hinreichend ist, um hierfür Lösungen zu finden. Ich verhandelt. Das gilt – das muss man sagen – sowohl für sage: Ja, wir sind einen sehr großen Schritt weiterge- unseren Minister. Unterstützt wurde das Ganze aber auch kommen. – da schließe ich mich den Aussagen der Grünen an – von Attac Ich will ein bisschen genauer erklären, was eigentlich die Meldestandards sind. Die Meldestandards umfassen (Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ zum Beispiel Finanzinformationen. Was sind Finanzin- DIE GRÜNEN]) formationen? Dies sind alle Kapitalerträge, also Zinsen, und vom Tax Justice Network. Es war sehr wichtig, dass Dividenden, Einkünfte aus Versicherungsverträgen, die uns geholfen haben. Sie haben uns im internationalen Kontenguthaben, Erlöse aus der Veräußerung von Fi- Diskussionszusammenhang den Rücken sehr gestärkt. nanzvermögen. Es wird also ein großes Spektrum von Wir sind uns sicherlich einig, dass sie es verdient haben, Informationen geliefert, die einen sehr genauen Blick den Status der Gemeinnützigkeit zu behalten. auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse derje- nigen bieten, die verlagern. Ein großer Schritt! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Was sind die Meldestandards hinsichtlich der melde- pflichtigen Finanzinstitute? Schauen wir nach: Die Ban- Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen. ken sind angesprochen, die Verwahrstellen, auch die Das Wort „Ordnung“ müssen wir genauer hinterfragen, Makler, das, was wir Organismen für gemeinsame Anla- (B) wenn wir nach Luxemburg schauen. Wer heute die (D) gen in Wertpapiere nennen, die OGAW-Einrichtungen, Süddeutsche gelesen hat, der weiß: Wer unter dem Stich- und bestimmte Versicherungsgesellschaften. Wir sehen: wort „Ordnungsrahmen“ nach Luxemburg schaut, er- Ein breites Spektrum von Instituten wird in den Blick schreckt. Es gibt dort keine international erträgliche genommen. Wer weiß, wie auch bisher schon zwischen Ordnung. Die SPD-Arbeitsgruppe – das will ich berich- diesen Entitäten hin und her jongliert wurde, um interna- ten – war vor längerer Zeit einmal in Luxemburg und hat tional Steuern zu sparen, erkennt, wie wichtig dieser auch mit Jean-Claude Juncker gesprochen. Er hat uns Schritt ist. Deutschen vorgeworfen, dass wir relativ bürokratisch und unflexibel seien, und erklärt, dass man das in Was wird eigentlich an meldepflichtigen Konten an- Luxemburg sehr viel leichter handhaben könne. Er gesprochen? Erst einmal sind es die Konten der natürli- sagte: Ich brauche nur über diesen Platz zu gehen; dann chen Personen. Da denken wir an spezielle; das ist klar. bin ich Finanzminister, und dann kann man die Dinge Ein großer Schritt! Es sind aber auch die Konten von flexibel regeln. Ich muss sagen: Diese Aussage erscheint Rechtsträgern, also insbesondere von Trusts und Stiftun- heute in einem anderen Licht. Sie lässt mich fragen, ob gen. Auch die werden in den Blick genommen. Es gibt es wirklich gut war, Juncker als konservativen Kommis- außerdem eine Pflicht zur Prüfung der passiven Rechts- sionspräsidenten zu wählen. Ich glaube, er muss eine träger und – so steht es in der Verabredung – der Perso- Verantwortlichkeit entwickeln, die ihre Europakonfor- nen, die diese beherrschen. Die Möglichkeit zu Tricks mität noch beweisen muss. mit Briefkastenfirmen, um sich als Person mit einer ent- (Beifall bei der SPD) sprechenden Hinterziehung hinter solchen Formen zu verstecken, wird jetzt genommen. Wir merken, dass wir Der automatische Informationsaustausch wird immer auf dem Weg zu einem Maß an internationaler Transpa- als Überschrift genannt. Ich frage: Ist er eigentlich wirk- renz sind, das wir uns bisher nicht haben träumen lassen. lich geeignet, die Probleme, die wir haben, zu lösen? Deshalb ist dieser Schritt so bedeutend. Was passiert heute? Minister Schäuble hat es schon et- was ausgeführt: Heute werden die Gewinne verlagert, im Man geht sogar noch weiter. In diesem 45-seitigen Wesentlichen durch grenzüberschreitende Verlagerung Papier wird auch definiert, welche Sorgfaltspflichten je- der immateriellen Werte wie Patente und Lizenzen. Es weils einzuhalten sind, wird definiert, wie man mit die- gibt das sogenannte Hybrid Mismatch, bei dem über sen Meldepflichten umzugehen hat. Das geschieht in ei- Rechtsformgestaltungen und Umwandlungen Gewinne ner Weise, wie das bisher noch nicht gemacht wurde. verlagert werden. Es gibt Zinstricks durch Finanzie- Jetzt besteht natürlich die Aufgabe, diese Meldestan- rungsgesellschaften im Ausland. An Tochterunterneh- dards in jeweiliges nationales Recht umzusetzen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5799

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Ich will mit einer kleinen Warnung schließen. Die fensichtlich war die Geldgier noch immer größer als die (C) Idee unseres Ministers ist, Steuernachlässe nur noch in Angst vor der Strafe. dem jeweiligen Land zu gewähren – auch europäisch –, (Beifall bei der LINKEN) in dem die Wertschöpfung eines Unternehmens entsteht. Ein Land, in dem eine solche Wertschöpfung entstanden Es ist schlimm genug, dass der Reichtum in unserem ist, kann also sagen: Ich erlasse euch die Steuern. – Das Land so ungleich verteilt ist. Genauso schlimm ist es, ist ein großer Schritt zur Vereinheitlichung und besser dass viele derjenigen, die viel haben, dem Staat nicht das als alles, was wir bis jetzt haben, weil es international geben wollen, was ihm zusteht. Es wird endlich Zeit, vereinbart ist. Es führt in Richtung Level Playing Field. dass die Steuergesetze für alle Menschen, auch die Rei- chen und Superreichen, gelten. Ich meine aber trotzdem: Wir müssen stark überle- gen – (Beifall bei der LINKEN) Folgende Ansätze des Entwurfs will ich hervorheben: Präsident Dr. Norbert Lammert: zuerst einmal die deutliche Anhebung und Staffelung Herr Kollege Binding. des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen von der Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenordnung. In Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): jenen Fällen konnten sich Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher bisher für eine im Vergleich lächerli- – eine Sekunde, ich bin sofort fertig –, ob wir uns da- che Zusatzzahlung von 5 Prozent der hinterzogenen mit nicht doch dem Geleitzug des internationalen Steuer- Steuer quasi freikaufen. Das war mit dem Gerechtig- wettbewerbs und des Race to the Bottom anschließen. keitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger nun wirklich Das müssen wir sicher noch diskutieren. Aber insgesamt nicht mehr in Einklang zu bringen. Denn am Ende kam ist das eine sehr positive Entwicklung. folgende Botschaft bei den Menschen in diesem Land Vielen Dank, auch für die kleine Zugabe. an: Wer mehrmals schwarzfährt, wird gleich bestraft; wenn aber Superreiche Steuern in Millionenhöhe hinter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ziehen und damit allen schaden, dann wird ein Auge zu- der CDU/CSU) gedrückt. Das hat zu Recht zu Empörung geführt. Daher ist es richtig und wichtig, dass die Zusatzzahlungen, die Präsident Dr. Norbert Lammert: Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher leisten Richard Pitterle ist der nächste Redner für die Frak- müssen, zukünftig auch wehtun. tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa (B) (Beifall bei der LINKEN) Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) Wichtig ist auch, dass die Problematik von Umsatz- Richard Pitterle (DIE LINKE): steuervoranmeldung und Lohnsteueranmeldung berück- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- sichtigt wurde, wie es die Linke kürzlich in ihrem nen und Kollegen! Ich habe nach den heutigen Meldun- Antrag gefordert hat. Ich bin seit vielen Jahren als gen ernsthafte Zweifel, ob jemand an der Spitze der Rechtsanwalt im Bereich Wirtschaftsrecht tätig. Aus EU-Kommission sitzen kann, der als Regierungschef meiner Erfahrung kann ich Ihnen daher versichern, dass Steuervermeidungsstrategien der Konzerne in Europa man sich zum Beispiel als Kleinunternehmerin oder zulasten der europäischen Staaten organisiert hat. Kleinunternehmer gerne mal im tiefen Meer des Steuer- rechts verlieren kann. Wenn die Bäckermeisterin, wenn (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir der Bäckermeister morgens früh aufsteht, um Brot und in Thüringen auch!) Brötchen zu backen, und dann abends nach einem lan- Aber ich will nicht zu diesem Thema sprechen. gen Arbeitstag noch den sogenannten Schreibkram erle- digen muss, kann sich schon mal der eine oder andere Wir diskutieren heute auch den Koalitionsvorschlag Fehler einschleichen. Es ist daher gut, dass zukünftig für die Reform der strafbefreienden Selbstanzeige. Ich nachträglich korrigierte oder verspätete Umsatzsteuer- will gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass meine voranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen wieder Fraktion hier einen weiter gehenden Antrag eingebracht als wirksame Teilselbstanzeige gelten. Mit einer Krimi- hat, der die gänzliche Abschaffung der Selbstanzeige nalisierung solcher menschlichen Fehler ist nämlich nie- vorsieht. Viel zu lange konnten Wohlhabende ihre riesi- mandem gedient. gen Vermögen vor dem Fiskus verstecken. Sie mussten keine ernsthaften Konsequenzen fürchten. Sie wogen (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Muss das Entdeckungsrisiko ab und stellten eine Selbstan- man abschaffen!) zeige, wenn sie der Meinung waren, dass dieses zum Wer aus Unachtsamkeit oder Überforderung eine falsche Beispiel aufgrund des Ankaufs einer Steuer-CD zu groß oder verspätete Angabe macht und diese dann korrigiert war. Das ging zulasten der Allgemeinheit und der vielen oder nachholt, darf nicht denen gleichgestellt werden, ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. die ihr Geld absichtlich verstecken und ihren Beitrag der Allgemeinheit bewusst vorenthalten. Ich finde es daher gut, dass die Regelungen zur straf- befreienden Selbstanzeige aufgrund des Drucks der Öf- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. fentlichkeit ein weiteres Mal verschärft werden; denn of- Margaret Horb [CDU/CSU]) 5800 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Richard Pitterle (A) Zuletzt einen Gedanken, den ich als Rechtspolitiker, hinterziehung auf einen Zeitraum von mindestens zehn (C) der ich auch bin, einbringe: Ich halte es für vernünftig, Jahren, und es wird für Steuersünder deutlich teurer, dass bei der Strafverfolgung die Verjährungsfristen ent- wenn das Hinterziehungsvolumen mehr als 25 000 Euro gegen den ursprünglichen Plänen nun doch nicht ausge- beträgt. dehnt worden sind; denn bei aller Notwendigkeit eines Ebenso wichtig ist: Das Instrument der strafbefreien- schärferen Vorgehens gegen Steuerhinterziehung darf den Selbstanzeige bleibt erhalten. Ich sage, das ist auch man auch hier das Verhältnis zu vergleichbaren Delikten gut so; denn es hat sich bewährt und es muss Korrektur- nicht außer Acht lassen. Wenn für den einfachen Betrug möglichkeiten im Steuerrecht geben. Ohne die strafbe- eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, so sollte das freiende Selbstanzeige wären die vielen Fälle in der Ver- auch bei der einfachen Steuerhinterziehung beibehalten gangenheit gar nicht erst ans Licht gekommen. Daher werden. wird im Bereich der Anmeldesteuern für eine gesetzliche Vielen Dank. Klarstellung gesorgt, um praktische und rechtliche Ver- werfungen zu beseitigen. Zudem ist ein steuerartenüber- (Beifall bei der LINKEN) greifendes Vollständigkeitsgebot nicht vorgesehen; denn dieses könnte kaum klar und rechtssicher ausgestaltet Präsident Dr. Norbert Lammert: werden. Ebenso wird von der Einführung einer Ober- Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für grenze bei der Wirksamkeit der Selbstanzeige abgese- die CDU/CSU-Fraktion. hen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch wir wollen nicht – das ist ein wichtiger Punkt –, dass bloße Arbeitsfehler kriminalisiert werden. Insbe- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): sondere mit Blick auf den Unternehmensbereich besteht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In die Notwendigkeit, steuerliche Korrekturmöglichkeiten puncto Steuergerechtigkeit und Steuerwahrheit hat un- zuzulassen. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Sperr- sere Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanz- wirkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang be- minister Dr. Wolfgang Schäuble, nun erfolgreich Mei- grenzt und die Wirksamkeit von Teilselbstanzeigen für lensteine gesetzt. Das ist eine Tatsache, über die wir uns die Korrektur von Umsatzsteuervoranmeldungen und heute wirklich freuen können. Lohnsteueranmeldungen wieder eingeführt wird. Aller- dings möchten wir diesen sinnvollen Schritt auch noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- auf die Jahreserklärungen erweitern, weil die beabsich- wie des Abg. Andreas Schwarz [SPD]) tigte Neuregelung sonst nach Abgabe der Jahreserklä- rung ins Leere laufen würde. (B) Dies gilt sowohl national wie auch international. (D) Drei Bereiche sind dabei hervorzuheben: erstens die Wir sind also dabei, diesen Gesetzentwurf sachlich Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige, zwei- angemessen zu beraten und auch noch rechtzeitig in die- tens der automatische Austausch von Steuerdaten und sem Jahr zu verabschieden. Das sorgt für Klarheit. Da- drittens die BEPS-Initiative gegen internationale Ge- mit ist Rechtssicherheit gegeben. Dieses Gesetz ist dann winnverlagerungen. für den Steuerpflichtigen handhabbar und transparent. Das gehört zur Steuerklarheit, Steuerwahrheit und Steu- Zunächst zur Klarstellung: Es ist natürlich nicht ver- ergerechtigkeit, meine Damen und Herren. boten, wie es hier nach den Beiträgen der Linken den Anschein haben muss, Geld im Ausland anzulegen. Es (Beifall bei der CDU/CSU) ist auch nicht verboten, mit diesen Geldanlagen im Aus- Aber noch viel wichtiger für die Bekämpfung der land Gewinne zu erzielen; Steuerhinterziehung ist das Abkommen über den auto- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber es ist ver- matischen Informationsaustausch in Steuersachen, das boten, sie zu verstecken, wie es die Linke auf der Jahrestagung des Globalen Forums zu Transpa- macht!) renz und Informationsaustausch für Besteuerungszwe- cke hier in Berlin unter Federführung unseres Bundes- aber diese Gewinne müssen ordnungsgemäß versteuert finanzministers Dr. Wolfgang Schäuble geschlossen werden. Darauf hat der Staat, darauf hat unsere Gesell- wurde. 50 Finanzminister haben dieses Abkommen auf schaft einen Anspruch. Deshalb ist die Schließung von Initiative Deutschlands unterzeichnet. Schon bald wer- Steuerschlupflöchern ein zentrales Anliegen von CDU den weitere Staaten folgen. Das ist ein starkes Koopera- und CSU – und das nicht erst seit dieser Legislaturpe- tionsinstrument für die Steuerbehörden international. riode. Denn Steuerhinterziehung, meine Damen und Das Geschäftsmodell der Steuerlockvogelangebote ge- Herren, ist gemeinschaftsschädlich und muss deshalb hört der Vergangenheit an. Das ist auch gut so. geahndet werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Übrigen waren meiner Ansicht nach die Verhand- neten der SPD) lungen mit der Schweiz über ein Abkommen – das ist Da ist zum einen der Gesetzentwurf, mit dem die hier angeklungen – damals richtig, weil es viele Verjäh- Wirksamkeitsvoraussetzungen bei der strafbefreienden rungen von Steuerhinterziehungen verhindert hätte. Sie Selbstanzeige neu geregelt werden. Die Berichtigungs- müssen sich immer fragen – denn Sie haben es damals pflicht erstreckt sich künftig in allen Fällen der Steuer- verhindert –, wie viele Steuern dem Fiskus aufgrund die- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5801

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) ses Steuerschlupflochs verloren gegangen sind. Dies richtigen Weg einschlägt und versucht, andere Länder (C) müssen Sie verantworten. Deswegen wäre schon damals auf den Pfad der Tugend zu führen und zu sagen: Diese ein erster Schritt richtig gewesen, der dazu geführt hätte, Steuerlockvogelangebote, bei denen keine Wertschöp- dass es zu Besteuerungen gekommen wäre, die es heute fung in dem jeweiligen Land dahintersteckt, gehören der nicht gibt. Vergangenheit an. Das ist der richtige Weg. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Lieber Herr Kollege Michelbach, darf der Kollege Der letzte Punkt. Gambke Ihnen eine Zwischenfrage stellen? (Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): – Ich bin noch nicht fertig, Herr Gambke. Sie haben mir Sehr gerne, Herr Präsident. sehr viele Chancen gegeben.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Aber ich bin damit fertig, Herr Kollege Michelbach,

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) NEN): weil der Versuch zu durchsichtig ist, bei solchen Gele- Vielen Dank, Herr Kollege Michelbach, dass Sie die genheiten die Redezeit zu verdoppeln. Also, Herr Frage zulassen. – Das geht jetzt ein Stück zu weit. Sie Gambke, Sie dürfen sich setzen, und der Kollege können nicht auf der einen Seite den automatischen In- Michelbach ist nicht daran gehindert, entweder das zu formationsaustausch loben und auf der anderen Seite die sagen, was er ohnehin sagen wollte, oder sich weiterhin Tatsache kritisieren, dass wir als Opposition das Schwei- intensiv mit Ihnen zu beschäftigen. zer Steuerabkommen verhindert haben. Herr Kollege Schneider und Frau Andreae haben sehr schön dargelegt, Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): warum dies geschehen ist. Unsere Ablehnung hat im Üb- Herr Präsident, wenn Sie in Ihrer unermesslichen rigen dazu geführt, dass es zum automatischen Informa- Weisheit sprechen, höre ich natürlich sofort zu. tionsaustausch kommen wird und die Amerikaner FATCA durchgesetzt haben. Beides werfen Sie der da- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der maligen Opposition vor. CDU/CSU) (B) Ich frage Sie in diesem Zusammenhang – Herr Kol- Ich mache das natürlich gerne. (D) lege Brinkhaus hat dazu keine Stellungnahme abgege- Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass die ben, aber wir haben es in der Debatte mehrfach gehört –: Steuer- und Finanzschlupflöcher im Ausland für die Wie verhalten sich die Regierungsfraktionen, wie verhält Steuerbehörden bisher kaum auffindbar waren. Insofern sich die Union zum Thema Lizenzbox? Ich hoffe, dass wird hier jetzt mit dem Informationsaustausch der glor- Sie in Ihrer Rede darauf eingehen; denn das ist ein kriti- reiche Endpunkt erreicht. Wir befinden uns in einer opti- scher Punkt. Wir haben heute in der Zeitung gelesen, wie malen Situation, um dieses Kooperationsinstrument der Steuern umgangen werden. Das, was Herr Schäuble mit Steuerbehörden auf den Weg zu bringen. Herrn Osborne bezüglich der Lizenzbox verabredet hat, wird dazu führen – das sagen die Experten; das sagen Da nützt es gar nichts, meine Damen und Herren von nicht diejenigen, die, wie Herr Brinkhaus sagt, ober- der Opposition, Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung flächlich darüber schweben –, dass Konzerne weitere immer geradezu mit Schaum vor dem Mund zu kritisie- Gestaltungen vornehmen können. Ich bitte Sie, dazu ren. Über sachliche Überzeugungsarbeit kann ich mich Stellung zu nehmen. natürlich freuen. Aber ich habe heute in dieser Debatte bei Frau Wagenknecht wieder die Attitüde des Klas- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- senkampfes erlebt. Ich frage mich: Wo ist Frau SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- Wagenknecht? – KEN) (Zuruf von der LINKEN: Hier!) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Sie hat hier wieder eine Rundum-Schimpfkanonade ge- Herr Gambke, ich tue das sehr gern. Es waren meh- gen alle Steuerzahler vorgeführt und sich dann vom rere Fragen; ich fange zunächst hinten an. Es ist ganz Acker gemacht, meine Damen und Herren. klar – das hat der Bundesfinanzminister in seiner Rede (Widerspruch bei der LINKEN) deutlich gemacht –: Die Steuern gehören dem Staat, in dem die Gewinne erwirtschaftet wurden, und nicht dem – Da ist sie wieder. Wunderbar! Dann nehme ich das zu- Staat, der den höchsten Steuerrabatt gewährt. Deswegen rück. ist der Ansatz bezüglich der Patente bzw. der Lizenzbo- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber xen richtig, letzten Endes so zu verfahren, bei der Be- sie hatte sich kurz vom Acker gemacht!) steuerung von der in einem Land entstandenen Wert- schöpfung auszugehen. Es gibt überhaupt keinen Aber meine Äußerung zur Schimpfkanonade war trotz- Zweifel daran, dass der Bundesfinanzminister hier den dem richtig. 5802 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Ich darf Ihnen sagen: Das Abkommen über den auto- Steuerrecht ist kein Ersatztummelplatz für den Klassen- (C) matischen Steuerdatenaustausch ist kein Grund, sofort kampf, sondern man muss Argumente austauschen. die Abgeltungsteuer zu schleifen und eine Steuererhö- hung durch die Hintertür einzuführen; das ist meine feste (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage ist Überzeugung. Die Abgeltungsteuer bleibt ein wesentli- nicht beantwortet! – Kerstin Andreae [BÜND- ches Mittel zur Steuervereinfachung. Auch darüber muss NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist über- man nachdenken. Man kann nicht immer nur Steuerver- haupt nicht beantwortet! Ja oder nein? – Ge- einfachung fordern und dann letzten Endes ein Instru- genruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: ment wie die Abgeltungsteuer sofort schleifen wollen. Wir lassen uns gar nicht auf so etwas ein!) Die Leute, die damals schon Steuerpolitik gemacht ha- Es ist nun einmal so, dass ein einheitlicher Steuersatz ben – etwa meine Kollegin –, wissen, von 25 Prozent im Hinblick auf Unternehmensbeteili- welche Probleme wir mit dem alten Halbeinkünftever- gungen und die Aktienkultur sehr transparent ist; er ist fahren hatten. Das ist doch keine Lösung mehr. Die Ab- kalkulierbar. Deswegen ist zu hinterfragen, ob man solch geltungsteuer sorgt seit 2009, seit ihrer Einführung ein Steuervereinfachungsmodell, das von der SPD feder- durch Peer Steinbrück, für eine gut kalkulierbare und führend eingeführt wurde, letzten Endes schleifen sollte. nachvollziehbare Besteuerung von Zinsen, Dividenden Wir müssen die Argumente austauschen. Es ist ganz nor- und Veräußerungsgewinnen und für einen einheitlichen mal, dass wir uns nach der Beratung darüber einigen Steuersatz von 25 Prozent. Die Kreditinstitute erledigen werden. – Jetzt steht der Herr nicht mehr. Ich mache die steuerlichen Formalitäten für ihre Kunden. – Herr dann weiter, Herr Präsident. Präsident? (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Frage war sehr einfach, die Antwort kompliziert!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Jetzt möchte der Kollege Ernst noch mal was fragen, – Ja, die Frage war einfach. Ich habe sie auch gut beant- und so, wie ich Sie kenne, lassen Sie das auch zu. wortet, Herr Kollege Ernst. Meine Damen und Herren, es steht außer Zweifel: Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Der Kampf gegen Steuerhinterziehung kann nur in enger Ja. Sie kennen mich gut. Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg zum nach- haltigen Erfolg führen. Deshalb muss es unser Ziel sein, Präsident Dr. Norbert Lammert: weitere Staaten von der Unterzeichnung des Abkom- mens zu überzeugen. Bitte schön. (B) Wir müssen aber auch an anderer Stelle Steuer- (D) Klaus Ernst (DIE LINKE): schlupflöcher schließen. Danke, Herr Dr. Michelbach. Ich entnehme Ihren (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) Ausführungen bezüglich der Abgeltungsteuer, dass Sie der Auffassung sind: Sie sollte so bleiben, wie sie ist, Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen: weil die Steuer sonst so kompliziert zu erheben wäre. – Die Steuergestaltung durch grenzüberschreitende Ge- Vorher habe ich von Herrn Schneider gehört, der eben- winnverlagerungen und willkürliche Gewinnkürzungen falls einer Partei angehört, die zurzeit die Regierung mancher internationaler Konzerne muss ein Ende haben. trägt, dass man die Besteuerung nach seiner Auffassung Mein Unternehmen steht mit internationalen Konzer- ab 2017, wenn der Datenaustausch funktioniert, ändern nen im Wettbewerb. Ich ärgere mich natürlich maßlos, sollte. Kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, dass es wenn wir die Steuern in voller Höhe zahlen, sich Kon- zwischen den Koalitionsfraktionen keinesfalls eine kurrenten andererseits in Deutschland einen schlanken Einigung darüber gibt, dieses aus meiner Sicht absolut Fuß machen. Das ist Wettbewerbsverzerrung zulasten inakzeptable Recht aufrechtzuerhalten, nach dem des Mittelstandes. Das wird von uns nachhaltig be- Kapitalerträge bei weitem geringer besteuert werden als kämpft werden, meine Damen und Herren. die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass transnatio- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): nale Konzerne ihre Gewinne dort versteuern, wo sie sie Herr Kollege Ernst, Sie müssen davon ausgehen, dass erwirtschaften. Ich glaube, die G-20-Länder haben vor wir uns in dieser Koalition immer einigen. einem Jahr einen Aktionsplan beschlossen, mit dem Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne ge- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, ja! – stopft werden sollen. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist nur eine Frage der Zeit!) Ich freue mich, dass Wolfgang Schäuble diese Auf- gabe mit großem Engagement weitergetragen hat und Natürlich gibt es unterschiedliche Argumente. Gerade dass es hierfür letztlich Lösungen geben wird. Es muss mit den Kollegen Carsten Schneider und Lothar Binding Schluss damit sein, dass internationale Großkonzerne und anderen Kollegen einigen wir uns immer. Wir haben ihre Steuerlast kleinrechnen können. eine hervorragende Zusammenarbeit in der Steuer- und Finanzpolitik. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: (Beifall der Abg. ) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5803

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Es ist schließlich nicht hinnehmbar, dass manche inter- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) national agierenden Konzerne Gewinne und Verluste so Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist lange grenzüberschreitend hin- und herschieben, bis nicht einmal zwei Jahre her – es war Dezember 2012 –, praktisch keine Steuerlast mehr übrigbleibt. Deswegen als das von Herrn Schäuble ausgehandelte Steuerabkom- müssen wir dieses Hin- und Herschieben letztlich ver- men mit der Schweiz – ein echter Persilschein für Steu- hindern. Das ist die Aufgabe. erhinterzieher – endgültig scheiterte, und das war gut so. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Stimmen Sie einmal den Anträgen der sowie bei Abgeordneten der SPD) Grünen zu! Da steht das alles drin!) Wolfgang Schäuble warf uns Grünen damals billige Po- Wir haben natürlich gleichzeitig die Frage zu beant- lemik vor. Er behauptete, wer beim Schweizer Steuerab- worten: Wie können wir in dieser Zeit durch eine aktive kommen wirklich der Meinung sei, man könne da mehr Steuerpolitik Investitionsförderung betreiben? Wir ha- rausverhandeln, der sei nicht von dieser Welt. ben – das muss man erkennen – eine Investitionslücke in Heute, zwei Jahre nachdem Grüne und SPD im Deutschland. Zur Schließung dieser Lücke sind zusätzli- Bundesrat das Steuerabkommen verhindert haben, Uli che Investitionen von Unternehmen und Staat in einem Hoeneß wegen Steuerhinterziehung in der Schweiz Umfang von etwa 3 Prozent des BIP erforderlich. Das rechtskräftig verurteilt ist entspricht etwa 80 Milliarden Euro. Deswegen ist die richtige Steuerpolitik wichtig. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Jetzt haben wir den großen Erfolg, dass wir keine Nettoneuverschuldung haben und einen ausgeglichenen und sein Banker in Polen verhaftet worden ist, erhalten Haushalt verabschieden. Dies wird neue Spielräume er- Deutsche mit einem Bankkonto in der Schweiz von ihrer öffnen, weil es natürlich nach wie vor Wachstum in jeweiligen Schweizer Bank Post mit Informationen über Deutschland gibt. Diese Spielräume werden wir nutzen die neue Weißgeldstrategie der Schweizer Regierung. müssen, insbesondere beim Thema Abschreibungen. Es In einem solchen Schreiben, das mir vorliegt, heißt es kann nicht sein, dass der Werteverzehr und die Abschrei- zum Beispiel – ich zitiere –: bungen zulasten der Liquidität in den Unternehmen gehen und damit die Unsicherheit bezüglich der Investi- Die Schweizer Regierung hat sich zum automati- tionen steigt. Man muss insbesondere berechenbare, kos- schen Informationsaustausch bekannt. tengünstige und investitionsfreundliche Rahmenbedin- Weiter: gungen schaffen. Daran wollen wir weiterhin arbeiten. (B) Das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: bei For- Für die Finanzinstitute wurde in der Schweiz zu- (D) schung und Entwicklung sowie bei den Abschreibungen. dem ein neues Bundesgesetz in die Vernehmlassung gegeben. Es sieht vor, dass Schweizer Banken die Natürlich haben unsere Arbeitnehmerinnen und Ar- Steuerkonformität der Vermögen ihrer bestehenden beitnehmer auch einen Anspruch darauf, dass wir uns Kunden abklären müssen. Sollten die Gelder im mit dem Thema „Kalte Progression“ befassen – ob das Land des Kunden nicht ordnungsgemäß versteuert allen gefällt oder nicht. 1 Prozent Lohnerhöhung bedeu- sein, ist die Bank gezwungen, die Geschäftsbezie- tet 1,9 Prozent Steuermehreinnahmen beim Staat. Das ist hungen mit dem Kunden abzubrechen. ein Thema. Es ist nicht richtig, dass alle Mehreinnahmen durch die Steigerungen der Leistungskraft nur beim Und schließlich: Fiskus landen. Vielmehr gehört das Geld, das von den Unsere Bank handelt stets gesetzeskonform. Bitte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet beachten Sie, dass wir deshalb nächstens eine wird, zunächst einmal den Arbeitnehmern, also den Offenlegung oder Bestätigung der ordentlichen Steuerzahlern. Dann erst kommt der Fiskus. So wird ein Versteuerung Ihrer Gelder in Ihrem Domizilland Schuh daraus. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns von Ihnen verlangen müssen. damit befassen. Das ist die Schweiz im Jahr 2014. Ich bin stolz da- Dann werden wir weiterhin Arbeitsplätze schaffen, rauf, Herr Schäuble, dass wir Grünen damals in dieser und dann werden wir auch in den Bereichen des interna- Frage standhaft geblieben sind und dass es Ihnen auch tionalen Wettbewerbs weiterhin vorankommen. nicht gelungen ist, die SPD-geführten Bundesländer Ich bin froh, dass wir diese Erfolge heute feiern kön- herauszukaufen, obwohl Sie es, wie wir alle wissen, ver- nen, dass wir damit letzten Endes einen Erfolgsweg ge- sucht haben. hen und unserem Land dienen: den Steuerzahlern, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steuerwahrheit und der Steuergerechtigkeit. Denn so wurde in der Schweiz ein Wandel möglich, und Herzlichen Dank. so war der Weg frei für das internationale Abkommen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) für automatischen Informationsaustausch, unterzeichnet von 51 Staaten, das Sie heute zu Recht als Meilenstein Präsident Dr. Norbert Lammert: im Kampf gegen Steuerhinterziehung bezeichnen. Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die Die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. die heute auch zur Debatte steht, gibt es in Deutschland 5804 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Lisa Paus (A) seit über 100 Jahren. Die Zahl der Selbstanzeigen war in niemand, weil das offensichtlich lebensfremd ist. Mittel- (C) den letzten 100 Jahren dennoch durchaus überschaubar. ständische Unternehmen erreichen die Grenze von Das lag aber nicht an der großen Steuerehrlichkeit in un- 25 000 Euro, ab der eine Umsatzsteueranmeldung not- serem Lande, sondern an dem sehr geringen Entde- wendig ist, schnell, zumal bei der Berechnung, ob diese ckungsrisiko. Das hat sich inzwischen geändert: Der Grenze erreicht wurde, auf den zu spät deklarierten Um- Aufkauf von Steuer-CDs, das gescheiterte Steuerab- satzsteuerbetrag und nicht auf den tatsächlich entstande- kommen mit der Schweiz und der nun vereinbarte flä- nen Steuerschaden abgestellt wird. Deswegen sind wir chendeckende automatische Informationsaustausch der froh, dass in dem Gesetzentwurf jetzt eine gute Formu- Steuerbehörden aus über 50 Ländern haben das Entde- lierung gefunden worden ist. Allerdings ist zu fragen ckungsrisiko stark erhöht. Umso wichtiger war es, diese – diesbezüglich sehen wir für die Anhörung noch Dis- Entwicklung mit einer Verschärfung der Voraussetzun- kussionsbedarf –, inwieweit das vollständig gut geregelt gen für eine strafbefreiende Selbstanzeige zu flankieren. ist und ob es bei der Jahreserklärung vielleicht doch noch Anpassungen geben sollte. Hier sehen wir tatsäch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich noch Prüfungs- und Änderungsbedarf. Denn nach der derzeit geltenden Regelung ist es immer Ich fasse aus Sicht der Grünen zusammen: Wir sind noch so, dass sich das Zuwarten bei der Selbstanzeige fi- Schritte vorangekommen. Wichtige Bausteine liegen nanziell lohnen kann. Lassen Sie mich das an einem Bei- vor. Finanzminister Schäuble kann in gewisser Weise für spiel deutlich machen. sich in Anspruch nehmen, international vom Saulus zum Alice Schwarzer hat nach eigenen Angaben mehr als Paulus geworden zu sein. 20 Jahre lang Steuern hinterzogen, muss aber nach gel- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tender Gesetzeslage nur für maximal zehn Jahre nach- NEN]: Aber nur da!) zahlen und für fünf Jahre einen fünfprozentigen Straf- zins zahlen. Das heißt, sie ist mit ihrer Selbstanzeige nach Aber es müssen noch weitere Schritte folgen, und zwar geltender Gesetzeslage nicht nur einem Strafverfahren die, die auf nationaler Ebene möglich sind: Die Abgel- entgangen – das ist der Sinn des Gesetzes –, sondern sie tungsteuer gehört abgeschafft. Die Argumente dafür hat gegenüber dem Steuerehrlichen immer noch viel wurden heute schon mehrfach genannt. Wir brauchen sie Geld gespart. Das darf nicht sein! Das muss aufhören! jetzt nicht mehr. Es macht einfach keinen Sinn, Kapital- einkommen geringer zu besteuern als Arbeitseinkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Der vorliegende Gesetzentwurf ändert das. Im Rah- Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wenn der (B) (D) men der Finanzministerkonferenz sind Verschärfungen Austausch dann läuft! – Dr. h. c. Hans erarbeitet worden, die zu den neuen Rahmenbedingun- Michelbach [CDU/CSU]: Steuerkomplizie- gen passen und die sicherstellen, dass der Steuerehrliche rung lässt grüßen! Steuerbürokratie lässt grü- in Deutschland eben nicht mehr der Dumme ist. ßen!) Die Ankündigung der Verschärfung hat auch schon sichtbare Effekte: Waren es 2013 mit 25 000 Selbstan- Präsident Dr. Norbert Lammert: zeigen schon dreimal so viel wie 2012, so ist die Zahl im Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- Jahr 2014 noch einmal deutlich angestiegen und lag im men. Oktober bereits bei knapp 32 000 Selbstanzeigen mit Mehreinnahmen für den Fiskus in Milliardenhöhe. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Reformvorschläge, an denen auch die Finanz- Ich komme zum Schluss. – Auch das Thema Steuer- ministerinnen von den Grünen aus Schleswig-Holstein gestaltung müssen wir noch stärker angehen. Auch da und , und Karoline Linnert, mit- kann man auf nationaler Ebene etwas machen. gewirkt haben, tragen eine deutlich grüne Handschrift. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zum Die Absenkung der Grenze hin zu schwerer Steuerhin- Abschluss den Minister loben, und dann ist terziehung von bisher 50 000 Euro auf 25 000 Euro, die Schluss!) deutliche Anhebung und Staffelung des Geldzuschlages, der bei hinterzogenen Steuern anfällt, und die Verdoppe- 158 Milliarden Euro gehen dem deutschen Fiskus jedes lung der Nacherklärungsfrist von fünf auf zehn Jahre – Jahr verloren, nicht nur wegen Steuerhinterziehung, son- das sind wichtige Punkte. Wir setzen uns dafür ein, dass dern auch wegen Steuergestaltung. Das ist eine große an ihnen am Ende, nachdem das Gesetz das Parlament Summe. Das kann so nicht bleiben. Deswegen brauchen passiert hat, auch festgehalten wird. wir dringend eine effizientere und transparentere Steuer- verwaltung, die mit den internationalen Konzernen auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Augenhöhe operieren kann. Deswegen fordern wir Sie Eine besondere Schwierigkeit gab und gibt es bei den erneut auf: Machen Sie es mit uns zusammen, richten sogenannten Anmeldesteuern, also bei der Lohn- und Sie eine Spezialeinheit auf Bundesebene ein, die auf der Umsatzsteuer, insbesondere bei der Umsatzsteuer. Steuerhinterziehung und Steuergestaltung reagieren Derzeit können Vorsteueranmeldungen, die um wenige kann. Wir brauchen eine solche Spezialeinheit – Stich- Tage verspätet eingereicht werden, als vollendete Steuer- worte „hohe Einkommen“ und „international agierende hinterziehung bewertet werden. Das will aber tatsächlich Unternehmen“ – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5805

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Steuerbetrug ist Betrug an der Allgemeinheit und ver- (C) Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. baut Zukunftschancen. Daher ist es richtig und wichtig, dass wir die Regelungen für die strafbefreiende Selbst- anzeige verschärfen. Wir wollen, dass der Staat die Steu- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ern erhält, die ihm zustehen, – Entschuldigung –, damit wir endlich dazu kommen, dass die Finanzämter in diesem Land mit den Steuerge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten staltern in den großen Steuerabteilungen der großen in- der CDU/CSU) ternationalen Konzerne auf Augenhöhe operieren kön- und wir wollen das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölke- nen. rung wieder ins Lot bringen. Herzlichen Dank. Der vorliegende Gesetzentwurf gibt darauf überzeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gende Antworten und findet daher die volle Unterstüt- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zung der SPD-Bundestagsfraktion. Wir schaffen die Selbstanzeige ausdrücklich nicht ab. Ja, die Hand des Staates bleibt ausgestreckt, aber – das ist für uns ent- Präsident Dr. Norbert Lammert: scheidend – zu deutlich erschwerten Bedingungen. Der Ich bitte sehr um Nachsicht. Ich lege die Redezeiten amtierende thüringische Finanzminister Wolfgang Voß nicht fest. Ich muss nur darauf achten, dass das, was wir hat das im April 2014 überzeugend zusammengefasst selbst beschlossen haben, auch einigermaßen eingehal- – ich zitiere –: ten wird. Es erleichtert uns die Arbeit sehr, wenn sich alle darum bemühen, sich an die Vorgaben zu halten. Die Selbstanzeige wird für Steuerhinterzieher unbe- quemer, bleibt aber weiterhin handhabbar. Der Kollege Andreas Schwarz ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. Steuerbetrug darf sich niemals lohnen. Deshalb ist es richtig, dass wir die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht verbauen, aber eben deutlich erschweren und vor der CDU/CSU) allen Dingen teurer machen. Es ist kein Geheimnis, dass es innerhalb der SPD zu Andreas Schwarz (SPD): Beginn durchaus auch kontroverse Ansichten zur Beibe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haltung der Selbstanzeige gab. Dass wir die Selbstan- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der spätere zeige am Ende aber sogar vor dem bayerischen Finanz- (B) langjährige Präsident des Deutschen Reichstages, der minister Markus Söder retten mussten, ist schon ein (D) Sozialdemokrat Paul Löbe, hat am 17. Dezember 1919 Novum. Herr Söder wollte im Frühjahr 2014 eine Ober- in der verfassunggebenden Nationalversammlung in ei- grenze diskutieren lassen, ab der eine Selbstanzeige ge- ner bemerkenswerten Rede unter anderem Folgendes nerell unwirksam sein sollte. Aber so ist es nach langen, ausgeführt – ich zitiere –: sehr konstruktiven Gesprächen und Verhandlungen nicht gekommen. Von Beginn an wurde von der Bund-Länder- Gerade im letzten Jahr hat sich das öffentliche Ge- Arbeitsgruppe und der Finanzministerkonferenz partei- wissen und die öffentliche Stimme immer lauter ge- übergreifend eine ganz klare Botschaft ausgesendet: gen diejenigen gekehrt, die als Steuerschieber oder Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird -flüchtlinge einen Teil ihres Vermögens vor der all- konsequent bekämpft und bestraft. gemeinen Not des Volkes in Sicherheit gebracht ha- ben. Es liegt keinerlei Anlass vor, über sie die (Beifall bei der SPD) schützenden Hände zu erheben. Bund und Länder haben – bei durchaus unterschiedli- Zitatende. chen Auffassungen im Detail – an einem Strang gezo- gen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie- (Beifall bei der SPD) rung setzt die gemeinsam verabredeten Beschlüsse überzeugend um. Für die geleistete Arbeit sprechen wir Man sieht, die Bekämpfung der Steuerhinterziehung Herrn Bundesfinanzminister Dr. Schäuble, dem Vor- war und ist für die SPD immer auch eine Frage der Ge- sitzenden der Finanzministerkonferenz, Dr. Walter- rechtigkeit. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt Borjans, und allen Beteiligten unseren herzlichen Dank man laufen“, so lautet ein bekanntes Sprichwort. aus. Das Ergebnis bei der Abstimmung des Finanzaus- Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten schusses des Bundesrates vorletzte Woche spricht eben- nach der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuer- falls für sich: Bei 15 Jastimmen und einer Enthaltung flucht den Eindruck gewonnen, dass sich Wohlhabende durch Brandenburg wurde beschlossen, diesen Gesetz- vom Tatbestand der Steuerhinterziehung freikaufen kön- entwurf dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorzule- nen. Der Schaden, den Steuerbetrug anrichtet, ist also gen – ohne Änderung. nicht nur fiskalischer Natur. Nein, er hat auch eine ge- Am 8. Oktober 2014 erklärte der hessische Finanz- sellschaftspolitische Dimension. Das Gerechtigkeitsge- minister, Herr Schäfer: fühl der Menschen in diesem Lande wird erschüttert. Hier können und dürfen wir nicht tatenlos bleiben. Des- Die Selbstanzeige bleibt ein wirksames Instrument halb handeln wir. zur Bekämpfung von Steuerkriminalität. Dass der 5806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Andreas Schwarz (A) Bund zum 1. Januar 2015 unter aktiver Mitarbeit Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Hessens eine Verschärfung der Bedingungen für Bettina Kudla ist die nächste Rednerin für die CDU/ eine Selbstanzeige plant, zeigt bereits jetzt Wir- CSU-Fraktion. kung. (Beifall bei der CDU/CSU) Recht hat er. Man muss ja oft Jahre warten, bis sich ein Gesetz als erfolgreich herausstellt. Manchmal, so Bettina Kudla (CDU/CSU): hört man, wird nie etwas daraus. Welcher Gesetzentwurf Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen bringt hingegen bereits Milliarden an Mehreinnahmen, und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen bevor er überhaupt verabschiedet ist? Keine Frage, ein Sie mich zunächst einmal auf das Steuerabkommen mit solch erfolgreiches Gesetz ist ein gutes Gesetz. Den der Schweiz eingehen, weil dies hier mehrfach kritisch Druck auf Steuerbetrüger zu erhöhen, hat sich unbe- angesprochen wurde. Ich wundere mich, wie Politiker streitbar als der richtige Weg erwiesen. Bis dato gingen stolz darauf sein können, dass sie verhindert haben, dass in diesem Jahr schon 32 000 Selbstanzeigen bei den aus der Schweiz Milliarden an Steuern nach Deutschland Steuerbehörden ein, und im vergangenen Jahr waren es fließen. rund 24 000 Anzeigen – ein toller Erfolg. Diesen Weg werden wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzent- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!) wurfes konsequent weitergehen. Deshalb muss man einmal fragen, wer denn die Verant- Wir begrüßen ebenfalls, dass die Straffreiheitsgrenze wortung dafür trägt, dass dem deutschen Staat Milliar- auf 25 000 Euro abgesenkt wird. Wer im Bereich von den an Steuereinnahmen entgehen. Mit der Unterzeich- Kapitalerträgen 25 000 Euro an Steuern hinterzieht, hat nung des Abkommens wären 2 Milliarden Euro sofort 100 000 Euro an Zinsen nicht angegeben und somit bei geflossen. einem unterstellten Zinssatz von 2 Prozent 5 Millionen (Widerspruch bei der LINKEN und dem Euro vor dem Fiskus versteckt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Diese Steuereinnahmen in Höhe von 10 Milliarden Euro sind Armut!) prognostiziert worden. Wer die harte Nuss Schweiz kna- Hier geht es nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, hier geht cken will, der muss erst einmal ein unterschriebenes Ab- es um massiven Steuerbetrug. Deshalb ist die Absen- kommen vorlegen. kung der Straffreiheitsgrenze wohl sehr begründet. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die Schweizer sind viel weiter! – Noch ein Wort zu den Anmeldesteuern. Das Schwarz- Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da hat (D) (B) geldbekämpfungsgesetz von 2011 hat die Problematik uns FATCA geholfen, nicht dieses Abkom- im Hinblick auf die Anmeldesteuern der Unternehmer ja men!) erst geschaffen. Deshalb begrüßen wir, dass die Teil- selbstanzeige bei der Lohn- und Umsatzsteuervoranmel- Momentan beteiligt sich die Schweiz noch nicht an dung wieder möglich ist. Dieser Gesetzentwurf hat also dem automatischen Informationsaustausch. Nach dem nicht nur Verschärfungen und strenge Regelungen zum ursprünglich vorgesehenen Abkommen wären künftige Inhalt, sondern er bietet auch praxisorientierte Verbesse- Kapitalerträge genauso wie in Deutschland besteuert rungen. worden. Es hätte also gar keinen Sinn mehr gemacht, Geld in die Schweiz zu transferieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir, dass ich diese Rede mit einem Zitat des großen Sozialde- Hinsichtlich der Abgeltungsteuer wurde hier gesagt, mokraten Paul Löbe schließe – seine Worte vom 17. De- man wolle das genauso wie mit der Lohnsteuer handha- zember 1919 sind fast 100 Jahre alt, haben aber an Ak- ben. Das macht aber doch gar keinen Sinn. Es hat seinen tualität nichts eingebüßt. Ich zitiere: guten Grund, dass die Abgeltungsteuer nicht so behan- delt wird wie die Lohnsteuer, weil man Kapitaleinkünfte Gleiches Recht für alle, besonders aber gleiches nicht so einfach greifen kann wie die Steuer des Arbeit- Recht dem ehrlichen Steuerzahler, der es nicht ver- nehmers. Deswegen hat die Abgeltungsteuer durchaus dient, dass diejenigen geschont werden, die in den ihren Sinn. vergangenen Jahren ihrer Pflicht gegenüber der All- gemeinheit nicht nachgekommen sind. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Dieser Aufforderung kommt der vorgelegte Gesetzent- Nun zum Gesetzentwurf zur strafbefreienden Selbst- wurf in vollem Umfang nach. anzeige. Zunächst zur Ausgangslage. Die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist ein wesentliches Ziel der Ko- Deshalb kann man auf die Unterstützung der SPD- alition. Die Selbstanzeige als Fall der Straffreiheit nach Bundestagsfraktion zählen. Wir freuen uns auf weiterhin Beendigung des Delikts ist daher immer wieder rechtfer- gute Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen der tigungsbedürftig. Mit dem Schwarzgeldbekämpfungsge- Union und gute Debatten im Finanzausschuss und im setz wurden die Voraussetzungen für eine strafbefrei- Parlament. ende Selbstanzeige im Jahr 2011 deutlich verschärft. Der Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. aktuelle Gesetzentwurf setzt die Eckpunkte der Be- schlüsse der Finanzministerkonferenz vom Mai 2014 (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) um. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5807

Bettina Kudla (A) Kern des Gesetzes ist, dass das Instrument der Selbst- hung, insbesondere großen Ausmaßes, zurückgehen (C) anzeige beibehalten wird. Folgende Leitplanken dienen wird. dem Gesetz als Grundlage: Es wird immer die Abwä- (Beifall der Abg. [CDU/CSU] gung getroffen zwischen dem Gebot der gerechten Be- und Lothar Binding [SPD]) strafung und der pragmatischen Ermöglichung der Rück- kehr in die Legalität. Die strafbefreiende Selbstanzeige Gleichzeitig bleiben die positiven Wirkungen der Selbst- soll dem Steuerpflichtigen den Weg in die Steuerehrlich- anzeige erhalten. Das wären insbesondere die Möglich- keit eröffnen, sofern dieser Steuern hinterzogen hat. Der keit der Rückkehr in die Legalität, die Stabilisierung der strafrechtliche Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accu- Steuereinnahmen, die Vermeidung des verfassungsrecht- sare“, wonach niemand an seiner eigenen Überführung lich schwierigen Aufeinanderprallens von Selbstbelas- mitwirken muss, muss trotz der erheblichen Mitwir- tungsfreiheit im Strafrecht und weitreichender Mitwir- kungspflichten des Steuerpflichtigen auch im Steuer- kungspflicht im Steuerrecht. strafrecht Geltung behalten. Es liegt ein wirksamer Gesetzentwurf gegen Steuer- Die Öffentlichkeit ist durch die Diskussion der ver- hinterziehung vor, der in einigen wenigen Details noch gangenen Monate erheblich sensibilisiert worden. Es ist auf seine Praxistauglichkeit, insbesondere im Hinblick ein stärkerer Verfolgungsdruck entstanden, und die Zahl auf anschlussgeprüfte Unternehmen, überprüft werden der strafbefreienden Selbstanzeigen hat sich deutlich er- muss. höht. Das ist zu begrüßen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich möchte aber auch betonen, gerade was die Sensi- Andreas Schwarz [SPD]) bilisierung der Öffentlichkeit betrifft: Das Recht des Bürgers auf die Wahrung des Steuergeheimnisses besteht Vizepräsidentin : nach wie vor. Vielen Dank. – Nächster Redner ist Carsten Sieling, SPD-Fraktion. Im Einzelnen zum Gesetz. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, wird – wir haben es jetzt schon mehrfach (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje gehört – der Nacherklärungszeitraum auf zehn Jahre aus- Tillmann [CDU/CSU]) gedehnt. Das schafft mehr Rechtssicherheit. Bisher mussten fünf Jahre nacherklärt werden, und für weiter Dr. Carsten Sieling (SPD): zurückliegende Zeiträume wurde geschätzt. Es tritt ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sperrgrund ein: Nur wer den Strafzuschlag bezahlt, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich bleibt straffrei. Die Staffelung des Zuschlags führt zu ei- (B) kann man – erstens – die Debatte heute zusammenfassen (D) ner deutlichen Verschärfung bei der strafbefreienden unter der Überschrift: Am Ende wird alles gut. Selbstanzeige. Wichtige neue Voraussetzung für die Wirksamkeit ist, dass die Hinterziehungszinsen sofort (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit Abgabe der Selbstanzeige entrichtet werden; aller- NEN]: Na ja! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE dings ist es auch hier gängige Praxis, dass die Finanzäm- GRÜNEN]: Nee! Wir sind noch auf dem ter eine angemessene Frist setzen. Das ist auch notwen- Weg!) dig; denn die Belange der kleinen und mittelständischen Nach vielen Jahren der Debatte haben wir hier jetzt ei- Betriebe müssen berücksichtigt werden. Das Gesetz soll nen Konsens, der am Ende doch relativ breit ist, einen dazu dienen, dem Steuerpflichtigen zu mehr Steuerehr- Konsens dahin gehend, dass Selbstanzeigen zu einem lichkeit zu verhelfen. wirklich wirksamen Schwert gemacht werden müssen (Beifall bei der CDU/CSU) und so ausgestaltet werden müssen, dass sie einen wirk- sameren Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterzie- Im Bereich der Anmeldesteuern wird eine Teilselbstan- hung bieten. Das ist der Kern dessen, was wir heute be- zeige ermöglicht, damit Korrekturen – Fehler passieren schließen. Punkt zwei: Das Bankgeheimnis wird mit nun einmal im betrieblichen Alltag – nicht kriminalisiert dem Informationsaustausch wegfallen. Auch hierüber werden. Die Berichtigungsvorschrift bzw. die ausdrück- herrschte nicht immer Konsens. Das Dritte: Auch die liche Berichtigungsmöglichkeit des § 153 AO gilt nach Steuerschlupflöcher von Konzernen sollen und müssen wie vor. Das ist wichtig für die Rechtssicherheit der Un- international bekämpft werden. ternehmen. Wir haben ferner in dem Gesetz vorgesehen, dass eine Anlaufhemmung der steuerrechtlichen Festset- (Beifall bei der SPD) zungsverjährung eintritt bei Kapitalerträgen aus Län- Es ist gut, dass wir hierbei einer Meinung sind. Man dern, die am automatischen Informationsaustausch nicht hat aber an dem einen oder anderen Redebeitrag ge- teilnehmen. Das ist ein deutliches Signal an diejenigen merkt, dass der Weg dahin steinig und ein bisschen holp- Steuerpflichtigen, die ihr Geld in Steueroasen anlegen rig war. Frau Kollegin Kudla hat eben deutlich gemacht, und dem Fiskus die Einnahmen verschweigen. welche Schwierigkeiten es manchen Abgeordneten berei- ten kann, diesen Punkten zuzustimmen. An dem Versuch, Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzent- das geplante deutsch-schweizerische Steuerabkommen wurf der Bundesregierung findet einen angemessenen zu rechtfertigen, hat man das gesehen. Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und beendet vorhandene Missstände. Das Gesetz wird dazu (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da ha- beitragen, dass die Zahl der Fälle von Steuerhinterzie- ben wir auch nicht geklatscht!) 5808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Carsten Sieling (A) Ich will an dieser Stelle auch sagen, Herr Bundes- uns als Große Koalition mit Handlungsverantwortung (C) finanzminister: Sie haben sich mit Ihrer ganzen Hartnä- und mit einem Bundesfinanzminister, der hier sehr oft ckigkeit für den Abschluss des deutsch-schweizerischen deutlich gemacht hat, dass es systematisch richtig wäre, Steuerabkommens eingesetzt. Man muss aber doch am die Abgeltungsteuer wieder in die Einkommensteuer zu Ende feststellen, dass es gut gewesen ist, dass wir Ihnen überführen, gar nicht erlauben können, uns nicht auf den in den vergangenen Jahren mit dem Scheitern des Steu- Weg zu machen. erabkommens den Weg eröffnet und die Möglichkeit ge- geben haben, Ihre ganze Hartnäckigkeit dafür einzuset- Dies ist auch deswegen so wichtig, weil es viele zen, den richtigen Weg einzuschlagen: gegen das schwierige Fragen zu klären gibt. Stichwort Zinsein- Bankgeheimnis und für den Informationsaustausch. Ich künfte: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang damit finde es gut, dass wir dafür jetzt gemeinsam stehen und um? Wollen wir wieder zurück zur Anrechnung von tat- Fehler beseitigt haben. sächlichen Werbungskosten, oder erhalten wir weiterhin die Freibeträge aufrecht? Stichwort Veräußerungsge- (Beifall bei der SPD) winne: Die Spekulationsfrist ist abgeschafft worden. Diese Regelung müssen wir meines Erachtens beibehal- Lassen Sie mich die Angelegenheit mit dem Bankge- ten. Auch bei den Dividenden gibt es wichtige Fragen, heimnis etwas genauer betrachten. Ich will hier im die sachpolitisch zu klären sind. Hause daran erinnern, dass es Anfang dieses Jahrtau- sends in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung Fi- Heute ist der Tag, an dem vieles gut wird. Aber das nanzminister Eichel war, der einen Gesetzesvorschlag heißt nicht, dass es in Zukunft nicht noch besser werden gemacht hat, das Bankgeheimnis aufzuheben. Dieser darf. Es gibt viele Aufgaben, an die wir politisch heran- Vorstoß ist damals an einer Bundesratsmehrheit unter gehen wollen. Wir Sozialdemokraten werden das tun. der Führung eines Ministerpräsidenten gescheitert, der Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. seinen Weg in die Wirtschaft gefunden hat und diesen Weg jetzt auch schon wieder verlassen musste, nämlich (Beifall bei der SPD) von Herrn Koch aus Hessen. Die Einführung des Informationsaustausches hätte Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zehn Jahre früher kommen können. Aber auch da will Vielen Dank. – Nächster Redner ist Uwe Feiler, CDU/ ich sagen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen CSU-Fraktion. und Kollegen: Vielleicht sollten wir froh sein, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU) das heute zusammen beschließen. Uns Sozialdemokra- ten gibt das an dieser Stelle ein gewisses Gefühl der (B) Selbstzufriedenheit, weil wir mit den heutigen Beschlüs- Uwe Feiler (CDU/CSU): (D) sen in der Steuerpolitik einen richtig großen Schritt vo- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rankommen werden. Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einfüh- (Beifall bei der SPD – Volker Kauder: Mit der rungsgesetzes zur Abgabenordnung, den wir heute in Deutschland AG haben Sie alles falsch ge- erster Lesung miteinander diskutieren, knüpfen wir an macht!) eine durchaus kontroverse und lange öffentliche Debatte Ein paar Dinge sind noch anzugehen. Ich will nur eine an, die wir nun auch parlamentarisch zum Abschluss Sache herausgreifen, die Abgeltungsteuer. Auch hier bringen werden. vernehme ich einen großen Konsens darüber, dass wir Der etwas sperrige Titel des Gesetzentwurfs sollte uns dieses Thema weiter bearbeiten müssen. Bei allen unter- dennoch nicht daran hindern, diesen Baustein zur Be- schiedlichen Akzenten und Betonungen, die es an dieser kämpfung von Steuerhinterziehung durch die Weiterent- Stelle gibt, scheint mir auch die Frage wichtig zu sein: wicklung des Instruments der strafbefreienden Selbstan- Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt, sich damit zeige zu würdigen. Aus meiner Sicht lohnt es sich, noch auseinanderzusetzen? einmal deutlich zu machen, dass die strafbefreiende (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Selbstanzeige nicht nur eine Möglichkeit für Steuerhin- NEN]: Jetzt!) terzieher darstellt, unter nunmehr verschärften Bedin- gungen wieder zurück in die Gemeinschaft der ehrlichen – Der richtige Zeitpunkt kann nicht erst 2017 sein. Wir Steuerzahler zu finden, die wir bis auf verhältnismäßig und auch Sie, Frau Kollegin Andreae, argumentieren, wenige Ausnahmen in Deutschland ja auch haben. Sie dass die Geschäftsgrundlage für die Abgeltungsteuer ist vielmehr auch im Interesse des ehrlichen Steuerzah- durch den automatischen Informationsaustausch entfal- lers und der Finanzverwaltung. len sei. Der richtige Zeitpunkt für die Überführung der Abgeltungsteuer zurück in die Einkommensteuer ist der Meine Damen und Herren, wer die Abschaffung der Tag, an dem der automatisierte Informationsaustausch strafbefreienden Selbstanzeige fordert, verkennt, dass in beginnt. Das wird entweder 2017 oder 2018 sein. Wenn kaum einem anderen Rechtsgebiet eine derart umfas- man das erreichen will – das ist der wesentliche Punkt –, sende Mitwirkung verlangt wird wie im Steuerrecht. dann muss man jetzt mit der Arbeit anfangen. Umgekehrt fordert die Tatentdeckung nirgendwo einen derartigen Einsatz an hochqualifiziertem Personal und 2017 liegt noch in dieser Legislaturperiode – 2018 vor allem Zeit. Der Einsatz von mehr Steuerfahndern in liegt außerhalb dieser Legislaturperiode –, sodass wir es den Finanzämtern reicht hierbei allerdings nicht aus. Wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5809

Uwe Feiler (A) müssen den Finanzbehörden auch die nötigen Werk- Meine Damen und Herren, der zunehmende Verfol- (C) zeuge an die Hand geben. gungsdruck wird zu einer weiteren Erhöhung der Anzahl der Selbstanzeigen führen. Steuersünder werden diese Die Tatentdeckung im Steuerrecht ist deutlich schwie- Kronzeugenregelung dafür nutzen, sich ehrlich zu ma- riger als in anderen Rechtsgebieten. Beim Bankraub chen, um wieder in die Gemeinschaft der ehrlichen merkt der Filialdirektor spätestens am Montagmorgen, Steuerzahler zurückzufinden. Ohne die Möglichkeit der wenn er den Tresorraum aufschließt, dass der Tresor leer Selbstanzeige würden wir aufgrund der steuerlichen Ver- und irgendetwas nicht in Ordnung ist. Das Konto in der jährungsfristen auf Einnahmen verzichten. Das führt Schweiz, in Liechtenstein oder anderswo finden Sie so ebenfalls zu weniger Steuergerechtigkeit. schnell nicht, und wir brauchen in der Finanzverwaltung die entsprechenden Werkzeuge, um derartige Konten zu Hier sind natürlich auch die Länder gefragt und in die finden. Pflicht genommen, ihre Finanzämter mit ausreichend Personal auszustatten, um die gewonnenen Erkenntnisse (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- entsprechend verarbeiten zu können. Hier bleibt für wie des Abg. Andreas Schwarz [SPD]) mich festzustellen, dass auch mein Heimatland Branden- burg mit einem Personalbesatz von circa 85 Prozent der Wer die Politik der Bundesregierung und der Regie- Personalbedarfsberechnung nicht gerade positiv hervor- rungskoalition aufmerksam verfolgt, muss bei objektiver tritt. Betrachtung feststellen, dass große Anstrengungen un- ternommen wurden, um Steuerhinterziehung wirksam zu (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist bekämpfen. Deshalb ist es wichtig, den Blick nicht nur besser als Bayern!) auf das Instrument zu richten, sondern auch zu beurtei- len, wie sich die strafbefreiende Selbstanzeige in den ge- In der öffentlichen Diskussion wird die strafbefrei- samten Instrumentenkasten einfügt. ende Selbstanzeige oft lediglich im Zusammenhang mit hinterzogenen Steuern bei Kapitalerträgen betrachtet. Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche Bei den beispielhaft genannten prominenten Einzelfällen haben sich in Berlin auf Einladung von Bundesfinanz- wird aber vollkommen außer Acht gelassen, dass weitere minister Schäuble die Finanzminister von 51 Staaten da- Steuerverkürzungen zum Beispiel bei anderen Ein- rauf verständigt, ab September 2017 den automatischen kunftsarten oder bei den Anmeldesteuern für eine Selbst- Informationsaustausch für Besteuerungszwecke einzu- anzeige infrage kommen können. Die strafbefreiende führen. Jeder, der mit politischen Prozessen vertraut ist, Selbstanzeige soll und darf jedoch kein Wellnessangebot weiß, welches Verhandlungsgeschick, aber auch welche für Steuerhinterzieher darstellen. Deshalb wird – ge- Durchsetzungsstärke vonnöten ist, um die divergieren- nauso wie bisher – eine umfassende Mitwirkungspflicht (B) den Interessen von 51 Staaten unter einen Hut zu brin- dem Steuerpflichtigen abverlangt, gerade um eine ver- (D) gen. Wir haben eben schon von einem Meilenstein ge- meintliche Besserstellung gegenüber dem ehrlichen hört. Für mich als ehemaligen Angehörigen der Steuerzahler zu unterbinden. Steuerverwaltung ist es ein Felsblock. Herr Bundes- minister, vielen Dank, dass Sie diesen Felsblock gesetzt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- haben. wie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Konkret soll künftig die strafbefreiende Wirkung der Deutschland gehört damit gemeinsam mit anderen Selbstanzeige nur noch bei hinterzogenen Beträgen bis Staaten zu den Vorreitern dabei, Steuerhinterziehung ef- zu 25 000 Euro statt wie bisher bis zu 50 000 Euro ein- fizient und effektiv zu bekämpfen und im Interesse des treten. Hinzu kommt, dass bei hinterzogenen Steuern auf ehrlichen Steuerzahlers Einnahmen für den Staat zu si- Kapitalerträge, die nicht automatisch übermittelt wer- chern. Ich bin mir sicher, dass den 51 Staaten, die sich den, die Anlaufhemmung bei der steuerrechtlichen Fest- bisher schon beteiligen, noch weitere Staaten folgen setzungsverjährung ab dem 1. Januar 2015 bis zu zehn werden. Jahre betragen kann. In Verbindung mit der generellen Ausdehnung des Berichtigungszeitraums auf zehn Jahre Fest steht aber auch, dass es bei 194 Staaten, die es wird deutlich, dass wir fest entschlossen sind, dieses In- weltweit gibt, und 51 teilnehmenden Staaten auch in Zu- strument zu behalten, aber auch Anpassungen vorzuneh- kunft weiterer Instrumente bedarf, um Steuerhinterzie- men, die deutlich machen, dass Steuerhinterziehung kein hung und Steuerflucht wirksam zu verhindern. Das von Kavaliersdelikt darstellt. der OECD angestoßene BEPS-Projekt wird dazu beitra- gen, dass dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt. Ich Richtig finde ich auch, zukünftig Anstifter und Gehil- freue mich bereits auf die Debatten zu diesem Thema im fen in den Kreis derjenigen aufzunehmen, die einer kommenden Jahr. Sperre nach § 371 Absatz 2 AO unterliegen und von der Strafbefreiung ausgenommen werden. Das schließt im Deshalb ist es im Zusammenspiel mit dem oben ge- Übrigen Amtsträger, die ihre Position missbrauchen, ein. nannten Abkommen in der EU auch richtig, dass der au- Wichtig ist mir an dieser Stelle, zu unterstreichen, dass tomatische Informationsaustausch weiter verbessert wird wir in § 371 aber auch die Möglichkeit der Korrektur und auch Dividenden, Veräußerungsgewinne aus Wert- von Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueran- papieren, andere Finanzprodukte, sonstige Finanzerträge meldungen verbessert haben, sodass sich Betriebe nicht und Kontoguthaben mit einbezogen werden sollen. dem Verdacht der Steuerhinterziehung ausgesetzt sehen 5810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Uwe Feiler (A) müssen. Das Gleiche gilt für anschlussgeprüfte Betriebe, Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/ (C) die nunmehr für nicht auf einer Prüfungsanordnung auf- 47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/ geführte Steuerarten und Zeiträume zum Mittel der 36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und Selbstanzeige greifen können. Wie wir bereits gehört ha- 2013/36/EU sowie der Verordnungen ben, bleibt uns § 153 AO in der bisherigen Form erhal- (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/ ten. Der Unterschied liegt hier in der Strafbarkeit und 2012 des Europäischen Parlaments und der Nichtstrafbarkeit. Wer also eine berichtigte Steuer- des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) erklärung abgibt, kann auch zukünftig darauf hoffen, Drucksachen 18/2575, 18/2626 nicht mit einem Strafverfahren konfrontiert zu werden. Das ist bislang in der Praxis leider ein wenig anders. Ich – Zweite Beratung und Schlussabstimmung freue mich, dass es uns in der Fraktion gelungen ist, mit des von der Bundesregierung eingebrach- dem Bundesfinanzministerium übereinzukommen, dass ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem wir zu § 153 eine klarstellende Regelung in Form eines Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über Erlasses erhalten werden. die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und Die zu leistenden Geldbeträge nach § 398 a AO wer- über die gemeinsame Nutzung dieser den angepasst und zukünftig gestaffelt. 10 Prozent der Beiträge hinterzogenen Steuern werden bei Beträgen bis zu 100 000 Euro fällig, 15 Prozent bei Beträgen bis zu Drucksachen 18/2576, 18/2627 1 Million Euro und 20 Prozent bei darüber hinausgehen- Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- den Beträgen. Damit wird dem Umstand Rechnung ge- nanzausschusses (7. Ausschuss) tragen, dass sich die Schuld des Straftäters bei der zu vermeidenden Strafbemessung an der Höhe der hinterzo- Drucksache 18/3088 genen Steuern orientiert. b) – Zweite und dritte Beratung des von der Noch ein kurzes Wort zur Abgeltungsteuer. Solange Bundesregierung eingebrachten Ent- der vereinbarte Informationsaustausch nicht funktio- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des niert, brauchen wir weiterhin eine Abgeltungsteuer. Des- ESM-Finanzierungsgesetzes wegen ist es falsch, bereits über ihre Abschaffung zu Drucksachen 18/2577, 18/2629 diskutieren. Ebenso falsch ist, ein wahres Bürokratie- monster wie das Halbeinkünfteverfahren wiederzubele- – Zweite und dritte Beratung des von der ben. Wir müssen schauen, was wir hier in Zukunft ma- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (B) chen. eines Gesetzes zur Änderung der Fi- (D) nanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Einrichtung des Europäischen Stabili- Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss tätsmechanismus und die dazugehörigen Anhörungen. Drucksachen 18/2580, 18/2628 Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haltsauschusses (8. Ausschuss) neten der SPD) Drucksache 18/3082

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Berichts des Haushaltsauschusses (8. Aus- schuss) zu dem Antrag des Bundesministe- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- riums der Finanzen wurfs auf Drucksache 18/3018 an die in der Tagesord- Durchführungsbestimmungen zum Instru- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ment der direkten Bankenrekapitalisierung dazu weitere Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der durch den Europäischen Stabilitätsmecha- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. nismus; Einholung eines zustimmenden Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie Beschlusses des Deutschen Bundestages Zusatzpunkt 1 auf: nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungs- gesetzes 5 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Drucksachen 18/2669, 18/3082 eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- linie 2014/59/EU des Europäischen Parla- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) ments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sa- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard nierung und Abwicklung von Kreditinsti- Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, tuten und Wertpapierfirmen und zur Än- weiterer Abgeordneter und der Fraktion derung der Richtlinie 82/891/EWG des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5811

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Risiko und Haftung zusammenführen – zusammengebracht werden und nicht der Staat für Leute (C) Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken- haften muss, die in diesem System Fehler machen. test sicherstellen (Beifall bei der CDU/CSU) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Seit Mitte 2012 beraten wir über das Thema der Ban- Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, kenunion. Was verstehen wir unter Bankenunion? Es weiterer Abgeordneter und der Fraktion geht im Wesentlichen um zwei Bereiche: einmal eine ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinsame Aufsicht in Europa für die Banken zu schaf- Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle- fen, nicht nur eine nationale Aufsicht, zum anderen geht rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei- es um die Frage: Was passiert, wenn Banken in eine nen einheitlichen europäischen Restruktu- Schieflage geraten? Wie kann hier abgewickelt oder sa- rierungsmechanismus niert werden? – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Wir haben im Jahr 2012 erlebt, dass viele europäische Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian Staaten der Meinung waren, eine gemeinsame Aufsicht Kindler, weiterer Abgeordneter und der Frak- zu schaffen, aber dann, wenn eine Bank in Schieflage tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerät, an europäisches Geld kommen wollten, nämlich an den Rettungsschirm ESM. Deshalb war es uns im zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Deutschen Bundestag wichtig, ein Stoppsignal zu setzen Europäischen Parlaments und des Rates und zu sagen: Das ist mit uns so einfach nicht zu ma- zur Festlegung einheitlicher Vorschriften chen. und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und be- Wir haben deshalb hier im Deutschen Bundestag da- stimmten Wertpapierfirmen im Rahmen mals eine Entschließung verabschiedet und unserer Bun- eines einheitlichen Abwicklungsmechanis- desregierung Vorgaben gemacht, wie die Verhandlungen mus und eines einheitlichen Bankenab- zu führen sind und vor allen Dingen welche Merkmale in wicklungsfonds sowie zur Änderung der den Verhandlungen nach vorne gestellt werden sollten. Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Euro- Wir sind der Meinung, dass in Europa alle großen Ban- päischen Parlaments und des Rates ken europäisch kontrolliert werden müssen und nicht mehr national. Aber wir sind genauso der Meinung, dass KOM(2013) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13 kleine Banken, kleine Institute, Sparkassen und Volks- hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- banken, die gewisse Grenzen nicht überschreiten, nicht (B) (D) desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 europäisch kontrolliert werden müssen, sondern dass des Grundgesetzes hier proportional gehandelt werden muss. Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. interessen – Für eine echte Europäische Manfred Zöllmer [SPD]) Bankenunion Denn es darf nicht sein, dass kleine Banken dem glei- Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088 chen Regime unterliegen wie die großen. Ich habe als unsere wichtigste Verantwortung unter anderem gese- Zu dem BRRD-Umsetzungsgesetz der Bundesregie- hen, dass wir Proportionalität gewährleisten und dass rung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die wir uns für die kleinen Institute einsetzen, die gerade in Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. der Finanzkrise immer dafür gesorgt haben, dass die Geld- und Kreditversorgung in Deutschland gewährleis- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tet war. Das ist unsere besondere Verantwortung. die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Es gab natürlich auch den Wunsch, Banken möglichst auf die europäische Ebene zu schieben, ohne sie zu prü- Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus- fen, damit anschließend eine europäische Haftung greift. Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. Wir als Deutscher Bundestag haben gesagt: Wir sind für (Beifall bei der CDU/CSU) die europäische Aufsicht, aber wir sind nur dann für die europäische Aufsicht, wenn sich alle großen Banken, die in Zukunft europäisch kontrolliert werden sollen, einer Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Prüfung, einem Stresstest unterziehen, damit nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und kranke Banken auf der europäischen Ebene abgelagert Kollegen! Wir werden heute eines der wichtigsten Ge- werden können. setze der europäischen Finanzgeschichte verabschieden. Wir diskutieren seit dem Jahr 2008 über Hilfsmaßnah- Diese Prüfung ist soeben erfolgt. Vor gerade zehn Ta- men des Staates für Kommunen, über Konjunkturpakete, gen sind die Ergebnisse herausgekommen. Die 130 über Hilfen für Staaten und Banken in Form von Ret- größten europäischen Banken sind kontrolliert worden. tungsschirmen, und wir haben uns unserer Verantwor- Von diesen haben 25 die Bedingungen nicht erfüllt; zum tung gestellt, hier im Deutschen Bundestag dafür zu sor- heutigen Zeitpunkt sind es noch 13 Banken. Diese gen, dass bei Krisen wieder Haftung und Verantwortung 13 Banken müssen selbst oder mithilfe ihrer Staaten das 5812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Klaus-Peter Flosbach (A) Geld aufbringen, damit sie in die europäische Aufsicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nutzt doch gar (C) kommen. Es ist eben nicht Angelegenheit der gemeinsa- nichts!) men Haftung, sondern der Banken und der betreffenden Wir haben zur Absicherung noch einen europäischen Staaten, dafür zu sorgen, dass diese Banken liquide sind Fonds geschaffen. Wir haben natürlich darüber disku- und keine Gefahr für den Finanzmarkt darstellen. tiert: Wie kann ein solcher Fonds finanziert werden? Er (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wird 1 Prozent der gedeckten Einlagen umfassen müs- sen. Er wird nicht vom Staat, sondern von den Banken Wir haben auch deutlich gemacht, dass wir dafür sind, finanziert. Die Banken müssen dafür in den nächsten dass Banken, die in eine Schieflage geraten, gemeinsam acht Jahren 55 Milliarden Euro bereitstellen. gerettet werden können. Dafür haben wir das Gesetz, das Unsere zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist: wir heute hier vorlegen, das Abwicklungs- und Sanie- Wer finanziert einen solchen Fonds? Wer bezahlt das rungsgesetz, geschaffen. Wir in Deutschland haben zwar Ganze? – Natürlich müssen die Großen, von denen die bereits seit dem Jahre 2010 ein nationales Gesetz zu die- Risiken ausgehen, den Hauptteil tragen. Aber wir disku- sem Thema gehabt, aber wir gehen mit diesem Gesetz tieren immer auch über die Frage: Wie gehen wir mit doch deutlich weiter, als wir es national getan haben. kleinen Banken, mit Sparkassen und mit Volksbanken Wenn Banken in die Schieflage geraten, wenn sie saniert um? Wir haben damals in Deutschland einen Freibetrag oder abgewickelt werden müssen, dann wird zum ersten für kleinere Banken durchsetzen können, weil wir es Mal nicht der Steuerzahler herangezogen. selbst entscheiden konnten. Auf europäischer Ebene mit Wie schaffen wir das? Wenn jemand in die Schieflage nahezu 6 000 Banken ist es natürlich schwieriger, Ent- gerät, wird zuerst der Eigentümer herangezogen. Natür- scheidungen dieser Art zu treffen, weil sich jedes Land lich haben viele Eigentümer von Bankaktien in der Krise in einer unterschiedlichen Situation befindet. Auch hier Geld verloren. Wer auf dem Höhepunkt im Jahre 2008 muss ich dem Finanzminister Schäuble dafür danken, eingestiegen ist, hat mit Commerzbank-Aktien über dass sich die deutsche Bundesregierung immer wieder 90 Prozent verloren. Aber hier geht es darum, dass dem dafür eingesetzt hat, dass gerade die Kleinen nicht so be- Eigentümer, dem Aktionär, Geld entzogen wird. Er ver- lastet werden wie die Großen. Herr Schäuble, ich danke liert eventuell sein gesamtes Geld. Wenn das nicht aus- Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass Sie zu dieser reicht, dann werden die Gläubiger herangezogen, und Forderung des Deutschen Bundestages immer wieder zwar nicht die kleinen Gläubiger, die wir als Eigentümer gestanden haben. von Einlagen bis 100 000 Euro definieren, sondern die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eigentümer, deren Einlagen darüber hinausgehen. Ihr neten der SPD) (B) Guthaben bei einer Bank wird in haftendes Eigenkapital (D) der Bank umgewandelt. Das heißt, jeder ist selbst dafür Die Opposition wird natürlich darauf hinweisen, dass verantwortlich, wem er sein Geld anvertraut. Wenn er es das alles nicht ausreicht, dass die Kleinen trotzdem wie- einer Bank anvertraut hat, die ihm hohe Zinsen geboten der zu stark belastet werden. hat, aber hinterher nicht liquide ist, dann muss er mit da- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE für haften. Eigentümer und Gläubiger müssen in Zukunft GRÜNEN]: Stimmt ja auch!) haften, wenn eine Bank in Schieflage gerät. Wir haben auch bei kleinen Banken gesehen – übrigens (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch bei Sparkassen im Verbund mit der Westdeutschen neten der SPD) Landesbank –, wo überall Risiken stecken. Insofern glaube ich, wir haben hier eine sehr gute Lösung gefun- Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass wir uns den. für den Fall, dass das alles nicht ausreichen sollte, das Modell einer gemeinsamen Haftung in Form eines ge- Meine Damen und Herren, auch in Zukunft wird im- meinsamen Fonds vorstellen können. Wer die Anhörun- mer wieder die Diskussion geführt werden, ob der Staat gen in der letzten Zeit, die Fachgespräche, die Gespräche nicht doch irgendwo haften muss. Wenn diese drei Maß- mit der Europäischen Kommission, mit der Bundesbank nahmen – Eigentümer, Gläubiger und Fonds – nicht aus- verfolgt hat, wird doch als Ergebnis mitnehmen, dass der reichen sollten, sind Länder selbst verpflichtet, die Fi- Chef des Euro-Rettungsschirmes ESM, Herr Regling, nanzierung der Banken vorzunehmen. gesagt hat: Wenn wir diese Gesetzeslage im Jahre 2008 gehabt hätten, dann wären nicht Hunderte von Banken (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So europaweit in die Schieflage geraten, sondern es wären ist das!) nur zwei oder drei Banken gewesen, und die Schieflage Wenn sie das dann immer noch nicht können, können sie hätte im einstelligen Milliardenbereich gelegen. – Das Hilfe aus dem Rettungsschirm beantragen. Sie bekom- heißt, wenn wir das schon damals gehabt hätten, wäre es men eine Unterstützung, aber natürlich, wie wir es ken- eine völlig andere Situation gewesen. Deswegen sollten nen, in Verbindung mit einem vollen Programm. Damit wir stolz darauf sein, dass wir dieses Gesetz heute verab- geben sie ein Stück ihrer Eigenständigkeit auf. schieden, das die Steuerzahler wirklich von der Haftung befreit. Es wird auch die direkte Bankenrekapitalisierung dis- kutiert, die im Jahr 2012 natürlich von großer Bedeutung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- war. Sie müssen bedenken, dass Kommission, Regling neten der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜND- und Bundesbank sagen: Das wäre damals nicht passiert. – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5813

Klaus-Peter Flosbach (A) An fünfter Stelle ist jetzt also auch eine Rekapitalisie- Hätte es die Bankenunion schon 2007 gegeben, Herr (C) rung möglich, aber nur, wenn alle auf der europäischen Flosbach, hätte es also das, was uns heute vorliegt, da- Ebene zustimmen und auch wir als Deutscher Bundes- mals schon gegeben, so hätte uns das gegen die Finanz- tag, die wir das Haushaltsrecht haben. Wer heute be- krise nicht geschützt. James White von der Europäischen hauptet, es gebe eine direkte Bankenrekapitalisierung in- Finanzmarkt-Assoziation hat die Bankenunion als ein sofern, als wir es zulassen, dass auf europäisches Geld entscheidendes Projekt bezeichnet, das die Marktinte- zurückgegriffen wird, der stellt die Dinge falsch dar und gration voranbringt, die Finanzmärkte stärkt und Ver- dem werden wir so nicht zustimmen können. trauen in die europäische Wirtschaft schafft. Kollegin- nen und Kollegen, wenn die Interessenvertreter der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Großbanken über ein Regulierungsprojekt derart ins neten der SPD) Schwärmen kommen, dann muss sich die Politik fragen, Meine Damen und Herren, in den letzten sechs Jahren was sie falsch gemacht hat. Dazu fällt mir eine Menge haben wir 30 Gesetze verabschiedet, um Stabilität auf ein: den Finanzmärkten herzustellen. Denken Sie nur an das Zuerst haben Sie Eigenkapitalregeln festgelegt, die große Abkommen Basel III: mehr Eigenkapital für die viel zu schwach sind. Lehman hatte kurz vor der Pleite Banken, mehr Liquidität, eine andere Liquidität in den noch 11 Prozent Kernkapital. Sie haben sich in der EU Banken. Wir haben die Testamente gefordert. Wir haben auf 8 Prozent verständigt, und diese 8 Prozent sind nicht Trennbankensysteme eingeführt. Wir haben außerbörsli- nur Mindest-, sondern zugleich auch Höchstgrenze. Das che Derivate geregelt. Wir haben im Grunde eine euro- ist keine Finanzregulierung. Das ist Deregulierung. päische Aufsicht auch im Systemrisikobereich geschaf- fen. Wir haben also die Jahre genutzt, um auf vielfältige (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Manfred Weise dafür zu sorgen, dass wir wieder einen stabilen Zöllmer [SPD]: Das ist doch Unfug!) Finanzmarkt in Europa bekommen. Dann haben Sie die Aufsicht über die Großbanken an die Wir verabschieden heute gemeinsam mit der Bundes- EZB übertragen, eine Institution, die kraft ihrer Statuten regierung ein Gesetz, das genau das abschließt, was wir frei von demokratischer Kontrolle ist und die aufgrund sechs Jahre lang in Teilschritten betrieben haben. Wir er- ihrer geldpolitischen Rolle ganz offenkundig in einen In- leben heute sicherlich den Höhepunkt. Es ist eines der teressenkonflikt gerät. Und nun beschließen Sie einen wichtigsten europäischen Finanzgesetze, mit dem Haf- Abwicklungsmechanismus, der festlegt, dass die Gläubi- tung und Verantwortung wieder zusammengeführt wer- ger und Eigentümer von Pleitebanken künftig mit 8 Pro- den, mit dem erreicht wird, dass dann, wenn Banken in zent der Bilanzsumme an den Kosten beteiligt werden eine Schieflage geraten, nicht die Steuerzahler, sondern sollen. Danach ist der Steuerzahler wieder dran. (B) (D) die Banken selbst herangezogen werden. Das gleiche Schonprogramm gegenüber den Banken Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. legen Sie beim Abwicklungsfonds an den Tag. 55 Mil- liarden Euro sollen sie einzahlen – bis 2024. Das ist viel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu spät und viel zu wenig. Liebe Kolleginnen und Kolle- neten der SPD) gen, die Bankenrettungen der letzten Jahre haben uns 1 700 Milliarden Euro gekostet. Riskiert wurden sogar Vizepräsidentin Ulla Schmidt: über 4 000 Milliarden Euro. Nun sollen 55 Milliarden Euro dafür sorgen, dass die Steuerzahler nie wieder für Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt marode Banken haften müssen? Das ist wirklich ein das Wort Alexander Ulrich. schlechter Witz. (Beifall bei der LINKEN) Aber noch schlimmer als das, was Sie im Rahmen dieser Bankenunion gemacht haben, ist, was Sie nicht Alexander Ulrich (DIE LINKE): machen: Sie geben keine Antwort auf die enorme Kon- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zentration im Finanzsektor, die einzelne Institute in die Am heutigen Tag kann man sagen: versprochen – gebro- Lage versetzt, Staaten zu erpressen. Sie geben auch chen. keine Antwort auf das Problem des riesigen Einflusses der Finanzlobbys. Allein in Brüssel sind 1 700 Finanz- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo lobbyisten beschäftigt. leben Sie denn?) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Man muss Nach der verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise ja nicht mit denen reden!) hatte die Bundeskanzlerin versprochen, dass nie wieder der Steuerzahler für marode Banken haften soll. Aber Es ist kein Wunder, dass die Finanzjongleure ins spätestens am heutigen Tag ist klar, dass auch zukünftig Schwärmen kommen. Diese Bankenunion ist für sie die Steuerzahler dafür haften werden – wir werden das maßgeschneidert. heute noch einmal klarlegen –; wir als Linke lehnen das Wenn Sie es ernst damit meinen, die Steuerzahler zu ab. schützen, dann lehnen Sie die Richtlinien und Verord- nungen zur Bankenabwicklung ab. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Super! – Johannes Kahrs [SPD]: (Beifall bei der LINKEN – Carsten Schneider [Er- Nichts Neues!) furt] [SPD]: Was machen wir stattdessen?) 5814 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Alexander Ulrich (A) Wir brauchen diese Bankenunion nicht. Hier liegen mehrere Gesetzentwürfe vor, mit denen (C) dafür gesorgt werden soll, dass die Verfahren vernünftig (Zurufe von der SPD: Ah ja!) ablaufen. Das ist Ihnen eben alles erklärt worden. Aber Wir brauchen eine strenge Regulierung, eine Entflech- wenn Sie im Kern sagen, dass hier der Steuerzahler wie- tung und Schrumpfung des Finanzsektors. Wir brauchen der die Banken finanzieren soll, die nichts geregelt krie- ein Trennbankensystem und eine Zerlegung der Groß- gen, dann muss ich Ihnen doch einmal sagen, wozu wir banken in kleinere Einheiten. Es muss sichergestellt die Banken brauchen: Die Bürger haben eine enge Ver- werden, dass nie wieder die Steuerzahler für die perverse bindung zu den Banken. Die Banken finanzieren den Zockerei der Finanzmafia haften müssen. Mittelstand, und jeder, der eine Lebensversicherung hat, braucht eine Bank. Die Wirtschaft, die Unternehmen, die (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding ihre Geschäfte abwickeln, brauchen die Banken eben- [Heidelberg] [SPD]: Wie?) falls. Zudem brauchen wir eine demokratische Kontrolle und (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist jetzt ein Ende des enormen Einflusses der Bankenlobbys. aber auch schlicht!) Über all das wird heute aber nicht abgestimmt. Diese – Na, ich versuche, Ihnen das so zu erklären, dass Sie es Bankenunion kratzt nicht einmal an der Oberfläche der auch verstehen. Dazu muss ich mich leider auf Ihr Ni- eigentlichen Probleme im Finanzsektor. Wir werden ihr veau begeben; das ist mein Problem. daher nicht zustimmen. (Beifall und Heiterkeit bei Abgeordneten der Vielen Dank. SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, wenn Sie hier schlicht argumentieren, müssen wir auch schlicht darauf antworten. Sonst geht es mir Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wie dem Kollegen Flosbach, der Ihnen das hier erklärt hat, aber Sie haben es nicht verstanden. Das ist doch je- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Johannes Kahrs, des Mal das gleiche Strickmuster. So kommen wir doch SPD-Fraktion. nicht miteinander klar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) der CDU/CSU) Ich habe mich deswegen entschieden, meine Rede zur Johannes Kahrs (SPD): Seite zu legen und zu versuchen, Ihnen das auf Ihrem Niveau zu erklären. (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) Kollegen! Der Kollege Flosbach hat hier ausgeführt, wie Erstens. Die Menschen, die Industrie und der Mittel- der Vorgang vonstattengehen soll. Der Kollege Ulrich stand brauchen ein funktionierendes Bankensystem. hat aber leider nicht zugehört. Hätte er zugehört, hätte er Zweitens. Wir wollen, dass dieses funktionierende seine Rede gar nicht so halten können, wie er sie gehal- Bankensystem Bestand hat. ten hat, Drittens. Wir alle sind überzeugte Europäer. Wir wol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der len, dass das auch in Europa funktioniert. CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Sehr richtig!) Viertens. Wir wissen, dass in anderen europäischen Staaten – ob in Griechenland, Spanien oder anderswo – oder er hat sie nicht verstanden; man soll aber nicht ein Aufschwung nur möglich ist und eine Wirtschaft nur gleich das Schlimmste annehmen. funktionieren wird, wenn auch sie ein funktionierendes Im Kern wird von der Linken hier wieder an einer al- Bankensystem haben. ten Legende gestrickt: Die fiesen Banken werden vom Fünftens – das kann man alles weiter herunterdekli- Steuerzahler finanziert; damit werden nur Lobbys be- nieren – brauchen auch diese Staaten Banken, wenn die dient. Wirtschaft dort funktionieren soll; denn wir müssen am (Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: So ist Ende doch klarkommen. es ja auch!) Zu der dümmlichen Argumentation, mit der Sie hier Wer braucht überhaupt Banken? – Sie zielen damit auf aufgetreten sind, hier würden wieder Lobbys und Ban- eine gewisse Zielgruppe ab, darauf, 10 bis 12 Prozent ken versorgt, kann ich nur sagen: der Bevölkerung in Verwirrung zu stürzen, damit diese (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch Menschen glauben, dass ihre Steuergelder ausgegeben so!) werden, um Lobbys, Verbände und andere zu retten. Die Banken sind ein integraler Bestandteil unseres Wirt- (Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Gehen schaftssystems. Wenn diese Banken ausfallen, dann geht Sie doch mal auf die Argumente ein!) noch sehr viel mehr den Bach runter. Viel schlichter kann ich das nicht erklären. Ehrlich gesagt: Das ist doch etwas schlicht, selbst für die Linke. Ich meine, Sie mögen zwar schlichte Strickmus- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben ter; aber das muss doch nicht immer so sein. keine Lehren aus 2007/2008 gezogen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5815

Johannes Kahrs (A) – Wenn Sie sagen, wir hätten keine Lehren gezogen, wollen, dass der Bankensektor vernünftig reguliert wird. (C) dann frage ich Sie, warum wir hier eine Debatte über Eine Bank muss auch einmal pleitegehen können, aber zwei von uns vorgelegte Gesetze führen, in denen wir so, dass die Spareinlagen von Privatpersonen nicht be- genau diese Lehren durchdeklinieren. troffen sind. Das ist jetzt hier alles geregelt worden. Da- für haben wir Sozialdemokraten uns lange eingesetzt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schon als wir in der Opposition waren. Jetzt, wo wir mit- Was soll man denn in diesem Hohen Hause sonst regieren, läuft das alles sehr viel besser. Dem Kollegen noch machen? Man stößt doch an die Grenzen von Ra- Flosbach konnte man ja anhören, dass vieles aus sozial- tionalität, wenn nicht zugehört oder verstanden wird. demokratischer Feder stammt. Insofern wirkt diese Das ist doch die Grundlage eines parlamentarischen Sys- Große Koalition. Sie funktioniert, und das ist gut. Nur tems. Wenn Sie sich das Ganze anschauen, dann werden die Linke hat es nicht verstanden. Das ist aber nichts Sie feststellen, dass wir der Meinung sind, dass dieser Neues. europäische Bankensektor sicherer gemacht werden Vielen Dank. muss. Das haben wir auch vor. Deswegen stehen wir hier. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir als Sozialdemokraten haben einer direkten Ban- Aus dieser Rede zitieren wir in der nächsten kenrekapitalisierung immer kritisch gegenübergestanden Krise!) und stehen ihr auch heute noch kritisch gegenüber. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Ulla Schmidt: GRÜNEN]: Ihr wolltet es ablehnen, habt ihr Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sven-Christian gesagt!) Kindler, Bündnis 90/Die Grünen. – Lesen bildet, denken hilft; Herr Kollege, ich schätze Sie sehr. – Deswegen haben wir – wenn man in den Ge- Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzentwurf schaut, wird man das erkennen – sehr viele NEN): Hürden aufgebaut, die dazu führen sollen, dass eben Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nicht der Steuerzahler gefordert wird, sondern, wie vom Kollegen! Nach den etwas schlichten Reden, sowohl des Kollegen Flosbach mehrfach ausgeführt wurde, zunächst Kollegen Ulrich als auch des Kollegen Kahrs, will ich die Eigentümer, die Unternehmen und die Aktionäre ge- wieder zum Thema der Debatte zurückkommen. fordert werden, bevor wir an der Reihe sind. Wir haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf europäischer Ebene verhandelt, um den Zugang zu (B) ESM-Hilfen so anspruchsvoll zu gestalten, wie es hier Wenn wir heute über die Bankenunion und den ESM (D) dargestellt worden ist, damit das der absolute Notfall ist, reden, dann dürfen wir, finde ich, nicht vergessen, was damit es eine Haftungskaskade gibt. Das ist Ihnen doch der Hauptgrund für die immer noch andauernde Finanz- alles mehrfach erklärt worden. krise in Europa war. Hauptgrund waren und sind die ho- hen Schulden des Bankensystems. Bis 2008 hatten Län- Im Sommer 2012 haben einige gedacht, dass das ein der wie Irland oder Spanien zum Beispiel deutlich Weg für die maroden europäischen Banken wäre, schnell bessere Haushaltszahlen als Deutschland. Aber in diesen an ESM-Geld zu kommen. Das wollten wir nicht. Es Ländern gab es einen überbordenden Banken- und Im- darf keinen schnellen Zugang zu diesem Geld geben; das mobiliensektor. In der Krise sind dann aus diesen Bank- muss im Rahmen der Haftungskaskade in sehr vielen schulden Staatsschulden geworden. Nach Angaben der Stufen ausgeschlossen werden. Das ist Ihnen hier klar Europäischen Kommission haben die europäischen Staa- gesagt worden. ten von 2008 bis 2012 rund 600 Milliarden Euro für den Gleichzeitig sorgen wir mit den hier vorgelegten Ge- Bankensektor bereitgestellt; rund 80 Prozent davon ent- setzen dafür, dass der Deutsche Bundestag beteiligt fielen auf Griechenland, Irland, Spanien und Portugal. wird, dass der Haushaltsausschuss beteiligt wird, dass Dieses Geld fehlt uns heute für den Kampf gegen die Ju- das nicht in irgendwelche Untergremien geschoben wird, gendarbeitslosigkeit. Dieses Geld fehlt uns heute für In- weil wir keine Lust haben, wieder von irgendwem vor vestitionen. Wir Grüne sagen klar für die Zukunft: Es dem Verfassungsgericht verklagt zu werden. Wir wollen, muss in Europa endlich Schluss damit sein, dass Bank- dass der Bundestag beteiligt wird. Wir wollen, dass der schulden in Staatsschulden umgewandelt werden, dass Bundestag entscheidet. Wir wollen, dass der Bundestag die Staatshaushalte und die Steuerzahler für die Banken- mitreden kann; denn es geht um das Geld der Steuerzah- rettung aufkommen. ler. Das ist hier alles, glaube ich, klar erläutert worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir dürfen nicht vergessen: Woran lag diese falsche der CDU/CSU) Krisenpolitik in den letzten Jahren in Europa? Das lag Wenn man das der Linken noch einmal sagen darf: Es auch daran, dass wir keinen Lösungsmechanismus hat- bringt überhaupt nichts, hier irgendwelche großen Theo- ten für stark vernetzte Banken in Europa, für die Ab- rien in die Welt zu setzen und zu versuchen, die Bevöl- wicklung und die Kontrolle. Die Bundesregierung, vor kerung zu verunsichern. Das führt im Ergebnis nicht zu allen Dingen Bundesfinanzminister Schäuble, hat das in dem, was nicht nur wir, sondern auch Sie wollen: dass es den letzten Jahren auf europäischer Ebene immer blo- einen vernünftigen Umgang mit den Banken gibt. Wir ckiert und torpediert; sie hat immer nur die nationale 5816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Sven-Christian Kindler (A) Karte gespielt. Dass die Krise im Bankensektor die Staa- Schwächung, sondern eine Stärkung des europäischen (C) ten in Europa so viel Geld gekostet hat, dass sie sich so Parlaments. Darum geht es. verschärft hat, dafür ist auch die deutsche Bundesregie- (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die Euro- rung verantwortlich. Das war nicht pro-europäisch, das päische Kommission hat doch zugestimmt!) war national borniert. Und: Das war und ist am Ende ganz teuer für Europa. Weil wir Grüne die Bankenunion mit der gemeinsa- men Abwicklung immer gefordert haben, werden wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – heute trotz unserer Kritik am SoFFin für die BRRD- Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Unsinn!) Richtlinie stimmen. Bezogen auf IGA, das intergouver- Dieser Logik der nationalen Bankenrettung mit Steu- nementale Übereinkommen, werden wir uns enthalten ergeldern folgt leider auch die Umsetzung der BRRD- und es deshalb nicht ablehnen, weil wir zum Ausdruck Richtlinie in Deutschland. Auf europäischer Ebene soll bringen wollen, dass wir die Bankenunion und die Ab- ein Rechtsrahmen bezüglich der Bankenunion geschaf- wicklung unterstützen. Gleichzeitig wollen wir klarstel- fen werden. Trotzdem will die Bundesregierung mit dem len, dass sich eine solche Umgehung der europäischen SoFFin nationale Steuermittel weiter ins Schaufenster Demokratie nicht wiederholen darf. stellen. Wir Grüne beantragen heute, dass der SoFFin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht um ein weiteres Jahr verlängert wird. Das wäre das falsche Signal und würde auch dem Grundgedanken der Das neue Instrument der direkten Bankenrekapitali- europäischen Lösung widersprechen. sierung beim ESM lehnen wir Grüne ab; denn hier wird wieder Steuergeld ins Schaufenster gestellt und eine Pa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rallelstruktur zur europäischen Bankenunion aufgebaut. Wir Grüne haben von Anfang an eine europäische Es ist hochproblematisch, dass der gemeinsame Abwick- Bankenunion gefordert. Wir brauchen eine gemeinsame lungsfonds erst 2024 eingerichtet werden soll. Das heißt, Kontrolle, ein gemeinsames Abwägen, auch harte Rege- für diese Zeit braucht man einen Letztsicherungsmecha- lungen, damit Eigentümer und Gläubiger in der Krise nismus, einen sogenannten Common Backstop. Das zahlen und nicht wieder die Steuerzahler für die Banken- kann der ESM aber nicht leisten, jedenfalls nicht mit der rettung eintreten müssen. Wir sollten aber auch nicht direkten Bankenrekapitalisierung. Der ESM hat nicht die vergessen, wer die entscheidenden Fortschritte auf euro- Kapazität und nicht die Expertise beim Management von päischer Ebene durchgesetzt hat. Das war nicht die Bun- maroden Banken. Gleichzeitig sind die Steuerzahler wie- desregierung. Im Gegenteil: In der entscheidenden der in der Haftung. Deswegen sagen wir: Wir wollen Nacht hat sich das Europäische Parlament bei den zen- eine Kreditlinie vom ESM als Common Backstop, weil klar ist, dass der Abwicklungsfonds die Banken abwi- (B) tralen Fragen wie einer effektiven Bankenabwicklung (D) ganz klar gegen den Europäischen Rat und Wolfgang ckelt und restrukturiert und die Kredite außerdem zu- Schäuble durchgesetzt. Das war auch dringend notwen- rückgezahlt werden müssen. Das heißt, nicht die Steuer- dig und gut so. zahler, sondern die Banken sind nachher in der Verantwortung. Das ist die richtige Lösung. Deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lehnen wir heute die Einführung der direkten Bankenre- Leider hat sich an einer anderen entscheidenden Stelle kapitalisierung beim ESM klar ab. die deutsche Bundesregierung durchgesetzt, und zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der Frage des intergouvernementalen Übereinkom- mens, kurz: IGA. Es ist schon angesprochen worden: Natürlich ist die Einführung der Bankenunion ein wichtiger Schritt für (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hat sie oder hat die Regulierung des Bankensektors. Das reicht aber sie nicht?) nicht. Wir haben immer noch ein Problem mit Großban- ken in Europa. Wir haben das Problem, dass es immer – Ja, bei einem ganz zentralen, europapolitisch bedenkli- noch eine implizite Staatsgarantie für Großbanken gibt. chen Punkt, nämlich bei der IGA. – Was heißt IGA? Es Großbanken können am Finanzmarkt spekulieren und geht darum, dass bis 2024, was viel zu lange ist, die na- zocken, ohne dass sie reguliert werden. Leider ist es tional erhobenen Bankenbeiträge für den Abwicklungs- auch so, dass die Bankenabgabe das Problem nicht löst. fonds in einem zwischenstaatlichen Vertrag geregelt Mit der Einführung eines Risikofaktors geht man völlig werden sollen. Das heißt, das europäische Recht wird unzureichend auf das Problem Großbanken ein. Die Ri- hier ausgehebelt; das Europäische Parlament wird in sei- siken, das systemische Risiko und die Too-big-to-fail- nen Rechten beschnitten. Die deutsche Bundesregierung Problematik, werden nicht angemessen berücksichtigt. war mit dieser Haltung in Europa isoliert. Kein anderer Nachher werden wahrscheinlich mittelgroße Banken mit Mitgliedstaat und nicht das Europäische Parlament oder einem risikoarmen Geschäftsmodell die Zeche zahlen. die Europäische Kommission haben diese Rechtsauffas- sung geteilt. Denn was innerhalb des europäischen Ich finde aber, dass es noch nicht zu spät ist. Die Eu- Rechts geregelt werden kann, darf nicht in zwischen- ropäische Kommission hat einen Vorschlag vorgelegt. staatliche Verträge zulasten des Europäischen Parla- Im Europäischen Parlament kämpft man jetzt darum, das ments outgesourct werden. Dieser Vorfall – das sage ich zu stoppen und Änderungen einzubringen. Ich fordere ganz deutlich – ist ein Präzedenzfall für die europäische die Bundesregierung und auch die Parlamentarier von Demokratie. Er untergräbt die europäische Demokratie. CDU/CSU und SPD auf, hier Änderungen herbeizufüh- Gerade in der Krise brauchen wir aber keine weitere ren. Großbanken müssen bei der Bankenabgabe den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5817

Sven-Christian Kindler (A) Hauptbeitrag leisten – das wäre nur fair und gerecht –, tralbank, die eine Bankenaufsicht machen kann, solange (C) nicht kleine und mittlere Banken. wir nicht eine Vertragsänderung zustande bringen. Das ist Tatsache; deswegen geht es nicht anders. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen das Großbankenproblem angehen; es ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. weiterhin nicht gelöst. Es müssen weitere Schritte fol- Manfred Zöllmer – Dr. h. c. Hans Michelbach gen. Wir brauchen ein echtes, hartes Trennbankensys- [CDU/CSU]: So ist das!) tem. Wir brauchen ein scharfes Wettbewerbsrecht mit ei- Wir müssen im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht ner Bankenfusionskontrolle. Wir brauchen eine höhere darauf achten, dass bei der Europäischen Zentralbank Leverage Ratio, damit nachher nicht wieder die Steuer- die klare Trennung zwischen der Wahrnehmung der zahler die Verluste von Großbanken ausgleichen müs- geldpolitischen Verantwortung, bei der sie unabhängig sen. Die Schaffung der Bankenunion ist nur der erste ist, auf der einen Seite und der Bankenaufsicht auf der Schritt; es müssen weitere wichtige Schritte und Refor- anderen Seite erhalten bleibt, so wie es auf nationaler men für eine konsequente Regulierung des Bankensek- Ebene bei der bewährten Arbeitsteilung zwischen BaFin tors folgen. und Bundesbank immer der Fall war. Vielen Dank. Zweitens: Wir können die Haftung in Europa nur in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) soweit vergemeinschaften, wie wir auch die Entschei- dungszuständigkeit vergemeinschaftet haben. Auch da Vizepräsidentin Ulla Schmidt: werden wir durch die europäischen Verträge begrenzt. In diesem Rechtsrahmen wäre es falsch, bei der Schaffung Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Bundesminister der Bankenabgabe einen anderen Weg als den zu gehen, Dr. Wolfgang Schäuble. den wir mit dem intergouvernementalen Abkommen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gangen sind. Wir wären übrigens bei der ersten Klage neten der SPD) beim ersten Gericht in Europa damit gescheitert. Die Schaffung von Rechtsgrundlagen, die nicht rechtssicher Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- sind, ist keine Lösung für Probleme, die Stabilität und zen: Rechtssicherheit schaffen sollen. Deswegen – Herr Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Kollege Kindler, möglicherweise haben Sie es nicht Herren! Das Gesetzespaket zur Schaffung der Banken- verstanden – war es wichtig, dass es uns gelungen ist, si- union, das wir heute verabschieden, ist ein wichtiger cherzustellen, dass das Werk, das wir heute für die Ban- kenunion zustande bringen, auf einer sicheren Rechts- (B) Schritt auf dem Weg, den Euro, die europäische Wäh- (D) rung, nach der infolge der Finanz- und Bankenkrise ent- grundlage steht. standenen Euro-Krise zu stabilisieren. Wir waren in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- letzten Jahren mit der Schaffung des Rettungsschirms neten der SPD – Zuruf des Abg. Volker und den Programmen für die Länder sehr erfolgreich. Kauder [CDU]) Die Finanzmärkte vertrauen der europäischen Währung bei allen konjunkturellen Schwierigkeiten in einem star- – Herr Kollege Kauder, die Wahl lasse ich Ihnen, ob er ken Maße. Bei der Schaffung einer Bankenunion ist die es nicht verstanden hat. Wenn er wider besseres Wissen Trennung der Risiken im Bankensektor, die in der Ent- die Dinge falsch darstellt, ist es schlimmer. stehungsphase dieser Krise im Hinblick auf die Staats- verschuldung in der Tat eine Rolle gespielt haben – Herr (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben ihn ja Kollege Kindler, Ihre Äußerungen waren ein bisschen geschützt!) widersprüchlich –, ein zentrales Anliegen. Deswegen ist – Ich habe ihn noch geschützt? Also gut, das ist mir ge- das, was wir heute schaffen, ein wichtiger Schritt. Ich rade egal. habe noch nicht ganz verstanden, was Sie daran kritisie- ren. Es war völlig widersprüchlich, wie Sie hier argu- Ich muss nur für den Rest des Hauses und für diejeni- mentiert haben. gen, die uns von außerhalb zuhören, ein Stück weit klar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stellen, warum wir das so machen. Die Europäische Ban- der SPD) kenaufsicht funktioniert seit dem 4. November. Wir hatten den Stresstest. Die Banken, die in die Aufsicht Wir ziehen zwei Lehren. Erstens: Mit der Schaffung übernommen worden sind, sind durch die Bilanzprüfung der Bankenunion, mit der Schaffung einer Bankenauf- und den Stresstest – das war eine gewaltige Anstrengung – sicht, die für die grenzüberschreitend agierenden, sys- sicherer geworden. Sie haben sehr viel mehr Kapital als temrelevanten Institute zuständig ist, machen wir den während der Bankenkrise. Das ist ein wichtiger Erfolg. Euro stabil. Wir tun das übrigens im europäischen 25 Banken haben den Stresstest nicht bestanden. Davon Rechtsrahmen; denn, Herr Kollege Kindler, mit der De- hatten 12 – darunter die einzige deutsche betroffene mokratie ist es so: Sie macht nur Sinn, wenn sie mit dem Bank –, weil sich der Stresstest auf die Bilanzzahl Ende Rechtsstaatsprinzip einhergeht. Deswegen müssen wir 2013 bezogen hat, auf Anordnung der nationalen Ban- uns in Europa im Rahmen der Verträge an komplizierte kenaufsicht – bei uns: die BaFin – bereits das Notwen- rechtliche Grundlagen halten. Deswegen gibt es keine dige veranlasst, sodass lediglich 13 Banken in Europa ei- andere europäische Institution als die Europäische Zen- nen zusätzlichen Bedarf haben. 5818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Das Zweite, was wir mit diesem Gesetzespaket errei- sind, und nicht schon zuvor. Denn dann hätten wir er- (C) chen, ist, dass wir sicherstellen, dass in Zukunft nicht reicht, dass Sie hinterher wieder kritisiert hätten – – mehr der Steuerzahler haftet, dass also das, was man in der internationalen Sprache „Moral Hazard“ nennt, dass (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE die einen die Geschäfte machen und die anderen nachher GRÜNEN]: Und genau da sind Sie wider- die Haftung dafür tragen, beendet wird. Deswegen haben sprüchlich, Herr Schäuble, weil das den Teu- wir die klare Haftungskaskade, wie es der Kollege felskreis von Bankenschulden und Staatsschul- Flosbach dargestellt hat: Zunächst haften die Eigentü- den immer noch aufrechterhält! Das ist der mer. Wenn die Eigentümer nicht ausreichen, dann haften Widerspruch, den Sie nicht auflösen!) die Anleger, die höhere Renditen und höhere Zinsen be- – Herr Kollege Schick, vielleicht machen Sie von den kommen haben. Höhere Renditen haben etwas mit höhe- Regeln der Geschäftsordnung Gebrauch. rem Risiko zu tun. Wenn sich das Risiko einmal ver- wirklicht, ist das eben die Gegenseite. Deswegen ist (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE diese 8-prozentige vorrangige Beteiligung von Eigentü- GRÜNEN]: Das war ein Zwischenruf!) mern und Gläubigern der entscheidende Schritt sowohl in der europäischen Regelung, die für alle 28 Mitglieds- – Ja gut, dann will ich darauf antworten, wenn Sie mir länder gilt, als auch in der Bankenunion für die Europäi- die Chance dazu geben. Solange in den Fonds nicht ein- sche Bankenaufsicht. bezahlt ist, hat der Fonds keine schützende Wirkung. Das ist immer so im Leben. Erst müssen die Mittel in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Fonds einbezahlt werden; denn sonst bleibt das Pro- blem: Wer haftet? Darüber hinaus haben wir Regelungen. National ha- ben wir schon einen Vorgriff gemacht: Seit 2011 haben Wir haben gesagt: Solange die Mittel nicht einbezahlt wir das Gesetz. Jetzt schaffen wir es als eine Rechtsver- sind, bleibt die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten. pflichtung für alle europäischen Länder, dass die Banken Deswegen haben wir auch gesagt: So lange brauchen wir selber Fonds aufbauen müssen, sodass dann, wenn eine notfalls noch den SoFFin, damit jede Beunruhigung, Bank in Notlage ist, wenn die Bail-in-Fähigen, also die jede Destabilisierung, jede Sorge in einer möglicher- Beteiligungen von Eigentümern und bestimmten Anle- weise krisenhaften Situation von vornherein ausge- gern, nicht mehr ausreichen, ein Solidarfonds der Ban- schlossen ist. Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum ken die Haftung übernimmt. Für die Europäische Ban- Sie jetzt dafür plädieren, den SoFFin zu schließen. Das kenunion machen wir das mit einem gemeinsamen ist reine Polemik und sachlich überhaupt nicht zu be- Fonds, der im Wesentlichen durch die systemrelevanten gründen. (B) großen Banken bezahlt wird. Deswegen haben wir er- (D) reicht, dass die Großzahl der Sparkassen und der Kredit- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) genossenschaften nur mit einer Pauschalsumme ihren Herr Kollege Schick, sobald wir die Mittel in den eu- Beitrag zu diesem Fonds leistet und dass dies eben nicht ropäischen Fonds – ich bin jetzt wieder im Bereich der entsprechend den Regeln der Proportionalität wie bei Bankenunion – einbezahlt haben, gibt es eine solidari- den großen systemrelevanten Banken geschieht. Bis zu sche Haftung aller Banken, die der Bankenunion ange- einer Bilanzsumme in Höhe von 1 Milliarde Euro müs- hören, für die Risiken aller Banken. Es ist eben nicht sen sie nur eine Pauschalsumme zahlen. Wir haben auch mehr eine solidarische Haftung der Steuerzahler in Eu- ein Optionsrecht eingeführt. Wir werden davon Ge- ropa für die Fehler, die in anderen europäischen Ländern brauch machen – darüber ist sich die Bundesregierung gemacht wurden; das ist der Unterschied. Die Solidarität einig –, dass man die Grenze bis 3 Milliarden Euro anhe- im europäischen Bankensektor ist Teil der Bankenunion, ben kann. aber eine Vergemeinschaftung der Haftung über das hi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. naus, was wir im Zuge des europäischen Rettungssys- Manfred Zöllmer [SPD]) tems vereinbart haben, ist das nicht. Das heißt: Wir haben die Interessen der Kleinbanken ge- Zur Frage der direkten Bankenrekapitalisierung. Sie schützt. haben uns, insbesondere mich, kritisiert. Das war, ehr- lich gesagt, vom Niveau her auch nicht besser, Herr Jetzt kommt der Punkt: Nach dem Bail-in haftet der Kahrs – das war ein bisschen vornehmer daherge- Fonds. Nun bleibt die Frage: Was ist, wenn der Fonds schwätzt –, als das, was der Kollege von der Linkspartei das Geld noch gar nicht hat? Mit Ihrer These, nach der zunächst gesagt hatte. wir die intergouvernementale Abgabe und all die schö- nen Dinge nicht machen sollten, hätten Sie vom ersten (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Man kann sich Tag an, weil es den Fonds noch gar nicht gibt, die Haf- auch gegenseitig ernst nehmen!) tung der Staaten vergemeinschaftet und vom Tage des Bei allem Respekt: Das war ohne Sinn und Gehalt. Wir Inkrafttretens an bei jeder anderen Regelung die Situa- haben es doch nicht blockiert, wir haben es vorangetrie- tion gehabt, dass der deutsche Steuerzahler am Ende für ben. die Banken aller anderen europäischen Länder die Risi- ken getragen hätte. Deswegen haben wir darauf bestan- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE den, dass die Haftung erst im Rahmen des Bankenfonds GRÜNEN]: Haben Sie nicht! Das ist die Un- vergemeinschaftet wird, wenn die Beiträge eingezahlt wahrheit!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5819

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wir haben darauf geachtet, dass die direkte Bankenreka- kassen und Kreditgenossenschaften haben. Wir tragen (C) pitalisierung nicht zum Einfallstor wird, um durch die den Eigenheiten des deutschen Finanzsektors Rechnung. Hintertür doch die Haftung für die Bankschulden zu ver- Wir sorgen damit insgesamt dafür, dass die Vorausset- gemeinschaften. Genau das war der Punkt. zungen erfüllt sind, damit der Steuerzahler nicht mehr die Haftung für Risiken übernehmen muss, mit denen (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE andere ihre Geschäfte gemacht haben. Deswegen bitte GRÜNEN]: Sie haben sechs Jahre verschla- ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzespaket. Wir fen! Die Banken haben auf eine andere Karte machen Europa stabiler. Wir stärken Europa. Wir brin- gesetzt!) gen Europa voran und sichern den Steuerzahler. – Sie müssen mir schon die Chance geben, ein paar (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sätze ohne Unterbrechung zu sagen. – Deswegen haben neten der SPD) wir eine klare Haftungskaskade vereinbart. Sie funktio- niert so: Wenn eine Bank notleidend wird, dann stehen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zunächst Eigentümer und Gläubiger in der Pflicht. Da- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost, nach kommt der Fonds, in den die Bankenindustrie, ent- Fraktion Die Linke. weder die Mitgliedstaaten oder die Bankenunion, einbe- zahlt. Wenn das auch nicht reicht, dann haftet am Ende (Beifall bei der LINKEN – Dr. Sahra der einzelne Staat. Wagenknecht [DIE LINKE]: Ich würde gerne eine Kurzintervention machen!) Wenn ein Staat aber nicht in der Lage ist, die Mittel dafür aufzubringen – auch diese Situation gab es in den – Entschuldigung, Herr Kollege Troost. Die Kollege letzten Jahren –, dann kann dieser Staat beim europäi- Wagenknecht würde gerne eine Kurzintervention ma- schen Rettungsschirm ein Hilfsprogramm beantragen. chen. Es gelten die üblichen Regelungen, die Vereinbarung von Anpassungsprogrammen mit Überwachung und Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Ähnlichem mehr. Erst wenn auch das gar nicht mehr Eigentlich wollte ich noch eine Frage stellen. Herr funktioniert, käme als allerletzte Möglichkeit theoretisch Schäuble war aber so schnell vom Rednerpult weg. Des- auch in Frage, dass sich der europäische Rettungsschirm wegen sage ich das jetzt in Form einer Kurzintervention selbst – aber dann immer noch unter der Verantwortung – ich denke, auch Axel Troost wird darauf noch einmal des Mitgliedstaats – mit den entsprechenden Anpas- hinweisen –: Ich finde es merkwürdig, wie die Haftungs- sungsprogrammen an der Bank beteiligen würde in dem kaskade dargestellt wird. Es wird nicht erwähnt, dass die Sinne, dass er übergangsweise Eigentümer wird. Die Verträge eine Klausel enthalten, mit der die Haftungs- (B) Kaskade ist eindeutig so geregelt, dass der Haftungsfall kaskade ausdrücklich ausgesetzt wird. Dort heißt es (D) sehr unwahrscheinlich wird; um es vorsichtig zu formu- wörtlich, dass bei einer schweren Störung der Finanz- lieren. Aber ohne die Möglichkeit, dass dies zumindest marktstabilität eben keinerlei Haftungskaskade gilt, son- theoretisch enthalten ist, Herr Kollege Kindler – und das dern unmittelbar Steuergeld fließen kann. Ich finde wirk- ist der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe, weil Sie es lich, dass man das einfach so wegredet, ist ein Für- besser wissen –, hätte es in Europa unter gar keinen Um- dumm-Verkaufen der Öffentlichkeit. ständen eine Einigung über eine Bankenunion gegeben. (Beifall bei der LINKEN) Ich gebe zu: Die Erwartungen der Kollegen in Europa waren sehr viel weitgehender. Deswegen ist es Unsinn, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dass Sie uns auf der einen Seite vorwerfen, wir hätten Herr Kollege Schäuble, möchten Sie antworten? – die Verhandlungen auf europäischer Ebene erschwert, Bitte schön. und auf der anderen Seite gegen die direkte Bankenreka- pitalisierung polemisieren. Entweder das eine oder das Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- andere. zen: Frau Kollegin Wagenknecht, es bleibt dabei: Die Re- Wir haben im Zuge der direkten Bankenrekapitalisie- gelungen sind so – die kann jeder nachlesen –, wie wir rung gesagt: Wir gestalten das so schwierig und unwahr- sie dargestellt haben. Natürlich gibt es auch Situationen, scheinlich wie nur irgend möglich. Darauf haben wir in in denen in Europa gesagt wird: Ja, und was ist, wenn den Verhandlungen geachtet. Wenn wir das geländegän- überhaupt nichts mehr geht? Kann dann auch eine an- giger gemacht hätten und mit den Geldern der Steuer- dere Situation eintreten? – Aber die Regeln für die Inan- zahler so umgegangen wären wie Rot-Grün, dann wäre spruchnahme von Mitteln des europäischen Rettungs- es auf europäischer Ebene einfacher gewesen; das ist schirms sind eindeutig. Sie stehen auch nicht unter dem wahr. Aber wir haben es anders gemacht. Vorbehalt. Das haben Sie nicht richtig dargestellt; tut mir leid. Die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln Ich sage es noch einmal: Wir haben ein sehr ausgewo- aus dem europäischen Stabilisierungssystem stehen genes Paket. Wir machen damit die Euro-Zone stabiler. nicht unter irgendeiner generalklauselartigen Ausnahme- Wir sorgen dafür, dass die Steuerzahler nicht mehr die bestimmung. Das ist nicht zutreffend. Das Gegenteil ist Haftung für die Banken übernehmen. Wir schonen bzw. die Wahrheit. schützen die Besonderheit des deutschen Finanzsektors, die ihn stark macht. Es ist nämlich gut, dass wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nur große Banken, sondern auch leistungsfähige Spar- neten der SPD) 5820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir müssen die Rolle der Kreditinstitute wieder auf ihre (C) Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Dr. Axel Troost Kernfunktion, nämlich auf eine der Realwirtschaft die- das Wort, Fraktion Die Linke. nende Funktion, beschränken. (Beifall bei der LINKEN) (Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten Sie mal was dafür tun und nicht nur Unsinn reden!) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Aber diese Situation haben wir ja nicht. Die Banken- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! landschaft ist so groß geworden, weil die Banken im Zo- Es bleibt dabei: Wir haben massive Kritik an dem vorge- ckergeschäft tätig sind, und nicht, weil sie die Realwirt- legten Gesetzentwurf, an dem vorgeschlagenen Banken- schaft finanzieren. rettungsfonds. Gestern im Finanzausschuss wurde das als Meilenstein dargestellt. Kollege Brinkhaus hat von (Beifall bei der LINKEN) einem Dach gesprochen, das das Haus zusammenhält. Deswegen muss genau dies angegangen werden. Aber die grundlegenden Probleme sind für meine Be- griffe hier nicht angesprochen worden bzw. wurden har- (Johannes Kahrs [SPD]: So wird das garantiert monisiert. nichts!) Das erste Problem ist: Man hat die EZB mit dieser Wenn man das systematisch nicht angeht, dann verfehlt Aufgabe betraut, wohlwissend, dass dadurch ein Ziel- man letztlich das eigentliche Ziel. konflikt entsteht, der ungeheuer groß ist. Die beschwo- (Johannes Kahrs [SPD]: Getretener Quark rene chinesische Mauer zwischen Geldpolitik und wird breit, nicht stark!) Bankenaufsicht wird es so nicht geben. Bei jeder geld- politischen Entscheidung, zum Beispiel hinsichtlich des Aber das heißt natürlich, sich auch mit den Mächtigen Aufkaufs von Papieren, wird man fragen müssen: anlegen zu müssen. Das ist in diesem Fall nicht passiert. Könnte das auch aus der Abteilung Bankenaufsicht kom- Kommen wir zu einem Punkt, der für uns zentral ist: men, weil bestimmte Banken bestimmte Probleme ha- zum Bankenrettungsfonds. Minister Schäuble hat eben ben? dargestellt, es gehe dabei um einen Solidarpakt und um (Beifall bei der LINKEN) die solidarische Haftung für gemeinsame Risiken. Das hört sich gut an. In der Tat sind wir der Ansicht, dass die Zweitens. Mit der Zuständigkeit der EZB ist klar, dass Branche sowohl zur Begleichung der bisherigen Kosten man sich auf die Euro-Zone begrenzt hat. Damit ist Lon- als auch zur Begleichung zukünftiger Kosten in einen don – jeder weiß, dass London der größte Finanzplatz solchen Fonds einzahlen muss. Er müsste viel größer (B) Europas ist – eben nicht Teil des Regulierungsbereichs. sein. Aber einzahlen müssten diejenigen, die wirklich (D) Das heißt, bei jeder Art von Bankenabwicklung – gleich Risiken erzeugen und mit den Mitteln aus einem solchen ob es um deutsche Banken oder Banken aus anderen eu- Fonds gerettet werden können. Wenn man mit einem sol- ropäischen Ländern geht – wird es eine Schnittstelle mit chen Fonds aber letztlich die Bankenlandschaft Deutsch- der britischen Aufsicht geben, und keiner weiß, ob das lands plattzumachen versucht, indem man deutsche wirklich funktionieren wird, ob die Mechanismen grei- Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Zahlung fen werden, wie das ausgelegt wird. Das Gleiche gilt na- der Beiträge massiv mit heranzieht, dann geht das voll türlich auch für die Schnittstelle New York/USA. Inso- am Thema vorbei, fern sollte man hier nicht so tun, als würde man etwas wirklich Stabiles schaffen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) weil diese erstens regional organisiert sind, diese Risi- ken also gar nicht erzeugen, und weil sie zweitens ein je- Drittens. Man ist nicht in Ansätzen – das ist für mich weils eigenes Sicherungssystem haben. Die retten sich das Zentrale – an die Frage „too big to fail“ herangegan- selber; die brauchen keinen Bankenrettungsfonds. Also gen. Das Bankensystem und die einzelnen Banken wer- ergibt es auch überhaupt keinen Sinn, dass sie in einen den nicht massiv verkleinert. Ich will das verdeutlichen: solchen Bankenrettungsfonds einzahlen. Zehn Banken in der EU haben ein Geschäftsvolumen, das größer ist als die jährliche Wirtschaftsleistung, also (Manfred Zöllmer [SPD]: Warum wollt ihr das Bruttoinlandsprodukt, von Spanien. denn, dass noch mehr eingezahlt wird?) Jetzt wird gesagt: Na ja, da haben wir im Prinzip ein Alleine die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen, Problem. Es gibt eine Kleinbankenregelung, also eine das so groß ist wie die gesamte Wirtschaftsleistung Itali- Regelung für Banken mit einer Bilanzsumme von unter ens. Solche Banken wollen Sie regulieren? Solche Ban- 1 Milliarde Euro. – Das hört sich erst einmal gut an, ken wollen Sie – Stichwort: 8 Prozent – wie auch immer wenn man nicht Bescheid weiß. Wenn man weiß, dass abwickeln, wenn es hier zu Schieflagen kommt? Ich nur 20 Prozent der Sparkassen darunterfallen, heißt das: glaube, nicht einmal eine relativ kleine Bank wie die 80 Prozent liegen darüber. Diese Banken müssen nicht Commerzbank ist in diesem Regime wirklich abwickel- nur einen Beitrag von 1 000 bis 50 000 Euro pro Jahr bar. Deswegen geht es schon darum, die Banken zu ver- zahlen, sondern sie müssen deutlich mehr bezahlen. kleinern. Eben haben wir vom Minister gehört: Es gibt eine Über- Kollege Kahrs, Ihren arroganten Vortrag hätten Sie gangsregelung – diese will man auch in Anspruch neh- sich sparen können. Denn wir sind diejenigen, die sagen: men –, die Banken mit einem Bilanzvolumen von 1 bis Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5821

Dr. Axel Troost (A) 3 Milliarden Euro etwas Erleichterung bringt. – Wir ha- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) ben das einmal im Einzelnen nachgerechnet. Das sind Vielen Dank. – Nächster Redner ist Manfred Zöllmer, maximal 10 Prozent Ersparnis, und das gegenüber viel, SPD-Fraktion. viel höheren Beiträgen, die gezahlt werden müssen. (Beifall bei der SPD) Damit das nicht so abstrakt bleibt, mache ich das ein- mal ganz konkret mit Blick auf einige mir nachfolgende Manfred Zöllmer (SPD): Redner deutlich. Wir haben in Bad Tölz – das ist der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlkreis des CSU-Debattenredners Alexander Radwan – Der Dienstag dieser Woche war wirklich ein historischer eine Sparkasse mit einem Bilanzvolumen von 2 Milliar- Tag. Die Europäische Zentralbank hat an diesem Tag die den Euro. Sie wird, so ist uns im Finanzausschuss vorge- Aufsicht über die großen Banken in den meisten rechnet worden, zwischen 240 000 und 300 000 Euro Ländern in Europa übernommen. Damit ist die erste jährlich in diesen Fonds einzahlen müssen, ohne jemals Säule der Bankenunion sozusagen in Betrieb gegangen. gerettet werden zu können. Nehmen wir die Sparkasse Dies ist ein ganz wichtiger Schritt zur Stabilisierung der Wuppertal – Kollege Manfred Zöllmer spricht als Finanzmärkte in Europa, aber auch zur Stabilisierung Nächster –, die Sparkasse einer Stadt, die völlig pleite der Euro-Zone; denn die Finanzmarktkrise war letztlich ist, kein Geld mehr für Schulen, Schwimmbäder, Theater die zentrale Ursache der Staatsschuldenkrise in Europa. und anderes mehr hat. Diese Sparkasse wird keine Das wird leider häufig vergessen. Chance mehr haben, Geld gemeinnützig auszuschütten, wenn sie denn Gewinne macht. Sie muss jedes Jahr Mit der Bankenunion wird ein Geburtsfehler der 900 000 Euro an den Fonds abführen, ohne jemals etwas Euro-Zone behoben. Es gab eine ganze Reihe von Ge- davon zu haben. burtsfehlern der Euro-Zone, damals von Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel so verhandelt. Diese (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist doch Geburtsfehler sind die Ursache für viele Probleme, mit gelogen!) denen wir zu kämpfen haben. Ich betone das deshalb, weil der von mir soeben angesprochene ehemalige Wir können aber auch – Kollege Brinkhaus, gut, dass du Bundeskanzler Kohl nun in einem Buch versucht, Ge- gerade etwas sagst – schichtsklitterung zu betreiben. Er war unbestreitbar ein (Heiterkeit des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) großer Europäer, aber die Fehler bei der Einführung des Euro muss er, muss die damalige Bundesregierung ver- die Volksbank Bielefeld-Gütersloh oder, Kollege Schick, antworten. die Volksbank Rhein-Neckar heranziehen. Beide Volks- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) banken werden entsprechend ihrer Größe jeweils um die (D) 0,5 Millionen Euro jährlich in diesen Fonds einzahlen Mit der Einführung der Bankenunion gehen wir einen müssen. wichtigen Schritt in Richtung einer europäischen Finanzmarktunion. Dies tun wir in einer Zeit, in der se- (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Das paratistische und nationalistische Strömungen in Europa stimmt nicht!) in vielen Ländern hoffähig geworden sind, in einer Zeit, Dabei ist klar, dass noch niemals eine Volksbank in der viele sagen, Europa sei in einer veritablen Krise. gerettet werden musste, weil die eigenen Sicherungs- Die erste Säule ist also die Bankenaufsicht, die es seit systeme immer ausgereicht haben. Dienstag gibt. Die zweite Säule betrifft die Restrukturie- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber viel- rung und Abwicklung. Das ist das, was wir heute leicht die Spitzenverbände! Jetzt sei mal ehr- beschließen werden. lich!) Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: In Zukunft sollen – Nein, es bleibt dabei. Das sind alles Beträge, die der die Steuerzahler nicht mehr für die Zockereien von Gemeinnützigkeit entzogen werden. Deshalb ist das in Banken bluten müssen. Auch systemrelevante Banken dieser Übergangsregelung nicht vernünftig geregelt. sollen in einem geordneten Verfahren abgewickelt wer- den können. Im Insolvenzfall sollen Eigentümer und (Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/ Gläubiger haften. Damit wollen wir auch auf den CSU]: Es ist falsch, was du da sagst!) Finanzmärkten wieder marktwirtschaftliche Verhältnisse einführen. Risiko und Haftung müssen wieder zusam- Deswegen kann ich nur sagen: Gerade bei der Ban- mengehören. kenregulierung zeigt sich das gleiche Muster wie bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung der Mit diesem Gesetz setzen wir eine europäische Richt- vergangenen 20 Jahre. Auch in diesem Fall findet eine linie um. Dies ist sehr komplex, aber wir haben das sehr Umverteilung von unten nach oben statt, in diesem Fall gründlich diskutiert. Allein 47 Änderungsanträge haben von den Sparkassen hin zu den Großbanken. Das lehnen wir im Finanzausschuss beschlossen. wir ab. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf auf Es gab eine Vorbedingung, die wir an die Verabschie- keinen Fall zustimmen. dung dieses Gesetzentwurfs gestellt haben: Wir wollten Danke schön. vor dem Beschluss den Vorschlag der Kommission zur europäischen Bankenabgabe kennen. Diese Banken- (Beifall bei der LINKEN) abgabe speist einen europäischen Abwicklungsfonds. 5822 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Manfred Zöllmer (A) Kollege Troost hat vorhin Ausführungen zu diesem tem, das im Krisenfalle in Not geratene Sparkassen auf- (C) Thema gemacht. Das war uns deshalb wichtig, weil wir fangen wird; das ist in der Vergangenheit auch schon ge- unser bewährtes dreigliedriges Bankensystem mit der schehen. Der Rechtsformwechsel ist von daher nur ein Vielzahl kleiner und sehr kleiner Institute, das in dieser theoretischer Fall, der nach den Aussagen der Sparkas- Form einzigartig in Europa ist, erhalten wollen. sen so niemals eintreten wird. Für die Umsetzung der Richtlinie ist es allerdings notwendig, im Gesetz Rege- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lungen für den Worst Case zu implementieren. der CDU/CSU) Jetzt kennen wir diesen Vorschlag. Er ist aus unserer Wir lassen den Bundesländern nun ein Wahlrecht, wie Sicht nicht optimal, aber akzeptabel, weil er die Interes- sie mit einer Änderung der Sparkassengesetze umgehen sen der kleinen Institute – im Gegensatz zu dem, was du wollen. Sie haben dann die Möglichkeit, alternative hier gesagt hast – berücksichtigt. Wir haben es hier mit Wege zu gehen. einem Solidarsystem des Finanzsektors zu tun. Deswe- Ein weiterer Diskussionspunkt in diesem Zusammen- gen müssen wir sagen: Der Finanzminister hat gut hang war die Umsetzung des Trennbankengesetzes, das verhandelt. Es gibt zukünftig einen nationalen Spiel- die schwarz-gelbe Bundesregierung in der letzten Legis- raum, um kleinere Institute noch weiter zu schonen. Von laturperiode verabschiedet hat. dem Wahlrecht zur Entlastung kleinerer und mittlerer Banken will die Bundesregierung Gebrauch machen; das (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE begrüßen wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung GRÜNEN]: Ein Pseudo-Trennbankengesetz! dieses Wahlrecht auch nach 2016 zugunsten der kleinen Seien Sie doch mal ehrlich!) Institute nutzt. – Sie kommen doch gleich dran; dann können Sie or- Lassen Sie mich einfach einmal feststellen: Lösungen dentlich draufhauen. – Gleichzeitig gibt es auf europäi- auf europäischer Ebene, bei denen viele Staaten betrof- scher Ebene Vorschläge zu Trennbanken. Wir haben uns fen sind, deren Bankensysteme extrem unterschiedlich im Koalitionsvertrag auf den Report von Herrn Liikanen sind, müssen notwendigerweise ein Kompromiss sein. bezogen, der auf europäischer Ebene eine Kommission So muss auch die Ausgestaltung der Bankenabgabe vor geleitet und entsprechende Vorschläge gemacht hat. dem Hintergrund von 6 000 europäischen Instituten im- mer ein Kompromiss sein. Deutsche Banken haben gefordert, dass man die deut- schen Regelungen, deren Umsetzung nun beginnen Steuersystematisch wäre die Bankenabgabe übrigens muss, aufweichen solle. Wir Sozialdemokraten haben eine Betriebsausgabe, und Betriebsausgaben sind, das dieses abgelehnt, weil „too big to fail“ – die Problema- wissen wir, steuerlich absetzbar. Wir haben es hier aber, (B) tik, dass von den Spareinlagen der Kunden Zockereien (D) das hatte ich gesagt, nicht mit einer normalen Betriebs- finanziert werden – für uns auf Dauer nicht haltbar ist. ausgabe zu tun – die Bankenabgabe ist ein Beitrag des Wir brauchen eine vernünftige gesetzliche Regelung im Bankensystems zur Finanzierung zukünftiger Krisen. Trennbankengesetz. Wir wollen deswegen das deutsche Deshalb wollen wir Sozialdemokraten nicht, dass auf Recht nicht aufweichen, sondern wir wollen uns im diesem Weg, quasi durch die Hintertür, die Steuerzahle- nächsten Jahr mit dieser Frage und der Umsetzung inten- rinnen und Steuerzahler wieder an den Kosten einer siv beschäftigen. möglichen Bankenrettung oder -abwicklung beteiligt werden. Die Aufsicht über die europäischen Großbanken wird (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nun von der EZB ausgeübt. Wir wollen aber, dass dies nur übergangsweise der Fall ist. Insofern hat der Kollege In vielen europäischen Ländern – ich weiß das – wird Troost in diesem Punkt völlig recht. Die Sache mit der das anders gesehen. Wir setzen uns auch ein für ein, wie chinesischen Mauer ist eher eine Fiktion. Auf Dauer das auf Englisch heißt, „level playing field“, also für ei- muss der mögliche Konflikt zwischen Aufsicht und nen gemeinsamen Wettbewerbsrahmen, und bitten die Geldpolitik durch eine Trennung beider Funktionen auf- Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene für eine gelöst werden. einheitliche Lösung einzusetzen, damit es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Eine Lösung kann Die EZB arbeitet eng mit den nationalen Aufsehern aus unserer Sicht aber nur die Nichtabsetzbarkeit der zusammen, also Bundesbank und BaFin. In der letzten Bankenabgabe bei den Steuern zur Folge haben. Legislaturperiode wollte die schwarz-gelbe Bundesre- gierung die Bankenaufsicht allein auf die Bundesbank Ein weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzesvorha- übertragen. Dies hat die Bundesbank abgelehnt. Wir bens war die Umsetzung der Haftungskaskade. Die stellen fest, dass auch in Zukunft die bewährte Aufga- Umsetzung der Forderung, dass im Falle einer Insolvenz benteilung zwischen BaFin und Bundesbank bei der Eigentümer und Gläubiger ab einer bestimmten Höhe deutschen Bankenaufsicht erhalten bleibt. Wir erwarten, haften müssen, führt dazu, dass, wenn der Worst Case ei- dass die entsprechenden Informationskanäle so gestaltet ner Insolvenz eintritt, letztendlich auch bei Sparkassen werden, dass beide Institute von der Aufsicht der EZB ein Rechtsformwechsel notwendig wird; sonst wäre die- profitieren und dass es klare Verantwortlichkeiten gibt. ses Haftungsverfahren bei einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft so nicht umzusetzen. Die Sparkassen Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Geset- haben aber deutlich gemacht: Diese Situation wird nie zespaket sind noch nicht alle Probleme einer neuen Fi- eintreten. – Sparkassen haben ein Institutssicherungssys- nanzmarktarchitektur in Europa gelöst. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5823

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: einen anderen, besseren Vorschlag, mit dem diese Tren- (C) Herr Kollege Zöllmer, denken Sie an Ihre Redezeit? nung wirklich erreicht würde. Wenn man es nämlich in dem Fall, dass in der Über- Manfred Zöllmer (SPD): gangszeit, solange der Fonds durch die Bankenabgabe Ja, natürlich. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von noch nicht genügend aufgefüllt ist, noch Geld benötigt den Linken, es gibt diesen grünen Knopf eben nicht. Wir wird, so wie in den USA macht, dann ist das die bessere haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen. Lösung. Was wird in den USA gemacht? Wenn der Ban- Aber es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, es sei noch kenfonds, den die Banken befüllen, noch nicht genügend nichts geschehen, wie es einige Ideologen von links und Geld enthält, dann kann er einen Kredit aufnehmen, den rechts in Politik und Medien immer wieder versuchen. nachher die Banken wieder zurückzahlen müssen. Die Wir machen heute einen großen Schritt in die richtige Verpflichtung bleibt bei den Banken. So hat das während Richtung zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist der Krise die Federal Deposit Insurance Corporation in ein wichtiger Integrationsschritt, und das ist gut so. den USA gemacht. Das wäre auch für Europa die rich- tige Lösung. Dann bleibt es nämlich dabei, dass Banken- Herzlichen Dank. probleme bei den Banken bleiben und nicht die Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahler einspringen. Das ist unser Vorschlag, und er ist der CDU/CSU) besser als Ihrer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Gerhard Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Schick, Bündnis 90/Die Grünen. Herr Kollege Schick, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Wolfgang Schäuble? Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich will noch einmal kurz auf die Debatte eingehen, die NEN): sich zwischen Herrn Schäuble und uns ergeben hat. Herr Ich würde dem Abgeordneten Schäuble gerne die Ge- Schäuble, ich weiß, dass Sie das verstehen, und Sie legenheit zu einer Zwischenfrage geben. wissen, dass ich das verstehe: Auf diese Debattenebene müssen wir nicht gehen, sondern wir können klar- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): (B) machen, wo die Unterschiede liegen und worin wir uns (D) Vielen Dank. – Herr Kollege Schick, würden Sie mir einig sind. bitte bestätigen, dass der europäische Restrukturierungs- Bei folgendem Thema sind wir uns doch völlig einig: fonds die Möglichkeit der Kreditaufnahme hat? Sie ha- Wir wollen das, was man als den Teufelskreis zwischen ben gerade gesagt, der amerikanische Bankenfonds Banken und Staaten bezeichnet, durchbrechen. Das steht könne einen Kredit aufnehmen. Das kann auch der euro- in Ihren Texten, das steht in unseren Texten; darin sind päische Restrukturierungsfonds. Er kann aber den Kredit wir uns einig. Das heißt, wenn eine Bank in eine Schief- nicht unter Vergemeinschaftung der Haftung der Mit- lage gerät, dass sie also zu hohe Bankschulden hat, dann gliedstaaten aufnehmen. Dies war der Streitpunkt in den soll nicht nachher der Steuerzahler die Last tragen. So Verhandlungen; denn wir haben abgelehnt, dass man weit herrscht Einigkeit. über die Kreditaufnahme des Restrukturierungsfonds doch eine Vergemeinschaftung der Mitgliedstaatenhaf- Jetzt gibt es aber in zwei Punkten Unterschiede, die tung in der Aufbauphase vornimmt. Darum ging es. In- dazu führen, dass wir heute nicht dem gesamten Paket sofern haben Sie es gerade falsch dargestellt. zustimmen, sondern zu einzelnen Punkten Nein sagen. Der erste Punkt ist der hypothetische Fall, dass eine por- tugiesische, spanische oder italienische Bank in eine Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schieflage gerät. Was würde dann passieren? Jetzt sagt NEN): Herr Schäuble, er habe so verhandelt, dass die ESM- Danke für die Zwischenfrage. Das ist genau der Mittel, also die vom europäischen Steuerzahler bereit- Punkt: Warum muss dann noch der Steuerzahler bei dem gestellten Mittel, nur im äußersten Extremfall genutzt ESM-Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung werden. Deswegen lässt er den jeweiligen Mitgliedstaat nach wie vor in der Haftung sein? Ich glaube, dass in ei- sehr lange in der Verantwortung für die Bank. Das haben nem wirklichen Krisenfall tatsächlich eine Kreditaufnah- Sie verhandelt, und das haben Sie gerade so dargestellt. memöglichkeit wie in den USA – dort ist sie nämlich ge- genüber dem Finanzministerium möglich, aber es bleibt Das führt dazu, dass der jeweilige Nationalstaat für ein Kredit, der von den Banken gezahlt werden muss; so eine sehr lange Zeit noch in der Verantwortung ist, wenn ist es auch mit einem Volumen von mehreren Milliarden eine Bank auf seinem Territorium kippen sollte. Da sa- US-Dollar in den USA passiert – auch für Europa die gen wir: Genau das ist die Weiterführung des Teufels- bessere Lösung wäre. kreises zwischen Bankschulden und Staatsschulden, den wir durchbrechen wollen. An dieser Stelle ist das, was (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wer haftet denn Sie sagen, widersprüchlich. Wir haben an dieser Stelle dann?) 5824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Gerhard Schick (A) Sie stellen nach wie vor an dieser Stelle Steuerzahlergeld höher ist als das, was bisher als grobe Beobachtungs- (C) ins Schaufenster. Wir befürchten, dass der Steuerzahler größe von 3 Prozent festgelegt ist. erneut in die Haftung gerät, und das wollen wir nicht. Wirkliche Stabilität im Finanzsektor ist durch das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heutige Gesetz noch nicht erreicht. Wir kommen einen Schritt weiter. Aber es bleiben große Aufgaben. Große Der zweite Punkt, in dem es ebenfalls um Steuerzah- Banken müssen kleiner werden, und sie brauchen deut- lergeld geht, bezieht sich auf die Rolle des Soffin in Ih- lich mehr Kapital als bisher. rem Gesetzentwurf. Warum soll, wenn eine deutsche Bank in Schwierigkeiten gerät, jetzt noch einmal über Danke schön. den Soffin, den deutschen Finanzmarktstabilisierungs- fonds, Steuerzahlergeld angeboten werden? Entweder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vertraut man auf die Gesetze, die Sie mit vorangetrieben haben, zum Beispiel das Restrukturierungsgesetz, und Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sieht das Ganze in der Verantwortung der Gläubiger – Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt dann braucht man das nicht –, oder man hat Angst, dass das Wort Norbert Barthle. es nicht funktioniert; dann soll man es aber auch sagen. Wir meinen, dass es notwendig ist, diesen Teufelskreis (Beifall bei der CDU/CSU) zwischen Bankenproblemen und Steuerzahler wirklich zu durchbrechen. Deswegen sagen wir zu der Verlänge- Norbert Barthle (CDU/CSU): rung des Finanzmarktstabilisierungsfonds in Deutsch- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen land Nein. und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer der Rede unseres Bundesfinanzministers genau zugehört hat, ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eigentlich umfänglich informiert über die Inhalte des Ich will aber auch noch auf das eingehen, was in Zu- vorliegenden Pakets. Aber ich vermute, dass manche da kunft notwendig ist. Denn bei dem, was wir jetzt auf den draußen auch dem Kollegen Schick zugehört haben. Weg bringen und bei dem wir in Bezug auf den europäi- Deshalb ist es mir wichtig, Herr Kollege Schick, zur Er- schen Abwicklungsmechanismus einer Meinung sind, klärung Ihrer Position festzustellen: Sie waren schon im- nämlich dass er jetzt vorangetrieben werden sollte, bleibt mer für die Vergemeinschaftung der Verschuldung und zu sagen: Bei wirklich großen Banken funktioniert das gemeinsame Haftung bei der Verschuldung. nicht. Banken wie Barclays und die Deutsche Bank sind zu groß und komplex. Das zeigt auch die Erfahrung in (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den USA, dass die wirklich großen Banken im Ernstfall NEN]: Das ist doch völliger Quatsch!) (B) (D) nicht durch einen solchen Abwicklungsmechanismus ab- Sie gehörten zu denjenigen, die einen gemeinsamen gewickelt werden können. Deswegen ist es notwendig, Schuldentilgungsfonds gefordert haben. dass diese großen Banken kleiner und in der Struktur einfacher werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- An der Stelle war ich sehr überrascht – Herr Kollege NEN]: Sie sind dafür, dass die EZB es macht!) Zöllmer hat es schon angesprochen –, dass die Union jetzt ausgerechnet bei dem Thema Trennbankensystem Genau das ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffas- noch einmal hinter die wachsweiche Formulierung Ihres sung und unserer, die der Minister dargelegt hat. Gesetzes zurückgehen wollte. Ich habe den Eindruck, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass Sie nach wie vor, wenn die Deutsche Bank signali- NEN]: Das ist nicht der Unterschied!) siert, dass sie etwas nicht will, auf Zuruf schnell das Ge- setz ändern. So geht das nicht. Man braucht dabei schon Das müssen die Menschen wissen. Dann erklärt sich die eine gewisse Autorität. Unterschiedlichkeit Ihrer Position. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!) Der zweite Punkt beim Blick auf die Zukunft ist: Mit dem Bankenstresstest ist sichergestellt worden, dass die Was das gesamte Paket angeht, haben meine Vorred- meisten Banken in Europa grob überleben können. Das ner die notwendigen Details bereits dargelegt. Ich will ist aber nicht genug. Wenn die Wirtschaft in Europa sta- mich daher beschränken auf die direkte Bankenrekapita- bilisiert werden und sich in der nächsten Zeit gut entwi- lisierung durch den ESM. Ich betrachte dieses neue In- ckeln soll, dann brauchen wir nicht nur Banken, die ir- strument als sinnvoll. Es rundet das Gesamtpaket ab. gendwie überleben, sondern es muss endlich eine Ganz so neu ist es nicht; denn eigentlich haben die wirkliche Stabilität geschaffen werden. Im internationa- Staats- und Regierungschefs bereits im Jahr 2012 verein- len Vergleich ist es nach wie vor so, dass europäische bart, dies zu machen, allerdings unter der Voraussetzung, Banken zu wenig eigenes Kapital haben, zu wenig stabil dass es einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus sind und die Risiken im Ernstfall immer noch zu leicht und eine einheitliche Bankenaufsicht gibt. Das wurde als auf andere verlagert werden können. Deswegen bleibt es Voraussetzung immer genannt. Diese haben wir nun er- auch nach dem Bankenstresstest Aufgabe, das Eigenka- füllt. Deshalb ist es sinnvoll, diesen letzten Baustein pital der Banken zu stärken. Wir brauchen eine Leverage vollends zu beschließen. Ich werbe daher um Zustim- Ratio, eine Schuldenbremse, für Banken, die deutlich mung zum gesamten Paket. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5825

Norbert Barthle (A) Erinnern wir uns daran: Die grundsätzliche Funktion nen gestern zugestimmt. Diese Leitlinien legen für die (C) des ESM ist eigentlich, Staaten in massiven Finanzie- Anwendung sehr hohe Hürden fest. Ich will ganz kurz rungsschwierigkeiten mit Hilfskrediten im Rahmen ei- daran erinnern: nes Anpassungsprogramms beizustehen, um damit die Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone zu wahren. Es muss der Antrag eines Mitgliedstaats erfolgen. Nun hat sich im Zuge der 2010 begonnenen Staatsschul- Eine Bank kann sich nicht direkt an den ESM wenden, denkrise gezeigt, dass es durchaus zu negativen Wech- sondern nur ein Mitgliedstaat. Es entsteht damit eine selwirkungen zwischen der Schieflage der öffentlichen Rechtsbeziehung zwischen dem Mitgliedstaat und dem Haushalte und den Störungen in den jeweiligen Finanz- ESM. sektoren kommen kann. Im Extremfall ist es möglich, Eine direkte Rekapitalisierung ist nur dann möglich, dass ein Staat die benötigten Finanzhilfen nicht mehr in wenn die indirekte Rekapitalisierung nicht mehr möglich voller Höhe bereitstellen kann, ohne seine eigene Schul- war. dentragfähigkeit zu überdehnen und den Zugang zum Kapitalmarkt zu verlieren. Wenn eine betroffene Bank Sie ist immer mit Auflagen verbunden, entweder ins- systemrelevant ist, also das Finanzsystem in der Euro- titutsspezifischen, sektorspezifischen oder gesamtwirt- Zone insgesamt gefährdet, kann unter Umständen eine schaftlichen Auflagen. Das ist das, was man als MoU, direkte Rekapitalisierung dieser Bank durch den ESM Memorandum of Understanding, kennt. tatsächlich anstehen, allerdings – darauf hat der Finanz- Schließlich steht dieses Mittel im Rahmen der Haf- minister deutlich hingewiesen – anders, als es sich 2012 tungskaskade erst ganz am Ende, als allerletztes Mittel viele im europäischen Raum vorgestellt haben. Damals zur Verfügung. dachten manche, man könne mit diesem Instrument die nationalen Bankprobleme aus der Vergangenheit beim Überdies ist es so, dass der beantragende Mitglied- ESM abladen. Dem ist nicht so. Das läuft nicht; denn staat auch bei der direkten Rekapitalisierung dafür sor- dem haben wir einen klaren Riegel vorgeschoben. Die gen muss, dass eine minimale Kapitalquote der Bank direkte Rekapitalisierung durch den ESM steht immer von 4,5 Prozent erreicht wird. Das bedeutet in der Folge, am Ende einer langen Haftungsabfolge, wie sie der Fi- dass die direkte Rekapitalisierung nicht bei Banken zum nanzminister dargelegt hat. Die Risiken bleiben bei den- Tragen kommt, die nicht überlebensfähig sind, sondern jenigen, die zuvor Gewinne eingestrichen haben. Das ist nur Banken gerettet werden, die aufgrund dieser Min- richtig so. destkapitalquote eine Überlebensperspektive haben. Das wiederum sichert die Rückzahlung der vergebenen Kre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dite. Dass wir diesem Prinzip europaweit Gültigkeit verschaf- (B) Mit dieser Abfolge ist sichergestellt, dass ein Miss- (D) fen, ist eine der zentralen Errungenschaften der Banken- brauch dieses Instruments ausgeschlossen ist. Man kann union. Darauf können wir zu Recht stolz sein. sogar annehmen – darauf hat Herr Regling in der Anhö- Wenn wir zurückblicken, was wir alles zur Bekämp- rung, die wir durchgeführt haben, hingewiesen –, dass fung der aktuellen Krise und im weiteren Verlauf zur dieses Instrument vermutlich nie zur Anwendung kom- Vorbeugung getan haben, dann müssen wir feststellen, men wird, weil die Hürden für die Anwendung sehr hoch dass das, was wir bisher geleistet haben, durchaus er- sind. folgreich war. Von den fünf Ländern, die unter den Ret- Ein wichtiger Punkt, den ich noch erwähnen möchte, tungsschirm gegangen sind, nehmen noch zwei Länder, ist die Parlamentsbeteiligung. Wir haben bei all diesen Griechenland und Zypern, Hilfsprogramme in Anspruch. Maßnahmen immer großen Wert darauf gelegt, dass das Griechenland wird bereits Ende 2014 aus dem Pro- Parlament, der gesamte Deutsche Bundestag oder zu- gramm aussteigen. Ich frage die Kritiker: Was haben wir mindest der Haushaltsausschuss, in die Entscheidungen also falsch gemacht? Es funktioniert doch, auch wenn eingebunden wird. Auch bei diesem Instrument ist das ein bekannter deutscher Verfassungsrechtler, der schon so. einmal in Karlsruhe gescheitert ist, erneut meint, dass wir dieses Paket ablehnen sollten. Er führt dafür Begrün- (Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) dungen auf, die aus meiner Sicht eher juristisch-sophis- – Danke, lieber Kollege Johannes Kahrs. – Es ist sogar tisch als tragfähig sind. so, dass nicht nur die Einführung dieses Instruments, Für mich ist klar: Diese direkte Bankenrekapitalisie- sondern auch jede einzelne Anwendung zunächst vom rung kommt nur als allerletztes Instrument infrage und Deutschen Bundestag beschlossen werden muss. Ande- steht am Ende einer langen Haftungskette, und – das ist renfalls müssten der Finanzminister oder die Bundes- mir wichtig – sie erhöht nicht das gesamte Risiko, das kanzlerin Nein sagen. Sie können sich auch nicht der wir mit dem ESM übernommen haben. Das ist und bleibt Stimme enthalten. Wir müssen einen positiven Be- Teil des gesamten ESM-Volumens, auch wenn klar ist, schluss herbeiführen, und damit ist der gesamte Bundes- dass am Ende, wenn dieses Instrument angewendet wer- tag involviert. den sollte, tatsächlich der ESM und die Kapitalgeber des Wir haben nach intensiven Beratungen die ursprüng- ESM, also die einzelnen Mitgliedstaaten, dafür haften. lich vorgesehene Regelung, dass gegebenenfalls, wenn Das ist keine Frage, und das ist nie bestritten worden. es sich um vertrauliche Informationen handelt, nur das Aber es gibt auch für die Anwendung dieses Instru- sogenannte Neunergremium informiert werden sollte, ments klare Leitlinien. Der Haushaltsausschuss hat ih- aus dem Gesetzentwurf wieder herausgenommen. Auf 5826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Norbert Barthle (A) die rechtlichen Bedenken hat unser Bundestagspräsident im Wesentlichen, um künftig Krisen abzuwenden oder (C) Norbert Lammert schon sehr frühzeitig hingewiesen. für den Fall der Krise gewappnet zu sein. Bei den Vorträ- Deshalb haben wir diese Regelung herausgenommen. gen von Manfred Zöllmer, von Vertretern der CDU/ Damit sind wir verfassungsrechtlich auf dem sicheren CSU-Fraktion und von Bundesminister Schäuble gab es Weg. Wir haben dies also nicht auf die leichte Schulter immer eine gewisse Nervosität auf der ganz linken Seite genommen. dieses Hauses. Man forderte, irgendwie mehr zu ma- chen; schließlich ist geregelt, dass auf „schwere wirt- Wir wissen, dass damit eine große Verantwortung für schaftliche Störungen“ reagiert werden muss, um zu ver- das gesamte Hohe Haus einhergeht; denn im Zweifels- hindern, dass allzu viel schiefgeht. fall müsste der gesamte Deutsche Bundestag die Sach- lage beurteilen. Das geht dann, wenn man die notwen- An dieser Stelle geht mir ein Bild durch den Kopf, dige Vertraulichkeit wirklich herstellt; aber die müsste das vielleicht nicht in allen Punkten zutrifft: Sahra dann auch gewährleistet sein. Wagenknecht und ich wandern in einem Gebirge, Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei, drei Anmer- (Heiterkeit – Olav Gutting [CDU/CSU]: Im kungen zu der gesamten Situation, in der wir uns befin- Odenwald! – [CDU/CSU]: Das den, machen. Wir beschließen dieses Paket zur Banken- würde ich nie machen!) union in einer Zeit, in der die Staatsschuldenkrise noch nicht so richtig überwunden ist. Wenn man sich die und ich habe mein Geld vergessen. Staatsschuldenquoten der einzelnen Euro-Länder genau (Zurufe von der LINKEN) anschaut, stellt man fest, dass sie seit Ausbruch der Krise nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen sind. – Das diskutieren wir ein andermal. – Sie bezahlt mein Frühstück. Wir wandern weiter und stürzen ab. Wir sind Also darf man die Frage der Staatsverschuldung nicht im freien Fall – stellen Sie sich das vor: der Binding und auf die leichte Schulter nehmen. Anders ausgedrückt: die Wagenknecht im freien Fall! –, und dann sagt Sahra Wir haben einen Stabilitätspakt beschlossen. Wir haben Wagenknecht zu mir: Lass uns einmal über die Verzin- einen Fiskalvertrag geschlossen. Wir haben die Ver- sung der 10 Euro reden, die ich für dein Frühstück aus- schärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts be- gegeben habe. Ich antworte: Nein, es ist viel besser, da- schlossen. Derzeit wird auf europäischer Ebene vorwie- rüber zu reden, ob man nicht rechtzeitig an ein Netz gend über Wachstumsimpulse und weniger über die hätte denken sollen oder an einen Zaun, der verhindert, Frage der Stabilität diskutiert. Das ist etwas, was uns mit dass wir abstürzen. – Wenn man jedenfalls im freien Fall Sorge erfüllt; denn wir sind der Auffassung, dass das ist, dann muss man mehr machen, als über die Zinsen für eine nicht ohne das andere zu denken ist und dass man die 10 Euro, die sie mir für das Frühstück ausgelegt hat, (B) die Balance zwischen Wachstumsimpulsen und Stabili- zu diskutieren. (D) tätsbemühungen wahren muss. Wer den Wachstumspakt genau studiert und wer den Fiskalvertrag genau liest, der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) stellt sehr schnell fest, dass es dort vorwiegend um Sta- Das ist die Basis, auf der wir heute diskutieren. bilität, um Defizitreduzierung und nicht um Konjunktur- programme und Ähnliches geht. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die hätte Ihnen das Frühstück spendiert!) Defizitabbau ist der Kernpunkt all dieser vertragli- chen Vereinbarungen. Das sollten wir im Auge behalten, – Wir waren preiswert unterwegs, und die Sahra ist si- insbesondere dann, wenn in den kommenden Wochen cher sparsam. und Monaten die Europäische Kommission die vorge- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie hätte Ihnen legten Haushalte anderer Mitgliedstaaten beurteilen das aber spendiert!) muss. Wir sind sehr gespannt, wie dies erfolgt, und hof- fen, dass damit der Wachstums- und Stabilitätspakt nicht – Da bin ich mir nicht ganz so sicher. beschädigt, sondern gestärkt wird. Eine weitere Frage ist, ob es eigentlich gut ist, zu sa- Danke. gen: Wir wollen die Risiken vom Steuerzahler abwen- den. Das sagen wir ja alle, und eigentlich ist das auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gut. Die Frage ist nur – einmal angenommen, wir hätten neten der SPD) es wirklich geschafft, dogmatisch vom Steuerzahler die Lasten abzuwenden –: Wie ist es eigentlich, wenn plötz- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: lich der Familienvater die Last trägt oder die Familien- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Lothar Binding, mutter oder der Sparer oder jemand, der für seine Alters- SPD-Fraktion. vorsorge Geld angelegt hat, oder die Alleinerziehende, die zur Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sparbuch angelegt hat? Wenn wir nur über den Steuer- der CDU/CSU) zahler reden, dann ist es sicher gefährlich, nicht auch alle anderen in den Blick zu nehmen. Bei schwerer wirt- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): schaftlicher Störung genügt es eben nicht, allein den Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Steuerzahler zu schützen; dann müssen wir die Gesamt- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute gesellschaften vor solchen Risiken schützen. Deshalb ist Vorlagen zur Schaffung der Europäischen Bankenunion es wichtig, dass die entsprechende Klausel vorhanden ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5827

Lothar Binding (Heidelberg) (A) und dass die Europäische Bankenunion so beschlossen gnalisierst du aber, dass wir darüber nachdenken kön- (C) wird, wie wir es heute tun wollen. nen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten So ähnlich ist es natürlich auch mit dem Trennban- der CDU/CSU) kensystem für große Banken. Auch da sind wir noch nicht am Ende. Wir müssen die Risiken im Spekulati- Die Ausgangslage war recht gefährlich: Wir mussten onsgeschäft von den Risiken, die das Realgeschäft be- Sorge haben, dass eine private Bank in irgendeinem eu- treffen, abtrennen; denn sonst wird die Realwirtschaft ropäischen Land relativ leichtfertig in einen öffentlich immer wieder unter Druck geraten, induziert durch Spe- gespeisten Topf greifen kann. Das wäre die Finanzierung kulanten, und das wollen wir natürlich vermeiden. der Mittel zur Deckung der Kosten privater Risiken über öffentliche Steuern, über Steuern der Bürger. Dieser Idee (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollten wir uns natürlich nicht anschließen, und deshalb der CDU/CSU) war es klug, sich verstärkt Gedanken zu machen und zu- nächst die Lage der Banken ein bisschen genauer zu un- Es ist sicher auch zu fragen, ob die Ausstattung des tersuchen. Da gibt es zwei Sachen. Bei der AQR, der As- Fonds mit 55 Milliarden Euro genügt. Wenn wir einmal set Quality Review, guckt man ein bisschen, wie die an die Fonds denken, die die öffentliche Hand, die europäi- Aktiva in den Banken sind, ob sie risikoreich sind oder sche Staaten aufgebaut haben, dann erkennen wir: Da be- nicht. Beim Stresstest guckt man: Wie ist die Entwick- steht wenigstens eine Differenz um den Faktor 10 bis 20. lung, wenn eine Bilanz unter Druck gerät? Wir wollen die Banken nur so weit belasten, dass sie es überleben – das ist klar –, aber 55 Milliarden Euro sind Meines Erachtens ist nach dem Stresstest bei den zu wenig. Diese Größenordnung ist jetzt der Konsens. Banken ein bisschen zu viel Selbstzufriedenheit aufge- Ich will den ersten Schritt in die richtige Richtung nicht kommen. Ich habe gelesen, dass die Banken, die durch ablehnen, bloß weil wir noch nicht gleich am Ziel an- den Stresstest gefallen sind, gesagt haben: Das war 2013. kommen, aber zum Ziel ist es noch ein ganz schön wei- Wir haben inzwischen Eigenkapital aufgebaut und sind ter Weg. jetzt so ausgestattet, wie es der Stresstest verlangt hat. Eigentlich sind die meisten jetzt auf der sicheren Seite. – (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Bail-in!) Da bin ich mir nicht ganz so sicher; denn das reduziert die Lösung unserer Probleme auf das Eigenkapital. – Ja; darauf komme ich noch. – Trotzdem ist die Größe Gerhard Schick hat gesagt: Wir brauchen eine Leverage des Topfes möglicherweise nicht hinreichend. Ratio, um das Risiko unabhängig noch etwas abzusi- Es gibt viele Dinge, die noch zu verbessern sind. Wir chern. – Aber auch dazu sage ich: Wer nur an das Eigen- (B) haben schon öfter über die EZB und darüber gesprochen, (D) kapital denkt, ist für die Zukunft nicht nachhaltig aufge- dass sie eigentlich die falsche Aufsichtsbehörde ist. stellt. Trotzdem sind wir dankbar, dass sie die Aufgabe über- Was meine ich damit? Ich nehme einmal an, alle Ban- nimmt. Warum? Wir haben keine andere Behörde. Wir ken hätten genügend Eigenkapital in unserem Sinne. wissen, dass es falsch ist, weil Geld- und Währungspoli- Dann muss man sich überlegen, wie das Verhalten der tik von der Aufsichtsfunktion natürlich abzutrennen ist, Banker ist, ob die Selbstbeschränkung bezogen auf ganz aber wir haben keine andere Behörde. Deshalb sind wir bestimmte Geschäftsmodelle funktioniert, ob die Verant- erst einmal dankbar, dass die EZB das macht; aber wir wortung, die sie zu übernehmen bereit sind, ausreicht, ob sprechen ja von der Sunset Clause. – ich benutze einmal den Begriff, der im Bankwesen Wir würden gern in einigen Jahren eine eigene Be- heute häufig zu finden ist – es eine neue Kultur gibt. hörde gründen, die für die Aufsicht zuständig ist, die Gibt es keine neue Kultur im Verhalten der Banker, dann auch institutionell von der EZB, die für das Geld zustän- kann das Eigenkapital so hoch sein, wie es will, es wird dig ist, abgetrennt ist. Dann wäre das nicht mehr in einer immer wieder zu Problemen kommen. Hand. Geldpolitik und Aufsicht in einer Hand, das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nämlich schwierig. Das wäre ein großer Schritt. Ich bin der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/ nicht sicher, ob das hier im Haus konsensfähig ist, aber CSU]: Da hat er recht!) zumindest in Europa wird es schwierig sein, das zu ver- handeln. Dennoch sollten wir uns diesem Verhandlungs- Die Bankenunion als großes Projekt mit ihren drei auftrag stellen. Teilen – Aufsicht, Abwicklungsregime, Notfallabwick- lungsfonds – ist eine gute Idee. Trotzdem ist sie keine Es gibt ein weiteres Problem – darauf hat Axel Troost abschließende Lösung. Ich glaube, damit müssen wir uns schon hingewiesen –, bei dem sicher noch etwas zu tun noch befassen. Wir sind uns wahrscheinlich in den meis- ist: Die Bankenunion, wenn auch mit einer Öffnungs- ten Punkten einig. Was noch fehlt, ist zum Beispiel die klausel, umfasst nur die Euro-Zone. Die Euro-Zone ist Besteuerung von Finanztransaktionen. Es gibt im Bank- aber nicht Europa; London wurde schon erwähnt. Das ist wesen Modelle wie den Hochfrequenzhandel und andere sicherlich ein großes Problem. Wir müssen uns verge- Geschäfte, die besteuert gehören, um die Risiken, die genwärtigen, was passiert, wenn es Krisen innerhalb dort erzeugt werden, in einer Abgabe abzubilden, um oder außerhalb der Bankenunion gibt, inwieweit es In- den Steuerzahler zu schützen. – Ich freue mich, dass du fektionskanäle hinein oder heraus gibt. Natürlich haben nickst, Hans Michelbach, denn ich weiß, dass das nicht wir keine Lust, zu erleben, dass über solche Kanäle die hundertprozentig deine Meinung ist. Mit dem Nicken si- Bankenunion oder überhaupt Europa infiziert wird. Des- 5828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Lothar Binding (Heidelberg) (A) halb ist es wichtig, zur Begrenzung künftiger Krisen da- muss. Denn die Risikobelastung ist ja der eigentliche Pa- (C) rüber noch einmal nachzudenken. rameter, wenn es um eine Gefährdung in der Zukunft geht. Mit Sicherheit ist später auch noch einmal über den Grundsatz „too big to fail“ nachzudenken. Eine Bank, Ich will noch etwas zu den Anträgen der Linken und die zu groß ist, darf – das sagt schon der Name – nicht der Grünen sagen, die in wesentlichen Teilen zustim- scheitern. Aber wir müssen auch darüber nachdenken, mend formuliert sind. was eigentlich passiert, wenn es zu Schwarmeffekten Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht ganz gut kommt. Denn Kleinheit an sich ist ja noch kein Pro- gelungen. Es steht aber auch wieder ein typisches K.-o.- blem – Größe auch nicht. Auch eine kleine Bank kann Argument drin: Ihr wollt die Großbanken vergesell- große Sauereien treiben. Insofern müssen wir schauen, schaften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dann ob wir Schwarmeffekte, die sich aus dem gleichen Ver- besser zurechtkommen würden als heute. Wahrschein- halten vieler Gleiche ergeben, nicht besser regulieren lich würden dann alle Fehler in wenigen Händen kumu- sollten. Das ist sicherlich eine sehr offene Frage. liert. Das wollen wir natürlich nicht. Zur Bankenabgabe an sich und der damit verbunde- Auch im Antrag der Grünen gibt es einen kleinen nen Gewinnminderung in der eigenen Bilanz hat Pferdefuß. Wir haben den Soffin ja gerade um ein Jahr Manfred Zöllmer schon etwas gesagt. Steuersystema- verlängert. Sie wollen diese Verlängerung rückgängig tisch ist eine Bankenabgabe ja eine Ausgabe. Und Aus- machen. Das ist für uns natürlich ein widersinniger Vor- gaben sind natürlich kein Gewinn. Das heißt also, ei- schlag, dem wir nicht folgen wollen. gentlich müsste man diese Ausgabe – die Bankenabgabe – als Betriebsausgabe abziehen dürfen. Ich möchte auch noch ein Wort zur Haftungskaskade sagen. Denn die Haftungskaskade – Sie können es viel- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das leicht erkennen – ist ziemlich lang. Die Kaskade verläuft ist das Nettoprinzip!) zwischen dem Risiko und der letztendlichen Belastung – Ja, das Nettoprinzip. des Steuerzahlers. Und wenn man sieht, wie lang sie ist – ich zitiere das ganz kurz – – Jetzt machen wir aber an der Stelle eine Ausnahme, und das können wir auch sehr gut erklären. Denn wir Vizepräsidentin Ulla Schmidt: richten diesen Topf ja zur Abschirmung von Risiken für Herr Kollege Binding, aber bitte wirklich ganz kurz – die Steuerzahler ein, und wenn wir gleichzeitig einen und nicht die ganze Kaskade! Betriebsausgabenabzug zulassen, dann beteiligen wir den Steuerzahler an dieser für ihn gedachten Abschir- (B) mung mit 30 Prozent. Diesen Widersinn kann man nicht Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (D) erklären. Vor diesem Hintergrund ist diese Ausnahme- Dann zitiere ich das auch nicht ganz kurz, sondern be- regelung notwendig. ende meine Rede lieber mit folgender Bemerkung: Die Haftungskaskade ist lang, und diese Länge ist ein Zei- Die Schwierigkeit ist – du hast darauf hingewiesen, chen dafür, wie stark wir den Steuerzahler vor den Haf- Manfred –: In Europa sehen das manche anders. Da tungsrisiken der Banken schützen wollen. Deshalb ist spürt man auch zum Teil eine etwas andere Kultur. Es die Bankenunion eine sehr gute Lösung, ein wichtiger gibt durchaus Länder, die zwar meinen, der Steuerzahler erster Schritt in die richtige Richtung. sollte vielleicht, eventuell – vermeintlich – ein wenig ge- schützt werden, aber in Wahrheit soll er es selber bezah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len. Das wollen wir natürlich nicht. Wir wollen den Steu- der CDU/CSU) erzahler wirklich schützen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Diese Abschirmwirkung soll letztendlich vergrößert der Kollege Alexander Radwan das Wort. werden. Darüber international zu verhandeln, ist sicher- (Beifall bei der CDU/CSU) lich noch eine Aufgabe für Minister Schäuble – wenn auch keine beneidenswerte Aufgabe; das wissen wir alle. Alexander Radwan (CDU/CSU): Warum spreche ich das an? Diese Ausnahmeregelung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr ist keine schöne Lösung; denn es werden in Europa Minister! Als letzter Redner zu diesem Thema möchte Wettbewerbsverzerrungen erzeugt, wenn die deutschen ich gleich dort anschließen, wo der Herr Kollege Banken diesen Betriebsausgabenabzug nicht machen Binding aufgehört hat. Denn das ist eigentlich die rich- können, während andere, ausländische Banken die Mög- tige Formulierung: Die Bankenunion ist ein weiterer lichkeit dazu haben. Auf diesen Punkt wollen wir Schritt in die richtige Richtung, um die Finanzmärkte schauen; unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist hier stabiler zu machen. noch sehr viel zu tun. Zunächst haben wir den Euro eingeführt. In den letz- Schließlich wollen wir einen weiteren Punkt genauer ten Jahren haben wir die Regeln für den europäischen in den Blick nehmen: Diese Abgabe richtet sich ja heute Binnenmarkt kreiert. Jetzt sind wir dabei, durch die Ban- im Wesentlichen nach der Größe. Wir glauben, dass sie kenunion die Aufsicht zu vollziehen. Wie gesagt: Das ist sich im Wesentlichen nach der Risikobelastung richten ein wichtiger, richtiger Schritt. Die Stabilität der Finanz- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5829

Alexander Radwan (A) märkte steht im Vordergrund; der Steuerzahler soll durch wahrnimmt; da frage ich mich: Wenn sie sie nicht wahr- (C) eine lange Haftungskaskade geschützt werden, wie der nehmen würde, wo wären wir dann heute? –, und auf der Herr Kollege Binding ausgeführt hat. anderen Seite, wenn Integration stattgefunden hat, zu kritisieren, dass das Ergebnis nicht ausreichend ist nach Heute entscheiden wir darüber. Ein Ziel von uns war, dem Motto: „Europa ist ein Wunschkonzert, und meine erst zu wissen, was die Bankenabgabe auf europäischer Vorgaben sollen eins zu eins umgesetzt werden“, reicht Ebene bewirken soll. Wir haben dazu einen Vorschlag mir nicht. Ich werde mit großer Aufmerksamkeit verfol- bekommen, und ich möchte mich hier beim Finanz- gen, wie der Thüringer Landtag unter dem zukünftigen minister bedanken, der sich massiv für die deutschen In- Ministerpräsidenten Beschlüsse zur europäischen Fi- teressen eingesetzt hat. Wir hoffen, dass diese Banken- abgabe nach der Prüfung das Europäische Parlament und nanzmarktregulierung – Sie haben ja sogar New York den Rat passieren wird, damit das, was uns wichtig ist, genannt – fasst und diese dann global eins zu eins um- für unsere regionalen Banken umgesetzt wird, nämlich setzt. die Annehmung der Institutssicherung, der verbundinter- Europa ist das zähe Ringen, auf der einen Seite Schritt nen Verbindlichkeiten und das Wahlrecht über 2016 hi- für Schritt die europäische Integration und die Kapitel- naus bis 2023. Wenn es uns ermöglicht wird, gehen wir marktaufsicht voranzubringen und auf der anderen Seite natürlich davon aus, dass diese Option auch gezogen gleichzeitig deutsche Interessen zu wahren und durchzu- wird. setzen. Und das ist Finanzminister Schäuble in den Run- (Beifall bei der CDU/CSU) den hervorragend gelungen. Dafür ein herzliches Danke- schön. Ich habe versucht, die Argumente der Opposition nachzuvollziehen und mir vorzustellen – meine Gedan- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ken dazu will ich jetzt einmal darstellen –, wo wir heute wären, wenn sie umgesetzt würden. Wir haben bei der Umsetzung der Richtlinie aus mei- ner Sicht die Möglichkeiten genutzt, die diese an Flexi- Zum einen ging es um den Vorwurf, IGA, also das In- bilität bietet. Ich nenne hier die Diskussion um den tergovernmental Agreement, abzuschließen, sei unde- Rechtsformwechsel. Das ist ja auch ein klassisches Bei- mokratisch. Ich kann nur sagen – ich gehe jetzt nicht so spiel im Rahmen des Drei-Säulen-Modells mit Genos- weit wie das Bundesverfassungsgericht in der Beurtei- senschaftsbanken und öffentlich-rechtlichen Banken. lung der Demokratie auf europäischer Ebene in Bezug Wir haben jetzt das Modell, dass auf nationaler Ebene auf das EP –: Wir entscheiden heute darüber. Das Glei- bei Bail-in der Rechtsformwechsel vorgesehen ist, aber che gilt auch für den ESM. Da entscheiden die nationa- es besteht auch die Möglichkeit, dass die Länder, wenn (B) len Parlamente. Darum kann ich daran nichts Undemo- sie ein entsprechend gleichwertiges Bail-in regeln, in ih- (D) kratisches finden, sondern es ist eher eine Stärkung der ren Sparkassengesetzen Ausnahmen machen. Das zeigt Demokratie auf nationaler Ebene, hier entsprechend ein- für mich – das ist auch gelebte Subsidiarität –: Es ist bezogen zu sein. Insofern sollten wir unsere Rechte wichtig, dass wir auf nationaler Ebene das, was wir auf wahrnehmen und über den Bundestag hinaus artikulieren europäischer Ebene jahrzehntelang zu Recht verteidigt und hochhalten. und hochgehalten haben, auch auf nationaler Ebene be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hüten und nicht preisgeben. Hier haben wir also die Fle- neten der SPD) xibilität der Richtlinie entsprechend ausgenutzt. Zum anderen geht es um eine ganz besondere Kon- Die Europäische Zentralbank hat jetzt die Aufsicht stellation – das betrifft Herrn Troost, den ich persönlich übernommen. Herr Troost, ich habe Sie so verstanden, sehr schätze –, nämlich die immer wiederkehrende Dis- dass Sie das für falsch halten. Möglicherweise habe ich krepanz, einerseits zu fordern: „Wir müssen in Europa Sie falsch verstanden. Das ist jedenfalls ein richtiger schneller werden, wir müssen schneller integrieren und Schritt. Er ist nicht ideal, aber es ist ein richtiger Schritt. Aufsicht sicherstellen“, aber gleichzeitig andererseits die Das sollte man in diesem Zusammenhang auch von Ihrer europäischen Entscheidungen zu kritisieren nach dem Seite betonen. 120 Banken in Europa werden direkt be- Motto: „Das, was die Bankenabgabe jetzt für die kleinen aufsichtigt. Auch bei diesem Punkt sage ich: Es ist ein Banken bedeutet, ist zu wenig“. Sie haben ja das Bei- Schritt. Wir werden zukünftig darauf achten müssen, wie spiel aus Wahlkreisen von Kollegen gebracht, in meinem diese Aufsicht funktioniert und wie sie sich entwickelt. Fall das Beispiel der Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshau- sen. Ich danke dafür. Normalerweise wurde ich in den Ein weiterer Kritikpunkt, der genannt wurde, ist, in letzten Monaten auf eine andere Sparkasse angespro- einem Haus zusammen Geldpolitik und Aufsicht zu chen. kombinieren. Auch ich halte das für problematisch. Aber wenn man das für problematisch hält, muss man auch sa- (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gen: Um das auszuschließen, bedarf es einer Änderung ordneten der SPD und der LINKEN) der Verträge. Wenn die Verträge geändert werden, dann Das ist schon einmal ein kollegialer Zug, dass wir jetzt ist der Weg frei. Ich kann mir nicht vorstellen, so wie ich über die Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen reden. Finanzminister Schäuble bisher verstanden habe, dass er Also, auf der einen Seite zu fordern, dass wir schneller diesen Weg nicht gehen will. Aber wir müssen auch integrieren müssen – Sie kritisieren aber zugleich, dass pragmatisch herangehen und fragen: Was ist auf der eu- inzwischen die Europäische Zentralbank diese Aufgaben ropäischen Agenda als Nächstes möglich? 5830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Alexander Radwan (A) Eine weitere Frage neben der nach der Aufsicht auf zu sehr vertiefen –: Ich habe zumindest zu dem Zeit- (C) europäischer Ebene ist: Wie gehen wir in der EZB zu- punkt, als eine andere Bundesregierung zugestimmt hat, künftig mit den Regionalbanken um? Hier sehe ich im Europäischen Parlament dagegen gestimmt. Ich war durchaus auf Level 2 von Normierung und Aufsicht die gegen die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstums- Problematik, dass wir die Besonderheiten der Regional- paktes. – Wir sollten daraus jedenfalls gemeinsam ler- banken durch die Hintertür Stück für Stück zwar nicht nen, dass wir uns rechtzeitig mit den richtigen Wei- preisgeben, aber den Kampf, den wir auf europäischer chenstellungen in Europa befassen müssen. Wir müssen Ebene führen, dorthin verlagern. Denn die Europäische rechtzeitig unsere Stimme erheben, um die Weichen Zentralbank hat nicht nur unmittelbare Aufsicht über die richtig zu stellen. Das schaffen wir heute mit dem Be- Großbanken, sondern auch mittelbare Aufsicht über alle schluss zur Bankenunion. Banken. Über 40 Prozent der Regionalbanken, die nicht unmittelbar beaufsichtigt werden, befinden sich nun in Ich danke Minister Schäuble, dass er hier mit Augen- Deutschland. maß vorgegangen ist. Er sollte nicht dafür kritisiert wer- den, deutsche Interessen zu vertreten und trotzdem die Erster Ansatzpunkt ist hier das Meldewesen. Ich halte Aufsicht in Europa zu europäisieren. es – das muss ich ganz klar sagen – für falsch, dass im- Herzlichen Dank. Wir werden zustimmen. mer mehr IFRS-Anforderungen durchgereicht werden. Daher bedarf es hier einer entsprechenden Governance (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Vorgabe, wie es sich weiterentwickeln soll. Unter neten der SPD) diesem Gesichtspunkt halte ich die Lösung – ich habe mit mir gerungen über das Verhältnis von BaFin und Vizepräsident : Bundesbank zueinander; dabei gibt es gute Argumente Ich schließe die Aussprache. für die eine wie für die andere Seite –, die wir gefunden haben, für gut: BaFin ist jetzt Ansprechpartner, aber wir Tagesordnungspunkt 5 a: Wir kommen zur Abstim- betonen zugleich, dass das System der kollegialen Auf- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten sicht durch Bundesbank und BaFin sich bewährt hat. Gesetzentwurf zur Umsetzung einer Richtlinie des Euro- Das sollte auch für die europäische Ebene eine Blau- päischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung ei- pause sein, indem wir uns dagegen wenden, dass alles nes Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von auf einen Bereich konzentriert wird, und vielmehr die Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Ände- Splittung als Modell auf europäischer Ebene voranbrin- rung weiterer Richtlinien und Verordnungen des Euro- gen. päischen Parlaments und des Rates – BRRD-Umset- zungsgesetz. (B) Wir wissen, dass wir uns bei den Trennbanken weiter- (D) entwickeln müssen. Wir haben auf nationaler Ebene eine Hierzu liegen mehrere Erklärungen gemäß § 31 unse- Lösung. Wir haben auf europäischer Ebene einen Ver- rer Geschäftsordnung vor.1) ordnungsvorschlag. Es ist umso wichtiger, dass dieser Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- Vorschlag auf europäischer Ebene sich an den Kriterien ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3088, den und den Prioritäten, die wir in Deutschland haben, orien- Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen tiert. Ich muss allerdings sagen: Die europäische Vorgabe 18/2575 und 18/2626 in der Ausschussfassung anzuneh- ist für mich nicht ganz konsistent. Die Zeitvorgaben, die men. hier genannt werden, halte ich für bemerkenswert. Ein- mal habe ich einen Verordnungsvorschlag, der unmittel- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, bar gilt, aber gleichzeitig können auf nationaler Ebene getrennt abzustimmen: zum einen über Artikel 5 Num- mithilfe von Regelungen, die einen gewissen Rahmen mern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, haben, Ausnahmen gemacht werden. Das ist für mich ein Nummer 15 sowie Artikel 7 und zum anderen über den Widerspruch in sich. Das wird sicher eine ganz wichtige, Gesetzentwurf im Übrigen. aber auch langwierige Diskussion werden. Ich rufe zunächst auf Artikel 5 Nummern 6 bis 11, Zum Thema Steuern – das hat auch der Kollege Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 so- Binding angesprochen –: Ich halte es für richtig, dass wir wie Artikel 7 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejeni- zwischen den Staaten auf europäischer Ebene für Wett- gen, die zustimmen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt bewerbsgleichheit sorgen, dass wir versuchen, systema- dagegen? – Wer enthält sich? – Artikel 5 Nummern 6 bis tisch korrekt zu arbeiten. Darum werden wir dieses sicher 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 in den nächsten Wochen und Monaten auf europäischer sowie Artikel 7 sind mit den Stimmen der CDU/CSU- Ebene nicht nur verfolgen, sondern auch versuchen, die Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Mitgliedstaaten für unsere Haltung zu gewinnen. Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke in der Ausschussfassung angenommen. Letztendlich haben wir es auf europäischer Ebene ge- schafft, deutsche Standards entsprechend weiterzuentwi- Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in ckeln. Es ist auch wichtig, die Entscheidungen rechtzei- der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu- tig richtig zu treffen. Vor diesem Hintergrund kann ich es stimmen wollen, um ihr Stimmzeichen. – Wer stimmt mir nicht verkneifen, nachdem Sie, Herr Kollege dagegen? – Wer enthält sich? – Dann sind die übrigen Zöllmer, vorhin das Thema Griechenland angesprochen haben, noch ganz kurz zu sagen – das brauchen wir nicht 1) Anlage 2 bis 4 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5831

Vizepräsident Peter Hintze (A) Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der CDU/ Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und den Stimmen der (C) CSU-Fraktion, den Stimmen der SPD-Fraktion und den SPD-Fraktion gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU- Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- Fraktion und die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die men der Fraktion Die Linke und eine Stimme aus der Grünen und der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf CDU/CSU-Fraktion so beschlossen. ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Alle Teile des Gesetzentwurfes sind damit in zweiter Dritte Beratung Beratung angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Dritte Beratung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei tion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion dann so angenom- Grünen gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Frak- men worden. tion und die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- men worden. gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzhil- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- feinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags zur Einrich- ßungsanträge. tung des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den Drucksache 18/3091. Wer stimmt für den Entschlie- Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält 18/2580 und 18/2628 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, sich? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim- die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das men der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung durch die sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Fraktion Die Linke abgelehnt. mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD- Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Fraktion gegen die Fraktion Die Linke, die Fraktion Grünen auf Drucksache 18/3092. Wer stimmt für diesen Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt (B) (D) mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD- Dritte Beratung Fraktion bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Zweite Beratung Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- entwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie- der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkom- Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie men über die Übertragung von Beiträgen auf den ein- gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion ange- heitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame nommen worden. Nutzung dieser Beiträge. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Tagesordnungspunkt 5 c: Beschlussempfehlung des Drucksache 18/3088, den Gesetzentwurf der Bundesre- Haushaltsausschusses zum Antrag des Bundesministe- gierung auf den Drucksachen 18/2576 und 18/2627 an- riums der Finanzen mit dem Titel „Durchführungsbestim- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf mungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisie- zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- rung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deut- Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzie- die Stimmen der Linken und bei Enthaltung der Fraktion rungsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von Drucksache 18/2669 zuzustimmen. Wer stimmt für die der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes. Der Haus- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den haltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion schlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den Ge- gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, der Fraktion setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der 18/2577 und 18/2629 in der Ausschussfassung anzuneh- CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- Zusatzpunkt 1. Wir setzen die Abstimmung zu den chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses auf ist der Gesetzentwurf angenommen worden mit den Drucksache 18/3088 fort. 5832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU/ (C) Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der CSU-Fraktion das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/97 Bosbach. mit dem Titel „Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstel- (Beifall bei der CDU/CSU) len“. Wir stimmen also über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses ab. Wer stimmt für die Be- (CDU/CSU): schlussempfehlung des Finanzausschusses? – Wer Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- gen! Neben dem Kampf gegen den Terror des sogenann- empfehlung des Finanzausschusses ist mit den Stimmen ten Islamischen Staates ist die Bewältigung der ja welt- der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die weiten Flüchtlingskrise und -problematik sicherlich die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- größte internationale und europäische Herausforderung haltung der Fraktion Die Linke angenommen worden. sowie auch innenpolitische Herausforderung bei uns in Deutschland. Über 50 Millionen Menschen sind welt- Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- weit auf der Flucht, rund 33 Millionen sind Binnenver- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der triebene, an die 18 Millionen sind über Grenzen geflo- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/98 hen. mit dem Titel „Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle- rinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitli- Was sich wenige Flugstunden von uns entfernt ab- chen europäischen Restrukturierungsmechanimus“. Wer spielt, ist eine wahre Tragödie. Menschen fliehen vor stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus- brutalen Diktatoren, vor brutalen Diktaturen, sie fliehen ses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die vor Hungersnot, vor Epidemien und vor dem Terror der Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/ IS-Truppen. Wir erleben gerade eine Tragödie im Grenz- CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen gebiet der Länder Syrien/Irak/Türkei. Hunderttausende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der campieren dort unter freiem Himmel. Der Winter steht Fraktion Die Linke angenommen worden. vor der Tür. Zuerst kommt der Regen, dann kommt die Kälte, dann kommt der Schnee, dann kommt der Tod. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e Wir wissen von den Tragödien im Mittelmeer. Wir wis- seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- sen, dass Schlepper und Schleuserbanden mit der Not trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- vieler Menschen brutale Geschäfte machen. che 18/774 mit dem Titel „Zum Schutz der Allgemein- Um einen Punkt in dieser Debatte gleich abzuräumen: heit vor Einzelinteressen – Für eine echte Europäische Wenn Menschen in Not sind, wenn sie zu ertrinken dro- Bankenunion“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (B) hen, dann fragen wir nicht nach der Staatsangehörigkeit, (D) lung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer wir fragen nicht nach der Religion, wir fragen nicht nach enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Rechtslage, sondern wir retten sie, wir werfen ihnen den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion Rettungsringe zu. Dazu müssen wir vorher auch in kei- und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Frak- nem Gesetzesbuch nachlesen. Das ist eine Selbstver- tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. ständlichkeit. Alles andere wäre im Übrigen unterlas- Damit sind wir am Ende dieser Reihe von Abstim- sene Hilfeleistung. mungen. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: NEN]: Das sehen wir auch so!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich glaube, da gibt es einen großen Konsens über Par- tei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der Lin- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu ken und von Bündnis 90/Die Grünen geht allerdings dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan weit darüber hinaus. Im Grunde genommen ist es eine Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der Bundes- der Fraktion DIE LINKE republik Deutschland seit Jahrzehnten. Das Massensterben an den EU-Außengrenzen (Beifall bei der LINKEN – Luise Amtsberg beenden – Für eine offene, solidarische und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union Aber der Inhalt dieser Anklageschrift wird den Realitä- ten in keiner Weise gerecht. Drucksachen 18/288, 18/2946 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Von den 700 000 Flüchtlingen aus dem Balkan, zum nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Beispiel aus Bosnien-Herzegowina, hat Deutschland al- lein 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland Bevor ich die Aussprach eröffne, warten wir viel- also die Hälfte, alle anderen Länder der Welt zusammen leicht noch einen Moment, bis alle ihren Platz gefunden die andere Hälfte. Wir haben über 40 Prozent der Flücht- haben. Diejenigen, die eine Aussprache über indivi- linge aus dem Kosovo aufgenommen. Zurzeit nimmt duelle Themen wünschen, bitte ich, den Plenarsaal hier- kein Land in der Europäischen Union mehr Flüchtlinge für zu verlassen. auf als die Bundesrepublik Deutschland. Richtig ist: Es Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5833

Wolfgang Bosbach (A) gibt Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Flücht- Wenn wir Politiker, die wir unmittelbar politische (C) linge als Deutschland aufnehmen, darunter auch sehr Verantwortung tragen, den Menschen draußen signali- kleine Staaten, zum Beispiel die Insel Malta, wo sich sieren, dass uns die Probleme vor Ort nicht interessieren, aber auch nur sehr kleine Zahlen ergeben. Es gibt aber dass wir uns gar nicht damit beschäftigen, dass wir sie auch große Länder, die sich bei der Aufnahme von ignorieren in der Hoffnung, dass den Menschen gar nicht Flüchtlingen – je nach Betrachtungsweise – vornehm zu- auffällt, dass es diese Probleme gibt, dann werden sie rückhalten oder schäbig verhalten; jeder mag das anders sich anderen politischen Kräften zuwenden, die heute bewerten. Deutschland alleine wird in diesem Jahr mehr – darüber sind wir froh – nicht im Deutschen Bundestag Flüchtlinge aufnehmen als Portugal, Spanien, Italien und vertreten sind. Griechenland zusammen. In einer solchen Situation kann man ruhig einmal, wenn auch nur in einem Neben- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) satz, anerkennen, was Deutschland in der Vergangenheit Wir haben auch, aber nicht nur eine Verantwortung bereits geleistet hat, was Deutschland heute leistet und gegenüber den bedrängten Menschen in der Welt. Dieser auch in Zukunft leisten wird. Verantwortung wird Deutschland gerecht; wobei ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht sagen würde, dass man nicht noch mehr tun könnte. Mir fällt in der Politik überhaupt kein Thema Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Situation in al- ein, zu dem ich sagen könnte: Da könnte man nicht noch len anderen Büros anders aussieht als bei mir. Alle Ge- mehr tun. spräche, alle Zuschriften sind angesichts der derzeitigen Lage von zwei Argumentationslinien geprägt. Die einen (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Aber warum ma- sagen: „Seht ihr nicht die Not der Menschen in der Welt, chen Sie dann nicht mehr?) die Not der Menschen, die fliehen müssen? Kann ein rei- Wir werden hier auch mehr tun müssen; aber wir können ches Land wie Deutschland nicht mehr tun?“, und die nicht diejenigen aufnehmen, die politisch verfolgt sind, anderen sagen: „Seht ihr nicht, dass unsere Städte und und diejenigen, die es nicht sind, auch. Wir können nicht Gemeinden an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit an- diejenigen aufnehmen, die vor Krieg fliehen, und dieje- gekommen sind? Viel mehr können wir nicht leisten.“ nigen, die nicht vor Krieg fliehen, auch. Für beide Haltungen gibt es übrigens gute Argumente. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wer sind denn Angesichts der dramatischen Situation, wie ich sie „diejenigen“?) eingangs geschildert habe, ist die Frage: „Kann Deutsch- land nicht noch mehr tun?“, oder: „Müsste Deutschland Deswegen ist es wichtig, dass wir die Fluchtursachen nicht noch mehr tun?“, legitim. Es gibt im Übrigen eine vor Ort bekämpfen, damit die Menschen sich erst gar (B) enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung jenen ge- nicht auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen. (D) genüber, die tatsächlich verfolgt sind, die tatsächlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- politisch Verfolgte sind, die tatsächlich vor Krieg oder neten der SPD – [CDU/ Bürgerkrieg fliehen. Unser Problem ist aber doch, dass CSU]: Sehr richtig!) wir jedes Jahr auch sehr viele Menschen aufnehmen, die nicht politisch verfolgt sind, die nicht vor Krieg oder Deshalb ist es wichtig, dass wir die Schlepper- und Bürgerkrieg fliehen, die keinen Rechtsanspruch auf ei- Schleuserkriminalität bekämpfen. nen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland Ein letzter Punkt: Europa kümmert sich sonst um al- haben. Die allermeisten Menschen von denen werden les: um Glühbirnen und neuerdings auch um die Saug- das auch wissen. kraft von Staubsaugern; sie muss europaweit einheitlich Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung geregelt werden. Es wäre schön, wenn wir uns auch oder der Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass wenigstens darüber einig wären, dass Europa sich auch nicht alle, aber viele Städte und Gemeinden unseres Lan- darum kümmern muss, dass wir einheitliche Mindest- des an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt standards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asyl- sind. Eine Schlagzeile von heute Morgen in einer Kölner bewerbern in allen Ländern der Europäischen Union be- Zeitung: „Roters will keine weiteren Flüchtlinge“. Zur kommen. Vermeidung möglicher Missverständnisse: Es handelt (Beifall bei der CDU/CSU) sich nicht um einen CDU-Oberbürgermeister oder um einen CSU-Oberbürgermeister, sondern es handelt sich Dass humanitäre Mindeststandards eingehalten wer- um den SPD-Oberbürgermeister der Stadt Köln. Die den, ist übrigens nicht nur eine völkerrechtliche Ver- Stadt Köln wird von einer rot-grünen Ratsmehrheit re- pflichtung; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. giert. Ist Herr Roters xenophob? Ist er ausländerfeind- Das schulden wir denjenigen, die wirklich bedrängt sind, lich? die wirklich in Not sind. Denen wird in Deutschland nie- mals nicht geholfen werden. Da sind wir aufnahmebereit (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie kaum ein anderes Land in der Welt. Auch das könnte NEN]: Das hat doch keiner gesagt!) man im Rahmen der Beschreibung der großen Probleme, die wir haben, ruhig einmal anerkennen. Wir dürfen un- Ist er ein latenter Rassist? Nein, er hat Not. Er weiß nicht ser eigenes Land ruhig einmal loben. mehr, wo er die vielen Flüchtlinge unterbringen kann. Und das führt zu Spannungen. Das führt zu Spannungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Gesellschaft, das führt zu Spannungen vor Ort. neten der SPD) 5834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsident Peter Hintze: Italien hat die EU um Unterstützung gebeten. (C) Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- Deutschland und auch kein anderer EU-Staat waren aber ordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, Herr Kollege Bosbach. Diese Aktion kostet in der Tat monatlich (Beifall bei der LINKEN) 9 Millionen Euro; diese Kosten könnten aber auf viele EU-Staaten verteilt werden. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Statt Mare Nostrum und Seenotrettung hat die EU am Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Montag dieser Woche mit einem Einsatz zur Grenzüber- Kollege Bosbach, kein Mensch flieht ohne Not, verlässt wachung begonnen, den sie Triton nennt. Er bedeutet sein Land ohne Not und möglicherweise auch seine Fa- noch mehr Abschottung, kostet aber nur 3 Millio- milie. nen Euro im Monat. Man stellt sich hier doch ernsthaft (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- die Frage: Ist es billiger, die Menschen ertrinken zu las- NIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger sen, als sie zu retten und sich auch für Rettungsaktionen [CDU/CSU]: Das stimmt halt nicht so!) einzusetzen? Für solch einen Zynismus können wir nur abgrundtiefe Verachtung empfinden. Anlass für den Antrag der Linksfraktion, über den wir heute hier reden, waren die Tragödien, die sich im (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Herbst vorigen Jahres im Mittelmeer vor der Insel Lam- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) pedusa ereigneten. Dort sind 400 Menschen ertrunken. Der Bundesinnenminister hat vor einigen Wochen mit Eine Woche später gab es ein weiteres Unglück mit anderen Kollegen aus EU-Staaten einen Brief an das 250 Toten. Ich möchte hier einmal die Bürgermeisterin EU-Innenkommissariat gesandt. Was steht in dem Brief? von Lampedusa, Giusi Nicolini, zitieren, die damals von Ehrlich gesagt, nur die alte Leier: dichtere Überwachung einem regelrechten Massaker an den Flüchtlingen ge- der EU-Außengrenzen, engere Zusammenarbeit mit sprochen hat. Es sei wie im Krieg, sagte sie, und weiter: Transitstaaten, um Flüchtlinge schon in Afrika aufzuhal- Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die ten, verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, aber europäische Einwanderungspolitik diese Men- kein Wort zur Rettung von Flüchtlingen. Auch der schenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse Innenminister hat meiner Meinung nach aus den Tragö- einzudämmen …, dass ihr Tod für Europa eine dien, die wir im vergangenen Jahr im Mittelmeer erlebt Schande ist. haben, überhaupt nichts gelernt. (Beifall bei der LINKEN) Stattdessen pflegt er eine absolut unangemessene (B) bürokratische Kleinkariertheit, wenn er etwa darüber do- (D) Genau das ist der Grund, warum die europäische ziert, im Rahmen von Frontex dürfe nur Grenzüberwa- Flüchtlingspolitik grundlegend geändert werden muss. chung durchgeführt werden und Frontex habe für See- Das UNO-Flüchtlingswerk bzw. der UNHCR führt eine notrettung – ich zitiere ihn – „weder das Mandat noch grausame Statistik über die Menschen, die seit Jahren im die erforderlichen Ressourcen“. Ich sage Ihnen: Für die Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Fast 2 Prozent Rettung aus Seenot braucht man kein Mandat. Im Ge- aller Flüchtlinge im Mittelmeer sind darin ertrunken. In genteil: Das ist eine Pflicht. Wer sich dieser Pflicht be- diesem Jahr gab es allein bis Ende August mindestens wusst verweigert, macht sich an weiteren Massakern 3 200 Tote. Je dichter die Abschottung, desto gefährli- mitschuldig. Ich gebe Herrn Bosbach recht, dass hier et- cher werden die Fluchtrouten. Das treibt die was passieren muss und nicht nur geredet werden darf. Todeszahlen in die Höhe. Dieser grausamen Logik muss man endlich ein Ende bereiten. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Noch etwas. Wenn Frontex nicht dafür geschaffen ist, Flüchtlinge zu retten, dann, so sagt die Linke, muss Doch leider kommt von den für diese Flüchtlingspoli- Frontex eben abgeschafft und durch ein effektives See- tik Verantwortlichen, Herr Bosbach, außer Betroffen- notrettungssystem ersetzt werden. heitsfloskeln überhaupt nichts. Es heißt einfach: Weiter so! An diesem Montag zum Beispiel sind 24 Flüchtlinge Was die Bekämpfung von Schleusern angeht, will ich im Bosporus ertrunken; sie wollten über das Schwarze die Frage aufwerfen: Haben Sie sich eigentlich schon Meer, um nach Rumänien, also nach Europa, zu gelan- einmal überlegt, dass es Schleuser nur deswegen gibt, gen. Das ist das Ergebnis der Politik der Abschottung an weil sich die EU weigert, dafür zu sorgen, dass Flücht- den EU-Außengrenzen. Das Massaker, von dem Frau linge auf legalem Wege nach Europa kommen können? Nicolini sprach, fordert jeden Tag neue Opfer. Einzig Es ist doch die EU selbst, die die Flüchtlinge damit re- Italien hat noch im Oktober vorigen Jahres eine Aktion gelrecht in die Hände von Schleusern treibt. Die richtige unter dem Titel Mare Nostrum gestartet. Wir alle wissen, Antwort, die wir in unserem Antrag beschreiben, lautet dass Italien ein Asylsystem mit schweren Mängeln hat. deswegen nicht: „Noch mehr Repression und noch mehr Aber für diese Rettungsaktion verdient das Land Aner- Abschottung“, sondern: Menschen in Not muss, ohne kennung. dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, ermög- licht werden, in Europa Asyl zu beantragen. Das könnte (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ganz einfach durch eine Liberalisierung der Visapolitik NIS 90/DIE GRÜNEN) geschehen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5835

Ulla Jelpke (A) (Beifall bei der LINKEN) Zeit, die Frage zu stellen, was seitdem eigentlich passiert (C) ist. Statt mit Staaten wie Libyen zu kooperieren, wo Flüchtlinge eingesperrt sind – übrigens zurzeit 100 000 – Den Bürgerkrieg in Syrien gab es damals schon, und oder einfach in der Wüste ausgesetzt werden, gilt es, er hat nichts von seiner Brutalität und Grausamkeit Kapazitäten für Aufnahmeprogramme zu schaffen, die in verloren. Der Konflikt in Syrien ist aber nur einer von akuten Lagen wie etwa jetzt in der Syrien-Krise auch vielen, der in diesem Jahr täglich Menschenleben kostet. kurzfristig greifen. Es ist doch ein Trauerspiel – ich sage Seit einiger Zeit erschüttern uns auch die Gräueltaten ja nicht, dass wir nichts tun –, dass es Monate und Jahre einer Terrorgruppe namens „Islamischer Staat“, die mit dauert, bis wir in Deutschland ein paar Tausend Flücht- einer Gewalttätigkeit und Grausamkeit agiert und überall linge aus Syrien aufnehmen, nur weil wir dabei eine un- dort, wo sie auftaucht, solch unfassbares Leid hinter- glaubliche Bürokratie an den Tag legen. lässt, dass die Nachvollziehbarkeit derartigen Handelns Meine Damen und Herren, es muss endlich das un- längst an ihre Grenzen gestoßen ist. würdige Dublin-System abgeschafft werden, mit dem Das sind aber nur zwei Konflikte zusätzlich zu denen, Schutzsuchende gezwungen werden, in dem Land Asyl die tagtäglich stattfinden, weil Menschen Hunger leiden, zu beantragen, das sie zuerst betreten haben. Für die weil Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden Flüchtlinge bedeutet es eine inhumane und zudem völlig oder schlichtweg keine Perspektive mehr für sich und nutzlose Schikane, wenn sie in Deutschland noch vor der ihre Familie sehen. Dies sind Gründe genug, um sich Prüfung ihres Asylantrages festgenommen und zum Bei- heute die Frage zu stellen: Was ist seitdem eigentlich spiel nach Italien abgeschoben werden. passiert? Was haben wir getan, um unseren Worten vom Übrigens hat erst gestern der Europäische Gerichtshof 17. Januar Taten folgen zu lassen? für Menschenrechte wieder festgestellt, was vielen Da sei zunächst die finanzielle Unterstützung von Flüchtlingen in Italien blüht – das ist vielen immer noch rund 520 Millionen Euro genannt, die wir Syrien haben nicht klar –: Entweder sie bleiben ganz ohne Unterkunft, zukommen lassen und die vor allem der humanitären oder sie werden in überfüllte Lager mit – so das Ge- Hilfe dient. Aber auch das THW leistet vor Ort und in richt – gesundheitsgefährdenden und gewalttätigen den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak vor Zuständen gesteckt. – Es ist wesentlich humaner – es allem durch die Bereitstellung der Wasserversorgung je- spricht überhaupt nichts dagegen –, sie dorthin gehen zu den Tag eine immens wichtige Hilfe. lassen, wo sie Verwandte haben, wo sie die Sprache be- herrschen, wo sie besser integrierbar sind. Innerhalb der Im Juni haben wir uns auf ein weiteres Aufnahme- EU könnte das auch mit einem Finanzausgleich geregelt programm geeinigt, sodass wir insgesamt 20 000 syri- (B) werden. sche Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen werden. Bei (D) Meine Damen und Herren, zum Schluss kann ich nur der Syrien-Flüchtlingskonferenz in der vergangenen an das Haus appellieren: Die europäische Flüchtlings- Woche hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier politik tötet. Deswegen ist es an der Zeit, sie radikal zu deutlich gemacht, dass wir uns über die humanitäre Ver- ändern. Mit noch mehr Abschottung wird nur noch mehr sorgung der Flüchtlinge hinaus auch um die Stabilität Tod und Leid provoziert. Ein Weiter-so in der europäi- der Aufnahmeländer kümmern müssen, die schon jetzt schen Flüchtlingspolitik darf es einfach nicht geben. an ihre Grenzen gekommen sind. Deswegen werden wir noch weitere Anträge einbringen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der zumal Sie diesen Antrag heute ablehnen werden. Es Tatsache, dass sich weltweit über 50 Millionen Men- muss endlich etwas passieren, damit Menschen nicht schen auf der Flucht befinden, ist das vielleicht nicht mehr ums Leben kommen. viel. Angesichts dessen, was andere europäische Länder, Danke schön. insbesondere wenn es um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht, beigetragen haben, ist das aber eine (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ganze Menge. Wir können uns gewiss nicht darauf aus- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ruhen, wir können es aber als Basis für unser weiteres Handeln nehmen. Vizepräsident Peter Hintze: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten der CDU/CSU) Christina Kampmann, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber blicken wir auf die europäische Ebene. Da der CDU/CSU) macht in diesen Tagen ein Einsatz namens Triton von sich reden. Wir müssen uns die Frage stellen: Hilft Triton weiter, wenn es darum geht, das in dem Antrag Christina Kampmann (SPD): formulierte Ziel der Rettung von in Seenot geratenen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Menschen zu erreichen? Die Zweifel, die daran aufkom- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am men, sind berechtigt. 17. Januar dieses Jahres habe ich meine erste Rede im Deutschen Bundestag zu genau diesem Antrag und zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- genau diesem Thema gehalten. Seitdem ist rund ein SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dreivierteljahr vergangen. Insofern ist es jetzt an der Daniela Kolbe [SPD]) 5836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Christina Kampmann (A) Das italienische Programm Mare Nostrum durch ein (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank (C) europäisches zu ersetzen, ist zunächst einmal richtig. Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) Wir haben uns dazu entschlossen, gemeinsame Außen- Europäische Flüchtlingspolitik darf sich aber nicht grenzen zu haben; deshalb ist es auch unsere gemein- nur auf die beschränken, die über das Mittelmeer auf same europäische Aufgabe, für das, was an diesen Gren- dem Weg zu uns sind. Wenn Europa es ernst meint mit zen passiert, Verantwortung zu übernehmen. Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit, dann müssen wir auch über eine Reform des der LINKEN) Dublin-Systems reden. Dublin III funktioniert nämlich so, wie es derzeit ausgestaltet ist, nicht. Verantwortung bedeutet nicht nur, aber auch, diese Grenzen zu schützen. Deshalb lehnen wir die im Antrag (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- der Linken formulierte Forderung nach der Auflösung KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- von Frontex entschieden ab. NEN) (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die sind für Ab- Es ist zum einen unsolidarisch, weil die Länder, die an schottung zuständig!) den Außengrenzen sind, stärker belastet werden als an- dere; das ist ein eindeutiger Fakt, der sich nicht wegdis- Verantwortung bedeutet aber vor allem, die Men- kutieren lässt. schen, die ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich unter (Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Die Zahlen Gefährdung ihres eigenen Lebens und oft auch des Le- sprechen dagegen!) bens ihrer Kinder auf einem überfüllten Boot auf den Weg nach Europa zu machen, zu retten, wenn sie in See- Es ist zum anderen ungerecht gegenüber den Flüchtlin- not geraten sind. Darüber sollten wir nicht diskutieren; gen; denn wenn Länder wie Griechenland und Italien denn das ist unsere elementarste menschliche Pflicht, stärker belastet werden als andere, dann ist es für diese liebe Kolleginnen und Kollegen. natürlich auch schwieriger, angemessene Unterkünfte, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und alles, was (Beifall bei der SPD) man für ein einigermaßen menschenwürdiges Existenz- Herr Bosbach, es ist gut, wenn wir uns in diesem Ziel minimum braucht, zur Verfügung zu stellen. Deshalb einig sind; aber Rettung fällt eben nicht vom Himmel – muss Dublin III besser heute als morgen reformiert wer- dafür muss auch die entsprechende Infrastruktur bereit- den. gestellt werden, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN) Der Linken sage ich mit Blick auf Alternativen: Das und es hilft nicht, da auf Europa zu zeigen; denn wir sind von Ihnen vorgeschlagene Free-Choice-Verfahren, wo- ein Teil von Europa. Wir müssen uns gemeinsam dafür nach sich jeder das Aufnahmeland selbst aussuchen starkmachen, dass wir genau dieses Ziel erreichen. kann, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Eva Högl [SPD]: Das geht nicht!) der LINKEN und des Abg. Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) stellt nur vordergründig eine wirklich gute Alternative dar; denn das – dessen bin ich mir sicher – würde in ei- Wir fordern deshalb: Triton muss mindestens genauso nem Wettbewerb um die niedrigsten Standards enden. gut ausgestattet sein wie Mare Nostrum; das bezieht sich Das kann nicht in Ihrem Sinne sein und ist auch nicht im sowohl auf den Umfang des Mandats als auch auf die fi- Sinne der Flüchtlinge. nanzielle Ausstattung. Alles andere ist eine Farce, die in keiner Weise nachvollziehbar ist und die für uns auch (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Ulla nicht akzeptabel ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Jelpke [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unser Vorschlag dazu ist ein Quotensystem, das sich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) an Kriterien wie zum Beispiel Wirtschaftswachstum, Be- völkerungszahl und Arbeitslosigkeit orientieren könnte Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Rettung und damit zu einer gesamteuropäischen Lösung beiträgt, von in Seenot geratenen Menschen, wenn wir ein weite- die solidarisch und gerecht gegenüber den Flüchtlingen res Unglück, wie es sich vor Lampedusa ereignet hat, ist, weil sie – da bin ich mir sicher – zu besseren Stan- verhindern wollen, dann brauchen wir für Frontex ein dards in den Aufnahmelagern und während des Asylver- eindeutiges Mandat, das über den Grenzschutz hinaus- fahrens führen wird, auch dann, wenn es darum geht, geht und sich in aller Deutlichkeit auch zur Seenot- dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilha- rettung bekennt. Dann brauchen wir auch eine bessere ben können. Das ist aus unserer Sicht die beste Alterna- finanzielle Ausstattung als die rund 3 Millionen Euro, tive. Für diese werden wir uns weiterhin starkmachen. die derzeit vorgesehen sind. Wenn wir es wirklich ernst (Beifall bei der SPD) meinen mit den europäischen Werten, die wir jeden Tag aufs Neue verteidigen, dann müssen wir hier noch eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, tote Menschen vor Schippe drauflegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. den Küsten Europas sind längst zur Alltäglichkeit ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5837

Christina Kampmann (A) worden. Mehr als 3 000 Menschen sind seit Anfang die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) ses Jahres im Mittelmeer ertrunken. Ich wünsche mir, dass wir uns jeden einzelnen Tag vor Augen führen, wie Wir nehmen die Sorgen vor Ort ernst. Aber heute geht beschämend allein diese Tatsache ist. Ich wünsche mir, es um die europäische Flüchtlingspolitik. „Wir können dass wir uns jeden Tag die Frage stellen: Was treibt ei- nicht zulassen, dass das Mittelmeer ein Meer des Todes nen Menschen an, sein Zuhause zu verlassen, mehr Geld ist.“ Das war die Antwort des italienischen Ministerprä- zu zahlen, als er sich eigentlich jemals hätte leisten kön- sidenten Letta auf die Tragödie, die Katastrophe von nen, seine Familie zurückzulassen oder auf einen Weg Lampedusa. Noch im selben Monat startete Italien die mitzunehmen, dessen Ziel er nicht kennt und von dem er Militäroperation Mare Nostrum. Verehrte Kolleginnen noch nicht einmal weiß, ob er es jemals erreichen wird, und Kollegen, ich muss einräumen, dass wir von den und das alles in dem Wissen, dass dieser Weg vielleicht Grünen zu Beginn dieser Operation sehr skeptisch wa- das eigene Leben und auch das Leben der eigenen Kin- ren. Wir haben nicht daran geglaubt, und es war für uns der kosten könnte? Ich frage Sie ehrlich: Könnte irgend- schlichtweg unvorstellbar, dass die italienische Marine jemand von Ihnen sich das vorstellen? Kann sich irgend- tatsächlich ein Programm auf den Weg bringt, das aus- jemand vorstellen, wie verzweifelt ein Mensch sein schließlich auf die Rettung von Menschenleben abzielt. muss, um diesen Weg dennoch zu gehen? Ich sage ehr- Ich muss sagen: Ich habe mich damals getäuscht. Mare lich: Ich kann es mir nicht vorstellen. Nostrum hätte von Anfang an ein europäisches Pro- gramm sein müssen. Es hätte unsere gemeinsame Ant- Gerade weil dieser Schritt alles übersteigt, was ich wort auf das Sterben im Mittelmeer sein müssen. mir vorstellen kann, sage ich: Egal, worüber wir in Eu- ropa diskutieren, egal, welche Pläne die neue Kommis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sion hat: Die menschliche Tragödie, die sich täglich an und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten den Küsten Europas abspielt, muss ihre Grenze in dem der SPD) finden, was unser Dasein als Menschen ausmacht: in Es wurde schon gesagt: In wenigen Wochen wird das Mitmenschlichkeit, in Achtung voreinander und in ei- Programm Mare Nostrum eingestellt, weil es die euro- nem Minimum an Respekt vor dem Leben jedes einzel- päischen Staaten nicht über das Herz brachten, dieses nen Menschen. Programm zu finanzieren. Im Gegenteil: Auch auf Be- Danke schön. treiben der Bundesregierung haben sich die Staaten da- für eingesetzt, dass Mare Nostrum eingestellt wird. Da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für hat die EU – auch das wurde schon erwähnt – die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Frontex-Mission „Triton“ ins Leben gerufen, die vor we- GRÜNEN) nigen Tagen anlief und Mare Nostrum zwar zeitlich ab- (B) löst, aber ganz bestimmt nicht in dem Ziel, Menschenle- (D) Vizepräsident Peter Hintze: ben im Mittelmeer zu retten. Das geht auch gar nicht; Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- denn Triton steht nur ein Drittel der finanziellen Res- ordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. sourcen zur Verfügung. Im Gegensatz zur italienischen Marine, die auch auf hoher See gerettet hat, überwacht Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Triton lediglich einen Küstenstreifen. Damit ist die Ret- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tung von Flüchtlingen auf hoher See leider nicht gewähr- Verehrter Kollege Bosbach, ich muss zwei Punkte in Ih- leistet. Deshalb frage ich mich ernsthaft: Wer soll diese rer Rede klarstellen. Der eine Punkt ist, dass der vorlie- Aufgabe in Zukunft übernehmen? gende Antrag nur von der Linken und nicht von uns Grü- Italien hat dieses Jahr 112 Millionen Euro in die nen ist, wie Sie gesagt haben. Der andere Punkt ist, dass Flüchtlingsrettung investiert, und das Einzige, was uns wir mitnichten irgendjemandem in den Kommunen un- dazu einfällt, ist, nackte Zahlen gegeneinanderzustellen terstellt haben, rassistisch zu sein, nur weil er deutlich und uns dafür zu feiern, dass wir mehr Flüchtlinge auf- macht, dass die derzeitige Situation in den Kommunen nehmen als Italien oder Portugal. Wir sind die viert- schlichtweg nur noch mit „Überforderung“ zu beschrei- stärkste Wirtschaftsnation in der Welt. Wir haben mit ben ist. dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wan- Deshalb haben wir als Grünenfraktion gesagt: Wir del, der ganze Gegenden aussterben lässt, zu kämpfen. wollen einen nationalen Asylgipfel, bei dem die Interes- Aber bei der Flüchtlingsaufnahme machen wir eine zah- sen des Bundes, der Länder und der Kommunen harmo- lenmäßige Spitz-auf-Knopf-Abrechnung mit Ländern nisiert werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, wie Bulgarien und Portugal. Ich finde nicht, dass uns das diesen Gipfel vorzubereiten. Es muss auch um eine stär- gut steht. kere finanzielle Beteiligung des Bundes und eine Entlas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung der Kommunen gehen. All diese Punkte haben wir und bei der LINKEN) angeführt. Auch heute Nachmittag bei der Debatte um das Thema Unterbringung von Flüchtlingen gehen wir Inhaltlich ist festzustellen: Wir haben zu Triton nach- auf die Kommunen zu und sagen: Ja, in bestimmten gefragt und sind erst einmal davon ausgegangen, dass Ausnahmefällen muss es möglich sein, Flüchtlinge in ei- diese Mission tatsächlich ein Ersatz für Mare Nostrum nem Gewerbegebiet unterzubringen, wenn gewisse Stan- ist. Uns wurde aber relativ schnell klar, dass dies kein dards erfüllt werden. Da können Sie uns nicht vorwer- Ersatz dafür ist. Das Kuriose ist, dass die Bundesregie- fen, dass wir uns der Debatte verweigern. rung der Frontex-Mission Triton zugestimmt hat und im 5838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Luise Amtsberg (A) Nachgang dazu in den Ausschüssen, aber auch im Ple- möglichkeiten und einer anderen Verteilung innerhalb (C) num nicht in der Lage war, unsere Fragen dazu zu beant- Europas. worten: Welche konkreten Aufgaben wird Triton haben? Wie hoch ist die finanzielle Beteiligung der Bundesrepu- Wir haben Vorschläge gemacht. Unser Wunsch ist es, blik? Wie gedenkt man, die Mission menschenrechts- darüber zu einem Austausch zu kommen. Wir sind nicht konform zu gestalten, wenn jetzt schon klar ist, dass eine mit der Linken einer Meinung, wenn sie einfach fordert, ihrer Aufgaben sein wird, Flüchtlingen bereits an Bord Frontex bzw. den Grenzschutz abzuschaffen, weil das Fingerabdrücke abzunehmen, und zwar im Zweifel auch eine unrealistische Forderung ist. Aber man kann Grenz- gegen ihren Willen? schutz auch menschenrechtskonform gestalten, und das muss unsere Aufgabe sein. Bitte lasst uns uns in die Alles, was Sie auf diese vielen Fragen entgegnen kön- Mitte bewegen und endlich daran arbeiten. nen, ist die zynische Rationalisierung des eigenen Versa- gens, Menschenleben zu retten. Das wird aus den Reihen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Union ganz deutlich. So wollen Sie die Abschaffung von Mare Nostrum, weil es angeblich Wasser auf die Vizepräsident Peter Hintze: Mühlen der Schleuser ist. Was Schleusern aber tatsäch- Als Nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten lich zugutekommt, sind abgeschottete Land- und See- Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion. grenzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nina Warken (CDU/CSU): Das ist auch absolut klar. Denn je schwieriger es für Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen wird, an den Zäunen vorbei über das Mittel- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der meer zu gelangen, desto lukrativer wird das Geschäft für Linken, um den es in der heutigen Debatte geht, blendet diejenigen, die es betreiben, und desto gefährlicher und sämtliche Fortschritte der europäischen Asylpolitik aus, teurer wird es für die, die es in Anspruch nehmen müs- die in jüngster Vergangenheit erzielt wurden. Dazu zäh- sen. Ich sage bewusst „müssen“, weil es kaum Möglich- len die Schaffung von gemeinsamen Standards für eine keiten gibt, legal in die Europäische Union einzureisen, menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von um hier Schutz zu beantragen. Asylbewerbern in Europa sowie Maßnahmen zur Besei- Man kann es noch plastischer machen. Unser Innen- tigung von Fluchtursachen und zur Bekämpfung von minister hat seine Amtskollegen überzeugt, Libyen beim Schleuserkriminalität. (B) Aufbau eines Grenzsystems zu unterstützen – welche Gefordert werden von den Linken stattdessen die (D) Staatlichkeit gibt es dort eigentlich? –, obwohl man Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex, die Einfüh- weiß, dass die libyschen Grenzbeamten schon seit lan- rung eines sogenannten humanitären Visums, sodass gem mit Schleusern zusammenarbeiten. Aber Mare Nos- Asylbewerber ihr Aufnahmeland frei wählen können, trum soll Wasser auf die Mühlen von Schleusern sein? sowie ein Freizügigkeitsrecht für alle Asylberechtigten Das ist eine Verdrehung von Tatsachen. innerhalb der EU. Die Annahme dieser Forderungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN würde nicht nur die Fortschritte der europäischen Asyl- und bei der LINKEN) politik zunichtemachen, sondern sie wäre auch keine Lö- sung für die Situation im Mittelmeer und damit ein völ- lig falsches Signal. Vizepräsident Peter Hintze: Denken Sie bitte an die Redezeit, Frau Kollegin. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) haben sie schon überschritten. Die Auflösung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex würde das Ende jeglicher Grenz- und Migra- Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tionskontrolle bedeuten, was im Hinblick auf illegale Ein- Ich komme zum Schluss. – Lassen Sie mich noch reisen, Menschenhandel und Drogenkriminalität schlicht- zwei Punkte ansprechen. Sie haben immer betont, dass weg eine Katastrophe wäre, ganz zu schweigen von den man Menschen vor Ort helfen und die Situation in den zurückkehrenden Dschihadisten. Heimatländern verändern muss. Auch das ist richtig, aber dann frage ich mich, warum die humanitäre Hilfe so Mit der Einführung eines sogenannten humanitären drastisch gekürzt wird, Visums könnte jeder, der auch nur vorgibt, schutzbedürf- tig zu sein, problemlos in die EU einreisen. Die Folge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für uns in Deutschland wäre eine Vielzahl von Personen, dass das Welternährungsprogramm seine Programme in denen unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht Syrien um 40 Prozent kürzen muss. Das fehlt den Men- in der EU zusteht. Auch sie landen letztlich in unserem schen vor Ort. Asylsystem, wo sie die Kapazitäten in Anspruch neh- men, die eigentlich für Menschen gedacht sind, die in ih- Ich sage abschließend noch etwas zu unserem Ab- rer Heimat systematisch verfolgt werden und die tatsäch- stimmungsverhalten. Auch wir haben nicht auf alles eine lich jeden Tag um ihr Überleben bangen müssen. Auch Antwort. Aber wir wollen konstruktiv an Lösungen ar- die Bundeskanzlerin hat in diesem Zusammenhang am beiten, Herr Bosbach, auch in der Frage legaler Einreise- vergangenen Wochenende betont, es sei weniger christ- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5839

Nina Warken (A) lich, „wenn wir zu viele aufnehmen und dann keinen (Beifall bei der CDU/CSU) (C) Platz mehr finden für die, die wirklich verfolgt sind“. Die Linke spricht weiter von eklatanten Mängeln im (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Eine „tolle“ Argu- gemeinsamen europäischen Asylsystem, fordert die Ab- mentation!) schaffung des Dublin-Systems und stattdessen für jeden Eine Auflösung von Frontex und die Einführung ei- Asylbewerber die freie Wahl des Aufnahmestaates und nes sogenannten humanitären Visums würden das schon ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU. heute vorhandene Problem des Asylmissbrauchs noch (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Eine gute verstärken. Leittragende wären dann in erster Linie die Forderung!) tatsächlich Schutzbedürftigen. Auch diese Forderungen, liebe Kolleginnen und Kolle- Hinzu kommt die Situation in unseren Kommunen. Es gen von der Linken, gehen völlig an der Realität vorbei; ist leicht, die Aufnahme von mehr und mehr Menschen denn das Problem sind nicht – damit möchte ich zum zu fordern, wenn man sich keinerlei Gedanken darüber Ende kommen – die bestehenden gemeinsamen Rege- macht, wie die Konsequenzen vor Ort aussehen. Die Be- lungen und Standards, sondern deren Umsetzung durch richte aus unseren Landkreisen, Städten und Gemeinden alle Mitgliedstaaten. Es kann doch nicht sein, dass von sind schon jetzt alarmierend und häufen sich. Bei den 28 EU-Mitgliedstaaten nur 10 überhaupt Asylbewerber Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen stehen viele aufnehmen. Hierunter sind es gerade die nördlichen Mit- Landkreise schon heute – ich zitiere mehrere Landräte – gliedstaaten – allen voran Deutschland –, wohin die „mit dem Rücken zur Wand“. Daher dürfen wir die Fol- Asylsuchenden gezielt weiterreisen. gen, die eine Annahme des Antrags der Linken hätte, un- seren ohnehin mit der Unterbringung und Versorgung Die freie Wahl des Aufnahmelandes und die Freizü- überforderten Kommunen nicht zumuten. gigkeit innerhalb der EU würden diesen Effekt der ein- Noch, meine Damen und Herren, noch herrscht bei seitigen Belastung einzelner Länder verstärken. Die uns in der Bevölkerung weitestgehend Solidarität mit Folge wäre, dass in einem solchen Fall die Hauptaufnah- den Flüchtlingen, die zu uns kommen. Das ist gut so; meländer die Standards ihrer Asylsysteme deutlich redu- denn das ist wichtig. Auch ohne den Antrag der Linken zieren werden, um weniger Asylbewerber aufnehmen zu müssen wir leider davon ausgehen, dass der Flüchtlings- müssen. Es würde hier zu einem fatalen Abwärtswettlauf strom durch die vielen gewaltsamen Konflikte weltweit kommen. Dies wäre weder im Sinne einer gemeinsamen nicht so schnell abreißen wird. Wenn wir aber diese Soli- europäischen Asylpolitik noch im Sinne der Betroffe- darität nicht gefährden wollen, dann muss die Politik be- nen. rechenbar und verlässlich bleiben. Dazu gehört auch, Für ein gerechtes Asylsystem brauchen wir wirksame (B) dass wir gewährleisten, dass bei abgelehnten Asylbewer- Grenzkontrollen, um die tatsächlich Schutzbedürftigen (D) bern der Aufenthalt zügig beendet wird. zu identifizieren und gleichzeitig zügig diejenigen in Der Antrag der Linken verfehlt das eigentliche Ziel ihre Herkunftsländer zurückzuführen, denen kein Auf- einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik voll- enthaltsrecht in Europa zusteht. kommen. Es kann uns doch nicht darum gehen, so viele Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag, der in die völ- Flüchtlinge wie möglich nach Europa zu holen. Stattdes- lig falsche Richtung geht, mit breiter Mehrheit ablehnen sen sollten wir uns darum bemühen, dass wir durch eine und damit dem Bundesinnenminister bei seiner Initiative verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und auf europäischer Ebene für eine bessere Kontrolle der Transitstaaten die Fluchtursachen durch die Verbesse- EU-Außengrenzen, für die Einhaltung der vereinbarten rung der Bedingungen vor Ort beseitigen. Regeln des gemeinsamen Asylsystems, für die Bekämp- (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel so- NEN]: Was machen Sie da?) wie für eine bessere Verzahnung der europäischen Au- ßen-, Flüchtlings- und Entwicklungspolitik gegenüber Beschlossene Maßnahmen wie die zusätzlichen Hilfs- den Herkunfts- und Transitländern den Rücken stärken. mittel von rund 640 Millionen Euro für die Anrainerstaa- ten Syriens, in denen viele Flüchtlinge Schutz gefunden Vielen Dank. haben, sind hier der richtige Weg. Nur so packen wir im Endeffekt das Problem bei der Wurzel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Die ganze Absurdität sieht man schon daran, dass in dem vorliegenden Antrag von „humanitär handelnden Fluchthelfern“ gesprochen wird. Das ist in meinen Au- Vizepräsident Peter Hintze: gen geradezu zynisch. Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- ordneten Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU) Denn die Schleuser handeln keineswegs aus humanitä- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren Gründen, sondern aus reiner Profitgier. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es gibt solche und Herren! Herr Bosbach – er ist jetzt schon nicht mehr da – solche! Das sollten Sie eigentlich wissen!) hat vorhin gesagt Wer das nicht sieht oder nicht sehen will, kann in der (Max Straubinger [CDU/CSU]: Er kommt Asylpolitik nicht ernst genommen werden. gleich wieder!) 5840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Tom Koenigs (A) – na wunderbar –: Die Tragödie im Mittelmeer muss Mittelmeer beenden, wenn wir uns schon nicht trauen, (C) aufhören; das ist hier Konsens. – Das müsste auch Kon- irgendetwas an dem heiligen, alternativlosen Unwort des sens sein, ist es aber nicht. Sie reden so – auch Frau Jahres „Dublin-System“ zu ändern, dann sollten wir we- Kampmann hat so geredet –, als wären Sie nicht in der nigstens die Nachbarstaaten der Krisenherde, die anders Regierung. Die Italiener haben mit der Aktion Mare herangehen, großzügig durch humanitäre Hilfe unter- Nostrum etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unter- stützen und nicht die entsprechenden Haushaltstitel kür- nommen. Sie haben gesagt, dass sie europäische Hilfe zen bzw. schmälern. brauchen; aber diese europäische Hilfe haben sie nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bekommen. Jetzt sagt Herr Bosbach: Europa muss sich kümmern. – Ja, die Mitgliedstaaten müssen sich küm- Hier ist eine Führungsrolle angesagt. Wenn wir eine mern und sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen. solche einnehmen wollen, wie es der Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und der Außenminister im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer wieder sagen, dann sage ich: Bei den Flüchtlingen und bei der LINKEN) könnten wir anfangen. Wo war denn die deutsche Initiative, um die Dublin-Re- Vielen Dank. geln abzuschaffen oder zu verbessern, Frau Kampmann? Das lag offenbar nicht im Interesse der deutschen Vertre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie tung, und da wird dann nichts gemacht. Genau das ist des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) das Problem. Und dann wird Frontex Plus erfunden. Als Ersatz für Vizepräsident Peter Hintze: Mare Nostrum. Frontex ist in der Tat ein bürokratisches Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- Monster. Dagegen tun Sie nichts. Das ist ein technisches, ordneten Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. bürokratisches, militärisches Verfahren, das gleichzeitig (Beifall bei der SPD) die Flüchtlinge abschrecken und retten soll. Das geht nicht, und das wissen Sie. Dr. Karamba Diaby (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Montag hat es der Generaldirektor Ja, wir brauchen eine europäische Antwort; denn die Au- der Internationalen Organisation für Migration, IOM, ßengrenzen Europas liegen in europäischer Verantwor- wieder gesagt: Keine Grenzschutzmission wird die tung. Als Menschenrechtspolitiker sage ich: Es besteht Flüchtlinge dieser humanitären Katastrophen in der Welt Handlungsbedarf. Daher freue ich mich, dass wir heute (B) aufhalten. Angesichts solcher Notlagen wie in Syrien, (D) über europäische Flüchtlingspolitik diskutieren. wie in Somalia, wie in Eritrea und wie im Irak wird es keinen geben, der diese Flüchtlinge aufhält. Es ist eine Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr An- Illusion, zu glauben, irgendjemanden abschrecken zu trag enthält mehrere Vorschläge, die zur Verbesserung wollen oder zu können. der europäischen Flüchtlingspolitik beitragen können. Die Gemeinsamkeiten hat heute meine Kollegin der SPD Deshalb stimmt es einfach nicht, dass Dublin II alter- Christina Kampmann und haben in der ersten Lesung nativlos ist. Kein bisschen! Meine Damen und Herren mein SPD-Kollege Rüdiger Veit und meine SPD-Kolle- von der CDU/CSU, aber auch von der SPD, Sie sollten gin Sabine Bätzing-Lichtenthäler deutlich gemacht. Be- nicht glauben, dass das, was wir da machen, nur auf die züglich der Probleme und des Handlungsbedarfs besteht Flüchtlinge wirkt. Das wirkt auch auf uns, das wirkt ohne Zweifel über alle Fraktionen hinweg Einigkeit. Das auch auf die Bürgerinnen und Bürger der EU. Wo blei- Ziel einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik ben wir denn mit unserem Glauben an die europäischen teilen wir alle hier im Hause. Werte, mit unserem Glauben an die Menschenrechte? Wir, die SPD-Fraktion, sind aber anderer Auffassung, Triton ist nicht billig, Triton ist sehr teuer und kostet was die Lösung dieser Probleme angeht. Der Antrag der mehr als Geld. Wir können uns doch ein Beispiel an den Linken enthält neben einigen guten Ansätzen auch Vor- Nachbarländern der Krisenherde nehmen. Die haben die schläge, die das Ziel verfehlen, wie beispielsweise die Grenzen nicht zugemacht. Libanon hat die Grenzen Forderung zur Abschaffung von Frontex. Sie stehen al- nicht zugemacht, auch Irak macht die Grenzen nicht zu, leine mit dieser Forderung. Jordanien macht die Grenzen nicht zu. Auch in der schlimmsten Zeit haben Tunesien und Ägypten die (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nur hier! Außer- Grenzen nicht zugemacht, obwohl dort ganz andere Zah- halb des Parlaments stehen wir damit nicht al- len von Flüchtlingen zu verzeichnen waren und obwohl leine!) diese Länder unter ganz anderen Verhältnissen Flücht- Schließlich hat Frontex im Auftrag der EU eine wichtige linge aufnehmen müssen. Daran sollten wir uns ein Bei- ordnungspolitische Funktion. Daher unterstützt meine spiel nehmen. Fraktion Ihren Antrag nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lassen Sie mich nun zu den diskussionswürdigen An- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sätzen kommen. Wir brauchen für in Europa Asylsu- Abschließend: Wenn wir schon so kleinmütig sind, chende Möglichkeiten der legalen und sicheren Einreise, dass wir keinen Konsens finden, wie wir das Sterben im damit sie nicht lebensgefährliche Wege gehen müssen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5841

Dr. Karamba Diaby (A) Ja, wir brauchen neben der Möglichkeit, als Hochqualifi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) zierte nach Deutschland zu kommen, auch andere legale der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Wege. Ob wir dafür nun ein humanitäres Visum, wie die GRÜNEN) Grünen es vorschlagen, brauchen oder ob wir andere Wege gehen müssen, ist noch offen. Wir alle wissen: Nur ein Bruchteil der Rückführungen von Flüchtlingen kann stattfinden; denn noch immer gibt (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen NEN]: Man kann es auch anders nennen! Kein in den europäischen Grenzstaaten. Hier spreche ich vor Problem!) allem von Griechenland und Italien; das ist nicht neu. Die Richtung stimmt aber. Im Gespräch zwischen dem Gerade erst hat der Europäische Gerichtshof für Men- Bundesinnenminister und dem Generaldirektor der Inter- schenrechte geurteilt, dass Flüchtlinge nur dann nach nationalen Organisation für Migration kam die Frage Italien zurückgeschickt werden dürfen, wenn das Land auf, ob es möglich sei, ein Willkommenszentrum in eine menschenrechtskonforme Unterbringung und So- Nordafrika aufzubauen. Das ist keine neue Idee. Die zialleistungen gewährleistet. Vorschläge zeigen aber, werte Kolleginnen und Kolle- (Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜND- gen, dass wir gemeinsam ernsthaft und konstruktiv an NIS 90/DIE GRÜNEN]) Möglichkeiten der legalen Einreise Asylsuchender arbei- ten müssen. Dieses Urteil wird weitreichende Konsequenzen haben: für das italienische und das europäische Asylsystem. Damit komme ich zum Aspekt der Verantwortungs- Das Urteil legt den Finger in die Wunde. teilung innerhalb der Europäischen Union. Das Dublin- System ist dringend reformbedürftig; darin sind wir uns Nächster Aspekt, meine Damen und Herren: Das fast alle einig. Wir brauchen eine Flexibilisierung, um deutsche Resettlement-Programm für Flüchtlinge aus die Verantwortung für die Flüchtlinge fair und solida- dem syrischen Krisengebiet ist gut. Die Bundesländer risch in der Europäischen Union zu teilen. Bislang trägt und der Bund haben in gemeinsamer Anstrengung mehr Deutschland einen Löwenanteil, und das ist gut so. Auch als 20 000 Flüchtlinge zusätzlich zu den normalen Asyl- die anderen europäischen Länder müssen ihrer Verant- verfahren aufgenommen, und das ist gut so. Ralf Jäger, wortung nachkommen. Vorsitzender der Innenministerkonferenz, hat recht, wenn er sagt: Wir kennen die Vorschläge, wie eine solidarische Ver- antwortungsteilung in Europa aussehen könnte. Dabei Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brau- können ähnlich dem Königsteiner Schlüssel Quoten für chen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmepro- jedes Mitgliedsland berechnet werden. Die Einwohner- gramm, das den Menschen schnell und wirksam (B) (D) zahl, die Wirtschaftskraft, teilweise auch die Flächen- hilft. größe und die Arbeitslosenquote werden einbezogen. Den Appell von dort möchte ich wiederholen: Dabei dürfen wir die Erfahrung der Länder mit Vielfalt und Einwanderung nicht vergessen. Auch die anderen europäischen Länder sollten sich stärker für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge enga- Neben angemessenen Quoten für die europäischen gieren. Staaten dürfen wir die Wünsche der Flüchtlinge nicht ignorieren. Aspekte wie Verwandtschaftsbeziehungen, Der Bürgerkrieg in Syrien, meine Damen und Herren, ist Sprachkompetenzen und Ähnliches erleichtern die Teil- eine der größten humanitären Krisen unserer Zeit. habe und Integration vor Ort. Auch das sollte in diesem Prozess berücksichtigt werden. Syriens Nachbarstaaten bieten Flüchtlingen in bemer- kenswerter Zahl Schutz und vorübergehend Heimat. Da- Wir brauchen natürlich auch vergleichbare Standards für brauchen sie unsere Unterstützung. in allen europäischen Ländern, was die Verfahren angeht – das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesagt –, angefangen bei der Registrierung über die Ver- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE fahrensdauer bis hin zu den Schutzquoten. So wie es GRÜNEN) jetzt ist, darf es nicht bleiben: Daher ist es gut, dass wir bislang etwa 130 Millionen (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] Euro an humanitärer Hilfe leisten und perspektivisch und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 500 Millionen Euro insgesamt in den nächsten drei Jah- NEN]) ren für die Region bereitstellen. unterschiedliche Schutzquoten, je nachdem, wo der Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich Asylantrag gestellt werden kann, wohlgemerkt bei glei- Danke sagen. Ich freue mich über die große Hilfsbereit- chen Herkunftsländern. schaft in Deutschland. Es gibt unzählige Ehrenamtliche, die Verantwortung übernehmen und den traumatisierten Wir dürfen in Europa keine Anreize für die Mitglied- Flüchtlingen das Ankommen erleichtern. Ich möchte ih- staaten schaffen, ihre Standards in der Asylpolitik zu nen danken. senken. Ansonsten wird der Druck auf die Länder stei- gen, die ein hohes Niveau an Schutzquoten und Sozial- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten standards bieten, und das ist nicht mein Verständnis von der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE einem solidarischen Europa. GRÜNEN) 5842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsident Peter Hintze: Der UNO-Flüchtlingskommissar Guterres lobte (C) Das wäre an sich ein sehr schöner Schluss, Herr Kol- Deutschland kürzlich – ich zitiere ihn –: lege, zumal die Zeit schon weit überschritten ist. Deutschland spielt eine führende Rolle beim Flüchtlingsschutz und dient als positives Beispiel, Dr. Karamba Diaby (SPD): dem andere europäische Staaten folgen können. Mein letzter Satz, Herr Präsident. – Wir in diesem Hause können zwar politische Rahmenbedingungen set- (Beifall bei der CDU/CSU) zen; das Miteinander lebt aber von der aktiven Bürgerge- Das sagen nicht wir, das sagt nicht die Bundesregierung. sellschaft. Danke schön. Vizepräsident Peter Hintze: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Frau Kollegin, Kollege Liebich von der Fraktion Die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Linke möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Mögen GRÜNEN) Sie sie zulassen, oder möchten Sie weitersprechen?

Vizepräsident Peter Hintze: Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ab und zu ein Blick auf die Zeit, das wäre solidarisch Bitte. mit allen Anwesenden. Vizepräsident Peter Hintze: Ich rufe als nächste Rednerin die Kollegin Andrea Herr Abgeordneter Liebich. Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, auf.

(Beifall bei der CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE): Vielen Dank. – Frau Kollegin, dass Sie uns nicht recht Andrea Lindholz (CDU/CSU): geben, ist sehr bedauerlich. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nach- Damen und Herren! Das Grundanliegen des vorliegen- vollziehbar!) den Antrags ist absolut richtig: Das Sterben im Mittel- meer muss beendet werden. Trotzdem lehne ich den Deswegen möchte ich auf eine Äußerung einer Ihrer Antrag ab; denn er basiert auf einer falschen Problem- Kolleginnen verweisen. Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl analyse, er ignoriert die tatsächlichen Fluchtursachen, hat kürzlich ein Flüchtlingslager in Nürnberg besucht. und er zieht kurzsichtige Schlussfolgerungen. (B) Sie hat gesagt, sie schäme sich für die Politik der Bayeri- (D) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schen Staatsregierung, weil die Bayerische Staatsregie- Dann machen Sie es doch besser!) rung nicht rechtzeitig verantwortungsbewusst gehandelt habe. Ein Großteil der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa strömen, stammt aus Syrien und Eritrea. Am Mittwoch war Bundesentwicklungsminister Gerd Aus diesen Ländern stammt ein Drittel der Asylanträge Müller im Auswärtigen Ausschuss zu Gast. Auch er hat in Deutschland. Die Menschen fliehen vor Krieg, vor gesagt, Deutschland müsse mehr tun. Er hat auf eine dem IS-Terror, vor Diktatoren wie Assad in Syrien und Stadt in Jordanien verwiesen, die er kürzlich besucht hat, Afewerki in Eritrea. Diese zentralen Fluchtursachen er- die 60 000 Einwohner hat und 100 000 Flüchtlinge auf- wähnt der Antrag aber mit keinem Wort. Stattdessen genommen hat. werden der Freihandel, die EU und vor allen Dingen die Wenn Sie also unsere Vorschläge nicht teilen, dann Bundesregierung als Problem hingestellt. Diese Problem- möchte ich gerne wissen, was Sie auf diese Hinweise hin analyse des Antrags kann nur zu falschen Schlussfolge- tun möchten. rungen führen. (Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]: So Andrea Lindholz (CDU/CSU): ist es!) Sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich Ihnen dazu ant- worten darf: Mit Blick darauf, was unsere bayerischen In diesem Jahr werden voraussichtlich über Kommunen derzeit leisten – und als ehemalige stellver- 200 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Die Schutz- tretende Landrätin weiß ich das –, kann ich Ihnen nur quote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge be- sagen: Bayern tut viel, und Bayern tut mehr als alle an- trägt derzeit fast 30 Prozent. Angesichts dieser Fakten deren Bundesländer. wirkt der Vorwurf einer Abschottungspolitik in Deutsch- land absurd. Allein 60 000 Flüchtlinge aus Syrien wur- (Lachen des Abg. Tom Koenigs [BÜND- den bereits aufgenommen, Tendenz stark steigend. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Bundesregierung engagiert sich zudem massiv Dieser massive Zustrom, der insbesondere auch da- mit Blick auf die Fluchtursachen vor Ort. Deutschland durch bedingt ist, dass die Flüchtlinge von Italien unge- hat allein in den letzten zwei Jahren 635 Millionen Euro hindert nach Bayern durchgewunken werden, war so bereitgestellt, um die Flüchtlingskrise rund um Syrien nicht absehbar. Nichtsdestotrotz gab es Missstände, die einzudämmen. Weitere 500 Millionen Euro wurden zu- eingeräumt wurden, die aber auch ausgeräumt werden. gesagt. Wir in Bayern tun sehr viel für die Flüchtlinge. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5843

Andrea Lindholz (A) (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber was oder können Sie bestätigen, dass die Bayerische Staats- (C) denn?) regierung im Gegensatz zur Landesregierung in Nord- rhein-Westfalen die Kommunen nicht hängen lässt, – Ich habe es gerade dargestellt. Es geht nicht einfach nur darum, die Menschen vor Ort unterzubringen; es (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht zum Beispiel auch darum, die Kinder einzuschulen. sondern deren Kosten voll übernimmt? Die Menschen werden bei uns in Bayern aufgenommen und ordnungsgemäß untergebracht, und zwar in vielen bayerischen Kommunen. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Lieber Kollege Straubinger, ich habe in meiner Ant- Wenn Sie hier sagen, die bayerische Politik wäre ver- wort gerade schon versucht, zu sagen, dass Bayern mehr antwortungslos hinsichtlich der Aufnahme von Flücht- tut als viele andere. Ich hoffe, dass auch andere Länder, lingen, in denen noch Defizite bestehen, nachziehen. Aber es (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Frau Wöhrl hat geht heute meines Erachtens nicht darum, irgendwelche das gesagt!) Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern darum, uns der Lösung der Probleme zu widmen. dann weise ich das mit aller Entschiedenheit zurück. Ich merke, jetzt rennt mir die Redezeit davon. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fahre jetzt mit meiner Rede fort. Das ist ein Schlag gegen alle ehrenamtlichen Helfer, alle Bürgermeister, alle Landräte, alle Stadträte und alle, die Vizepräsident Peter Hintze: mit dieser Problematik befasst sind. Frau Kollegin, ich hatte vergessen, die Uhr anzuhal- ten. Sie bekommen für Straubinger gleich noch eine Mi- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war Frau nute extra. Wöhrl!) (Heiterkeit) Ich stehe heute für die CSU hier, die Sie angegriffen haben. Ich nehme das, was Dagmar Wöhrl gesagt hat, Andrea Lindholz (CDU/CSU): zur Kenntnis. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Mängel, Ich möchte an dieser Stelle das Lob und den Dank des die es in Bayern gab, abgestellt wurden bzw. noch wer- UNO-Flüchtlingskommissars, den ich gerade zitiert den. Ich hoffe, dass das auch in allen anderen Bundes- habe, an die Menschen vor Ort weitergeben, an die Hel- ländern der Fall ist. fer in den Flüchtlingslagern, aber auch bei uns in den Kommunen, an die Organisationen und vor allem auch (B) Zu Ihrer zweiten Bemerkung, zu Herrn Müller: Ich (D) weiß, dass wir noch mehr tun müssen. Aber vielleicht an die vielen ehrenamtlich Engagierten. lassen Sie mich meine Rede erst einmal zu Ende brin- Es ist eine großartige Leistung, die die Menschen in gen. Deutschland derzeit vollbringen. Es ist unsere Aufgabe, (Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg die Akzeptanz für unser Asylsystem und diese überwäl- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die tigende Hilfsbereitschaft der Menschen zu erhalten, um Antwort?) anderen am rechten Rand keine Chance zu geben. Wir müssen daher alles daransetzen, damit unsere Kräfte nicht überstrapaziert werden. Es geht, sehr geehrte Kol- Vizepräsident Peter Hintze: leginnen und Kollegen von der Linken, nicht nur darum, Noch eine Zwischenfrage, eine Zwischenfrage des einfach Menschen in einer großen Vielzahl zu uns zu ho- Kollegen Max Straubinger. len, sondern es geht auch um eine gute Versorgung und (Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] erhebt Unterbringung vor Ort. Dazu gehört mehr als ein Dach sich) über dem Kopf. Dazu gehören Beschulung, Integration, Sprachkurse und vieles mehr. – Moment, wir müssen erst fragen, ob sie sie zulässt. (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sprachkurse, ganz genau!) Andrea Lindholz (CDU/CSU): Ja, ich lasse sie zu. Ihr Antrag fordert, Europa solle die Steuerung von Mi- gration aufgeben, seine Grenzen öffnen und jedem ein Visum gewähren. Das können wir nicht leisten. Die Vizepräsident Peter Hintze: Fluchtursachen würden damit auch nicht behoben. Das weiß man unter Parteifreunden nicht immer. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit) Es gibt heute so viele Flüchtlinge auf der Welt wie Bitte schön. seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die UN rechnen mit über 50 Millionen Vertriebenen. Europa verspricht Max Straubinger (CDU/CSU): den Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Na- Frau Kollegin Lindholz, würden Sie bestätigen türlich versuchen daher viele, zu uns zu kommen. Die italienische Marine hat laut der Internationalen Organi- (Heiterkeit bei der SPD) sation für Migration innerhalb eines Jahres rund 150 000 5844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Andrea Lindholz (A) Flüchtlinge mit militärischen Mitteln gerettet. Im glei- festlegt. Erst dann kann, liebe Kolleginnen und Kolle- (C) chen Zeitraum wurden aber auch 3 200 Todesfälle regis- gen, die es schon angesprochen haben, ein notwendiges triert. Das sind fünfmal so viele Fälle wie im Jahr vor europäisches Quotensystem installiert werden, an dem Mare Nostrum. Auch diese Mission konnte das Sterben sich alle EU-Staaten solidarisch beteiligen müssen. nicht verhindern. Deutschland hat bereits Sonderprogramme für syri- (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche Flüchtlinge aufgelegt. Diesem Beispiel sollte NEN]: Und deshalb stellen wir sie ein?) Europa endlich folgen. Mit der EU-Richtlinie zum vo- rübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms Laut Frontex steigen allein in Libyen jede Woche bis von Vertriebenen gibt es dafür in Europa bereits eine zu 4 000 Flüchtlinge in ein Boot nach Europa. Eine flä- Rechtsgrundlage. Alle EU-Staaten müssen sich der lang- chendeckende Überwachung ist trotz der militärischen fristigen Folgen der Fluchtursachen bewusst werden und Mittel von Mare Nostrum angesichts der riesigen Fläche den Sinn eines praxistauglichen europäischen Asylsys- nicht möglich. Mare Nostrum wird zurückgefahren, und tems anerkennen. Deutschland alleine als mahnende wir müssen genau beobachten, ob Frontex im Rahmen Stimme reicht hierfür nicht aus. Die komplette Auflö- der Mission Triton unsere humanitären Verpflichtungen sung der bestehenden Regelungen des Asylsystems, sehr auf dem Mittelmeer erfüllen kann. Können sie nicht er- geehrte Damen und Herren von der Linken, wie sie Ihr füllt werden, müssen wir meines Erachtens nachsteuern. Antrag fordert, bietet keine Lösung. Sie wäre ein klarer Letztendlich kann das Sterben auf dem Mittelmeer Rückschritt. aber nur beendet werden, wenn wir verhindern, dass die Menschen überhaupt in Boote steigen. Dabei stellen sich Vielen Dank. für uns drei zentrale Herausforderungen: (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens müssen wir Transitländer wie Libyen und Ägypten unterstützen, um den menschenverachtenden Vizepräsident Peter Hintze: Schleuserbanden das Handwerk zu legen. Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Abgeordneten Frank Heinrich, CDU/ (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da geht es ja auch CSU-Fraktion. so menschlich zu!) (Beifall bei der CDU/CSU) Der italienischen Marine fehlen die dafür notwendigen polizeilichen Befugnisse, die Frontex hat. Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): Zweitens muss Europa seine Mittel stärker bündeln, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) um die Fluchtursachen effektiver zu bekämpfen. Unsere Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen es (D) Innenpolitik muss stärker mit der Außen- und Entwick- unterstützen, dass in dieser Debatte, die eine innenpoliti- lungspolitik der EU verknüpft werden. Die EU ist mit sche Debatte ist, auch die menschenrechtlichen Aspekte Abstand der weltweit größte Geldgeber bei der Entwick- eine große Rolle spielen. Die letzte Stunde hat das sehr lungshilfe. Ein gezielter Einsatz dieser Mittel kann deutlich gemacht. substanziell zur Stabilisierung der Anrainerstaaten, wie zum Beispiel Libanon, beitragen; denn die meisten dort Ich habe ein Symbol mitgebracht, ein Symbol für untergekommenen Flüchtlinge wollen zurück in ihre mich: ein Liederbuch aus dem Norden Nigerias. Vor Heimat, sobald es ihnen möglich ist. 14 Tagen fand ich es in einer zerstörten Kirche in einem zerstörten Dorf in einem Haufen von Müll. Die Bewoh- Drittens muss endlich die Blockade im europäischen ner wurden am 24. und 26. August vertrieben. Das letzte Asylsystem gelöst werden. Wir brauchen ein faires und Mal war dort Gottesdienst Ende August. solidarisches Asylsystem in Europa, das diesen Namen auch verdient. Es gibt dafür bereits alle erforderlichen Warum dieses Symbol und die Erinnerung an dieses Regelungen. Europa muss das bestehende Regelwerk Erlebnis? Es steht dafür, dass ganz viele Menschen – ei- nur richtig umsetzen und praxistauglich machen. nige Kollegen haben es gesagt – vor realen, lebens- bedrohlichen Gefahren auf der Flucht sind. In Nigeria ist Länder wie Italien und Griechenland fordern unsere es zumeist Binnenflucht; das ist nur ein Beispiel. Wir Unterstützung beim Schutz der Außengrenzen. Gleich- kennen die Folgen des IS und wissen von den vielen zeitig ignorieren sie aber zentrale Regeln des Asylsys- Vertriebenen. Wir wissen von den Krisen in anderen tems. Auf Deutschland entfallen heute über 30 Prozent Staaten. Herr Bosbach hat es gerade gesagt: Terror, bru- aller Asylanträge in Europa, während auf Italien trotz tale Verhältnisse, Tragödien, Dinge, die uns zum Weinen des großen Zustroms nur rund 10 Prozent entfallen. Wa- bringen müssen, sind Ursachen, warum sich Menschen rum ist das so? Italien ignoriert zum Beispiel zentrale auf den Weg, auch auf den Weg nach Europa, machen. Regeln und europäische Standards für die humanitäre Versorgung von Flüchtlingen. Das können und dürfen Eine humane und dem Grundgesetz entsprechende wir nicht zulassen. Flüchtlingspolitik darf Menschen allerdings nicht ein- fach unter den Generalverdacht stellen, dass sie Wirt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schaftsflüchtlinge seien. Humanität ist mehr, als nur Solidarität in der EU darf keine Einbahnstraße sein. Grenzen zu ziehen. Allerdings darf ein verantwortungs- Alle Flüchtlinge müssen direkt nach der Einreise in die voller Antrag – das geht an die Adresse der Linken, die EU registriert werden, so wie es die Dublin-Verordnung den Antrag eingebracht hat – auch nicht die EU oder die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5845

Frank Heinrich (Chemnitz) (A) Bundesrepublik einfach unter Generalverdacht stellen Aufstockung, Verifizierung und Ausweitung sind not- (C) und kritisieren, dass sie Ignoranz und Ablehnung an den wendig. Schleuserbanden muss das Handwerk mit all Tag legen würden. unseren Möglichkeiten gelegt werden. An dieser Stelle kann ich es nicht anders sagen: Es kommt mir hoch, (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was ist denn mit wenn ich höre, dass auf dem Rücken der Verletztesten in Mare Nostrum?) unserer Welt Geld gemacht wird und Sie diese Personen Das Wort „Massensterben“ in der Überschrift Ihres auch noch als Helfer bezeichnen. Antrages ist für mich billige Polemik, und das ist nicht Eine Vereinheitlichung der humanitären Standards, hilfreich für diejenigen, über die wir heute sprechen. etwa bei der Unterbringung und den Rechtsverfahren, Massen sterben in Kriegen und humanitären Katastro- halte ich für eine Selbstverständlichkeit. phen, zum Beispiel – das wurde gerade gesagt – in Syrien, im Norden des Iraks, in Liberia, in Zentralafrika Ich bin sehr nah bei Ihrem Vorschlag, liebe Kollegen und in vielen anderen Krisengebieten. Nicht die EU- von der SPD, eine feste EU-Quote für die Aufnahme von Politik, wie Sie es gesagt haben, Frau Jelpke, treibt die Flüchtlingen in Verbindung mit einem möglichen Fi- Menschen in den Tod. Ganz im Gegenteil: Die Hilfe für nanzausgleich einzuführen. Flüchtlinge rettet Leben. Darum werden wir den Antrag ablehnen: rein sach- Dennoch sind die Flüchtlingszahlen – wir haben es lich wegen der Polemik, die weit über das vernünftige gehört – gestiegen und werden angesichts der Weltlage Maß in einer Auseinandersetzung hinausgeht, und we- wahrscheinlich weiter steigen. Die italienische Regie- gen der unsinnigen Schuldzuweisungen darin, wegen der rung spricht von 150 000 Bootsflüchtlingen allein in die- Verknüpfung mit Kritik an der allgemeinen Wirtschafts- sem Jahr. Das Bootsunglück von Lampedusa im Oktober politik der Bundesrepublik, letzten Jahres, das schon angesprochen wurde, bei dem (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Schicken Sie keine 390 Tote zu beklagen waren, hat die Debatte ausgelöst. Waffen in die ganzen Krisenländer?) Auch aktuell gab es Meldungen bei Spiegel Online – Sie haben es wahrscheinlich verfolgt –: im Schwarzen Meer nicht zuletzt, weil wir der Abschaffung von Frontex Dutzende Flüchtlinge, 24 Leichen, einige davon Kinder. nicht zustimmen können, da dies die Sicherheit an den Am 10. September sind in der Nähe von Malta rund Grenzen tatsächlich beeinträchtigen würde, die gerade 500 Menschen ertrunken. Seit Jahresbeginn kamen je von mir emotional angesprochene Tätigkeit der Schleu- nach Schätzung 2 500 bis 3 000 Menschen bei ihrer ser eher begünstigen und eine Kontrollierbarkeit aus- Flucht über das Mittelmeer ums Leben. schließen würde. (B) Aber auch auf anderen Fluchtwegen sind Todesfälle Zum Ende noch einmal zum Symbol dieses Lieder- (D) zu verzeichnen, zum Beispiel auf den Wegen durch die buchs. Das vorrangige Ziel von Politik, auch bei uns, Sahara. muss sein, dass Menschen – in diesem Fall in Nigeria, aber auch in vielen anderen Ländern – in Frieden ihre Deshalb müssen wir – das haben alle betont – die Lieder singen und ihre Gebete sprechen können, sei es in Anstrengungen erhöhen. Jeder einzelne Tote an den einer Synagoge, in einer Moschee oder in einer Kirche. Grenzen der EU und auf dem Mittelmeer ist einer zu Dafür stehen wir unter anderem: für Humanität. Wir en- viel. Wir wollen und wir werden – einige Begründungen gagieren uns mit humanitärer Hilfe vor Ort und in der haben Sie schon gehört – unsere Verantwortung wahr- wirtschaftlichen Zusammenarbeit; Sie haben es genannt. nehmen. Dies ist in letzter Zeit in Deutschland, auch in Solidarität und Humanität müssen sich am Schluss in der Gesetzgebung, schon passiert. Neben den genannten der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und der Über- Einsätzen des THW und der Erhöhung der Mittel – Frau nahme von Verantwortung in Krisen erweisen. Da bin Kampmann, Sie haben darauf hingewiesen – gibt es Be- ich ganz bei dem Satz, den Sie, Frau Kampmann, gesagt strebungen, das Asylrecht zu verändern. Die Residenz- haben: Lassen Sie uns da noch die eine oder andere pflicht wird gelockert, Asylbewerber dürfen früher ar- Schippe drauflegen. beiten, es gibt den Vorrang von Geldleistungen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Was ist noch passiert? Es wurde vorhin das Lob des Flüchtlingskommissars Guterres zitiert, das er uns (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausgesprochen hat, was insbesondere die Aufnahme von neten der SPD) syrischen Flüchtlingen angeht. Wir haben die Quote weit übererfüllt. Das muss uns nicht nur mit Stolz erfüllen. Vizepräsident Peter Hintze: Aber, wie mein Kollege Bosbach gesagt hat, man darf Ich schließe die Aussprache. im Nebensatz auch einmal sagen, was hier schon alles passiert. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem (Beifall bei der CDU/CSU) Titel „Das Massensterben an den EU-Außengrenzen be- Allerdings sind wir in diesem Konzert nicht alleine; enden – Für eine offene, solidarische und humane wir sind als EU unterwegs. Hier müssen schon noch Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“. Der Aus- einige Dinge getan werden, zum Beispiel ein besseres schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Programm zur Rettung der Seeflüchtlinge. Dass Mare Drucksache 18/2946, den Antrag der Fraktion Die Linke Nostrum in Triton übergeht, ist ein guter Schritt. Aber auf Drucksache 18/288 abzulehnen. Wer für die Be- 5846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) schlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Hand- schriften hinsichtlich der Einführung des (C) zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – europäischen elektronischen Mautdienstes Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Drucksache 18/2656 CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf: Drucksache 18/2988 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) schlag für einen Beschluss des Rates über ei- gemäß § 96 der Geschäftsordnung nen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum Drucksache 18/2991 und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Drucksache 18/2953 che 18/2988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: auf Drucksache 18/2656 in der Ausschussfassung anzu- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den derung des Strafgesetzbuches – Umsetzung Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die Drucksache 18/2954 Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Dritte Beratung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und zu erheben. – Wer dagegen stimmt, möge bitte aufste- Entwicklung hen. – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf Ausschuss Digitale Agenda mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD- (B) (D) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle Fraktion ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Frak- Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Ab- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE angenommen worden. GRÜNEN Tagesordnungspunkt 37 b: Artikel 36 der Istanbul-Konvention umset- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des zen – Bestehende Strafbarkeitslücken bei se- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- xueller Gewalt und Vergewaltigung schließen wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 15 Drucksache 18/1969 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konven- tion zum Schutz der Menschenrechte und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Grundfreiheiten Innenausschuss Drucksache 18/2847 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- schusses für Recht und Verbraucherschutz ten Verfahren ohne Debatte. (6. Ausschuss) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Drucksache 18/3072 die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre Zweite Beratung keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 i sowie lung auf Drucksache 18/3072, den Gesetzentwurf der den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Be- Bundesregierung auf Drucksache 18/2847 anzunehmen. schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen che vorgesehen ist. wollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit Tagesordnungspunkt 37 a: den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Frak- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- tion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die regierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Stimmen der Fraktion Die Linke ohne Enthaltung ange- setzes zur Änderung mautrechtlicher Vor- nommen worden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5847

Vizepräsident Peter Hintze (A) Tagesordnungspunkt 37 c: der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion (C) Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr und digitale Tagesordnungspunkt 37 g: Infrastruktur (15. Ausschuss) zu der Verordnung Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- der Bundesregierung tionsausschusses (2. Ausschuss) Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Ver- Sammelübersicht 105 zu Petitionen ordnung zur Durchführung des Bundes-Immis- sionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverord- Drucksache 18/2891 nung – 16. BImSchV) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065 hält sich? – Dann ist diese Sammelübersicht 105 mit den Stimmen aller Fraktionen ohne Gegenstimmen und Ent- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- haltungen angenommen worden. lung auf Drucksache 18/3065, auf eine Änderung oder Ablehnung der Verordnung auf Drucksache 18/2849 zu Tagesordnungspunkt 37 h: verzichten. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – tionsausschusses (2. Ausschuss) Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Sammelübersicht 106 zu Petitionen Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- Drucksache 18/2892 (neu) nis 90/Die Grünen ohne Enthaltung angenommen wor- den. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 106 mit den Tagesordnungspunkt 37 d: Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- der Fraktion Die Linke angenommen worden. schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 37 i: Übersicht 3 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Sammelübersicht 107 zu Petitionen gericht (B) Drucksache 18/2893 (D) Drucksache 18/2921 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer hält sich? – Die Sammelübersicht 107 ist damit ange- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be- nommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- schlussempfehlung mit Zustimmung aller Fraktionen tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der ohne Gegenstimme oder Enthaltung angenommen wor- Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die den. Grünen ohne Enthaltung. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Tagesordnungspunkt 37 e: (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- ten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, tionsausschusses (2. Ausschuss) Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sammelübersicht 103 zu Petitionen Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp- Drucksache 18/2889 fen – Stopp des Programms MobiPro-EU so- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- fort aufheben hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 103 mit den Drucksachen 18/1343, 18/1531 Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Tagesordnungspunkt 37 f: lung auf Drucksache 18/1531, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1343 abzu- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- lehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab. tionsausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Sammelübersicht 104 zu Petitionen stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be- schlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU- Drucksache 18/2890 Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 104 mit Zu- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE stimmung der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, GRÜNEN]: Aber so was von!) 5848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen Deutschland nur noch bergab. Die Anoraks sind längst (C) worden. in der Abfallmitverbrennung in einem Braunkohlekraft- werk zu CO2 verbrannt worden; diese Geschichte ist vor- Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: bei. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Deutschland ist schon lange kein Vorreiter mehr. Wir GRÜNEN haben Jahre des Nichthandelns, des Stillstandes und des Rückschrittes erlebt. Die Bundesregierung steht vor dem Haltung der Bundesregierung zu den alarmie- Scherbenhaufen ihrer Klimapolitik. Es sieht ganz so aus, renden Ergebnissen des Weltklimaberichts dass wir das Klimaschutzziel, die Verringerung der und dem Handlungsbedarf für mehr Klima- Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent, kra- schutz chend verfehlen werden. Das liegt vor allen Dingen da- ran, dass die Emissionen aus dem Energiesektor immer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- weiter steigen, weil Uraltkraftwerke und Kohlekraft- ordnete Oliver Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grü- werke rund um die Uhr laufen, weil wir im Wärmebe- nen. reich nur in Trippelschritten vorankommen. Mit Klima- schutz in der Verkehrspolitik haben wir noch gar nicht Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): angefangen. Mit der Industrialisierung der Landwirt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor schaft steigen auch die Emissionen in diesem Sektor im- wenigen Tagen hat der Weltklimarat seinen zusammen- mer weiter. fassenden Bericht vorgelegt, der zwei zentrale Botschaf- ten enthält. Hätten wir nicht die Wall-Fall-Profits – das ist der Rückgang der CO2-Emissionen durch den Niedergang Die eine Botschaft ist: Der Klimawandel schreitet vo- der DDR-Wirtschaft, Stichwort „25 Jahre Mauerfall“ – ran, und zwar viel stärker, als es die Forscher noch vor und hätten wir nicht das Erneuerbare-Energien-Gesetz, wenigen Jahren erwartet hätten. Es ist längst klar: Wir das Sie vor der Sommerpause noch verstümmelten, dann können eigentlich nicht mehr, wie es auf dem Bericht wären Deutschlands Emissionen gegenüber 1990 noch vorne draufsteht, vom Klimawandel reden, sondern wir gestiegen. Das ist die Bilanz. Wir stehen vor einer müssen von der Klimakatastrophe sprechen. schwierigen Situation. Aber Sie liefern keine Antworten Diese Katastrophe findet nicht nur irgendwo in der auf die drängenden Fragen. Arktis statt. Sie findet ganz real auch bei uns hier in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Deutschland statt. 2014 wird wahrscheinlich das Jahr der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) (B) werden, das als das wärmste in die Geschichte der Wet- (D) teraufzeichnung eingeht. Die sogenannten Jahrhundert- Ich kann nur sagen: Ich finde es absolut zynisch, dass fluten kommen inzwischen alle fünf Jahre, also in immer Sie trotz der schlechten Bilanz und der vor uns stehen- schnellerer Folge, und verursachen Milliardenschäden. den Herausforderungen die Vorlage des Weltklimabe- Die zweite Botschaft des Weltklimarates ist positiv. richtes dafür nutzen, eine Debatte darüber anzustoßen, Wir können, wenn wir wollen, das Schlimmste noch ver- ob man das Ziel nicht streichen solle nach dem Motto hindern, wenn wir konsequent handeln, wenn die Welt- „Wir schaffen es nicht, dann canceln wir das ganze gemeinschaft etwas unternimmt. Das Allerbeste ist: Sie Ziel“. Nun schicken Sie Herrn Homann, den Präsidenten muss dafür weniger als 0,1 Prozent des Weltbruttoin- der Bundesnetzagentur, vor, um die Reaktion der Öffent- landsprodukts, der Wertschöpfung, aufwenden, um den lichkeit auf einen solchen Vorschlag zu testen. Meine Klimawandel aufzuhalten. Das bietet eine riesige Damen und Herren von der Großen Koalition, liebe Frau Chance für Entwicklung und Wohlstand auf der ganzen Hendricks, ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn Sie Welt. Diese positive Botschaft sollten wir aufgreifen. das Klimaschutzziel 2020 beerdigen, dann ist das nicht nur der Abschied von der Vorreiterrolle – die ist schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lange weg –, dann ist das das Ende jeder Klimaschutzpo- sowie bei Abgeordneten der SPD) litik in Deutschland. Das müssen Sie sich dann ins Dass es bis heute noch kein globales Klimaschutzab- Stammbuch schreiben. kommen gibt, liegt daran, dass es viele nationale Egois- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men gibt. Wenn wir endlich vorankommen wollen, dann braucht es Vorreiter, die die Sache in die Hand nehmen. Eines ist klar: Man könnte handeln. Es gäbe in Man kann es nicht anders sagen: Deutschland war über Deutschland die Möglichkeit, das Klimaschutzziel bis viele Jahre hinweg Vorreiter, angefangen – und ich hätte 2020 noch zu erreichen. Dazu müsste man das „dreckige nicht gedacht, dass ich das hier einmal sage – bei Helmut Dutzend“, die schmutzigsten Kohlekraftwerke aus den Kohl über die rot-grüne Bundesregierung bis hin zur 1960er-Jahren, die im Moment rund um die Uhr laufen, letzten Großen Koalition. abschalten. Die Möglichkeiten dazu haben Sie. Das wäre (Frank Schwabe [SPD]: !) im Sinne der Energiewende und im Sinne eines moder- nen Strommarktes erforderlich, um der klimafreundli- Wir erinnern uns alle daran, wie und chen Kraft-Wärme-Kopplung, den Gaskraftwerken und Sigmar Gabriel in schönen roten Anoraks vor Gletschern dem Bereich der erneuerbaren Energien eine Chance zu standen. Von da an ging es mit dem Klimaschutz in geben. Diesbezüglich kommt von Ihnen aber gar nichts. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5849

Oliver Krischer (A) Ich erwarte, dass das Maßnahmenprogramm, das und die Haltung der Bundesregierung ändert sich nicht (C) einst mittelfristiges Sofortprogramm hieß, das dann den von Woche zu Woche. Namen geändert hat und vielleicht irgendwann im De- zember kommt, klare Vorschläge enthält. Ich erwarte, Derzeit arbeitet die Bundesregierung mit uns zusam- dass wir in diese Richtung gehen und die schmutzigsten men an einem Klimaschutz-Aktionsprogramm. Dieses Kohlekraftwerke endlich vom Markt nehmen. Klimaschutz-Aktionsprogramm wird am 3. Dezember 2014 im Kabinett verabschiedet, rechtzeitig vor der (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Lima-Konferenz. Darin werden CO2-Minderungspoten- DIE GRÜNEN]) ziale in allen Sektoren aufgezeigt und konkrete Hand- lungsmaßnahmen vorgeschlagen. Das ist doch nicht Vor allen Dingen – das ist das Allerwichtigste – soll- mehr lange hin. Warten Sie das doch erst einmal ab. Das ten Sie Klimaschutz endlich als Chance begreifen. Es sind unsere Antworten auf den IPCC-Bericht. geht um Effizienz, Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaft. Mit grüner Wirtschaft schwarze Zahlen schreiben, das ist (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es die Zukunft. Der Klimaschutz liefert uns die richtige gibt viel zu tun! Warten wir es ab!) Vorlage dafür. Darauf müssen Sie sich einstellen. Auf diesem Gebiet müssen Sie Maßnahmen liefern. Frau Seit der letzten Debatte ist etwas Positives passiert: Hendricks, ich erwarte, dass das, was am 3. Dezember Ende Oktober haben die Staats- und Regierungschefs der 2014 endlich vorgelegt werden soll, mit konkreten Maß- EU-Mitgliedstaaten verbindliche Klimaziele beschlos- nahmen hinterlegt ist, damit wir das Klimaschutzziel er- sen. Die Tatsache, dass sich 28 EU-Mitgliedstaaten auf reichen. Eine Aufgabe des Klimaschutzziels wäre eine ambitionierte Klimaziele einigen, ist einzigartig in der Versündigung am Weltklima. Welt. Wir sind damit die Ersten. Was wurde erreicht? Es wurde beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent im Verhältnis zu 1990 Vizepräsident Peter Hintze: zu reduzieren, den Anteil der erneuerbaren Energien EU- Herr Kollege. weit auf mindestens 27 Prozent auszuweiten und den Gesamtenergieverbrauch in der EU um mindestens Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 27 Prozent zu senken. Das wäre eine Versündigung an der nachhaltigen (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Wirtschaft. Das wäre eine Versündigung an unseren Kin- GRÜNEN]: Unverbindlich!) dern und Enkeln. Damit sendet Europa ein klares Signal: Schaut her, wir Danke schön. sind bereit. Das ist unser Beitrag zur internationalen Kli- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und mapolitik. Nun seid ihr an der Reihe. bei der LINKEN) Es ist kein Geheimnis – das sage ich an dieser Stelle auch ganz klar –, dass Deutschland gerne weitergegan- Vizepräsident Peter Hintze: gen wäre. Wir wollten zum Beispiel, dass das Ziel be- Das Präsidium hat Milde walten lassen, aber es wäre züglich der erneuerbaren Energien und der Energieeffi- ganz gut, wenn wir alle darauf achten würden, die Ver- zienz, das auf EU-Ebene verbindlich verabredet wurde, einbarungen zur Aktuellen Stunde, auch was die Rede- auf die nationale Ebene heruntergebrochen wird. Das zeiten angeht, liebevoll und solidarisch einzuhalten. sage ich ganz ehrlich an dieser Stelle. Wir wollten auch 30 Prozent als Ziel; das sage ich auch ganz klar. Aber die Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja Verhandlungen waren schwierig. Polen, Tschechien, Un- Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion. garn und die Slowakei wollten nicht mitmachen, haben (Beifall bei der CDU/CSU) auf die Bremse gedrückt. Es war nicht klar, ob es über- haupt gelingen würde, verbindliche Klimaziele zu verab- reden. Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Das Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): ist ein Erfolg. Es steht jeweils das Wörtchen „mindes- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und tens“ drin. Das heißt, es sind Mindestziele. Wir können Kollegen! Als Umweltpolitikerin bin auch ich der Mei- weitergehen, wenn die äußeren Umstände, etwa die wirt- nung, dass Klimaschutz ein sehr wichtiges Thema ist. schaftliche Lage, es zulassen. Also: Es gibt wirklich kei- Aber ich halte es nicht für zielführend – das möchte ich nen Grund, in die Defensive zu gehen. Die Bundeskanz- an dieser Stelle auch ganz klar sagen –, dass das Thema lerin hat ein gutes Ergebnis erzielt. Wir können mit in jeder Sitzungswoche auf die Tagesordnung gesetzt diesem Ergebnis selbstbewusst und mit Rückenwind wird, heute unter dem Motto: Haltung der Bundesregie- nach Lima und Paris reisen, meine Damen und Herren. rung zu den alarmierenden Ergebnissen des IPCC-Rates. Dazu muss ich erst einmal Folgendes sagen: Das ist kein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- neuer IPCC-Bericht, sondern das ist eine Zusammenfas- ten der SPD) sung für die Entscheidungsträger, Trotzdem sage ich: Wir dürfen uns auf diesem Zwi- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schenerfolg nicht ausruhen. Wir müssen mit diesem Er- NEN]: Das habe ich auch gesagt! – Sylvia gebnis im Rücken jetzt den Druck auf internationaler Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ebene erhöhen, die anderen Staaten mitreißen und auch Wir sind aber die Entscheidungsträger!) von anderen Ländern, egal ob es Industrieländer oder 5850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Anja Weisgerber (A) Entwicklungs- und Schwellenländer sind, einen Beitrag (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) einfordern – wir alleine können das Klima nicht retten –; Außer in Brandenburg! – Heiterkeit beim sonst können wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen. Wir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) brauchen dafür alle Staaten der Welt. Die Regierung hat am Wochenende angekündigt, dass Auch der Stern-Bericht besagt ganz klar: Wenn wir es Strom aus Kohle 2025 Geschichte sein wird. Jetzt will schaffen, gerade in den Entwicklungs- und Schwellen- man sich mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Gesell- ländern die Weichen von Anfang an in Richtung einer schaft an einen Tisch setzen, um die schrittweise Ab- kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologie zu schaltung der Kohlekraftwerke in die Tat umzusetzen. stellen, dann haben wir viel gewonnen. Ausschlaggebend waren die Erkenntnisse der Klimafor- schung bzw. die Handlungsempfehlungen dazu. Der (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- letzte Bericht des Weltklimarats gibt der Politik einen NEN]: Ja, dann machen Sie es mal!) klaren Auftrag: Es muss endlich Schluss sein mit der Deswegen müssen wir in diesen Ländern massiv anset- Stromproduktion aus fossilen Energieträgern, und zwar zen, auch mit Geldern, die zum Beispiel wir Deutsche ohne Wenn und Aber, zur Verfügung zu stellen bereit sind. (Beifall bei der LINKEN) Außerdem geben auch die Äußerungen vonseiten der oder, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Weltklima USA und Chinas Anlass zu leiser Hoffnung. Diesen fliegt uns um die Ohren, mit allen uns bekannten Folgen. Worten müssen jetzt allerdings Taten folgen. Jetzt die schlechte Nachricht, die leider lautet: Nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Deutschland hat hier seine Klimahausaufgaben erledigt, Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sondern unser Nachbar Dänemark hat den Kohleausstieg Ja, genau! Bravo!) beschlossen. Die dortige Mitte-Links-Regierung hat, wie – Das war auch an diese Länder gerichtet. Wir haben mit ich finde, eine reife politische Entscheidung getroffen, den europäischen Beschlüssen schon Taten geliefert, statt nur darauf zu warten, dass der Energiemarkt das meine Damen und Herren. Kohleproblem löst. Im Übrigen funktioniert das sowieso nicht. In Schweden gibt es ähnliche Entwicklungen. Da (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) frage ich mich natürlich: Warum hören die Skandinavier Auch diese anderen Länder, nämlich die USA und auf die Wissenschaft, während in Deutschland Monat für China, müssen jetzt liefern, und zwar bis zu den Klima- Monat neue Rekorde bei der Stromgewinnung aus Kohle konferenzen in Lima und Paris. aufgestellt werden? Die Linke sagt: Der Bund muss end- (B) lich eine klare Entscheidung treffen. (D) Zuallerletzt möchte ich noch sagen: Mir ist ganz wichtig, dass es uns gelingt, ein verbindliches Abkom- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia men hinzubekommen, das transparent ist und überprüf- Kotting-Uhl) bare Kriterien enthält, die auch kontrolliert werden kön- Nur mit einem Kohleausstiegsgesetz, das den Firmen nen Planbarkeit ermöglicht, wird die Energiewende zu einem (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Erfolg; da bin ich mir sicher, meine Damen und Herren. GRÜNEN]: Ja, klar! Genau das heißt ja „ver- Gerade die Landesregierungen brauchen eine Vorgabe bindlich“!) vom Bund für diesen klimapolitisch notwendigen Schritt und es ermöglichen, andere Länder, die diese Ziele nicht nicht nur, sondern sie fordern diese sogar immer öfter einhalten, an den Pranger zu stellen bzw. zu ermutigen, ein. die Erreichung dieser Ziele wirklich ehrgeizig anzustre- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben. Denn nur ein ehrgeiziges, beherztes Handeln aller NEN]: Na ja! Manche!) Länder der Welt führt letztendlich zu einem Erfolg beim internationalen Klimaschutz. Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, und lassen Sie uns gemeinsam Vielen Dank. dem Beispiel der Dänen folgen. Im Übrigen ist im Staate (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dänemark nichts faul. Im Gegenteil, das Beispiel zeigt uns, dass Klimaschutz im nationalen Alleingang mach- bar ist. Die Wärmewende hat Dänemark auch schon ge- Vizepräsident Peter Hintze: schafft, weil Dänemark gleich nach der Ölkrise Ende der Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten 70er-Jahre fleißig auf Effizienzsteigerung gesetzt hat, Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, das Wort. während in der Bundesrepublik Doppelfenster eingebaut (Beifall bei der LINKEN) wurden. Beklagenswerterweise funktioniert Politik hierzu- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): lande noch immer nach dem Schwarzer-Peter-Prinzip: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Regt sich Protest gegen ein Kohlekraftwerk oder einen Lassen Sie mich mit einer guten Nachricht beginnen: Tagebau, dann zeigt der Bürgermeister mit dem Finger Der Kohleausstieg, den die Linke schon lange fordert, ist auf die Landesregierung. Die Landesregierung wiede- endlich in trockenen Tüchern. rum zeigt mit dem Finger auf den Bund. Das Umweltmi- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5851

Eva Bulling-Schröter (A) nisterium klagt dann über das Wirtschaftsministerium. tigend zugleich. Er ist erschreckend, weil der Klimawan- (C) Berlin verweist auf Brüssel. Ähnlich wie beim Emis- del keine ferne Bedrohung ist, sondern bereits stattfin- sionshandel fielen in Brüssel die Entscheidungen. – Da- det. Das wird auch von niemandem mehr ernsthaft ran sind Sie aber eigentlich maßgeblich beteiligt. – Bei bestritten. Das war vor einigen Jahren – auch in man- der EU heißt es dann, in Zeiten der Globalisierung chen Wissenschaftskreisen – noch anders. Dies hat sich schwäche mehr Klimaschutz Europas Wettbewerbsfä- jetzt auch in Wissenschaftskreisen erledigt. Es gibt aller- higkeit gegenüber China oder den USA. – Das ist übri- dings noch einzelne Regierungen, wie zum Beispiel die gens ein Ball, der oft und gerne über Bande gespielt neue Regierung in Australien, die anderer Auffassung wird. Wir kennen diese Argumentation ja von der Lohn- sind. Im Prinzip wird das aber nicht mehr bestritten. drückerei und vom Sozialabbau. Der nun vorliegende IPCC-Bericht ist aber zugleich Nein, meine Damen und Herren, wo kommen wir ermutigend, weil wir noch ein wenig Zeit haben, den denn da hin? Wir brauchen ein schlagkräftiges Klima- Klimawandel in den Grenzen zu halten, in denen er noch schutz-Aktionsprogramm, das seinen Namen wirklich beherrschbar ist. Der Bericht macht ganz klar: Die Be- verdient. Alle Sektoren müssen einen Beitrag zur Schlie- grenzung der Erwärmung auf 2 Grad im Verhältnis zur ßung der Klimaschutzlücke leisten. Um 7 bis 9 Prozent vorindustriellen Zeit ist noch möglich; aber dafür ist ent- werden wir bei einem Weiter-so die Marke verfehlen. schlossenes und schnelles Handeln natürlich die Voraus- Ein Verschlafen des 40-Prozent-Ziels bis 2020 wäre ein setzung. schlimmer Rückschlag. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN) Das benötigt ein wenig Zeit!) Dabei ist der Energiesektor in der Bringschuld. Die – Ja, wir haben nicht mehr viel Zeit; das ist gar nicht zu EU-Kommission hat es vorgerechnet: Deutschland ist bestreiten. das EU-Land mit der größten Fördersumme für Kohle. Von 1970 bis 2007 wurden EU-weit 380 Milliarden Euro Es muss gelingen, den Ausstoß der Treibhausgase bis Steuergelder zur Förderung des Kohlestroms ausgege- 2050 gegenüber 2010 global um 40 bis 70 Prozent zu ben, der Großteil davon in Deutschland. In 37 Jahren senken; bis 2100 müssen es 100 Prozent sein. Deutsch- macht das einen Jahresschnitt von über 10 Milliarden land muss Europa mitreißen und wird dies auch weiter Euro aus. Zudem verursacht dieser Marshallplan für die tun, Energieriesen immense Folgekosten. Allein 2012 sind (Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜND- durch die Nutzung fossiler Energien 42 Milliarden Euro NIS 90/DIE GRÜNEN]) Folgekosten für Mensch, Umwelt und Klima entstanden. (B) Darüber reden Sie aber nicht. und Europa muss die Welt mitreißen. (D) Die Fakten liegen auf dem Tisch, auch dem Wirt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schaftsministerium: Zurzeit liegen 8 Tonnen Kohle von CDU/CSU) Greenpeace vor dem Wirtschaftsministerium. Wahr ist: In Deutschland hat sich schon viel bewegt. Ich finde, wir brauchen mutige Entscheidungen. Ich Wir verfügen über die notwendigen technischen Mittel, wünsche der Koalition den Mut, den wir für eine mutige um den Energiesektor schrittweise zu dekarbonisieren, Politik brauchen. die Energieeffizienz deutlich zu steigern und ehrgeizige Einsparungen in privaten Haushalten, in der Industrie, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- im Gebäude- und Transportbereich und bei der Landnut- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zung zu erzielen; auch das ist uns möglich.

Vizepräsident Peter Hintze: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für die NEN]: Sie tun es nicht!) Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Barbara Jetzt, in diesem Jahr, haben die erneuerbaren Energien Hendricks. bei uns einen Anteil an der Stromerzeugung von fast (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 30 Prozent: Aktuell sind es etwa 28,5 Prozent, und wir der CDU/CSU) sind noch nicht am Ende dieses Jahres. Damit liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeu- gung erstmals vor dem Anteil von Kohle. Das war bisher Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- noch nie der Fall. Das ist ein Erfolg. welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bekämpfung des Klimawandels – wir wissen es alle – ist der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Die Genera- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegenüber Kohle tionen, die nach uns kommen, werden uns dafür danken, insgesamt? Steinkohle und Braunkohle zusam- dass wir sie bewältigt haben, oder sie werden uns fragen, men haben immer noch einen größeren An- warum wir nicht den Mut gefunden haben, uns der Zer- teil!) störung unseres Planeten in den Weg zu stellen. Wahr ist aber auch: Die Anstrengungen sind seit einer Der IPCC-Bericht, der am Wochenende vorgelegt Reihe von Jahren – unabhängig davon, wer die politi- worden ist, ist aus meiner Sicht erschreckend und ermu- sche Verantwortung getragen hat – zu keinem Zeitpunkt 5852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) ausreichend gewesen. Deswegen gibt es eine prognosti- Beharrlichkeit der Bundeskanzlerin zu verdanken – ne- (C) zierte Lücke bei der Erreichung unseres Minderungsziels ben den guten Vorarbeiten –, dass dies gelingen konnte. von 40 Prozent bis 2020 von 5 bis 8 Prozent. Die Ziel- erreichung ist keineswegs trivial, sondern durchaus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schwierig. Das heißt aber nicht, dass ich mich etwa da- Es ist kein Geheimnis: Wir hätten uns, insbesondere von verabschieden wollte, Herr Krischer. Wir werden in den Bereichen „Energieeffizienz“ und „erneuerbare vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen, und wir werden Energien“, noch etwas ehrgeizigere Ziele gewünscht. unsere Ansprüche nicht relativieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie wie wild gekämpft!) Sie erzählen jetzt bestimmt, wie!) Das ist keine Frage. Aber der Beschluss ist ein großer Meine Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein Schritt nach vorne. Europa hat damit Handlungsfähig- Zweifel: Das Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zen- keit und Weitsicht unter Beweis gestellt. Dies wird auch trale Herausforderung für mich als Bundesumweltminis- international durchaus anerkannt. – Ich weiß, Herr Kol- terin und eines der wichtigsten Projekte dieser Bundesre- lege Krischer, wenn man das aus dem Blickfeld des gierung. Aachener Reviers sieht, guckt man vielleicht nicht ganz so weit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich einmal ge- NEN]: Was ist das denn?) spannt!) Aber zum Beispiel Ban Ki-moon, der die Welt im Blick Deswegen werden wir am 3. Dezember im Kabinett un- hat, hat uns dazu beglückwünscht. ser Aktionsprogramm verabschieden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU – Oliver Krischer: Was soll das NEN]: Da hat keiner geklatscht! – Wider- denn?) spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erstens. Wir in Europa sind die Ersten, die einen Bei- – Doch. – Wir werden damit rechtzeitig vor der in Lima trag zum neuen Klimaschutzabkommen vorlegen kön- beginnenden Konferenz ein Signal geben. Die Eck- nen und eben vorgelegt haben. Wir werden unsere Emis- punkte sind klar: Wir müssen den Anteil fossiler Ener- sionen um 40 Prozent absenken können. Das ist ein sehr deutliches Signal. Das Ziel ist selbstverständlich ver- gieträger reduzieren. Das Ziel ist, den CO2-Ausstoß bis (B) 2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Das macht bindlich. Es ist nicht an irgendwelche Bedingungen ge- (D) deutlich: Das Zeitalter der fossilen Energie wird sich knüpft. Jeder Investor in Europa weiß jetzt, worauf er – natürlich muss das in einem planmäßigen Prozess ge- sich in den nächsten 16 Jahren einstellen muss und wel- schehen – Stück für Stück dem Ende nähern. che Investitionen sich langfristig lohnen und welche nicht. Das Ganze ist also auch ein Modernisierungspro- Natürlich brauchen wir auch noch größere Anstren- gramm für unsere Volkswirtschaften. gungen im Gebäudebereich und bei der Energieeffi- zienz; das liegt auf der Hand. Auch dazu werden wir die Zweitens. Der Beschluss enthält das Wörtchen „min- notwendigen Aussagen in unserem Aktionsprogramm destens“. Andere Staaten müssen jetzt nachziehen. Wir „Klimaschutz 2020“ und auch im „Nationalen Aktions- haben im Rahmen des Petersberger Klimadialogs von plan Energieeffizienz“, der verschränkt mit unserem China gehört, dass es einen Beitrag leisten wird. Wir Aktionsprogramm zeitgleich in der Verantwortung des sind gespannt, wie dieser Beitrag aussehen wird, aber Bundeswirtschaftsministers erarbeitet wird, zum 3. De- zugleich zuversichtlich, dass er weit über das hinaus- zember vorlegen. Nach dem Aktionsprogramm, das in geht, was wir von China bisher gesehen haben. der Verantwortung meines Hauses liegt, werden wir Wie ich höre – man wird sehen, wie das nach den dann weitere konkrete Schritte angehen, um Maßnah- „midterm elections“ weitergeht –, wollen auch andere men für die Zeit zwischen 2020 und 2050 zu entwickeln, Schwellenländer und nicht zuletzt auch die USA Anfang mit überprüfbaren Zwischenzielen, etwa – das liegt ja 2015 ihre Beiträge vorlegen. Ich weiß, dass es für Präsi- auf der Hand – in Zehnjahresmargen. dent Obama schwer wird. Deswegen arbeitet die ameri- kanische Administration an einer Lösung, die man auch Meine Damen und Herren, die entscheidende Phase dann umsetzen kann, wenn man keine Mehrheit im Re- der Klimaschutzpolitik haben wir jetzt vor uns, insbe- präsentantenhaus hat. sondere im Hinblick auf die Ende des nächsten Jahres in Paris stattfindende internationale Konferenz. Die Bun- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- desregierung – das wissen Sie – engagiert sich gerade im NEN]: Reden Sie nicht so viel über Obama! Hinblick auf diese international notwendigen Abstim- Was machen Sie denn?) mungen Ende des nächsten Jahres mit aller Kraft. Wenn sich diese Dynamik fortsetzt – da bin ich zuver- In diesem Zusammenhang möchte ich mich sehr herz- sichtlich –, dann werden wir in Paris erfolgreich sein und lich bei der Bundeskanzlerin bedanken für die Verhand- ein gutes Abkommen erreichen. Dann sollte die EU be- lungen im Europäischen Rat vor knapp zwei Wochen. reit sein, noch einmal nachzulegen, wenn denn auch an- Das war ein großer Erfolg, und es ist nicht zuletzt der dere Länder ehrgeizige Pläne vorlegen. Dann können Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5853

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) auch wir in der Tat noch einmal nachlegen; das Wört- den Klimawandel vorzugehen, als einfach alles laufen zu (C) chen „mindestens“ bedeutet nicht zuletzt dies. lassen und zum Schluss für die Schäden und die Folge- kosten zu bezahlen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drittens. Der Rat hat sich eindeutig zu einem funktio- nierenden und reformierten Emissionshandel bekannt. Die spannende Frage wird sein, wie es uns gelingt. Wir werden weiterhin darauf achten, dass dies so bald Wir müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass als möglich, nämlich 2017, geschieht. Das gibt Rücken- es sich um ein weltweites Problem handelt. Auf wind. Zugleich bedeutet das natürlich auch, dass die Deutschland kommen gut 2 Prozent der weltweiten 900 Millionen Zertifikate, die sich im Prozess des Back- Emissionen. loadings befinden, sofort in die Stabilitätsreserve über- führt werden müssen; denn wir müssen natürlich den (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Emissionshandel wieder auf Kurs bringen. NEN]: Jetzt kommt wieder der Fingerzeig auf andere!) Der nächste Schritt ist die Klimakonferenz in Lima; das wissen wir. Das Aktionsprogramm und die europäi- Deutschland wird dieses Problem nicht allein lösen kön- schen Klimaziele unterstreichen die Vorreiterrolle, die nen. Auch Europa wird dieses Problem nicht allein lösen wir einnehmen wollen und die von uns erwartet wird. können. Was wir brauchen, sind weltweite Anstrengun- gen, und genau aus diesem Grund sind die Weltklima- Der Wandel in eine Zeit ohne fossile Energieträger konferenzen der Vereinten Nationen so wichtig. hat längst begonnen: Windräder werden gebaut, Solar- panels installiert, energieneutrale Gebäude geplant und (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- errichtet. Die Aussage, Klimaschutz schade der Wirt- NEN]: Dann sagen Sie mal was zur deutschen schaft, haben wir längst in die Märchenwelt verbannt. Vorreiterrolle!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie zäh NEN]: Davon hat Herr Gabriel aber noch und schwierig die Verhandlungen sind und dass es im- nichts gehört!) mer nur in kleinen Schritten vorangeht. Aber diejenigen, die jetzt die Konsequenz ziehen und sagen, wir sollten es Klimaschutz lohnt sich; nicht zu handeln, kostet – das besser sein lassen, irren gewaltig. Denn letzten Endes macht auch der IPCC-Bericht klar. gibt es keine vernünftige Alternative dazu, dass wir auf Wir brauchen einen langen Atem. Wir werden das dieser Ebene miteinander sprechen, verhandeln, koope- Problem des Klimawandels nicht allein in dieser Legis- rieren und möglichst gemeinsame Lösungen finden. (B) laturperiode lösen und auch nicht in diesem Jahrzehnt. Deswegen brauchen wir auch einen Erfolg. Wir müs- (D) Vielleicht wird es länger dauern, als dass meine Genera- sen im nächsten Jahr in Paris zu einem Ergebnis kom- tion die Früchte dieser Politik wird ernten können. Wir men. Wir brauchen ein weltweites Abkommen über den werden diesen Weg entschlossen gehen, und zwar in der Klimaschutz, und in wenigen Wochen bei der nächsten Zeit unserer jeweiligen Verantwortung, so wie es nötig Konferenz in Lima müssen wir den Weg dazu bereiten. ist und unseren Möglichkeiten entspricht – und die sind Genau darauf müssen wir hinarbeiten, mit Nachdruck umfangreich. Darauf kann man sich verlassen. und möglichst alle gemeinsam. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Kein Wort über konkrete Maßnahmen!) Meine Damen und Herren, Europa hat vorgelegt. Europa hat beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis Vizepräsidentin : zum Jahr 2030 um mindestens 40 Prozent zu senken. Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Thomas Europa geht voran. Dies ist ambitioniert, und Deutsch- Gebhart das Wort. land geht nochmals darüber hinaus, indem wir sagen: 40 Prozent nicht erst 2030, sondern bereits bis zum Jahr (Beifall bei der CDU/CSU) 2020. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): NEN]: Das ist nicht ambitioniert! Das ist viel Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und weniger als nötig!) Herren! Die Temperaturen steigen, der Meeresspiegel steigt, Wetterextreme häufen sich: Der Klimawandel ist Wir wissen auch: Dies reicht noch nicht. Es gibt eine Lü- da. Dieser Klimawandel wird aller Wahrscheinlichkeit cke. Wir müssen noch erhebliche Anstrengungen unter- nach – dies zeigt uns der Bericht, der jetzt auf dem Tisch nehmen. Deswegen wird es – die Ministerin hat es ange- liegt – weitergehen, wenn es uns nicht gelingt, die Emis- sprochen – ein Aktionsprogramm geben. Ich bin sehr sionen von Treibhausgasen erheblich zu senken. dafür, dass wir in diesem Aktionsprogramm den Fokus auch auf Bereiche lenken, die bislang noch nicht so im Wir müssen dazu beitragen – das ist Teil unserer Ver- Mittelpunkt standen. antwortung, und es ist auch eine ethische Pflicht und ent- spricht der ökonomischen Vernunft –, dass es gelingt; Ich nenne das Beispiel Kreislaufwirtschaft. Unser denn viele Untersuchungen zeigen inzwischen ganz klar, Ziel ist es, aus Abfällen mehr Rohstoffe zu gewinnen, dass es günstiger ist, weltweit jetzt entschieden gegen mehr Recycling zu betreiben und den Rohstoffverbrauch 5854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Thomas Gebhart (A) zu senken. Dies ist ein effektiver Beitrag zum Klima- Ralph Lenkert (DIE LINKE): (C) schutz, und es ist vor allem eine Frage technologischer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und Innovation. Hier haben wir noch erhebliche Potenziale, Herren! Täglich prasseln Schlagzeilen zu den Folgen des die wir in den nächsten Jahren nutzen müssen. Klimawandels hernieder. Beklemmung macht sich breit, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- genauso wie ein Ohnmachtsgefühl. Trotz der vielen Kli- neten der SPD) magipfel steigt der weltweite CO2-Ausstoß. Die schlech- ten Nachrichten über einen abrutschenden Eisschild in Auf einem wichtigen Feld ist Deutschland vorange- der Antarktis und über Kiribati, einen Inselstaat, der im gangen: bei der Energiewende. Wir haben enorm viel ge- Pazifik versinkt, bereiten Sorgen. Aber wie kommt es, macht. Das zeigen die Zahlen. Im Jahr 2005, vor neun dass bei Menschen trotz der Kenntnis der zukünftigen Jahren, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien bei riesigen Probleme durch den Klimawandel ein kollekti- der Stromerzeugung 10 Prozent. Wir sind heute bei ver Verdrängungsmechanismus einsetzt? Wie kommt es, 25 Prozent. Dies ist eine rasante Entwicklung. dass diese Bundesregierung weitermacht wie bisher? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Laut Soziologen liegt die Ursache darin, dass sowohl das NEN]: Die Sie beendet haben!) Problem als auch die Lösung für einen einzelnen Menschen schwer fassbar sind. Sie sind einfach zu gi- Es wird international sehr genau beobachtet – das er- gantisch. Deshalb wird Handeln unterlassen, auch von leben wir auch auf den Klimakonferenzen –, was wir in dieser Bundesregierung. Berichte über vertagte Klima- Deutschland machen. Man spricht von der „German schutzverhandlungen und angekündigte Vorhaben gibt Energiewende“. Aber es wird auch immer klar: Ob die diese Bundesregierung ständig ab. Doch bei all dem gilt: deutsche Energiewende zu einem Modell wird, ob uns Außer Spesen bisher nicht viel gewesen! andere folgen und diese Energiewende nachahmen, was wir uns wünschen, hängt letztlich davon ab, ob die Ener- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) giewende bei uns, im eigenen Land, gelingt. Betrachten Sie neben dem globalen Klimaschutz un- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE sere Region; das ist greifbar. Das Klima in Deutschland GRÜNEN]: Genau! – Oliver Krischer verändert sich. Die Wettergrenze zwischen dem maritim [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun alles beeinflussten Süden und Westen der Republik und dem dafür, dass das nicht klappt!) kontinental geprägten Nordosten verschärft sich. Im Die Frage, ob die Energiewende gelingt, bedeutet im Südwesten steigt die Anzahl heftiger Gewitter mit Ha- Klartext: Sie muss unter ökologischen Gesichtspunkten gelschlag und lokalen Überschwemmungen. Im Osten gelingen; sie muss aber auch in der Weise gelingen, dass wird es im Sommer immer trockener und wärmer. Wenn (B) die Preise bezahlbar bleiben und die Wirtschaft und die es regnet, dann gibt es zumeist Unwetter. Im Morgen- (D) Industrie am Ende damit klarkommen. magazin der ARD lautete die heutige Zahl des Tages: 635 000. Das ist die Anzahl der in diesem Jahr durch Es geht also darum, die richtige Balance zu halten. Es Hagel und Unwetter beschädigten Pkw. Der Schaden be- geht darum, eine nachhaltige Politik zu betreiben. Des- wegen sage ich gerade auch an die Adresse der Grünen: läuft sich auf 1,5 Milliarden Euro. Das ist ein Allzeitre- Wer an dieser Stelle überzieht und die Wettbewerbsfä- kord. Hinzu kommen – für mich viel gravierender – Tote higkeit einseitig über Gebühr belastet, und Verletzte, zerstörte Häuser, beschädigte Infrastruktur und nicht arbeitsfähige Firmen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausnahmen gibt es doch schon!) All diese Auswirkungen der Unwetter könnten wir mit Maßnahmen vor Ort verhindern oder verringern. der schadet nicht nur der Energiewende, sondern auch Hier lässt sich das eine mit dem anderen verbinden. Für dem Klimaschutz. die Linke ist das Prinzip klar. Der Natur muss man mög- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichst viel Raum zurückgeben, und das dauerhaft. Die NEN]: Das heißt, Sie wollen die Kohlekraft- Renaturierung und Wiederbelebung von Feuchtgebieten werke weiterlaufen lassen!) wirken der Austrocknung von Böden entgegen, dienen gleichzeitig dem Hochwasserschutz bei Starkregen und Sie erweisen ihm einen Bärendienst, weil uns nämlich verbessern das Mikroklima. Es wird regional im niemand in der Welt folgen wird. Das müssen wir beach- Sommer etwas kühler. Zusätzliche Grünanlagen in städ- ten. Es bleibt dabei: Die Energiewende muss gelingen. tischen Bereichen fungieren als Wasserspeicher bei Das ist unsere Aufgabe. Sie muss unter ökologischen, Starkregen und Trockenheit. Sie können Innenstädte an ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten gelingen. heißer werdenden Sommertagen abkühlen, senken damit Das ist unsere Herausforderung und zugleich unsere sogar den Energiebedarf von Klimaanlagen und dienen Chance. Diese müssen wir nutzen. gleichzeitig dem Staub- und Lärmschutz. In Thüringen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden wir zukünftig mehr Flächen entsiegeln und rena- neten der SPD) turieren. Ehemalige Militärflughäfen und alte Indus- triebrachen werden grün, speichern Wasser im Boden, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: und die optischen Schandflecken verschwinden. Das verringert zudem die Hochwassergefahr. Ganz nebenbei Als nächster Redner spricht Ralph Lenkert. bindet die zusätzliche Grünmasse CO2, was wiederum (Beifall bei der LINKEN) dem Klimaschutz dient. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5855

Ralph Lenkert (A) All diese Maßnahmen kann man im kleinen Maßstab (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) beginnen. Es sind Mosaiksteinchen bei der Lösung des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – großen Klimaproblems. Aber, meine Damen und Herren Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von der Koalition, Sie behaupten, Deutschland allein NEN]: Dann tun Sie es auch!) könne beim Klimaschutz nichts bewirken. Das ist der Herr Krischer, seien Sie beruhigt. Herr Homann ist Klassiker: Verdrängung. Beginnen Sie im Kleinen! Le- nun wirklich alles andere als von uns vorgeschickt wor- gen Sie Klimaschutz- und Klimaanpassungsprogramme den. Ich will an der Stelle sagen – ich finde es richtig, langfristig an! Es ist Schwachsinn, wenn man bei der dass auch die Bundesumweltministerin das hier gesagt Jahrhundertaufgabe Klimaschutz Projekte nach wenigen hat –: Herr Homann, die 40 Prozent sind unverhandel- Jahren auslaufen lässt. Viele Kommunen, ob im Ruhr- bar. gebiet oder in Ostdeutschland, können sich Klima- schutzmaßnahmen nicht leisten, weil sie nicht in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Lage sind, die benötigten Eigenmittel aufzubringen. Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir Deswegen fordern wir Förderprogramme, die ohne Ei- nehmen Sie beim Wort!) genmittel auskommen. Kümmern Sie sich um gute Netzplanung, aber nicht um Gehen wir die kleinen Schritte zum Klimaschutz vor das Klimaschutzziel! Ort. Das gibt vielleicht auch Ihnen die Kraft, die großen Schritte international zu gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich finde es richtig, dass Sie, Herr Lenkert, die Frage Die Bundesregierung hat genug geredet. Lassen Sie stellen, wie wir das hier im Parlament machen. Aber ich uns im Bundestag mit Handeln anfangen, zuerst im Klei- fände es gut, erst einmal hinzuhören. Wir haben eine nen, im Greifbaren, und dann mit Mut zum Großen. Wir Bundesumweltministerin, die sich hier eindeutig zum Abgeordnete, wir bestimmen die Gesetze, wir machen Klimaschutz und zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt hat. den Haushalt, wir können entscheiden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danke. NEN]: Hat sie nicht!) (Beifall bei der LINKEN) – Das hat sie. Das können Sie im Protokoll von heute nachlesen. Sie hat es gerade eben an diesem Pult gesagt. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ( [SPD]: Schwerhörig!) (B) Als nächster Redner spricht Dr. Matthias Miersch. (D) Es gehört schon zur Redlichkeit, zuzuhören. – Sie hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seit ihrer Amtseinführung gesagt, dass wir bis jetzt ein der CDU/CSU) Defizit haben und uns 7 bis 8 Prozent fehlen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Matthias Miersch (SPD): NEN]: Das zweifelt niemand an!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist richtig, dass die Grünen diese Aktuelle Deswegen finde ich es richtig, dass wir, die wir alle Stunde nutzen, um den Bericht des Weltklimarats zum einer Meinung sind – ich hoffe es jedenfalls –, sie in die- Thema zu machen. Es ist gut, dass wir immer wieder sem Vorhaben unterstützen und sagen: Ja, es ist richtig über dieses Thema reden. Wenn man die Gazetten richtig gewesen, alle Ressorts aufzufordern. Denn es darf nicht wahrnimmt, dann ist es auch in Deutschland immer noch nur die Aufgabe des Bundesumweltministeriums in die- so, dass an einigen Stellen gezweifelt wird. ser Regierung sein, die Klimaziele zu erreichen. Deswegen will ich am Anfang für meine Fraktion (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – sehr deutlich machen: Es geht nicht nur um Klima- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutz, sondern es geht auch darum, weitaus höhere NEN]: Wo ist denn Sigmar Gabriel?) volkswirtschaftliche Folgekosten – nach Sir Nicholas Stern das Fünffache – zu vermeiden. Klimaschutz ist Wir hatten in den letzten Jahren eine Blockade zwi- auch eine wirtschaftliche Frage. schen Wirtschafts- und Umweltministerium. Die wei- chen wir auf. Wir haben jetzt, glaube ich, eine Allianz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwischen dem Umweltressort, dem Wirtschaftsressort DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und auch der Bundeskanzlerin. Das sage ich hier ganz CDU/CSU) deutlich. Ich bin mir sehr sicher, dass diese drei auch ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett mitnehmen Oft wird ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und und wir am 3. Dezember beginnen können, über ein Ökologie gesehen. Dazu muss man aber sagen: Es geht Maßnahmenpaket zu reden. Ich finde, ein Vorlauf von letztlich auch um das Verhindern von Abhängigkeiten einem Jahr für eine neue Bundesregierung ist recht und von anderen Staaten; denn die Ressourcen sind endlich, billig. sie sind begrenzt. Auch deswegen ist Klimaschutz mehr als eine ökologische Frage, es ist ein urökonomisches Aber wir müssen als Parlament auch schauen, ob das Erfordernis, in den Klimaschutz zu investieren. ausreicht. Insofern bin ich der Bundesumweltministerin 5856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Matthias Miersch (A) genauso dankbar dafür, dass sie am Montag die Frage ten 2017. – Das wird nicht eintreten, und jetzt sagen Sie (C) gestellt hat, wie es mit der Versorgung mit fossiler Ener- hier: Die Ergebnisse sind ein großer Erfolg. – Das passt gie weitergeht. Frau Bulling-Schröter, das alles ist nicht vorne und hinten nicht zusammen. einfach. Das wissen auch Sie. In Brandenburg ist das Verhältnis der Linken zur Kohle auch nicht so ganz ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fach. Sie haben groß angekündigt: Wir wollen aus der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des KfW-Finanzierung für Kohlekraftwerke aussteigen. Jetzt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver ist relativ klar, dass das nicht die IPEX-Projekte betref- Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fen wird. Auch das kann man nicht als Erfolg verkaufen. Auch nicht in NRW!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ja, Herr Krischer, auch in NRW ist das nicht so einfach Sie haben außerdem groß angekündigt: Kohlekraft- mit den Grünen. Danke für den Zwischenruf. – Ich will werke müssen vom Markt. – Wir wollen Sie da unter- damit sagen: Dass die Bundesumweltministerin dieses stützen. Aber darum haben wir gehofft, dass Sie jetzt Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist richtig. Wir hier das tun, was Herr Miersch mittlerweile gemacht hat, sollten sie dabei unterstützen; denn es kann nicht sein, nämlich zu sagen: Wir halten an dem 40-Prozent-Ziel dass hochflexible Gaskraftwerke vom Netz gehen und fest. alte Kohlemöhren sich rechnen. Dabei müssen wir sie unterstützen. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das hat sie gesagt!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE – Nein, sie hat gesagt: Wir halten am 2-Grad-Ziel für GRÜNEN]: In welcher Partei sind Sie denn?) 2050 fest. Deswegen, Herr Hofreiter, glaube ich, sollten wir (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nein! – Frank noch einmal Luft holen und schauen, was die Bundes- Schwabe [SPD]: Nein! Nachlesen, Leute!) regierung im Dezember vorlegt. Wir sollten – da bin ich Außerdem hätten Sie Herrn Homann eine deutliche mir ganz sicher – diese Bundesumweltministerin unter- Absage erteilen sollen und hätten sagen sollen, dass es stützen nicht sein kann, dass wir dieses Klimaziel aufkündigen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn Sie das täten, unterstützen wir Sie dabei; aber NEN]: Gegen Sigmar Gabriel, oder wie?) dann kämpfen Sie auch dafür.

(B) im Einsatz dafür, dass das eintritt, was wir wollen, näm- Lieber Herr Miersch, kämpfen Sie in der SPD dafür, (D) lich die Vorreiterrolle Deutschlands in der Europäischen dass das auch im Wirtschaftsministerium so gesehen Union und die Vorreiterrolle der Europäischen Union im wird. Es ist ja nicht so, dass es von irgendeiner anderen UN-Konzert. Unsere Glaubwürdigkeit wird sich letztlich Partei geführt wird. An dessen Spitze sitzt die SPD, und an der Vorreiterrolle messen lassen müssen. – In der aus diesem Hause wird dieses Ziel infrage gestellt. Des- Aktuellen Stunde gibt es leider nicht die Möglichkeit wegen ist es Ihre Verantwortung, für die Erreichung die- nach einer Zwischenfrage; deswegen kann ich sie nicht ses Ziels ordentlich zu kämpfen. zulassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Frau Umweltministerin, Sie werden mit Sicherheit in des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) den nächsten Monaten viel Kraft brauchen; denn das, Was klar ist: Mit den Zielen, die beim EU-Gipfel fest- was Sie angestoßen haben, war in den letzten Jahren gelegt wurden, erreichen wir das 2-Grad-Ziel eben nicht. nicht durchsetzbar. Das muss man hier immer wieder Daher kann es doch nicht richtig sein, die Ergebnisse des sagen. Sie haben uns und, ich hoffe, das ganze Haus an Wir müssen Ihrer Seite. EU-Gipfels hier als Erfolg zu verkaufen. eine Schippe oben drauflegen. Wenn Sie, wie hier immer Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. propagiert, die Vorreiterin sind, warum machen Sie es dann nicht wie Dänemark? Frau Weisgerber, Dänemark (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat nach dem Gipfel verkündet: Das reicht uns nicht; der CDU/CSU) deswegen legen wir eine Schippe oben drauf und sagen: Wir wollen nicht erst 2030 aus der Kohle aussteigen, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sondern schon 2025. – Solche Worte kamen aus Als nächste Rednerin spricht Annalena Baerbock. Deutschland nicht. Man stellt hier eher das Klimaziel infrage. So etwas macht doch kein Vorreiter. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ Kollegen! Da Matthias Miersch gleich losmuss, fange CSU]) ich gleich mit Ihnen an: Wir würden die Bundesumwelt- ministerin ja gerne unterstützen. Liebe Frau Hendricks, – Frau Weißgerber, ich weiß, Sie wollen darüber nicht dann müssen Sie aber auch ehrlich sein. Sie haben groß reden; Sie haben ja eben noch einmal offiziell zu Proto- angekündigt: Wir wollen eine Reform des ETS, am bes- koll gegeben, dass es Sie nervt, alle zwei Wochen über Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5857

Annalena Baerbock (A) Klimafragen zu reden. Wir aber wollen darüber reden. wie bisher, wenn wir an die fossilen Energien nicht her- (C) Weil es ja viel zu tun gibt, legen wir nicht die Hände in angehen, dann wird es zu einer Erderwärmung um mehr den Schoß; vielmehr müssen wir Antworten geben, und als 4 Grad Celsius kommen. Wenn es zu einer Erderwär- genau das erwarten wir auch von Ihnen als Regierungs- mung um mehr als 4 Grad Celsius kommt, dann steigt fraktionen. der Meeresspiegel um mindestens 80 Zentimeter. – Sie können in Ihre zukünftigen Haushalte schon einmal die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Milliarden einstellen, die wir brauchen, um Deutschland Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen wir davor zu schützen. auch! Aber wir reden nicht nur, sondern wir machen!) Herzlichen Dank. – Ja, dann machen Sie mal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Frau Weisgerber, was machen Sie Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: denn? Nichts!) Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas Jung. Der IPCC hat uns klar gesagt, wir müssen jetzt und nicht irgendwann in 20 Jahren mit dem Klimaschutz an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fangen. Das sagt nicht nur der IPCC, sondern das sagen neten der SPD) auch große Wirtschaftsunternehmen. Sie haben Ihnen vor dem EU-Ratsgipfel doch einen Brief geschrieben Andreas Jung (CDU/CSU): und haben gesagt: Wir brauchen ambitionierte 2030- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziele, weil wir sonst im internationalen Vergleich nicht In der Debatte vor dieser Aktuellen Stunde ging es um mehr wettbewerbsfähig sind. Ignorieren Sie doch nicht Flüchtlingsfragen, um die Frage, wie Flüchtlinge gerettet einfach, was Ihnen die Wirtschaft da rät. werden können, und um die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. Natürlich wurde dort wieder darauf hinge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wiesen, dass wir eine besondere Verantwortung haben, Zuruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ dazu beizutragen, dass Menschen ihre Heimat erst gar CSU]) nicht verlassen müssen. Dabei ging es angesichts der ak- Andere Länder wie Schweden gehen voran. Schwe- tuellen Krisen natürlich um sicherheitspolitische Fragen. den sagt: Unser Staatskonzern Vattenfall soll aus der Ich will die Debatte jetzt aber nutzen, um noch einmal Kohleverstromung aussteigen. Was ist die Antwort aus darauf hinzuweisen: Das ist selbstverständlich auch ein Deutschland? Die SPD-Linken-Regierung in Branden- (B) Thema für die Klimapolitik. Auch bei dieser Frage ent- (D) burg sagt – man muss es leider so klar feststellen –: Oh, scheidet sich, ob Menschen ihre Lebensgrundlage, ihre mein Gott, die Schweden wollen aus der Kohleverstro- Heimat verlieren oder ob sie in ihrer Heimat bleiben mung aussteigen; dann steigen wir als Land Branden- können. burg am besten ein. – Das würde das nur künstlich Ich erinnere mich an die Weltklimakonferenz in Bali. verlängern. Weil sich aus wirtschaftlichen Gründen kein Dort hat der Umweltminister von Papua-Neuguinea ge- Unternehmen findet, das dieses Risiko eingehen will, sagt: Bei der Frage des Klimaschutzes geht es für mein erwägt jetzt der neue Ministerpräsident Woidke sogar, Land, für meine Insel, für die Menschen in meiner Hei- öffentliche Bürgschaften auszureichen, damit es einen mat nicht um irgendeine politische Frage; es geht um Le- neuen Betreiber von Kohleverstromung gibt. Das ist ben und Überleben. – Er hat an die Weltgemeinschaft ap- mehr als absurd. pelliert, diese Verantwortung für die Menschen in seiner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heimat und für die Menschen überall auf der Welt wahr- sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE zunehmen. Das führt uns der IPCC-Bericht erneut vor LINKE]) Augen. Er zeigt uns nochmals und noch eindringlicher das, was in den letzten Jahren und in den vorausgegan- Wir fordern Sie daher noch einmal eindringlich auf: genen Berichten schon herausgearbeitet wurde. Es gibt Machen Sie als Bundesumweltministerin, als SPD-Frak- keine Ausreden, und es darf keine Ausreden geben. Wir tion, als Klimapolitiker innerhalb der CDU/CSU deut- brauchen ein gemeinsames, international abgestimmtes lich: Hände weg vom Klimaziel! Wir müssen bei dem Vorgehen. Wir brauchen ein wirksames Klimaschutzab- 40-Prozent-Ziel für 2020 bleiben. Wir müssen dabei kommen auf internationaler Ebene. bleiben, den Wandel im fossilen Kraftwerkspark einzu- leiten, und zwar nicht nur aus ökologischen, sondern (Beifall der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/ auch aus ökonomischen Gründen; denn wir wissen: So CSU]) kann es im Strommarkt nicht weitergehen. Wenn Sie am Weil die Debattenbeiträge hier durchaus differenziert 3. Dezember nicht zu dieser Erkenntnis kommen sollten, waren, will ich darauf hinweisen, dass die letzten Klima- dann können Sie gleich die Hotelbuchungen für Lima konferenzen doch nie daran gescheitert sind, dass stornieren; denn wir brauchen gar nicht nach Lima zu Deutschland oder die Europäische Union nicht bereit ge- fahren, wenn Deutschland dort nichts vorzutragen hat. wesen wäre, mitzumachen. Wir haben immer anderes si- Wenn Sie sagen: „Wir wollen da nichts weiter tun“, gnalisiert. Wir haben dafür gekämpft, wir haben darauf dann schlagen Sie doch einmal im IPCC-Report nach! In gedrungen, dass es ein Klimaabkommen gibt. Wir waren dem Bericht steht deutlich: Wenn wir so weitermachen bereit, zu unterschreiben. Wir haben versucht, andere 5858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Andreas Jung (A) mitzunehmen. Wir haben auch schon wichtige Schritte den wir im Bundestag darüber entscheiden und damit (C) unternehmen können. Deutschland ist hier über viele unseren Beitrag dazu leisten. Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Prägung hinweg immer treibender Motor gewesen und NEN]: Also, der Bundestag entscheidet da- ist es auch weiterhin. Wir stehen dazu und stehen auch rüber?) zu dieser Verantwortung. Das klare Signal ist: Deutschland hat ehrgeizige Ziele (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und ergreift ehrgeizige Maßnahmen, um sie umzusetzen. neten der SPD) Wir stehen zur Reform des Emissionshandels, die wir Das ist so, und das bleibt so, jetzt vor Lima und dann brauchen, damit der CO2-Ausstoß von Kohlekraftwer- auch vor der Konferenz im nächsten Jahr in Paris. ken reduziert wird, und wir sind uns sicher, dass die G 7 dabei eine wichtige Rolle übernehmen müssen. Das ha- Wenn ich sage: „Es gibt keine Ausreden“, dann will ben die Kanzlerin und die Bundesumweltministerin an- ich gleichzeitig sagen: Es gibt gar kein Vertun; die Kli- gekündigt. Deutschland und die Bundesregierung wer- maziele bleiben. – Sie haben sich teilweise auf einen De- den weiter eine drängende Rolle, eine Vorreiterrolle in battenbeitrag von Herrn Homann gestern bezogen. Ich der Klimapolitik spielen. glaube, es ist in dieser Aktuellen Stunde deutlich gewor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den: Das ist nicht die Haltung der Bundesregierung. Das neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- ist nicht die Haltung der Koalition. Das ist nicht die Hal- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Jung!) tung der Unionsfraktion. In dieser Debatte sprechen von unserer Seite fünf Redner; alle bekennen sich zu diesem – Herr Krischer, Sie haben gesagt, Sie hätten sich nicht Klimaziel. vorstellen können, dass Sie die Regierung Kohl einmal als Vorreiter bezeichnen würden. Möglicherweise kom- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men Sie in einigen Jahren auch zu einem milderen Urteil NEN]: Hier redet nicht Herr Fuchs! Hier redet über diese Bundesregierung. Ich bin mir sicher, wir kön- nicht Herr Bareiß!) nen die Weichen dafür in den nächsten Wochen stellen. Sie haben die Bundesumweltministerin gehört; auch sie Danke. hat sich klar dazu geäußert. Sie hat darauf hingewiesen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass es eine enge Abstimmung zwischen ihr und der neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- Bundeskanzlerin gibt. Es ist klar: Niemand wird vorge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Umso schlimmer, schickt; das wird entschieden zurückgewiesen. Die Kli- was Sie jetzt machen!) (B) maziele bleiben bestehen. (D) Wir diskutieren jetzt darüber, wie wir auch in der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Europäischen Union zu ambitionierten Klimazielen Als nächster Redner hat der Kollege Frank Schwabe kommen können. Wir haben in Brüssel einen ersten das Wort. Schritt machen können. Es ist doch wahr – das ist auch (Beifall bei der SPD) von der Bundesregierung so vertreten und öffentlich kommuniziert worden –: Wir Deutsche wären auch be- reit gewesen, darüber hinauszugehen. Deshalb war es Frank Schwabe (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und uns wichtig, dass formuliert wurde, dass der CO2-Aus- stoß in der EU bis 2030 um mindestens 40 Prozent sin- Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben ken soll. Mindestens – das heißt, da ist Spielraum nach beim Thema Klimaschutz eigentlich zwei Probleme. Das oben. Wir als Deutsche haben für diesen Spielraum ge- erste Problem ist die Ungleichzeitigkeit von Handeln worben. Aber andere wollten noch nicht einmal das mit- und Wirkung. Wenn CO2 in die Atmosphäre gelangt, machen. Deshalb war es ein Verhandlungserfolg der dauert es, bis wir sehen, welche Auswirkungen das hat. Kanzlerin und der Bundesregierung, dass das erreicht Das ist, glaube ich, ein gravierendes Problem. Das wurde. zweite gravierende Problem ist – der Kollege Lenkert hat ja dargestellt, welche Probleme mittlerweile auch in (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland sichtbar sind –, dass wir und andere in der NEN]: Das haben wir gesehen!) Welt leider für den Klimawandel verantwortlich sind, aber zuerst andere in der Welt die Auswirkungen zu tra- Darauf gilt es jetzt bei den nächsten Schritten aufzu- gen haben. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn das anders bauen; denn unsere besondere Verantwortung besteht wäre, würde man weltweit anders über Klimaschutz re- nicht nur darin, Ziele zu formulieren, sondern auch da- den, und dann wären wir deutlich weiter. rin, diese zu erreichen. Trotzdem will ich optimistisch sein. Der Weg ist in- Es wurde gefragt: Wo bleibt denn die Ehrlichkeit? – ternational eigentlich durchaus klar. Ich sehe auch gute Ich finde, es ist schon eine besondere Form von Transpa- Entwicklungen: weg von fossilen Energien, hin zu er- renz, wenn Ziele dargestellt werden und gleichzeitig ge- neuerbaren Energien, hin zur Energieeinsparung. Die sagt wird, dass es im Moment noch eine Lücke gibt und Welt ist zwar zum Teil durchaus indifferent, aber es gibt wir etwas tun müssen, um sie zu schließen. Genau da- auch Fortschritte. Deswegen bin ich auch optimistisch, rüber wird jetzt nicht nur diskutiert, sondern das wird im dass wir 2015 in Paris ein gutes Abkommen erreichen Dezember vom Bundeskabinett entschieden. Dann wer- werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5859

Frank Schwabe (A) Wahr ist – das ist hier mehrfach betont worden –: Die (Lachen des Abg. Oliver Krischer) (C) Welt schaut beim Ausbau der erneuerbaren Energien auf Deutschland. Wir waren diejenigen, die aus Deutschland Ganz im Gegenteil: Er wird in der Tat gemeinsam mit heraus die Energierevolution – so muss man das, glaube Barbara Hendricks dafür sorgen, dass dieses Ziel auch ich, benennen – weltweit ermöglicht haben. eingehalten werden kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Waren!) Obwohl ich es hier schon mehrfach gesagt habe, will – Ja, natürlich: zunächst einmal „waren“. Wir haben ei- ich es noch einmal betonen: Das große Verdienst von nen Anstoß gegeben, sodass die Preise weltweit deutlich Barbara Hendricks ist, dass wir uns ehrlich machen in gefallen sind. – Man schaut aber auch auf das, was bei der Debatte; denn in den letzten Jahren haben wir uns in uns „Energiewende“ genannt wird, und darauf, wie wir die Tasche gelogen. Ich muss leider auch noch einmal das in Deutschland organisieren. sagen: Insbesondere in den letzten vier Jahren gab es Ich will deutlich machen, dass der Beschluss zu den eher Rückschritte als Fortschritte. Klimazielen für 2030 für Europa ein Kompromiss war. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir hätten uns in der Tat mehr gewünscht. NEN]: Fortschritte sehe ich nicht!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch darüber NEN]: Bei der Kanzlerin bin ich nicht so si- zu diskutieren, dass es im Jahr 2016 einen Klimaschutz- cher!) plan gibt, weil wir endlich, wie ich finde, gesetzlich Aber am Ende müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass überprüfbar deutlich machen müssen, mit Blick auf eine Einigung der 28 Staaten zurzeit nicht (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr möglich ist. Das betrifft die drei Ziele, über die wir NEN]: Gesetzlich überprüfbar?) reden. Das betrifft aber auch den Sektor des Emissions- handels. Auch dort ist viel zu wenig passiert. Deswegen welche Schritte wir im Klimaschutz gegangen sind und ist es richtig und notwendig, dass das, was wir hier ver- welche wir noch gehen müssen. Deswegen ist es wich- abredet haben, über alle Fraktionen hinweg eingehalten tig, dass wir am 3. Dezember 2014 ein solches Klimaak- wird. tionsprogramm präsentiert bekommen. Ich schätze ja vieles an den Grünen, und Sie müssen Eines bleibt, auch nach dem 3. Dezember: Wir wer- uns treiben – das ist auch richtig so –; aber es geht natür- den hoffentlich ein gutes Programm – ich kenne es auch (B) lich nicht, dass Sie der Ministerin Falsches unterstellen. noch nicht – für den Bereich der nichtemissionshandels- (D) Ich habe noch einmal den Redetext der Ministerin durch- pflichtigen Sektoren sehen. Was problematisch bleibt, ist gesehen. Wenn dort steht: „Es besteht kein Zweifel: Das der Bereich der emissionshandelspflichtigen Sektoren; Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Heraus- gar keine Frage. Wir werden Antworten finden müssen, forderung für mich als Bundesumweltministerin“ – ich was passiert, wenn der Emissionshandel auf europäi- zitiere Frau Hendricks; das hat sie so gesagt – „und eines scher Ebene nicht ausreichend funktioniert. Das hat dann der wichtigsten Projekte dieser Regierung“, dann ist das auch etwas mit Kraftwerksparks in Deutschland zu tun. doch, glaube ich, nicht in Zweifel zu ziehen Diese Frage werden wir miteinander diskutieren müssen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Genau!) der CDU/CSU) Ansonsten wird das 40-Prozent-Ziel in der Tat nicht zu und dann sollten Sie das an dieser Stelle auch nicht tun. erreichen sein. Das ist die Diskussion, die wir in den Sie sollten sich auch nicht an Herrn Homann orientieren, nächsten Monaten gemeinsam zu führen haben. der vielleicht eher im Nachklang seines ehemaligen Wirtschaftsministers bestimmte private Philosophien (Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜND- vertritt. Ich finde, man kann ihm sagen, dass er das ei- NIS 90/DIE GRÜNEN]) gentlich nicht tun sollte. Er muss wissen, dass Dinge an- ders einsortiert werden, wenn er sich in irgendwelchen Ich hätte jetzt gerne zitiert, was Sigmar Gabriel bei Diskussionsrunden dahin gehend äußert. Aber das gilt der Klimakonferenz in Bali 2007 gesagt hat. Zeit dafür ganz gewiss nicht für diese Bundesregierung. Das gilt habe ich leider nicht mehr. Ich kann das irgendwann ein- auch für uns alle nicht. Das gilt im Übrigen auch nicht mal nachliefern. Dort hat er nämlich deutlich gemacht, für den Bundeswirtschaftsminister. dass es genau darum geht, dass am Ende die Energiever- sorgungsunternehmen in Deutschland begreifen, dass Ich habe gerade noch einmal Revue passieren lassen, wir weg müssen vom herkömmlichen Kraftwerkspark wie es eigentlich zu dem Reduktionsziel von 40 Prozent hin zu erneuerbaren Energien. gekommen ist. Wenn man das einmal historisch einord- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- net, war es Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der NEN]: Wenn Sie das 2014 noch einmal sagen, in den Jahren 2005 bis 2009 dafür gekämpft hat, dieses ist es gut!) Ziel bei uns in Deutschland festzuschreiben. Insofern wäre es natürlich völlig absurd, ihm zu unterstellen, dass Mein Eindruck ist, dass viele Unternehmen auf einem er dieses Ziel unterminieren möchte. guten Weg sind. Unternehmen wie Eon und andere lob- 5860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Frank Schwabe

(A) byieren mittlerweile für einen höheren CO2-Preis im feld. Vieles davon ist heute angesprochen worden. Ich (C) Emissionshandel. Wer hätte das vor ein paar Jahren ge- glaube, wir sollten eine Thematik ganz genau in den Fo- dacht? Insofern bin ich optimistisch. Wir sollten Ver- kus nehmen: Forschung und Entwicklung. Wir haben die trauen in die Bundesregierung haben und abwarten, was deutsche Hightech-Strategie, wir haben nationale Pro- am 3. Dezember auf den Tisch kommt. Dann werden wir gramme angehängt, wir haben ein Horizon-2020-Pro- hier sicherlich wieder zusammenkommen und das disku- gramm in Europa. Wir müssen diese Programme verstär- tieren. ken und verstetigen. Es geht im Wesentlichen darum, dass Unternehmen und Forschung den Weg in eine Ein herzliches Glückauf. marktreife Technologieentwicklung CO2-armer Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dukte gemeinsam gehen. Das ist von ganz außerordentli- der CDU/CSU) cher Bedeutung. Frau Staatssekretärin Bär, wir hatten vorgestern Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: – jetzt kommt ein Punkt, den ich ganz besonders betonen Als nächster Redner spricht der Kollege Matern von möchte – eine Veranstaltung in der amerikanischen Bot- Marschall. schaft – manche wird das wundern –, bei der wir uns die dies- und jenseits des Atlantiks befindliche Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU) der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie ange- schaut haben. Kalifornien – für sich genommen die acht- Matern von Marschall (CDU/CSU): größte Volkswirtschaft der Welt – ist dabei, ein Wasser- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und stofftankstellennetz aufzubauen, das bis zum Jahr 2021/ Kollegen! Wenn wir im Dezember nach Peru fahren, 2022 fertiggestellt sein soll. Dann können in diesem gro- dann werden Deutschland und auch die Staaten der ßen amerikanischen Bundesstaat die Menschen CO2-frei Europäischen Union deutlich machen: Wir stehen zu un- mobil unterwegs sein. Weil wir gerade über die Vorrei- seren auf dem Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober terrolle diskutieren, will ich schon deutlich sagen, dass 2014 eingegangenen Verpflichtungen, und wir stehen zu wir uns in Europa und in Deutschland auch aus wirt- unserer globalen Verantwortung. Wir können klar und schaftlicher und technologischer Perspektive anstrengen deutlich sagen, wohin die Reise geht. Mit Blick auf die müssen, unsere technologische Vorreiterrolle zu halten. Konferenz in Paris müssen wir einen klaren und verbind- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – lichen Fahrplan vorlegen. Einen Streik können wir uns Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in diesem Zusammenhang nicht mehr leisten. Die Bun- NEN]: Wiederzubekommen! – Oliver Krischer deskanzlerin – das ist gesagt worden – hat diese ambitio- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben (B) nierten Ziele auf dem Europäischen Rat durchgesetzt. keine Vorreiterrolle mehr!) (D) Dafür sind wir ihr sehr dankbar; Ministerin Hendricks hat es ausgeführt, und ich möchte das auch noch einmal Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: In Kalifor- sehr ausdrücklich sagen. nien steht das Silicon Valley. Es stellt sich die Frage, was von dort in Zukunft an technologischer Vorreiterrolle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch zu erwarten ist. Die Amerikaner sind eben nicht neten der SPD) hinter dem Mond, wie Sie es von den Grünen immer Dass Europa solche ambitionierten Ziele vorträgt, meinen. entspricht auch der besonderen Verantwortung Europas. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bei einem Blick in die Geschichte Europas müssen wir NEN]: Das behauptet keiner!) nämlich sagen: Die industrialisierten Länder sind maß- geblich verantwortlich für die Schädigung des Klimas, Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass das TTIP, das Sie die wir heute sehen. Das bedeutet auf der anderen Seite so kritisieren, in dieser Hinsicht schädlich ist. Ganz im aber nicht, dass weniger industrialisierte Länder keine Gegenteil, es wird den Wettbewerb auch um diese he- Anstrengungen unternehmen müssen. Im Gegenteil, sie rausragenden neuen Technologien beflügeln. Dann wer- müssen es sehr wohl. Wir wollen und werden ihnen da- den wir sehen, ob Amerika bei dieser modernen CO2-ar- bei helfen, und zwar unter anderem mit dem Green Cli- men Technologie nicht plötzlich vor uns ist. Wir müssen mate Fund, der, wie Sie wissen, bis zum Jahr 2020 mit uns anstrengen. 100 Milliarden Dollar aufgestockt werden muss. Auch diese Verpflichtung wollen wir gegenüber den weniger (Beifall bei der CDU/CSU) industrialisierten Ländern eingehen. Ich glaube daher, dass wir auf europäischer Ebene be- Eine Klimapolitik, die erfolgreich sein will, ist aber sonders stark in Forschung und Entwicklung investieren eine Klimapolitik – davon bin ich ganz fest überzeugt –, müssen. die nicht anklagen und nicht verurteilen darf, sondern die praktisch und verbindlich vorangehen muss. Darum Gehen wir also mit Freude, aber auch mit Ehrgeiz und geht es in Lima, und darum geht es dann in Paris. Kraft an diese Herkulesaufgabe! Glauben wir im Übri- gen an das Machbare und weniger an die Katastrophe! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gehen wir nach Peru mit folgender Einstellung: Prima neten der SPD) Klima in Lima. Die Frage, wie wir diese ambitionierten Klimaziele (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vor Ort erreichen, bezieht sich auf ein riesiges Themen- neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5861

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dass wir etwas abbauen sollen, dass wir aussteigen sol- (C) Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Nina len. Scheer. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es geht um die Debatte über das sogenannte Devest- der CDU/CSU) ment. Das hört sich ein bisschen rückwärtsgewandt an; es ist aber vorwärtsgewandt. Das genau ist der Anknüp- fungspunkt. Ban Ki-moon weist richtigerweise darauf Dr. Nina Scheer (SPD): hin, dass es nicht nur um den Ausbau erneuerbarer Ener- Liebe Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen gien geht, sondern auch um einen Strukturwandel, um und Kollegen! Der IPCC-Report verlangt die vollstän- den Ausstieg aus veralteten Energiegewinnungsformen. dige Dekarbonisierung in allen Sektoren bis spätestens zum Jahr 2100. Daraus folgt zuallererst für uns in (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Deutschland, dass wir natürlich nicht das Minderungs- Bulling-Schröter [DIE LINKE] und Oliver ziel von 40 Prozent bis 2020 infrage stellen. Ich bin froh, Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dass das hier so deutlich klargestellt wurde. Zu den Äu- Dieser Herausforderung müssen wir uns natürlich ßerungen von Herrn Homann ist alles gesagt worden. auch in Deutschland stellen, gerade vor dem Hinter- Man sollte sie nicht mit der Bundesregierung in Verbin- grund der immensen Überkapazitäten am Strommarkt. dung bringen. Darüber hinaus – das wurde auch gesagt – Ich finde es richtig, dass unsere Umweltministerin genau müssen wir uns für die Schlussfolgerungen einsetzen, dieses Themenspektrum benannt hat. Angesichts der die der IPCC-Report nahelegt, um daraus in Paris ent- Überkapazitäten bedarf es eines klimaschutzgerechten sprechende Handlungserfordernisse zu beschließen. Abbaus, und zwar nur eines solchen. Dafür müssen wir Wenn wir uns die Chronologie der Klimareporte der aber einen Perspektivwechsel vornehmen. Jetzt werde letzten Jahre anschauen, so erkennen wir, dass die Re- ich vielleicht etwas philosophisch. Aber wenn es um ei- porte stets eine eindeutige Aussage enthalten: Ein Nicht- nen Perspektivwechsel geht, müssen wir uns vergegen- handeln ist auf jeden Fall viel teurer als ein Handeln, als wärtigen, dass eine Belohnung von Nachhaltigkeitspoli- eine engagierte Klimapolitik. tiken in vielen Bereichen nicht angezeigt ist. Wenn wir schauen, wie Ratingagenturen aufgestellt sind, wie das (Beifall bei der SPD) Handeln nicht nur von Investoren, sondern auch von Staaten bewertet wird, dann sehen wir, dass die Bewer- Bereits heute können wir sehen: Die Vollkosten neuer tungen häufig nicht an Zukunftsfestigkeit und Nachhal- Wind- und Solaranlagen sind auf dem gleichen Niveau tigkeit ausgerichtet sind. Vielleicht wäre es eine Idee, die (B) wie die Vollkosten neuer Steinkohle- und Gaskraft- Entlastungseffekte, die Investitionen in Zukunftstechno- (D) werke. Die emissionsarmen Technologien verursachen logien mit sich bringen, sowie die Langfristigkeit und somit heute schon keine höheren Kosten mehr als die Zukunftsfestigkeit dieser Investitionen in der Bewertung fossilen Energieträger, die einen großen Rucksack an ex- des Staatshandelns abzubilden. ternen Kosten mit sich schleppen. Insofern ist es jetzt wichtig, in den Bereichen der Erneuerbare-Energien- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Technologien, der Effizienzsteigerungsmöglichkeiten NEN]: Alles super! Hat nur nichts mit der und der Wärmeenergiewende endlich auf die Chancen Politik der Bundesregierung zu tun!) zu blicken und, wenn wir uns diesen neuen Technolo- Ich sehe, ich bin schon am Ende meiner Redezeit. In- gien widmen, nicht so sehr die damit einhergehenden sofern möchte ich an dieser Stelle nur einen letzten As- Belastungen in den Fokus zu nehmen. Die Erneuerbare- pekt nennen – das wäre eine weitere Forderung an uns Energien-Technologien, durch deren Anwendung wir selbst –: Bei internationalen Verhandlungen sollten wir den Ausbau in den letzten Jahren erfolgreich hinbekom- im Blick behalten, dass im Hinblick auf das internatio- men haben – darauf ist hingewiesen worden –, zeigen nale Verständnis von Klimaschutzpolitik Korrekturbe- uns auf, welche wirtschaftlichen Chancen in ihnen ste- darf besteht. Ich finde es nicht gut, dass die Atomenergie cken; wir müssen sie einfach nur besser wahrnehmen. dort nach wie vor – das ist ja nicht erst seit heute so – als eine klimafreundliche Technologie angesehen wird. Das Die im Bericht dargestellten Herausforderungen lie- ist eine Hausaufgabe, die Deutschland hat; denn wir sind gen also darin, endlich die Chancen einer nachhaltigen mit diesem Gedanken schon weit fortgeschritten. Wir Wirtschaftspolitik und einer nachhaltigen Wirtschafts- müssen das auch international auf die Beine stellen. weise zu erkennen und uns auf eine zukunftsfeste Wirt- schafts- und Industriepolitik einzuschwören. Die Energie- Vielen Dank. wende ist der Schlüssel zu ebendieser Industriepolitik. Das ist eine Erkenntnis, die wir aus dem Report zu zie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen haben. der CDU/CSU)

Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat von Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ban Ki-moon, dem UN-Generalsekretär, anbringen. Er Als letzter Redner in der Debatte spricht der Kollege sagte auch in Richtung großer Investoren, dass sie mehr Carsten Müller. Geld in erneuerbare Energien als in fossile Brennstoffe stecken sollen. Damit sagt er nicht nur, dass wir die er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neuerbaren Energien voranbringen sollen, sondern auch, neten der SPD) 5862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): rhein-Westfalen hat nun ein Klimaschutzgesetz be- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schlossen. Ich weiß nicht, ob Sie an den ersten Vorläu- Herren! Liebe Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde ist fern beteiligt waren. Aber ehrlich gesagt ist das eine eine abermalige gute Möglichkeit, die Haltung der Bun- herbe Enttäuschung – leider haben Sie es aus unserer desregierung zu einem Thema zu unterstreichen, das sie Sicht völlig unterlassen, Frau Baerbock, sich dazu einzu- sehr ernst nimmt, nämlich dem Klimaschutz. Ich will da- lassen –: Leider steht in diesem Klimaschutzgesetz, das für gerne einige wenige Belege anführen: Wir haben uns von einer rot-grünen Landesregierung auf den Weg ge- verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr bracht und verabschiedet wurde und das von einem 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Dazu stehen wir grünen ressortzuständigen Minister ganz wesentlich in ohne Wenn und Aber. Mit dem „Aktionsplan Klima- die Wege geleitet wurde, ein CO2-Minderungsziel von schutz 2020“, an dem intensiv gearbeitet wird und der in 25 Prozent. allernächster Zeit sehr scharfe Konturen annehmen wird, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- leiten wir die entscheidenden Schritte ein. Wir denken NEN]: Das erste Klimaschutzgesetz in Deutsch- auch darüber hinaus; denn das große Ziel, das über allem land! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) steht, ist eine Absenkung der klimaschädlichen Emissio- nen bis zum Jahr 2050 um rund 95 Prozent. – Herr Krischer, ehrlich gesagt: Nutzen Sie Ihre künfti- gen Redezeiten, um diese Peinlichkeiten zu erklären! In Ihrem recht maßvoll gehaltenen Beitrag, Herr Kol- lege Lenkert, haben Sie an sich die zentrale Frage der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heutigen Debatte gestellt, nämlich: Warum macht die NEN]: Das ist doch albern! Das ist völlig al- unionsgeführte Bundesregierung in der Klimaschutz- bern, was Sie hier machen!) politik so weiter wie bisher? – Sie haben leider keine Ich mache etwas anderes, weil die Zeit voranschreitet. Antwort gegeben. Ich will sie Ihnen gern geben: weil wir Ich erspare Ihnen die Peinlichkeit, die von der Landesre- uns grundsätzlich auf dem richtigen Weg befinden. gierung im Internet eingestellte Sprachregelung, wie (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- man am besten antworten soll, wenn man diese kritische NEN]: Deshalb verfehlen wir die Ziele, oder Frage gestellt bekommt, in der Langversion vorzulesen. wie?) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) – Herr Krischer, zu Ihnen komme ich gleich noch. – Ich gebe Ihnen die Antwort, die richtig ist: weil es die Deswegen ist es gut, dass Deutschland entgegen Ihren rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nicht Behauptungen nach wie vor eine Vorreiterrolle in Eu- kann und – das befürchte ich – weil sie das nicht will. ropa spielt, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach wie (B) vor Klimakanzlerin ist (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer (D) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nennen NEN]: Klimakanzlerin a. D.!) Sie mal ein Bundesland mit einer schwarzen Regierung! – Zuruf von der SPD: Vorsicht! und weltweit mit ihren Äußerungen intensiv beobachtet Vorsicht!) wird. Am besten verwenden Sie, wie gesagt, beim nächsten Meine Damen und Herren, das Ziel steht fest: Bis Mal etwas Redezeit darauf. 2030 sollen die CO2-Emissionen um 40 Prozent redu- ziert werden. Meine Damen und Herren, Klimaschutzpolitik ist sehr konkret. Dazu müssen alle Bereiche ihren Beitrag (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE leisten. Ich will im Wesentlichen einen Beitrag heraus- GRÜNEN]: Bis 2020! Nicht bis 2030!) greifen, damit es auch konkret wird, nämlich den Be- reich des Verkehrs. Zwischen 1999 und 2012 haben wir Ich will mit Blick auf die europäische Ebene etwas Was- in der Bundesrepublik – das untermauert die Vorreiter- ser in den Wein geben und einräumen, dass ich mir bei rolle – die CO -Emissionen um 31 Millionen Tonnen ge- der Frage des Anteils der erneuerbaren Energien durch- 2 senkt. Wir haben das mit einem ganzen Bündel an Maß- aus ambitioniertere Ziele bei der Festlegung hätte wün- nahmen erreicht, die auch weitergeführt werden sollen, schen können. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für beispielsweise zum Thema „Elektromobilität“. Da sind die Energieeffizienz. wir mit der Bundesregierung auf einem klugen Weg. Das Herr Krischer, jetzt sind Sie dran. Elektromobilitätsgesetz ist mit einer Vielzahl von Anrei- zen auf den Weg gebracht worden und wird intensiv dis- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kutiert. Ich finde das richtig. Ich finde es auch richtig, NEN]: Ah!) dass wir zu intelligenten Verkehrsverlagerungen gekom- Sie haben mit der Kollegin Baerbock in dieser Diskus- men sind. sion mächtig auf den Eimer gehauen, und zwar so mäch- Angesichts der aktuellen Situation muss ich aller- tig, dass ich noch einmal nachschauen musste, aus wel- dings anmerken, dass bei diesem Ziel, das so wichtig ist, chem Heimatbundesland Sie eigentlich stammen. Ich der aktuelle Streik der Lokführer in der Bundesrepublik habe nachgeschaut: Sie kommen aus Nordrhein-Westfa- durchaus kontraproduktiv ist. len. Sie waren sogar eine Zeit lang in der Landtagsfrak- tion tätig; bei der einen oder anderen Gelegenheit ist das (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- immer einmal angesprochen worden. Das Land Nord- NEN]: Ich bitte Sie!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5863

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Das ist ein Ansatz, wie man Klimapolitik mit kleinen Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) und insofern auch unrichtigen Maßnahmen unterminie- desminister des Innern: ren kann. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Sitzung liegt dem Deutschen Ich will allerdings gern noch einige Hinweise geben, Bundestag der Entwurf eines Gesetzes der Bundesregie- was aus meiner und aus unserer Sicht in Angriff genom- rung zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und men werden sollte, beispielsweise ein stärkeres Setzen weiterer Vorschriften zur abschließenden Beratung vor. auf alternative Antriebe und alternative Treibstoffe. Die Grundlage dieses Gesetzentwurfs – das wissen wir – ist steuerliche Begünstigung von Autos mit Gasantrieb der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses der muss weiterhin gewährleistet sein, und auch Rußparti- Bundesregierung, der sich mit „Rechtsfragen und He- kelfilter – das habe ich mehrfach gesagt, auch im Koali- rausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen tionsvertrag steht das eindeutig – sollten weiterhin steu- Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitglied- erlich gefördert werden. Frau Hendricks, hier müssten staaten“ – so der ausführliche Titel – befasst hat. Sie bitte noch nachbessern und auch schneller liefern. Der Ausschuss war notwendig und richtig, weil es Gestatten Sie mir zum Schluss, damit es konkret wird, zwei bewussten oder auch unbewussten Fehlbewertun- eine Bemerkung zu einem Bereich, der mir sehr am Her- gen der Armutszuwanderung innerhalb der EU entge- zen liegt. Klimaschutz wird nur dann für alle besonders genzutreten galt. Es war und ist nicht klug, diese Zuwan- gut nachvollziehbar und umsetzbar, wenn wir uns ge- derungsprobleme innerhalb der EU zu überschätzen. meinsam um die steuerliche Förderung von energeti- Aber es war und ist mindestens ebenso gefährlich für die scher Gebäudesanierung kümmern. Ich hoffe, dass wir Akzeptanz der europäischen Integration, wenn Politiker hier in diesem Hause sehr schnell einen breiten Konsens die damit zusammenhängenden Probleme ignorieren herstellen können. Wenn wir hier in diesem Hause Kon- oder die Belastungen für Bürger und Städte gar tabuisie- sens erreichen, dann werden wir auch die Bundesregie- ren. rung dazu bewegen, dieses wichtige Thema künftig schneller und entschlossener anzugehen, als sie es bisher Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung getan hat. zentrale Vorschläge des Ausschusses zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügig- Vielen Dank. keitsrecht sowie zur Entlastung betroffener Kommunen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- konsequent um. Verschiedene Kommunen und kommu- neten der SPD) nale Spitzenverbände haben in dringlichen Appellen wiederholt auf die Belastungen hingewiesen, die mit ei- (B) ner steigenden Zuwanderung aus der EU verbunden (D) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aktuelle Stunde. Die Berichte der Kommunen zeigen aber auch: Es gab und es gibt hier kein flächendeckendes Problem. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Eine Reihe von Kommunen, in erster Linie einige Groß- städte, sieht sich aber zu Recht durch die Folgen eines – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- stetig wachsenden Zuzugs aus anderen Mitgliedstaaten regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- der Europäischen Union belastet. Die Bundesregierung zes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/ hat hier einen Handlungsbedarf erkannt. Die Bundesre- EU und weiterer Vorschriften gierung hat mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz- Drucksachen 18/2581, 18/3004 entwurf einen Handlungsvorschlag gemacht. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten bringt für schusses (4. Ausschuss) unser Land und auch für die zuziehenden Menschen in erster Linie viele Vorzüge mit sich. Der weit überwie- Drucksache 18/3077 gende Teil der Zuwanderer kommt zu uns, um eine Ar- beit oder eine Ausbildung aufzunehmen. Ich will es – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) deshalb noch einmal sehr deutlich betonen: Die Freizü- gemäß § 96 der Geschäftsordnung gigkeit in Europa ist eine der bedeutendsten Errungen- Drucksache 18/3083 schaften des europäischen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für seine Bürger. Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantrag und ein Entschlie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Volker Beck [Köln] Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU hat die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu sich zum Schluss auch noch zum Klatschen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. entschlossen!) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Die europäische Freizügigkeit hat aber klare rechtli- Debatte hat der Staatssekretär Dr. Günter Krings das che Voraussetzungen. Sie gilt insbesondere für die Auf- Wort. nahme einer Ausbildung oder einer Arbeit oder zu einer 5864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) konkreten Suche nach einem Arbeitsplatz. Es gibt kei- Übereinstimmung mit dem Europarecht befristet und die (C) nen europarechtlichen Grundsatz, wonach zum Beispiel Erschleichung von Aufenthaltsbescheinigungen durch nur die Mehrheit der Zuwanderer, die aus einem Mit- falsche Angaben konsequent unter Strafe gestellt wer- gliedstaat nach Deutschland kommt, die rechtlichen Vo- den. Beim Kindergeld wollen wir wirksam Doppelzah- raussetzungen der Freizügigkeit erfüllen muss. Die Vo- lungen unterbinden. raussetzung für dieses Recht muss jeder Einzelne (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erfüllen. Gerade weil die Europäische Union mehr ist als NEN]: Was hat das jetzt mit EU-Freizügig- ein Staatenbund, gerade weil sie eine Union der Bürger keits-Berechtigung zu tun?) ist, müssen die Voraussetzungen der Freizügigkeit bei je- dem einzelnen Zuwanderer, in seiner Person, vorliegen. Künftig wird die Kindergeldzahlung von der eindeutigen Darauf bestehen wir. Identifikation von Antragstellern und Kindern durch An- gabe der steuerlichen Identifikationsnummer abhängig Wir dürfen nicht so tun, als ob mit einem steigenden sein. Ferner wollen wir entschieden gegen Scheinselbst- Zuzug von Menschen aus anderen Mitgliedstaaten vor ständigkeit und Schwarzarbeit vorgehen. Dazu sieht der Ort, in den Städten und Gemeinden, nicht auch Probleme vorliegende Gesetzentwurf eine Regelung vor, mit der verbunden sein könnten. Betroffene Städte und Gemein- die Zusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzar- den berichten von einer steigenden Belastung ihrer Sys- beit intensiviert wird. teme der kommunalen Daseinsvorsorge und von einer Verschärfung sozialer Probleme. Dabei geht es etwa um Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung können je- den Bereich der Schule, um die Versorgung mit Wohn- doch in keinem Fall allein zu einer Lösung der anstehen- raum, um die unberechtigte Inanspruchnahme sozialer den Probleme beitragen. Wir wollen den betroffenen Leistungen oder um die Gesundheitsversorgung. Menschen, die sich mit Recht hier aufhalten, die Integra- tion erleichtern. Wir werden Integrationskurse in beson- Aktuell sehen sich Städte und Gemeinden zusätzlich ders betroffenen Kommunen stärker auf den Bedarf von belastet, weil sie eine stetig steigende Zahl von Flücht- zuziehenden EU-Bürgern zuschneiden und gezielt spezi- lingen und Asylbewerbern aufnehmen sollen; darüber fische Hemmnisse für eine Teilnahme an Integrationsan- haben wir heute Mittag in diesem Hause debattiert. Auch geboten abbauen. Damit unterstützen wir nicht nur zu- diesbezüglich will der Bund im Rahmen seiner Möglich- ziehende EU-Bürger, sondern wir leisten hiermit auch keiten dazu beitragen, rasch Lösungen zu finden. Das einen Beitrag zur Entlastung der Kommunen bei der In- letztgenannte Thema ist zwar nicht das Thema dieser tegration vor Ort. Debatte, man muss aber sehen, dass diese beiden zusätz- lichen Aufgaben viele Kommunen vor große Herausfor- Meine Damen und Herren, die Zuwanderung nach derungen stellen. Deutschland ist nicht statisch, sondern ein Prozess, der (B) (D) in seiner Form, seinem Ablauf und seinen Gründen ei- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir nem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Damit zwei zentrale Ziele: verändern sich auch die sich daraus ergebenden politi- Erstens. Wir wollen die betroffenen Kommunen sub- schen Herausforderungen. Der Gesetzentwurf, den wir stanziell entlasten. heute beraten, kann auch aus diesem Grund keine Ant- wort auf alle Probleme im Zusammenhang mit dem Zu- Zweitens. Wir wollen die Akzeptanz in unserer Ge- zug aus anderen EU-Staaten geben. Er ist aber ein wich- sellschaft für die Freizügigkeit in Europa nachhaltig si- tiger Schritt zur Entlastung der Kommunen und zur chern. Gerade deshalb ist es wichtig, gegen Missbrauch Unterbindung von Missbrauch. Damit wollen wir zu- im Zusammenhang mit diesem Recht gezielt vorzuge- gleich die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft hen. insbesondere für Menschen erhalten, die zu uns kommen Lassen Sie mich kurz einen Blick auf die Hilfen für und unserer Hilfe in besonderer Weise bedürfen. unsere Kommunen werfen: Wir stocken die Bundesbe- Diese Koalition bleibt dabei: Wir treten für Freizügig- teiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung keit, aber auch gegen den Missbrauch von Rechten ein. nach dem Sozialgesetzbuch II um 25 Millionen Euro auf. Das Geld kann, so wir das hier beschließen, noch in (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Jahr an die Länder fließen, in denen die beson- NEN]: Aber der Missbrauch wird ausdrücklich ders involvierten Städte und Gemeinden liegen, damit es nicht im Staatssekretärsbericht bestätigt!) dann möglichst umgehend – hoffentlich – an die betrof- Genau das schaffen wir hiermit. Außerdem ist dies ein fenen Kommunen zielscharf weitergegeben werden großer Beitrag zur Entlastung der Kommunen. Wir zei- kann. Künftig sollen durch eine Änderung im Sozialge- gen, dass diese Koalition auch die kommunalen Pro- setzbuch V die Impfkosten für Kinder und Jugendliche bleme ernst nimmt und sie nicht unter den Teppich kehrt. mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus übernom- Diese Koalition sorgt sich um die Städte und Kommunen men werden. in unserem Land und arbeitet daran mit, dass die Pro- Zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammen- bleme, die dort entstehen, gelöst werden. Aus diesem hang mit dem Freizügigkeitsrecht sieht der vorliegende Grunde bitte ich Sie ganz herzlich um Zustimmung zu Gesetzentwurf eine Reihe von Maßnahmen vor: Im Frei- diesem Gesetzentwurf. zügigkeitsrecht sollen befristete Wiedereinreisesperren Vielen Dank. im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug ermöglicht werden. Das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche soll in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5865

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: den Versicherungsschutz, das Jobcenter lehnt den Antrag (C) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das auf Hartz IV und Qualifikationsmaßnahmen ab. Am Wort. Ende kommt die Ausländerbehörde aber zu einem ganz anderen Ergebnis und bestätigt ihr Aufenthaltsrecht. Die (Beifall bei der LINKEN) Familie darf bleiben, verliert aber ihre sozialen Rechte. Wie perfide ist denn das? Was ist denn das für ein Büro- Ulla Jelpke (DIE LINKE): kratiekram? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muss hier deutlich sagen: Vor einem Jahr wurde mit dem (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ insbesondere von der Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU eine doch recht populistische Debatte befeuert, die NEN]) vor allen Dingen darauf aus war, Menschen aus Bulga- Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- rien und Rumänien und insbesondere Roma, die hierher tion, Sie wollen wieder Einreisesperren einführen, wie zuwandern, auszugrenzen und zu treffen. wir eben schon gehört haben, beispielsweise dann, wenn (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja ein EU-Bürger die Behörden getäuscht hat. nicht! Es geht um den sozialen Missbrauch!) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh, wie Bis heute hat es keinen einzigen Beleg gegeben, dass furchtbar! Das ist ja unglaublich!) es diesen Missbrauch ernsthaft gibt. Natürlich gibt es Doch den Unionsbürgerrechten zufolge sind Einreise- Einzelfälle. sperren nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und (Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha! Die Stadt Ordnung erlaubt. Der Gesetzentwurf geht also weit über Duisburg schön also, ja?) das Erlaubte hinaus und setzt eine Täuschung der Behör- den mit einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit Aber dass über 400 000 Menschen aus Bulgarien und gleich; auch das ist doch völlig absurd. In Sonntagsreden Rumänien eingewandert sind, hier arbeiten, Steuern zah- betonen wir hier immer wieder, wie wichtig die Freizü- len, in die Sozialsysteme einzahlen und die deutsche Ge- gigkeit der EU ist; das haben wir eben auch wieder ge- sellschaft davon im Grunde genommen auch profitiert, hört. Aber hier schaffen Sie Regelungen, die dieses hört man hier nie. Es wird immer auf die Minderheit ab- Recht aushöhlen. Das nenne ich eindeutig Heuchelei. gestellt, von der der eine oder andere im Hinblick auf den Sozialhilfebedarf vielleicht einmal falsch vorgegan- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten gen ist. Ich will hier ganz deutlich sagen: Die Linke ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dafür, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger ihre sozialen (B) (D) Rechte wahrnehmen können und vor allen Dingen der Ich will noch kurz auf den vermeintlichen sozialen Bund Unterstützung leisten muss, wenn es in den Kom- Missbrauch eingehen. Ich habe es eben schon einmal ge- munen der Hilfe bedarf, insbesondere was Ausbildung sagt: Im vergangenen Jahr gab es 91 Fälle, in denen der und Fortbildung angeht. Verdacht bestand, dass Sozialhilfemissbrauch bzw. -be- trug begangen wurde. Wie gesagt, dem steht gegenüber, Meine Damen und Herren, die sozialen Rechte der dass über 400 000 Menschen hier arbeiten. Unionsbürgerinnen und -bürger werden von dieser Bun- desregierung unter Vorbehalt gestellt. Laut Gesetzent- Man fragt sich also wirklich: Warum dieser Auf- wurf soll sein Aufenthaltsrecht verlieren, wer nach sechs wand? Warum diese Einschränkung bei einem ganz Monaten noch keine Arbeit gefunden hat. Diese Rege- wichtigen Recht der EU, nämlich bei der Freizügigkeit? lung ist pauschal und sehr restriktiv. Mir soll einmal je- Dazu hat zu der Anhörung eine zuständige Bezirks- mand zeigen, wie das gehen soll, wenn man in einem an- stadträtin aus Berlin-Neukölln in ihrer Stellungnahme deren EU-Staat völlig neu anfängt. geschrieben, dass europäische Unionsbürger lediglich Damit nicht genug: In Zukunft sollen auch Kinder- ihr Recht auf Freizügigkeit nutzten und die damit ver- geldstellen, Jobcenter und Krankenkassen prüfen, ob bundenen Sozialleistungen in Anspruch nähmen. Dabei Unionsbürger und -bürgerinnen möglicherweise länger könne nicht automatisch von einem Missbrauch oder als ein halbes Jahr in Deutschland verbleiben können, Sozialleistungsbetrug gesprochen werden, sondern in weil sie die Voraussetzungen erfüllen müssen. In der vielen Fällen lediglich von einer Wahrnehmung von Sachverständigenanhörung, die wir im Innenausschuss Rechten. durchgeführt haben, haben wir einige Beispiele gehört, Man kann es auch anders ausdrücken: Sie stellen mit die gezeigt haben, wie absurd die Folgen sein können. diesem Gesetz und Ihrem weiteren Vorhaben das Frei- Ein Beispiel: Eine EU-Bürgerin aus Dänemark, die zügigkeitsrecht infrage, weil es vereinzelte Fälle von mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Deutschland ge- Missbrauch geben mag. Das nenne ich, mit Kanonen auf kommen ist, wird von ihrem Mann verlassen. Sie hat die Spatzen zu schießen. Kinder inzwischen aber gut integriert; sie gehen in den (Beifall bei der LINKEN) Kindergarten, sie haben Freunde, sie sprechen die deut- sche Sprache. Deshalb möchte die Frau gerne hierblei- Meine Damen und Herren, die Linke nimmt den ben. Aber wenn sie nicht schnell genug Arbeit findet, Grundgedanken der Europäischen Union ernst. Wir sind kann ihr Folgendes passieren: Die Kindergeldstelle lehnt dafür, dass alle Unionsbürger und -bürgerinnen die ihren Kindergeldantrag ab, die Krankenkasse verweigert gleichen Rechte haben. So sollte man es auch weiter 5866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Ulla Jelpke (A) praktizieren. Das Gesetz ist völlig überflüssig und reine (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Schikane. NEN]: Und Sie glauben nicht, dass das reicht, oder? Nicht ernsthaft!) Danke. und dass Impfkosten für Kinder von EU-Bürgerinnen (Beifall bei der LINKEN) und -Bürgern übernommen werden. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: DIE GRÜNEN]: Das ist das Einzige!) Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Castellucci das Wort. Zuwanderung ist nicht nur selbst gut, sondern man muss sie auch gut machen. Was heißt steuern und gestal- (Beifall bei der SPD) ten? (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Lars Castellucci (SPD): GRÜNEN]: Wiedereinreisesperre!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte in Abwandlung eines alten Spruches sagen: Zunächst einmal zwei Feststellungen: Deutschland braucht Zuwanderung, und Deutschland profitiert von Wer morgen sicher leben will, der muss heute Zuwande- Zuwanderung. rung nicht nur zulassen, sondern er muss sie steuern und gestalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der NEN]: Wo ist der Rechtsanspruch auf Integra- CDU/CSU) tionskurse?) Deutschland braucht Zuwanderung, weil wir in eini- Wer nicht immer nur in kurzfristigen Zeiträumen gen Jahren, in einigen Jahrzehnten auch noch Leute denkt, der weiß, dass wir in den vergangenen Jahren haben müssen, die die Steuern zahlen, die wir für den – nehmen wir einfach das abgelaufene Jahrzehnt – nicht Erhalt unserer Infrastruktur brauchen, weil wir Leute nur Jahre mit steigenden Zuwanderungszahlen hatten, brauchen, die in die Sozialversicherungssysteme einzah- sondern sogar Minuszahlen. Wir sind also weit entfernt len, damit unter anderem die Renten meiner Generation von der Zuwanderung, die wir brauchen für den Infra- auch noch finanziert sind, damit die Angehörigen meiner strukturerhalt, für die Sozialversicherungsbeiträge und Generation und der vielen Generationen, die hoffentlich für Steuern in der Zukunft. Wir machen die Zuwande- noch nachkommen, gepflegt werden können, und wir rung nicht gut genug, damit sich diese Versprechen in (B) (D) brauchen Leute für andere Bereiche, in denen Fachkräf- Steuern, in Sozialversicherungsbeiträgen und in Integra- temangel herrscht. tion einlösen können. Außerdem profitieren wir von Zuwanderung. So ist es Wir haben hier wirklich noch eine große Gemein- im Bericht des Staatssekretärs eindeutig festgehalten. schaftsaufgabe vor uns. Es gibt eine Fülle von legalen Das gilt insbesondere – darum ging es ja – für die Men- Zugangswegen. Diese Fülle von legalen Zugangswegen schen, die aus Europa zu uns kommen. ergibt aber noch kein Gesamtkonzept. Daran müssen wir (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weiter arbeiten. NEN]: Fragt sich, was Sie bei dieser Begrün- (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang dung mit dem Gesetzenwurf wollen!) Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gleichzeitig – das ist ja kein Wunder – ist Zuwande- NEN]: Das hat wenig mit EU zu tun!) rung bzw. das Zusammenleben insgesamt immer mit Jetzt zur EU-Freizügigkeit. Das ist eine große Errun- Problemen behaftet. Das will ja niemand in Abrede genschaft. Das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich stellen. finde, das ist fantastisch. Für mich – dabei denke ich an Sonntag – wächst da ein Stück weit zusammen, was in Wo stellen sich diese Probleme? Sie stellen sich bei Europa zusammengehört. Ich habe das Fernziel, dass wir den Kommunen; denn da kommen die Menschen an, und irgendwann einmal eine vollständige Freizügigkeit in da brauchen sie im Zweifel Wohnraum. Ferner müssen Europa haben. die Kinder in die Schule gehen; denn für sie gilt die Schulpflicht. Außerdem stellt sich die Frage von Arbeit. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Da stellt sich die Frage, was passiert, wenn jemand NEN]: Dazu leisten Sie aber keinen Beitrag!) krank wird, usw. Ich weiß nicht, ob ich das jemals erleben werde. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das sind die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Regierung Probleme, die aber nicht angegangen werden!) so weitermacht, sicher nicht!) Deswegen ist es gut – und das ist auch für uns der Aber vielleicht kann ich ein Stück weit dafür arbeiten. zentrale Inhalt dieses Gesetzesvorhabens –, dass wir die Kommunen entlasten und mit 25 Millionen Euro für In jedem Fall wird es eine Zeit mit einem Übergang Kosten der Unterkunft unterstützen geben, und es ist nicht richtig, wenn wir Übergänge dif- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5867

Dr. Lars Castellucci (A) famieren, die wir doch brauchen, weil die Zuwanderung zeichnet worden ist, der im Mai dieses Jahres hier eine (C) auch gestaltet und geregelt werden muss. Zu einer Rege- beeindruckende Rede gehalten hat. Das sind Menschen, lung können, wie es hier vorgesehen ist, auch Elemente die sich für interreligiösen Dialog, für interkulturellen von Befristung oder Wiedereinreisesperren gehören. Bei Dialog einsetzen, Menschen, die sich anderen, die fremd Letzteren geht es um Einzelfälle, um schwerwiegende sind, nähern und dadurch sich selbst ein Stück weit bes- Einzelfälle. Wir haben zugesagt, dass wir in zwei Jahren ser kennenlernen, Menschen, die in vielen Projekten für ganz sachlich und nüchtern analysieren werden, ob da ein gutes Miteinander arbeiten. Mein Wunsch ist, dass weiterer Steuerungsbedarf besteht. wir in unserem Reden und unserem Tun uns diese Men- schen, diese Brückenbauerinnen und Brückenbauer, zum (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vorbild nehmen. NEN]: Nur konnten Sie die Einzelfälle im Ausschuss auf Nachfrage nicht beschreiben!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte gerne etwas aufgreifen, was häufig ge- Ich schließe mit einem der Preisträger, dem Rabbiner nannt wird: dass wir die Ängste der Menschen ernst neh- Ben-Chorin. Er hat an dem Abend gesagt: men sollen. Das finde ich richtig. Mauern, die wir nicht sehen, sind gefährlicher als (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE die, die wir sehen. GRÜNEN]: Aber Sie sollten sie nicht schü- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren!) NEN]: Das Brett vor dem Kopf der Koalition!) Gleichzeitig muss man fragen: Was heißt es denn, die Mit Blick auf die morgige Feierstunde will ich sagen: Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Nehmen wir Lassen Sie uns weiter gemeinsam daran arbeiten, Mau- einmal an, jemand hat Angst vorm schwarzen Mann – ern abzutragen: um Europa, in Europa und in unseren bitte nicht politisch verstehen! Köpfen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NEN]: Nehmen Sie meine Ängste bitte ernst!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie bauen Dann nehme ich das vielleicht erst einmal ernst; aber Mauern! Sie bauen Mauern!) man kann ja nicht regieren, indem man einen schwarzen So tragen wir die Fackel der friedlichen Revolution wei- Mann, ter. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. (B) NEN]: Es kann auch eine schwarze Frau sein!) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den es gar nicht gibt, ausweist oder mit einer Wiederein- der CDU/CSU) reisesperre belegt, sondern müsste an die Wurzeln der Ängste herangehen. Die Wurzeln von Ängsten stehen aus meiner Sicht gar nicht unbedingt eng mit der Frage Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern Als nächster Redner hat der Kollege Volker Beck das in Zusammenhang, sondern haben etwas damit zu tun, Wort. dass die Menschen selbst keinen sicheren Stand haben. Es ist die Frage, ob sie mithalten können in einer Gesell- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaft, die so extrem auf Konkurrenz, auf Leistungs- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr druck aufbaut, wie wir das in den letzten Jahren zugelas- Castelluci, Sie haben zu vielem gesprochen, aber nicht sen haben. Wir müssen also die Menschen ernst nehmen zu dem Gesetzentwurf, um den es heute geht. in ihren Ängsten; aber wir dürfen die Ängste nicht zum Maßstab unserer Politik machen, sondern müssen an den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wurzeln ansetzen. Dr. Lars Castellucci [SPD]: Hat mich das Ziel verlassen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich kann das in gewisser Weise verstehen: Es war Ihnen schon im Ausschuss anzumerken, dass Ihnen ziemlich Es gibt nicht nur Menschen mit Ängsten, es gibt auch unwohl ist bei diesem Gesetzesvorhaben. die andere Seite: Fast die Hälfte der Menschen sagt, wir sollten sogar mehr tun, wenn es um Flüchtlinge, bei- Ich bin mit Ihnen von der Koalition einig: Wo Sozial- spielsweise aus dem Irak oder aus Syrien, geht. Ich will, betrug stattfindet, müssen wir ihn bekämpfen. Deshalb dass wir hier als Politikerinnen und Politiker Unterstüt- stimme ich der Regelung, als Voraussetzung für das Kin- zer und Ermöglicher sind für alle die, die sich für dieses dergeld die Steueridentifikationsnummer zu verlangen, Miteinander in Deutschland einsetzen. Darüber, wie das auch vollkommen zu. Niemand soll für seine Kinder gelingen kann, würde sich eine Debatte wahrlich lohnen. doppelt Kindergeld beziehen. Anfang der Woche ist der Deutsche Dialogpreis ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liehen worden. Das war eine ganz wunderbare Veranstal- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und tung, bei der unter anderem Dr. Navid Kermani ausge- der SPD) 5868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Volker Beck (Köln) (A) Das ist richtig und unterstützenswert, hat mit der EU- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein! Wir tun (C) Freizügigkeit aber überhaupt nichts zu tun. etwas gegen Sozialmissbrauch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie regeln Wiedereinreisesperren für EU-Freizügigkeits- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Berechtigte über das vorhandene Maß hinaus, das wir heute schon haben – für Menschen, die eine Gefahr für Es waren 2 400 deutsche Beamte, die doppelt Kinder- die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in geld bezogen haben. Ihr Staatssekretärsbericht weist Deutschland sind, haben wir diese Regelung schon –, für nicht einen einzigen doppelten Kindergeldbezug von Fälle, bei denen das nicht zulässig ist. Bulgaren oder Rumänen nach. Es kann schon sein, dass einmal ein EU-Bürger, nicht Sie haben von Ängsten gesprochen. Schüren Sie nur ein Deutscher, einen Fehler beim Ausfüllen eines keine Ängste! Erfinden Sie keine Ängste in der Bevölke- Antrags beim Jobcenter macht. Das ist nicht okay, egal rung! Reden Sie den Menschen nicht ein, es gäbe bei ob es vorsätzlich oder fahrlässig ist. Aber dann zu sagen, Bulgaren und Rumänen Sozialbetrug, den es in Wirk- dieser Bürger dürfe nicht wieder einreisen, ist eindeutig lichkeit bei den deutschen Beamten gegeben hat, wie der europarechtswidrig. Bundesrechnungshof festgestellt hat. (Dr. Lars Castellucci [SPD]: Das ist Quatsch! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weil es nicht drinsteht!) und bei der LINKEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Auch sehr pauschal!) Auch den Fall, dass jemand zum Beispiel vortäuscht, er habe einen 400-Euro-Job, den er gar nicht hat, um als So betreiben Sie nämlich gemeinsam mit Ihrer Kampa- Aufstocker sein Freizügigkeitsrecht zu untermauern und gne „Wer betrügt, fliegt“ das Geschäft der AfD und nicht seine Sozialbezüge zu erhalten, kann man sich ausden- das Geschäft eines demokratischen, friedlichen und ken und könnte es theoretisch geben. Nachgewiesen, rechtsstaatlichen Europas. dass das in relevanter Zahl vorkommt, haben Sie nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In diesen Fällen wäre auch eine Wiedereinreisesperre und der LINKEN) rechtlich nicht zulässig. Auch die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die (Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Doch!) bessere Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die Sie können ihn rausschmeißen. Aber wenn er zwei Jahre Impfaktionen für Kinder aus Europa – ich finde, man später – die Einreisesperre soll fünf Jahre dauern – einen könnte auch die Kinder aus Staaten der EWR impfen, Deutschen oder einen in Deutschland lebenden Auslän- wenn der Krankenversicherungsstatus nicht geklärt ist –, (B) der heiratet oder sich verpartnern lässt, dann darf er (D) all das unterschreiben wir. Die Entlastung der Kommu- natürlich wieder einreisen. Dass Sie das hier verbieten nen durch die Übernahme von 25 Millionen ist nicht ge- wollen, verstößt gegen die Richtlinie zur Freizügigkeit nug, aber besser als nichts. Darüber gibt es keinen Streit. der Europäischen Union. Ich garantiere Ihnen: Früher Aber was Sie dann bei der EU-Freizügigkeit machen, oder später wird Sie der Europäische Gerichtshof darauf wird durch keine Tatsache in Ihrem Staatssekretärs- hinweisen, und zwar zu Recht. bericht gedeckt. Das machen Sie nur, um der CSU sagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu können: Für eure Kampagne gab es tatsächlich einen und bei der LINKEN) Grund. Es gab dafür keinen Grund; das haben Sie selber aus dem Staatssekretärsbericht richtig zitiert. Es ist in- Es ist klar – da lag Frau Jelpke nicht ganz richtig –: fam, jetzt die EU-Freizügigkeit einzuschränken. Natürlich ist die Freizügigkeit zur Arbeitsaufnahme im europäischen Recht auf sechs Monate begrenzbar; da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rüber darf man auch reden. Jetzt steht noch eine Begren- Ich bin da näher bei der Kanzlerin als bei der Koali- zung von drei Monaten im Gesetz. Bloß, bislang haben tion. Die Mitglieder dieser Koalition und die Kanzlerin wir gesagt: Es reicht aus, wenn sich die hier lebenden sind heute Gott sei Dank kaum da. EU-Bürger ernsthaft um Arbeit bemühen. Sie wollen jetzt, dass dies mit „Aussicht auf Erfolg“ geschieht; auch (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und darüber könnte man reden. Aber das soll jetzt auf einmal der SPD – Uli Grötsch [SPD]: Sehen Sie uns das Ausländeramt beurteilen. Mit welcher Expertise sol- nicht?) len die Mitarbeiter das denn machen? Wenn diese Men- schen keine Sozialleistungen beanspruchen: Warum Die Kanzlerin hat gesagt: wollen Sie sie dann rausschmeißen? Das ist eine Begren- Deutschland wird an dem Grundprinzip der Bewe- zung der EU-Freizügigkeit, wie wir sie politisch nicht gungsfreiheit in der EU nicht rütteln. wollen und wie wir sie auch nicht brauchen, weil die Möglichkeiten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen ein- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir auch zuleiten, schon nach jetzigem Recht bestehen. nicht!) Aber bürokratisieren Sie diesen Quatsch nicht da- Die Abgeordneten der Koalition, die heute da sind, wer- durch, indem Sie Ämtern Aufgaben zuweisen, die diese den nachher, wenn sie dem Gesetzentwurf zustimmen, aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht bewältigen sehr wohl an der Freizügigkeit rütteln. können. Dabei kommen falsche Entscheidungen heraus. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5869

Volker Beck (Köln) (A) Das geht zulasten der Freizügigkeit. Deshalb lehnen wir Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem (C) diese Regelung ab. die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorga- ben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf Wir schlagen Ihnen vor: Beschließen Sie die Entlas- nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicher- tung der Kommunen. Beschließen Sie die Regelung zum heiten gibt. Kindergeld, und nehmen Sie den Artikel 1 mit der Be- schränkung der EU-Freizügigkeit einfach wieder aus Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse dem Gesetzentwurf heraus. Sie haben eine letzte Chance, Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit bevor der Gesetzentwurf in den Bundesrat geht. Sie kön- auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kom- nen das heute durch Zustimmung zu unserem Ände- mission immer wieder hingewiesen. rungsantrag korrigieren. Ich weiß, Herr Castellucci, im (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herzen sind Sie auf jeden Fall dabei, wenn wir nachher NEN]: Lesen Sie trotzdem Artikel 15! Das ist darüber abstimmen. Ich wünschte mir, es wäre dann zwar ein bisschen verworren geschrieben, aber auch in der Realität so. ziemlich rechtsklar!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie – Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich bei Abgeordneten der LINKEN) glaube, Sie kennen sie nicht alle. – Artikel 35 der Freizü- gigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrück- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lich, Herr Kollege Beck, Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lindholz das Wort. NEN]: Maßnahmen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu bekämpfen. Andrea Lindholz (CDU/CSU): (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportna- arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist. tion besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Pro- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent NEN]: Und wie weit reicht es?) unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind so- (B) wohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwan- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bun- (D) kungen befreit. desregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht we- sentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekre- Die europäische Integration fördert aber nicht nur den tärsausschusses zur Armutsmigration. deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert (Beifall bei der CDU/CSU) auch von den vielen qualifizierten und motivierten Mi- granten aus der EU. Angesichts unserer überalternden Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auch kein Zweifel bestehen. Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu? Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in Ich glaube, ich komme noch zu dem Punkt. Aber wir Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EU- können es gerne schon vorher diskutieren. Die Zeit wird Bürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozial- ja angehalten. abgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ten der SPD) Ja. Gut. Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EU- Würden Sie mir zustimmen, dass in Artikel 35 der Verträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügig- Freizügigkeitsrichtlinie, auf die Sie sich gerade bezogen keit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes haben, anders als in Artikel 15 das Wort „Wiedereinrei- bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb sesperren“ nicht vorkommt? Dort heißt es nämlich: Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den EU-Verträgen heißt es wörtlich: Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlas- sen, die notwendig sind, um die durch diese Richtli- Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich … vorbe- nie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmiss- haltlich der … in den Durchführungsvorschriften brauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung vorgesehenen … Bedingungen frei zu bewegen und von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder aufzuhalten. zu widerrufen. 5870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Volker Beck (Köln) (A) Das ist eine abschließende Aufzählung. Dann heißt es den Kosten unter die Arme. Das geschieht im Wesentli- (C) weiter, „solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig chen mit fünf Maßnahmen. sein“ und sich „nach den Artikeln 30 und 31“ im Verfah- Erstens werden im Falle von Betrug und Rechtsmiss- rensrecht richten. brauch Wiedereinreisesperren ermöglicht. Damit ist eindeutig klar, dass Artikel 15 die Spezial- Zweitens wird das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern regelung ist, und diese regelt die Wiedereinreisesperren zur Arbeitsuche auf sechs Monate befristet. Warum? abschließend aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Si- Weil auch hier Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie nur cherheit oder Gesundheit. Das, was Sie vorgetragen ha- die ersten drei Monate regelt. Danach werden sehr ben, betrifft aber nicht öffentliche Ordnung, Sicherheit strenge Anforderungen gestellt, wann und unter welchen oder Gesundheit. Voraussetzungen jemand in einem Land bleiben darf. Er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muss nämlich seinen Lebensunterhalt weitestgehend selbst sicherstellen. Indem wir die Geltungsdauer des Merkmals der Arbeitsuche von drei auf sechs Monate Andrea Lindholz (CDU/CSU): verlängern, kommen wir den Menschen sogar entgegen. Herr Kollege Beck, Sie wissen doch, dass wir dazu Dass eine begründete Aussicht auf Arbeit bestehen eine völlig andere Rechtsauffassung haben. Sie sprechen muss, ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, genauso wie jetzt schon konkret die Wiedereinreisesperren an, die wir die Tatsache, dass darüber verschiedene Stellen zu befin- in § 7 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes betreffend die den haben. Denn es gibt unterschiedliche Anspruchs- Fälle des § 2 Absatz 7 des Freizügigkeitsgesetzes regeln. grundlagen: Möchte jemand Arbeitslosengeld beziehen, Da ist bereits festgestellt, dass keine Freizügigkeit mehr oder bezieht er nur Kindergeld, oder braucht er nur Un- besteht. Die Rechtsexperten, die nach unserer Auffas- terstützung von der Krankenkasse? Wir werden sehen, sung die korrekte Rechtsauffassung vertreten, sehen Ar- sehr geehrter Herr Kollege Castellucci, ob sich die Rege- tikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie als Lex specialis zu lungen in der Praxis bewähren oder ob Nachbesserungs- Artikel 15 der Freizügigkeitsrichtlinie, den Sie gerade so bedarf besteht. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für schön zitiert haben. richtig. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drittens sorgen wir dafür, dass Doppelzahlungen NEN]: Aber leider ist es gerade umgedreht! beim Kindergeld vermieden werden. Indem bei jedem Das ist kabarettreif: Artikel 35 als Lex specia- Kindergeldantrag die steuerliche Identifikationsnummer lis zu Artikel 15?!) angegeben werden muss, geben wir den Behörden die Möglichkeit, leichter Überprüfungen vorzunehmen. (B) Da steht ausdrücklich, dass wir die Konsequenzen da- (D) raus ziehen dürfen. Das tun wir in § 7 Absatz 2, Herr Viertens wird die Bekämpfung von Schwarzarbeit Kollege Beck, indem wir Wiedereinreisesperren gegen und Scheinselbstständigkeit verbessert, indem die zu- diejenigen verhängen, die nach § 2 kein Freizügigkeits- ständigen Behörden besser vernetzt werden. Die Gewer- recht mehr haben. beämter sollen künftig schon beim ersten Verdacht auf Scheinselbstständigkeit prüfen und Verdachtsfälle direkt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden. neten der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten Fünftens werden die Kommunen mit zusätzlichen der SPD) 35 Millionen Euro unterstützt. Diese Unterstützung er- Ich gehe davon aus, dass wieder Professoren oder mögli- gänzt das bereits im März in Folge des Zwischenberichts cherweise auch Richter darüber zu befinden haben wer- beschlossene Entlastungspaket für die Kommunen in den, wer nun am Ende recht hat. Höhe von über 200 Millionen Euro. Dazu wurde das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgestockt so- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie Programme des Europäischen Sozialfonds und ein NEN]: Viel Spaß bei den Verhandlungen!) EU-Hilfsfonds so zugeschnitten, dass vor allem die stark belasteten Kommunen von diesen Programmen in den Wir sind der Auffassung: Unsere Regelungen sind euro- nächsten Jahren profitieren können. parechtskonform. Die Bundesregierung und der Bundestag packen mit Herr Beck, Sie haben sich schon mit meinem Vorgän- dem vorliegenden Gesetzentwurf offensichtliche Pro- ger, Herrn Geis, immer auseinandergesetzt. Ich sage im- bleme im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an. mer wieder: Dass wir diese Tradition fortsetzen, freut Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen ausdrück- zumindest die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahl- lich, dass wir uns endlich mit den Problemen der Ar- kreis. mutszuwanderung aus der EU befassen. Die Kommunen werten unsere Initiative als wichtigen ersten Schritt in Ich setze nun meine Rede fort. Mit dem vorliegenden die richtige Richtung. Auch das haben uns die Sachver- Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtli- ständigen von der kommunalen Ebene in der Anhörung chen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus am 13. Oktober bestätigt. dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armuts- migration. Sie setzt ein wichtiges Signal, indem sie sagt: Der Gesetzentwurf kann nur ein erster Schritt sein. Betrug und Missbrauch werden nicht toleriert. Darüber Wir alle wissen, dass es unklar ist, ob und unter welchen hinaus greift die Bundesregierung den Kommunen bei Bedingungen ein EU-Bürger, der sich zur Arbeitsuche in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5871

Andrea Lindholz (A) Deutschland aufhalten darf, in dieser Zeit Anspruch auf aber auch entscheidend, dass wir dem Missbrauch nicht (C) Hartz-IV-Leistungen hat. Deutsche Gerichte haben in mehr Aufmerksamkeit schenken, als er verdient. dieser Frage aufgrund widersprüchlicher Vorgaben in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Richtlinien unterschiedlich geurteilt. Das Urteil des EuGH im Dano-Fall wird am 11. November wohl für et- Die meisten Menschen, die zu uns kommen, missbrau- was mehr Klarheit sorgen. chen nicht die Freizügigkeit, sondern machen nur von ihrem Recht Gebrauch. Dieses hohe Gut wollen und Gerichte sollten allerdings nicht die Rolle des Gesetz- müssen wir schützen. gebers übernehmen. Die demokratisch legitimierten In- stitutionen in Europa sind gefordert, in so weitreichen- ( [SPD]: Richtig!) den Fragen Rechtssicherheit zu schaffen. Auf nationaler Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe offen zu, Ebene unternehmen wir heute einen ersten Schritt im dass ich verärgert bin angesichts des bewussten Spiels Rahmen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und mit Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung, zu dem schaffen etwas mehr Rechtssicherheit. Nach dem Dano- sich mancher Kollege auch aus diesem Haus im vergan- Urteil müssen weitere Schritte folgen. genen Jahr hat hinreißen lassen. Es kann nicht sein, dass, Wir wollen und brauchen die Freizügigkeit in Europa. wenn grenzüberschreitende Mobilität im Einzelfall zu Die öffentliche Akzeptanz dieses Rechts ist aber keine gesellschaftspolitischen Problemsituationen führt, wie es Selbstverständlichkeit. Es steht außer Frage, dass wei- in manchen deutschen Kommunen tatsächlich der Fall tere Schritte kommen müssen. Auch die offene Frage, ob ist, statt Unterstützung zu bieten, reflexartig nach Ab- EU-Bürger in Deutschland für ihre im Ausland lebenden schottung gerufen wird. Kinder Kindergeld in voller Höhe wie in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des bekommen sollen, gehört für mich dazu. Die Politik auf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) europäischer und nationaler Ebene trägt Verantwortung dafür, dass eine Akzeptanz sichergestellt wird. Mit die- Es ist die hohe Aufgabe der Politik, nicht dem Reiz zu sem Gesetzentwurf tragen wir dazu bei. Ich bitte Sie da- erliegen, selbst populistische Meinungsmache zu betrei- her heute um Ihre Zustimmung. ben. Herzlichen Dank. Kolleginnen und Kollegen, es ist unmoralisch, die Zuwanderung nur auf wirtschaftliche Nützlichkeit zu re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- duzieren. Deshalb sollten wir gemeinsam ein positives neten der SPD) Bild der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union prägen. (B) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (D) Als nächster Redner hat der Kollege Josip Juratovic (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der das Wort. LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Art und Weise, wie wir das Thema Freizügigkeit be- der CDU/CSU) handeln, gibt nämlich Aufschluss darüber, was für ein Europa wir haben wollen. Was macht uns als Europa aus? Freizügigkeit darf nicht nur eine Freizügigkeit der Josip Juratovic (SPD): Waren und Dienstleistungen sein, sondern sie ist vor al- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- lem das demokratische Grundrecht der Menschen in Eu- nen und Kollegen! Kürzlich bei der Anhörung der Sach- ropa. verständigen zum geplanten Freizügigkeitsgesetz hat Frau Dr. Giffey, Bezirksstadträtin von Neukölln, einen (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ entscheidenden Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Frau DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Giffey begrüßte viele der neuen Regelungen, betonte Es gibt keine gute und schlechte Zuwanderung, es aber auch, dass in Neukölln nicht der Missbrauch die gibt aber sehr wohl eine gute oder schlechte Aufnahme. größten Schwierigkeiten bereitet. Kommunen brauchen vor allem Unterstützung, um mit legaler und gerechtfer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigter Zuwanderung zurechtzukommen. Ich kann Frau der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Giffey nur zustimmen. GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Deshalb danke ich den vielen Menschen bei uns, den Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen, die die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Willkommenskultur in Deutschland pflegen. Die Freizü- gigkeit ist ein Zugewinn für alle und fördert den Zusam- Es ist entscheidend, dass wir die Kommunen ausrei- menhalt Europas und die gegenseitige Solidarität. chend unterstützen, und wir haben mit den geplanten Entlastungen einen wichtigen Schritt dafür geleistet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich müssen NISSES 90/DIE GRÜNEN) wir Gesetze auf den Weg bringen, die sich auch um Missbrauchsfälle kümmern. Daher finde ich die neuen Kolleginnen und Kollegen, Zuwanderung muss Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der Arbeitssuche selbstverständlich auch politisch gesteuert werden, wie oder zum Kindergeldmissbrauch gerechtfertigt. Es ist mit dem aktuellen Gesetz geplant. Auch in Zukunft 5872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Josip Juratovic (A) bleibt es entscheidend, die Menschen zu schützen und setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die (C) das Miteinander zu erleichtern. Wir müssen Willkom- Stimmen der Opposition angenommen worden. menscenter stärken und Anlaufstellen für Arbeitsmi- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent- granten ausbauen, die den Migranten den Einstieg in den schließungsanträge. Arbeitsmarkt erleichtern. Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der Besonders wichtig: Missbrauch der Arbeitsmigranten Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3080. Wer stimmt durch Schwarzarbeit muss verhindert werden. Es darf für diesen Entschließungsantrag? – Die Linke und Bünd- aber nicht sein, dass wir uns darauf konzentrieren, nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die diejenigen zu bestrafen, die aus Not handeln, während Koalition. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser diejenigen, die diesen Missstand ausnutzen, unbestraft Entschließungsantrag auf Drucksache 18/3080 mit den davonkommen. Deshalb gilt auch weiterhin: Je besser Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi- und sicherer die Bedingungen für Arbeitsmigrantinnen tion abgelehnt worden. oder -migranten auf unserem Markt gesetzlich geregelt werden, desto weniger Missbrauchsfälle wird es geben. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Der vorliegende Kompromiss geht aus meiner Sicht in Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3081. Wer die richtige Richtung, hindert uns aber nicht daran, wei- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die Opposi- terzudenken und zu handeln. tion. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Gibt es je- manden, der sich enthält? – Das ist nicht der Fall. Dann Übrigens, wir dürfen nicht der Illusion erliegen, das ist auch dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen alles sei einfach. Bundespräsident Gauck hat es treffend der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abge- formuliert: „Offen sein ist anstrengend.“ lehnt worden. Ich bitte um Ihre Zustimmung für das geplante Gesetz Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nes Gesetzes zur Änderung des Asylbewer- der CDU/CSU) berleistungsgesetzes und des Sozialge- richtsgesetzes Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Drucksachen 18/2592, 18/3000 Damit schließe ich die Debatte zu diesem Tagesord- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (B) nungspunkt. schusses für Arbeit und Soziales (11. Aus- (D) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- schuss) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Drucksache 18/3073 Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3077, den schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen Drucksache 18/3084 18/2581 und 18/3004 anzunehmen. b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3079 vor, über Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeord- den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? – Das NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da- zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsge- gegen? – Das ist die Koalition. Wer enthält sich? – Die setzes Fraktion Die Linke. Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden. Drucksache 18/2736 Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- stimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt für schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) den Gesetzentwurf? – Das ist die Koalition. Wer stimmt Drucksache 18/3073 dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wer enthält sich? – Das ist niemand. Damit ist der Gesetzent- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales angenommen worden. (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), Wir kommen zur Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter dritten Beratung und der Fraktion DIE LINKE Sozialrechtliche Diskriminierung beenden – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Asylbewerberleistungsgesetz aufheben Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge- Drucksachen 18/2871, 18/3073 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5873

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Hierzu liegen mir mehrere Erklärungen zur Abstim- aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten können. (C) mung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Das hilft diesen Kindern enorm. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Es wird erstmals einen kleinen Vermögensfreibetrag die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu und einen höheren Einkommensfreibetrag geben. Das keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen. hilft natürlich den Betroffenen, aber auch den Verwal- tungen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die- ser Debatte hat die Kollegin Daniela Kolbe das Wort, Wir verkürzen die Dauer des Bezugs von Leistungen das sie dann sofort bekommt, wenn die Kolleginnen und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 48 Monaten Kollegen ihre Plätze gewechselt haben. – Das ist jetzt auf 15 Monate. Das ist einfach nur sachgerecht. der Fall. Wir nehmen einige Gruppen aus dem Leistungsbezug nach diesem Gesetz heraus: Opfer von Menschenhandel Daniela Kolbe (SPD): und Arbeitsausbeutung sowie solche Menschen, deren Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Abschiebung schon seit mehr als anderthalb Jahren aus Kollegen! Wir leben in beunruhigend unruhigen Zeiten. rechtlichen oder humanitären Gründen ausgesetzt ist. Weltweit gibt es derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem Durch diesen letzten Schritt entlasten wir unsere Kom- Zweiten Weltkrieg nicht mehr: mehr als 50 Millionen munen jährlich um mehr als 40 Millionen Euro. Menschen – Tendenz steigend. Natürlich ist das auch in Deutschland spürbar, hier bei uns. In diesem Jahr rech- Außerdem wird es einen Nothelferparagrafen geben, nen wir mit etwa 200 000 Asylanträgen. Ich denke, dass der sicherstellt, dass Asylbewerber definitiv Nothilfe er- ich für das gesamte Haus spreche, wenn ich sage: Wir halten und die Helfer eine Vergütung dafür bekommen. wollen und wir werden dieser Verantwortung gerecht Ich finde gut, dass wir dieses Urteil im Gesetzentwurf werden. jetzt eins zu eins umsetzen. Mein Dank gilt dem Ministe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rium und der Ministerin. Ich finde es gut, dass diese der CDU/CSU) Regierung dieses Urteil so zügig umgesetzt hat. Das ist etwas, was der letzten Regierung nicht so schnell von Wie groß diese Verantwortung ist, kann man erleben, der Hand gehen wollte. wenn man derzeit ein Asylbewerberheim besucht. Dort trifft man eigentlich immer auf erschütternde Geschich- Aber es ist nur der erste Schritt. Weitere Schritte sind ten, gerade von Menschen aus Syrien. Meine letzte Be- bereits in der Vorbereitung oder in der Umsetzung – ich gegnung war mit einer Familie: ein Handwerker, seine mache das jetzt einmal im Stakkato, weil das schon recht (B) Frau, ein Kleinkind und ein Säugling. Ihre Geschichte viel ist –: Wir werden im BAMF mehr Mitarbeiter ein- (D) war, dass der Mann sich mit seinem zweijährigen Kind stellen, um eine kürzere Antragsbearbeitungsdauer hin- und der hochschwangeren Frau am Mittelmeer in ein zubekommen. Wir werden die Residenzpflicht weitge- Boot gesetzt hat in dem Wissen, dass das Boot vor die- hend abschaffen. Seit heute können Asylsuchende, wenn sem gesunken war. – Solche Geschichten gibt es zu sie drei Monate in Deutschland sind, eine Arbeit aufneh- Zehntausenden. Sie lassen uns nachvollziehen und spü- men. Ab nächster Woche wird, wenn die Menschen ren, wie groß die Verantwortung ist, die wir hier zu erfül- 15 Monate in Deutschland sind, auch die Vorrangprü- len haben. fung wegfallen. Wir werden das Sachleistungsprinzip weitgehend abschaffen. Wir wissen auch, wie groß die Herausforderung in den Kommunen ist, wie dort geächzt wird, wie dort nach Es gibt auch noch einige wenige Punkte, an denen wir Unterbringungsmöglichkeiten gesucht wird. Wir ver- weiterhin hart arbeiten und die wir noch klären müssen. schließen vor der Verantwortung in beiden Bereichen die Es bleibt die große Frage der Entlastung der Länder und Augen nicht. Wir wissen: Es ist eine gemeinsame Kommunen – diese Frage ist eminent wichtig; darüber Verantwortung, und der einzig mögliche Weg hier ist, müssen wir, glaube ich, nicht diskutieren –, und es bleibt akzeptable Bedingungen für alle Flüchtlinge zu organi- die Frage der Gesundheitsversorgung; das ist definitiv sieren. Nur so werden wir auch die Akzeptanz in der Be- verbesserungsbedürftig, wie unsere Anhörung gezeigt völkerung erhalten. hat. Das Bremer Modell, das auch in Hamburg und in abgewandelter Form in Berlin angewandt wird, weist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns hier womöglich den richtigen Weg. der CDU/CSU) Zusammengefasst: Diese Koalition wird ihrer Verant- Wir machen heute den ersten Schritt, allerdings nur wortung gerecht: gegenüber den Flüchtlingen, gegen- den ersten Schritt in einer ganz schön langen Etappe. über den Kommunen und gegenüber der Gesellschaft. Wir setzen das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Juli Das Gesetz ist ein erster großer Schritt in die richtige 2012 eins zu eins um – Richtung, und es setzt das Urteil des Bundesverfas- (Widerspruch bei der LINKEN) sungsgerichts eins zu eins um. Insofern bitte ich um Zu- stimmung. nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Berechnung der Leistungen wird endlich transparent und rechtssicher. Vielen Dank. Wir sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, Leistungen der CDU/CSU) 5874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Das Asylbewerberleistungsgesetz soll auch weiter für (C) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das Menschen gelten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, de- Wort. ren Aufenthalt in Deutschland aber weiter geduldet wird, weil sie auf längere Sicht nicht abgeschoben werden (Beifall bei der LINKEN) können. Auch deren Aufenthalt ist weder kurzzeitig noch vorübergehend. Deswegen müssen auch sie aus Ulla Jelpke (DIE LINKE): diesem Gesetz herausgenommen werden. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem In einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbe- Soziales wurden von einer Reihe von Sachverständigen werberleistungsgesetzes will die Koalition an der sozial- Verbesserungen – das ist ein ganz wichtiges Thema – bei rechtlichen Sonderbehandlung von Asylsuchenden, der Gesundheitsversorgung angemahnt. Derzeit erhalten Flüchtlingen und geduldeten Menschen festhalten. Menschen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz Dagegen fordert die Linke, dass diese Menschen wie alle fallen, allenfalls Hilfe in akuten Notsituationen. Chroni- anderen auch Zugang zu regulären Sozialleistungen sche Erkrankungen werden nicht behandelt; die Folgen erhalten und dass Beschränkungen – egal welcher Art – sind oft Verschlimmerungen der Erkrankung bis hin zu beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung unbedingt abge- schweren Behinderungen. Auch Todesfälle hat es schon schafft werden müssen. gegeben. In der Expertenanhörung des Sozialausschus- ses wurden schlimme Beispiele geschildert. In einem (Beifall bei der LINKEN) Fall verweigerte das Sozialamt die Operation von Soziale Rechte dürfen nicht unter aufenthaltsrechtlichen Augenkrebs bei einem Kind. In einem anderen Fall Vorbehalt gestellt werden. wurde die medizinisch notwendige Nachsorge einfach nicht geleistet, weil das Sozialamt Rechnungen nicht be- Meine Damen und Herren, das Asylbewerberleis- zahlt hatte. Das Recht auf Gesundheit und körperliche tungsgesetz besteht seit über 20 Jahren. Keine Bundes- Unversehrtheit darf nicht von einem Aufenthaltsstatus regierung wollte daran rütteln. Geboren ist es übrigens abhängig gemacht werden, meine Damen und Herren. aus dem Gedanken der Abschreckung von Flüchtlingen. Deswegen darf es so nicht weitergehen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 klarge- stellt, dass auch Asylsuchende ein Recht auf ein men- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schenwürdiges Existenzminimum haben. NIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Deswegen verbessern wir ja auch die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Gesundheitsversorgung!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Meine Damen und Herren, besonders eklatant ist, (D) Der zentrale Satz des Urteils lautet: Die Menschenwürde dass die Bundesregierung daran festhalten will, gedulde- ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“. ten Flüchtlingen das Taschengeld zu streichen, wenn sie an ihrer Abschiebung angeblich nicht mitwirken. Dieses (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Strafregime verletzt ganz klar das Recht auf ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) menschenwürdiges Existenzminimum. Sie müssen sich Das sollte auch die Koalition in diesem Haus endlich vorwerfen lassen, die Vorgaben des Bundesverfassungs- einmal ernst nehmen. gerichts nicht ernst genommen zu haben. (Kerstin Griese [SPD]: Tun wir! – Daniela (Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordne- Kolbe [SPD]: Tut sie!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für den Vor- Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem ge- rang von Sachleistungen vor Bargeld. Die Asylsuchen- fordert, das Asylbewerberleistungsgesetz nur auf jene den erhalten fertig gepackte Esspakete, die oft nur man- anzuwenden, die sich voraussichtlich nur vorübergehend gelhafte Waren enthalten. Diese Form der Versorgung ist in Deutschland aufhalten. Doch wenn man sich den vor- absolut entmündigend. liegenden Gesetzentwurf genau anschaut, muss man feststellen, dass auch Menschen mit humanitären (Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir Aufenthaltstiteln aus den regulären sozialen Sicherungs- doch!) systemen herausgehalten werden. Auch hier wird die Würde der Betroffenen mit Füßen ge- Das betrifft zum Beispiel die syrischen Flüchtlinge. treten. Damit muss endlich Schluss sein! Über drei Jahre dauert dieser Krieg inzwischen an, und (Daniela Kolbe [SPD]: Wird es ja auch!) leider ist nicht abzusehen, wann er beendet wird. Und trotzdem unterliegen diese Flüchtlinge dem Asylbewer- Deshalb fordert die Linke, das System der sozialen berleistungsgesetz, als könne man davon ausgehen, dass Diskriminierung von Flüchtlingen endlich zu beenden sie spätestens nächste Woche das Land wieder verlassen und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz können. Das ist doch schlicht Realitätsverweigerung und abzuschaffen. Auch das hat das Bundesverfassungsge- obendrein zynisch gegenüber diesen Menschen. richt als Option durchaus im Sinn gehabt, und das wäre eigentlich auch das Richtige. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Schönen Dank. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5875

Ulla Jelpke (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten So war, unmittelbar nachdem das Bundesverfassungs- (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gericht im Juli 2012 das Urteil verkündet hatte, über das wir heute reden und das die Grundlage für das heute vor- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: gelegte Gesetz ist, wieder ein Anstieg der Anzahl der Anträge zu verzeichnen. Während noch im Juni 2012, Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne- also vor Verkündung des Urteils, 770 Anträge gestellt rin hat jetzt Jutta Eckenbach das Wort. wurden, wurden im August bereits 1 163, im September (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 2 257 und im Oktober 4 303 Anträge gestellt. neten der SPD) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist respektlos ge- Jutta Eckenbach (CDU/CSU): genüber dem Bundesverfassungsgericht, was Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Sie hier sagen!) Herren! Ich glaube, dass wir – hier möchte ich an das an- schließen, was meine Kollegin Frau Kolbe vorhin ausge- Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich im Rah- führt hat – uns wieder ins Bewusstsein rufen müssen, mit men des Verfahrens herausgestellt hatte, war die Frage wem wir es letztendlich zu tun haben. Wer jemals in ein der Gesundheitsversorgung nach den §§ 4 und 6 Asylbe- Übergangsheim gegangen ist, mit den Menschen dort werberleistungsgesetz. In einigen Stellungnahmen der gesprochen hat, in die Kinderaugen gesehen hat und Sachverständigen klang immer wieder an, dass die Ge- festgestellt hat, wie traumatisiert manche Kinder waren, sundheitsversorgung nicht ausreichend sei, es ein Marty- der wird zustimmen, dass wir unserer Verantwortung in rium sei, medizinische Hilfe zu erhalten, und der Bund Deutschland gerecht werden und diesen Menschen hel- seiner Fürsorgepflicht nicht nachkomme. fen müssen. Das tun wir mit voller Überzeugung. Ich will nur der Ordnung halber darauf hinweisen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes neten der SPD) nicht allein in der Zuständigkeit des Bundes liegt, son- dern dass hierfür auch die Länder zuständig sind. Genau Ich komme darauf, weil gerade das Wort „Strafre- das ist in der Anhörung ja auch noch einmal am Beispiel gime“ gefallen ist. Es ist unangebracht. Es trifft keines- des Landes Bremen deutlich geworden, das hier ander- falls auf das zu, was wir hier in Deutschland vorfinden. weitig tätig wird. Das machen übrigens auch andere Ich weise diesen Vorwurf mit aller Schärfe zurück. Länder, indem sie eine Krankenversorgung, wie sie im Deutschland hat kein Strafregime, und so etwas gibt es Rahmen der normalen gesetzlichen Krankenversiche- auch nicht in Deutschland. rung üblich ist, gewährleisten. Dort gibt es eine Kran- (B) kenkassenkarte. Ich wünsche mir natürlich, dass alle (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Länder dieses Modell übernehmen, auch im Interesse neten der SPD) der Gesundheitsversorgung. Die Länder haben es also Die Anhörung der Sachverständigen am Montag hat selbst in der Hand, die gesundheitlichen Versorgungs- ergeben, dass die Umsetzung des Urteils des Bundesver- leistungen für Asylbewerber zu regeln. fassungsgerichts rechtlich nicht zu beanstanden ist. Egal wie die aktuelle Ausgestaltung aussehen wird: (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Ich will, weil das von den Linken gerade beanstandet NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) wurde, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich beto- nen, dass der Bundesregierung aus der Zeit von 2004 bis Ebenso ist das Festhalten am Asylbewerberleistungsge- 2014 offiziell kein Fall bekannt ist, bei dem das angebli- setz notwendig. Da ja nicht alle bei dieser Anhörung an- che Vorenthalten bzw. Verzögern einer medizinischen wesend waren, will ich Ihnen auch sagen, warum. oder psychotherapeutischen Behandlung bei einer Per- Der Grundgedanke des sogenannten Asylkompromis- son, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen ses von 1992/1993 war, dass unser Sozialleistungssys- war, zu körperlichen Schäden oder gar zum Tod geführt tem keinen Anreiz für Zuwanderung bieten sollte. hätte, wie das von den Linken gerade behauptet wurde. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Die Opposition malt an dieser Stelle immer wieder NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist verfassungs- den Teufel an die Wand und stellt irgendwelche Schre- widrig!) ckensbilder dar, was meinem Erachten nach völlig unbe- gründet ist. Es sei auch noch einmal erwähnt, dass sich Wie die Zahlen zeigten, gingen die Anträge auf Asyl da- zahlreiche Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration mals schlagartig zurück. Also gab es offensichtlich einen und Flüchtlinge wie auch der Aufnahmeeinrichtungen Zusammenhang zwischen der Wahl des aufnehmenden vor Ort tagtäglich um die Bedürftigen kümmern. Dass Landes und den dort angebotenen Leistungen. Dass es diese Arbeit immer nur zum Nachteil der Asylbewerber diesen Zusammenhang immer noch gibt, wird auch sei, kann und will ich hier nicht gelten lassen. Deswegen durch die neueren Zahlen des Bundesamtes für Migra- wollen wir auch heute an diese Menschen denken und tion und Flüchtlinge bestätigt. ihnen herzlich danken; denn ihre Aufgabe in diesen Ein- richtungen vor Ort ist nicht einfach. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das darf hier (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keine Rolle spielen!) neten der SPD) 5876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Jutta Eckenbach (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) mich noch einmal auf die Forderung der Opposition und bei der LINKEN – Max Straubinger eingehen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz in die [CDU/CSU]: Aber auch nicht der offensichtli- Leistungssysteme des SGB II und XII einzubetten sei. che Missbrauch des Asylrechts!) Dies ist nicht möglich, da die Zielrichtungen andere – Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Straubinger, sind; denn während das Asylbewerberleistungsgesetz wenn Sie darüber etwas mehr erfahren wollen. auf Hilfen für einen vorübergehenden Aufenthalt gerich- tet ist, haben das SGB II und XII dauerhaft in Deutsch- Ich finde es grundsätzlich problematisch, dass wir land lebende Personen im Blick. Insofern machen zum hier häufig Gesetzentwürfe besprechen, die an der Beispiel arbeitsmarktpolitische Instrumente in den Erst- Grenze der Verfassungsmäßigkeit sind, und wir auf die aufnahmeeinrichtungen wenig Sinn. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten müssen, ob sie verfassungsgemäß sind oder nicht. Bei Meine Damen und Herren, dass wir alle Fragen der dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist das schon Asylpolitik allein mit den Änderungen, die für das Asyl- wieder so. Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens ist bewerberleistungsgesetz anstehen, nicht bewältigen wer- dieser Entwurf gerade eben noch verfassungsgemäß. den, ist mir bewusst. Ich glaube, wir sind uns einig, dass Aber wir haben in der Ausschussanhörung diverse Argu- wir alle helfen wollen. Jedoch muss die Hilfe auch mente von den Expertinnen und Experten gehört, die machbar sein. aufzeigten, wo es verfassungsrechtliche Probleme gibt. Ich danke zum Abschluss all denen herzlich, die sich Ich habe dazu in der Ausschusssitzung etwas länger Stel- ehrenamtlich bemühen, in den Einrichtungen für Ruhe lung genommen und die Punkte noch einmal erwähnt. und Frieden zu sorgen, die dort tagtäglich ein- und aus- Hier habe ich nicht die Zeit dazu, weil ich dann meine gehen und für die Menschen in den Asylbewerberein- Redezeit um ein Vielfaches überschreiten würde. Ich richtungen und -heimen da sind. fände es schön, wenn wir mehr Gesetze verabschieden würden, bei denen von vornherein klar ist, dass sie der Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Verfassung entsprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir machen es!) Vizepräsident : Ein weiterer wichtiger Punkt. Wir finden es wichtig, Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege dass es endlich eine einheitliche Grundsicherung gibt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. und keine Dreiklassengrundsicherung, wie wir sie der- zeit vorfinden. (B) (D) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN): und bei der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Eckenbach, ich bitte doch um ein biss- Anknüpfend an die letzte Debatte sage ich: Unionsbür- chen mehr Respekt gegenüber dem Bundesverfassungs- ger, die zu uns kommen, verlieren irgendwann ihren An- gericht. spruch auf Grundsicherung, ein Teil ist davon ausge- schlossen. Asylbewerber erhalten zwar eine Leistung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber sie liegt unterhalb der Leistung, die andere Men- und bei der LINKEN) schen in diesem Lande erhalten. Sie haben eben schon wieder – Kollegin Jelpke hat auf (Daniela Kolbe [SPD]: Aber nur geringfügig!) den Satz im Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinge- wiesen – versucht, einen Zusammenhang zwischen der Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Wir wollen Leistung im Asylbewerberleistungsgesetz und der Zahl da eine Vereinfachung. der Menschen, die hierhinkommen, herzustellen. Man Ihre Vorlage offenbart das Menschenbild der Großen kann darüber streiten. Meines Erachtens ist das, was in Koalition: Es gibt die guten Menschen, die hier länger der Anhörung genannt worden ist, methodisch angreif- leben, und es gibt die schlechten Menschen; das sind bar. Aber selbst wenn es so wäre: Das Bundesverfas- diejenigen, die aus der EU oder von weiter weg zu uns sungsgericht hat eindeutig gesagt, dass migrationspoliti- kommen. sche Argumente bei der Menschenwürde keine Rolle spielen dürfen. (Kerstin Griese [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie wissen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nau, dass das nicht stimmt!) und bei der LINKEN) Wir finden: Alle Menschen müssen und sollten gleich Das heißt, diese Argumente dürfen hier im Bundestag in behandelt werden. der Debatte, die wir führen, überhaupt nicht verwendet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden. Sie haben es aber in der Ausschussanhörung ge- und bei der LINKEN) tan. Herr Kollege Stracke, das gehört sich nicht. Es geht hier um die Verfassung, die Menschenwürde und um ein Ich komme ganz kurz auf ein paar wichtige Probleme Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bitte unterlassen zu sprechen. Es wird hier behauptet, die Urteile des Bun- Sie das. desverfassungsgerichts zum Existenzminimum würden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5877

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) hier eins zu eins umgesetzt. Das Existenzminimum ist (Daniela Kolbe [SPD]: Aber das ändern wir (C) ein Grundrecht nach Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde doch!) des Menschen ist unantastbar.“ Es umfasst ein physi- weil die Sachleistungen möglicherweise nicht existenz- sches Existenzminimum und ein gewisses Maß an sozia- sichernd sind; das ist schwer zu kontrollieren. Auch an ler Teilhabe. Und dann gibt es § 1 a Asylbewerberleis- der Stelle wären Geldleistungen sehr viel sinnvoller als tungsgesetz, den Frau Jelpke als Strafregime bezeichnet Sachleistungen. hat. Unabhängig davon, wie man es bezeichnet,

( [CDU/CSU]: Aber nicht als Vizepräsident Johannes Singhammer: „Strafregime“!) Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie denken an die vereinbarte Redezeit? besagt § 1 a, dass Leistungskürzungen möglich sind. Es ist überhaupt nicht festgelegt, in welcher Größenord- nung sie erfolgen können. Das ist auch in der Ausschuss- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ anhörung kritisiert worden. Diese Leistungskürzungen DIE GRÜNEN): können auch dauerhaft vorgenommen werden. Leis- Gut. Dann komme ich zum Schluss. – Leider kann ich tungskürzungen, die dauerhaft eine Senkung unter das zum Punkt Gesundheit nicht mehr viel sagen; aber er ist Existenzminimum bewirken, widersprechen eigentlich schon genannt worden. Auch beim Thema Gesundheit ganz eindeutig dem Grundrecht auf eine existenz- gibt es ein zentrales Problem; auch hier ist das physische sichernde Leistung. Existenzminimum gefährdet. Ich wünsche der Kollegin Kolbe viel Glück dabei, an der Stelle Veränderungen zu Im Asylbewerberleistungsgesetz sind, anders als im erreichen. Es gibt da auch einen Beschluss des Bundes- SGB II und im SGB XII, keine Mehrbedarfe, zum Bei- rates, der einen Weg aufzeigt. Ich finde, das Gesetz, wie spiel für Alleinerziehende und Schwangere, vorgesehen. es jetzt vorliegt, ist nicht christlich; Sie sollten vielleicht Das ist schon ein Problem. Die Regelleistung selber ist einmal über den Begriff „christlich“ in Ihren Parteina- 10 Prozent niedriger als die Leistung für Menschen, die men nachdenken. Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung im Alter (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ beziehen. Begründet wird dies damit, dass bestimmte CSU) Leistungen als Sachleistungen bereitgestellt werden, zum Beispiel Hausrat und Gesundheitsleistungen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor- Teilweise ist es ziemlich absurd, was in der Begrün- sieht und eine Gleichstellung schafft. Er ist im Bundesrat dung steht. Zum Beispiel wird ein Teil dieser Differenz von allen Ländern unterstützt worden, in denen Grüne (B) (D) damit begründet, dass Asylbewerber keine Praxisgebühr und SPD zusammen regieren. zahlen müssen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Vizepräsident Johannes Singhammer: gibt’s doch gar nicht mehr!) Herr Kollege, der letzte Satz war schon längere Zeit angekündigt. Er muss jetzt auch erfolgen. – Richtig. – Wie auch Sie von der Koalition wissen soll- ten, gibt es die Praxisgebühr gar nicht mehr. Das macht Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ zwar nur 2,64 Euro der Differenz zwischen SGB-II- DIE GRÜNEN): Leistungen und den Leistungen nach dem Asylbewer- Ja. – Deswegen bitten wir Sie: Stimmen Sie unserem berleistungsgesetz, wie Sie es vorgelegt haben, aus; aber Gesetzentwurf zu. Denn nur so kriegen wir wirklich ein es zeigt, wie Sie an dieses Gesetz herangegangen sind, Gesetz, das der Verfassung entspricht, Bürokratie abbaut nämlich korinthenkackerisch, sehr kleinlich, nicht wirk- und die entwürdigende Diskriminierung von Asylbewer- lich fundiert und auch nicht transparent. Offensichtlich berinnen und Asylbewerbern tatsächlich abschafft. ist es Ihnen nicht einmal aufgefallen, dass die Ausgaben für die Praxisgebühr herausgerechnet wurden. Deswe- Vielen Dank. gen gibt es keinen Grund, Asylbewerbern 2,64 Euro we- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN niger zu geben als anderen. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Daniela Kolbe [SPD]: Vizepräsident Johannes Singhammer: Sollen wir die Hartz-IV-Leistungen jetzt des- Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für wegen senken? Das ist lächerlich!) die Sozialdemokraten. Für uns ist wichtig, die Selbstbestimmung und Frei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heit der Menschen zu stärken. An der Stelle sind die der CDU/CSU) Sachleistungen ein Riesenproblem. Auch Asylbewerbe- rinnen und Asylbewerber sollten eine Geldleistung krie- Kerstin Griese (SPD): gen, mit der sie selbstbestimmt entscheiden können, wie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sie ihr Leben gestalten. Die Ausschussanhörung hat Meinem Vorredner will ich zum Thema „Respekt“ Fol- deutlich gemacht, dass das Existenzminimum auch an gendes sagen: Ich verstehe, dass man immer noch mehr dieser Stelle nicht unbedingt gesichert ist, wollen kann. Auch ich kann mir noch viele Dinge vor- 5878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Kerstin Griese (A) stellen, was wir tun können, um die soziale Situation von Diese Unterbringung in Wohnungen ist ein erstre- (C) Flüchtlingen in unserem Land zu verbessern. Aber ich benswertes Ziel, weil es damit auf der kommunalen fände es auch ein Zeichen von Respekt, wenn Sie aner- Ebene so positive Erfahrungen gibt. Jetzt braucht man kennen, dass wir die Bedingungen des Bundesverfas- sicherlich noch eine Zeit lang Gemeinschaftseinrichtun- sungsgerichts umgesetzt haben, dass wir jetzt einen rich- gen, da die Zahl der Flüchtlinge höher ist. Die Unterbrin- tig großen Schritt machen und an sechs Punkten die gung in Wohnungen ist aber ein ganz entscheidender Situation von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in Schritt in Richtung einer positiven Integration. unserem Land deutlich verbessern. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Anhörung am Montag hat eindeutig ergeben, dass Vizepräsident Johannes Singhammer: wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischen- eins umgesetzt haben. Die Experten haben gesagt, das frage oder eine Anmerkung des Kollegen Kurth? sei angemessen und richtig umgesetzt. Die Sätze sind nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermit- Kerstin Griese (SPD): telt worden. Ja, selbstverständlich. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Inklusive Praxisge- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bühr?) Liebe Kerstin Griese, es freut mich, dass das Beispiel Dortmund genannt wurde. Die Stadt versucht in der Tat, Das ist ein wichtiger erster Schritt, dieses Urteil umzu- Flüchtlinge nicht in Sammelunterkünften, sondern in setzen. Wohnungen unterzubringen. Die Anhörung hat auch ergeben – den Punkt will ich Allerdings muss ich dann doch die Frage stellen, wa- noch einmal aufgreifen –, dass wir uns beim Thema Ge- rum denn zum Beispiel die Kosten für die Unterbringung sundheitsleistungen – da sind wir uns sicherlich einig – weiterhin als Sachleistungen erbracht werden sollen. in der Tat Verbesserungen vorstellen können. Wir haben Können Sie das einmal begründen? Wenn die Unterbrin- darüber sehr konkret mit dem Experten der AOK Bre- gung in Wohnungen in Ihren Augen eine so vorbildliche men diskutiert. Dazu gehört etwa die Idee, dass die Ge- Praxis ist, müsste doch der gesetzliche Rahmen entspre- sundheitsleistungen von Asylbewerberinnen und Asyl- chend gestaltet werden. bewerbern über Krankenkassen abgerechnet werden. Diese Sache finden wir gut. In diese Richtung müssen Kerstin Griese (SPD): (B) wir gemeinsam mit den Ländern gehen. (D) Herr Kollege Kurth, herzlichen Dank für diese Frage; (Beifall bei der SPD) denn sie gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass Ich muss aber auch deutlich sagen: Wir verbessern wir noch die Protokollerklärung des Bundesrates umset- jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz die Notfallhilfe, zen werden. Diese sieht vor, dass wir dort Geldleistun- indem wir für Notfallsituationen regeln, dass die Träger gen explizit vor Sachleistungen verankern werden, dass das Geld für die entstandenen Kosten direkt an Kranken- wir dort die Residenzpflicht aufheben werden – das ist haus oder Arzt überweisen. eine ganz wichtige Sache für das praktische Leben der Asylbewerberinnen und Asylbewerber in unserem Land – (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) und dass wir außerdem mit einer Verwaltungsverord- Ich will aber auch deutlich sagen – das habe ich in der nung die sogenannte Vorrangprüfung bei einem Arbeits- ersten Lesung schon einmal getan –: Was an schreckli- platz abschaffen werden. chen Fällen in Flüchtlingsheimen passiert ist – da wurde Das werden ganz wichtige Dinge sein, um das Leben kein Arzt gerufen –, ist auch schon nach heutiger Geset- der Flüchtlinge im Alltag bei uns zu verbessern. Es geht zeslage rechtswidrig. In Notfallsituationen haben selbst- immer um zwei Dinge: darum, dass sie gut und anstän- verständlich Flüchtlinge Anrecht auf medizinische Be- dig wohnen können, und darum, dass sie möglichst früh handlung in Deutschland. anfangen können, sich einen Arbeitsplatz zu suchen und Ein dritter Punkt aus der Anhörung ist mir wichtig; er zu arbeiten. Denn das ist das Wichtigste, um sich in die- betrifft das, was wir aus der Stadt Dortmund gehört ha- sem Land zu integrieren. Mit Arbeit kann man seinen ben. Die Stadt Dortmund zählt sicherlich nicht zu den Unterhalt sichern, was sich positiv auf das Selbstbe- reichsten Städten. wusstsein auswirkt. Insofern sind das richtige Schritte. (Zustimmung des Abg. Markus Kurth Ich möchte Ihnen noch Folgendes kurz zu Dortmund [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sagen: Ich bin sehr froh, dass das Land Nordrhein-West- falen auf seinem Flüchtlingsgipfel beschlossen hat, die – Der Kollege darf zustimmend nicken, weil er von dort Landespauschale für die Leistungen zu erhöhen. Damit kommt. – Diese Stadt verfolgt seit vielen Jahren die werden die Kommunen in ihren Bemühungen unterstützt Politik, die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. – gerade Kommunen wie Dortmund brauchen das –, um Sie hat damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Dort die Flüchtlinge ordentlich unterzubringen. gibt es keine Konflikte, weil die Privatsphäre gewahrt wird und weil Gemeinschaftsaktivitäten auf freiwilliger (Zurufe von der CDU/CSU: Das reicht hinten Basis angeboten werden. und vorne nicht! In Bayern übernimmt das die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5879

Kerstin Griese (A) Landesregierung! Nordrhein-Westfalen zahlt Matthäus Strebl (CDU/CSU): (C) nur 20 Prozent!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über den Ge- Dafür wird die Pauschale jetzt erhöht. Das ist ein ganz setzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsge- wichtiger Schritt. Der Flüchtlingsgipfel, der dort abge- setzes und des Sozialgerichtsgesetzes. Wir befassen uns halten wurde, war ein wichtiges Vorbild, wie man das in des Weiteren mit einem Gesetzentwurf der Fraktion anderen Bundesländern machen könnte. Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der Fraktion (Beifall bei der SPD) Die Linke, in denen die Aufhebung des Asylbewerber- leistungsgesetzes gefordert wird. Ich will noch einen weiteren Punkt aus der Anhörung deutlich machen. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz Seit der ersten Beratung haben wir eine Reihe von ist nicht dafür da, Migration zu steuern – weder nach Fachleuten zurate gezogen. Die öffentliche Anhörung oben noch nach unten. Das Asylbewerberleistungsgesetz mit den Sachverständigen am vergangenen Montag hat ist für die individuellen Leistungen und die individuellen vor allem eines bestätigt: Wir müssen die Vorgaben des Bedarfe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber da. Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Gewähr- Es ist aber nicht dazu da, Migration zu regulieren. leistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, die Anhebung der Geldleistungen Dass es Veränderungen bei den Wanderungsbewegun- und die Erhöhung der Transparenz bei der Berechnung gen und Fluchtbewegungen auf dieser Welt gibt, hat mit von Leistungen, zeitnah umsetzen. Mit der heutigen Ver- den schlimmen weltweiten Krisen zu tun. Das sieht man abschiedung werden wir das auch tun. Dieser Verpflich- allein daran, dass die meisten Flüchtlinge derzeit aus Sy- tung kommen wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesre- rien kommen. Die Veränderungen sind auch durch den gierung nach. Wir gewährleisten insbesondere das Jahresverlauf bedingt. Mir ist wichtig, festzuhalten: Mit Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzmini- dem Asylbewerberleistungsgesetz machen wir keine Mi- mum für die Asylbewerber in Deutschland. Das halte ich grationspolitik, indem wir Zuwanderung regeln, sondern für zweifelsfrei wichtig und richtig. wir regeln die soziale Situation und die Absicherung der Flüchtlinge in unserem Land. Erneut lehnen wir die Vorlagen der Opposition ab, in denen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgeset- (Beifall bei der SPD) zes gefordert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gerade nicht die Abschaffung des Wir verbessern die Situation in sechs Bereichen: Wir Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert. heben die Bedarfssätze an, wir verkürzen die Wartefrist, Kinder und Jugendliche werden Bildungs- und Teilhabe- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es hat das offen (B) leistungen erhalten, sie werden nicht mehr sanktioniert, gelassen!) (D) wenn ihre Eltern Verstöße begehen, und wir nehmen Op- Die Situation der Empfänger von Leistungen gemäß So- fer von Menschenhandel und bestimmte Gruppen, die zialgesetzbuch II ist zweifelsfrei eine andere als von geduldet werden, aus dem Gesetz heraus, sodass sie Flüchtlingen. Bei vielen Flüchtlingen ist schlichtweg un- heute schon Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII er- klar, ob und wie lange sie eine Bleibeperspektive in halten. Dadurch entlasten wir die Kommunen erheblich. Deutschland haben. Würde das Sozialgesetzbuch II auch Wir führen außerdem eine Regelung ein, die in medizini- für Asylbewerber gelten, müssten die ganzen arbeits- schen Notfällen sehr schnell die Finanzierung sichert. marktpolitischen Instrumente auch für sie zur Verfügung Das sind gute Schritte. Es werden noch weitere fol- stehen, egal ob der Aufenthaltsstatus geklärt wurde oder gen. Die wichtigsten sind für mich, dass wir ermögli- nicht. Das erscheint mir nicht nachvollziehbar. chen, dass Flüchtlinge bei uns schneller arbeiten können. Das Recht auf Asyl in Deutschland ist im Grundge- Auch die Unterbringung in guten Wohnungen hatte ich setz Artikel 16 a verankert. Dieses Recht und die daraus erwähnt. Wir werden außerdem die Residenzpflicht ab- resultierende Verantwortung wollen und werden wir den schaffen und den Vorrang von Geldleistungen vor Sach- verfolgten Menschen weiterhin garantieren. Wir dürfen leistungsbezug ermöglichen. Das ist eine ganze Menge. bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass Damit zeigen wir, dass wir ein Land sind, das Flücht- Deutschland für viele Flüchtlinge ein bevorzugtes Asyl- linge, die aus Situationen schwerster Bedrohung zu uns land ist. Dafür sprechen auch die sogenannten Pull-Fak- kommen, willkommen heißt. In diesem Zusammenhang toren, wie gute Arbeitsbedingungen, gute Arbeitsmarkt- danke ich allen, die sich ehrenamtlich vor Ort engagie- chancen, stabile Verhältnisse und Religionsfreiheit. ren. Deshalb sage ich klar und deutlich: Die finanziellen Vielen Dank. Leistungen für Asylbewerber dürfen keine Anreize für eine verstärkte Armutszuwanderung sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bestätigt wurde uns in der öffentlichen Anhörung auch, dass die Zahl der Anträge auf Asyl unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestie- Vizepräsident Johannes Singhammer: gen ist. Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus Strebl. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Fängt er auch noch (Beifall bei der CDU/CSU) an!) 5880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Matthäus Strebl (A) Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und amtlichen rund um Flüchtlingsheime zu erwähnen. Sie (C) Flüchtlinge stieg die Zahl der Asylanträge – Frau Kolle- dienen als großes Vorbild für unsere gesamte Gesell- gin Eckenbach hat es heute schon gesagt – von Flücht- schaft. Die Ehrenamtlichen und auch die Angestellten lingen aus den Westbalkanstaaten. sorgen dafür, dass die Ersterfahrung der Flüchtlinge mit unserem Land positiv ist. Sie sorgen dafür, dass die An- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- kommenden Vertrauen in unseren Staat fassen und sich NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieses Argument auch langfristig als Teil unserer Gesellschaft fühlen. Sie darf hier keine Rolle spielen!) sind offen dafür, dass sich unser Zuhause durch die Zu- – Die Zahlen belegen das. Passen Sie auf! – Die Zahl der züge positiv verändert. Sie sind diejenigen, die das neue Asylanträge stieg von 770 Anträgen im Juni 2012 auf deutsche Wir leben. 1 163 im August und 6 977 im Oktober des gleichen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jahres. Die Zahl der Anträge hat sich also innerhalb kür- zester Zeit fast verzehnfacht. Als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestags- fraktion möchte ich, dass wir uns diese Menschen auch (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- in der Politik zum Vorbild nehmen. Ihre Offenheit und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Gründe hat Hilfsbereitschaft muss unser Ziel und das Maß unseres das denn? Das müssen Sie einmal überlegen!) Handelns sein. Das betrifft die Freizügigkeit innerhalb Auch wenn sich die Zahl der Asylanträge bekannterma- der EU, über die wir gerade gesprochen haben, genauso ßen im Herbst erhöht – das wissen wir –, kann ange- wie die Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die in dem sichts dieser Zahlen nicht ausschließlich von einem jah- aktuellen Asylbewerberleistungsgesetz behandelt wer- reszeitbedingten Anstieg gesprochen werden. den. Im Rahmen der Asylpolitik hat sich der Bundestag Meine Vorrednerinnen haben die wichtigen Neuerun- mit den verschiedensten Fragestellungen beschäftigt. gen im Asylbewerberleistungsgesetz vorgestellt. Ich Dabei ging es insbesondere um die Frage der sicheren werde deshalb nur ganz kurz die Neuerungen nennen, Herkunftsstaaten, um die Residenzpflicht oder auch um die mir persönlich besonders am Herzen liegen: die Ver- die Entscheidung für oder gegen Sachleistungen. In die- kürzung des Asylbewerberleistungsbezugs, die Verbes- sem Zusammenhang hat man auch auf die gestiegene serungen bei der medizinischen Versorgung und insbe- Zahl der Asylanträge reagiert. sondere die Aufnahme der Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets in das Asylbewerberleistungsgesetz. Ich bin mir sicher, dass wir aufgrund der weltweiten Krisenherde auch in Zukunft über asylrechtliche Proble- Diese und andere kleine Schritte sind zusammen ein matiken diskutieren werden. Deshalb appelliere ich an großer Schritt, um den Menschen, die neu in Deutsch- (B) (D) alle, sich der Flüchtlingspolitik verantwortungsvoll zu land ankommen, von Beginn an das Gefühl zu vermit- widmen. Mit der Abschaffung des Asylbewerberleis- teln, dass das, wonach sie sich am meisten gesehnt ha- tungsgesetzes ist niemandem gedient, es muss vielmehr ben, hier tatsächlich möglich ist: ein menschenwürdiges mit Leben ausgefüllt werden. Wir werden dem Gesetz- Leben für alle. entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werberleistungsgesetzes daher zustimmen und damit die der CDU/CSU) Situation vieler Asylbewerber in Deutschland verbes- sern. Wenn alle Neuankommenden dieses Gefühl vermittelt bekommen, haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Dann Vielen Dank. haben wir unser Land, was das weltweite Ansehen be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. trifft, ein Stück weitergebracht, und dann haben wir als Kerstin Griese) Vorbild für den zwischenmenschlichen Umgang dem Weltfrieden einen großen Dienst erwiesen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Daher bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist der Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleis- Kollege Josip Juratovic. tungsgesetzes. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Vizepräsident Johannes Singhammer: nen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass das Urteil Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleis- Kollege Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU. tungsgesetz endlich umgesetzt wird. Ich wage einmal zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagen: Es war auch Zeit. neten der SPD) Wir alle haben die Berichte über Vorfälle in Asylbe- werberheimen mitbekommen. Die Vorfälle sind beschä- Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): mend und einer modernen Gesellschaft wie unserer Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen unwürdig. Umso wichtiger ist es, die Arbeit der Ehren- und Herren! Wir novellieren das Asylbewerberleistungs- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5881

Dr. Martin Pätzold (A) gesetz, weil wir dazu den Auftrag des Bundesverfas- dass die Standards dort andere sind als bei uns. Das wird (C) sungsgerichtes haben und weil wir auf die Herausforde- klar, wenn man sich diese Zahl vor Augen führt. Das rungen in der Welt, die uns in Deutschland betreffen, wird aber auch klar, wenn man weiß, wie die wirtschaft- reagieren. Dieses Jahr werden über 200 000 Flüchtlinge lichen Verhältnisse vor Ort sind. Wenn das der Bezugs- nach Deutschland kommen. Alleine von Januar bis Sep- punkt ist, dann sieht man, wie viel unsere Gesellschaft tember dieses Jahres waren es 163 000 Menschen, die für diejenigen leistet, die hier Hilfe suchen. Wir leisten hier einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir er- auch deswegen so viel, weil wir eine historische Verant- leben, dass die Konflikte, die es im Irak, in Syrien, im wortung und eine humanitäre Verantwortung haben. Nahen Osten im Allgemeinen und in den ehemaligen (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Republiken der Sowjetunion gibt, natürlich auch Aus- wirkungen auf die Politik hier in Deutschland haben. Mir persönlich ist wichtig – das habe ich bereits ange- Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir dieses Ge- sprochen –, dass wir als Gesetzgeber nicht nur einen setz novellieren und deutliche Verbesserungen beschlie- menschenwürdigen Rahmen festsetzen, sondern dass wir ßen. auch die gesamte Gesellschaft und die Zivilgesellschaft zur Unterstützung ermutigen. In meinem Wahlkreis Aus meiner Sicht sind vor allen Dingen drei Punkte Lichtenberg im Berliner Norden ist es gelungen, mit der von Bedeutung – vieles wurde ja schon angesprochen –, Zivilgesellschaft ordentlich und vernünftig zusammen- auf die ich als letzter Redner eingehen möchte und die zuarbeiten und dafür zu sorgen bzw. zu werben, dass es mir mit Blick auf diese Gesetzesinitiative besonders auch zu einer Beteiligung vor Ort kommt. So gibt es bei- wichtig sind, da wir den Betroffenen dadurch, wie ich spielsweise Deutschkurse, die von Menschen im Ren- glaube, helfen. tenalter geleitet werden, die dadurch die Kompetenzen, Erstens. Im Hinblick auf das Bildungs- und Teilhabe- die sie erworben haben, weitergeben. paket beschließen wir, dass es eine verbindliche Unter- Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und Aner- stützung der Kinder von Flüchtlingen geben wird. Vor- kennung dafür, dass es uns gelingt, Flüchtlinge vernünf- her war das eine Entscheidung, die von den Ländern tig zu integrieren. Ich beispielsweise sammle immer zu teilweise unterstützt wurde. Jetzt gibt es einen Rechtsan- Weihnachten mit einem Einzelhändler vor Ort Ge- spruch darauf. Das stärkt die Integration im lokalen schenke für Flüchtlingskinder; das werde ich auch dieses Raum. Deswegen finde ich persönlich, dass das eine Jahr machen. Jeder kann einen Beitrag dazu leisten, dass wichtige und gute Sache ist. es in unserem Land in sozialer Hinsicht besser zugeht. Auch mit diesem Gesetzentwurf leisten wir als Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tagsabgeordnete dazu einen vernünftigen Beitrag. Zweitens. Wir verkürzen die Dauer der Vorläufigkeit (B) Vielen Dank. (D) auf 15 Monate. Auch hier ist es wichtig, den Übergang zu organisieren. Deswegen ist es gut, dass wir die Dauer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Vorläufigkeit deutlich reduzieren und auf 15 Monate neten der SPD) festlegen. Auch der dritte Punkt ist wichtig, gerade für uns als Vizepräsident Johannes Singhammer: christliche Partei – es wurde schon angesprochen, dass Damit schließe ich die Aussprache. für uns die Prinzipien Subsidiarität, Solidarität und Per- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der sonalität von besonderer Bedeutung sind –: Da es auch Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur um Eigenverantwortung geht, ist es richtig, dass wir ei- Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des nen Freibetrag festlegen, dass es Freigrenzen gibt und Sozialgerichtsgesetzes. Dazu liegt mir eine Reihe von dass auch für Flüchtlinge die Möglichkeit besteht, Geld Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge- anzusparen. schäftsordnung vor.1) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- Dann kann man nämlich selbst entscheiden, welche Aus- ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- gaben man tätigt. sache 18/3073, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/2592 und 18/3000 anzunehmen. Ich Die Frage, die wir in dieser Diskussion andauernd hö- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- ren, lautet: Ist es menschenwürdig, wie wir Flüchtlinge len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer unterbringen, oder nicht? Da gibt es den Bundesgesetz- enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter geber – das sind wir Abgeordnete –, der eine Verantwor- Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge- tung hat. Da gibt es aber auch Länder und Kommunen, gen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die die hier in der Verantwortung stehen. Grünen angenommen. Ich war in der letzten Woche im Nahen Osten, unter Dritte Beratung anderem in Jordanien und Israel, und konnte sehen, wie Flüchtlinge dort untergebracht werden. Alleine Jorda- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem nien, ein Land mit ungefähr 6 Millionen Einwohnern, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – hat 620 000 Syrer aufgenommen. Erstens können wir Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- dankbar sein, dass ein Land wie Jordanien Verantwor- tung übernimmt. Zweitens müssen wir aber feststellen, 1) Anlage 5 5882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) entwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und fördern. Kunst als gesellschaftlicher Spiegel gewinnt (C) SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bünd- durch die Vielfalt der verschiedenen Blickwinkel. Kunst nis 90/Die Grünen angenommen. gewinnt durch die unterschiedlichen Perspektiven derer, die sie machen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 b. Ab- stimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd- Darum müssen Frauen in allen Bereichen der Kunst nis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Asylbewerber- und Kultur selbstverständlicher Teil sein, genauso wie leistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Männer. Aber genau da liegt das Problem. Fakt ist: 2014 Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- sind weder Bezahlung, Arbeit oder Macht bei den circa empfehlung auf Drucksache 18/3073, den Gesetzent- 1 Million Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirt- wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- schaft in Deutschland gerecht verteilt. Frauen haben hier che 18/2736 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem – und ich rede von der bestausgebildetsten Frauengene- Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- ration, die es je gab – nach wie vor das Nachsehen. Für chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der den Kulturbetrieb gilt das Gleiche wie für die Wirt- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den schaft: Je höher Gehalt, Ansehen oder Funktion einer Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen Stelle, desto geringer ist der Frauenanteil. Die Schieflage der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt besteht – ich betone es nochmals – trotz einer steigenden worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung Anzahl von Absolventinnen in den künstlerischen Studi- die weitere Beratung. engängen. Im Kulturbetrieb herrscht ein großes Un- gleichgewicht in der Stellenverteilung zwischen Frauen Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 c. Be- und Männern, insbesondere in Leitungen bei Theatern, schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- Orchestern und auch in den Film- und Fernsehproduktio- ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti- nen. tel „Sozialrechtliche Diskriminierung beenden – Asylbewerberleistungsgesetz aufheben“. Der Ausschuss Aktuell macht die Initiative Pro Quote Regie deutlich, empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh- wie stark diese Missstände sind: Im letzten Jahr waren lung auf Drucksache 18/3073, den Antrag der Fraktion unter den 115 aus dem Deutschen Filmförderfonds un- Die Linke auf Drucksache 18/2871 abzulehnen. Wer terstützten Projekten nur 13 Projekte von Regisseurin- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt nen. In Euro heißt das: 62 Millionen Euro Fördergelder dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- für Männer gegen 6 Millionen für Frauen. Das heißt, we- lung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD niger als 10 Prozent der Mittel gingen an Regisseurin- gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die nen. Und was glauben Sie wohl, wie viele der Folgen der Grünen angenommen. beliebtesten deutschen Krimiserie Tatort 2013 unter der (B) Regie einer Frau gedreht wurden? 3 von 82. Unglaub- (D) Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9: lich, oder? Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ver- Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer pflichtet die Bundesregierung zur Förderung der tatsäch- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ lichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen DIE GRÜNEN und Männern. Das gilt auch für den Kulturbetrieb. Die Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbe- Bundesregierung steht somit auch in der Verantwortung, trieb schaffen Frauen in öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen und Projekten zu unterstützen. Wir fordern Sie daher Drucksache 18/2881 auf: Verteilen Sie die öffentlichen Gelder geschlechter- Überweisungsvorschlag: gerecht! Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Högl [SPD]) diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. Die Förderkriterien für den Etat der Beauftragten für Kultur und Medien müssen sich für Frauen und Männer Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- gleichermaßen gut auswirken; darum müssen Sie sie an- nerin das Wort der Kollegin Ulle Schauws von Bünd- passen. nis 90/Die Grünen. Man sollte meinen, 2014 sei es selbstverständlich, dass Jurys zur Hälfte aus Frauen bestehen. Das ist leider Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine Illusion. Deshalb wollen wir eine 50/50-Besetzung Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- aller Gremien aus dem Hause der BKM, die Fördergel- nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste, die ich heute be- der vergeben, und wir brauchen eine paritätische Ge- sonders begrüßen möchte! Kultur lebt von Vielfalt, und schlechterverteilung bei der Vergabe von Förderprojek- auf unsere kulturelle Vielfalt sind wir in Deutschland be- ten und Preisen durch Jurys. Hier sollten nur in sonders stolz – zu Recht. begründeten Einzelfällen Ausnahmen möglich sein. Aber Vielfalt heißt nicht nur Auswahlmöglichkeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus einem möglichst breiten kulturellen Angebot. Nein, sowie des Abg. [Havelland] das heißt auch, die Unterschiedlichkeit in der Kultur zu [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5883

Ulle Schauws (A) Und, meine Damen und Herren, es kann ja wohl nicht Vizepräsident Johannes Singhammer: (C) sein, dass die Daten zur Situation von Frauen und Män- Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin nern im Kulturbetrieb 15 Jahre alt sind. Da ist das Weg- Dr. Herlind Gundelach. sehen der Bundesregierung quasi symbolisch. Diesen (Beifall bei der CDU/CSU) Mangel müssen Sie beheben.

Ich höre die Kritikerinnen und Kritiker schon stöh- Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): nen: Jetzt auch noch eine Quote für den Kulturbetrieb! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um Inhalt, Talent und künstlerische Freiheit Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Ko- geht, setze sich Qualität schon durch, heißt es ja gerne. alition hat in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich fest- Nein, sagen wir, das ist kein Argument. Künstlerische gehalten, dass die Gleichstellung von Frauen und Män- Produktionen von Frauen leiden doch nicht an Qualitäts- nern für uns eine hohe Priorität hat. Wir haben schon mangel. Künstlerinnen leiden unter den Strukturen in ei- wichtige Punkte beschlossen und bringen derzeit weitere nem System, das ihnen Chancen verwehrt. Eine Quote wichtige Gesetze auf den Weg. Allein in dieser Woche bringt mehr künstlerische Freiheit, sie schützt die Frei- werden wir das Elterngeld Plus in zweiter und dritter Le- heit der Kultur. sung beraten. Die flexibleren Lösungen beim Elterngeld und bei der Elternzeit bedeuten für viele Arbeitneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie merinnen und Arbeitnehmer eine ganz erhebliche Er- bei Abgeordneten der LINKEN) leichterung. Wir wissen: Freiwillige Vereinbarungen und unver- Jede Frau und jeder Mann sollten grundsätzlich jeden bindliche Regelungen haben für Frauen in der Wirtschaft Beruf ergreifen können. Das müssen wir ihnen ermögli- bislang nichts verbessert. Darum fand ich es schon ganz chen. Das ist für mich Gleichstellung. Ich weiß aber schön hanebüchen, wie Sie von der CSU immer noch auch, dass das einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Für verzweifelt versuchen, die Frauenquote in der Wirtschaft mich bedeutet Gleichstellung außerdem, dass Frauen noch mal zu verzögern. und Männer für die gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn bekommen. Die Problematik der Entgeltgleichheit Dass Erfolge hingegen durch verbindliche Vorgaben ist übrigens besonders paradox; denn in der Praxis sind erzielt werden können, dafür gibt es gute Beispiele. Frauen häufig besser ausgebildet, haben oft die besseren Schweden hat 2012 eine Quote für die Filmförderung Noten und bekommen trotzdem weniger Gehalt für die eingeführt. 40 Prozent des Filmförderbudgets werden gleiche Arbeit. Das ist auf Dauer nicht zu akzeptieren. seitdem in den Positionen Regie, Drehbuch und Produk- Für mich bedeutet Gleichstellung aber auch, dass (B) tion an Frauen vergeben. So sieht für uns eine erfolgrei- (D) che Film- und eine geschlechtergerechte Kulturförde- Frauen ihre Entscheidungsfreiheit nicht selber begren- zen. Ich war immer eine berufstätige Mutter. Ich weiß, rung aus. dass es für Frauen reale Barrieren in der Berufswelt gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber es ist auch entscheidend, ob wir diese als Frauen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) hinnehmen oder aktiv dagegen angehen. Ich beobachte nämlich auch, dass junge Frauen oftmals Berufe danach Meine Damen und Herren, es geht um die Chancen- auswählen, ob sie geeignet sind, Familie und Beruf mit- gleichheit für Frauen. Es geht nicht darum, ob Frauen einander zu verbinden. Das ist selbstverständlich absolut und Männer besser oder schlechter arbeiten. Es geht um legitim; aber ich möchte Frauen ausdrücklich dazu er- gleiche Arbeitsmöglichkeiten und gleiche Aufstiegs- mutigen, ihre Wünsche laut zu äußern und sich selber zu chancen. Es geht um eine gerechte Verteilung von Geld erlauben, reale Entscheidungsfreiheit zu leben. und Perspektiven. Wenn wir als Bundespolitikerinnen Die Grenzen, die Frauen im Berufsleben erleben, sind und Bundespolitiker zulassen, dass der Kulturbetrieb über viele Jahrzehnte durch Geschlechter- und Rollen- einseitig gefördert wird, dass er selbstverständlich von bilder entstanden und gewachsen. Wenn Frauen sich sel- Männern dominiert wird, bringen wir die Kultur um die ber begrenzen, dann zementieren sie diese Bilder, und Chancen der Vielfalt. Es kann doch nicht sein, dass mög- wir werden weiterhin zwischen Frauen- und Männerbe- lichst viele Frauen Kultur konsumieren, aber möglichst rufen unterscheiden. wenige Frauen selbst gestalten und entscheiden können. Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl ge- Wir wollen die ungerechte berufliche Benachteili- macht: Ich bin eigentlich keine Befürworterin der Quote. gung von Frauen beenden. Wir wollen, dass Frauen in Aber wie die Erfahrung zeigt, ist sie zum jetzigen Zeit- Kulturbetrieben selbstverständlich sind, dass unser Mei- punkt leider immer noch notwendig. Es wäre aber falsch, nungsbild durch weibliche Vielfalt bereichert wird, dass zu glauben, dass wir dadurch die Geschlechter- und Rol- sich die Pluralität unserer Gesellschaft hier abbildet. Wir lenbilder ändern können; denn das können nur wir wollen das kreative Potenzial von Frauen nicht verpas- selbst. Das fängt früh an, nämlich schon in der Art, wie sen. wir unsere Kinder erziehen. Da finde ich übrigens selbst bei manchen Feministinnen ganz traditionelle Erzie- Vielen Dank. hungsmuster. Also, es gibt genug zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt aber Branchen – ich glaube, darin sind wir uns und bei der LINKEN) einig –, in denen die Verbesserung der Arbeitsbedingun- 5884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Herlind Gundelach (A) gen und auch der Karrierechancen für Frauen nicht so Ich glaube nicht, dass bei der Verpflichtung eines Re- (C) einfach umzusetzen ist, wie wir das gerne hätten. Eine gisseurs das Geschlecht grundsätzlich eine Rolle spielt. dieser Branchen ist zweifellos der Kulturbereich. Grund- Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei sätzlich begrüße ich daher den Antrag der Grünen, der der Berufswahl in diesem Fall ganz sicher eine Rolle. die Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb themati- Denn Regisseurinnen und Regisseuren hilft auch eine siert. Ich bin aber doch etwas verwundert darüber, dass Kita mit den besten Öffnungszeiten nichts, wenn sie alle der Antrag die besonderen Aspekte dieser Branche aus zwei Monate umziehen müssen. Dann ist die Vereinbar- meiner Sicht überwiegend verkennt, dass dieser Antrag keit von Familie und Beruf schwer zu erreichen. Ähnli- Themen adressiert, bei denen der Bund schlichtweg der che Probleme haben übrigens beispielsweise auch freie falsche Ansprechpartner ist, und dass dieser Antrag die Bühnen- und Kostümbildner. künstlerische Freiheit zum Teil völlig außer Acht lässt. Die in dieser Woche zu beschließenden Änderungen So können und so sollten wir die Verbesserung der Ar- beim Elterngeld Plus können für diese Frauen Erleichte- beitsbedingungen von Frauen im Kulturbereich nicht er- rung schaffen. Ich bin daher froh, dass wir damit mehr reichen. Flexibilität für alle schaffen. Denn so können nicht nur Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie Frauen, sondern auch Paare im Kulturbereich ihre El- sprechen in Ihrem Antrag explizit durch Bundesmittel ternzeit an die besonderen Gegebenheiten ihrer Berufe geförderte Filmprojekte an. Ja, es ist schade, dass die anpassen. Zahl der Filme von Regisseurinnen niedriger ist als die Meine Damen und Herren, Quoten im Kulturbereich von Regisseuren. Ich würde aber keine Kausalität zwi- können beim besten Willen kein Weg sein. Wenn Men- schen Geschlecht und Förderung unterstellen. Das halte schen mehr Bilder von männlichen Malern kaufen, ob- ich in diesem Fall schlichtweg für falsch. wohl es genauso viele weibliche wie männliche Maler gibt, können wir ihnen letztendlich nichts anderes vor- Einen ähnlichen Zusammenhang stellen Sie auch bei schreiben. Wir können den Geschmack nicht beeinflus- Theaterinszenierungen fest. Ja, die Stücke beim Berliner sen. Deswegen finde ich Ihre Vorschläge für die Vergabe Theatertreffen haben zu großen Teilen männliche Regis- von Preisen oder die Zusammenstellung von Ausstellun- seure. Auch wenn ich die Spielpläne der deutschen The- gen nicht zielführend, vor allem, da selbstverständlich aterlandschaft insgesamt durchforste, stelle ich fest: Die im Bereich der institutionellen Förderung durch Bund meisten Stücke werden von Männern inszeniert. Aber und Länder gleichermaßen – darauf haben auch Sie ab- ich stelle auch fest, dass es immer mehr Autorinnen und gehoben – das Gleichstellungsgesetz und die Gremien- mehr weibliche Bühnen- und Kostümbildner und auch besetzungsgesetze durchaus Anwendung finden. Hier Co-Regisseurinnen gibt, vor allem an vielen kleineren, setzen wir uns für weitere Verbesserungen ein. Eine No- (B) aber auch durchaus bedeutenden Theatern. Dass vor al- vellierung dieser Gesetze ist in Arbeit. (D) lem auch Intendantinnen wie Karin Beier und Shermin Langhoff besondere Aufmerksamkeit bekommen, ist Außerdem sind die dauerhaft durch den Bund geförder- zweifellos richtig und geschieht meiner Meinung nach ten Einrichtungen gehalten, die Gleichstellungsanforderun- völlig zu Recht. Denn diese Frauen leisten großartige gen zu beachten. Auch gibt es konkrete Projektförderung Arbeit. mit frauenspezifischem Hintergrund. Ich bin durchaus dafür, dass solche Dinge ausgeweitet werden. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch eine Ich bin auch Ihrer Auffassung, dass es mit Blick auf Bemerkung machen. Wenn ich mir in den letzten Jahren weitere Maßnahmen, die zu ergreifen sind, vielleicht beim Berliner Theatertreffen manche Stücke angeschaut ganz sinnvoll wäre, zu einer Aktualisierung der Daten zu habe, konnte ich zum Teil Geschlechterbilder erkennen, kommen. Sie sind in der Tat etwas zu alt, um von der die mir sonst eher durch meine Großmutter vorgelebt heutigen Warte aus ein Urteil darüber zu erlauben, was worden waren. Aber diese Inszenierungen wurden gefei- tatsächlich nottut. ert, und zwar von beiden Geschlechtern. Das ist auch in Ordnung; denn über Geschmack lässt sich bekanntlich Aber für mich und, wie ich glaube, auch für die CDU/ nicht streiten. Vielleicht müssen wir eher die Rollenbil- CSU insgesamt ist es ganz wichtig, dass im Bereich der der in der Gesellschaft hinterfragen. Warum finden auch Kunst immer künstlerische und kulturelle Kriterien maß- Frauen solche klischeehaften Darstellungen gut? Aber geblich sein müssen. an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen: Für In- Vielen herzlichen Dank. szenierungen und Produktionen muss die künstlerische Freiheit immer oberstes Gebot bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Berufe im Kunst- oder Kulturbereich haben meistens Vizepräsident Johannes Singhammer: besondere Arbeitsbedingungen, die sich nicht wegdisku- Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Sigrid tieren lassen. Manche Theater haben zum Beispiel Haus- Hupach. regisseure. Diese inszenieren dann vielleicht drei Stücke in einer Spielzeit und sind somit schätzungsweise sechs (Beifall bei der LINKEN) Monate eines Jahres an einen Ort gebunden. Die aller- meisten Regisseure inszenieren aber im gesamten Sigrid Hupach (DIE LINKE): deutschsprachigen Raum und sind so meist nicht länger Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen als zwei Monate in einer Stadt. und Herren! Vielen Dank an die Kolleginnen und Kolle- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5885

Sigrid Hupach (A) gen von Bündnis 90/Die Grünen, dass wir heute über das setzungsstarkes Urhebervertragsrecht. Wir Linke haben (C) wichtige Thema der Gleichstellung von Frauen im Kul- hierzu schon in der letzten Legislatur einen Gesetzent- turbetrieb debattieren können. Ihrem Antrag werden wir wurf eingebracht. Dazu gehört auch die Frauenquote. zustimmen. Das haben wir schon in der letzten Legisla- Zweites Beispiel, soziale Absicherung. Der Koali- tur getan, als dieser Antrag das erste Mal eingebracht tionsvertrag kündigt für Ende 2014 eine Anschlussregelung wurde. Jetzt ist er bereichert um den aktuellen Aufruf zum Arbeitslosengeld-I-Bezug für kurzzeitig Beschäftigte der Initiative Pro Quote Regie, einer Initiative von rund an, eine Regelung, die auch für viele Kulturschaffende 200 Regisseurinnen, die sich für Gleichbehandlung ein- von großer Bedeutung ist. setzen. Auch ich habe diesen Aufruf mit meiner Unter- schrift unterstützt. (Beifall bei der LINKEN) Gleichstellung im Kulturbetrieb, das sollte im Jahr Vorgelegt hat die Koalition aber nichts. Stattdessen wird 2014 eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber heute zu später Stunde in einem sogenannten Omnibus- der Kulturbereich ist von Gleichberechtigung von Mann gesetz die Geltungsdauer der bestehenden ungenügen- und Frau genauso weit entfernt wie unsere Gesellschaft den Regelung um ein Jahr verlängert. Schade! Auch das insgesamt. Es gibt eklatant zu wenige Frauen in Lei- wäre eine Möglichkeit gewesen, die soziale Absicherung tungs- und Führungspositionen. Von Equal Pay kann keine im Kreativbereich zu verbessern. Rede sein. Frauen verdienen, wie bereits gesagt, im Kul- (Beifall bei der LINKEN) turbereich im Durchschnitt wesentlich weniger als Män- ner. Demzufolge sind Frauen in weit höherem Maße von Wir Linke haben mit unserem Antrag „Kurzzeitig Be- Altersarmut betroffen. Altersarmut in Deutschland ist schäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversi- vorwiegend weiblich. cherung ermöglichen“ das vorgelegt, was die Koalition verschlafen hat. Im Kulturbereich gibt es traditionell einen hohen Frauenanteil sowohl in der Ausbildung in Medien- und Weitere Beispiele, die zu nennen wären, sind die Aus- Kulturberufen als auch bei den Beschäftigten. Zuneh- stellungsvergütung, die Problematik der Mehrwertsteuer mend ist dies im Journalismus so. Andere Bereiche wie im Kunsthandel und – last, but not least – der Gabriele- Bibliotheken oder Museen sind heutzutage nahezu Frau- Münter-Preis. Dieser europaweit einzigartige Preis für endomänen. „Viele Frauen“ ist aber nicht gleichzusetzen Künstlerinnen über 40 Jahre kann seit 2010 nicht mehr mit „viele Frauen in wichtigen Entscheidungspositio- vergeben werden, weil sich das Bundesfamilienministe- nen“. In ihrer Halbzeitbilanz vom Juni 2014 stellt die rium aus der Finanzierung zurückgezogen hatte. Nach Initiative Pro Quote fest, dass der sogenannte Machtan- jahrelangem Ringen hat das Frauenmuseum in teil von Journalistinnen bei fast allen großen Zeitungen jetzt vom Ministerium einen Bewilligungsbescheid er- (B) (D) unter 30 Prozent liegt. halten, um eine Vergabe des Preises für 2017 zu organi- sieren, aber mit der Hälfte des Geldes. Sieben Jahre ohne Was ist also zu tun? Der Antrag der Grünen zeigt ei- Preisvergabe und dann noch ein Sparpreis, das ist eine nige Möglichkeiten auf. Wir brauchen belastbares Zah- Blamage. Kein Mann hätte sich das wohl ohne Protest lenmaterial und Förderkriterien im Etat des Kapitel 5 des gefallen lassen. Einzelplans 04, die eine geschlechterparitätische Ver- gabe von Führungspositionen und Besetzungen von Or- Danke. chestern, Ausstellungen und Jurys garantieren. Uns Lin- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ken geht das nicht weit genug. Die Linke ist für Pro NIS 90/DIE GRÜNEN) Quote. Damit ist aber nicht das auf wackeligen Beinen stehende schwache Quotengesetz gemeint, das die Bun- desregierung je nach Wirtschaftslage ab 2015 plant. Wir Vizepräsident Johannes Singhammer: als Linke fordern eine Mindestquotierung aller politi- Nächste Rednerin ist für die Sozialdemokraten die schen Mandate und öffentlichen Ämter von 50 Prozent Kollegin Hiltrud Lotze. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) sowie ein Gleichstellungsgesetz für die private Wirt- Hiltrud Lotze (SPD): schaft. Das bezieht auch den Kulturbereich ein, öffent- lich gefördert oder nicht. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Besuchertribü- Es gibt also für die Bundesregierung viel zu tun. Ich nen! 65 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kann will hier nur einige Beispiele nennen, in denen ein zeit- von einer tatsächlichen Gleichstellung in vielen Berei- nahes Engagement der Koalition deutliche Verbesserun- chen unserer Gesellschaft nicht die Rede sein. Das ist ein gen für Frauen nicht nur im Kulturbereich bewirken Fakt. Wenn es so weiterginge wie bisher, dann würden würde: wir wahrscheinlich auch 65 Jahre später uns alle einge- stehen müssen, dass es mit gutmütigen Appellen und mit Erstes Beispiel, faire und gleiche Entlohnung. Mit der Freiwilligkeit in der Privatwirtschaft nicht wirklich wei- Einführung von Equal Pay in öffentlich geförderten Kul- ter vorangeht. tureinrichtungen und Projekten kann die Bundesregierung mit gutem Beispiel vorangehen und den Rechtsanspruch Ich bin deswegen dankbar, dass wir mit Manuela auf gleiche Entlohnung bei gleicher oder gleichwertiger Schwesig eine kompetente und sehr hartnäckige Minis- Arbeit für Frauen durchsetzen. Dazu gehört ein durch- terin haben, die trotz heftigen Gegenwinds – jetzt zitiere 5886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Hiltrud Lotze (A) ich den Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz – „auf die Besei- Ich denke – das ist hier schon angeklungen –, wir sind (C) tigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Deswegen ist uns auch heute darüber einig, dass Handlungsbedarf be- die Frauenquote ein immens wichtiger Beitrag zur steht. Auch wenn ganz klar ist, dass die Kompetenz des Gleichstellung von Frau und Mann. Bundes aufgrund der Kulturhoheit der Länder begrenzt ist, sollte uns das hier nicht davon abhalten, im Rahmen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulle Schauws der gegebenen Möglichkeiten die Gleichstellung zu för- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dern. Der Antrag der Grünen und auch unser Antrag aus der letzten Legislaturperiode haben da die Richtung Die Indikatoren der Ungleichstellung von Frau und vorgegeben und die möglichen Handlungsfelder be- Mann, die wir in der Privatwirtschaft beobachten kön- schrieben. Ganz wichtig dabei ist, dass wir über die nen, gelten größtenteils auch für den Kunst-, Kultur- und aktuelle Situation genau Bescheid wissen, sprich: Wir Medienbereich und sind uns mittlerweile mehr als gut brauchen – ich zitiere aus dem Antrag – „… geschlechts- bekannt. Frauen verdienen für gleiche Arbeit weniger, spezifisches Wissen über die sozialen Rahmenbedingun- sie sind überdurchschnittlich von prekärer Beschäfti- gen der Kunstschaffenden, die Besetzung von Führungs- gung betroffen, und wir treffen sie viel seltener auf den positionen und Gremien sowie die Vergabe von höheren Hierarchieebenen an, und das trotz nachweis- Stipendien und anderen Fördermaßnahmen …“. Dieser lich vorhandener sehr guter Qualifikationen. Sie sind Forderung aus dem Antrag der Grünen kann ich vor- auch noch viel stärker davon betroffen, dass sich nach behaltlos zustimmen. wie vor Familie und Beruf so schlecht miteinander ver- einbaren lassen. Gleichzeitig sehe ich, dass ein Bereich in diesem An- trag zu kurz kommt: der Medienbereich. Leider kommt Es gibt aber eine Besonderheit im Bereich der Kultur-, der Begriff „Medien“ schon im Titel des Antrags nicht Kreativ- und Medienwirtschaft, nämlich die, dass gerade vor. Das ist für uns Grund genug, dieses Thema jetzt im hier die Möglichkeit für Frauen besonders groß ist, Kar- Kultur-, Kreativ- und Medienbereich aufzugreifen, und riere zu machen, und zwar jenseits von tradierten zwar umfassend. Wir sollten uns für dieses wichtige Berufsbildern, also typisch weiblichen und typisch Thema aber auch Zeit nehmen, um es gründlich zu männlichen Berufen. Die Digitalisierung, über die wir behandeln. Ich schlage deswegen vor, dass wir im hier schon häufig intensiv gesprochen haben, verstärkt Ausschuss für Kultur und Medien ein Fachgespräch zu diesen Effekt noch. Unter den Selbstständigen im Kul- diesem Thema führen, um uns alle gemeinsam auf den tur-, Medien- und Kreativbereich sind überdurchschnitt- neuesten Stand zu bringen. Als zuständige Berichterstat- lich viele Frauen. Es zeigt sich aber auch, dass Frauen in terin setze ich mich dafür ein, und ich bin mir sicher, diesem Bereich besonders stark von Arbeitslosigkeit be- dass ich da die Unterstützung der Kolleginnen und Kol- legen der Union habe. – Ich sehe da schon Nicken. (B) troffen sind, jedenfalls stärker als Männer. (D) Eine Sache noch zum Schluss, die mir besonders Wir können also sagen, dass der Kreativ-, Kultur- und wichtig ist. Wenn wir über Gleichstellung im Kultur-, Medienbereich einerseits ein wichtiger und aus der Gen- Kreativ- und Medienbereich reden, dann gehört ein derperspektive eigentlich traumhafter Arbeitsmarkt für wichtiger Aspekt dazu: Das ist die Inklusion. Kultur für Frauen ist, der im Übrigen ein großes Wachstums- und alle bedeutet nicht nur, dass wir allen den Zugang zur Beschäftigungspotenzial aufweist. Deswegen arbeiten Kultur ermöglichen, sondern auch, dass jeder mitmachen wir intensiv am Kreativpakt. Er ist also eigentlich ein kann. Wenn wir also unter dem Stichwort „Gleichstel- traumhafter Arbeitsmarkt, der aber andererseits für lung“ die Fördergrundsätze des Bundes im Kultur- und Frauen ein großes soziales Risiko birgt. Medienbereich unter die Lupe nehmen, dann dürfen wir das nicht nur unter dem Genderaspekt machen, sondern Wir haben in Regierungsverantwortung bereits einige wir müssen auch die UN-Behindertenrechtskonvention Weichen gestellt, um die Situation zu verbessern. Ich ernst nehmen und dabei die Inklusion mitdenken. nenne als Beispiel nur den Mindestlohn, der positive Auswirkungen für die Beschäftigten im Kreativ-, Kultur- (Beifall bei der SPD) und Medienbereich hat. Noch wichtiger zu erwähnen ist, Ich freue mich darüber, dass wir das im Ausschuss dass wir umgehend nach der Regierungsbildung be- gemeinsam mit allen Fraktionen anpacken wollen. schlossen haben, die Beiträge zur Künstlersozialkasse zu stabilisieren. Gerade für selbstständige Frauen, die in der Vielen Dank. KSK versichert sind und Mutter werden, ist die KSK eine ganz wichtige Stütze. Das sind zugegebenermaßen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur einige und verhältnismäßig kleine Steine, die wir aus dem Weg geräumt haben, aber sie sind sehr wichtig. Vizepräsident Johannes Singhammer: Allerdings sind noch einige dicke Brocken zu bewe- Die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein spricht als gen. Es ist deswegen richtig und wichtig, dass der Nächstes für die CDU/CSU. Antrag der Grünen dies heute hier thematisiert. Der An- trag ist nahezu wortgleich mit einem Antrag der Grünen (Beifall bei der CDU/CSU) aus der letzten Legislaturperiode. Damals hatte auch die SPD einen Antrag mit dem Titel „Für die tatsächliche Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Gleichstellung von Frauen und Männern auch im Kunst-, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kultur- und Medienbereich“ vorgelegt. Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kolleginnen und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5887

Dr. Astrid Freudenstein (A) Kollegen von den Grünen, ich habe mir Ihren Antrag etwa um Intendanten- oder Dirigentenposten. Sie bewer- (C) sehr genau durchgelesen. Mir war er neu; ich bin ja zum ben sich auch seltener um Preise. ersten Mal hier. Ich habe wirklich überlegt, ob daraus Damit sind wir schon mitten in einem weiteren Punkt: noch eine runde Sache werden kann. Ich muss sagen: Je Ihren Zahlenspielereien. Sie stellen in Ihrem Antrag länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu Zahlen relativ willkürlich gegeneinander und folgern da- dem Ergebnis, dass ich Ihren Antrag eigentlich für ziem- raus, dass es – ich zitiere – „strukturelle Schranken beim lichen Unsinn halte. Zugang ins Berufsleben für Frauen im Kulturbetrieb“ Ich will Ihnen auch sagen, warum. Da gibt es zum ei- gebe. Was Sie dabei unterschlagen, ist, dass es zwischen nen die kulturpolitischen Gründe, etwa die Kulturhoheit den einzelnen kulturellen Sparten ganz erhebliche Unter- der Länder, die eben schon erwähnt wurde. Die Zustän- schiede bei der Anzahl von Frauen in Führungspositio- digkeit für die Kulturförderung liegt zu einem Großteil nen gibt. Sie zitieren leider nur die Negativbeispiele. bei den Ländern, vor allem aber bei den Kommunen. Sie Richtig ist aber, dass in den Kulturredaktionen der wären die Hauptansprechpartner für Ihre Forderungen. Rundfunkanstalten, in den Feuilletons der Zeitungen, in Dort, in den Ländern und in den Kommunen, gelten den Bibliotheken und Museen, in den Literaturhäusern natürlich schon jetzt, wie auch bei der Kulturförderung ausgesprochen viele Frauen vertreten sind. Auch die aus dem Bundesetat, die ganz allgemeinen gleich- Tatort-Redaktion des Bayerischen Fernsehens ist voller stellungspolitischen Grundsätze. Frauen. Es mag in den Kommunen und in den Bundesländern (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit der Gleichstellung unterschiedlich gut funktionieren. NEN]: Reden wir über die Leitungen, oder Für Bayern, mein Land, kann ich sagen: Dort werden worüber reden wir hier?) Künstlerinnen durchaus ganz gezielt mit Programmen Ebenso ist das bei Ihrem Vergleich zwischen den frei- gefördert. Schaut man sich die Gewinnerinnen und Ge- beruflichen Künstlerinnen und Künstlern. Frauen verdie- winner des Bayerischen Kunstförderpreises der vergan- nen danach im Schnitt weniger als ihre männlichen genen Jahre an, stellt man fest: Bei der „Darstellenden Kollegen. Das ist ein Fakt, den man überhaupt nicht be- Kunst“ haben fast nur Schauspielerinnen und Sängerin- streiten kann. In den allgemeinen Diskussionen um den nen den Preis gewonnen. In der Kategorie „Bildende Gender Pay Gap haben Sie korrekterweise schon einige Kunst“ ist es ebenso ausgeglichen wie in den Sparten Faktoren herausgerechnet. Der dann entstehende Unter- „Musik und Tanz“ oder „Literatur“. schied ist die eigentliche Ungerechtigkeit. Aber auch hier muss man natürlich ganz genau hinschauen. Gerade Im Übrigen können Sie in Baden-Württemberg schon bei den Selbstständigen ist von einer sehr großen Chan- einmal damit anfangen, Ihre Forderungen umzusetzen; cengleichheit auszugehen, weil eventuell diskriminie- (B) da regieren Sie ja. Ich habe aber aus dieser Richtung bis- rende Faktoren, die es bei Angestelltenverhältnissen mit- (D) her eigentlich nichts gehört. unter noch geben kann, fehlen. Es ist doch sehr viel (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- naheliegender, dass Frauen gerade diese Freiberuflich- NEN]: Machen Sie doch was!) keit im Kulturbereich nutzen, um Familie und Beruf un- ter einen Hut zu bringen. Außerdem ist da der Punkt „Freiheit der Kunst“. Sie Das führt mich zum nächsten Punkt. Es sind vermut- berufen sich in Ihrem Antrag auf Artikel 3 des Grundge- lich gerade die Frauen, die diese Flexibilität im Kultur- setzes, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt bereich nutzen und schätzen, um ihren Beruf ausüben zu sind. Ich bin sicher, dass niemand in diesem Hause dies können, auch wenn sie Kinder bekommen. Dann arbei- bestreiten wird. Dieses Grundrecht steht natürlich in ten sie natürlich nicht so viel wie jemand, der keine keinerlei Widerspruch zu Artikel 5 des Grundgesetzes, Kinder und keine Familie hat, und verdienen konsequen- wonach die Kunst frei ist. terweise auch weniger. Frauen dürfen in unserem Land ihre Kunst natürlich (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ so frei betreiben wie Männer. Sie dürfen sich aber auch DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das Fachgespräch ganz frei entscheiden, ob sie sich um eine Stelle als In- ist wirklich notwendig!) tendantin bewerben oder ob sie das nicht tun. Sie dürfen Karriere machen wollen, sie dürfen das aber auch nicht Aber sie sind vielleicht gar nicht unzufrieden mit ihrem wollen, und sie dürfen Drehbücher einreichen, und sie Leben. Das muss kein Missstand sein. dürfen das auch nicht wollen. Die Juroren eines Aus- (Zuruf von der LINKEN: Wo leben Sie denn?) wahlgremiums dürfen – ich meine sogar, sie müssen – allein nach künstlerischen Kriterien beurteilen, und sie Richtig ist auch, dass es in speziellen Branchen des dürfen daher Frauen oder eben auch Männer prämieren. Kulturbetriebs nach wie vor extrem schwierig ist, Beruf Ich will hier auch nicht unterstellen, dass Frauen bei und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich nenne hier Preisvergaben regelrecht aussortiert würden. einmal das Theater. Nirgendwo sonst gibt es so viele Wochenend- und Abendtermine. Nirgendwo sonst wird Fakt ist nämlich: Frauen bewerben sich in einigen Be- so viel zeitliche und örtliche Flexibilität verlangt. reichen auch heute noch viel seltener um Führungsposi- tionen als Männer, (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das passt alles in die Geschichte mit (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE dem Betreuungsgeld! Das passt eins zu eins da GRÜNEN]: Woher kommt das wohl?) rein! Das ist genau die gleiche Story!) 5888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Astrid Freudenstein (A) Ein Intendant bringt bekanntlich sein eigenes Ensemble Ich meine, wir müssen uns die Eigenheiten des Kul- (C) mit. Die Theaterleute sind in der ganzen Republik unter- turbetriebes wirklich genauer anschauen. wegs, wie ein Wanderzirkus, und das muss man organi- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sieren können, auch als Frau. NEN]: Was soll man dazu sagen? Nichts (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr!) NEN]: Mit dem Betreuungsgeld geht das be- Meine Damen und Herren, der Verweis auf die Kul- stimmt in Bayern!) turhoheit der Länder und die Freiheit der Kunst würde Es ist weder schlecht noch rückständig, wenn sich als Grund schon reichen, um Ihren Antrag abzulehnen. auch eine Sängerin, eine Regisseurin, eine Tänzerin um Ihr schräger Blick auf die Wirklichkeit des Kulturbetrie- ihr Kind kümmern will. bes und die Lebenswirklichkeit der Frauen tut ein Übri- ges. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Darüber haben wir nicht gesprochen! Für Ihren nächsten Antrag habe ich einen Tipp: Schla- Das wissen Sie! – [BÜND- gen Sie doch vor, den Auktionshäusern zu verbieten, ei- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist die Konse- nen Gerhard Richter für mehr Geld zu versteigern als die quenz?) Bilder seiner weiblichen Kolleginnen. Dann kommen Sie vermutlich ganz groß raus. Dieser Wunsch ist bei Frauen öfter vorhanden als bei Männern. In dieser Welt leben wir alle. Ich unterstelle Herzlichen Dank. trotzdem nicht, dass die Frauen allesamt unzufrieden (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws sind oder an Schranken des Kulturbetriebs scheitern. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist herz- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zerreißend!) NEN]: Haben Sie den Aufruf von Pro Quote Regie mal gelesen?) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Ich sage einen Satz, auch wenn dieser fast an ein Tabu Kollege Burkhard Blienert von den Sozialdemokraten. rührt: Vielleicht sind manche Frauen, wenn sie denn Kinder bekommen, in dem Moment gar nicht so stark an (Beifall bei der SPD) einer beruflichen Karriere interessiert. Ich könnte das auch nachvollziehen. Burkhard Blienert (SPD): (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) NEN]: Darum geht es doch überhaupt nicht! Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich (D) Sie verstehen überhaupt nicht, worum es stelle vorab fest: Der Antrag der Fraktion der Grünen ist geht!) in der Sache richtig. Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem An- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- trag wörtlich von einer Diskriminierung von Frauen im SES 90/DIE GRÜNEN – Kulturbetrieb; Sie unterstellen also ein halbwegs geziel- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!) tes Vorgehen. Ich unterstelle das Gegenteil. Ich meine, Dass er allerdings nicht weit genug greift, darauf hat dass gerade in der Kulturbranche die Bereitschaft, meine Kollegin Hiltrud Lotze schon hingewiesen. Denn Frauen zu fördern und auf herausgehobene Positionen zu darin sind einige Fragen nicht beantwortet. Insofern berufen, besonders ausgeprägt ist, eben weil Frauen müssen wir uns mit dem Antrag und den noch offenen – das stimmt ja – ein ganz besonders großes kreatives Fragen tatsächlich noch intensiver beschäftigen. Potenzial mitbringen. Es wäre überhaupt nicht nachvoll- ziehbar, dieses Potenzial nicht zu nutzen. Gerade des- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halb übernehmen sehr viele Frauen die Leitung von Mu- NEN]: Gerne! Wir können auch gerne noch ei- seen, Galerien, Literaturhäusern und Bibliotheken. nen stellen!) Ich behaupte auch, dass nur in wenigen Branchen die Und da Wiederholung tatsächlich das beste pädagogi- Chancengerechtigkeit so hoch ist wie in der Kulturbran- sche Element ist, möchte ich an dieser Stelle auch auf che, zum Beispiel weil bei Probespielen in der Regel die Situation von Frauen im Filmbereich eingehen. Da- hinter einem Vorhang gespielt wird, sozusagen als bei möchte ich klarmachen, dass wir es nicht nur mit ei- Schleier des Nichtwissens für die Juroren. nem gleichstellungspolitischen Thema zu tun haben; denn das Ganze hat natürlich auch eine kulturelle Di- Auch ich war schon in einer Findungskommission für mension. einen neuen Intendanten. Es ging um eine städtische Auch ich beziehe mich auf die aktuelle Initiative von Bühne. In der Findungskommission saßen übrigens drei Pro Quote Regie, die auch im Antrag der Grünen er- Frauen und ein Mann, nicht alle von der CSU; das sage wähnt wird. Sie hat uns in den letzten Wochen schon in- ich nur, falls Sie meinen, das Ergebnis würde mit der tensiv beschäftigt und wird uns auch noch weiter be- Parteizugehörigkeit zusammenhängen. Am Schluss be- schäftigen. kam ein Mann den Posten. Denn unter den vielen Dut- zend Bewerbern war nur eine Handvoll Frauen, und die Da haben sich – inzwischen über 200 – deutsche Re- passten nicht in das Profil. gisseurinnen zusammengeschlossen und auf einen Miss- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5889

Burkhard Blienert (A) stand hingewiesen, der mich in seiner Deutlichkeit schon Vizepräsident Johannes Singhammer: (C) überrascht hat: Nur 15 Prozent aller deutschen Kino- Damit schließe ich die Aussprache. und Fernsehfilme werden von Frauen gemacht, aber über 42 Prozent der Hochschulabsolventen im Fach Re- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gie sind weiblich. Wie passt das zusammen? Drucksache 18/2881 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Mechthild Rawert [SPD]: Gar nicht!) verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich will noch auf andere Fakten aufmerksam machen, die auch eine Rolle spielen: Im vergangenen Jahr hat der Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 10, den ich DFFF, der Deutsche Filmförderfonds, 115 Filmprojekte hiermit aufrufe: gefördert, aber nur 13 Filme davon wurden von Frauen inszeniert. 2013 flossen aus dem DFFF insgesamt Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat 62 Millionen Euro, aber nur 6 Millionen Euro gingen an eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Projekte von Regisseurinnen. Und noch ein beeindru- Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Er- ckender Befund – die beliebteste deutsche Fernsehreihe leichterung der Unterbringung von Flüchtlin- ist schon angesprochen worden –: Im vergangenen Jahr gen sind ganze 3 von 82 Tatorten von Frauen gedreht wor- Drucksache 18/2752 den. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Angesichts dieser Zahlen wundert es mich, dass sich schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und die kreativen Filmemacherinnen erst jetzt zu Wort ge- Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) meldet haben. Drucksache 18/3070 Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ruf nach einer Frauenquote im Kulturbereich irritiert zunächst trotz- Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion dem. Regulierung und künstlerische Freiheit passen auf Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den ersten Blick irgendwie nicht zusammen; das muss vor. man berechtigterweise feststellen. Aber insgesamt erge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ben sich doch wichtige Hinweise von alleine. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Da ich keinen Die Frage, ob eine Quote bei Förderentscheidungen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie alle da- die richtige Antwort ist ober ob nicht auch der Weg der mit einverstanden sind. Selbstverpflichtung der maßgeblichen Akteure bei Film Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes- (B) und Fernsehen funktionieren kann, möchte ich zunächst regierung das Wort der Bundesministerin Dr. Barbara (D) offen lassen. Das ist nicht die entscheidende Frage, die Hendricks. wir uns jetzt stellen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zustimmen kann ich der Forderung nach paritätisch der CDU/CSU) besetzten Fördergremien – so haben wir es in der letzten Legislaturperiode auch formuliert –; denn hier geht es Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- schließlich um die Vergabe öffentlicher Mittel. welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Was wir aber vor allem brauchen, ist eine umfassende Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Untersuchung, die die strukturellen Ursachen der man- Aus Kriegs- und Krisengebieten kommen zahlreiche gelnden weiblichen Präsenz in der Regie aufdeckt. Flüchtlinge zu uns, insbesondere aus Syrien, Eritrea und Wichtig ist auch eine breite Sensibilisierung für diesen Afghanistan. Mehr als 130 000 Asylanträge wurden bis eklatanten Mangel an Gleichstellung im Filmbereich. Ende September 2014 gestellt. Insgesamt werden in die- Die heutige Debatte verstehe ich – mit allen Facetten – sem Jahr mehr als 200 000 Flüchtlinge erwartet. Es ist als einen wichtigen Beitrag dazu. Dafür hat die Initiative eine Frage der Menschlichkeit, dass wir ihnen helfen. Es Pro Quote Regie den Anstoß gegeben, und dafür können ist unsere Pflicht, diese Menschen aufzunehmen und an- wir alle gemeinsam nur dankbar sein. gemessen unterzubringen. Das ist, wie wir wissen, für die Kommunen keine leichte Aufgabe. Dessen bin ich Die Kulturpolitik ist und bleibt aufgefordert, die mir wohl bewusst. Deswegen ist es nach meiner Über- Gleichstellung im Kultur- und Medienbereich zu beför- zeugung die Aufgabe der Bundesregierung, die Kommu- dern. Die anstehende Novelle des Filmfördergesetzes nen zu unterstützen, wo es geht. Ich kann und will dabei bietet übrigens eine passende Gelegenheit dazu. mithelfen, dass die Flüchtlinge schnell ein Dach über Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange 85 Prozent dem Kopf bekommen und dass wir sie so aufnehmen, der Filme von Männern gemacht sind, ist unsere Film- dass sie hier angemessen und in Würde leben können. kultur in ihrer Vielfalt reduziert. Die Filmkultur kann da- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von nur profitieren, wenn künftig mehr Frauen auf dem Regiestuhl sitzen und ihre Filme drehen können. Die betroffenen Kommunen unternehmen große An- strengungen, um möglichst rasch Unterkünfte in ausrei- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. chender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es müssen dazu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie geeignete Grundstücke zur Verfügung stehen. Es müssen der Abg. Sigrid Hupach [DIE LINKE]) geeignete Gebäude zur Verfügung stehen. Vielfach sind 5890 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) bauliche Anpassungen nötig. Oft sind leider auch Be- Vizepräsident Johannes Singhammer: (C) helfsunterkünfte unvermeidbar. Die Kommunen unter- Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die nehmen tatsächlich alle Anstrengungen. Vor kurzem Kollegin Heidrun Bluhm. habe ich in Heidelberg gesehen, wie eine gerade ge- räumte amerikanische Kaserne umgestaltet werden (Beifall bei der LINKEN) konnte – ein Glücksfall. So etwas hilft den Kommunen natürlich sehr, und die BImA kommt den Kommunen Heidrun Bluhm (DIE LINKE): dabei natürlich auch sehr entgegen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit den letzten Worten meiner Kollegin Jelpke Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unser Ge- vor circa einer Stunde. Sie sagte: Das System der sozia- setzentwurf hält Instrumente bereit, die den Bau von len Diskriminierung von Flüchtlingen müssen wir end- Flüchtlingsunterkünften auch kurzfristig ermöglichen lich beenden. sollen. Zur Initiative des Bundesrates vom 19. Septem- ber 2014 hat die Bundesregierung Stellung genommen Bei der Rede der Frau Ministerin hat sich alles ganz und einige Änderungen vorgeschlagen. Dazu gehört, harmlos angehört. Ich hatte schon die Befürchtung, dass dass die vorgesehenen Regelungen bundesweit gelten sie bis zum Ende ihrer Rede das Wort „Gewerbegebiet“ sollen. Die Vorschläge der Bundesregierung haben breite gar nicht verwenden würde. Fairerweise hat sie das am Zustimmung gefunden. Auch die kommunalen Spitzen- Ende doch getan. Insofern wird jetzt deutlich, dass wir verbände haben sich durchweg positiv geäußert. heute hier – das haben wir noch nie gemacht, wenn wir über eine Novelle des Baugesetzbuches in irgendeiner Mit dem heute zu beschließenden Gesetz wollen wir Weise verhandelt haben – keine Formalie verhandeln. im Baugesetzbuch neben einigen Klarstellungen auch Heute geht es nicht um Erleichterungen des Baus, son- befristete Erleichterungen schaffen. Wir wollen ermögli- dern darum, dass wir Menschen, die in größter Not zu chen, Flüchtlingsunterkünfte auch dann im Innenbereich uns kommen, weil sie aus ihrer Heimat vertrieben wor- zuzulassen, wenn sie sich, wie es sonst im Baurecht den sind, Angehörige, Familienangehörige oder Freunde heißt, nicht in die nähere Umgebung einfügen. Das verloren haben, die ihre Gesundheit, ihre Wohnung und könnte beispielsweise Büro- oder Geschäftsgebäude be- ihre Zukunft verloren haben, die nichts als ihr nacktes treffen, die dann zu Unterkünften umgenutzt werden Leben haben, in Gewerbegebieten unterbringen wollen. können. Außerdem ermöglichen wir, dass Flüchtlinge auf Flächen untergebracht werden können, die unmittelbar an (Sören Bartol [SPD]: Hallo! Sollen sie in einen bebauten Ortsteil anschließen. Und wir wollen den Zelte? Was ist die Alternative?) Kommunen die Möglichkeit geben, Flüchtlingsunter- All das haben wir schon vor einer Stunde in der Dis- (B) künfte eingeschränkt und befristet in Gewerbegebieten kussion über das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich (D) zu ermöglichen. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir gemacht. Jetzt sollen wir also entscheiden, dass Asylbe- die Unterkünfte in Industriegebiete abschieben. Das ist gehrende und Flüchtlinge in Gewerbegebieten wohnen nicht unsere Intention und auch nicht die des Bundesra- werden. tes. Aber es gibt Gewerbegebiete, die sich dafür eignen. Und hier dürfen wir keine unüberwindbaren Hürden zu- (Sören Bartol [SPD]: Nur im Notfall! – Ulli lassen. Nissen [SPD]: Notfall!) In der öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzesent- Langfristig wird sich auswirken, dass in diesem Ge- wurf am Montag hat einer der zwei Befürworter gesagt: setzentwurf ausdrücklich vorgesehen ist, die Flüchtlings- Diese Leute – gemeint waren damit natürlich die Flücht- unterbringung bei der Aufstellung von Bebauungsplänen linge – seien gottfroh und dankbar, dass sie hier ange- zu berücksichtigen. Dies ist bisher nicht der Fall gewe- kommen sind und ein Dach über dem Kopf haben. Für sen. Und wir stellen klar, dass die Unterbringung von mich fehlte nur noch der Zusatz: Das sollten sie gefäl- Flüchtlingen zu den Belangen des Allgemeinwohls ge- ligst auch sein. hört. Auch dies ist neu im Baurecht. (Ulli Nissen [SPD]: Sollen sie unter die Brü- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cke, oder was?) Der Bundesrat wird bereits morgen den Gesetzent- Die Krisengebiete, so hat es auch die Ministerin ge- wurf abschließend beraten, sodass er noch im Novem- sagt, von denen der Gesetzentwurf spricht, liegen durch- ber, also in diesem Monat, in Kraft treten kann. Ich bin weg in Weltregionen, die jahrhundertelang von europäi- mir absolut bewusst, dass es für Kommunen nicht ein- schen Kolonialmächten beherrscht und ausgeplündert fach ist, quasi über Nacht Flüchtlinge aufzunehmen und worden sind. Wir, die Europäer, verdanken diesen Län- unterzubringen. Auch für die Länder ist es ein Kraftakt. dern einen großen Teil unseres materiellen, wissen- schaftlichen und kulturellen Reichtums. Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in den Kommunen verdienen für ihren Einsatz große Aner- (Beifall bei der LINKEN) kennung, und sie verdienen unsere konkrete Hilfe. Dazu Wir haben ihnen oft zerstörte Kulturen, geplünderte Na- dient diese Gesetzesänderung. tur und willkürlich gezogene Grenzen hinterlassen. Herzlichen Dank. Wenn wir also heute über Maßnahmen zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen reden, dann spre- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) chen wir nicht über großzügige Almosen, die wir zeit- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5891

Heidrun Bluhm (A) weilig verteilen, um eine akute Notlage in irgendeiner Selbst wenn es im Gesetzestext so nicht vorgesehen ist, (C) Weise zu beheben, bestätigt meine Erfahrung aus fast zehn Jahren Bundes- tag: So beständig wie ein Provisorium ist sonst kein Ge- (Ulli Nissen [SPD]: Was ist das denn sonst im setz. Augenblick?) sondern über Mitmenschlichkeit, über Solidarität, Unter- (Ulli Nissen [SPD]: Aber was macht man im stützung für Traumatisierte und aus ihrer Heimat Vertrie- Übergang, bis man fertiggebaut hat? Was bene. macht man dann?) (Sören Bartol [SPD]: Deshalb wollen wir sie Und noch schlimmer: Es signalisiert geradezu, dass wir angemessen unterbringen! – Ulli Nissen die Flüchtlinge nicht dauerhaft unter uns haben wollen, [SPD]: Besser als in Zelten!) dass ihre Integration nicht organisiert, sondern verhin- dert werden soll. Dieses Gesetz ist also kein Anreiz, Der Grundfehler dieser Gesetzesänderung, Herr menschenwürdige Wohnverhältnisse für Flüchtlinge und Bartol, liegt in der Unterstellung, wir hätten es mit ei- Asylsuchende zu schaffen, sondern es fördert die dauer- nem vorübergehenden Notstand zu tun, den wir unter an- hafte Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, derem mithilfe einer Änderung im Bauplanungsrecht bis denen wir Hilfe und Respekt schuldig sind. Ende 2019 wieder beheben können. Wie grotesk ist diese Vorstellung? Was anstelle dieses Gesetzes notwendig ist, haben wir in unserem vorliegenden Entschließungsantrag beschrie- (Beifall bei der LINKEN) ben. Ich will sagen: Die eigentlichen Lösungen sind die, Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbegehrenden die wir lange kennen. Wir brauchen einen ausgewogenen nach Europa wird nicht abreißen, sondern weiter zuneh- sozialen Wohnungsbau. Wir müssen ihn wiederbeleben; men. Die Krisen und Kriege werden nicht plötzlich auf- die Bundesregierung spricht davon, aber bisher ist nichts hören, und es besteht die reale Gefahr, dass zu den zu sehen. Wir brauchen eine bedarfsgerecht ausgestattete Flüchtlingen, die heute kommen, noch Klimaflüchtlinge Städtebauförderung mit neuen oder ergänzenden Pro- hinzukommen werden, denen die zivilisierten Industrie- grammen, die auch der dauerhaften Zuwanderung von nationen die Lebensgrundlage buchstäblich abgegraben Menschen aus dem Ausland gerecht wird, sodass diese oder weggespült haben. Menschen in unserer Mitte leben können. (Sören Bartol [SPD]: Aber du hast doch jetzt (Ulli Nissen [SPD]: Machen wir alles! Aber schon zu wenig Wohnungen! Wo willst du sie das wird nicht innerhalb von zwei Jahren fertig (B) unterbringen? – Ulli Nissen [SPD]: Wo sollen sein!) (D) sie denn hin?) Und wir brauchen eine bedarfsbezogene Vergabe von Wir haben es also mit einer dauerhaften, umfassenden bundeseigenen Liegenschaften an die Kommunen an- europäischen, wenn nicht sogar globalen Aufgabenstel- stelle des Höchstgebotskultes; morgen haben wir Gele- lung zu tun. genheit, ausführlicher darüber zu reden. Der schnelle Aktionismus der Bundesregierung ver- mittelt hier den Eindruck einer prompten und einver- (Beifall bei der LINKEN) nehmlichen Lösung zwischen Bund und Ländern. Wenn Wenn wir all das umsetzen – verbunden mit einer sich aber, so wie jetzt, hausgemachte, weil jahrelang nicht nur plakativen, sondern tatsächlich gelebten Will- ignorierte Probleme aufgestaut haben, wenn Kommu- kommenskultur –, dann machen wir wirkliche Schritte in nen, die vom Bund im Stich gelassen werden, verständli- Richtung eines menschenwürdigen Umgangs mit Flücht- cherweise nach Auswegen suchen, dann sollten Geset- lingen und Asylsuchenden, zes- und Verordnungsänderungen, wenn sie überhaupt notwendig sind, so ausgestaltet werden, dass sie ein Pro- (Ulli Nissen [SPD]: Aber das sind keine blem nicht nur aus der Sichtachse verdrängen, sondern Zelte!) auch keine neuen erzeugen. die nicht rechtssicher verwahrt, sondern Teil unserer Ge- Mit diesem Gesetzentwurf wird eine Ausnahmesitua- sellschaft werden sollen. Schluss also mit der Lagerun- tion zu einem rechtssicheren Dauerzustand gemacht. terbringung der Vertriebenen in Deutschland! Formale Sicherheit im Baurecht darf aber niemals dazu missbraucht werden, dass Menschenrechtsverletzungen (Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: zu geregelter Normalität werden. Jetzt wird es aber richtig hart! – Sören Bartol (Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Das ist nicht in Ordnung! Echt nicht! – Weitere Zurufe von der SPD) Oder glaubt hier wirklich jemand, dass diese Regelun- gen in fünf Jahren wieder einkassiert werden? – Wohl Vizepräsident Johannes Singhammer: nicht, es sei denn, die Linke regiert – dann vielleicht. Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Kai (Sören Bartol [SPD]: Ihr wollt ja nicht regie- Wegner. ren! – Weiterer Zuruf von der SPD: Dann fal- len die Häuser vom Himmel!) (Beifall bei der CDU/CSU) 5892 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Kai Wegner (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, ich will das in aller Form (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und klarstellen: Uns geht es wahrlich nicht darum, Flücht- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten linge in Gewerbegebiete oder in die Außenbereiche von heute über Änderungen im Baugesetzbuch, mit denen Siedlungen zu drängen. Es geht darum, Städten und Ge- wir eine schnellere und leichtere Flüchtlingsunterbrin- meinden schnell zu helfen, damit wir würdige und ange- gung gewährleisten, aber vor allen Dingen, liebe Frau messene Unterbringungsräume schaffen. Bluhm, den Städten und Kommunen, die unter einem enormen Druck stehen, neue Handlungsspielräume er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) öffnen. Die Städte brauchen schnelle Hilfe, und das ge- In der Tat, Frau Bluhm: Das Gesetz löst nicht alle währleistet heute der Deutsche Bundestag. Probleme und begegnet nicht allen Herausforderungen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die wir bei dieser Thematik haben, aber es ist ein ganz wichtiger Baustein. Das Gesetz, das wir heute beraten, geht auf eine Bun- desratsinitiative Hamburgs zurück. Meine Damen und Frau Bluhm, nun haben Sie leider nicht gesagt, was Herren, das ist keine große Überraschung; denn gerade Sie eigentlich wollen. die großen Städte, die Ballungsgebiete sind in besonde- (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Doch!) rem Maße von den hohen Flüchtlingszahlen betroffen. Schauen wir uns die Zahlen an: Allein von Januar bis Sie haben in Ihrem Antrag von Wohnungsunterbringung September 2014 haben rund 136 000 Menschen in geschrieben. Ich frage mich, wie Sie das hinbekommen Deutschland Asyl beantragt. Das bedeutet eine Steige- wollen. rung um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeit- raum. Insgesamt erwarten wir in diesem Jahr in Deutsch- (Sören Bartol [SPD]: Wie denn?) land 250 000 Asylbewerber. Wir diskutieren oft im Deutschen Bundestag über die an- Meine Damen und Herren, dieser enorme Zustrom gespannte Situation des Wohnungsmarktes. von hilfebedürftigen Menschen stellt unser Land vor (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: In Berlin gibt große Herausforderungen und erfordert daher eine natio- es über 200 000 leerstehende Wohnungen!) nale Kraftanstrengung. Das betrifft zunächst vor allem die Unterbringung der Flüchtlinge in den Städten und Wir machen uns Gedanken, wie wir bezahlbaren Wohn- Gemeinden. Die Bundesministerin hat es gesagt: Uns raum schaffen und wie wir es hinbekommen, neue Woh- geht es in der Tat darum, schnell für Unterbringungs- nungen zu bauen. Wir haben in vielen Städten Vollaus- möglichkeiten zu sorgen, aber auch darum, angemessene lastung bei den Mietwohnungen. In Berlin haben wir (B) und würdige Unterbringungsformen für diese Menschen eine Leerstandsquote von 2 Prozent. Das ist gleich null. (D) zu finden. Wo wollen Sie denn hier noch Flüchtlinge unterbringen, Frau Bluhm? Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, versetzen wir Kommunen in die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Lage, zeitnah und rechtssicher Unterkünfte für die der SPD) Flüchtlinge zu schaffen. Gerade für Kommunen mit an- gespanntem Wohnungsmarkt, liebe Frau Bluhm, ist das Sie bieten Lösungen an, die nicht kurzfristig helfen. eine ganz wichtige Erleichterung. Damit zeigt auch der Aber unsere Städte und Gemeinden brauchen kurzfris- Bund, dass er seiner Verantwortung für eine würdige tige Lösungen; denn die Menschen kommen jetzt zu uns. Unterbringung aller Schutzsuchenden nachkommt und Sie sind jetzt da und wollen jetzt angemessen und wür- die Städte und Gemeinden eben nicht im Stich lässt. dig untergebracht werden, Frau Bluhm, nicht erst in zwei oder drei Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aufgrund der hohen Fallzahlen geben wir den Städten Meine Damen und Herren, wir müssen die Städte und und Gemeinden neue Handlungsmöglichkeiten an die Gemeinden noch weiter unterstützen. Wir haben hierfür Hand. So ermöglichen wir es den Kommunen, von be- Programme. Dazu gibt es eine Diskussion in der Koali- stimmten Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen tion; das will ich gern noch einmal sagen. zu können. Wir sollten auch weitere Mittel aus dem Programm Außerdem können Flüchtlingsunterkünfte befristet „Soziale Stadt“ für die Integration von Flüchtlingen zur auch dann im Innenbereich zugelassen werden, wenn sie Verfügung stellen. Ich denke da an Deutschkurse für sich nicht in die nähere Umgebung einfügen. Flüchtlinge, an Nachbarschaftstreffen zwischen Flücht- lingen und angestammten Bewohnern. Darüber hinaus wird die Unterbringung von Flücht- lingen befristet – ja, Frau Bluhm – auch in Gewerbege- (Sören Bartol [SPD]: Das geht doch jetzt bieten und auf Flächen gestattet werden, die unmittelbar schon!) an einen bebauten Ortsteil anschließen. Dabei ist uns Mir geht es bei allen Maßnahmen, die wir hier disku- aber klar, dass Gewerbegebiete oder der Außenbereich tieren, um die Akzeptanz der Bevölkerung für unser li- immer nur die Ultima Ratio sein können. berales Asylrecht. Auch diese Herausforderung ist in un- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) serem Land nicht zu unterschätzen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5893

Kai Wegner (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild störung, Tod und Katastrophen am eigenen Leib erlebt (C) Rawert [SPD]: Das machen wir!) haben, von Menschen, die oft traumatisiert zu uns kom- men. Diese Menschen brauchen eben nicht nur einfach Meine Damen und Herren, wir sehen auch weitere ein Dach über dem Kopf, sie brauchen eine menschen- wichtige Maßnahmen neben der Veränderung des Bau- würdige Unterbringung, ein soziales Umfeld, das ihnen planungsrechts vor. Ich nenne als Beispiel die Residenz- dabei hilft, ihre Verluste und die dramatischen Erfah- pflicht oder die Neuregelung der sicheren Herkunftsstaa- rungen zu verarbeiten. Die Unterkunft ist ein zentraler ten, die heute in Kraft getreten ist. Baustein einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die tat- Deswegen begrüßen wir es als Grüne, dass in diesem sächlich Hilfe brauchen, auch unsere Unterstützung be- Gesetzentwurf erstmals die Flüchtlingsunterbringung als kommen. Wir müssen diejenigen zielgerichtet unterstüt- Allgemeinwohl festgeschrieben wird. Das ist ein großer zen, die tatsächliche Asylgründe haben. Aber wenn wir Schritt. hier in Berlin erleben müssen, dass Plätze und Schulen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN illegal besetzt werden, dann dient das nicht der Akzep- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tanz unseres Asylrechts. LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir Baupolitiker können die Fehler und Versäum- Das ist inakzeptabel, und das schadet dem eigentlichen nisse der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht Anliegen der Flüchtlinge. mit einer Änderung des BauGB reparieren. Wir müssen Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich, aber beim Thema Unterbringung immer die Menschen- dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr würde der Flüchtlinge im Blick behalten. Personal bekommen soll. Wir brauchen schnellere Asyl- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- verfahren, und die Flüchtlinge brauchen zeitnah Gewiss- SES 90/DIE GRÜNEN) heit darüber, wie ihr Aufenthaltsstatus ist. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin skeptisch, ob Ge- Deutschland steht für eine humane Flüchtlingspolitik. werbegebiete die Anforderungen an eine menschenwür- Das soll so bleiben. Wir stehen zu unserer Verantwor- dige Unterbringung erfüllen. Hier müssen wir alle genau tung. Mit diesem Gesetz beweisen wir, dass der Bund hinschauen; das hat die Anhörung im Bauausschuss ganz die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung dieser klar gezeigt. Herausforderung nicht alleine lässt. Ich bitte Sie daher alle um Ihre Unterstützung; denn die Flüchtlinge brau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen unsere Hilfe, aber auch die Städte und Gemeinden. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) (D) Herzlichen Dank. Die Unterbringung in Gewerbegebieten darf es – das ist meine Überzeugung – nur in ganz bestimmten Ausnah- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mefällen, (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Was steht Vizepräsident Johannes Singhammer: denn im Gesetz drin?) Der Kollege Christian Kühn hat als Nächster jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. nur als Notlösung und nur als reine Übergangslösung ge- ben, also als Ultima Ratio. Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN): Gerade das steht eben nicht drin!) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge- Das steht leider nicht in dem vorliegenden Gesetzent- ehrte Gäste auf der Tribüne! Ich bin froh, dass es heute wurf drin. Es ist nicht konditioniert. Das ist letztlich bei uns in Deutschland eine andere Willkommenskultur auch der Grund, warum wir uns heute enthalten. gibt und dass sich viele Menschen mit hohem Engage- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ment für das Wohl der Flüchtlinge, die im Augenblick zu uns kommen, einsetzen. Die Kommunen befinden sich in einer Notsituation. Ich verstehe nicht, warum man jetzt nur am BauGB Än- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derungen vornimmt. Frau Hendricks hat in ihrer Rede Ich bin dankbar, dass wir, anders als Anfang der 90er- darauf hingewiesen, dass man Kommunen nun unterstüt- Jahre, eine andere Stimmung und eine andere Debatte in zen muss, wo es geht. Ich finde, dass diese Bundesregie- Deutschland haben. Ich will ganz klar sagen: Das Boot rung die Kommunen eben nicht unterstützt, wo es geht. ist nicht voll; das Boot ist niemals voll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) bei der SPD und der LINKEN) Erstens. Organisieren Sie mit den Kommunen einen Heute geht es um Grundrechte von Menschen, denen Flüchtlingsgipfel, wie wir das in Baden-Württemberg die Grundrechte in ihren Heimatländern versagt wurden, und auch in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu Sozialdemokraten mit großem Erfolg getan haben. Man verlassen, die Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zer- braucht einen Flüchtlingsgipfel auch auf nationaler 5894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Christian Kühn (Tübingen) (A) Ebene, um klarzumachen, dass wir heute einen Rahmen (Mechthild Rawert [SPD]: Darauf haben wir (C) brauchen, der Flüchtlinge nicht mehr rechtlich ausgrenzt schon eine Antwort gegeben!) und Kommunen wirklich hilft. Greifen Sie den Kommu- nen bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge end- Diese Frage müssen wir uns als Allererstes stellen. lich unter die Arme. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweitens. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bundes- Vizepräsident Johannes Singhammer: anstalt für Immobilienaufgaben den Kommunen Liegen- Für die Sozialdemokraten spricht jetzt als Mitglied schaften für die Flüchtlinge zu fairen Bedingungen über- des Bundesrates Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt, Se- lässt. natorin für Stadtentwicklung der Freien und Hansestadt Hamburg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) der CDU/CSU) Es kann doch nicht sein, dass die BImA sich in dieser Si- tuation – und das meine ich wirklich ernst – eine goldene Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin (Hamburg): Nase an der Notlage der Kommunen verdient. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Steigerung der Flüchtlingszah- (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len stellt die Länder und viele deutsche Städte, auch NEN]: Ja, genau!) Hamburg, und Gemeinden vor große Herausforderun- Die Kommunen werden nicht unterstützt, sondern abge- gen. Seit 2011 steigen die Flüchtlingszahlen wieder an. zockt. Das muss beendet werden. Sie müssen die Politik Für 2015 ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlings- der BImA dringend ändern. zahlen zu rechnen. Bezogen auf Hamburg bedeutet das beispielsweise: 2011 kamen circa 2 000 Flüchtlinge nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hamburg, 2014 werden es ungefähr 5 200 Flüchtlinge sein. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Hinzu kommen rund 1 000 minderjährige unbegleitete KEN) Flüchtlinge. Insgesamt sind das geschätzt 6 200 Flüchtlinge in diesem Jahr, für die wir geeignete, menschenwürdige Drittens. Legen Sie ein Bauprogramm für eine ver- Unterkünfte schaffen müssen. besserte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in (B) Wohngebieten auf. Das wäre eine schnelle Hilfe für die (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja (D) Kommunen; denn sie müssen die Liegenschaften jetzt Weisgerber [CDU/CSU]) anmieten oder erwerben und herrichten. Die Kommunen Insbesondere in den Ballungsräumen in Deutschland brauchen jetzt die Unterstützung bei den Baumitteln. ziehen Menschen zu. Diese Entwicklung ist völlig unab- Gerade die Kommunen in Haushaltsnotlagen brau- hängig davon, ob Flüchtlinge in die Städte kommen. Das chen Unterstützung, da die Kommunalaufsicht die benö- spiegelt sich in einer riesigen Nachfrage nach bezahlba- tigten Kredite nicht genehmigt. Der Bund muss diesen rem Wohnraum wider. Uns fehlt es in Hamburg an be- Kommunen mit einem Bauprogramm unter die Arme zahlbarem Wohnraum. greifen. Sie von der Großen Koalition sagen bei fast je- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der wohnungspolitischen Debatte, dass nur Bauen, Bauen, Bauen hilft. Halten Sie sich an Ihre eigenen Vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszah- Worte! len hat Hamburg frühzeitig und erfolgreich die Weichen für mehr Wohnungsneubau gestellt. Der soziale Woh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nungsbau ist uns dabei besonders wichtig. Unser 2011 Sören Bartol [SPD]: Aber das hilft jetzt doch geschlossenes Bündnis für das Wohnen in Hamburg mit nicht! – Gegenruf des Abg. Peter Meiwald den wohnungswirtschaftlichen Verbänden und den Mie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen heißt tervereinen ist Vorbild für das Bündnis für bezahlbares nicht nur neu Bauen!) Wohnen und Bauen auf Bundesebene gewesen. Wir ha- ben mittlerweile die Baugenehmigungs- und Fertigstel- Zum Schluss. In der Debatte, die wir über das BauGB lungszahlen maßgeblich steigern können, um der anhal- geführt haben, stellen wir eigentlich immer noch die fal- tend hohen Nachfrage gerecht zu werden. Dafür nutzen sche Frage, nämlich: Wie können wir Flüchtlinge auf wir die knappen Flächenpotenziale, die sich in einem Zeit unterbringen? Dabei werden 30 bis 60 Prozent der dichtbesiedelten Ballungsraum wie Hamburg bieten. Asylsuchenden – je nachdem, welchen Experten man fragt –, die heute zu uns kommen, dauerhaft in Deutsch- Wie viele andere Kommunen haben wir schnell auf land bleiben. Wir müssen uns deshalb endlich die Frage den Zustrom von Flüchtlingen reagiert und nutzen jede stellen: Wie können wir diese Menschen ab dem ersten kurzfristig verfügbare und geeignete Fläche sowie beste- Tag optimal integrieren und unterstützen, damit sie gut hende Gebäude, um dort Unterkünfte zu schaffen, die in unserer Gesellschaft ankommen, damit wir ihnen, da den Bedürfnissen der bei uns Schutz und Hilfe suchen- sie ihre alte Heimat gerade verloren haben, eine neue den Menschen, häufig Familien mit Kindern, gerecht Heimat geben können? werden. Aber wir stoßen an Grenzen. Geeignete Grund- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5895

Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt (Hamburg) (A) stücke lassen sich in Ballungsräumen nicht beliebig ver- bäuden – die Linke fordert übrigens immer die Umnut- (C) mehren, und es wäre falsch, den dringend notwendigen zung von Gewerberäumen und Büroflächen in Hamburg, Wohnungsneubau an dieser Stelle auszubremsen. Bei al- weil wir ja bezahlbaren Wohnraum brauchen – zu er- lem Verständnis für die Forderung, Flüchtlinge in Woh- leichtern. nungen unterzubringen, weil die Integration so besser (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch gelingt, was stimmt: Wohnungsbau braucht Zeit. gut! – Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es kommt dabei – auch das betone ich – auf den Einzel- der CDU/CSU) fall an. Aber die Menschen, die zu uns kommen, können nicht (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!) warten, bis diese Wohnungen fertig sind oder genügend Wohnungen frei werden. Sie brauchen jetzt geeignete Jede Fläche muss daraufhin geprüft werden, ob eine Un- Unterkünfte und keine Zelte. terbringung dort möglich und sinnvoll ist. Anbindung an den Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möglichkeiten für Kinder und Erwachsene in der Nähe, der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Ja! Das das findet sich auch auf Flächen, die eigentlich für Ge- ist der Punkt!) werbe reserviert sind, insbesondere dann, wenn in der Frau Bluhm, ich möchte auf eines hinweisen: Gewer- Nachbarschaft schon ein Wohngebiet vorhanden ist. Das begebiete sind keine frei schwimmenden Inseln. Es ist wollen wir nutzen können. gegen uns ein Urteil des Verwaltungsgerichts ergangen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – es ging um eine Nachbarschaftsklage –, weil wir in ei- der CDU/CSU) nem Gewerbegebiet, das direkt an ein Wohngebiet an- grenzt, Flüchtlinge unterbringen wollten. Das ging nicht. Die Städte und Gemeinden setzen darauf, dass diese Auch deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Änderungen im Baugesetzbuch schnell wirksam werden. Die Sachverständigenanhörung im zuständigen Aus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – schuss des Deutschen Bundestages, in der auch ein Ver- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: treter meiner Behörde angehört worden ist, hat den Aber das ist doch keine gute Begründung!) Bedarf der Kommunen an planungsrechtlichen Erleich- Angesichts dieser Lage besteht ein dringender Bedarf terungen noch einmal deutlich gemacht. Ich bin mir si- an planungsrechtlichen Erleichterungen, um schneller cher, dass dieses Vorhaben auch hier im Deutschen Bun- und rechtssicherer als bisher Unterkünfte für Flüchtlinge destag eine deutliche Mehrheit finden wird. schaffen zu können. Deshalb hat der Bundesrat einstim- (B) Vielen Dank. (D) mig auf Initiative der Länder Baden-Württemberg, Bre- men und Hamburg diesen Gesetzesantrag auf den Weg (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gebracht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die der CDU/CSU) Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften für Flüchtlinge eine bundesweite Herausforderung darstellt, Vizepräsident Johannes Singhammer: die alle Bundesländer betrifft. Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Anja Weisgerber. CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Auch der Bund sieht sich in der Pflicht. Ich begrüße den im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag der Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Bundesregierung, den jetzt die Bundestagsfraktionen Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und von CDU/CSU und SPD als Änderungsantrag aus der Kollegen! Weltweit nehmen die kriegerischen Auseinan- Mitte des Bundestages aufgegriffen haben. Unter Be- dersetzungen und politische Verfolgung zu. Dadurch rücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Gesetzes- kommen immer mehr Menschen in unser Land, die antrags des Bundesrates können die notwendigen Er- Schutz suchen und denen wir auch Schutz bieten wollen. leichterungen so noch schneller auf den Weg gebracht Wir übernehmen humanitäre Verantwortung für diese werden, als dies im Bundesratsentwurf vorgesehen war. Menschen, und das ist auch gut so. Ich freue mich insoweit auch über diese Einigkeit. Wir haben es aber gerade von der Frau Senatorin ge- Der Gesetzentwurf stellt ein ausgewogenes Ergebnis dar. hört: Die Situation stellt uns vor große Herausforderun- Er ist kein Freifahrtschein für eine wahl- und rücksichts- gen, besonders die Kommunen. Unsere Städte, Kreise lose Nutzung von Flächen für die Unterbringung von und Gemeinden leisten hier tagtäglich Außergewöhnli- Flüchtlingen, ches. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich lo- ben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sondern schafft die planungsrechtlichen Voraussetzun- Doch sie stoßen eben vermehrt an ihre Grenzen. Die gen, auf prinzipiell dafür geeigneten Flächen im Innen- Zahlen der Asylbewerber steigen stetig. Zum Beispiel und Außenbereich und in Gewerbegebieten Unterkünfte sind Anfang Oktober allein an einem Wochenende mehr zu errichten und die Umnutzung von bestehenden Ge- als 700 Asylbewerber in Bayern angekommen. Das stellt 5896 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Anja Weisgerber (A) eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Wie können Wichtig für die Flüchtlinge ist es doch, dass sie ein (C) wir die Flüchtlinge angemessen unterbringen? Das be- Dach über dem Kopf haben. Mit dem Gesetz geben wir stehende Bauplanungsrecht ist momentan zu unflexibel, den Ländern und den Kommunen ein Instrumentarium um kurzfristig auf den Zustrom reagieren zu können. an die Hand, um schneller und unkomplizierter Hilfe leisten zu können. Befristet auf fünf Jahre bekommen Zudem gibt es immer wieder Klagen gegen Bauge- die Kommunen mehr Handlungsoptionen. Für den Fall, nehmigungen für Flüchtlingsunterkünfte. Das führte zu dass die Kommunen die Asylbewerber nicht dezentral teils sehr zwiespältigen Urteilen. Ich möchte ein Beispiel im Innenbereich oder im integrierten Wohnbereich un- nennen: In Baden-Württemberg hat ein Nachbar erfolg- terbringen können, bekommen sie die Möglichkeit, reich dagegen geklagt, dass in einem leerstehenden Flüchtlinge in Außenbereichen unterzubringen, wenn Lehrlingswohnheim in einem Gewerbegebiet Flücht- diese unmittelbar an die bebaute Ortschaft angrenzen. linge untergebracht werden, mit der Folge, dass die Flüchtlinge aus dem Wohnheim aus- und in einen Con- Unter bestimmten Voraussetzungen – ich betone: un- tainer einquartiert werden mussten. Das kann doch nicht ter bestimmten Voraussetzungen – können Unterkünfte sein; das können wir doch nicht wollen. in Gewerbegebieten entstehen. Die Unterbringung in Gewerbegebieten ist zudem nur auf Flächen möglich, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auf denen bislang schon Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder zulässig Das zeigt, dass wir diese Änderungen im Baurecht sind. Außerdem müssen die Interessen der dort ansässi- brauchen. Mit dem Gesetz schaffen wir genau die nötige gen Betriebe gewahrt werden, und die Unterbringung Rechtssicherheit, aber auch die nötige Flexibilität, und muss mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Das das ist gut so. heißt, dass in Gebieten mit zu hoher Lärm- oder Ge- Den Antrag der Linken habe ich aufmerksam durch- ruchsbelästigung ohnehin niemand untergebracht wird. gelesen. Sie fordern darin menschenwürdige Flücht- Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Diese Vorausset- lingsunterkünfte. Das wollen wir alle. zungen enthält das Gesetz. Ich bin der Meinung, mit die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sem Maßnahmenpaket versetzen wir unsere Städte und der SPD) Gemeinden in die Lage, den Menschen schnellstmöglich zu helfen. Auch wir wollen menschenwürdige Unterkünfte. Auch Doch – und das möchte ich abschließend noch sa- wir wollen die Flüchtlinge in möglichst vielen dezentra- gen – das Gesetz ist eben nur ein Baustein zur Entlas- len kleinen Einheiten unterbringen. Aber woher sollen tung der Kommunen. Die Lösung der Flüchtlingsfrage wir diese Einheiten nehmen? Wir stoßen hier einfach an ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, (B) unsere Grenzen. Wir alle kennen die Situation in den (D) Ballungsgebieten. Dort ist Wohnraum ohnehin knapp. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Natürlich brauchen wir neuen Wohnraum, und wir müs- an der sich alle, auch unsere europäischen Nachbarn im sen den öffentlichen Wohnungsbau stärken. Die Bundes- Übrigen, beteiligen müssen. länder müssen im Übrigen die Mittel, die sie dafür vom Bund bekommen, auch dafür verwenden. So ist es ein positives Signal, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verfügbare Immobilien und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Freiflächen offensiv als Asyl- und Flüchtlingsunter- der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig, künfte anbietet. Frau Dr. Weisgerber!) (Zuruf von der SPD: Zu welchem Preis?) Das müssen wir unbedingt angehen. Aber der not- wendige Wohnraum wird eben nicht von heute auf mor- Aber auch das allein reicht nicht. Die Städte und Ge- gen geschaffen. Das braucht Zeit, und diese Zeit haben meinden brauchen mehr Flexibilität. Mit dem Gesetz wir derzeit nicht. senden wir heute ein wichtiges Signal an die Kommunen und die schutzbedürftigen Menschen aus, dass die not- Die Initiative Hamburgs im Bundesrat habe ich wie wendige Flexibilität jetzt geschaffen wird. Deshalb stim- einen Hilferuf wahrgenommen. Wir dürfen die Kommu- men wir dem Gesetz auch aus Überzeugung zu. nen in dieser Situation nicht im Stich lassen. Deswegen ist der Gesetzentwurf auch so wichtig. Ich fand es bemerkenswert, dass die Grünen gesagt haben, dass sie nicht dagegen stimmen, sondern sich ent- (Beifall bei der CDU/CSU) halten werden. Ein gewisser Bedarf wird also vielleicht auch bei den Grünen gesehen. Immer wieder wird kritisiert, die Unterbringung von Flüchtlingen in Ortsrand- oder Gewerbegebieten sei Vielen Dank. menschenunwürdig. Aber ich frage: Ist es denn aus Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sicht wirklich menschenwürdiger, diese Menschen im Winter, wenn es kalt ist, in Zelten oder Containern unter- zubringen? Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Wer sagt denn Kollegin Nina Warken, CDU/CSU. so was?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Genau das wollen wir eben nicht. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5897

(A) Nina Warken (CDU/CSU): Auch die Möglichkeit, dass Asylbewerberunterkünfte (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! künftig in sogenannten Außenbereichsinseln bzw. im in- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Asylbe- nenbereichsnahen Außenbereich gebaut werden dürfen, werberzahlen in Deutschland – das haben wir bereits ge- ist für viele Kommunen eine erhebliche Erleichterung hört – haben in den letzten Jahren rapide zugenommen. bei der Schaffung von zusätzlichen Kapazitäten für die 2008 waren es lediglich rund 28 000 Asylanträge. 2013 Unterbringung. waren es mehr als 127 000 Asylanträge. In diesem Jahr Bei so vielen Vorteilen für die Kommunen tut sich werden über 230 000 Erstanträge erwartet. selbst die Linke dabei schwer, den Gesetzentwurf zu kri- tisieren. Wenn man Ihren auf den letzten Drücker einge- Gründe für diese erhebliche und plötzliche Zunahme brachten Antrag liest, liebe Kolleginnen und Kollegen sind unter anderem der Ausbruch des Bürgerkriegs in von der Linken, merkt man aber, wie wenig Sie von der Syrien, die akute Bedrohung durch die Terrororganisa- Situation in den Kommunen und Landkreisen wissen. tion „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien, aber auch Dort weiß man nicht mehr, wo man die Leute unterbrin- die Anziehungswirkung, die von unserem Asylsystem gen soll, und Sie reden davon, man solle doch die Asyl- auf Menschen auf dem Balkan, in Afrika und anderen bewerber ihren Unterbringungsort selbst wählen lassen. Ländern mit großer Armut ausgeht. Wenn es nach Ihnen geht, dürfen Gemeinschaftsunter- Deutschland ist im Vergleich zu allen anderen EU- künfte nicht mehr als 50 Personen beherbergen und die Mitgliedstaaten das Land mit den meisten Asylbewer- Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen darf maxi- bern und auch das Land, das die meisten Menschen auf- mal 6 bis 12 Wochen dauern. All das geht doch völlig an nimmt. Dies liegt an den hohen Standards unseres Asyl- der Realität in den Landkreisen und Kommunen vorbei. systems. Das muss man bei der ganzen Kritik, die immer (Beifall bei der CDU/CSU) wieder bezüglich der Mindeststandards bei der Unter- bringung vorgebracht wird, auch einmal klar betonen. Dort geht es mittlerweile darum, den Leuten überhaupt ein Dach über dem Kopf geben zu können. Meine Damen und Herren, besonders betroffen vom (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) rapiden Anstieg der Asylbewerberzahlen sind nun un- sere Landkreise und Städte, da sie letztlich für die Unter- Meine Damen und Herren, als Stadt- und Kreisrätin bringung der Menschen verantwortlich sind. Vielerorts kann ich Ihnen versichern, dass es unseren Landkreisen wissen die Kommunen schlicht nicht mehr, wo sie die und Kommunen fernliegt, Asylbewerber menschenun- Menschen unterbringen sollen. Hier brauchen wir eine würdig unterzubringen. Es geht mit dem vorliegenden kurzfristige und möglichst unbürokratische Lösung, die Gesetzesvorhaben auch nicht darum, Asylbewerber sys- (B) den Kommunen sofort bei der Unterbringung hilft. Es ist tematisch und dauerhaft in Gewerbegebiete oder in den (D) deshalb der richtige Weg, dass Bund, Länder und die Außenbereich abzuschieben; ein Beweis dafür ist doch kommunalen Spitzenverbände derzeit gemeinsam da- schon die Befristung des Gesetzes bis zum Jahr 2019. rüber beraten, wie wir unsere Kommunen bei den vo- Auch die Kritik bezüglich einer angeblich mangelnden raussichtlich anhaltend hohen Asylbewerberzahlen ent- Infrastruktur in diesen Gebieten entspricht nicht der Rea- lasten können – natürlich mit der klaren Zielvorgabe lität. Die Gewerbegebiete und Außenbereichsinseln, um einer menschenwürdigen Unterbringung. die es hier geht, liegen oft nahe an Wohngebieten und können häufig sogar zu Fuß durchquert werden. Öffent- Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des liche Verkehrsmittel, Zugang zum Gesundheitssystem Bauplanungsrechts ist eine solche Lösung. Er wird mit und zum Bildungssystem sowie sonstige Infrastruktur der Annahme des Änderungsantrages der Koalition so- sind vorhanden. fort bundesweit wirksam und bedarf keiner Umsetzung mehr durch die Länder. Mit der Gesetzesänderung wird (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ es künftig möglich sein, Asylbewerberunterkünfte auch DIE GRÜNEN]: Das werden wir gemeinsam in Gewerbegebieten einzurichten. Für viele Kommunen evaluieren!) mit leerstehenden Gebäuden in Gewerbegebieten ist das Es gibt keinen Grund, der gegen diesen Gesetzent- eine erhebliche Erleichterung, da diese vergleichsweise wurf spricht. Lassen Sie uns ihm also zustimmen, um schnell und kostengünstig umgewidmet werden können. unseren Kommunen damit etwas an die Hand zu geben, Das Gleiche gilt für die Unterbringung von Asylbewer- mit dem sie unbürokratisch, rechtssicher und in kürzes- bern in ehemaligen Geschäfts-, Büro- oder Verwaltungs- ter Zeit dem Anstieg der Asylbewerberzahlen gerecht gebäuden. Hier reichte in der Vergangenheit häufig die werden und den Menschen vor dem nahenden Winter ein Klage eines einzelnen Anwohners aus, die Kommunen Dach über dem Kopf bieten können. zu zwingen, die Menschen wieder anderswo unterzu- bringen. Selbstverständlich kann die Unterbringung von Vielen Dank. Asylbewerbern nur mit der Akzeptanz der Anwohner ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lingen; doch gerade angesichts des nahenden Winters neten der SPD) kann es nicht sein, dass Asylbewerber bei eisigen Tem- peraturen in Zelten oder Containern hausen müssen. Vizepräsidentin : (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Vielen Dank, liebe Kollegin. – Schönen guten Abend Nissen [SPD]) von meiner Seite aus. 5898 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ich schließe diese Aussprache. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort (C) Herbert Behrens für Die Linke. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes- rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Maßnah- (Beifall bei der LINKEN) men im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unter- bringung von Flüchtlingen. Der Ausschuss für Umwelt, Herbert Behrens (DIE LINKE): Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in sei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3070, den Der Diskussion hier im Bundestag ging heute eine inte- Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 18/2752 ressante Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- voraus. Vielleicht haben Sie Gelegenheit gehabt, sich gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- das anzuhören: Der SPD-Verkehrsminister will keine stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- Murks-Maut, und der CDU-Abgeordnete Klaus Voussem gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist sagt: „Keine Maut wäre sicher die beste Lösung.“ damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustim- mung von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten SPD, Gegenstimmen von der Linken und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Bündnis 90/Die Grünen. Heute können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Dritte Beratung der SPD und von der CDU, Ihrem Verkehrsminister hier in Berlin ein Stück Orientierung geben. Folgen Sie Ihren und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf! Verabschie- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – den Sie sich von der Ausländermaut! Stimmen Sie unse- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- rem Antrag zu! entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/ CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und (Beifall bei der LINKEN) Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke fordert den sofortigen Stopp der Pläne für Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorlie- eine Pkw-Maut. Diese Maut ist weder erforderlich noch genden Entschließungsanträge, und zwar zunächst über sinnvoll. Vielleicht war einigen von Ihnen das im März den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf 2014 noch nicht so deutlich wie heute. Darum haben Sie Drucksache 18/3075. Wer stimmt für diesen Entschlie- sich zumindest im Ausschuss geweigert, sich inhaltlich ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Nach den vie- sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zu- len Diskussionen, die wir gehabt haben, muss aber heute (B) stimmung der Linken, Ablehnung von CDU/CSU und jedem, der nicht an der Leine des bayerischen Minister- (D) SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. präsidenten hängt, klar sein: Die Pkw-Maut bringt nicht mehr Geld, aber auf jeden Fall mehr bürokratischen Auf- Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion wand. Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3076. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs- Eigentlich sollte hier, wie gesagt, gar keine Diskus- antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/ sion stattfinden. Man hat uns im Ausschuss eine Anhö- Die Grünen und Ablehnung von CDU/CSU, SPD und rung dazu verweigert mit dem Hinweis, es gebe irgend- Linken. wann einen Gesetzentwurf dazu. Nun hat es in der Damit gibt es einen Themenwechsel und in der Regel vergangenen Woche zwar einen Gesetzentwurf gegeben. auch einen Sitzwechsel. Ich wünsche denen, die jetzt ge- Den kennen wir alle aber gar nicht; denn er war erst ein- hen, einen schönen Restabend und freue mich, ziemlich mal nur Gegenstand im Kabinett und geht jetzt in die zeitnah zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen zu Ressortabstimmung. dürfen. Einiges aus diesem Entwurf ist aber bekannt gewor- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: den. So heißt es, dass 3,7 Milliarden Euro Einnahmen er- wartet würden. Die Pkw-Maut werde zu einer Verkehrs- Beratung des Berichts des Ausschusses für Ver- infrastrukturabgabe, die dann alle deutschen Autofahrer kehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) zu zahlen hätten. Das heißt, jeder Kfz-Halter hätte eine gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu Zwangsmaut zu zahlen. Aber 3 Milliarden Euro sollen dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, den deutschen Autofahrern im Rahmen eines Gesetzes, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeord- das der Finanzminister erarbeiten muss, zurückerstattet neter und der Fraktion DIE LINKE werden; dadurch werden sie entlastet. Aber auch dieser Keine Einführung einer Pkw-Maut in Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Deutschland Wir haben den Eindruck, dass bei den 700 Millionen Drucksachen 18/806, 18/2989 Euro Einnahmen, die nur die ausländischen Autofahrer einbringen sollen, ähnlich wie bei anderen Großprojek- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ten Einnahmen hochgerechnet und Ausgaben herunter- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und gerechnet werden. Der ADAC hat nachgefragt, ob dieser sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Betrag von 700 Millionen Euro, den die Firma AGES Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5899

Herbert Behrens (A) – ein Unternehmen, das sich mit Mauteintreiben be- Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) schäftigt – ermittelt hat, stimmt. Er hat nachgerechnet Danke, Herr Kollege Behrens. – Nächster Redner in und ist auf 262 Millionen Euro gekommen. der Debatte ist Karl Holmeier für die CDU/CSU-Frak- tion. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Nicht glaubwür- dig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Er hat auch festgestellt, dass der Aufwand wesentlich höher ist als vom Verkehrsminister vorgesehen. Er hat Karl Holmeier (CDU/CSU): nämlich 357 Millionen Euro, die allein der Aufbau der Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen Kontrollstrukturen kosten wird, gar nicht mit eingerech- und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! net. Das heißt, die Berechnung des Verkehrsministers ist Am kommenden Sonntag vor 25 Jahren, am 9. Novem- von vorne bis hinten falsch und anzuzweifeln. Das ist ein ber 1989, hat die friedliche Revolution vieler Hundert- weiterer Grund, auf die Einführung der Maut zu verzich- tausend mutiger Menschen in der ehemaligen DDR das ten. SED-Unrechtsregime nach jahrzehntelanger Schre- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ckensherrschaft, Stasiterror und Todesschüssen an der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mauer in sich zusammenbrechen lassen. Wir können Wetten abschließen, wer zuerst die (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schwarze Null erreicht: Herr Dobrindt mit seiner Pkw- NEN]: Und jetzt baut ihr Maut-Zollhäuschen Maut oder der Finanzminister bei seinem Haushalt. auf!) Gott sei Dank! Ich bezeichne es als Wunder, dass dies (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) friedlich möglich war. Die Wiedervereinigung Deutsch- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zwangsmaut ist lands, auf die die Unionsparteien seit Gründung der bei- aus unserer Sicht auch rechtlich nicht zu halten. Wie ver- den deutschen Staaten hingewirkt haben, wurde einge- hält es sich beispielsweise mit innerorts gelegenen Bun- läutet und möglich. Der 9. November 1989 war und ist desstraßen? Haben die Städte jetzt Anspruch auf die Ein- ein großartiger Tag in der deutschen Geschichte. Heute, nahmen aus der Maut, die dort zu zahlen wäre, oder ist 25 Jahre später, müssen wir uns mit einem Antrag der es zulässig, die Maut nur außerorts einzutreiben? Auch SED-Nachfolgepartei Die Linke beschäftigen, der sinn- diese Frage ist völlig ungeklärt. Beispielsweise in Berlin los und, wie man bei uns zu Hause sagt, so überflüssig und anderen Großstädten gibt es viele Kilometer an in- wie ein Kropf ist. (B) nerörtlichen Bundesstraßen. Die Städte müssen dafür (Beifall bei der CDU/CSU – (D) aufkommen; aber sie bekommen möglicherweise nichts [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für von den Mauteinnahmen ab. Ist das zulässig? Ich ver- die Maut! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: mute, es wird Klagen geben. Das war der Zusammenhang! Den mussten Sie Auf Menschen mit Behinderungen, die nur teilweise erst einmal erklären!) von der Kfz-Steuer befreit sind, wird auch mit keinem Die Fraktion Die Linke hat, wie Herr Behrens schon Wort eingegangen. Die, die voll entlastet werden sollen, gesagt hat, im März 2014 einen Antrag eingebracht, werden nicht zusätzlich belastet. Das ist einfach umzu- nach dem der Deutsche Bundestag die Einführung einer setzen. Aber wie mit dem Freibetrag bei nur teilweise Pkw-Maut in Deutschland ablehnen soll. Zudem, so die Befreiten umgegangen werden soll, auch dazu ist kein Forderung der Linken, soll die Bundesregierung alle Pla- Wort zu finden. nungen für die Einführung einer Pkw-Maut unverzüglich einstellen. Die Maut bringt also nicht nur keine zusätzlichen Ein- nahmen, sondern sie wirft auch erheblich mehr Fragen Sehr geehrte Damen und Herren, das tun wir natürlich auf, als es Antworten gibt. Es geht aber nicht um ein nicht. Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland Frage-und-Antwort-Spiel. Es geht vielmehr um die poli- war Bestandteil unseres Wahlprogramms zur Bundes- tische Entscheidung: Soll es in Deutschland eine Pkw- tagswahl 2013. Auch dafür haben uns die Menschen ge- Maut geben, ja oder nein? Diese Frage ist zu beantwor- wählt und ihr Vertrauen ausgesprochen. Die Einführung ten. einer Pkw-Maut ist neben vielen anderen guten Dingen Bestandteil des Koalitionsvertrages zwischen CDU, Darum bleibt es dabei: Wir brauchen eine politische CSU und SPD. Entscheidung gegen die Einführung. Lassen Sie uns die Pkw-Maut jetzt stoppen! Vielleicht trägt der Bundes- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- finanzminister dazu bei, indem er seinen Gesetzentwurf NEN]: Sie haben versprochen, dass Sie hohe so lange schiebt, dass es nicht mehr zu einer Pkw-Maut Einnahmen erzielen! Die erzielen Sie damit kommen kann. Aber das wäre kein politischer Weg, son- nicht!) dern nur ein Ausweg. Aber den würde ich auch mitge- Es war also früh absehbar – auch Sie, meine sehr verehr- hen. ten Damen und Herren von der Linken, kennen sicher- Danke schön. lich unseren sehr guten Koalitionsvertrag –, dass Verkehrsminister Dobrindt einen entsprechenden Ge- (Beifall bei der LINKEN) setzentwurf vorlegen wird. 5900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Karl Holmeier (A) Vor der Sommerpause hat Minister Dobrindt die Eck- gen können wählen zwischen einer Zehntagevignette für (C) punkte zur Einführung einer Pkw-Maut dargelegt und 10 Euro, einer Zweimonatsvignette für 22 Euro oder ei- kurz darauf angekündigt, bis Ende Oktober 2014 einen ner Jahresvignette zu den gleichen Bedingungen wie für Gesetzentwurf vorzulegen. in Deutschland zugelassene Fahrzeuge. (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wo ist er denn? Oktober war schon!) NEN]: Oder sie weichen auf andere Strecken aus und belasten dort die Menschen!) Im Sinne eines geordneten Verfahrens wird nun im Verkehrsausschuss eine Anhörung zur Pkw-Maut durch- Ich stelle abschließend fest, dass die Linke mit der geführt; das stand immer fest. Eine Anhörung und eine Beantragung der heutigen Debatte eigentlich nichts an- inhaltliche Diskussion machen aber erst dann Sinn, deres als heiße Luft produziert. Diese Debatte ist nicht wenn der Gesetzentwurf vorliegt. Dieser liegt nun vor. notwendig. Wir werden den Antrag natürlich ablehnen. Unser Verkehrsminister hat sein Versprechen gehalten. Ich freue mich auf die inhaltliche Beratung unseres Ge- setzentwurfs in den kommenden Wochen (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es x- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mal verschoben!) NEN]: Wo bleiben denn die Inhalte?) Der Gesetzentwurf wurde Ende Oktober vorgelegt, und und wünsche Ihnen allen gute Fahrt auf deutschen Stra- er ist gut. Versprochen und Wort gehalten! ßen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Sie wollten Einnahmen erzielen! Wo sind die Einnahmen?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön, Herr Kollege Holmeier. – Die Wette Die Große Koalition trägt die Bundesregierung. Wir kommt in das Protokoll. Wenn man aber aus Bayern machen eine erfolgreiche Politik für unser Land und kommt, sind 50 Liter Bier günstig. Da könnte man schon damit für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die etwas drauflegen. Ich werde das dann kontrollieren. – Beratung der Pkw-Maut kann in Kürze im Deutschen Gut, die Wette gilt. Bundestag beginnen. Alles hat seine Ordnung. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Unser erklärtes Ziel ist, Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Valerie Wilms den hohen Standard des deutschen Infrastrukturnetzes zu für Bündnis 90/Die Grünen. erhalten und weiter auszubauen. Nur so können wir den (B) Verkehrszuwachs im Personen- und Güterverkehr Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) bewältigen. Mit der kontinuierlichen Ausweitung der Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Nutzerfinanzierung erreichen wir eine größere Unabhän- gen! Liebe Gäste! Als ich eben die Rede von Herrn gigkeit vom Bundeshaushalt. Die Planungssicherheit für Holmeier gehört habe, habe ich gedacht: Wo bin ich hier die Finanzierung von dringend erforderlichen Verkehrs- eigentlich? – Alles, was er erzählt hat, habe ich hier noch infrastrukturmaßnahmen wird mit der Ausweitung der nicht erlebt. Es liegt doch noch gar kein Gesetzentwurf Lkw-Maut, über die wir in den letzten Tagen diskutiert vor. Welche Märchen haben Sie uns aus Bayern wieder haben, und der Einführung der Infrastrukturabgabe für erzählt? Das funktioniert doch hinten und vorne nicht. Pkw gestärkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mit dem Gesetzentwurf unseres Verkehrsministers Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten wir unser Wahlversprechen ein. Halter von in NEN]: Nichts als heiße Luft!) Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeugen haben keine Mehrbelastungen. Es ist schön, dass auch das Ministerium jetzt vertreten ist, liebe Kollegin Bär. Ihr Minister hat nicht Wort gehal- (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten. Monatelang hat er das Parlament hingehalten. Eine NEN]: Diesen Entwurf gibt es doch noch gar schon vor der Sommerpause von uns im Ausschuss kol- nicht!) legial gemeinschaftlich geplante Anhörung zu Ihrer Herr Behrens, Sie haben vorhin gefragt, wer sich traut, CSU-Maut wurde im Oktober mir nichts, dir nichts ab- mit Ihnen zu wetten. Ich traue mich schon, mit Ihnen geblasen. Der einzige Grund: Ihr lieber Minister darum zu wetten, dass etwas übrig bleibt. Wir können als Dobrindt hat nicht geliefert, was er versprochen hat. Es Wetteinsatz gerne 50 Liter Bier nehmen. gibt auch jetzt noch keinen Gesetzentwurf. Ich darf ver- muten, dass dem Minister sehr wohl bekannt ist, was ein Wir legen zudem einen europarechtskonformen Ge- Gesetzentwurf ist. setzentwurf vor. Der Bonner Staatsrechtler Professor (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ Christian Hillgruber stellt in seinem Gutachten fest, dass DIE GRÜNEN]: Da wäre ich mir nicht so si- die Infrastrukturabgabe niemanden diskriminiere. Die cher!) Kompensation der Infrastrukturabgabe bei der Kfz- Steuer sei eine legitime Maßnahme. Der Preis für die Das ist nämlich ein Dokument, das dem Bundestag Pkw-Jahresvignette bestimmt sich nach Hubraum und schon zugeleitet sein müsste, zumindest aber dem Bun- Umweltfreundlichkeit und wird bei 130 Euro gedeckelt. desrat. Davon habe ich noch lange nichts gesehen. Was Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeu- bedeutet das? Es kursiert vielleicht nur ein Entwurf im Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5901

Dr. Valerie Wilms (A) Internet, über den wir hier mutmaßen dürfen. Das ist Wenn Sie schon nicht die Finger von der unseligen Maut (C) schlicht unverschämt. lassen können, dann korrigieren Sie wenigstens diese Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Aber die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorratsdatenspeicherung ist ja eine CSU-Nummer. und bei der LINKEN) Punkt drei: Ihre Einnahmen. Aus den vollmundigen Der Minister hält sich nicht an seine Versprechen. Ankündigungen ist nichts geworden. Stattdessen wurde Statt dem Parlament, dem Gesetzgeber, wirklich etwas es mit jeder Ankündigung weniger. 2013 wurden noch vorzulegen, über das wir entscheiden können, gibt er 900 Millionen Euro Einnahmen geschätzt, im Juli dieses blumige Presseerklärungen alle paar Monate heraus. Das Jahres hat der Minister von nur noch 600 Millionen Euro ist eine Missachtung des Parlaments. gesprochen. Inzwischen kommt er selbst durcheinander. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Er sprach letzte Woche von deutlich mehr als 300 Mil- [CDU/CSU]: Sie können lionen Euro, dann wieder von einer halben Milliarde noch früh genug zustimmen, Frau Wilms! – Euro. Ja was denn nun? Sie wissen es offensichtlich Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) selbst nicht im Ministerium. Vielleicht sind Ihnen auch ein paar Zahlen durcheinandergekommen. Das kann Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ein- schon einmal passieren, wenn man Wohltaten für Bayern mal die Details von dem anschauen, was man im Internet und die Republik durcheinanderbringt; denn das Ver- findet. Punkt eins: europäisches Recht. kehrsministerium arbeitet nicht nur an der CSU-Maut. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Befassen Sie Lassen Sie mich ein Beispiel aufzeigen. Im Sommer sich jetzt mit etwas nicht Vorhandenem?) wurden fleißig Geschenke verteilt. Dabei hat der Minis- Dazu gibt es ein Gutachten – man könnte dafür auch ei- ter natürlich auch an sich und seinen Wahlkreis gedacht. nen besonderen Begriff finden –, das man bestellt hat, in (Florian Oßner [CDU/CSU]: Ist es eine Sünde, dem Sie sich die Vereinbarkeit der Maut mit dem euro- wenn man an seinen Wahlkreis denkt?) päischen Recht bescheinigen lassen. Alle anderen Ex- perten kommen zum glatt gegenteiligen Schluss. Mit Dort, in Oberau, soll die teuerste Ortsumgehung Bayerns dem Gefälligkeitsgutachten haben Sie es sogar geschafft, gebaut werden. Zusammen mit drei geplanten Tunneln dass Ihnen der Kommissar Kallas auf die Schulter ge- kostet das Ganze eine halbe Milliarde Euro, genauso klopft hat. Der ist aber nicht mehr Kommissar, der ist viel, wie die CSU-Maut einbringen soll. weg. Ich bin gespannt, was das insgesamt dann wirklich wert ist; denn seit einer Woche haben wir eine neue (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Verschwö- (B) Kommissarin, und die fühlt sich nicht an die Aussagen rungstheorie!) (D) ihres Vorgängers gebunden, wie sie heute noch einmal Wir werden genau hinsehen müssen, wohin das Geld am ganz deutlich per Agenturmeldung hat mitteilen lassen. Ende geht. Ich sage: Auch jetzt diskriminiert Ihre CSU-Maut die EU-Ausländer. Sie ist und bleibt ein mittelalterlicher Wegezoll, der überhaupt nicht zum europäischen Gedan- Vizepräsidentin Claudia Roth: ken passt. Frau Kollegin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Ende. Punkt zwei: die elektronische Vignette, wie wir letzte Es bleibt festzuhalten: Die CSU-Maut ist untauglich und Woche dem Internet entnehmen konnten. Damit keine bürokratisch. Sie wird keines, aber auch wirklich keines Bildchen an jeder Autoscheibe kleben, geben Sie sich unserer Probleme lösen, sondern viele neue schaffen. ganz modern. – Da war doch einmal etwas: Minister für Modernität oder irgendetwas anderes. – Es müssen nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) alle Fahrzeuge fotografiert werden. Das ist wie bei der Wer mit dummen Ideen ein Gesetz machen will, kann Lkw-Maut, hat aber einen kleinen Haken. Die Daten auch nur ein dummes Gesetz bekommen. Also, lassen werden bei den Pkw nämlich nicht sofort gelöscht. Sie Sie die Finger davon. sollen bis zu 13 Monate aufbewahrt werden. Damit wer- den Bewegungsprofile aller Autofahrer zentral erfasst. Herzlichen Dank. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die lieben Kollegen vom BKA rufen schon nach den und bei der LINKEN) Daten zur Verbrechensbekämpfung. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, es gibt noch keinen Gesetzentwurf!) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in dieser Debatte ist Sebastian Hartmann für die SPD- Davor kann ich nur warnen. Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und bei der LINKEN) der CDU/CSU) 5902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Sebastian Hartmann (SPD): Infrastruktur organisieren. Ja, das ist so, und das hat man (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Koalitions- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vertrag wird auch die Maßgabe für das Infrastruktur- Da wartet man darauf, was die Opposition sagt, bereitet abgabegesetz sein, das der Minister in einem ersten sich vor und ist richtig gespannt. Und was passiert? Sie Referentenentwurf seinen Kolleginnen und Kollegen im kritisieren, dass es nichts gibt und dass der Minister an- Kabinett zugeleitet hat. Wenn sie darauf reagiert haben, geblich nichts vorgelegt hat. Dann reden Sie über das, dann wird es diesen Gesetzentwurf geben. was es nicht gibt – Frau Wilms sagt, dass es das nicht gibt –, und Sie arbeiten sich an irgendetwas ab, was es Ich erinnere einmal daran, dass es für ein solches angeblich nicht gibt. Dabei profitiert Ihr Antrag, der sich Gesetz ein paar klare Kriterien gibt. Über die werden wir eigentlich auf die Geschäftsordnung bezieht, lieber Kol- reden, und die werden wir in der parlamentarischen lege Behrens, ganz erheblich davon, dass der Minister Debatte genau abarbeiten. Wir als SPD und die andere Wort gehalten hat. tragende Fraktion werden streng darauf achten, dass diese Kriterien nicht unterlaufen werden; das garantiere (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ich Ihnen. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sonst könnten Sie sich doch an keinem einzigen Vor- der CDU/CSU) schlag abarbeiten. Es ist eben ein Vorteil der deutschen Infrastruktur, dass es auch eine digitale Infrastruktur gibt Ich lese Ihnen etwas vor, damit hier im Parlament und dass man im Internet manches Wichtige nachlesen keine Nebelkerzen gezündet werden. Ich erinnere in die- kann, an dem Sie sich abarbeiten wollen. sem Zusammenhang an den 9. November – vielen Dank für die Ausführungen dazu –; es ist ein besonderes Der umgekehrte Fall: Wenn Sie kritisieren wollten, Datum in unserer Geschichte. Ich möchte mich diesen dass der Minister eben keinen Gesetzentwurf in dem Ausführungen natürlich anschließen, Herr Kollege 31 Tage zählenden Oktober vorgelegt hätte, worüber Holmeier, auch wenn ich zunächst mit dem von der Ge- hätten Sie denn heute geredet? schäftsordnung vorgesehenen Bericht gerechnet habe (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Über unseren und dann einen ganz anderen Einstieg vernehmen Antrag!) konnte. Ich zitiere: Was wollen Sie denn? Sie wollen, dass die Pkw-Maut Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des nicht kommt. Dann könnten Sie einfach einen Schluss- Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen strich ziehen, und damit wäre die Debatte beendet. Den- angemessenen Beitrag der Halter von nicht in (B) noch arbeiten Sie sich an dem ab, was wir hier vielleicht Deutschland zugelassenen Pkw erheben (Vignette) (D) zur Diskussion bekommen. mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland stärker belastet wird als heute. Die NEN]: Jetzt mal zur Sache, zum Thema, zum Ausgestaltung wird EU-rechtskonform erfolgen. Inhalt!) Am 7. Juli 2014 wurde ein Konzept vorgestellt, und Es spricht doch für eine gute parlamentarische De- daran wurde gearbeitet. Wenn man die öffentliche batte, dass man einen entsprechenden Vorschlag be- Debatte verfolgt, stellt man fest: Aus einem Konzept kommt, dass man sich diesen Vorschlag anschaut und wurde ein etwas verschärftes Konzept. Es wurde noch ihn da, wo er noch nicht so gut ist, besser macht. Dafür einmal nachgedacht, ob man die eine oder andere Straße wird es ein geordnetes Verfahren geben. Dazu wird es in das Konzept hineinnimmt, und dann kam es zu dem eine Sachverständigenanhörung geben. Dann wird man Vorschlag, dass man sich vor allen Dingen auf die Bun- das eine oder andere Gutachten, ob jetzt bestellt oder desfernstraßen konzentriert; denn wir wollen ja nicht die nicht, vielleicht um ein noch besseres Gutachten ergän- Grenzregionen abhängen. zen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Kriegen wir das noch in dieser Wahl- Das wollen wir nicht, und das werden wir auch nicht tun. periode?) Darauf können Sie sich verlassen. Dann wird man sehen: Gilt der Koalitionsvertrag oder nicht? Das wird die Maßgabe der SPD, der CDU und der ( [SPD]: Wir wollen den klei- CSU sein. nen Grenzverkehr!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Genau, der kleine Grenzverkehr wird ein großes Plus werden. Es ist ein offenes Geheimnis: Es gibt zwei große Par- teien. Wenn sie die absolute Mehrheit verpassen – die Kriterium für die Ausgestaltung dieses Gesetzes ist eine deutlich, die andere knapp –, dann gibt es immer nicht nur, dass es EU-rechtskonform sein muss und dass das Problem, dass man einen Kompromiss in der Sache Pkw-Halter in Deutschland nicht zusätzlich belastet wer- schließen muss. Ja, wir haben es geschafft, den Mindest- den. Es gibt ein konkludentes Kriterium. Der Kollege lohn und die Rente mit 63 durchzusetzen. Andere wollen Wittke aus Nordrhein-Westfalen, aus meinem Heimat- vielleicht eine Infrastrukturabgabe für die deutsche land, hat das so schön formuliert: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5903

Sebastian Hartmann (A) Vernünftig muss die Regelung schon sein. Vernünf- Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) tig heißt: Der Aufwand muss deutlich geringer sein Danke schön, Herr Kollege Hartmann. – Nächster als der Nettoertrag. Redner in der Debatte: Steffen Bilger für die CDU/CSU- Fraktion. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Darauf warten wir genau!) (Beifall bei der CDU/CSU)

Beides muss in einem vernünftigen Verhältnis ste- Steffen Bilger (CDU/CSU): hen … Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich muss ehrlich sagen, dass wir uns in der Unionsfrak- tion eigentlich auf die Mautdebatten in dieser Woche ge- NEN]: Genau das fehlt uns!) freut haben und ein bisschen spekuliert haben: Wird Kollege Wittke, Sie haben 10 Prozent als Messlatte denn die Opposition eine Aktuelle Stunde dazu beantra- benannt. Das ist doch gut. gen? (Sören Bartol [SPD]: Welcher Teil der Unions- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) fraktion denn?) Mehr wollen wir doch nicht. Die Lkw-Maut ist die – Zumindest kann ich das für den Unionsteil der Koali- Messlatte, an der wir das messen werden. tion sagen. – Aber sie hat uns enttäuscht. Jetzt diskutie- ren wir zumindest in dieser Debatte über die Pkw-Maut. Ich mache Ihnen jetzt zwei Rechnungen auf, und Aber das zeigt vielleicht auch, dass die Luft schon ein diese Rechnungen werden die gesamte Mautdebatte der Stück weit raus ist, weil Erwartungen der Pkw-Maut- folgenden Monate bestimmen: 3,7 Milliarden Euro Ein- Gegner nicht erfüllt wurden. Nach allem, was in den nahmen stehen nur 200 Millionen Euro Erhebungsauf- letzten Monaten gesagt wurde – „nicht europarechtskon- wand gegenüber; das sind sagenhafte 5,4 Prozent. Wenn form“, „Quadratur des Kreises, die nicht funktionieren Sie es negativ rechnen, dann stehen 700 Millionen Euro wird“ –, zeigt sich, dass es anders aussieht und dass wir Einnahmen 200 Millionen Euro Aufwand gegenüber; ein vernünftiges Gesetz beschließen können, um die das sind 30 Prozent. So viel Rechnen muss sein. Daran Pkw-Maut in Deutschland einzuführen. werden wir arbeiten; denn das beste und effizienteste System wird unsere Maßgabe sein. Liebe Frau Kollegin Wilms, ich finde es dann auch nicht angemessen, von dummen Ideen und dummen Ge- Alle diejenigen, die das kritisieren, muss man fragen, setzen zu sprechen. Wir machen eine vernünftige Lö- (B) ob 500 Millionen Euro für die deutsche Infrastruktur zu sung, die auch den Rückhalt in der Bevölkerung hat. (D) wenig sind, um sich auf den Weg zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger als NEN]: Bei 7,2 Milliarden, die wir zusätzlich 50 Prozent!) brauchen!) Den Linken will ich herzlich danken für den Antrag und damit auch für die Gelegenheit, jetzt über den Ge- Da wird die Frage sein, ob Sie den notwendigen Infra- setzentwurf, den wir alle offensichtlich kennen, zu dis- strukturbeitrag anders darstellen können, ohne deutsche kutieren und uns darüber hier im Plenum auseinanderzu- Autofahrerinnen und Autofahrer zusätzlich zu belasten. setzen. Wir werden in der Debatte sehr vernünftig darauf zu achten haben, dass wir uns genau an diesen Maßgaben Ich will mich auch auf Ihren konkreten Antrag bezie- orientieren. hen; denn Sie stimmen in diesem Antrag beispielsweise in den Chor der Kritiker ein, die sagen: Was soll das Zu guter Letzt. Es ist als Teil einer modernen Infra- denn mit der Pkw-Maut? Man sollte lieber die Lkw- strukturfinanzierung über eine Nutzerfinanzierung nach- Maut erhöhen. – In der Debatte darf man nicht verges- zudenken. Wenn Sie eine noch weiter gehende Maut auf sen: Das machen wir schließlich. Die Lkw-Maut – das allen Straßen – Kommunal-, Bundes- und Landesstra- sage ich für alle, die das noch nicht mitbekommen ha- ßen – nach Uhrzeit, nach Tageszeit getrennt, wollen, ben – wird ausgeweitet. dann dürfen Sie sich im Plenum nicht darüber beschwe- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren, wenn der Minister liefert und wir Ihnen zusagen, dass NEN]: Aber erst einmal deutlich gesenkt! – wir ein vernünftiges Gesetzgebungsverfahren durchfüh- Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist doch ren, um den Koalitionsvertrag so umzusetzen, wie wir alles Stückwerk!) ihn vereinbart haben. Nicht mehr und nicht weniger wer- den wir tun. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Wir gehen die Lücken in der Infrastrukturfinanzierung konsequent an. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Dem Bund fehlen laut den verschiedenen Expertenkom- missionen rund 4 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Pro- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – blem werden wir lösen; so ist es in der Großen Koalition Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vereinbart. Das heißt: mehr Haushaltsmittel, 5 Milliar- NEN]: Nur leider fehlt die Vernunft!) den Euro in dieser Legislaturperiode, geplant ab 2018 5904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Steffen Bilger (A) stetig 1,8 Milliarden Euro pro Jahr mehr aus dem Haus- her stehen uns rund 4,4 Milliarden Euro im Jahr zur Ver- (C) halt. fügung. Die Lkw-Maut wird auf die 7,5-Tonner ausge- weitet. Das bringt rund 300 Millionen Euro zusätzlich Vizepräsidentin Claudia Roth: pro Jahr ab 2016. Wir werden die Lkw-Maut auf vier- Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder spurige Bundesstraßen – das sind weitere 1 100 Kilome- -bemerkung der Kollegin Wilms? ter – ausweiten. Das bringt 80 Millionen Euro ab 2015. Schließlich werden wir sie ab 2018 auf alle Bundesstra- ßen ausweiten. Das wird etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr Steffen Bilger (CDU/CSU): bringen. Ausgesprochen gern. Die Verkehrspolitiker kennen alle Schwierigkeiten, ( [CDU/CSU]: Das ist gelogen!) die es bei der Umsetzung einer Ausweitung einer Lkw- – Das ist die Wahrheit. Maut geben kann. Ich will aber noch etwas dazu sagen, weil wir oft gefragt werden, warum das alles so lange (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts als die dauert, warum das nicht schneller geht. Wir machen es Wahrheit!) so schnell wie möglich, aber es dauert einfach, bis aus- geschrieben ist, bis die Systeme errichtet sind. Die Vizepräsidentin Claudia Roth: Lkw-Maut wird so schnell wie möglich – wie ich es Bitte schön. eben dargestellt habe – ausgeweitet. Dann kommt noch die Pkw-Maut mit Einnahmen von rund 500 Millionen Euro im Jahr dazu. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Bilger, Wenn man das alles zusammenrechnet – die 1,8 Mil- ich habe hier gerade eine Agenturmeldung, eine Mel- liarden Euro aus dem Haushalt, die zusätzlichen 2 Mil- dung von AFP. Darin steht ganz deutlich: Die von Herrn liarden aus der Lkw-Maut, die 500 Millionen Euro aus Dobrindt geplante Pkw-Maut stößt in der Bevölkerung der Pkw-Maut –, dann sind das mehr als 4 Milliarden „überwiegend auf Ablehnung“. Wie passt denn das mit Euro pro Jahr für die Infrastruktur. Damit schließen wir den Aussagen zusammen, die Sie eben getroffen ha- die vorhin erwähnte, bisher bestehende Lücke. ben? – Laut dieser Agenturmeldung sprechen sich 54 Pro- Deshalb, meine Damen und Herren: Nach Jahren des zent der Befragten gegen die Einführung einer Pkw- Redens über die mangelnde Finanzierung der Infrastruk- Maut auf den Autobahnen aus. tur kann ich feststellen: Wir reden nicht nur, sondern wir handeln auch. Wir packen die Probleme, die sich bisher (B) Steffen Bilger (CDU/CSU): bei der Infrastrukturfinanzierung stellen, an. (D) Es gibt ja im Laufe einer solchen Debatte viele Erhe- bungen. Als die Diskussion über die Pkw-Maut begon- (Beifall bei der CDU/CSU) nen hat, lag die Unterstützung in der Bevölkerung für In Ihrem Antrag äußern Sie größtes Verständnis für unser Gesetzesvorhaben bei 80 Prozent. Es mag sein, die ausländischen Fahrzeughalter. Sie schreiben: dass durch diese Diskussion die Zustimmung etwas ge- sunken ist. Aber ich bin mir sicher, wenn wir uns in ei- Ausländische Pkw zahlen in Deutschland etwa das nem halben Jahr wieder darüber unterhalten, wird die Doppelte an Mineralölsteuer, als ihnen an Wege- Zustimmung wieder deutlich gestiegen sein. Wir haben kosten zugerechnet werden kann. auf jeden Fall dauerhaft eine Unterstützung in der Bevöl- (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Ja, so ist es!) kerung für das Vorhaben der Pkw-Maut. Das kann ich Ihnen insbesondere als Baden-Württemberger sagen. Ich muss sagen: Es ist ja schön, dass Sie so viel Ver- ständnis für die ausländischen Pkw-Fahrer haben. Aber, (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel mit Verlaub, wen interessiert denn diese Frage in Öster- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Men- reich, in Frankreich oder in der Schweiz? Es ist eben schen verstehen, dass ein Riesenbürokratieauf- doch auch eine Frage der Gerechtigkeit. Und wir been- wand damit verbunden ist!) den jetzt die Benachteiligung der deutschen Autofahrer, – Nun, lieber Herr Kollege Gastel, auch die Grünen in die lange Jahre bestanden hat. Baden-Württemberg haben sich immer mal wieder für (Beifall bei der CDU/CSU) Nutzerfinanzierung ausgesprochen, im Übrigen verbun- den mit einem noch erheblicheren Aufwand – wenn wir Vizepräsidentin Claudia Roth: schon über Datenschutz sprechen –, mit streckengenauer Der Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke Abrechnung usw. Da sollten wir, glaube ich, bei der möchte Ihnen auch eine Zwischenfrage stellen. Wahrheit bleiben. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Steffen Bilger (CDU/CSU): NEN]: Aber doch nicht für Ihr Modell!) So viele Zwischenfragen hatte ich noch nie. Zurück zu den Zahlen und zu unserem Vorhaben, die Infrastruktur in Deutschland vernünftig auszufinanzie- Herbert Behrens (DIE LINKE): ren: Es geht, wie gesagt, um mehr Haushaltsmittel. Es Vielen Dank. – Herr Bilger, Sie haben gesagt, in Ös- geht aber auch um die Ausweitung der Lkw-Maut. Bis- terreich gebe es ein vergleichbares System der Maut- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5905

Herbert Behrens (A) erhebung, über das Ausländer an der Finanzierung der Befürchtungen allesamt nicht eingetreten sind. Im Ge- (C) Straßen beteiligt werden. Ist neben Österreich noch ein gensatz zu den Ausführungen in Ihrem Antrag ist die anderes europäisches Land genau in dieser Weise am vorgeschlagene Mautregelung europarechtskonform. Sie Start, wie es der Verkehrsminister Dobrindt versucht, der entspricht den Vorgaben, auf die wir uns im Koalitions- die deutschen Autofahrer nicht über das hinaus belasten vertrag verständigt haben. will, was sie schon jetzt beitragen, sondern nur die aus- Eines will ich auch noch einmal abschließend beto- ländischen Fahrer belasten will? Gibt es ein vergleichba- nen. res Modell, das mir bislang verborgen geblieben ist?

Vizepräsidentin Claudia Roth: Steffen Bilger (CDU/CSU): Aber bitte abschließend. Ihr Vergleich hinkt. Denn man muss ja sehen, dass die österreichischen Autofahrer zwar natürlich auch in ihr Mautsystem einzahlen, aber dadurch eine Entlastung des Steffen Bilger (CDU/CSU): österreichischen Steuerzahlers gegeben ist. Allein des- Wirklich abschließend. – Alle, die sagen: „Das sind ja wegen kann man nicht konstruieren, dass hier eine Dis- nur 500 Millionen Euro“, sollten sich einmal in Erinne- kriminierung von Haltern ausländischer Fahrzeuge statt- rung rufen, wie wir im Verkehrsausschuss oder in ande- finden würde. ren Ausschüssen des Deutschen Bundestages um wenige Millionen streiten. 500 Millionen Euro sind ein wesentli- Wir haben bisher eine Benachteiligung der deutschen cher Beitrag, um bei der Infrastruktur in Deutschland Autofahrer; denn sie müssen in fast allen Nachbarlän- voranzukommen. dern bezahlen. Diese Benachteiligung werden wir jetzt mit der Pkw-Maut beenden. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will noch ein anderes Thema Ihres Antrags be- Vizepräsidentin Claudia Roth: leuchten. Danke, Herr Kollege Bilger. – Ich dränge, weil wir (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter An- heute noch eine sehr lange Tagesordnung haben. trag!) Nächste Rednerin in der Debatte: Kirsten Lühmann Denn Sie sagen ja oft, sie würden dafür stehen, dass den für die SPD. Menschen mit geringerem Einkommen Unterstützung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zukommt. Das stellen Sie oft in den Mittelpunkt Ihrer der CDU/CSU) Politik. (B) (D) In Ihrem Antrag schlagen Sie jetzt aber vor, eine Kirsten Lühmann (SPD): Busmaut einzuführen. Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kol- (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Für Fern- leginnen! Die Linke hat beantragt, dass wir heute eine busse, die anstatt des Zuges fahren!) Debatte führen, um den Deutschen Bundestag über den Stand der Beratungen zu ihrem Antrag zur Maut zu in- Wir erinnern uns ja alle noch, dass wir uns bei der Re- formieren. Herr Behrens, genau darum geht es und nicht form des Personenbeförderungsgesetzes bewusst ent- um den Inhalt Ihres Antrages. Diesen haben wir schon in schieden haben, keine Busmaut einzuführen, weil wir in erster Lesung beraten und werden ihn später noch behan- Zeiten von teurer Mobilität mit dem Auto, der Luftver- deln. Ich übernehme es sehr gerne, die anwesenden Kol- kehrsabgabe und von nicht ganz billigen Zugtickets eine leginnen und Kollegen, die nicht Mitglied im Verkehrs- kostengünstige Alternative bieten wollen. Deswegen ha- ausschuss sind, darüber zu informieren, was wir zu ben wir mit der Liberalisierung des Fernbusverkehrs diesem Antrag schon alles gemacht haben. Wir haben eine Alternative geschaffen. Ich glaube, an einem Tag uns nämlich zusammengesetzt und besprochen, dass wir wie heute kann man nur sagen, dass wir froh sein können eine Sachverständigenanhörung zur Pkw-Maut machen über dieses Erfolgsmodell Fernbusse, das eine gute und wollen. vor allem eine kostengünstige Alternative darstellt. Inso- fern kann ich nicht nachvollziehen, dass ausgerechnet (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Linken sich jetzt für eine Busmaut aussprechen, die NEN]: Und dann haben wir sie abgesagt! Oder dazu führen würde, dass die Fernbustickets teuer wür- der Minister!) den. Der Sinn dieser Anhörung ist, die Frage „Maut oder (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Entsprechend nicht Maut?“ zu klären. Wenn ich aber solch eine Frage der Belastung der Straßen! Natürlich!) stelle und die Sachverständigen sie sinnvoll erörtern sol- len, dann muss ich auch eine Alternative haben. Das Der Fernbus ist eine hervorragende Ergänzung der heißt, ich brauche einen Gesetzentwurf, der den Sach- Mobilitätsangebote, die wir haben. Er ist insbesondere verständigen vorliegt und der etwas darüber aussagt, wie für junge Menschen und für Menschen mit einem gerin- eine Mautregelung aussehen könnte. Erst wenn ich bei- gen Einkommen eine sehr gute Alternative. Vor diesem des habe, kann ich vernünftig entscheiden, ob eine Pkw- Hintergrund halte ich Ihre Pläne für falsch. Ihr Antrag ist Maut Sinn macht oder ob sie keinen Sinn macht. Diese zugegebenermaßen ja schon vor einigen Monaten ge- Entscheidung, dass wir das zusammen beschließen wol- stellt worden, aber ich kann heute feststellen, dass Ihre len und dass wir zusammen die Anhörung machen wol- 5906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Kirsten Lühmann (A) len, haben wir einvernehmlich getroffen, weil es richtig lege Hartmann hat es noch einmal aus dem Koalitionsver- (C) ist. trag vorgelesen – ist, dass wir in dieser Legislaturperiode mehr Geld für unsere bundeseigenen Straßen erlangen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dass nun die Vorlage des Gesetzentwurfs nicht so zei- tig erfolgte, wie wir es geplant haben, mag man bedauern, Dann darf dieses Geld nicht von den Investitionen für ist aber eigentlich für den Fortgang des Gesetzgebungs- Technik aufgefressen werden. verfahrens nicht besonders schlimm. Leider bestand da- Zu der Europarechtskonformität wurde schon einiges rüber nach der Verlegung der Anhörung im Ausschuss gesagt. Wir haben ein Gutachten. Es ist immer gut, eines kein Konsens mehr. Wir sagen aber immer noch: Ja, na- im Vorfeld erstellen zu lassen. Wir haben aber auch eine türlich werden wir Ihren Antrag debattieren, und wir neue Kommissarin. Violeta Bulc hat gesagt, dass sie sich werden Ihren V orschlag zusammen mit dem Vorschlag den Gesetzentwurf anschauen wird, wenn er denn durch des Ministers in einer Anhörung und dann in einer ge- das Kabinett verabschiedet worden ist. Dann wird sie meinsamen Debatte hier im Hohen Hause behandeln, mit ihrem Sachverstand entscheiden. weil es einfach sinnvoll ist, das so zu machen, Kollege Behrens. (Zuruf von der LINKEN: Hat sie den?) Die Anhörung ist auch deshalb für die SPD so wich- Ich glaube, es ist gut und richtig so, dass sie das in dieser tig, weil wir den Sachverständigen einige Fragen vorle- Reihenfolge macht. gen wollen. Kollege Sebastian Hartmann hat das eine Ich komme zu unserem Thema zurück: Wann man- oder andere angesprochen. Mir ist auch noch etwas an- chen wir die Anhörung? Natürlich ist für uns und die deres wichtig: Ich bekomme im Moment sehr viele Sachverständigen auch diese Entscheidung von Frau Briefe. Auch in den Bürgersprechstunden kommen die Bulc eine Grundlage. Wir können nicht vorher eine An- Menschen zu mir und sagen: Wir glauben euch das nicht hörung machen. Ein Stochern im Nebel hilft uns bei der so recht mit eurem Koalitionsvertrag. Ihr werdet dieses Entscheidungsfindung nicht einen Deut weiter. Mautgesetz beschließen, aber die Entlastung über die Kfz-Steuer wird dann nicht kommen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Fazit: Der Beschluss, die Expertenanhörung zu NEN]: Genau das wird passieren, Kollegin!) verschieben, bis wir genug Fakten haben, die die Exper- ten auch beurteilen können, war und ist richtig. Es bleibt Darum ist es für die Glaubwürdigkeit in diesem Hause spannend. (D) (B) und auch für die Glaubwürdigkeit unserer Politik ganz wichtig – weil wir Wort halten –, dass wir beides zusam- Herzlichen Dank. men beschließen: zum einen das Mautgesetz und zum (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) anderen das Entlastungsgesetz.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Claudia Roth: der CDU/CSU) Danke, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser De- Zum Datenschutz haben wir diverse Modelle und batte ist Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. auch Bundesverfassungsgerichtsurteile. Allerdings denke (Beifall bei der CDU/CSU) ich, dass wir das ein oder andere noch einmal deutlicher in dem Gesetzentwurf festschreiben müssen. Ulrich Lange (CDU/CSU): Ich denke hier insbesondere an Speicherfristen. Ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! glaube, wir sollten uns das eine oder andere Gerichtsur- Ja, der Gesetzentwurf zur Maut ist da. Liebe Kollegin teil noch einmal ansehen und überlegen, ob man das Wilms, ob Sie ihn formal bekommen haben oder nur un- nicht anders regeln kann. formal gelesen haben, Aber die E-Vignette erfordert nicht nur Datenschutz, (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie erfordert auch neue Technik. Der Minister hat gesagt, NEN]: Das ist ein gewaltiger Unterschied!) das Kraftfahrtbundesamt soll die Maut erheben und die gelesen haben Sie ihn, weil Sie lesen können und auch Bundesanstalt für Güterverkehr soll sie kontrollieren. über die modernen technischen Mittel verfügen. Beide Behörden brauchen dafür natürlich Fachpersonal. Die Fachleute haben uns gesagt, dass es erhebliches Per- (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Eben hieß es, wir sonal beanspruchen wird. Der Minister hat jetzt gesagt, diskutieren über etwas, was es nicht gibt!) es gebe auch eine andere Lösung. Diese beiden Behör- den könnten sich der Mitwirkung Dritter bedienen. Sie haben sich über diesen Gesetzentwurf gefreut, weil Sie gar nicht geglaubt haben, dass er kommt – es ist wie (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Privater Dritter!) Weihnachten, wenn man hofft und wartet –, und wenn er dann doch da ist, dann denkt man sich: Hurra, wie schön. Was wir noch nicht festgelegt haben, ist die Frage: Wie werden diese Dritten ausgewählt? Welche Kosten entste- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hen dadurch, auch für die Technik? Das Ziel – der Kol- Leider steht nichts Gescheites drin!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5907

Ulrich Lange (A) Herr Kollege Hartmann, ich mache es nicht oft, aber Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) ich muss wirklich sagen: Es hat mir und den Kollegen Das möchte ich laut hören. – Sie denken, bitte schön, richtig Spaß gemacht, Ihnen heute zuzuhören; denn es an die lange Debatte, die wir heute noch haben. war richtig gut. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU): Das müssen Sie dem Kollegen der Linken sagen. Liebe Kollegen der Linken, zu dem, was Sie eigent- lich diskutieren wollten, gibt es nichts zu sagen als: Gu- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten Abend. Auf Wiedersehen. Das war die Debatte. Ja, das sage ich ihm ja. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das habe ich jetzt wieder nicht verstanden! Das war zu hoch Ulrich Lange (CDU/CSU): für mich!) Ich darf drei Minuten darauf antworten. Lassen Sie mich doch noch ein paar Sätze anmerken. Der Minister hat Wort gehalten. Der Gesetzentwurf liegt Vizepräsidentin Claudia Roth: auf dem Tisch. Das ist das Entscheidende. Sie dürfen selbstverständlich darauf antworten. Keine Angst! Ich bin ganz gerecht – wie Ihre Maut. (Sören Bartol [SPD]: Ein Referentenentwurf!) ( [CDU/CSU]: Das war aber – Ein Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch, grenzwertig!) (Gustav Herzog [SPD]: Ein Referentenentwurf!) Roland Claus (DIE LINKE): ohne das formal bewerten zu wollen, liebe Kolleginnen Es ist schneller gefragt, Frau Präsidentin, als belehrt. und Kollegen. – Herr Kollege, wenn Sie denn von der Ernsthaftigkeit Es geht doch vor allem um eines: um die Parameter des Unternehmens, das Sie hier vortragen, so überzeugt unseres Koalitionsvertrages. Diese Parameter sind – ich sind und gewiss die Aussage des Bundesministers wiederhole sie gerne – nämlich zwei: mit EU-Recht ver- Dobrindt unterstützen, dass die Maut ab 1. Januar 2016 einbar und keine Mehrbelastung für die deutschen Auto- – so seine Formulierung – „scharf geschaltet“ werden fahrerinnen und Autofahrer. Genau das haben wir vorge- soll, wie können Sie dann erklären, dass im Haushalt für legt. Auch bei der Europarechtskonformität, liebe das Jahr 2015, über den wir noch in diesem Jahr abstim- Kollegin Wilms, wäre ich ganz beruhigt; denn auch men müssen, keinerlei Vorsorge für all die Momente der umfangreichen technischen Erfassung getroffen (B) wenn die Kommissarin wechselt, die Generaldirektion (D) MOVE ist ja geblieben. Da wechselt ja nicht alles. Ich wird? – Solange Sie diese Frage nicht beantworten kön- sage auch ganz direkt, was mein Verständnis vom deut- nen – im Haushalt steht dazu nichts drin –, sind Ihre Be- schen Gesetzgeber ist: Zunächst einmal machen wir hier lehrungen zur Zukunftsfähigkeit der Maut nichts wert. unsere Gesetze, bevor wir sie nach Europa tragen. Wir (Beifall bei der LINKEN – Dr. Valerie Wilms sind nicht die Vollzieher Europas. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms einen Nachtragshaushalt machen, oder was?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Bay- ern will nicht mehr zu Europa gehören! – Vizepräsidentin Claudia Roth: Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist genau Herr Lange, bitte. der Charakter, der diese Maut gemacht hat!) Meine Kolleginnen und Kollegen, nachdem vorhin Ulrich Lange (CDU/CSU): das Wort „Zwangsmaut“ gefallen ist, sage ich ganz deut- Lieber Herr Kollege Claus, ich glaube, da können Sie lich: Es ist keine „Zwangsmaut“ und auch keine „Rache- ganz beruhigt sein. Wir haben am 13. November die Be- maut“, sondern ganz klar eine Gerechtigkeitsmaut, die reinigungssitzung, und Sie können davon ausgehen, dass wir hier einbringen. da entsprechende Beschlüsse gefasst und die entspre- chenden Mittel im Haushalt eingeplant werden. Ein (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel Blick in das Gesetz zeigt: Es tritt 2016 in Kraft. Ich wäre [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Maut, da an Ihrer Stelle ganz beruhigt, dass wir das haushalte- die von der Mehrheit der Bevölkerung abge- risch in den Griff bekommen. Wir arbeiten ja daran. Wir lehnt wird! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: freuen uns dann auf Ihre Unterstützung in der Bereini- Es ist eine Seehofer-Maut!) gungssitzung des Haushaltsausschusses. Wenn Ihre ein- zige Sorge ist, dass es formal noch nicht im Haushalt Vizepräsidentin Claudia Roth: steht, kann ich Ihnen sagen: Das werden wir am 13. No- Herr Kollege, erlauben sie eine Zwischenfrage von ei- vember sicher klären können. Danke. nem Kollegen der Linken? – Ja oder nein? (Roland Claus [DIE LINKE]: Diese Antwort werden Sie noch bereuen!) Ulrich Lange (CDU/CSU): Ja, natürlich. Wir können doch noch länger reden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wunderbar! Herr Lange, Ihre Redezeit läuft weiter. 5908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Ulrich Lange (CDU/CSU): Mit einem solchen System könnte man Bewegungspro- (C) Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, 500 Millionen file erstellen. Und dann denken Sie doch mal bitte an Ihr Euro zusätzlich – das sind fast 10 Prozent unseres Stra- bürokratisches Monster Citymaut, das Sie auch noch in ßenverkehrsetats. Wer hier also davon spricht, dass es Ihrem Köcher haben! sich um „kein Geld“ handelt, der verkennt einfach den (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verkehrshaushalt. Das Bürokratiemonster sitzt bei Ihnen!) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich würde an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger sein. NEN]: Wir brauchen 7,2 Milliarden Euro zu- sätzlich! 7,2 Milliarden Euro!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Pkw-Infra- strukturabgabe Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, wenn wir 500 Millionen Euro zusätzlich an Steuer- (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mitteln verwenden würden, wäre das für alle Bürgerin- NEN]: Ist ein bürokratisches Monster!) nen und Bürger viel Geld. Auch das sollten wir in diesem Zusammenhang respektieren. hilft uns bei der Finanzierung. Sie ist ein Teil der Ge- rechtigkeit auf deutschen Straßen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was uns sehr wichtig ist, ist die Zweckbindung der NEN]: Sie ist oberbürokratisch, sonst gar entsprechenden Mittel – damit die Infrastrukturabgabe nichts!) auch in der Verkehrsinfrastruktur, nämlich bei den Stra- ßen, landet. Genau das wollen und werden wir erreichen. Dafür werden wir sie einführen. Nun, liebe Kollegin Wilms, müssen Sie noch fünf Mi- Danke schön. nuten meinen Ausführungen zu den Daten zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Vizepräsidentin Claudia Roth: Oh nein, fünf Minuten nicht – 58 Sekunden! Vielen Dank, Herr Kollege Lange. – Ich schließe (Heiterkeit) diese lebhafte und lebendige Aussprache. Die Wette gilt, Herr Holmeier: 50 Liter. Ulrich Lange (CDU/CSU): Ich bitte diejenigen, die der nächsten Debatte nicht (B) 55 Sekunden zu den Daten. – Frau Wilms, passen Sie folgen wollen, die Plätze zu wechseln. (D) mal auf. Wir saßen doch gemeinsam beim NDR. Da ha- ben Sie zu mir gesagt: Wenn es doch wenigstens eine in- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf – liebe Kol- telligente Maut wäre, mit der man steuern und erfassen legen und Kolleginnen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen –: könnte, wie die Menschen auf der Straße unterwegs Beratung des Antrags der Bundesregierung sind! – Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deutscher Streitkräfte an der von den Verein- NEN]: Eben!) ten Nationen geführten Friedensmission in Das ist doch Heuchelei. Wenn man solch ein System ein- Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Re- führt, dann gilt: Big Toni is watching us. solution 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Fol- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – geresolutionen, zuletzt 2155 (2014) vom 27. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mai 2014 NEN]: Dann würde man doch nicht 13 Monate die Daten speichern!) Drucksache 18/3005 Überweisungsvorschlag: – Natürlich! Das wäre die Überwachung à la Grüne. Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verteidigungsausschuss NEN]: Der Dobrindt will doch die Überwa- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe chung!) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Das ist genau die Art, auf die Sie den Menschen vor- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO schreiben wollen, wie sie sich zu bewegen haben. Sie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für wollen den Menschen vorschreiben, was sie zu essen ha- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und ben, wann sie zu fahren haben. Nein, meine Damen und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Herren, so nicht! Das ist heuchlerisch. Die Debatte beginnt Dr. Ralf Brauksiepe, Staatssekre- (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich tär, für die Bundesregierung. [DIE LINKE]: Helau! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. billig, superbillig!) Dr. Karl-Heinz Brunner) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5909

(A) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Auf die bewaffneten Auseinandersetzungen hatte die (C) Bundesministerin der Verteidigung: Mission der Vereinten Nationen im Südsudan unmittel- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen bar reagiert und ihre Lager für alle um Schutz suchenden und Kollegen, wir haben in der Tat jetzt über ein trauri- Südsudanesen geöffnet und damit wahrscheinlich Tau- ges Thema zu reden; denn drei Jahre nach seiner Unab- sende vor dem Tod bewahrt. hängigkeit befindet sich der Südsudan in einer politi- Für dieses schnelle und verantwortungsvolle Han- schen und humanitären Krise, und das trotz des starken deln, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebühren allen Engagements der internationalen Gemeinschaft. Liebe Angehörigen der Mission unsere Anerkennung und un- Kolleginnen und Kollegen, ich betone nicht „wegen“, ser herzlicher Dank. sondern „trotz“ des starken Engagements der internatio- nalen Gemeinschaft. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben es nicht zu verantworten, dass es so ist. Wir haben an vielen Stellen Not und Leid lindern kön- Auch der Sicherheitsrat hat konsequent auf die nen. Das ist auch in Zukunft unsere Aufgabe und unsere Entwicklungen im Südsudan reagiert. In der Sicherheits- Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ratsresolution 2155 sind die Aufgaben von UNMISS deutlich gestärkt und klar auf den Schutz der Zivilbevöl- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kerung ausgerichtet worden. Die Zahl der maximal ein- zusetzenden Soldaten wurde deutlich von bisher 7 000 Seit Dezember 2013 kommt es zu bewaffneten Aus- auf 12 500 angehoben. einandersetzungen zwischen Anhängern des Präsidenten Kiir und des ehemaligen Vizepräsidenten Machar. Der Wie gefährlich dieser Einsatz für die VN-Frie- Konflikt zwischen Regierung und oppositionellen Re- denstruppen ist, wird anhand der Geschehnisse im bellen hat sich auf große Teile des Landes ausgeweitet UNMISS-Lager in Bor am 17. April dieses Jahres und zu großem Leid geführt. deutlich. Dort versuchten bewaffnete Rebellen, das UNMISS-Camp zu stürmen, um Flüchtlinge anzugrei- Über 10 000 Menschen sind ums Leben gekommen. fen. Nur durch den Gebrauch ihrer Waffen konnten die Von den Einwohnern Südsudans mussten mehr als 1,4 Peacekeeper verhindern, dass es zu einer Katastrophe Millionen ihre Häuser verlassen. Sie befinden sich im ei- kam. Das heißt: Nur durch die Entsendung bewaffneter genen Land auf der Flucht. 450 000 Südsudanesen sind Soldaten und die Ausstattung mit einem robusten Man- in die Nachbarländer geflohen. Mehrere Millionen Men- dat durch den Sicherheitsrat kann die Zivilbevölkerung schen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. wirklich wirksam geschützt werden. Das ist eine traurige Entwicklung, wenn man an den Angesichts dieser schwierigen Lage im Südsudan und (B) hoffnungsvollen Aufbruch vor drei Jahren denkt, als der der zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die (D) Südsudan nach einer langen Periode von Auseinander- VN-Friedensmission konfrontiert sieht, ist es deshalb setzungen in die Unabhängigkeit entlassen wurde und umso wichtiger, dass Deutschland einen Teil zur Lösung die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung bestand, des Konflikts beiträgt und sich wie bisher im Rahmen die sich leider bisher nicht erfüllt hat. der Vereinten Nationen engagiert. Wir sind seit Beginn der Mission UNMISS als Bundesrepublik Deutschland Umso wichtiger ist es, dass die internationale Ge- beteiligt. Wir haben uns mit Einzelpersonal in den Füh- meinschaft und Deutschland als ein Teil dieser Gemein- rungsstäben der Mission und mit Verbindungsoffizieren schaft die Menschen im Südsudan unterstützen und hier beteiligt, zuletzt mit 16 Soldatinnen und Soldaten und weiterhin Verantwortung übernehmen. 7 Polizistinnen und Polizisten. Sie verrichten ihren Auf- Die bisherigen Versuche der nordafrikanischen Re- trag häufig abseits der medialen Aufmerksamkeit, aber gionalorganisation IGAD, einen längerfristigen Waffen- hochprofessionell im Sinne der Sache. stillstand und ein Friedensabkommen zu erreichen, wa- Ich möchte allen unseren Soldatinnen und Soldaten ren leider wenig erfolgreich. Weder Präsident Kiir noch sowie den eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bei sein früherer Vize Machar sind derzeit bereit, Zuge- UNMISS meine – und ich hoffe unser aller – Hochach- ständnisse einzugehen und den Konflikt zu lösen. Viel- tung für ihr bemerkenswertes Engagement und für ihre mehr versuchen offensichtlich beide Seiten weiterhin, Professionalität aussprechen. ihre militärische Ausgangslage zu verbessern bzw. eine militärische Konfliktlösung zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Auch wenn inzwischen die bewaffneten Auseinander- GRÜNEN) setzungen zurückgegangen sind, bleibt die Lage im Land nach wie vor angespannt. Gerade die humanitäre und die Mit unserer fortgesetzten Beteiligung im Rahmen von allgemeine Sicherheitslage haben sich im gesamten UNMISS – auch künftig soll die Obergrenze bei 50 Sol- Land massiv verschlechtert. datinnen und Soldaten liegen – setzen wir ein deutliches Zeichen, dass wir bereit sind, unserer Verantwortung in UNMISS nimmt derzeit den Schutz der Zivilbevölke- den VN-Missionen in Afrika weiterhin nachzukommen. rung sowie alle anderen Aufgaben des Mandats unter Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte dafür um Zu- schwierigen Bedingungen so gut wie möglich wahr. stimmung. Knapp 100 000 Menschen sind aktuell in UNMISS-La- Danke. gern untergebracht, wo die VN-Mission für die Sicher- heit der Flüchtlinge garantiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 5910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: des Südsudan und 100 000 von ihnen haben Zuflucht bei (C) Vielen Dank, Herr Kollege Brauksiepe. – Nächster UNMISS gesucht. Redner in der Debatte: Jan van Aken für die Linke. (Zuruf des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der LINKEN) DIE GRÜNEN]) Aber an diesem Punkt haben wir ein echtes Problem: Jan van Aken (DIE LINKE): UNMISS ist bis heute nicht auf die Versorgung von so Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder vielen Menschen eingestellt. Überflutungen, drohende einmal steht die Verlängerung der Teilnahme der Krankheitsausbrüche, Mangelernährung und Gewalt – Bundeswehr am UNMISS-Einsatz im Südsudan auf der all das sind alltägliche Probleme, auf die UNMISS über- Tagesordnung. Wieder einmal werben Sie hier mit viel haupt nicht eingestellt ist, mit der sie überhaupt nicht Schönrednerei, aber auch mit einer gehörigen Portion umgehen kann. Selbsttäuschung, Herr Brauksiepe, um Zustimmung. Unsere Zustimmung werden Sie dafür allerdings nicht Als Reaktion auf die Eskalation im letzten Dezember bekommen. haben Sie das Mandat deutlich verändert: mehr Solda- (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens ten, weniger Staatsaufbau. Wir lehnen diesen Fokus auf [CDU/CSU]: Na, Gott sei Dank!) das Militärische einfach ab. Sie weisen hier auf die vielen Probleme, die es im (Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger Südsudan gibt, aber auch auf die Schwierigkeiten bei der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so zy- Beendigung von Gewalt und auf den notwendigen nisch! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das Friedensprozess hin. Aber eine Sache blenden Sie alle wissen wir doch!) völlig aus, nämlich die Tatsache, dass UNMISS das völ- Die UNO sitzt im Südsudan mittlerweile zwischen al- lig falsche Instrument war und ist, um die Krise im len Stühlen: Die Regierung wirft UNMISS vor, die Op- Südsudan zu bewältigen. position zu unterstützen, unter anderem dadurch, dass sie (Beifall der Abg. Christine Buchholz [DIE auch Rebellen in den Flüchtlingslagern unterbringt. Die LINKE]) Rebellen wiederum werfen UNMISS vor, die Regierung zu unterstützen und Regierungstruppen per Hubschrau- UNMISS war von Anfang an ein Mandat mit Schieflage. ber zu transportieren. Das ging so weit, dass sie sogar ei- Die Mission wurde 2011 eingerichtet, um die südsudane- nen UNMISS-Hubschrauber abgeschossen haben. Und sische Regierung dabei zu unterstützen, Stabilität zu die Zivilbevölkerung hat überhaupt kein Vertrauen mehr schaffen und den Friedensprozess voranzubringen. Das (B) in UNMISS, weil UNMISS sie eben nicht vor den Ge- (D) hatte aber von vornherein zwei ganz große Haken. walttaten der Regierungstruppen schützt. Erstens. Stabilität und Frieden können nicht militä- (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- risch erkämpft werden, sondern nur durch eine aktive NEN]: Sie hat 100 000 Leute beschützt!) Friedenspolitik, durch Dialog, durch soziale, durch wirt- schaftliche Entwicklung erreicht werden. Das ist das große Drama von UNMISS im Moment. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Die Rede hal- Anstatt jetzt so weiterzumachen und sich wieder ein- ten Sie immer!) mal mit ein paar Soldaten und ein paar Polizisten aus der Zweitens gibt es ein ganz zentrales Problem: Die Verantwortung zu stehlen, sollte die Bundesregierung südsudanesische Regierung unter Salva Kiir ist, damals endlich einmal wirklich Verantwortung übernehmen. Da wie heute, Teil des Problems im Südsudan. Sie selbst ist können Sie vieles tun und auch viel Gutes tun: eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung Erstens. Warum unterstützen Sie eigentlich nicht die im Sudan. Forderung von 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen (Beifall bei der LINKEN) nach einem vollständigen Waffenembargo? Waffen und Munition kommen immer noch in dieses Land, auch di- Bis heute jedoch braucht UNMISS für jeden einzelnen rekt an die südsudanesische Regierung. Machen Sie sich Schritt die Genehmigung genau dieser südsudanesischen doch als Bundesregierung diese Forderung zu eigen! Regierung. Das kann nicht funktionieren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wollen Sorgen Sie dafür, dass der Zufluss an Waffen und Muni- Sie ein robusteres Mandat?) tion in den Südsudan gestoppt wird! Unter den Augen von mehreren Tausend UN-Solda- Zweitens. Stärken Sie die zivilgesellschaftlichen Or- ten und Zivilpersonal eskalierte im letzten Dezember die ganisationen im Südsudan! Die gibt es; die gibt es im- Situation aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Regie- mer noch. Es ist doch gerade die Jugend im Südsudan, rung. Seitdem kämpfen abtrünnige Milizen gegen die die die Zukunft darstellt. Diese Jugend brauchen wir in Zentralregierung. Mittlerweile sind 3,5 Millionen Men- Zukunft. Diese Jugend braucht auch jetzt internationale schen im Südsudan auf humanitäre Hilfe angewiesen, Unterstützung. 450 000 Menschen sind in Nachbarstaaten geflohen, 1,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht innerhalb (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5911

Jan van Aken (A) Drittens und letztens. Vergessen Sie nicht, dass der Konflikt zu einem Bürgerkrieg zwischen zwei Ethnien, (C) Bürgerkrieg nicht überall ist. Unterstützen Sie doch vor den Nuer und den Dinka, geworden, der die Gesellschaft allem die Regionen, in denen momentan nicht gekämpft des Südsudan zerrissen hat. wird, in denen auch die Dinka und die Nuer, die ver- Die Folgen: Hunderttausende Menschen sind inner- schiedenen Volksgruppen, friedlich zusammenarbeiten. halb des Landes auf der Flucht, und viele Ausländer ha- Wenn die Unterstützung dieser Regionen ein Erfolg ben das Land verlassen. Hunger geht um und bedroht wird, wenn in diesen Regionen Entwicklung funktio- nach Oxfam-Schätzungen bis zu 2 Millionen Menschen. niert, dann können sie beispielgebend für den ganzen Vergewaltigungen und der Einsatz von Kindersoldaten Südsudan sein. sind alltäglich geworden. Gleichzeitig wird der Südsu- Deshalb sage ich Ihnen: Sie können im Südsudan im dan massiv beeinflusst von den Interessen größerer Moment sehr viel Gutes tun. Das Militärische gehört Nachbarstaaten, was eine diplomatische Lösung nicht nicht dazu. unbedingt erleichtert. (Beifall bei der LINKEN) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland diese Entwicklung entsprechend reagiert und den Fokus keine Waffen exportieren sollte, natürlich auch nicht in von UNMISS in der Resolution 2155 angepasst: Der den Südsudan. Auftrag von UNMISS ist nun verstärkt der bessere Schutz von Zivilisten, von Flüchtlingen, von humanitä- (Beifall bei der LINKEN) ren Helferinnen und Helfern. Die Zahl der Blauhelmsol- daten im Land wird auf 12 500 erhöht. Damit bewegt Vizepräsidentin Claudia Roth: sich UNMISS vom ursprünglichen Auftrag, festgelegt in Vielen Dank, Herr Kollege van Aken. – War das jetzt der Resolution 1996, ein gutes Stück weit weg. Nach eine Wortmeldung? dieser Resolution sollte UNMISS nämlich der Unterstüt- zung des Südsudans beim Aufbau staatlicher Institutio- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen dienen. Dass dieser Wechsel notwendig geworden NEN]: Nein!) ist, ist zutiefst bedauerlich. Dass auf eine verschlechterte – Gut. Ich glaube, Sie hätten sich deutlicher gemeldet. Situation reagiert wird, ist allerdings nachvollziehbar. Ich wusste nicht, ob die Handbewegungen etwas zu be- Die Verschiebung der Konfliktlinie auf die Ebene der deuten hatten. ethnischen Zugehörigkeit erschwert die Konfliktbewälti- (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist im- gung in besonderer Weise. Selbst wenn es zu einem poli- mer so bei dem!) tischen Friedensschluss kommt, werden die zwischen (B) den Volksgruppen aufgerissenen Gräben noch lange (D) Gut. Offensichtlich war das keine Wortmeldung. wahrgenommen werden. Zu viel Blut ist dafür mittler- Nächster Redner: Thomas Hitschler für die SPD. weile geflossen. So wurde erst im April dieses Jahres – der Staatssekretär hat es berichtet – ein Lager der Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einten Nationen in der Stadt Bor angegriffen. In diesem der CDU/CSU) Lager lebten 5 000 Flüchtlinge, als eine Gruppe von Männern, die vorgeblich eine Friedenspetition überge- Thomas Hitschler (SPD): ben wollten, plötzlich das Feuer auf unbewaffnete Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Männer, Frauen und Kinder eröffnete. Dabei starben Kollegen! Wir beraten heute über eine deutsche Beteili- 48 Menschen. Und diese Menschen, liebe Kolleginnen gung an einer Mission der Vereinten Nationen. Eine und Kollegen, glaubten sich bereits in Sicherheit. Auch Mission in einem Konflikt, der in der öffentlichen Wahr- diese neue Form der Brutalität zwingt uns dazu, weiter- nehmung wenig präsent ist, der es nicht in die alltägli- hin Verantwortung zu übernehmen. chen Schlagzeilen schafft, aber dennoch so grausam ist Meine Damen und Herren, ein Abflauen der Kampf- und unglaubliches menschliches Leid verursacht. Ein handlungen im Südsudan, wie es in den vergangenen Konflikt, bei dem auch wir Verantwortung übernehmen Wochen feststellbar war, zeigt nach Einschätzung der müssen. Mehrzahl der Experten leider keine Entspannung der Die Geschichte des Südsudan ist keine friedliche; Situation. Dies ist vielmehr jahreszeitlich bedingt. Die aber gerade in den letzten Jahren waren Hoffnungen und Regenzeit hat Teile des Landes unpassierbar und für fürchterliches Leid eng beieinander. Was als Auseinan- größere militärische Kampagnen ungeeignet gemacht. dersetzung zwischen Präsident und Vizepräsident ange- Aber die Regenzeit endet in diesem Monat. fangen hat, hat sich schnell militarisiert, als sich Teile Vor diesem Hintergrund, Kolleginnen und Kollegen, der Streitkräfte auf verschiedene Seiten geschlagen ist unsere Aufgabe am heutigen Abend, über eine Ver- haben. In der Folge steht der Südsudan, dieser junge längerung des Mandats zur deutschen Beteiligung an Staat, der 2011 in die UN-Familie aufgenommen wurde, UNMISS zu entscheiden. Mit unserem deutschen Bei- derzeit dem Scheitern näher als der erfolgreichen Staats- trag übernehmen wir dabei Verantwortung. Derzeit tra- bildung. gen 16 Soldaten und 7 Polizisten vor Ort zum Schutz Perfiderweise wurden politische Konflikte mittler- von Zivilpersonen und humanitären Helferinnen und weile auf die Ebene des Zusammenlebens unterschiedli- Helfern bei. Dabei handelt es sich nicht um kämpfende cher Volksgruppen verschoben. Und inzwischen ist der Einheiten, sondern um solche, die Führungs- und Unter- 5912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Thomas Hitschler (A) stützungsaufgaben wahrnehmen und ihren internationa- Gerade wir Europäer können auch in diesem Jahr deut- (C) len Kameradinnen und Kameraden bei technischer Aus- lich bestätigen, wie wichtig ein solcher Prozess ist. stattung und Ausbildung helfen. All dies muss geleistet werden, damit die Menschen Die Kosten für diesen Einsatz – für das kommende im Südsudan eine Zukunft haben, an der sie arbeiten Kalenderjahr auf etwa 1 Million Euro beziffert – sind zu können, anstelle einer Gegenwart, in der sie kämpfen vernachlässigen angesichts dessen, was durch UNMISS müssen. Dafür braucht es zunächst jedoch Sicherheit erwirkt werden kann und was UNMISS in der Tat bereits und Stabilität. Hier sind wir an dem Punkt angekommen, geleistet hat. wo unsere Zustimmung zum Mandat wichtig wird. Was militärisches Engagement nämlich leisten kann und der- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeit dringend leisten muss, ist der Schutz der Bevölke- der CDU/CSU) rung, die allein durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Ich bin dem deutschen Kontingent für die Erfüllung Volksgruppen unfreiwillig zu Bürgerkriegsparteien der dortigen Aufgabe sehr dankbar. Sie sind nicht nur geworden sind. Diese Menschen haben sicher kein Inte- umgeben von schrecklichem menschlichen Leid, son- resse daran, dass ihr gerade einmal drei Jahre altes dern arbeiten dort gemeinsam mit vielen anderen Natio- Heimatland verwüstet und auseinandergerissen wird. Für nen daran, ein Land aufzubauen, das eine gute Zukunft diese Menschen wollen wir gemeinsam mit anderen mehr als verdient hat. Lassen Sie uns mit der heutigen Nationen eine Umgebung errichten, in der ein friedvol- Entscheidung auch ein Signal der Unterstützung für die les Zusammenleben möglich ist. Polizisten und Soldaten vor Ort geben. Das haben sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nach derzeiti- mehr als verdient, liebe Kolleginnen und Kollegen. gem Stand nicht wahrscheinlich, dass der Konflikt im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Südsudan den Rest der Region in Flammen setzt. Die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Welt der Menschen im Südsudan selbst steht aber bereits GRÜNEN) in Flammen. Auch für diese Menschen bitte ich heute um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für Wir alle wissen – da stimme ich Herrn van Aken zu –, den deutschen Beitrag zu UNMISS. Ein Sprichwort aus dass militärisches Engagement diesen Konflikt nicht be- der Region lautet: Die beste Zeit, einen Baum zu pflan- enden wird. Die Ursachen des Konflikts sind viel zu dif- zen, war vor 20 Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt. ferenziert, historisch zu tief verwurzelt und regional zu weit verteilt. Zur Lösung des Konflikts sind diplomati- Vielen Dank. sche Initiativen, die auch auf die Anrainerstaaten des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Südsudan und deren Partikularinteressen eingehen, sehr der CDU/CSU) (D) notwendig. Zu einer dauerhaften Verbesserung der Lage der Menschen im Südsudan ist der Aufbau eines funktio- Vizepräsidentin Claudia Roth: nierenden und demokratischen Staatswesens, ja von In- Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Hitschler. – stitutionen und Strukturen notwendig. Diese müssen Nächster Redner in der Debatte: Dr. Frithjof Schmidt für kommen, und dazu wird auch unser Land einen wichti- Bündnis 90/Die Grünen. gen Beitrag leisten. Davon bin ich fest überzeugt.

Für mich ist die Beteiligung an dieser Mission auch Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein gutes Beispiel. Die Beteiligung zeigt, was mit den NEN): schwierigen Worten „Verantwortung in der Welt“ ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! meint sein kann. Dies bedeutet eben nicht nur mehr Die Vereinten Nationen stufen die Lage im Südsudan als Kampfeinsätze, sondern vor allem humanitäre Verant- eine der vier schwersten humanitären Krisen auf dieser wortung, Welt ein. Gemeinsam mit Syrien, dem Irak und der Zen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tralafrikanischen Republik gilt der Südsudan als soge- nannter Level-3-Notfall. Das ist die höchste Alarmstufe Unterstützung beim Aufbau von Staaten und Hilfe zur der UNO. Insofern ist es unabdingbar, dass die UNO in Selbsthilfe sowie gleichzeitig – das darf auch nicht ver- einer solchen Situation interveniert. nachlässigt werden – Schutz von Menschen, die Hilfe geben wollen. Auch deshalb bitte ich Sie, der Mandats- Es ist auf der anderen Seite erschreckend, dass der verlängerung zuzustimmen. Südsudan schon fast wieder aus dem Fokus der interna- tionalen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit verschwun- Erlauben Sie mir, einen letzten Aspekt hinzuzufügen. den ist. Man nennt das den CNN-Effekt: Wenn CNN Die Bevölkerung im Südsudan hat ein Trauma erlitten, nicht mehr berichtet, dann haben wir es mit einer schon dessen Folgen noch in Generationen spürbar sein wer- fast wieder vergessenen Krise zu tun. Vergegenwärtigen den. Daher müssen die Menschen, die unter diesem Sie sich einmal die Berichterstattung: Das Thema Konflikt gelitten haben, dringend auch Zugang zu Be- kommt eigentlich fast nicht mehr vor, obwohl sich seit treuungsmechanismen bekommen, welche helfen, die Dezember ein Bürgerkrieg entwickelt hat. Die Zahlen zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen. Institutionen sind genannt worden: Knapp 1,9 Millionen Menschen der Aussöhnung zwischen den Ethnien und den Bürger- wurden vertrieben oder mussten in die Nachbarstaaten kriegsparteien müssen gebildet und unterstützt werden, flüchten. 3,8 Millionen Menschen sind schon auf huma- um zu verhindern, dass aus Feindschaft Tradition wird. nitäre Hilfe angewiesen. Es fehlt am Nötigsten. Und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5913

Dr. Frithjof Schmidt (A) UNICEF warnt davor, dass in den nächsten Monaten al- Dafür und auch für das vorliegende Mandat für die (C) lein 50 000 Kinder vom Hungertod bedroht sind. Bundeswehr haben Sie unsere politische Unterstützung. Deswegen kann man die Arbeit der Vereinten Natio- Danke für die Aufmerksamkeit. nen nicht hoch genug einschätzen. Man muss klar sagen: UNMISS leistet vor Ort einen unverzichtbaren Beitrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verteilung der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und humanitären Hilfe. der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Claudia Roth: und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Vielen Dank, Frithjof Schmidt. – Letzter Redner in CDU/CSU) dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU- Ja, es stimmt, auch UNMISS hat große Probleme. Ja, Fraktion. es stimmt, UNMISS schafft es leider nicht, alle Flücht- (Beifall bei der CDU/CSU) linge zu schützen. Gerade auch in Bezug auf die von den Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei vorge- brachten Argumente möchte ich sagen: Fakt ist, mehr als Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): 100 000 Flüchtlinge sind in UNMISS-Camps geflüchtet Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol- und haben dort Schutz gefunden. leginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Frithjof Schmidt ausdrücklich dankbar, nicht nur für seine Anre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung hinsichtlich der Obergrenzen, sondern auch dafür, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dass hier im Hause ein sehr breiter Konsens für das CDU/CSU) UNMISS-Mandat vorhanden ist. Dafür danke ich aus- Das alleine ist doch Grund genug für eine Fortsetzung drücklich Ihrer Fraktion. dieses Einsatzes. Insofern ist es notwendig, diesem Ein- Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 8. Juli satz zuzustimmen. Ich kann nur sagen: Ein Abzug oder 2011 wurde das UNMISS-Mandat von den Vereinten auch nur eine Schwächung von UNMISS hätte grauen- Nationen beschlossen. Das war einen Tag vor der Unab- volle Konsequenzen für diese Menschen. hängigkeit des Südsudan. Es ist außergewöhnlich selten, Natürlich wird UNMISS alleine keine dauerhafte Lö- dass die Vereinten Nationen ein Mandat vor der Grün- sung erreichen. Klar ist, ein Ende der Krise und das Ende dung eines Staates ins Leben rufen. Das zeigt auch, wie ernst die Vereinten Nationen diese Staatenbildung neh- (B) der Gewalt können nur durch einen politischen Prozess, (D) der alle Konfliktparteien mit einbezieht, herbeigeführt men. Ich erinnere mich noch sehr intensiv, mit welcher werden. Dabei ist auch die Bundesregierung gefordert. Ernsthaftigkeit wir – die eine oder andere Kollegin und Sie muss sich energisch dafür einsetzen, dass der UN-Si- der eine oder andere Kollegen und ich – im Unteraus- cherheitsrat endlich ein Waffenembargo beschließt. Die schuss für Zivile Krisenprävention im Jahr 2011 die Tei- Europäische Union ist dabei soeben vorangegangen, und lung des Sudan verfolgt haben, mit welchen Befürchtun- die UNO sollte folgen. gen wir das damals beraten haben. Ich muss sagen: Viele der Befürchtungen sind eingetreten. Dass es uns aber ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lungen ist, ein Mandat – auch von deutscher Seite – be- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- reits im Jahr 2011 einzurichten, zeugt von der Hand- KEN) lungsfähigkeit des Bundestages, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Vereinten Nationen beklagen außerdem seit lan- gem einen eklatanten Personalmangel. Wir sollten also Ich möchte deshalb auch klarstellen, dass das, was prüfen, ob wir die Mandatsobergrenze nicht ausschöpfen hier heute von der Linkspartei vorgestellt wurde, können. Auch im Bereich der Polizei sollten wir die An- schlichtweg falsch ist. Die Vereinten Nationen verfolgen strengungen deutlich verstärken. Die UNO ist da in ihren hier kein militärisches Mandat, sondern Militär leistet Bitten und Wünschen sehr deutlich. Unterstützung im Rahmen eines ganzheitlichen Ansat- zes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist doch ein Doch vor allem sollte Deutschland noch mehr Verant- neuer Sicherheitsratsbeschluss, oder?) wortung bei der Bekämpfung der humanitären Krise übernehmen. Die Vereinten Nationen rechnen für dieses Ich will das auch von der deutschen Seite her deutlich Jahr mit Kosten von 1,8 Milliarden US-Dollar für huma- machen. Die militärische Seite des Mandats kostet uns nitäre Nothilfe im Südsudan. Davon sind gerade einmal etwa 1 Million Euro; zumindest wurde das in den Haus- 62 Prozent finanziert. Deutschland stellt dafür im Au- haltsberatungen für 2015 veranschlagt. Zeitgleich wen- genblick 16,6 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist den wir 40 Millionen Euro auf für humanitäre Hilfe, für deutlich weniger als das, was Großbritannien, Japan oder Nothilfe im Bereich des Welternährungsprogramms und Dänemark zur Verfügung stellen. Ich finde, hier kann für die Unterstützung von NGOs. Ein Verhältnis von und muss unser Land mehr leisten. 1 zu 40! Nennen Sie mir einen Einsatz, wo dieses Ver- hältnis noch einmal erreicht wird! Ich sage, hier wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausdrücklich deutlich, dass die Bundesrepublik Deutsch- 5914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Roderich Kiesewetter (A) land den Schwerpunkt ihrer Förderung eindeutig auf die Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) zivile Unterstützung legt. Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich schließe die sehr intensive und sehr nachdenkli- che Aussprache. Da wir heute nicht abstimmen, sondern Was leisten wir Deutsche noch? Ich möchte hier die interfraktionell beschlossen worden ist, die Überweisung Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung an- der Vorlage auf Drucksache 18/3005 an die in der Tages- sprechen, die im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet ordnung aufgeführten Ausschüsse vorzunehmen, gehe worden sind. Klar, sie sind ein erster Schritt, sie umfas- ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Das sen gerade einmal 17 Seiten, aber sie machen eines deut- ist der Fall. Dann ist damit die Überweisung beschlos- lich: Wir wollen die Eigenverantwortung Afrikas stärken sen. und auf der anderen Seite gute Regierungsführung unter- stützen. Bevor ich den Tagesordnungspunkt 13 aufrufe, bitte ich darum, die Plätze zügig zu wechseln. Auch Ihnen Afrika ist ein Kontinent, der ungeheuer im Umbruch wünsche ich noch einen schönen Restabend. ist. Zurzeit leben in Afrika etwas mehr als 1 Milliarde Menschen. Zum Ende dieses Jahrhunderts sollen dort (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die kommen knapp 4 Milliarden Menschen leben, mehr als dreimal so wieder!) viele wie jetzt. Wie wollen wir denn dafür Sorge leisten, – Ja, wir sehen uns gleich wieder. wenn nicht dadurch, dass wir bereits jetzt im Sinne die- ser Leitlinien mit der Stärkung der Eigenverantwortung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: und der Stärkung der jeweiligen Zivilgesellschaften be- Beratung der Beschlussempfehlung und des ginnen? Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Die Afrikapolitischen Leitlinien verweisen ausdrück- Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- lich auch auf den Südsudan; aber sie reichen natürlich geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, bei weitem nicht aus. Deshalb rege ich an, dass wir auch Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und im Rahmen des Weißbuch-Prozesses stärker den Fokus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darauf richten, mit welchen Partnern wir zusammenar- Kündigung des bilateralen Atomabkommens beiten wollen. Wir müssen in Afrika die Partner – sei es mit Brasilien in der Zivilgesellschaft, sei es in den Regierungen –, die unterstützend wirken, stabilisieren. Dazu dienen einer- Drucksachen 18/2610, 18/2907 seits die Einsätze; viele Einsätze der Bundeswehr wer- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (B) den in diesen Regionen durchgeführt. Zum anderen ge- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre, ich (D) hen auch unterstützende Leistungen, wie wir sie bei sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ebola erleben, eindeutig in diese Richtung. Ich gebe das Wort der ersten Rednerin in der Debatte, Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle- Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. ginnen und Kollegen, lassen Sie deshalb auch Afrika Teil unserer strategischen Überlegungen im Weißbuch- (Beifall bei der SPD) Prozess werden. Hier geht es auch darum, welche Auf- gaben wir beispielsweise im Südsudan erfüllen wollen, Dr. Nina Scheer (SPD): wie wir die regionale Einbindung des Südsudans sichern Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen wollen, im Übrigen auch, wie wir die rund 75 Prozent und Kollegen! Schon zum zweiten Mal in dieser Legisla- Christen unter den 11 Millionen Einwohnern vor einem turperiode haben wir dieses doch wichtige Thema auf zunehmenden Salafismus, zunehmenden Islamismus der Tagesordnung: eine Überprüfung der bilateralen auch im afrikanischen Raum schützen können. Atomabkommen, nun den Fall des deutsch-brasiliani- schen Abkommens. Ich möchte an dieser Stelle wieder- Ein Letztes. Am Sonntag feiern wir den 25. Jahrestag holen, dass ich es wichtig finde, dass die Atomabkom- des Mauerfalls. Die Barrieren heute sind außerhalb men auf den Prüfstand kommen. Es ist an dieser Stelle Europas. Wir müssen alles dafür tun, dass die Barrieren aber auch festzustellen, dass es uns nicht gelingen wird, außerhalb Europas nicht zu einer neuen Mauer werden. Ihrem Antrag dahin gehend zu entsprechen, dass (Zurufe von der LINKEN) Deutschland eine Kündigung dieses Vertrages herbei- führt. Dazu möchte ich Folgendes ausführen. Nehmen wir Deutsche den 25. Jahrestag des Mauerfalls Es steht fest, dass wir aus heutiger Sicht das 1975 ge- zum Anlass, auch darüber nachzudenken, wie wir als schlossene Atomabkommen so nicht mehr gutheißen Europäer aktiv daran mitwirken können, dass Afrika können. Es stammt aus einer Zeit, in der Deutschland nicht ein Kontinent der Abschottung wird, sondern ein noch nicht den Atomausstieg beschlossen hatte, und ist Kontinent der Teilhabe. Das ist Sicherheitspolitik von natürlich in diesem Lichte zu sehen. Konsequenterweise morgen. muss natürlich eine Betrachtung des Atomabkommens Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. aus heutiger Sicht zu der Einsicht führen, dass es so nicht aufrechterhalten werden kann bzw. überprüft wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den muss. Ich schließe allerdings auch daraus, dass man neten der SPD) in der Gemengelage, in der wir stecken, den Blick auf Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5915

Dr. Nina Scheer (A) Elemente des Atomabkommens richten sollte, die mögli- den. Dieser Atomvertrag war zu Beginn der 80er-Jahre (C) cherweise beinhalten könnten, einen Informationsfluss für rund ein Drittel der brasilianischen Auslandsschul- mit Brasilien aufrechtzuerhalten und damit einen Rah- den verantwortlich und führte mithilfe einer deutschen Her- men zu gewinnen, wodurch dazu beigetragen werden mesbürgschaft zum Bau des Atomkraftwerks Angra 2, das kann, mit den Folgelasten von Atomenergienutzung in weniger als 2 Prozent aller in Brasilien erzeugten Elektrizi- Brasilien verantwortlich umzugehen. tät produziert, obwohl es 14 Milliarden US-Dollar gekostet hat. Siemens/KWU freute sich damals über den Milliarden- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auftrag. Es war ein „Bombengeschäft“, wie es damals NEN]: Was für ein Unsinn!) wörtlich hieß. Ich weiß nicht, ob dies der Inhalt eines abzuändernden Stets hatten Kritikerinnen und Kritiker gemahnt, das und anzupassenden Atomabkommens sein könnte und brasilianische Militär habe versucht, mittels Urananrei- ob so etwas Bestand haben könnte. Wenn das aber mög- cherung in den Besitz von Atombomben zu gelangen. lich wäre, dann müssen wir uns dem stellen. Insofern Nach dem Übergang zur Demokratie Anfang der 90er- finde ich es wichtig, dass ein regierungsinterner Aus- Jahre bestätigte die brasilianische Regierung dies indi- tausch darüber stattfindet, ob nicht dieses Atomabkom- rekt durch bestimmte Äußerungen. Auch das muss man men und auch andere Atomabkommen dahin gehend wissen, weil die Rolle des Militärs in Brasilien immer überarbeitet werden müssen. Wenn man in einem ent- noch sehr stark ist. sprechenden Abstimmungsprozess zu einem Ergebnis gekommen ist, sind daraus dann auch die richtigen Kon- Sehr geehrte Damen und Herren, die Linke meint: sequenzen zu ziehen. Ich plädiere dafür, dass dieser Aus- Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomförde- tausch offen geschieht. Offen heißt auch, dass mögli- rung im Ausland passen nicht zusammen. cherweise weitere Kündigungen in Betracht gezogen werden müssen. Wir haben in der Vergangenheit auch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten schon einmal eine Kündigung vorgenommen. Aber die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wahrheit ist auch, dass unter Rot-Grün nur ein einziges Deutschland verweist gern auf den Atomausstieg. Bis Atomabkommen gekündigt wurde. Wir haben, wenn ich 2022 sollen alle kommerziellen Reaktoren abgeschaltet das jetzt richtig zusammenzähle, 183 Atomabkommen. werden. Das ist aber leider nur die halbe Wahrheit. All das ist, wie gesagt, bis heute nicht abschließend Deutschland ist weiter ein Atomstaat. Nach 2022 wird geklärt. Insofern hoffe ich, dass wir zu einer Klärung weiter Uran aus aller Welt nach Deutschland geliefert, wie kommen; denn den Status quo aufrechtzuerhalten finde es auch jetzt immer noch der Fall ist. In den Anreicherungs- ich wie Sie nicht gut. anlagen in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen wird das radioaktive Material weiterverarbeitet und ange- (B) Vielen Dank. reichert. Auch aus Brasilien treffen dort nach wie vor Liefe- (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. rungen ein, nach wie vor. Das geschieht auf Basis des Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Atomabkommens von 1975, das weiterhin in Kraft ist. Wer ankündigt, sich im eigenen Land aus der Atom- Vizepräsidentin Claudia Roth: kraft verabschieden zu wollen, sollte keine doppelten Danke, Frau Kollegin Scheer. – Nächster Redner in moralischen Standards anwenden und kann deswegen der Debatte: Hubertus Zdebel für Die Linke. auch nicht weiter den Ausbau der Atomkraft im Ausland unterstützen. Das ist nicht länger hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Hubertus Zdebel (DIE LINKE): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition will aber an dem deutsch-brasi- Das Atomabkommen zwischen Deutschland und Brasi- lianischen Abkommen festhalten. Deutschland und deut- lien wurde vor nunmehr 39 Jahren während der Militär- sche Konzerne sollen im internationalen Atomgeschäft diktatur in Brasilien unterzeichnet. Alle fünf Jahre ver- weiter mitmischen können. Das finden wir auch völlig längert sich der Vertrag automatisch um weitere fünf unakzeptabel. Jahre, solange ihn keiner der zwei Staaten kündigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zum 18. November dieses Jahres, also in einigen Ta- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen, könnte die Bundesregierung das Abkommen per diplomatischer Note kündigen. Es würde dann zum Besonders schwierig und opportunistisch finde ich 18. November nächsten Jahres auslaufen. Das sind die das Verhalten der SPD an dieser Stelle. Ich habe nicht Fakten. vergessen, dass sich die SPD in der vergangenen Legis- laturperiode und auch schon vorher, als sie in der Oppo- Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975, sition war, dafür starkgemacht hat, dass keine Hermes- das nach wie vor in Kraft ist, sieht sowohl die Gewin- bürgschaften für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in nung und Aufbereitung von Uranerzen als auch die Her- Brasilien erteilt werden – teilweise mit gutem Erfolg. stellung von Kernreaktoren und die Urananreicherung Jetzt, wo Sie wieder mit der CDU/CSU in der Regierung vor. Es ist also in dem Sinne ein Atomförderungsabkom- sind, machen Sie wieder alles mit. Das finden wir extrem men. Insgesamt acht Atomkraftwerke, eine Urananrei- opportunistisch. cherungsanlage und eine Wiederaufbereitungsanlage sollten in Brasilien mit deutscher Technik gebaut wer- (Beifall bei der LINKEN) 5916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Hubertus Zdebel (A) Deshalb fordert die Linke ganz klar: Das deutsch-bra- Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben (C) silianische Abkommen zur Förderung von Atomenergie das Abkommen nicht genau gelesen. Sie haben sich auf muss gekündigt werden, und zwar sofort. Wir werden Fakten aus den 80er-Jahren gestützt. Wir schreiben aber den Antrag der Grünen unterstützen und entsprechend das Jahr 2014. die Beschlussempfehlungen der Ausschüsse ablehnen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerk- GRÜNEN]: Ja, eben!) samkeit. Wenn Sie das alles nicht so schnell nachvollziehen kön- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nen, kann ich Ihnen zwar nicht helfen. Aber ich kann Ih- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen versichern, dass sich die Welt seit den 80er-Jahren weitergedreht hat, vielleicht bei Ihnen im Kopf nicht. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in Welche Folgen hätte es, wenn wir dieses Abkommen der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Andreas kündigen würden? Das würde bedeuten, dass die ge- Lämmel. samte bilaterale Zusammenarbeit mit Brasilien aufge- (Beifall bei der CDU/CSU) kündigt würde. Auf dem diplomatischen Parkett würde die Frage gestellt werden, warum wir ein Abkommen mit einem demokratischen Staat kündigen. Brasilien hat Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): – anders als es früher zu Ihrer Zeit in der DDR üblich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und war – gerade erst seine Präsidentin wiedergewählt. Bra- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü- silien ist ein demokratisches Land. nen, die Strategie, die Sie mit Ihrem Antrag der Bundes- republik Deutschland empfehlen, nämlich die Kündi- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gung des Atomvertrages mit Brasilien, ist genauso falsch Als das Abkommen geschlossen wurde, herrschte wie die Entscheidung, sich jetzt mit den Linken in Thü- dort eine Militärdiktatur!) ringen in ein Boot zu setzen. – Ja, aber das ist schon 30 Jahre her. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt noch der Mauerfall!) Warum sollen wir ein Abkommen aufrechter- Das Boot wird absaufen, und Sie werden Mühe haben, halten, das mit der Militärdiktatur geschlossen den Untergang zu überleben. worden ist? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN]: Sie halten immer noch an (D) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dem Abkommen mit einer Militärdiktatur Haben wir ein Abkommen mit Thüringen? Ra- fest!) dioaktive Bratwürste!) – Das hat doch damit nichts zu tun. Sie können sich ru- Deswegen werden wir nicht den Fehler machen, aus dem hig ereifern. Sie können dann, wenn Sie Ihre Rede hal- Abkommen mit Brasilien auszusteigen, und zwar aus ten, alles in Ruhe darlegen. verschiedenen Gründen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Lan- Wir wollen Ihnen nur helfen!) des über seinen Energiemix. Wie Sie sicherlich sehr ge- Wir sind jedenfalls der Auffassung, dass uns dieses nau wissen, hat die Atomenergie in Brasilien nur einen Abkommen die Möglichkeit bietet, auf Expertenebene verschwindend geringen Anteil an der Stromerzeugung. Einfluss zu nehmen. Die deutschen Atomkraftwerke (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE sind nach wie vor die sichersten der Welt. GRÜNEN]: Eben!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weltweit werden 436 Atomkraftwerke betrieben. Deutschland verfügt über ein enormes Know-how und 70 weitere sind geplant. Nun stellt sich die Frage, wer enorme Erfahrungen auf dem Gebiet der Sicherheit und diese 70 Atomkraftwerke plant und baut. Deutschland der Entsorgungstechnologie. Wir wären doch verrückt, unterstützt jedenfalls nirgendwo in der Welt den Bau von wenn wir nicht die Möglichkeiten, die uns dieses Ab- Atomreaktoren. kommen bietet, nutzen würden, unser Know-how und unsere Erfahrungen den Brasilianern beim Betrieb der Das bilaterale Abkommen mit Brasilien ist eines von Atomkraftwerke bzw. bei der Aufrüstung der sicher- fast 190 Abkommen, die die Bundesrepublik Deutsch- heitstechnischen Anlagen zu vermitteln. land mit vielen Ländern in der Welt geschlossen hat. Dieses Abkommen stellt also überhaupt keine Besonder- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heit dar, sondern es ist eines unter vielen. Die Bundesre- Sie wollen auch noch aufrüsten! Es wird im- publik Deutschland hat allein mit Russland 16 bilaterale mer schlimmer!) Abkommen geschlossen. Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: den Koalitionsvertrag mit den Linken in Thüringen kün- Diese sollten wir auch kündigen!) digen würden, hätten Sie nichts mehr zu sagen; da kön- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5917

Andreas G. Lämmel (A) nen Sie reden, wie Sie wollen. Genauso verhält es sich lich gelesen haben. Trotzdem – vielleicht auch in der (C) mit dem Abkommen mit Brasilien. Wenn man ein sol- Hoffnung, dass wir nicht vollkommen aneinander vor- ches Abkommen kündigt, hat man praktisch keinen Part- beireden – will ich Ihnen ein Stück daraus zitieren: ner mehr, mit dem man sprechen kann. Begründet wurde der Atomausstieg 2011 von der Man sollte ruhig einmal einen Blick in das Abkom- damaligen Bundesregierung unter der heute noch men werfen. Sie verschweigen, dass aus diesem Abkom- amtierenden Bundeskanzlerin mit dem Risiko, das men überhaupt keine Verpflichtungen für Deutschland der Gesellschaft nach Fukushima nicht mehr zu- entstehen. Es gibt keine Verpflichtung, den Brasilianern mutbar sei. Wenn diese Begründung ernst gemeint in schwierigen Fällen zu helfen. Es handelt sich viel- war, dann ergeben sich aus ihr weitere Aufgaben: mehr um ein Abkommen, das gewährleistet, dass man sich mit allen Möglichkeiten dafür einzusetzen, sich auf Expertenebene zu speziellen Fragen, die sich dass dieses Risiko auch anderen Gesellschaften von Zeit zu Zeit stellen, austauscht. Aus diesem Grunde nicht länger zugemutet wird. haben sich mehrfach deutsche Mitarbeiter in Brasilien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgehalten. Sie haben sich zu speziellen Fragen betref- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) fend die Sicherheitstechnik und die Entsorgung ausge- tauscht. Ich zitiere weiter: Den Brasilianern ist doch nicht verborgen geblieben, Selbstverständlich entscheidet jedes Land selbst dass Deutschland aus der Atomenergie aussteigt. Aber über seine Energieversorgung und seine Energie- deswegen verschwindet das entsprechende Know-how quellen. Aber kein Land lebt in einer globalisierten in Deutschland nicht. Wir sind stolz darauf, dass wir in Welt unter einer Glasglocke. Regierungen treffen Deutschland über eine solch geballte Ladung an Wissen ihre Entscheidungen nicht unbeeinflusst von Ent- und technischen Lösungen verfügen. Diese können wir wicklungen in anderen Ländern, von Beratungen anderen Ländern anbieten, um ihre Reaktoren sicherer und Absprachen mit diesen. Die deutsche Regie- zu gestalten. rung kann direkt und indirekt Einfluss auf andere Länder nehmen, wenn sie sich nicht nur im eigenen Der Kollege von der Linken hat das bereits erwähnt: Land, sondern auch international zum nicht zumut- Eine Hermesbürgschaft für den Bau neuer Atomanlagen baren Risiko durch Atomkraft bekennt. wird Deutschland nicht geben. Das ist das Entschei- dende. Wir tragen mit diesem Abkommen doch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dazu bei, dass neue Anlagen irgendwo in der Welt er- Das ist die moralisch-ethische Begründung für unsere richtet werden, und wir unterstützen nicht aktiv die Er- Forderung zur Aufkündigung dieses Abkommens, zumal (B) richtung neuer Anlagen, sondern wir versuchen, mit un- (D) eines Abkommens mit einem Land wie Brasilien, dessen serem Wissen dazu beizutragen, dass die Welt sicherer beabsichtigter Atomweg nicht wirklich klar ist, da er wird und dass die Anlagen, die in Betrieb sind, sicherer sich der effektiven Kontrolle durch die IAEA entzieht. werden. Deswegen gibt es keinen Grund, dieses Abkom- men mit Brasilien zu kündigen. Vor der Sommerpause haben wir in der Tat bereits ei- nen Antrag, der Brasilien und Indien zum Gegenstand (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hatte, behandelt. Es wurde beklagt, dass er zu kurzfristig Deswegen können wir als CDU/CSU-Fraktion und eingereicht worden sei. Das war aber notwendig, weil als Koalition Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. das Abkommen mit Indien auslief und es genauso wie jetzt das Abkommen mit Brasilien – wenn es nicht zum Vielen Dank. 18. November gekündigt wird, dann läuft es auch auto- (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn matisch fünf Jahre weiter – fünf Jahre weitergelaufen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das „leider“, wäre. glaube ich, stimmt nicht ganz!) Die Hauptbegründung für die Ablehnung, wenigstens die der SPD, war damals, es sei keine Zeit für die Bera- Vizepräsidentin Claudia Roth: tung gewesen. Dieses Mal war Zeit. Es wäre auch, Frau Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. – Nächste Red- Scheer, Zeit für einen Abstimmungsprozess innerhalb nerin in der Debatte ist Sylvia Kotting-Uhl für Bünd- der Regierung gewesen. Das Argument ist also nicht nis 90/Die Grünen. mehr brauchbar. So verschiebt sich die Argumentation. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie des Abg. Hubertus Zdebel [DIE Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen LINKE]) und Kollegen! Herr Lämmel, das war jetzt schon eine Zumutung, als Sie von „Aufrüstung“ usw. gesprochen Ich will für die neuen Argumente von Ihnen, Herr haben. Lämmel, den Bericht des Ausschusses zitieren; denn der war etwas klarer als Ihre heutige Argumentation: (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Ich habe von Aufrüstung kein Wort gesagt!) Gegenstand des Abkommens sei eben nicht nur der Bau oder der Betrieb von Atomreaktoren. Das Ab- Ich gehe davon aus, dass alle, die hier sitzen, wie das kommen enthalte vielmehr auch Regelungen zu so üblich ist bei uns, diesen Antrag sorgfältig und gründ- Fragen der Sicherheit, der Entsorgung, des Strah- 5918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Sylvia Kotting-Uhl (A) lenschutzes und der Nichtverbreitung von Kern- erreicht. Helfen wir alle der brasilianischen Zivilgesell- (C) brennstoffen. … Bei einer Kündigung des Abkom- schaft, die nach britischen Studien zu 67 Prozent den mens müsste man diese Aspekte neu verhandeln. Atomausstieg will, mit der Kündigung dieses antiquier- ten Abkommens. Ich sage Ihnen: Ja, verhandeln Sie neu, verhandeln Sie besser, und verhandeln Sie vor allem wirklich Si- Vielen Dank. cherheit! Das jetzige Abkommen, dessen Aufgabe die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Förderung der Atomkraft ist, wozu auch der Bau von bei Abgeordneten der LINKEN) Angra 3 in einer erdrutschgefährdeten Bucht gehört, spottet, was die Sicherheitsvorstellungen betrifft, jeder Beschreibung. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aussprache ist Hiltrud Lotze für die SPD-Fraktion. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eine Forderung von unserem damaligen Antrag ist übrigens bereits umgesetzt. Die Hermesbürgschaften Hiltrud Lotze (SPD): werden nicht mehr gegeben. Dazu hieß es in der letzten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatte, damals noch von Frau Motschmann: Ich schicke einmal vorweg: Ich komme aus dem Wahl- Wenn die Hermesbürgschaften zurückgezogen wer- kreis Lüchow-Dannenberg – Lüneburg. Da liegt Gorle- den, dann können diese Länder ihre Stromversor- ben, und ich bin die Letzte, die hier eine Lanze für die gung nicht gewährleisten und nicht finanzieren. Atomenergie brechen wird. Es geht doch trotzdem. Lernen Sie noch ein Stück wei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bärbel ter, und stimmen Sie heute unserem Antrag zu. Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hö- ren erst einmal bis zum Ende Ihrer Rede!) Ich will Ihnen zum Schluss noch eine Begründung ge- ben, warum für unsere internationale Glaubwürdigkeit – Genau. Das empfehle ich. die Aufkündigung dieses Abkommens so wichtig ist. Ich Wir haben schon gehört: Die Bundesrepublik zitiere dazu aus einem Brief von 65 brasilianischen Or- Deutschland hat auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung ganisationen, den alle Fraktionen bekommen haben und der Kernenergie die schon genannten 182 bilateralen der einen Aufruf an die deutsche und an die brasiliani- Abkommen mit 56 Staaten. Wir werden uns auch für sche Regierung enthält. Sie schreiben: Kündigungen dieser Abkommen einsetzen, wenn sie (B) Aber die von der deutschen Regierung angekün- hinsichtlich unserer deutschen Ausrichtung, aus der (D) digte Stilllegung umfasst weder die Forschungsre- Atomenergie auszusteigen und die Energiewende zum aktoren noch die Urananreicherungsanlagen noch Erfolg zu führen, nicht mehr tragbar sind. die Brennelementefabriken. Diese Aktivitäten er- Bevor wir aber über Kündigungen reden, müssen wir folgen auch auf Basis des noch gültigen deutsch- uns die Realitäten etwas genauer anschauen. Dieses Ab- brasilianischen Atomvertrags. Ein Teil des in kommen mit Brasilien wurde 1975 geschlossen. Es ist Deutschland angereicherten Urans kommt aus Bra- ein Rahmenabkommen zum Austausch von Informatio- silien. … nen und nicht eine Vereinbarung einer konkreten techni- Dies bedeutet, dass Deutschland den Atomzyklus schen Unterstützung. Einer der Initiatoren des hier vor- intern und im Ausland fortsetzt. liegenden Antrags, Jürgen Trittin – er sitzt da drüben –, war von 1998 bis 2005 Umweltminister in der rot-grü- Etwas weiter unten heißt es: nen Koalition. Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland für sein (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eigenes Territorium andere Sicherheitsregeln fest- NEN]: Er hat da viel gemacht, ja!) legt und gleichzeitig diese Art der Energieproduk- tion in anderen Ländern fördert. – Genau. – Schon damals wussten wir alle, dass die Mi- litärdiktatur dort dieses Abkommen mit unterschrieben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie hat. In der Amtszeit von Jürgen Trittin wurde genau ein bei Abgeordneten der LINKEN) solches Abkommen gekündigt. Es war aber eben nicht das mit Brasilien, sondern das mit dem Iran, und das zu Vizepräsidentin Claudia Roth: Recht, sage ich. Kommen Sie bitte zum Schluss. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was? – Dr. [CDU/CSU]: Das ist ihm Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aber sehr schwergefallen!) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Liebe – Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich rede ja weiter. Zu- Kolleginnen und Kollegen, unser Verhalten kommt dort hören! Wir haben doch gerade verabredet, einander bis als Doppelmoral an. Lassen Sie uns Klarheit schaffen. zum Ende zuzuhören. Lassen Sie uns zeigen, dass wir es auch international ernst meinen mit der Bewertung des Risikos. In SPD und Grüne haben damals in der Koalition eine Deutschland hat die Zivilgesellschaft den Atomausstieg Linie verabredet, die auch heute noch gilt und umgesetzt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5919

Hiltrud Lotze (A) wird: Die Verträge sollen daraufhin geprüft werden, ob Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks in guten Händen (C) sie mit den eigenen atompolitischen Grundsätzen noch sind. Auf alles andere werden wir aufpassen. Deswegen übereinstimmen oder diesen zuwiderlaufen. Diese Über- werden wir dem Antrag heute nicht zustimmen können. prüfungen finden regelmäßig statt. Im Übrigen haben Vielen Dank. meine Kollegin Nina Scheer und ich schon vor Wochen entsprechende Fragen gestellt und diese Überprüfung er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neut angeregt. der CDU/CSU) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Gibt es Antwor- ten?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich schließe die Aussprache. Wir steigen also aus, und wir wollen weltweit natür- lich auch andere gewinnen, das ebenfalls zu tun. Aber Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- wir können uns in die Souveränität anderer Länder nicht schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der einmischen. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kündi- gung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien“. (Beifall des Abg. Dr. ) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Wir wollen ja auch nicht, dass andere in unsere Energie- auf Drucksache 18/2907, den Antrag der Fraktion Bünd- wende hineinreden. nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2610 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- GRÜNEN]: Das ist unsere souveräne Ent- fehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/ scheidung! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE CSU und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen GRÜNEN]: Es ist doch unsere Entscheidung, und von der Linken. ob wir die unterstützen!) Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, Wir werden weiterhin Verträge wie den mit Brasilien bitte ich, gegebenenfalls die Plätze zu wechseln. Bitte überprüfen und entweder auf dem Verhandlungswege noch einmal Konzentration! ändern oder notfalls kündigen. Ich sage „notfalls kündi- gen“, weil diese Verträge auch jetzt noch ihren Sinn ha- Jetzt ist der erste Redner nicht da, der Kollege ben: Durch den vereinbarten Informationsaustausch blei- Brauksiepe. ben wir über das auf dem Laufenden, was in Sachen (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ein Ding! Wo Atomenergie in anderen Ländern passiert. So sind wir ist der Staatssekretär?) (B) sprachfähig, wenn wir über die Sicherheit von AKWs im (D) internationalen Rahmen sprechen wollen. Mag jemand für ihn reden, oder soll ich einfach umstel- len? Vizepräsidentin Claudia Roth: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Frau Bartz be- Liebe Kollegin, denken Sie an die Redezeit. ginnt! – Weitere Zurufe) – Moment! Ich habe den Tagesordnungspunkt noch gar Hiltrud Lotze (SPD): nicht aufgerufen. Meine Überzeugung ist: Wir sollten besser den Dia- log mit anderen Ländern pflegen mit dem Ziel einer An- (Zuruf von der SPD: Da kommt der Staatsse- passung der bestehenden Verträge an unsere neue ener- kretär!) giepolitische Ausrichtung, und das bedeutet: keine – Herr Kollege Brauksiepe, haben Sie schon mal das Unterstützung bei Neubauten, Schwerpunkt des Infor- Bier von der Wette getestet? mationsaustausches bei den Themen Stilllegung, Rück- bau, Entsorgung und Endlagerung. ( [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Ordnungsruf!) Im Übrigen: Deutschland hat schon einen Vertrag mit Brasilien zu den erneuerbaren Energien abgeschlossen – – Das war jetzt freundlich gemeint. Wir haben vorher ge- wettet; da waren Sie nicht da. – Er hat es nicht getestet. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) unter Sigmar Gabriel als Umweltminister. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das haben die Grünen auch nie hingekriegt, so einen Ver- Beratung des Antrags der Bundesregierung trag mit Brasilien über erneuerbare Energien!) Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid- Vizepräsidentin Claudia Roth: Operation in Darfur (UNAMID) auf Grund- Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit. lage der Resolution 1769 (2007) des Sicher- heitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zu- Hiltrud Lotze (SPD): letzt 2173 (2014) vom 27. August 2014 Ich bin schon am Ende. – Wir sind davon überzeugt, dass die Abkommen bei unseren beiden Ministern Drucksache 18/3006 5920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Überweisungsvorschlag: lange diese humanitäre Tragödie andauert und die Si- (C) Auswärtiger Ausschuss (f) cherheitslage so instabil ist, dass Vertriebene auf Flücht- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss lingslager und humanitäre Hilfe angewiesen sind, bedarf Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe es weiterhin des Schutzes durch UNAMID. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich will das ausdrücklich betonen: Die zivile Kompo- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO nente leistet hervorragende Arbeit. Aber es hängt eben das Zivile mit dem militärischen Schutz zusammen. Ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für möchte an der Stelle das, was der Kollege Schmidt in der die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Debatte zu UNMISS gesagt hat, aufgreifen: Alleine die nen Widerspruch, sehe auch keinen Widerspruch. Dann Tatsache, dass wir denjenigen Schutz bieten, die in die ist das so beschlossen. Flüchtlingslager kommen, rechtfertigt die VN-Missio- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- nen und rechtfertigt auch, dass wir uns daran beteiligen, mentarische Staatssekretär Dr. Brauksiepe. – Danke, und zwar auch mit militärischem Schutz. Es ist zynisch, dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind, Herr etwas anderes zu behaupten, liebe Kolleginnen und Kol- Brauksiepe! legen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der SPD) Schon die bloße Gegenwart einer so großen interna- tionalen Präsenz hat – bei allen Problemen, die es gibt – Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der eine mäßigende Wirkung auf die Konfliktparteien. Bundesministerin der Verteidigung: UNAMID schafft den notwendigen Rahmen, innerhalb Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen dessen sich die politischen Bemühungen um ein Ende und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung. Ich war mit der Krise in Darfur weiterentwickeln können – und das dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion wird noch ein langer Weg sein. und einer internationalen Delegation im Abgeordneten- restaurant – nachweislich mit Wasser; das steht noch auf Mit der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten den Tischen. Nationen vom 27. August wurde das UNAMID-Mandat bis zum 30. Juni 2015 verlängert. Seit Beginn der Mis- (Heiterkeit – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ sion ist Deutschland als einer der wenigen westlichen CSU]: Das wird der Vizepräsidentin nicht pas- Truppensteller an der Mission beteiligt; es hat sich mit sieren!) Einzelpersonal in den Führungsstäben und mit Verbin- dungsoffizieren an dieser Mission beteiligt. (B) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wen- (D) det sich heute an Sie mit der Bitte, der Fortsetzung der Mit unseren derzeit zehn deutschen Soldatinnen und Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Soldaten im Hauptquartier El Fasher und den fünf Poli- AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur zuzustimmen. zeivollzugsbeamten unterstützen wir die Auftragsdurch- führung der Mission. Das ist im Verhältnis zur Gesamt- UNAMID, die gemeinsam von den Vereinten Natio- zahl an Personal in der Mission sicherlich nur ein kleiner nen und der Afrikanischen Union geführte Friedensmis- Beitrag, aber er erfolgt an zentraler Stelle und setzt ein sion in Darfur, zählt zu einer der weltgrößten Frie- wichtiges Zeichen der Unterstützung der Mission. denstruppen und hat nach wie vor eine entscheidende Funktion in der Region. Ihr Auftrag umfasst die Umset- Die eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten zung des Darfur-Friedensabkommens, die Unterstützung arbeiten unter den schwierigsten Umständen. Oft sind des Friedensprozesses, den Schutz von Zivilisten und die sie auf sich alleine gestellt, und sie arbeiten – ähnlich Sicherung des humanitären Zugangs. Das ist weiß Gott wie im Südsudan; diese Situation ist bei UNMISS und kein einfacher Auftrag. UNAMID ähnlich – häufig abseits der öffentlichen Auf- merksamkeit. Aber – und auch das gilt für beide Missio- Die Sicherheitslage in Darfur ist trotz der erzielten nen, liebe Kolleginnen und Kollegen – unsere Soldatin- Fortschritte von UNAMID weiterhin angespannt und in- nen und Soldaten – und ich schließe die Polizistinnen stabil. Dies ist besorgniserregend. Die bewaffneten Aus- und Polizisten an der Stelle ausdrücklich mit ein – ver- einandersetzungen zwischen Regierung und Rebellen- richten ihren Auftrag unter schwierigen Umständen hoch gruppen halten auch im elften Jahr des Konflikts an. Die professionell und vorbildlich. Dafür können wir ihnen immer wieder aufflammenden Kämpfe in der Region dankbar sein, meine Damen und Herren. führen zu Massenflucht, Zehntausenden neuer Binnen- flüchtlinge und Flüchtlingsströmen in die Nachbarlän- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der. All dies – man muss das wiederholen, was wir auch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schon beim Südsudan diskutiert haben – gipfelt in einer GRÜNEN) humanitären Tragödie. Ich will auch die schon vom Kollegen Kiesewetter in Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe an- der vorangegangenen Debatte erwähnten afrikapoliti- gewiesen sind, ist 2014 wieder deutlich angestiegen. schen Leitlinien der Bundesregierung in diesem Zusam- Waren Ende 2013 noch 3,5 Millionen Menschen in Dar- menhang ausdrücklich erwähnen: Das, was wir im Rah- fur auf humanitäre Hilfe angewiesen, so ist die Zahl men von UNAMID tun, liegt genau auf der Linie dieser mittlerweile auf fast 3,9 Millionen angewachsen. So- afrikapolitischen Leitlinien. Wir werden deshalb unsere Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5921

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe (A) Bereitschaft zur Hilfe und unser Engagement in Afrika Entführern sogar Zustimmung signalisiert. Aber Frau (C) weiterhin beibehalten. Elbasris Dokumente zeigen auch, dass UNAMID An- griffe durch die Truppen der Regierung in Khartoum Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten können demnach systematisch herunterspielt, und es ist auch so, wie mein weiterhin bei dieser wichtigen VN-Mission eingesetzt Kollege Jan van Aken eben in Bezug auf UNMISS argu- werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, das mentiert hat, dass ihr Wohl und Wehe von der sudanesi- Hohe Haus – auch den jetzt eingetroffenen Kollegen schen Regierung abhängig ist. Während die frühere Mißfelder –, Sprecherin von UNAMID also schwere Vorwürfe gegen (Heiterkeit) die eigene Mission erhebt, geht die Bundesregierung schweigend darüber hinweg. Das kann doch wohl nicht herzlich um Unterstützung für dieses Mandat. Wir haben wahr sein. einen schwierigen Weg erfolgreich beschritten und soll- ten ihn gemeinsam weitergehen – im Interesse der Men- (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand schen, die auch in Darfur unsere Unterstützung, unsere [CDU/CSU]: Ist ja auch nicht wahr!) Hilfe und eine Zuflucht brauchen. Es gibt noch ein weiteres Argument: Das Geld, das für Herzlichen Dank, Kolleginnen und Kollegen. diese Mission – die größte und teuerste Mission der UN – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle. UNAMID kostet jedes Jahr 1,3 Milliarden US-Dollar. Der deutsche Anteil daran beträgt nicht nur eine halbe Million Euro an Zusatz- Vizepräsidentin Claudia Roth: ausgaben, die Sie im Antrag nennen, sondern insgesamt Vielen Dank, Dr. Brauksiepe. – Die nächste Rednerin rund 91 Millionen US-Dollar. Hochgerechnet hat die Bun- in der Debatte ist Christine Buchholz für die Linke. desrepublik Deutschland also für diesen Militäreinsatz (Beifall bei der LINKEN) bereits rund eine halbe Milliarde Dollar ausgegeben. Es wäre besser, das Geld in sinnvollen Hilfs- und Entwick- lungsprojekten anzulegen, um endlich die Ursachen für Christine Buchholz (DIE LINKE): Flucht und Gewalt in Darfur zu bekämpfen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit sie- ben Jahren beteiligt sich die Bundeswehr nun an der Mi- (Beifall bei der LINKEN) litärmission UNAMID in Darfur. Selbst die Bundesre- gierung muss zugeben: Die Ergebnisse sind mehr als Sieben Jahre UNAMID-Militäreinsatz haben gezeigt: ernüchternd. Die Kriminalität hat massiv zugenommen. Weder die Mission noch die deutsche Beteiligung daran Der bewaffnete Konflikt hat eine landesweite Dimension tragen etwas zur Lösung der Konflikte in Darfur bei. Es (B) bekommen. 2014 sind in Darfur erneut fast eine halbe drängt sich der Eindruck auf, dass Bundeswehreinsätze (D) Million Menschen zu Flüchtlingen geworden. wie diese Beteiligung an UNAMID längst zum Selbst- zweck geworden sind. Die Linke findet sich nicht damit Der Antrag der Bundesregierung liest sich wie ein ab, dass das zur Normalität werden soll. Wir werden der Dokument des Scheiterns. Verlängerung dieses Mandates nicht zustimmen. (Zuruf von der CDU/CSU: Na!) (Beifall bei der LINKEN) Trotzdem fordern Sie eine Verlängerung der deutschen Beteiligung. Eine Begründung bleiben Sie schuldig. Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner ( [CDU/CSU]: Sie müssen den An- in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner aus Illertissen trag lesen!) für die SPD. Sie behaupten einfach – Sie eben auch, Herr Brauksiepe –, der Einsatz sei „unverzichtbar“ zur Stabilisierung der Si- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten cherheitslage. der CDU/CSU)

Die frühere Sprecherin von UNAMID, Aicha Elbasri, Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): ist da ehrlicher. Sie übergab Tausende interne UNAMID- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Dokumente dem amerikanischen Magazin Foreign Po- und Kollegen! Egal ob in Neu-Ulm, Berlin oder al-Fa- licy. In der Bilanz stellt sie der Mission ein vernichten- schir, egal ob, Frau Präsidentin, in Illertissen, Babenhau- des Urteil aus. Frau Elbasri sagt – ich zitiere –: sen oder Nyala, eines vereint die Menschen überall: Sie Die Präsenz von UNAMID Peacekeepern hat weder wollen und brauchen eine Perspektive. Sie wollen wis- die Regierung noch die Rebellen von Angriffen ge- sen, dass das, was sie heute tun, auch morgen noch Be- gen Zivilisten abgeschreckt. stand hat, und sie wollen, dass es ihren Kindern und ih- rer Familie gut geht. Sie wollen ihre Wünsche, Eines ihrer vielen Beispiele ist die Entführung, Aus- Meinungen, Ideen und Pläne offen und ohne Druck le- raubung und Misshandlung einer vielköpfigen Delega- ben. Wenn wir heute allerdings den Blick auf Darfur tion von Flüchtlingen am 24. März 2013. Sie waren in werfen, blicken wir dabei – so möchte ich sagen – fast in drei Bussen unter UNAMID-Schutz auf dem Weg zu ei- ein dunkles Loch. ner Friedenskonferenz. Opfer und Fahrer gaben zu Pro- tokoll, dass UNAMID-Soldaten die Busse bereitwillig Und doch ist dieses Land unserem Blick fast ent- an eine bewaffnete Bande übergaben. Einige hätten den schwunden. Die Gier nach Sensation lenkt den Blick auf 5922 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) Syrien, den Irak, die Ukraine, die Angst um Ebola den Auffassung unabdingbar. Und die internationale Ge- (C) Blick weg vom täglichen Leid, von der Perspektivlosig- meinschaft muss vor Ort sein. Unsere Unterstützung ist keit und von Angst und Schrecken in Darfur. Und doch: unabdingbar. Hier müssen wir Verantwortung überneh- Die humanitäre Lage in der Region ist unverändert dra- men. matisch. Seit Beginn der bewaffneten Auseinanderset- zungen 2003 sind schätzungsweise 300 000 Menschen Deswegen haben wir 2007 deutsche Soldatinnen und ums Leben gekommen. Die UNO vermutet über 2,4 Mil- Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten dorthin ge- lionen Menschen auf der Flucht. Der Sudan ist das Land schickt. Sie sind Teil der vom Sicherheitsrat entsandten mit den meisten Binnenflüchtlingen schlechthin, ein Friedenstruppe UNAMID. Sie sollen Zivilisten schüt- Land, in dem seit 1999 wachsende Einnahmen aus der zen, humanitäre Hilfe erleichtern, humanitäre Helfer si- Erdölförderung wirtschaftliche und machtpolitische chern und die Friedensverhandlungen unterstützen. Konflikte entfachen. Man könnte fast sagen: Nicht Ar- Keine leichte Aufgabe. Aber sie übernehmen Führungs- mut, sondern Gier ist die Triebfeder, die das Land ausei- aufgaben, beraten, geben technische Unterstützung und nanderdriften lässt, ein Land, in dem ethnische Konflikte bilden die truppenstellenden Nationen aus. und politische Auseinandersetzungen stets angeheizt Das Ganze, meine Damen und Herren, ist jedoch kein werden und in dem durch selbsternannte Befreiungsar- Selbstläufer. Unsere Leute versuchen, stabile Strukturen, meen, zahlreiche Splittergruppen und nicht zuletzt den Sicherheit zu schaffen. Das zarte Pflänzchen eines ge- Staat Menschen instrumentalisiert werden. meinsamen nationalen Dialogs gibt es bereits. Kann es wachsen? Die Umsetzung des Doha-Friedensabkom- Es wurde sprichwörtlich mehr Öl ins Feuer gegossen, mens von 2011 geht langsam voran. Ob dies Anlass zur als Löschmittel zur Verfügung stehen könnten. Darfur ist Hoffnung gibt, sei nach all den Rückschlägen dahinge- ein Land, in dem die regierungsnahen Milizen Men- stellt. Bei einem bin ich mir aber sicher: Wenn ein mög- schenrechtsverletzungen begehen, Frauen und Mädchen licher Friedensprozess auch nur annähernd in Gang vergewaltigen, ganze Dörfer dem Erdboden gleichma- kommen soll, dann muss die humanitäre Notlage in Dar- chen und Menschen aus ihrer angestammten Heimat ver- fur dringend gelöst werden. treiben. Ich könnte die Aufzählung noch ewig weiterfüh- ren mit dem vom Internationalen Strafgerichtshof in Den UNAMID läuft übrigens nicht immer so rund, wie wir Haag verurteilten Präsidenten, mit der herrschenden Kri- es uns wünschen; das haben die Vorredner bereits ange- minalisierung, mit Straftaten gegen sexuelle Minderhei- sprochen. Die Kommunikation ist nicht gerade ideal. ten und Homosexuelle, mit Entführungen und Gewalt, Das, was UNAMID vor Ort leisten kann, ist verbesse- der sich auch unsere westlichen Helfer und NGOs ausge- rungsbedürftig. Aber sicherlich wird niemand erwarten, (B) setzt sehen. dass UNAMID und Deutschland alle Probleme dieser (D) Welt lösen. Dennoch sollten wir den Mut haben, zu sa- Fest aber steht: Der Sudan ist ein Land, das vor sich gen, was wir eigentlich wollen: Ganz konkret Verant- selbst flüchtet und keine Perspektiven und schon gar wortung übernehmen. nicht die Sicherheit schafft, die Menschen benötigen. Dies ist nicht Schwarzmalerei, sondern bittere Realität. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Das konnte ich vor wenigen Tagen von Hilde Johnson UNAMID-Mandat ist konkrete deutsche Verantwortung, – bis Juli Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für ein Versuch zur Konfliktlösung im Sudan. Wir Sozialde- den Südsudan – persönlich erfahren. mokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu dieser Verantwortung. Erlauben Sie mir eine Bemerkung am Rande: Wenn der Sudan es mit über 2 Millionen Binnenflüchtlingen zu Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen den tun hat, dann sollten wir angesichts der aktuellen Flücht- deutschen Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten, den lingszahlen in Europa und Deutschland genug Mut ha- Militärbeobachtern und den Stabsoffizieren ein herzli- ben, einigen Tausend Menschen den Neuanfang zu er- ches Dankeschön für ihren Dienst sagen. Genauso möglichen, die vor dem Schrecken und Morden des IS möchte ich allen Hilfsorganisationen, den vielen unge- geflohen sind. Das wäre auch Verantwortung. nannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Su- dan unter schwierigsten Bedingungen ihre Aufgabe er- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem füllen, meinen Respekt und Dank aussprechen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kolleginnen und Kollegen, trotz vielfältiger Bemü- hungen konnten die Kämpfe in Darfur nicht beendet Die SPD stimmt der Mandatsverlängerung zu. werden, geschweige denn ein dauerhafter Frieden eta- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. bliert werden. Absprachen werden, soweit sie überhaupt getroffen werden konnten, von allen Seiten gebrochen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Manchmal übermannt einen in dieser Situation der Wunsch, wie bei einem abgestürzten Rechner den Reset- Knopf zu suchen und alles wieder auf Neuanfang, auf Vizepräsidentin Claudia Roth: Start zu stellen, in der Hoffnung, beim zweiten Anlauf Vielen Dank, Herr Kollege Brunner. – Nächste Red- wird es besser. Das geht jedoch nicht; so funktioniert die nerin in der Debatte: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/ Welt nicht. Eine politische Lösung ist daher nach meiner Die Grünen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5923

(A) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen und Helfern; denn auch sie werden mittlerweile im- (C) NEN): mer häufiger Opfer von Gewalt durch die Konfliktpar- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit teien und sind von Plünderungen und Übergriffen über zehn Jahren herrscht in Darfur im Sudan ein grausa- bedroht. mer Bürgerkrieg. Um die Gewalt einzudämmen, haben die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen 2007 Meine Damen und Herren, UNAMID kann sicherlich eine Friedensmission auf den Weg gebracht. nicht alle Probleme lösen; aber die Mission ist ein wich- tiger Beitrag für mehr Stabilität und Sicherheit im Su- Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit sieben Jahren dan. Ich finde schon auch, liebe Kolleginnen und Kolle- debattieren wir dieses Mandat. Ich finde, wir sollten es gen, dass wir uns die ehrliche Frage stellen müssen, ob nicht als reine Routineberatung betrachten, sondern wir diese Mission eigentlich gut genug ausgestattet ist, um haben dabei auch die Verantwortung, das schreckliche diese Ziele zu erfüllen, und ob das deutsche Engagement Schicksal vieler Menschen im Sudan wieder in Erinne- der dramatischen Situation angemessen ist. rung und in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Lage hat sich verändert, die Vereinten Nationen Die Eskalation von Gewalt findet nicht nur in Darfur haben das Mandat angepasst – nur eines bleibt gleich: statt, sondern mittlerweile auch in weiten Teilen des der deutsche Beitrag. Und der ist, freundlich formuliert, Landes, im Bundesstaat Blauer Nil oder in Südkordofan. mehr als bescheiden. Die personale Obergrenze, die in In diesem Bürgerkrieg sind sowohl die vielen bewaffne- diesem Mandat festgeschrieben ist, beträgt 50 Bundes- ten Rebellenorganisationen, aber auch die sudanesischen wehrangehörige; derzeit sind elf vor Ort. Die Zahl der Truppen für das Leid und die Verbrechen gegenüber der Polizeikräfte, die nicht Teil dieses Mandates sind, ist Zivilbevölkerung verantwortlich. noch geringer: Es sind fünf Polizistinnen und Polizisten. Diejenigen, die diese Mission erlebt haben, sagen uns Meine Damen und Herren, über 5 Millionen Men- immer wieder, dass gerade mehr Polizistinnen und Poli- schen sind im Sudan von Hunger bedroht. 2,4 Millionen zisten gebraucht werden, und zwar dringend. Menschen sind ihrer Heimat beraubt, und seit Anfang dieses Jahres sind aufgrund aufflammender Gewalt zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie sätzlich 400 000 auf der Flucht. Am Anfang dieses Mo- des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) nats gab es die schreckliche Meldung, dass 200 Frauen (B) und Mädchen Opfer einer Massenvergewaltigung im Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass das Auswär- (D) Norden von Darfur geworden sein sollen. Dieses grauen- tige Amt die finanzielle Unterstützung für die Ausbil- hafte Verbrechen muss rückhaltlos aufgeklärt werden dung afrikanischer Polizeiangehöriger im letzten Jahr und die Täter zur Verantwortung gezogen und bestraft um mehr als die Hälfte gekürzt hat. Liebe Kolleginnen werden. und Kollegen, das ist angesichts der Lage das völlig fal- sche Signal. Wir Grüne fordern Sie auf: Nehmen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Kürzung zurück! sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei ist es völlig inakzeptabel, dass das sudanesische Meine Damen und Herren, auch ich möchte all jenen Militär UNAMID daran hindert, diesen Vorwürfen nach- danken, die sich mit oder ohne Uniform im Rahmen von zugehen. UNAMID oder außerhalb für eine bessere Zukunft im Sudan einsetzen. Dass sie das auch unter persönlichen Meine Damen und Herren, ich finde diese Zahlen Entbehrungen und großen Risiken tun, zeigt nicht zuletzt schwer vorstellbar; ich finde sie schockierend, und ich der tragische Tod von drei UNAMID-Angehörigen im finde, sie dürfen uns auch nicht kaltlassen. Sie zeigen, letzten Monat, die Übergriffen von Rebellen zum Opfer dass sich die Sicherheitslage im Sudan wieder ver- gefallen sind. Ihnen und den Menschen im Sudan, die schlechtert hat. Die Vereinten Nationen haben diese Mis- bereits seit Jahren unermessliches Leid erfahren und sion bei der Mandatierung im Sicherheitsrat vom Auf- trotzdem Glauben und Hoffnung nicht verlieren, sind es trag her angepasst. Sie haben auch Lehren aus den die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland letzten Jahren gezogen. Das Zentrum dieses Mandates als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen schuldig, sich bilden nun drei Aufgaben: An allererster Stelle steht der noch stärker zu engagieren. Denn es wird bei weitem Schutz der Zivilbevölkerung, aber eben auch die Ver- nicht alles getan, was notwendig wäre; es wird bei wei- mittlung zwischen den Konfliktparteien sowohl auf na- tem nicht alles getan, was getan werden könnte – auch tionaler als auch auf kommunaler Ebene. Und es ist klar: nicht das, was getan werden müsste. Dieser Konflikt und dieser Krieg können nur ein Ende finden, wenn es eine politische Lösung gibt. Dazu müs- Vielen Dank. sen alle gesellschaftlichen Gruppen in die Verhandlun- gen über eine gemeinsame Zukunft des Landes einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bunden werden. Die dritte Aufgabe von UNAMID ist sowie der Abg. Michael Brand [CDU/CSU] aber auch wichtig: der Schutz von humanitären Helferin- und Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) 5924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: beteiligen wollen. Derzeit sind elf deutsche Soldatinnen (C) Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Letzte Rednerin und Soldaten sowie fünf Polizisten vor Ort. in dieser Debatte: Julia Bartz für die CDU/CSU-Frak- Angesichts der Gesamtstärke der UN-Mission von tion. circa 16 000 Mann erscheint das möglicherweise gering. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Die deutsche Beteiligung ist aber wichtig, um deutlich Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) zu machen: Uns sind alle Länder in der Region wichtig. Für uns sind nicht nur womöglich direkt ableitbare Inte- ressen ausschlaggebend. Julia Bartz (CDU/CSU): 1992, ein kleines schwarzafrikanisches Dorf in den Somit können auch maximal 50 Soldatinnen und Sol- Nuba-Bergen im Sudan. daten einen wichtigen Beitrag leisten. Denn das Ziel die- ser Friedensmission ist es, die Zivilbevölkerung in Dar- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Man begrüßt fur zu schützen. Ein weiteres Ziel ist es, die Sicherheit normalerweise zuerst die Präsidentin!) des humanitären Personals sicherzustellen. Denn nur wenn gewährleistet werden kann, dass entwicklungs- – Kommt. – Spätabends spielt die zwölfjährige Mende politische und humanitäre Helferinnen und Helfer vor Nazer gerade mit ihrer Katze. Plötzlich hört sie Ort sicher wirken können, kann es uns gelingen, im Ver- Schreie:“ Es brennt! Die Araber kommen!“ Sie rennt bund von militärischen, diplomatischen und polizeili- davon, wird aber von den Milizen aufgegriffen. Ge- chen Instrumenten einen nachhaltigen Erfolg in einer meinsam mit anderen Mädchen wird Mende ver- Krisenregion zu erreichen. schleppt und an einen Sklavenhändler verkauft. Nach Jahren der Ausbeutung als Sklavin gelingt ihr schließ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich die Flucht in die Freiheit. neten der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und So setzt zum Beispiel das Auswärtige Amt die Aus- Kollegen! Mende Nazer ist heute als Schriftstellerin und bildung afrikanischer Polizisten für Einsätze bei Menschenrechtsaktivistin bekannt. UNAMID fort. Auf der Wiederaufbaukonferenz in Doha hat Deutschland bereits 16 Millionen Euro für den Wie- Ähnlich wie ihr erging und ergeht es heute noch im- deraufbau Darfurs zugesichert. mer vielen Mädchen und jungen Frauen in Darfur. Die Mission ist also eingebettet in einen ressortüber- Trotz umfangreicher Bemühungen der internationalen greifenden und vernetzten Ansatz. Zudem haben wir als Handelsnation ein grundlegendes Interesse an stabilen (B) Gemeinschaft ist es noch nicht gelungen, den Konflikt in (D) der Region beizulegen und einen dauerhaften, nachhalti- Handelspartnern und freien Handelswegen auch und be- gen Frieden zu sichern. Die Sicherheitslage in Darfur ist sonders in und um Afrika. Aus all diesen Gründen ist un- weiterhin äußerst angespannt. Die bewaffneten Aus- sere Hilfe für die Afrikanische Union und die Region im einandersetzungen zwischen dem sudanesischen Re- Rahmen der UNAMID-Friedensmission wichtig. gime, Rebellengruppen und den verschiedenen Ethnien dauern an. Zudem ist die Kriminalität hoch. Schicksale wie das von Mende Nazer – ich denke, da- rüber sind wir uns alle in diesem Haus einig – sollen sich Entsprechend ist auch die humanitäre Lage prekär. In nicht wiederholen. Dies ist nur möglich, wenn in der Re- den vergangenen Monaten sind weitere 400 000 Men- gion ein dauerhafter und nachhaltiger Frieden gewähr- schen vor der Gewalt geflohen. Derzeit befinden sich leistet ist, auch wenn der Weg dorthin noch lang sein insgesamt 2,4 Millionen Binnenflüchtlinge in Darfur. wird. Deren Versorgung ist unter diesen Umständen nur be- Irgendwann, meine Damen und Herren, will auch schränkt möglich. Denn sowohl die Zivilbevölkerung als Mende Nazer wieder zurück in den Sudan. Eine Rück- auch die über 5 000 humanitären Helferinnen und Hel- kehr sei erst, sagt sie, möglich, wenn in dem Land Si- fer, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich für ihren cherheit herrscht. Genau dieses Ziel, Sicherheit für die Einsatz danken möchte, Menschen im Sudan, verfolgen wir mit dieser Friedens- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem mission. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen. werden immer wieder Ziel gewaltsamer Übergriffe und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Plünderungen. Seit 2003 sind in Darfur über 300 000 Menschen ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: tötet worden. Deshalb hat die internationale Gemein- Vielen Dank, Frau Kollegin Bartz. – Ich schließe die schaft beschlossen, in Darfur aktiv zu werden. Seit 2007 Aussprache. stellen die Vereinten Nationalen und die Afrikanische Union eine Friedenstruppe für die Region. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3006 an die in der Tagesordnung aufge- Heute beraten wir über die Verlängerung des Mandats führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- mit der Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung mit denen wir uns weiterhin an der UNAMID-Mission so beschlossen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5925

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- (C) entwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Erste Beratung des von den Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken an- Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann genommen. (Zwickau), Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: wurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversi- Beratung des Antrags der Abgeordneten cherung (Beitragssatzgesetz 2014) Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 18/3042 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Umsatzsteuerbetrug bekämpfen Finanzausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Drucksache 18/1968 (Unruhe) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss – Ich sehe, dass einige Abgeordnete gehen. Wir haben aber noch reichlich Abstimmungen; das will ich nur sa- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) – gen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Hammelsprung!) Drucksache 18/1968 an den Finanzausschuss vorge- schlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der 1) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich sehe, Sie sind einverstanden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3042 an die in der Tagesordnung auf- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- geführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten gemäß § 96 der Geschäftsordnung vorgeschlagen. Gibt Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikge- es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der setzes Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Drucksache 18/2707 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- schusses für Ernährung und Landwirtschaft regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (10. Ausschuss) zes zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings Drucksache 18/3064 Drucksache 18/1774 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. ausschusses (7. Ausschuss) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- Drucksache 18/3066 nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 18/3064, den Gesetz- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2707 in Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- men wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dage- che 18/3066, den Gesetzentwurf der Bundesregierung gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit auf Drucksache 18/1774 in der Ausschussfassung anzu- in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in CDU/CSU, SPD und den Linken und bei Enthaltung von der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Bündnis 90/Die Grünen. zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dritte Beratung Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange- nommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken. setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Dritte Beratung stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nen.

1) Anlage 6 3) Anlage 7 2) Anlage 8 4) Anlage 10 5926 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: protokoll vom 10. November 2010 zum Euro- (C) päischen Auslieferungsübereinkommen vom Beratung des Antrags der Abgeordneten 13. Dezember 1957 Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Drucksache 18/2655 Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Drucksache 18/2308 schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Drucksache 18/3071 Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ausschuss für Gesundheit Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Zweite Beratung Niemand ist dagegen. und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Drucksache 18/2308 an die in der Tagesordnung aufge- lung auf Drucksache 18/3071, den Gesetzentwurf der führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- Bundesregierung auf Drucksache 18/2655 anzunehmen. verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Ge- nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- genstimmen der Linken. wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Ur- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: heberrechtsgesetzes a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Drucksache 18/2602 regierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- setzes zur Durchführung des Haager Über- schusses für Recht und Verbraucherschutz einkommens vom 30. Juni 2005 über (6. Ausschuss) Gerichtsstandsvereinbarungen (B) Drucksache 18/3069 Drucksache 18/2846 (D) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- Drucksache 18/3068 schlussempfehlung auf Drucksache 18/3069, den Ge- setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Drucksache 18/2602 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält ten Sabine Zimmermann (Zwickau), Sigrid Hu- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung pach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und bei Ent- der Fraktion DIE LINKE haltung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen an- Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zu- genommen. gang zur Arbeitslosenversicherung ermögli- Dritte Beratung chen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Drucksachen 18/2786, 18/3067 Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Der Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/ der Ausschussfassung des Ausschusses für Recht und CSU und SPD und Enthaltung der Linken und von Verbraucherschutz beinhaltet Änderungen des Rechts- Bündnis 90/Die Grünen. pflegergesetzes, des Gerichts- und Notarkostengesetzes, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: des Altersteilzeitgesetzes und des Dritten Buches Sozial- gesetzbuch. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) – wurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatz- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

1) Anlage 9 3) Anlage 12 2) Anlage 11 4) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5927

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 23 a. Abstim- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs- (C) mung über den von der Bundesregierung eingebrachten antrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Überein- Grünen, Ablehnung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion kommens über Gerichtsstandsvereinbarungen. Der Aus- und Enthaltung der Linken. schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3068, stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da- che 18/2846 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich mit in zweiter Beratung angenommen: Zustimmung bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen Linke, fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Enthaltung Bündnis 90/Die Grünen. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit Zu- Dritte Beratung stimmung von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dritte Beratung Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSU- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und Ent- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – haltung von Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken an- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- genommen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Tagesordnungspunkt 23 b. Beschlussempfehlung des zung der Richtlinie 2011/99/EU über die Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Europäische Schutzanordnung, zur Durch- Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kurzzeitig Beschäf- führung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 tigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversiche- über die gegenseitige Anerkennung von rung ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3067, den An- Änderung des Gesetzes über das Verfahren in trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2786 ab- Familiensachen und in den Angelegenheiten zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – der freiwilligen Gerichtsbarkeit Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Drucksache 18/2955 (B) lung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU- (D) Fraktion und SPD-Fraktion, bei Gegenstimmen der Lin- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) ken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ich sehe, Sie sind einverstanden. regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusge- wurfs auf Drucksache 18/2955 an die in der Tagesord- setzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es setzes dazu anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der Drucksache 18/2141 Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: schusses (4. Ausschuss) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- Drucksache 18/3078 nisierung der Finanzaufsicht über Versiche- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- rungen nis 90/Die Grünen vor. Drucksache 18/2956 Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Überweisungsvorschlag: Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus- 3) schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Drucksache 18/3078, den Gesetzentwurf der Bundesre- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. gierung auf Drucksache 18/2141 anzunehmen. Hierzu Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die wurfs auf Drucksache 18/2956 an die in der Tagesord- Grünen auf Drucksache 18/3089 vor, über den wir zuerst nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es abstimmen müssen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer

2) Anlage 15 1) Anlage 14 3) Anlage 16 5928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) anderweitige Vorschläge? – Nein, das ist nicht der Fall. vember 2008 über die Adoption von Kindern (C) Dann ist die Überweisung so beschlossen. (revidiert) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Drucksache 18/2654 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sung der Abgabenordnung an den Zollkodex 2) der Union und zur Änderung weiterer steuer- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – licher Vorschriften Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Drucksache 18/3017 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 18/2654 an die in der Tagesord- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dazu gibt es, wie ich sehe, keine weiteren Vorschläge. Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. ordnung. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Beifall) wurfs auf Drucksache 18/3017 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 7. November, 9 Uhr, ein. anderweitige Vorschläge? – Nein. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Die Sitzung ist geschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Bitte denken Sie daran, möglichst frühzeitig von zu Hause loszufahren, damit Sie wirklich um 9 Uhr da sind. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Schönen Abend! gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 27. No- (Schluss: 21.34 Uhr)

1) Anlage 17 2) Anlage 18

(B) (D) Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5929

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Stephan Harbarth, entschuldigt bis Dr. Heribert Hirte und Dr. Hendrik Abgeordnete(r) einschließlich Hoppenstedt (alle CDU/CSU) zu den Abstim- mungen: Alpers, Agnes DIE LINKE 6.11.2014 – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ 59/EU des Europäischen Parlaments und des Bätzing-Lichtenthäler, SPD 6.11.2014 Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Sabine Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen Dağdelen, Sevim DIE LINKE 6.11.2014 und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, Gohlke, Nicole DIE LINKE 6.11.2014 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/ 36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/ Helfrich, Mark CDU/CSU 6.11.2014 36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu- Hellmuth, Jörg CDU/CSU 6.11.2014 ropäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsgesetz) Henn, Heidtrud SPD 6.11.2014 – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen Irlstorfer, Erich CDU/CSU 6.11.2014 auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- Kühn-Mengel, Helga SPD 6.11.2014 träge Kunert, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- rungsgesetzes (B) Dr. Launert, Silke CDU/CSU 6.11.2014 (D) – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru- mente nach Artikel 19 des Vertrags vom Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 6.11.2014 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro- päischen Stabilitätsmechanismus Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 6.11.2014 (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Pflugradt, Jeannine SPD 6.11.2014 Mit den Regelungen zur Bankenunion wird eine Haf- Poß, Joachim SPD 6.11.2014 tungskaskade eingeführt, die dazu führt, dass für die Schieflage von systemrelevanten Banken in erster Linie Dr. Rosemann, Martin SPD 6.11.2014 die Gesellschafter, dann die Gläubiger, der Bankenret- tungsfonds und schließlich der Sitzstaat einzustehen ha- Schmidt (Fürth), CDU/CSU 6.11.2014 ben. Erst im unwahrscheinlichen Fall, dass alle diese Christian Mittel nicht reichen sollten, kommt die neue Möglich- keit einer direkten Bankenrekapitalisierung durch den Schön (St. Wedel), CDU/CSU 6.11.2014 ESM in Betracht. Diese Stufenfolge ist richtig, weil sie Nadine die Gefahr einer Haftung des deutschen Steuerzahlers deutlich reduziert. Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 6.11.2014 Auch wenn – nach den bisherigen Erfahrungen – eine DIE GRÜNEN direkte Bankenrekapitalisierung in der Zukunft äußerst unwahrscheinlich ist, ist kritisch zu beobachten, ob de- Veit, Rüdiger SPD 6.11.2014 ren Voraussetzungen mit Blick auf die Mithaftung des deutschen Steuerzahlers im Einzelfall tatsächlich geprüft Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ 6.11.2014 werden können. Es ist insoweit richtig und wichtig, dass DIE GRÜNEN der deutsche Vertreter im ESM-Gouverneursrat etwaige Entscheidungen zu einer direkten Bankenrekapitalisie- Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 6.11.2014 rung in jedem Einzelfall von einer Zustimmung des Beate DIE GRÜNEN Deutschen Bundestages abhängig machen muss und der Deutsche Bundestag mit Blick auf das Erfordernis der Werner, Katrin DIE LINKE 6.11.2014 Einstimmigkeit von Entscheidungen des Gouverneursra- tes damit der Sache nach ein Vetorecht hat. 5930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Diese Zustimmung des deutschen Vertreters im Gou- Ich stimme gegen das Gesetzespaket, mit dem die di- (C) verneursrat und damit auch die des Deutschen Bundesta- rekte Rekapitalisierung von Finanzinstituten aus dem ges hat sich im Wesentlichen auf zwei Fragen zu bezie- ESM ermöglicht werden soll. Die vergangenen fünf hen: Zum einen ist zu prüfen, ob der Sitzstaat tatsächlich Jahre Euro-Krise sollten uns alle misstrauisch machen, nicht mehr zu der notwendigen Bankenrekapitalisierung wenn Finanzhilfen als Ultima Ratio im Raum stehen. in der Lage ist, zum anderen, ob das zu rettende Kredit- Stets versucht man uns weiszumachen, dass damit Risi- institut tatsächlich noch sanierungsfähig ist. Während ken für den deutschen Steuerzahler reduziert werden, da- der Deutsche Bundestag hinsichtlich der ersten Frage bei setzen wir den Steuerzahler immer größeren und noch zu einer eigenständigen Entscheidung in der Lage qualitativ neuen Risiken aus. sein dürfte, ist dies bei der zweiten Frage schwieriger: Denn ihre Beurteilung kann nur in Kenntnis ausführli- Wir unterlaufen mit Zahlungen an Banken, für die ei- cher Sanierungsfähigkeitsgutachten erfolgen. Werden gentlich der jeweilige Sitzstaat verantwortlich ist, auch diese tatsächlich dem gesamten Plenum vorgelegt, dürfte zugleich die Maastrichtkriterien. Viele haben es viel- das Kreditinstitut wegen des Bekanntwerdens unterneh- leicht schon vergessen und verdrängt, aber die 60-Pro- mensinterner Daten gar nicht mehr zu retten sein. Wer- zent-Grenze Gesamtverschuldung in Relation zum Brut- den sie aber aus Geheimhaltungsgründen nicht offenge- toinlandsprodukt ist immer noch gültig. Zahlungen des legt, läuft das Beteiligungsrecht des Deutschen ESM an Banken wirken sich perfiderweise nicht erhö- Bundestages leer. Angesichts einer möglichen Gesamt- hend auf den Schuldenstand des Sitzlandes aus und haftungssumme von 500 Milliarden Euro ist diese Frage schaffen somit zusätzliche Verschuldungsmöglichkeiten, durchaus relevant. die nach aller Erfahrung lustvoll ausgeschöpft werden. Unsere Zustimmung zu dem Gesetz verbinden wir Bisher war eine Rekapitalisierung von Finanzinstitu- vor dem Hintergrund dieses Konflikts mit der Erwar- ten innerhalb der Euro-Zone nur indirekt möglich, das tung, dass es im Falle einer notwendigen Beteiligung des heißt, die Kredite wurden an den betroffenen Staat gege- Deutschen Bundestages zu einem Ausgleich dieser ge- ben, der diese dann an die jeweiligen angeschlagenen genläufigen Interessen kommt. Banken weiterleitete. Banken können – zumindest in der Theorie – pleitegehen; wer würde dann die Kredite zu- rückzahlen? Banken kommen und gehen, die Staaten bleiben. Ein von mir in Auftrag gegebenes Gutachten Anlage 3 des Wissenschaftlichen Dienstes hat noch einmal bestä- Erklärung nach § 31 GO tigt, dass im Falle der Abwicklung eines mit direkten Finanzhilfen aus dem ESM unterstützten Finanzinstituts (B) des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU/ nicht der Sitzstaat, sondern die Bank Schuldner ist. Ein (D) CSU) zu den Abstimmungen: Forderungsausfall des ESM wird sich damit im Rahmen der anteiligen Gläubigerbefriedigung bis hin zum Total- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ ausfall ergeben. Der Anteil, der nicht zurückgezahlt 59/EU des Europäischen Parlaments und des wird, belastet das Ergebnis des ESM und ist von den Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Anteilseignern gemäß ihrer Quote zu erbringen, das Rahmens für die Sanierung und Abwicklung heißt für den deutschen Steuerzahler derzeit zu rund von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen 27 Prozent. und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, Nun sollen Hilfsgelder doch als „letzte Haftungs- 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/ stufe“ direkt aus dem ESM an Pleitebanken fließen. 36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/ „Haftungskaskade“ ist ein schönes Wort, es ist aber nur 36/EU sowie der Verordnungen (EU) Augenwischerei. Zunächst sollen Eigentümer und große Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Eu- Gläubiger der Banken haften. Diese müssen 8 Prozent ropäischen Parlaments und des Rates der Bilanzsumme der abzuwickelnden Bank beisteuern. (BRRD-Umsetzungsgesetz) Für weitere 5 Prozent der Bilanzsumme soll in einer zweiten Haftungsstufe ein aus Bankenabgaben gespeis- – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai ter Bankenfonds in Anspruch genommen werden. Dieser 2014 über die Übertragung von Beiträgen Fonds wird allerdings erst in acht Jahren seine Zielgröße auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und von 55 Milliarden Euro erreichen. Wenn der Sitzstaat der über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- angeschlagenen Bank durch Deckung einer verbleiben- träge den Kapitallücke überfordert erscheint, sollen dann die Instrumente der indirekten und – nun neu und noch risi- – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzie- koreicher – direkten Bankenrekapitalisierung aus dem rungsgesetzes Euro-Rettungsschirm ESM in Anspruch genommen wer- – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstru- den. Die direkte Zahlung an Banken soll zwar durch mente nach Artikel 19 des Vertrags vom Beschluss des ESM-Gouverneursrates auf 60 Milliarden 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Euro- Euro gedeckt werden. In Zeiten der „Euro-Rettung“ seit päischen Stabilitätsmechanismus 2010 hatten solche Wertgrenzen allerdings meist eine kurze Verfallszeit; sie dienten mehr der Erlangung der (Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) Bundestagszustimmung. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5931

(A) In den entsprechenden Dokumenten heißt es schon: sind wir ja schon zu zweit. Das kann nicht funktionieren (C) „Unbeschadet des Verfahrens zur Überprüfung des ma- und ist wahrscheinlich auch schon intern eingepreist. ximalen Darlehensvolumens gemäß Artikel 10 Absatz 1 Ein Banken-Bail-out soll zwar mithilfe der neuen des Vertrags kann der Gouverneursrat beschließen, die Bankenaufsicht verhindert werden. Aber die EZB, bei anfänglich auf 60-Milliarden-Euro festgesetzte Ober- der die Aufsicht verortet ist, ist selbst Teil des Spiels. Sie grenze anzupassen, sofern dies notwendig und angemes- hat haufenweise Schrottpapiere aufgekauft und plant, sen ist.“ Die 60-Milliarden-Euro-Obergrenze kann also dies künftig in noch größerem Maße zu tun. Wenn die sehr schnell angepasst werden. EZB eine dieser Banken abwickelt, verhagelt sie sich Doch wie niedrig ist das Risiko für den Steuerzahler ihre eigene Bilanz. Ich rechne eher damit, dass die Ban- wirklich? Die Bilanzsumme der Banken in den ken künstlich am Leben erhalten werden – entgegen al- Krisenländern Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, len Regeln des Marktes, die wir ohnehin schon lange Zypern und Italien beläuft sich zusammen auf fahrlässig außer Kraft gesetzt haben. Im Ergebnis züch- 9 074 800 000 000 Euro – in Worten: über neun Billio- ten wir uns wie in Japan immer mehr Zombie-Banken nen. Für 8 Prozent dieser Summe haften zukünftig die heran. Und wenn dann doch einmal eine dieser Banken Eigentümer und große Gläubiger, für bis zu 5 Prozent Bankrott geht, wird der betroffene Staat die Verantwor- der neue Bankenrettungsfonds – sogenanntes „Bail-in“ –. tung auf die EZB schieben. Die Aufsicht hat versagt, Das läppische Restrisiko von 87 Prozent – gleich also muss der ESM haften und nicht der Euro-Mitglied- 7,9 Billionen Euro – trägt der Steuerzahler. Dies ist na- staat. Irgendwann platzt hier unweigerlich die Bombe. türlich nur das theoretische Risiko. Aus all diesen Erwägungen und noch vielen mehr stimme ich mit Nein. Rechnen wir das Haftungsrisiko einmal anhand der portugiesischen Großbank Banco Espirito Santo, BES, durch, die vor kurzem mithilfe von EFSF-Mitteln indi- Anlage 4 rekt rekapitalisiert worden ist. Hätte das Instrument der direkten Kapitalisierung aus dem ESM, das wir erst be- Erklärung nach § 31 GO schließen sollen, schon zur Verfügung gestanden, wären des Abgeordneten Dr. Philipp Murmann (CDU/ die Gelder mit Sicherheit direkt aus dem Rettungsschirm CSU) zu den Abstimmungen: an die Bank geflossen. Die Rechnung ist ganz einfach: Die Bilanzsumme der BES beträgt 80,6 Milliarden Euro. – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/ In der ersten Haftungsrunde werden Eigentümer und pri- 59/EU des Europäischen Parlaments und des vate Gläubiger mit 6,448 Milliarden Euro – gleich 8 Pro- Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines (B) zent – beteiligt. Auf den 55-Milliarden-Euro-Fonds der Rahmens für die Sanierung und Abwicklung (D) Banken entfallen weitere 4,03 Milliarden Euro, gleich von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen fünf Prozent, allerdings erst nach Auffüllung. Der Rest und zur Änderung der Richtlinie 82/891/ der Zeche von 70,122 Milliarden Euro hängt am ESM, EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/ an dem Deutschland mit 27 Prozent beteiligt ist. Im EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, schlimmsten Fall haftet also der deutsche Steuerzahler 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und für rund 19 Milliarden Euro einer portugiesischen Bank. 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Bevor nun der Einwand kommt, die BES habe nur Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des 4,4 Milliarden Euro an EFSF-Mitteln bekommen und Europäischen Parlaments und des Rates wäre mithilfe der neuen Haftungskaskade bereits in (BRRD-Umsetzungsgesetz) Runde 1 abgefangen worden, entgegne ich, dass einfach – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai nicht mehr Geld zur Verfügung stand. Man hat den letz- 2014 über die Übertragung von Beiträgen ten Rest aus dem 78 Milliarden Euro schweren Pro- auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und gramm, das im Herbst 2010 beschlossen worden war, über die gemeinsame Nutzung dieser Bei- zusammengekratzt. Ich wünsche es mir nicht, aber es be- träge steht zumindest die Gefahr, dass uns die „Rettung“ die- ser Bank irgendwann einmal wieder beschäftigen wird. (Tagesordnungspunkt 5 a) Über welche Summen wir beim Thema Bankenret- Im Rahmen des Gesetzes zu einer einheitlichen euro- tung sprechen, habe ich nicht nur weiter oben vorgerech- päischen Regelung zur Sanierung und Abwicklung von net, es gibt auch bereits Referenzfälle. So wurde für die Kreditinstituten im Krisenfall – sogenanntes BRRD- Umsetzungsgesetz – wird auch die Einführung einer eu- indirekte Rekapitalisierung spanischer Banken im ropäischen Bankenabgabe beschlossen, die zum Aufbau Sommer 2012 ein maximales ESM-Programmvolumen des Bankenabwicklungsfonds dient. Viele der jetzt be- von bis zu 100 Milliarden Euro beschlossen. Benötigt schlossenen Regelungen sind zu begrüßen, so zum Bei- wurden letztendlich „nur“ 41,5 Milliarden Euro. Wir se- spiel die Einführung der Haftungskaskade mit Gläubi- hen aber bereits hieran, in welchen Sphären wir uns be- gerbeteiligung und der Ansatz einer risikoabhängigen wegen. Der Bankenfonds von 55 Milliarden ist lächer- Ausgestaltung der Bankenabgabe für kleinere Banken. lich klein. Außerdem soll er erst in acht Jahren gefüllt Deswegen stimme ich dem Gesetzentwurf zu. sein. Ein Experte hat bei der öffentlichen Anhörung vor dem Finanzausschuss gesagt: „Ich weiß gar nicht, wie Zu kritisieren ist jedoch, dass die Abgabe in Deutsch- das funktionieren soll.“ Da habe ich mir gedacht: Dann land, anders als in anderen europäischen Ländern, nicht 5932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) von der Steuer absetzbar ist. Dies stellt einen erhebli- Eine komplette Abschaffung des AsylbLG, wie mit (C) chen Wettbewerbsnachteil und letztendlich eine Schwä- den Anträgen der Grünen und Linken gefordert, lehnen chung für die deutschen Banken dar, die sich auf dem wir jedoch ab. Das AsylbLG soll eine sozialrechtliche internationalen Finanzmarkt behaupten müssen. Diese Grundversorgung während eines vorübergehenden Zeit- Benachteiligung kann nicht im Interesse der deutschen raums sicherstellen. Das gilt insbesondere für Asylbe- Kunden und Steuerzahler sein. Eine einheitliche europäi- werberinnen und Asylbewerber, bis das Asylverfahren sche Regelung ist unbedingt notwendig. abgeschlossen ist, sowie für Geduldete, deren Aufenthalt der gesetzlichen Konzeption nach als provisorisch erach- tet wird. Diesem Grundgedanken wird die Anknüpfung Anlage 5 der Bezugsdauer von Leistungen an die Dauer des Auf- enthalts in Deutschland sowie die Reduzierung des ma- Erklärung nach § 31 GO ximalen Leistungsbezugs von 48 auf 15 Monate gerecht. der Abgeordneten Sabine Dittmar, Markus Paschke und Susann Rüthrich (alle SPD) zur Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Anlage 6 Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozial- Zu Protokoll gegebene Reden gerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) zum Entwurf eines Gesetzes für mehr Kontinui- Mit dem Gesetz werden die Leistungen für Asylsu- tät der Beitragssätze in der gesetzlichen Renten- chende rechtssicher festgesetzt und endlich das Urteil versicherung (Beitragssatzgesetz 2014) (Tages- des Bundesverfassungsgerichts von 2012 eins zu eins ordnungspunkt 15) umgesetzt. Zudem werden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, zukünftig ab Beginn ihres Aufenthalts Bil- Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir haben uns dungs- und Teilhabeleistungen gewährt, wodurch die als Koalition vorgenommen, die Rentenleistungen für Möglichkeiten zur sozialen Integration verbessert wer- die Menschen in unserem Land zu verbessern und das den. Rentensystem gerechter zu gestalten. Dafür haben wir das Rentenpaket geschnürt. Darin enthalten waren: Angesichts der aktuellen Entwicklungen und Krisen, Erstens: eine bessere Absicherung für Erwerbsgemin- die weltweit zu der größten Zahl an Flüchtlingen seit derte. dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, begrüßen wir die weiteren anstehenden Reformen. Das Gesetz ist ein ers- Zweitens: eine Anhebung des Rehabudgets, angepasst (B) ter Schritt hin zu einer umfassenden Reform des an die demografische Entwicklung. (D) AsylbLG, die die Länder und Kommunen entlastet und die Situation der Flüchtlinge verbessert. In den kommen- Drittens: eine bessere Anerkennung der Leistung der- den Monaten werden wir die weiteren Gesetzesvorhaben jenigen, die durch ihre sehr lange Beitragszeit einen gro- in dem Bereich nutzen, um diese Ziele zu erreichen. ßen Anteil an der guten Situation der Rentenversiche- rung haben – deshalb die sogenannte abschlagsfreie Insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung Rente mit 63. sind Veränderungen geboten. Der heute beschlossene Nothelferanspruch ist ein erster wichtiger Schritt, um die Viertens haben wir mit dem Paket eine Gerechtig- medizinische Versorgung von Asylbewerberinnen und keitslücke bei der Anrechnung der Kindererziehungszei- Asylbewerbern zu verbessern. Es wird damit eine medi- ten geschlossen. Die Leistung der Menschen, meist Müt- zinische Versorgung von Leistungsberechtigten in Eilfäl- ter, die die Grundlage für das Funktionieren der len gewährleistet und die Erstattung der Behandlungs- umlagefinanzierten Rente und deren gute finanzielle Si- kosten geregelt. tuation gelegt haben, wird nun besser anerkannt. Und das hilft gerade diesen Menschen. Sie hatten besonders Die Expertenanhörung am 3. November hat deutlich oft unterbrochene Erwerbsbiografien oder Teilzeitstel- gemacht, dass die derzeitige Praxis der Gesundheitsver- len, die nicht zu einer auskömmlichen Rente führen. Die sorgung darüber hinaus verbessert werden sollte. Die zu- Leistungsverbesserung greift hier also an der richtigen meist angewandte Praxis der Gewährung von Kranken- Stelle. scheinen nach vorherigem Antrag ist umständlich und bürokratisch. Die Modelle aus Bremen und Hamburg Ich habe Ihnen die Punkte nur noch einmal genannt, sind positive Beispiele, wie es besser gehen kann. um darzustellen, wie wir die Rentenversicherung noch gerechter gemacht haben. Unser Versprechen aus dem Mit dem Gesetz nehmen wir Gruppen mit bestimmten Koalitionsvertrag haben wir also eingelöst. Eine zentrale Aufenthaltstiteln aus dem Asylbewerberleistungsgesetz Aufgabe bleibt aber, neben der Gerechtigkeit auch für heraus. Die Kommunen und Länder werden entlastet – die Stabilität der Rentenversicherung zu sorgen. Um um 43 Millionen Euro jährlich ab 2016, 2015 schon um diese Stabilität auf Jahre hinaus zu verbessern, haben wir 31 Millionen Euro. Die Zusicherung der Bundes- im Frühjahr die eigentlich anstehende Senkung des Ren- regierung im Rahmen ihrer Protokollerklärung im Bun- tenbeitrags ausgesetzt – ausnahmsweise! Denn eine Aus- desrat vom 19. September, die Kommunen und Länder setzung der Rentenbeitragsanpassung sollte immer eine noch mehr zu entlasten, muss in den nächsten Monaten Ausnahme bleiben. Das Gesetz regelt das ja eigentlich, mit Leben gefüllt werden. wie Sie im Antrag schön beschreiben. Und das hat einen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5933

(A) Sinn: Denn die Füllung der Rentenkasse ist kein Zweck ten durch die Verlängerung der Zurechnungszeiten ab (C) an sich. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen ein, 1. Juli 2014 ein durchschnittliches Plus von rund damit die heutigen Rentner und Rentnerinnen Leistun- 45 Euro brutto im Monat bzw. mit Abschlägen von bis gen erhalten. Das ist der Kern des Umlageverfahrens un- zu 10,8 Prozent rund 40 Euro brutto; das sind etwa seres Rentensystems. Wenn absehbar ist, dass sie zu viel 500 Euro pro Jahr. Die Aufstockung des Rehabudgets einzahlen, ist eine Senkung deshalb nur logisch und rich- kommt denjenigen zugute, die Rehamaßnahmen in An- tig. spruch nehmen müssen. Und mit der Rente mit 63 Jah- ren können diejenigen, die besonders langjährig versi- Unter der schwarz-gelben Koalition begann der Bei- chert sind, die teilweise schon mit 15 oder 16 Jahren tragssatz 2011 zu sinken. Ein Prozent hat er seitdem angefangen haben zu arbeiten, eine Rente ohne Ab- schon gutgemacht. Wir wollen auch weiterhin die Ar- schläge erhalten. beitnehmer und Arbeitgeber in diesem Land entlasten, wenn es die finanzielle Situation zulässt. Wie es momen- Das Rentenpaket gibt also vor allem denjenigen Men- tan ausschaut, trifft genau das zu. Die finanzielle Situa- schen etwas zurück, die für unsere Gesellschaft und für tion der Rentenversicherung hat sich augenscheinlich die Stabilität unserer Sozialversicherungen besonders besser entwickelt als vor einem Jahr angenommen. Das viel geleistet haben. Die langjährig geschafft haben, die sollte uns alle in diesem Haus freuen. Daran hat natür- Kinder erzogen haben und mit ihren Beiträgen die Allge- lich die Politik der unionsgeführten Bundesregierungen meinheit gestützt haben. der vergangenen Jahre einen großen Anteil. Arbeits- marktpolitisch und wirtschaftlich wurden die richtigen Warum also sollten wir nun nicht auch die aktuellen Weichen gestellt. Möglichkeiten ausschöpfen, damit auch die Beitragszah- lerinnen und Beitragszahler von den positiven Entwick- Aber den größten Anteil an dieser Erfolgsgeschichte lungen in der Rentenversicherung profitieren? Denn sie haben eben die Beschäftigten und die Arbeitgeber selbst, sind es, die für die gute wirtschaftliche Lage in Deutsch- die, die die Beiträge gezahlt haben und zahlen. Wenn land verantwortlich sind und hart gearbeitet haben. ihre Löhne und der Arbeitsmarkt insgesamt sich so gut entwickeln, besteht einfach nicht mehr die Notwendig- Der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung keit, eine Anpassung nach unten zu verhindern. Im Ge- richtet sich nach einem gesetzlich festgelegten Mecha- genteil: Durch eine Entlastung der Arbeitgeber können nismus. Jährlich wird der Beitrag zur gesetzlichen Ren- diese mehr investieren. Gerade in Zeiten, in denen die tenversicherung anhand der Einkommensentwicklung Konjunkturprognosen nicht nur nach oben schießen, ist der Vorjahre neu berechnet und unter Berücksichtigung das wichtig. der Einnahmen und vorhandenen Reserven angepasst. (B) Gemäß § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zur gesetzli- (D) Nach dem momentanen Stand der Dinge wird sich der chen Rentenversicherung dann zu verändern, wenn die Rentenbeitrag aber auch noch in den kommenden Jahren Mittel der Nachhaltigkeitsrücklage ansonsten zum stabil niedrig halten lassen. Wir müssen derzeit also Jahresende entweder die untere Grenze von 0,2 Monats- nicht um die Stabilität der Rentenversicherung fürchten. ausgaben unterschreiten oder die obere Grenze von Wir dürfen uns vielmehr für die Leistungsträger unserer 1,5 Monatsausgaben überschreiten. Hintergrund dieser Gesellschaft freuen, wenn es zu einer Senkung des Ren- Regelung ist es, unterjährige Einnahme- und Ausgaben- tenbeitrags kommt. Und natürlich für die Leistungsemp- schwankungen auszugleichen. fänger, die nun mehr von ihrer Rente haben. Bei den Beratungen zum Rentenpaket sind wir davon Warum sollten wir nun also ein System, das seit Jahr- ausgegangen, dass die zusätzlichen Ausgaben zu stem- zehnten ordentlich läuft, das schon viele Widrigkeiten men sind bei einem für die kommenden Jahre stabilen überstanden hat, so massiv verändern, wir Sie es vor- Beitragssatz von 18,9 Prozent. Doch die Entwicklung schlagen? Wir passen die Rentenbeiträge so an, wie es der Rentenfinanzen ist trotz der Mehrausgaben positiver im System verankert ist. Wir entlasten Arbeitgeber und verlaufen, als es alle Experten vorausgesagt haben. Mit Arbeitnehmer, wenn es möglich und verantwortbar ist – der aktuellen Schätzung zur Finanzlage der Rentenversi- für die älteren ebenso wie für die jüngeren Generationen. cherung einschließlich der aktuellen Steuerschätzung ist es trotz der Ausgaben für das Rentenpaket möglich, den Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Jahr Rentenbeitrag ab dem Jahr 2015 um 0,2 Prozentpunkte 2014 ist für die Deutsche Rentenversicherung, für die herabzusetzen. Dies ist nicht zuletzt eine außerordentli- Rentnerinnen und Rentner und für die Beitragszahle- che Leistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszah- rinnen und -zahler ein Sensationsjahr. Die Rentenver- ler. sicherung steht so gut da wie kaum zuvor: Mit über 33,5 Milliarden Euro oder 1,82 Monatsausgaben ist die Gleichzeitig kann dieser verminderte Beitragssatz Nachhaltigkeitsrücklage erneut auf einem Höchststand. von 18,7 Prozent voraussichtlich auch in den nächsten vier Jahren so bestehen bleiben. Damit ist über mehrere Mit dem Rentenpaket haben wir die Leistungen für Jahre eine Entlastung der Beitragszahler garantiert, und die derzeitigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rent- die Arbeitgeber verfügen über langfristige Planungssi- ner erheblich verbessert. Ab dem 1. Juli 2014 profitieren cherheit. rund 9,5 Millionen Frauen und Männern, die vor 1992 ihre Kinder bekommen haben, von der Erhöhung der Er- Deshalb wird – nach geltendem Recht – zum 1. Ja- ziehungsjahre bei der Rente. Erwerbsgeminderte erhal- nuar 2015 der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversiche- 5934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) rung infolge der gesetzlichen Vorgaben um 0,2 Prozent- Ich wiederhole es an dieser Stelle gerne: Das Renten- (C) punkte von 18,9 auf 18,7 Prozent gesenkt werden. paket schafft mehr Gerechtigkeit bei der Anerkennung von Lebensleistungen. Und noch besser: Es ist offen- Auch angesichts der Gefahren eines schwächeren sichtlich bezahlbar. Wirtschaftswachstums ist die Senkung des Rentenversi- cherungsbeitrags das richtige Signal. So können durch Selbstverständlich ist die Rentenpolitik damit nicht die Einsparungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei abgeschlossen. Wir müssen weiter an den Herausforde- der Rente nachhaltig wirkende Impulse für eine wirt- rungen der Zukunft arbeiten. Wir wollen, dass die ge- schaftliche Belebung ausgehen. setzliche Rentenversicherung die tragende Säule einer armutsfesten Alterssicherung bleibt. Sie muss allerdings Und was viele vergessen: Eine Beitragssenkung hat durch Betriebsrenten oder öffentlich geförderte private stets auch positive Auswirkungen für die Rentnerinnen Vorsorge ergänzt werden, damit die Menschen im Alter und Rentner. Denn nach der gesetzlichen Rentenformel ihren Lebensstandard halten können. führt eine Beitragssenkung im darauffolgenden Jahr zu einer stärkeren Anhebung der Rentenzahlungen. Wir wollen ein Rentensystem, das weiterhin tragfähig ist. Deshalb denken wir zum Beispiel über individuelle Wir schaffen mit dem abgesenkten Rentenversiche- Renteneintritte nach. Wer länger arbeiten will und kann, rungsbeitrag eine Win-win-Situation für alle: die Bei- soll die Möglichkeit dazu haben. Es gilt: Wer nach Errei- tragszahlerinnen und Beitragszahler, die Unternehmen chen der Regelaltersgrenze noch keine Rente bezieht und für die Rentnerinnen und Rentner selbst. und weiter arbeitet, erhöht den zukünftigen Rentenan- spruch. (SPD): Der bisherige Debattenver- Gerade weil wir die Leistungsfähigkeit der Rente lauf hat gezeigt, dass man sehr unterschiedlich mit der erhalten wollen, haben wir auch den gesetzlichen erwarteten Senkung des Rentenbeitrags umgehen kann. Mindestlohn eingeführt. Deshalb kämpfen wir für gute, Die Reaktionen reichen von völliger Zustimmung bis hin existenzsichernde Arbeit. Denn wir wissen: Eine aus- zur klaren Ablehnung der Senkung. Zunächst einmal kömmliche Rente beginnt im Erwerbsleben. Die Renten- muss man ganz neutral sagen: Mit der Beitragssenkung versicherung kann nur dann funktionieren, wenn der folgen wir der gesetzlichen Logik. Arbeitsmarkt stabil ist und die Löhne der Menschen angemessen sind. Aktuell lassen sich die Arbeitsmarkt- Ich selbst tendiere zu einer Meinung, die zwischen zahlen als solide bezeichnen. Lassen Sie uns gemeinsam den genannten Extremen liegt: Einerseits begrüße ich darauf hinwirken, dass die Beschäftigung noch besser das Signal, das von der Absenkung ausgeht. Wir entlas- wird und hoch bleibt. (B) ten nämlich die Beitragszahler und würdigen damit die (D) wirtschaftliche Leistung der Beschäftigen und Unterneh- men in Deutschland. Und – auch das gehört zur Rech- Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Mit ihrem Ge- nung dazu – mit der Absenkung des Beitrags in 2015 setzentwurf fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen fällt die Rentenanpassung im Sommer 2015 höher aus. von der Linkspartei, uns auf, wie für dieses auch für das Arbeitnehmer und Rentner werden beide etwas mehr nächste Jahr die Beitragssenkung auszusetzen? Geld in der Tasche haben. Auch wenn ich selber Sympathien für eine Versteti- Andererseits habe ich Verständnis für diejenigen, die gung des Beitragssatzes habe: Wir haben uns in unserem die Rücklagen der Rentenversicherung erhalten wollen. Koalitionsvertrag nicht vorgenommen, die Deckelung Schließlich müssen wir uns auf die demografische Ent- der Nachhaltigkeitsrücklage aufzuheben. Wir hatten uns wicklung vorbereiten. aber sehr wohl anderes im Koalitionsvertrag vorgenom- men, nämlich ein ambitioniertes Rentenpaket, das wir im Ich hoffe, dass sich die angedachte Absenkung als ersten Halbjahr dieses Jahres umgesetzt haben. moderat erweist und wir am Ende nicht durch deutliche Das ist auch die Logik, der die Koalition gefolgt ist: Beitragsanstiege bestraft werden. Die Absenkung um Wir haben gerechte Leistungen definiert, die wir finan- 0,2 Prozentpunkte scheint mir kein radikaler Schritt zu zieren wollen, und haben daher die zu erwartenden Aus- sein. gaben berücksichtigt und den Beitragssatz trotz gefüllter Grundsätzlich freue ich mich über die Tatsache, dass Kassen nicht gesenkt. Und das war es wert. wir überhaupt eine Absenkung des Beitrags vornehmen Wir haben in diesem Jahr etwa eine Milliarde Euro können. Das heißt nämlich im Umkehrschluss: Die Lage für die Rente mit 63 eingesetzt, um langjährige Beitrags- der Rentenkasse ist momentan komfortabel. Sie ist bes- zahlung zu honorieren – wer 45 Jahre gearbeitet hat, ser als erwartet. Das ist eine gute Nachricht, besonders kann seit diesem Jahr abschlagsfrei mit 63 in Rente ge- vor dem Hintergrund der zuletzt beschlossenen Leis- hen. Das betrifft circa 240 000 Menschen in 2014, und tungsverbesserungen. Im Klartext: Wir können uns das das haben sie sich verdient! Rentenpaket tatsächlich leisten. Abschlagsfreie Rente ab 63 für langjährig Beschäftigte, mehr Mütterrente, höhere Wir setzen 3,3 Milliarden Euro für die sogenannte Renten für Erwerbsgeminderte, mehr Geld für Reha- Mütterrente ein und sorgen so für eine bessere Anerken- maßnahmen – das sind sinnvolle und überzeugende Ver- nung von Kindererziehung in der Rentenversicherung. besserungen, für die unsere Ministerin Auch wenn wir – das ist kein Geheimnis – eine Steuerfi- mit Hochdruck gearbeitet hat. nanzierung noch gerechter gefunden hätten, so ist die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5935

(A) Anerkennung der Erziehungsleistung grundsätzlich rich- kämpfung der Altersarmut, die Stabilisierung des Siche- (C) tig. Denn auch das haben sich in diesem Fall vor allem rungsniveaus oder auch eine noch bessere Absicherung die Mütter verdient. der Erwerbsminderung. Wenn wir diese Ziele angehen, bin ich mir sicher, dass wir auch die Akzeptanz für ange- Und auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminde- messene Beiträge erhalten werden. rungsrente und die Anhebung des Rehadeckels führen zu einer besseren sozialen Absicherung: Wenn jemand bei- „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusa- spielsweise mit 50 in die Erwerbsminderungsrente gehen gen, sondern auf sie gut vorbereitet zu sein“, wussten muss, werden ihm zwölf Jahre anstatt wie bisher zehn auch schon der alte Grieche Perikles. Das gilt insbeson- Jahre hinzugerechnet. Im Durchschnitt sind das dann dere für die soziale Sicherheit im Alter. 41 Euro mehr im Monat – das mag manchen sehr wenig erscheinen, für die Betroffenen ist dies aber viel Geld. Wir wollen ein solidarisches Rentensystem, das hohe Seit langer Zeit, nämlich seit 2002, sind das die ersten Akzeptanz und Vertrauen genießt. Dazu haben wir die- Verbesserungen im Leistungsrecht der Rentenversiche- ses Jahr einen großen Beitrag geleistet. Und daran wer- rung, und darauf sind wir stolz. den wir weiter mit aller Kraft arbeiten.

Dann ist dieses Jahr noch etwas passiert, worüber wir Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Schlag- uns, glaube ich, alle in diesem Haus sehr freuen. Die po- zeilen in dieser Woche lauten: Die Zahl der auf Grund- sitive Arbeitsmarktentwicklung hat zu noch höheren sicherung im Alter Angewiesenen stieg innerhalb nur ei- Rentenversicherungseinnahmen geführt. Und wir erwar- nes Jahres um sage und schreibe 7,4 Prozent auf ten das auch für das nächste Jahr. Die Steuerschätzung 499 000. – Die Rentenerhöhung fällt im nächsten Jahr von heute stützt die Annahme einer Absenkung um niedriger aus. – Und drittens wurde gerade heute Nach- 0,2 Prozentpunkte. mittag bekannt gegeben: Bundesarbeitsministerin Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzli- Nahles hält an der Senkung des Rentenbeitrages um ches über Beitragssenkung und Beitragserhöhungen sa- 0,2 Prozentpunkte für 2015 fest. gen: Frau Staatssekretärin, ich sage es Ihnen deutlich: Sie sind weder an und für sich gut und richtig noch an Wenn Sie den Beitragssatz jetzt senken, handeln Sie und für sich schlecht und falsch: Beitragssenkungen ent- grob fahrlässig und ignorieren die Jahr für Jahr größer lasten vor allem geringe Einkommen stärker als zum werdende Welle der Altersarmut. Sie gießen gerade Öl Beispiel Steuersenkungen. Sie senken die Lohnkosten ins Feuer! oder eröffnen Verteilungsspielräume der Gewerkschaf- Auf dem Arbeitgebertag frohlockte vorgestern die (B) ten zugunsten der Nettoeinkommen der Arbeitsneh- Kanzlerin: Die Rentenkasse ist gut gefüllt, also erlassen (D) merinnen und Arbeitnehmer – je nach Kräfteverhältnis wir euch, liebe Unternehmer, einmal ein paar Sozial- der Tarifparteien. Und Sie entlasten die Kommunen und beiträge. alle öffentlichen Haushalte. Das ist falsch: Die Rentenkasse leert sich gerade, und Dagegen können auch Sie erst mal nichts haben. Und zwar sehr fix. Seit der Verabschiedung des Rentenpakets dass wir die Beiträge letztes Jahr nicht gesenkt haben, im Juli ist die Nachhaltigkeitsrücklage von 34,3 Milliar- hat deswegen so eine große und breite Akzeptanz ge- den auf 32,4 Milliarden Euro im September gesunken – habt, weil den Beiträgen Leistungen gegenüberstanden, in zwei Monaten knapp 2 Milliarden Euro weniger in der die die Menschen als richtig und gerecht empfunden ha- Rentenkasse. 2 Milliarden! In zwei Monaten! ben. Woran liegt das? Es liegt an der Rentenanpassung Ich möchte an dieser Stelle die Umfragewerte in Erin- vom 1. Juli. Aber vor allem liegt es daran, dass Sie, nerung rufen. Rente mit 63: Nach einer Umfrage von meine Damen und Herren von Union und SPD, die Müt- TNS Infratest liegt die Zustimmung bei den 18- bis terrente aus Rentenbeiträgen der Versicherten bezahlen 34-Jährigen bei 89 Prozent und damit sogar über dem und nicht aus Steuergeldern. Das ist systemwidrig, grob Durchschnitt aller Befragten von 87 Prozent. Für die so- fahrlässig, sozial ungerecht und alles andere als nachhal- genannte Mütterrente sprechen sich nach einer Umfrage tig. von INFO GmbH 78 Prozent aus. Dr. Axel Reimann, der Präsident der Deutschen Ren- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, tenversicherung, warnt: Wenn wir so weitermachen, ist nicht nur Sie, sondern auch wir haben rentenpolitisch die Nachhaltigkeitsrücklage spätestens 2019 wieder leer, noch etwas auf unserer Agenda. Aber nicht nächstes also auf null. Jahr. Wir haben uns noch große Ziele gesetzt – teilweise in dieser Legislatur, teilweise darüber hinaus. Manches Die Nachhaltigkeitsrücklage ist weder nachhaltig wird auch ohne große Kosten trotzdem große Verbesse- noch eine Rücklage, wenn sie ohne jeden Grund für die rungen bringen und sogar perspektivisch Geld sparen. Mütterrente verballert wird. Sie müssten Steuergelder Das könnten – ohne vorgreifen zu wollen – Ergebnisse dafür verwenden. Und warum haben Sie die nicht? Weil der AG „Flexible Übergänge" sein. Sie unter anderem lieber 3,5 Milliarden Euro für die staatliche Riester-Förderung verpulvern. Für anderes werden wir Geld in die Hand nehmen müssen: Dazu gehören die Angleichung des aktuellen Nachhaltig heißt doch langfristig denken, oder? Wa- Rentenwerts Ost auf das westdeutsche Niveau, die Be- rum heißt die Nachhaltigkeitsrücklage dann so, wenn 5936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) wir ständig am Beitragssatz herumschrauben? Nachhal- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist (C) tig ist das nicht. Rücklage? Auch zurückgelegt wird da erfreulich, wenn sich die Finanzsituation der Rentenver- gar nix, wenn Sie die Nachhaltigkeitsrücklage bis 2019 sicherung besser als erwartet entwickelt. Die gute Kon- wieder auf null fahren. Das ist schlecht. junktur, ein hoher Beschäftigungsstand und das Ab- sinken des Rentenniveaus führten in der jüngeren Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Vergangenheit sowohl zu niedrigeren Beitragssätzen als Sie wollen die Versicherten kurzfristig um 0,1 Prozent- auch zu einer Rekordrücklage der Rentenversicherung. punkte entlasten. Na bravo; das sind bei durchschnittlich Verdienenden gerade einmal 2,90 Euro. Ein Cappuccino! Eine Beitragssatzsenkung zum jetzigen Zeitpunkt, Schön! Aber Sie denken dabei nicht an die Zukunft der wie von der Großen Koalition geplant, wäre trotzdem Versicherten. Eine sichere Rente wollen sich die Men- falsch. Sie mindert die Einnahmen und erhöht die Aus- schen erarbeiten und nicht 3 Euro weniger in diesem gaben der Rentenkasse. Genau das können wir uns vor Jahr und 5 Euro mehr in fünf Jahren bezahlen. dem Hintergrund gewaltiger Aufgaben nicht leisten. Al- lein in dieser Wahlperiode wird das Rentenpaket rund Genau deshalb fordert die Linke: erstens, den unsinni- 32 Milliarden Euro verschlingen. Der demografische gen Mechanismus zu streichen, der die Bundesregierung Wandel und nicht zuletzt die konjunkturelle Unsicher- dazu zwingt, ab einer Rücklage in Höhe von 1,5 Monats- heit kommen hinzu. ausgaben den Beitragssatz zu senken. So gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinsti- Zweitens fordern wir, die Mindestreserve auf eine tute für 2014 nur noch von einem Wirtschaftswachstum halbe Monatsausgabe anzuheben. Die Deutsche Renten- von 1,2 Prozent anstatt von 1,8 Prozent aus. Auch 2015 versicherung hatte sich in der Ausschussanhörung im fällt die Wachstumsprognose von 2,0 auf 1,3 Prozent. Februar genau für eine solche Mindestreserve von einer Der Internationale Währungsfonds, IWF, warnt in sei- halben Monatsausgabe ausgesprochen. nem Weltwirtschaftsausblick vor den Abwärtsrisiken. Wir müssen den Deckel oben lüften und den Boden Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Oktober zum sechs- unten anheben. Das wäre nachhaltig. Beides würde Ver- ten Mal in Folge gefallen. Und das Deutsche Institut für sicherten und Arbeitgebern stabile Beiträge garantieren Wirtschaftsforschung spricht von einem merklichen und wilde Sprünge des Beitragssatzes vermeiden. Die Stottern des Konjunkturmotors mit einem Nullwachstum Versicherten könnten planen, und wir könnten uns lang- im Schlussquartal. fristig daranmachen, die Zukunftsprobleme der Rente Dies alles ist zwar noch kein Anlass zur Panik. Anlass anzupacken. für Vorsicht sollte es aber schon sein. Denn eine Sen- (B) Zuallererst müssen wir das Problem zu niedriger Ren- kung des Beitragssatzes im kommenden Jahr wird zu (D) ten und das Problem der Altersarmut angehen. Dafür noch kräftigeren Beitragssatzerhöhungen in den Folge- brauchen wir jeden Cent in der Rentenkasse. Angesichts jahren führen. der Herausforderungen müssen wir den Beitragssatz sta- bilisieren und moderat anheben. Das wäre nachhaltig. Hinzu kommt, dass die voraussichtliche Beitragssatz- Das wäre vorausschauend. Und das wäre zukunftssicher. senkung nur mithilfe eines statistischen Tricks ermöglicht wird. Weil die Bundesagentur für Arbeit die Beschäftig- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, tenstatistik verändert hat, fallen die Rentenerhöhung und Sie wollen stattdessen Versicherte in die Riester-Rente somit die Ausgaben der Rentenversicherung im kom- schieben oder dazu zwingen, auf Lohn zu verzichten und menden Jahr geringer aus. Ohne diesen Effekt, der dann den in die Betriebsrenten zu stecken. Ich sage Ihnen: im Jahr 2016 wie ein Bumerang auf die Ausgabenseite Wer sich das leisten kann, okay, aber auf den Arm neh- der Rentenkasse zurückkommt, wäre eine Senkung der men lassen sich die Menschen nicht so leicht. Die Zinsen Beiträge heute nicht in der Diskussion. der Riester-Verträge sind im Keller: Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Absenkung des Christoph Rybarczyk vom Hamburger Abendblatt Rentenbeitragssatzes. Zum einen ist auch langfristig mit schrieb am Dienstag: „Gleichzeitig bleibt die gesetzliche weiter steigenden Beiträgen zu rechnen. Für diesen ab- Rente bei einer Rendite von 3,2 bis 3,8 Prozent. Das sehbaren Beitragsanstieg sollte schon heute Vorsorge ge- wirft ein neu abgeschlossener Riester-Vertrag nur ab, troffen werden, um die Auswirkungen für die Wirtschaft wenn man 100 Jahre alt wird.“ Kluger Mann! und auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abzufedern. Im Sinne der Planungssicherheit der Unter- Deshalb: Wenn Sie aus der Finanzkrise lernen wollen, nehmen und Betriebe darf es kein „Beitrags-Jojo“ geben. dann vergessen Sie Riester, und kümmern Sie sich um die gesetzliche Rentenversicherung. Streichen Sie end- Deswegen sollte eine höhere Nachhaltigkeitsrück- lich die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsfor- lage gebildet werden. So offenbarte eine öffentliche An- mel, und kehren Sie wieder zu einem Rentenniveau vor hörung zum Beitragssatzgesetz 2014 am 17. Februar Steuern von 53 Prozent zurück. Das würde in den kom- 2014 im Arbeits- und Sozialausschuss, dass zehn von menden Jahren die Renten der Älteren stabilisieren und zwölf Sachverständigen die Obergrenze der Nachhaltig- die Jüngeren wieder davon überzeugen, dass die gesetz- keitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben als zu niedrig liche Rente sicher ist. Dafür brauchen wir die Rentenbei- einschätzen. Für eine gänzliche Abschaffung der Ober- träge, und deshalb darf der Beitragssatz nicht gesenkt grenze – wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf fordert – werden. gab es indes keine Mehrheit. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5937

(A) Wir lehnen den Gesetzentwurf der Linken ab, da wir Der Antrag der Grünen liest sich aber so, als hätten (C) – ähnlich wie die meisten Sachverständigen – eine gänz- wir es in Deutschland mit unzähligen (Umsatz-)Steuer- liche Abschaffung der Obergrenze der Nachhaltigkeits- betrügern zu tun, für deren Bekämpfung der Steuerver- rücklage für nicht sinnvoll erachten. Eine Obergrenze waltung keine wirksamen Instrumente zur Verfügung gibt Orientierung und schafft eine Systematik für die stehen. Beitragssatzfestsetzung. Vollkommen richtig ist es indes, die Mindestrücklage von 0,2 auf 0,5 Monatsausgaben zu Das Gegenteil ist der Fall. Beim Umsatzsteuerbetrug erhöhen. Hiervon ist im Übrigen auch die Deutsche Ren- geht es um Einzelfälle, die zugegeben oft hohe Summen tenversicherung überzeugt. betreffen. Aber nicht jeder Unternehmer verkürzt seine Umsatzsteuerschuld. Ein Generalverdacht ist gefährlich Zugleich steht die Rente auch auf der Leistungsseite und wird schnell peinlich, wenn der Beweis nicht ge- vor großen Herausforderungen. Bei den beitragsfinan- führt werden kann. zierten Leistungen sind vor allem Verbesserungen bei Erwerbsminderung und Rehabilitation notwendig. Die Das musste auch der NRW-Finanzminister erleben. Er von Schwarz-Rot verabschiedeten Maßnahmen zur Ver- hat erst vor kurzem medienwirksam dem angeblich mas- besserung der Erwerbsminderungsrente gehen in die senhaft stattfindenden Umsatzsteuerbetrug mit Regis- richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Die Abschläge trierkassen den Kampf angesagt. Nach Rücksprache mit auf Erwerbsminderungsrenten sollten abgeschafft wer- seinem Ministerium musste er feststellen, dass dazu den, wenn der Zugang allein aufgrund medizinischer keine Zahlen vorliegen, die diesen Verdacht erhärtet hät- Diagnose und Prüfung erfolgt. An den Abschlägen auf ten. Seither habe ich von der Initiative nie wieder etwas Erwerbsminderungsrenten hält die Bundesregierung gehört. Zuvor hatte er aber einen ganzen Berufsstand aber ausdrücklich fest. Aktuell stehen zudem nicht aus- pauschal verurteilt. reichend Mittel zur Rehabilitation zur Verfügung. Wird 2012 gab es laut der offiziellen Umsatzsteuerstatistik das Rehabudget nicht umgehend bedarfsgerecht ausge- knapp 370 000 Einzelhandelsbetriebe – ohne Kfz-Han- staltet, wird die Zahl der Erwerbsminderungsrentnerin- del und Tankstellen – sowie rund 225 000 Betriebe des nen und -rentner absehbar steigen. Gastgewerbes. Selbst wenn es also bundesweit jeweils Eine Bundesregierung, die gestern das Rentenpaket 10 000 Betriebe in beiden Wirtschaftszweigen gäbe, die verabschiedet hat, heute die Beitragssätze senken will sich illegal verhielten, wären dies gerade einmal und morgen kräftigste Beitragssatzsteigerungen in Kauf 2,7 bzw. 4,4 Prozent aller Betriebe. Sollten aber tatsäch- nehmen wird, handelt kurzsichtig. Gerade in der Alters- lich 20 000 Betriebe systematisch Umsatzsteuer hinter- versorgung aber lohnt es sich, für nachhaltige und stabile ziehen, würde es doch wohl gerichtsfeste Zahlen darüber Rentenfinanzen zu sorgen. geben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Jeder (B) Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden, aber wir (D) sollten das Problem nicht größer reden, als es tatsächlich Anlage 7 ist. Zu Protokoll gegebene Reden Wir müssen das Umsatzsteuerrecht ständig weiterent- wickeln. Das ist ein laufender Prozess, der auch die zur Beratung des Antrags: Umsatzsteuerbetrug Steuerverwaltung bei der Ahndung von Steuerhinterzie- bekämpfen (Tagesordnungspunkt 17) hungen unterstützt. Der vorliegende Grünen-Antrag ist dagegen ein Fritz Güntzler (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag Schrotschuss, bei dem sie mit vielen Forderungen alles verfolgt das richtige Ziel, Umsatzsteuerbetrug in Deutsch- irgendwie ein wenig ansprechen: alles wenig konzeptio- land zu bekämpfen. Er unterstellt aber, hier sei bisher so nell. gut wie nichts geschehen. Das ist aber falsch. Sie wissen, dass unser Mehrwertsteuersystem auf eu- Das Umsatzsteueraufkommen betrug im Jahr 2013 ropäischem Recht beruht, das uns als Gesetzgeber einen knapp 200 Milliarden Euro. Die Umsatzsteuer ist damit strengen Handlungsrahmen vorgibt. Unsere Bemühun- eine der wichtigsten Finanzierungsquellen des Staates. gen, das System zu verbessern, finden daher sowohl auf Sie ist mit einem Anteil von rund 32 Prozent an den ge- europäischer als auch auf nationaler Ebene statt. samten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kom- munen die mit Abstand bedeutendste Steuer. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ein wichtiges Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung ist und Die Sicherung des Umsatzsteueraufkommens ist also könnte das Reverse-Charge-Verfahren im Geschäftsver- von großer Bedeutung. Die Koalitionsfraktionen und die kehr zwischen Unternehmern sein, wie auch von Ihnen Bundesregierung sind sich dessen bewusst. Wir arbeiten im Antrag angesprochen. fortlaufend daran, Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen und aufkommende Probleme zu beseitigen. Denn eines Umsatzsteuerschuldner ist in diesen Fällen dann nicht ist klar: Steuerhinterziehung schadet der Allgemeinheit, der Leistende, sondern der Leistungsempfänger. Ist der muss verfolgt und entsprechend geahndet werden, am Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt, besten aber unmöglich gemacht werden. Das tun wir gleichen sich geschuldete Reverse-Charge-Umsatzsteuer nicht nur, um das Steueraufkommen zu gewährleisten, und Vorsteuerabzug aus. Das verringert zwar die Gefahr sondern auch, um die vielen steuerehrlichen Unterneh- von Umsatzsteuerbetrug. Das Verfahren an sich ist aber mer nicht zu benachteiligen. selbst wiederum nicht unproblematisch. 5938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Mit dem Verfahren soll ungerechtfertigte Geltendma- Die Bundesregierung ist bei der Bekämpfung von (C) chung des Vorsteuerabzugs erschwert werden. Bisher ist Umsatzsteuerbetrug auf einem guten Weg. Ihres Antra- das Reverse-Charge-Verfahren in der Mehrwertsteuer- ges bedarf es daher nicht, insbesondere weil einige systemrichtlinie nur als Ausnahme vorgesehen. Punkte, die dort angesprochen sind (Gelangensbestäti- gung, Reverse-Charge bei Metallen), bereits umgesetzt Die Bundesregierung hat sich schon während der worden sind. deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 für die Verankerung eines generellen Reverse-Charge-Verfah- Gern können wir die einzelnen Maßnahmen noch im rens auf europäischer Ebene eingesetzt. Aufgrund massi- Ausschuss diskutieren. Wichtig ist aber: Der Umsatz- ver politischer Vorbehalte einer Reihe von Mitgliedstaa- steuerbetrug muss bekämpft werden. Das wird eine stän- ten der Europäischen Union war dies jedoch bisher nicht dige Aufgabe sein, der wir uns stellen. durchsetzbar.

Die Kommission hat damals entschieden, dass nur Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Der Antrag Ausnahmen, auf einzelne Branchen beschränkt, zulässig von Bündnis 90/Die Grünen „Umsatzsteuerbetrug be- seien. So wurde das Reverse-Charge-Verfahren ab Juli kämpfen“ adressiert ein altbekanntes Problem. 2011 auch für die Lieferung von Mobilfunkgeräten und integrierten Schaltkreisen eingeführt. Durch Umsatzsteuerbetrug entgehen dem deutschen Mit dem Kroatien-Gesetz haben wir das Reverse- Fiskus nach Schätzungen des Ifo-Instituts 14 bis 15 Mil- Charge-Verfahren zum Beispiel bei edlen und unedlen liarden Euro im Jahr. Ein großer Teil dieser Summe geht Metallen eingeführt. Der Fall zeigt ehrlicherweise auch, dabei auf die Aktivitäten krimineller Organisationen zu- dass Betrugsbekämpfung massive bürokratische Auswir- rück, die staatenübergreifend sogenannte Karussellge- kungen haben kann. Zum Beispiel eine gesplittete Rech- schäfte praktizieren. Aber auch durch geplante Insolven- nung beim Kauf von Alufolie im Baumarkt an einen Un- zen, die Berechnung falscher Steuersätze, nicht korrekte ternehmer. Daher denken wir gegenwärtig über die Erfassung von Privatentnahmen oder manipulierte Re- Einführung einer Bagatellgrenze und Korrekturen nach. gistrierkassen werden jährlich erhebliche Beträge an Umsatzsteuer hinterzogen. Außerdem sieht die Mehrwertsteuersystemrichtlinie mittlerweile vor, dass die Mitgliedstaaten der Union den Der Bundesrechnungshof hat im September 2012 zu- sogenannten Schnellreaktionsmechanismus einführen kön- sammen mit den Kollegen aus Belgien und den Nieder- nen. Mit dem Zollkodex-Anpassungsgesetz wollen wir das landen einen Bericht vorgelegt, in dem auf zwei EU- umsetzen. Es geht darum, das Bundesministerium der Schätzungen aus dem vergangenen Jahrzehnt verwiesen Finanzen dazu zu ermächtigen, in dringenden Fällen den wird, wonach sich der Schaden in der EU auf 100 Mil- (B) (D) Leistungsempfänger zum Schuldner der Umsatzsteuer liarden Euro im Jahr belaufe. bestimmen zu können. Damit steht ein weiteres wirksa- mes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung Der Umsatzsteuerbetrug kann aber auch für ehrliche bereit. Unternehmer zu einem ernsten Problem werden. Die un- gewollte Verwicklung in Umsatzsteuerbetrugsaktivitäten Die EU-Kommission will Überlegungen zu einem kann fatale Konsequenzen für Unternehmen und deren umfassenden Umbau der Mehrwertsteuersystemrichtli- Mitarbeiter haben. Denn nach der Rechtsprechung des nie anstellen. Das Ziel sei ein einfacheres, wirksameres BFH trägt der Unternehmer die Feststellungslast für den und betrugssicheres Mehrwertsteuersystem für den Bin- Vorsteuerabzug. Der EuGH hat zwar mittlerweile in ver- nenmarkt. Wir würden das sehr begrüßen. Ich bin sicher, schiedenen Urteilen festgestellt, dass die Finanzbehör- dass sich auch die Bundesregierung erneut konstruktiv in den die objektiven Umstände dafür darlegen müssen, diese Debatte einbringt. dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müs- Sie fordern gleiche Zugriffsrechte von Bund und Län- sen, dass der von ihm bezogene Eingangsumsatz in eine dern auf Datenbanken und Steuerstatistiken. Sie wissen Steuerhinterziehung einbezogen war. Dennoch besteht doch, dass es schon eine beim Bundeszentralamt für für den ehrlichen Unternehmer immer noch ein erhebli- Steuern angesiedelte Stelle zur Koordinierung der Prü- ches Risiko, auch wenn er unwissentlich in einen Um- fungsmaßnahmen der Länder gibt. Diese ist gerade für satzsteuerbetrug verwickelt wird. Unternehmer müssen die Fälle, in denen mehrere Bundesländer oder andere nach der Rechtsprechung des EuGH die vernünftiger- EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden müssen, einge- weise von ihnen zu erwartenden Maßnahmen gegen die richtet worden. Diese Koordinierungsstelle beschränkt Einbeziehung in eine Umsatzsteuerhinterziehung treffen. ihre Arbeit nicht nur auf die Koordination der betroffe- Deshalb muss sich der Unternehmer durch geeignete or- nen Behörden, sondern sammelt selbst Informationen ganisatorische Maßnahmen im Unternehmen davor über Betrugsmuster und gibt diese an die Behörden wei- schützen. ter. Umsatzsteuerbetrugsgeschäfte tauchen verstärkt bei Die Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug ist wichtig, hochpreisigen sowie schnell handelbaren Wirtschaftsgü- und ich habe ausgeführt, dass wir viel dafür getan haben tern auf. Ein besonders dreister Fall war vor einigen Jah- und tun werden. Bei allen Maßnahmen gilt es, das rich- ren der Betrug beim Handel mit Verschmutzungsrechten, tige Maß zwischen Betrugsbekämpfung und unnötiger in den auch die Deutsche Bank einbezogen war. Hier Bürokratie zu finden. Auch ist klar: Es wird immer sind binnen kürzester Zeit Hunderte von Millionen Euro Leute geben, die geltende Gesetze umgehen. durch Umsatzsteuerbetrüger ergaunert worden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5939

(A) Besonders gefährdet sind Branchen, die nicht unter gewogenen Mix von Vermeidung von Betrügereien, per- (C) das Reverse-Charge-Verfahren im Sinne von § 13 b Ab- sonellen Ressourcen und zumutbarem Bürokratieauf- satz 2 UStG in Verbindung mit § 13 b Absatz 5 UStG wand zu finden. Bevor wir deshalb weitere Maßnahmen fallen. ergreifen, sollten wir die Wirkungen der bisher schon eingeleiteten Maßnahmen abwarten. Im Rahmen des Kroatien-Gesetzes haben wir hier für bestimmte Produkte eine Umkehr der Steuerschuldner- Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. schaft festgelegt, beispielsweise für die Lieferung von Edelmetallen wie Gold, Silber und Platin sowie aller un- Frank Junge (SPD): Jeder Euro, der unserem Staat edlen Metalle und für bestimmte Elektronikartikel wie durch Steuerhinterziehung oder Steuerbetrug verloren Spielekonsolen und Tablet-PCs. geht, schwächt ihn in seiner Fähigkeit, Aufgaben und Soweit erforderlich, wird eben sehr schnell auf er- dringend benötigte Leistungen für seine Bürgerinnen kannte Betrugsfälle auch vonseiten des Gesetzgebers re- und Bürger zu übernehmen. Insofern vergehen sich Hin- agiert. Auch durch das Zollkodexanpasssungsgesetz terzieher und Betrüger in puncto Steuern doppelt an der wird eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von Be- Allgemeinheit: rechtlich, weil sie gegen das Gesetz ver- trügereien geschaffen. stoßen, und moralisch, weil sie die gleichen infrastruktu- rellen Leistungen des Staates nutzen und in Anspruch Die Finanzverwaltung bekämpft ganz systematisch nehmen, die Kosten dafür jedoch anderen aufbürden. den Umsatzsteuerbetrug. Dazu verwendet die Finanzver- Und dann meist sogar noch denen, die finanziell wesent- waltung Checklisten, die entsprechende Verdachtsmo- lich schlechter gestellt sind als sie selber. mente bzw. Auffälligkeiten auflisten. Für uns Sozialdemokraten ist das eine mordsmäßige Das BMF hat gemäß einem Artikel in der Zeitung Sauerei, die wir mit allen zur Verfügung stehenden Mit- PStR Praxis Steuerstrafrecht einen mehr als 100 Punkte teln konsequent bekämpfen, verfolgen und bestrafen zählenden Katalog von Verdachtsmomenten zusammen- müssen. gestellt. Ebenso enthält, wie in dem Artikel ausgeführt wird, das bundeseinheitliche Handbuch für die Umsatz- Wenn wir also heute über Ihren Antrag zum Thema steuer-Sonderprüfung eine eigene Passage betreffend Umsatzsteuerbetrug reden, liebe Kolleginnen und Kolle- Umsatzsteuerkarussellgeschäfte. Hier sind Leitlinien gen von Bündnis 90/Die Grünen, dann freue ich mich und Hinweise für das Erkennen, die Aufdeckung und die grundsätzlich sehr darüber, dass Sie dieses Thema auf Behandlung von Umsatzsteuerbetrugsgeschäften nieder- die Tagesordnung gehoben haben. Es zeigt mir nämlich, gelegt. dass Ihnen das Problem und die Bekämpfung des Um- satzsteuerbetrugs genauso am Herzen liegen wie meiner (B) Darüber hinaus arbeitet die Finanzverwaltung sehr Fraktion. (D) eng mit den entsprechenden Behörden im In- und Aus- land zusammen, um auch den Betrug über die Grenze Auf der anderen Seite wird mir jedoch nicht klar, an hinweg zu verfolgen. welcher Stelle Ihr Antrag heute neue Aspekte oder An- satzpunkte bietet, an denen wir andocken sollten. Oder Es gäbe sicherlich noch eine ganze Reihe von Mög- wollten Sie den Inhalt eines diesbezüglichen Antrages lichkeiten, den Umsatzsteuerbetrug einzudämmen. Aber von Ihnen aus der letzten Wahlperiode hier einfach nur vieles davon lässt sich eben nicht so einfach verwirkli- noch einmal mit uns erörtern? So oder so kann ich Ihnen chen. sagen, dass wir uns bei der Widerspiegelung der Bedeu- tung und der Tragweite des Problems für unser Land al- In den vergangenen Jahren wurde beispielsweise von lem Anschein nach einig sind. Deutschland aus der Versuch unternommen, zur Ein- dämmung des Umsatzsteuerbetruges das Reverse- Wir Sozialdemokraten setzen uns daher entschieden Charge-Modell für die Umsatzbesteuerung einzuführen. gegen jede Form von Steuerhinterziehung ein. Wir wer- Leider scheiterte das aber an den anderen Ländern in der den es nicht hinnehmen, dass unserem staatlichen Ge- EU, die sich nicht dazu durchringen konnten, dem deut- meinwesen jährlich Milliarden von Steuern vorenthalten schen Vorstoß zuzustimmen. Das ist das Dilemma. Das werden. Wir haben daher im Koalitionsvertrag ein ent- Umsatzsteuerrecht ist weitgehend durch europäisches schiedenes Vorgehen gegenüber Steuerhinterziehern ver- Recht geprägt. Veränderungen im Umsatzsteuerrecht einbart und konkrete Maßnahmen dafür bereits einge- sind deshalb alleine auf nationaler Ebene nur noch sehr leitet. National werden wir die Regelungen zur eingeschränkt möglich. Deshalb muss zur Eindämmung steuerbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung von Betrügereien auf jeden Fall auf eine gesamteuropäi- deutlich verschärfen. Zudem hat Deutschland – Sie erin- sche Lösung gesetzt werden. Derzeit bereitet die EU- nern sich an unsere Debatte vom heutigen Vormittag hier Kommission anscheinend einen weiteren Anlauf vor, das im Deutschen Bundestag – ein Abkommen zum automa- europäische Mehrwertsteuersystem weiter zu vereinheit- tischen Informationsaustausch in Steuersachen unter- lichen und dadurch die Betrugsanfälligkeit des Systems zeichnet, das es uns zukünftig leichter machen wird, zu verringern. Steuerhinterzieher zu enttarnen. Wir berücksichtigen schon heute alle Möglichkeiten, Dass 50 Staaten diesen hohen Steuerstandard anwen- soweit Handlungsbedarf auf diesem Gebiet erforderlich ist, den wollen, ist aus Sicht der SPD-Fraktion ein großer durch gesetzgeberische Maßnahmen, wie das Kroatien- Erfolg. Diesen Stand der Dinge habe ich selbst vor noch Gesetz gezeigt hat. Dabei gilt es ganz allgemein, einen aus- nicht allzu langer Zeit für unmöglich gehalten. Ich 5940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) möchte daher von hier aus gern einen Dank an Bundes- die von Ihnen angesprochenen Lieferungen von unedlen (C) finanzminister Schäuble senden, der sich für dieses Ab- Metallen und Edelmetallen. Im Rahmen des Zollkodex- kommen eingesetzt hat. Anpassungsgesetzes führen wir außerdem den Schnell- reaktionsmechanismus ein. Ich unternehme das jedoch nicht, ohne mit gewissem Stolz darauf hinzuweisen, dass wir heute nicht an diesem Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, kann die Ver- Punkt stehen würden, wenn das geplante schwarz-gelbe waltung künftig umgehend und gezielt auf Betrugsfälle Steuerabkommen mit der Schweiz aus der letzten Legis- reagieren. Und das ist natürlich richtig so! Sie sprechen latur nicht gestoppt worden wäre. zudem davon, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene weiter auf einen Systemwechsel hin zu einem generellen Aber kommen wir zurück zum Umsatzsteuerbetrug, Reserve-Charge-Verfahren drängen soll. Ich sage Ihnen: dem eigentlichen Thema Ihres Antrages. Dessen Be- Auch hier vertreten wir die gleiche Position. Aber Sie kämpfung ist naturgemäß eine Daueraufgabe, die sich wissen genauso gut wie ich, dass diesbezügliche Initiati- faktisch seit der Einführung des europäischen Mehrwert- ven bisher geplatzt sind. Im Jahr 2007 haben wir uns steuersystems stellt. Für den Staat ist die Umsatzsteuer fraktionsübergreifend für einen solchen Systemwechsel eine der wichtigsten Einnahmequellen überhaupt. Allein auf europäischer Ebene eingesetzt. Damit sind wir kra- im Jahr 2013 betrug das Umsatzsteueraufkommen 196 chend am Widerstand der Kommission und zahlreicher Milliarden Euro. Nach Schätzungen des ifo-Instituts von Mitgliedstaaten gescheitert. Es gab nicht ansatzweise ge- 2007 entgehen der Bundesrepublik Deutschland 14 bis nügend politische Unterstützung für unser Vorhaben. 15 Milliarden Euro jährlich durch Hinterziehung. Sie haben daher recht, wenn Sie in Ihrem Antrag von Gleichwohl können Sie sich sicher sein, dass wir der Betrugsanfälligkeit bei der Umsatzsteuer sprechen. – und das gilt selbstverständlich auch für die Bundesre- Diese ist allerdings systembedingt. Eine grundsätzliche gierung – alle formellen und informellen Wege nutzen, Lösung kann es deshalb nur auf internationaler Ebene, in um das Thema in den zuständigen Gremien der EU an- Zusammenarbeit mit unseren Partnerländern in der Eu- zusprechen und für einen Systemwechsel zu werben. ropäischen Union, geben. Er läge im Interesse der Wirtschaft wie der Finanzver- Gerne gehe ich nachfolgend noch konkreter auf ver- waltung, da punktuelle Ausnahmen das Steuerrecht na- schiedene Punkte aus Ihrem Antrag ein. türlich verkomplizieren und bürokratischen Aufwand er- zeugen. Wir brauchen den generellen Systemwechsel. Sie schreiben, dass Sie eine bessere Bund-Länder-Zu- Solange wir den aber nicht haben, soll die Verwaltung sammenarbeit wünschen, um Kompetenzen zu bündeln den Schnellreaktionsmechanismus mit Augenmaß ein- und schneller bei Betrugsdelikten aktiv zu werden. Da setzen. (B) sind wir ganz bei Ihnen. Lassen Sie uns das ausführlich (D) im dafür zuständigen Finanzausschuss tun und dort ge- Zum Schluss meiner Rede will ich meine Worte kurz meinsam prüfen, an welchen Stellen man Verbesserun- zusammenfassen: gen erreichen kann. Erstens. Inhaltlich, liebe Fraktion Bündnis 90/Die Sie fordern, dass die Hinweise auf Betrug mit mani- Grünen, bringt Ihr Antrag heute überhaupt nichts Neues. pulierten Registrierkassen ernst genommen werden müs- Zweitens. Uns eint offensichtlich der Wille, unsere sen und dazu ein Gesetzentwurf vorgelegt werden soll. Kräfte zu bündeln, um noch wirkungsvoller gegen Um- Sorry, da müssen Sie nicht aufgepasst haben. Bereits satzsteuerbetrüger vorzugehen. knapp zwei Monate vor Ihrem Antrag, am 7. Mai 2014, hat meine Fraktion dieses Anliegen im Finanzausschuss Lassen Sie uns deshalb genau das tun und uns im Fi- thematisiert. Hierzu erklärte der Parlamentarische nanzausschuss weiter mit dem Thema auseinanderset- Staatssekretär Dr. , dass sich das Finanz- zen. ministerium derzeit in Gesprächen mit den Ländern be- finde und alle Länder diesbezüglich einen Handlungsbe- Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren darf erkennen. Ob der Gesetzgeber oder die Verwaltung heute Abend einen Antrag mit dem Titel „Umsatzsteuer- tätig werden muss, bleibt abzuwarten. Diesen Punkt hät- betrug bekämpfen“. Wie wir alle wissen, ist der Betrug ten Sie sich in Ihrem Antrag also sparen können, bzw. es besonders bei der Umsatzsteuer hoch – und das schon wäre meines Erachtens konstruktiver gewesen, zunächst seit Jahren. Die Europäische Kommission schätzt die die gewonnenen Erkenntnisse aus den diesbezüglichen Steuerausfälle allein für Deutschland auf rund 27 Mil- Gesprächen des Bundesfinanzministeriums mit den Län- liarden Euro jährlich. Das bestreitet zwar die Bundes- dern abzuwarten. regierung pflichtgemäß, aber man braucht bloß die ein- Einig sind wir uns allerdings wieder bei der Eindäm- zelnen Beträge nachzurechnen, und dann sieht man, dass mung von Umsatzsteuerbetrugsgestaltungen durch das es ungefähr hinkommt. 27 Milliarden Euro – das ist sogenannte Reverse-Charge-Verfahren. mehr als die Bundesregierung pro Jahr für Bildung, For- schung und Gesundheit ausgibt. Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuer- rechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Ände- Warum ist das so? Manipulierte Kassen in Geschäften rung weiterer steuerlicher Vorschriften haben wir die und Restaurants, Abzug von Umsatzsteuer, ohne dass sie Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers für be- vorher bezahlt wurde – also Vorsteuerabzug –, Schwarz- trugsanfällige Branchen eingeführt, unter anderem für arbeit, unterschiedliche EDV-Systeme in den Finanzver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5941

(A) waltungen der Bundesländer und so weiter – die Liste der Bauwirtschaft, bei Grundstücksgeschäften oder Un- (C) der Ursachen ist lang. ternehmenspleiten (§ 13 b UStG). Daher wäre eine Um- kehrung der Steuerschuldnerschaft also nicht komplett International werden Betrügereien durch unterschied- neu. liche gesetzliche Rahmenbedingungen erleichtert. Wel- cher Mehrwertsteuersatz in einem europäischen Land Obwohl wir also wissen, wo die Probleme liegen, ob- gilt, ist nicht ohne Weiteres sofort zu erkennen – unter- wohl wir wissen, dass viel Steuergeld verloren geht, liegt der Umsatz der vollen Mehrwertsteuer, oder ist ei- wird wenig dagegen getan. ner der ermäßigten Umsatzsteuersätze anzuwenden? Das nutzen manche Unternehmen aus und berechnen oft we- Zwar haben sich die EU-Kommission und andere niger Umsatzsteuer als vorgeschrieben. europäische Staaten bisher nicht kooperativ gezeigt und sowohl eine entsprechende Änderung der Mehrwertsteu- Warum ist Umsatzsteuerbetrug in Deutschland so ersystemrichtlinie als auch den Weg über eine Ermächti- leicht möglich? Das liegt daran, wie hier die Umsatz- gung zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als steuer abgerechnet wird. Üblicherweise muss der Ver- Sondermaßnahme abgelehnt. käufer, also der Lieferant, für seine verkauften Waren die von dem Käufer erhaltene Umsatzsteuer an das Finanz- Aber in anderen Fällen übt die Bundesregierung doch amt zahlen. Diese also von dem Käufer gezahlte Um- auch Druck auf die Kommission und auf EU-Länder aus, satzsteuer kann der Käufer gegenüber dem Finanzamt um ihre Ziele durchzusetzen. Hier aber hält sie sich vor- geltend machen, als sogenannte Vorsteuer, sofern er Un- nehm zurück, obwohl jedes Jahr Milliarden an Steuer- ternehmer ist und die übrigen Voraussetzungen für den einnahmen verloren gehen. Mit denen könnten Sie, Herr Vorsteuerabzug gegeben sind. Der Käufer holt sich also Schäuble, Ihre „schwarze Null“ im Bundeshaushalt pro- die von ihm an den Verkäufer gezahlte Umsatzsteuer di- blemlos erreichen, ohne auf Investitionen in Bildung und rekt vom Finanzamt zurück. Er weiß aber nicht, ob der Infrastruktur zu verzichten. Verkäufer die von ihm, dem Käufer, erhaltene Umsatz- steuer tatsächlich an das Finanzamt gezahlt hat. Hier er- Die Linke fordert seit längerer Zeit die Einführung öffnen sich zahlreiche Betrugsmöglichkeiten. Denn das des Reverse-Charge-Verfahrens als ein wesentliches Ele- Finanzamt kann nicht sofort überprüfen, ob das der Ver- ment zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs, und da- käufer auch tatsächlich so gemacht hat, sondern muss her fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich erst mal auf die Umsatzsteuererklärungen und die sich verstärkt auf europäischer Ebene für die Einführung Einhaltung der Gesetze verlassen – dass also alles ge- der Steuerschuldumkehr einzusetzen. Es gibt eine neue zahlt wurde wie vereinbart. EU-Kommission, und damit sind die Chancen gestiegen, jetzt zu einer neuen Regelung zu kommen. Daher kön- (B) Besser wäre es, wenn der Käufer der Ware die von nen wir auch dem Antrag der Grünen zustimmen. (D) ihm an den Lieferanten gezahlte Umsatzsteuer selbst verrechnen würde. Der Käufer zahlt also die Umsatz- Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steuer selbst an das Finanzamt und der Lieferant berech- NEN): Beim Thema Umsatzsteuerbetrug – so sollte man net erst gar keine Umsatzsteuer. Das würde nicht nur den meinen – können wir hier im Deutschen Bundestag Umsatzsteuerbetrug erheblich reduzieren, sondern auch leicht Übereinstimmung aller Fraktionen erzielen. Es ge- für die Finanzämter vieles vereinfachen. Außerdem hört ja mittlerweile zum politischen Alltag, dass Steuer- müssten die Käufer die an den Lieferanten gezahlte Um- ausfälle durch Betrug oder Gestaltung von allen politi- satzsteuer nicht bis zur Erstattung durch das Finanzamt schen Seiten angeprangert werden, übrigens egal ob von finanzieren. Fachlich spricht man von einer Umkehrung uns in der Opposition oder seitens der Bundesminister der Steuerschuldnerschaft vom Leistungserbringer auf Gabriel oder Schäuble. Und natürlich ist das in der Sa- den Leistungsempfänger – Fachausdruck „Reverse che auch richtig, zumal wir ja auch aufgelistet haben, Charge“. dass schon die benennbaren Umsatzsteuerausfälle 9 Mil- Dadurch, dass nur der Käufer seine gezahlten und liarden Euro betragen. Nur gehören zu den schönen Wor- seine erhaltenen Umsatzsteuern verrechnen kann und die ten auch Taten, meine Damen und Herren in der Bundes- Differenz an das Finanzamt abführen muss, werden die regierung! sogenannten Karussellgeschäfte verhindert, mit denen Das gilt insbesondere dann, wenn man wie die Union Steuerbetrügereien durchgeführt werden. Bei den Karus- seit 2009 den Finanzminister stellt. In der Realität muss sellgeschäften zahlen einige (Schein-)Unternehmen in man leider sagen, dass genau an dieser Stelle steuerpoli- einer längeren Lieferkette die erhaltene Umsatzsteuer tisch, insbesondere was die Umsatzsteuer betrifft, Leis- nicht an das Finanzamt. Das Finanzamt erstattet zwar die tungsverweigerung betrieben wird, und das schließt Vorsteuer an den Käufer, hat die Umsatzsteuer vom Ver- dann auch das Thema Umsatzsteuerbetrug ein. käufer aber gar nicht erhalten. Bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft müsste das Konkret zur Sache: Wir reden an dieser Stelle später Finanzamt nicht mehr die Vorsteuer auszahlen, sondern noch über das Zollkodex-Gesetz aus dem BMF und wer- bräuchte sie nur noch zu verrechnen. den in diesem Zusammenhang auch die Einführung ei- nes nationalen Schnellreaktionsmechanismus gegen Diese Umkehrung vom bisherigen Ablauf ist in Umsatzsteuerbetrug debattieren. Insofern kann man dem Deutschland aber nichts grundsätzlich Neues; denn be- BMF keine Untätigkeit vorwerfen, aber man muss fest- reits jetzt gibt es zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel in stellen, dass wir beim Thema Umsatzsteuerbetrug lang- 5942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) sam an die Grenze des national Möglichen und Sinnvol- eines EU-Exports aus und begründet das mit Bürokratie- (C) len stoßen. erleichterungen für Unternehmen und der Notwendig- keit, Betrug besser Einhalt gebieten zu können. Im Wir haben in der jüngeren Vergangenheit immer wie- Ergebnis fürchten Unternehmen aktuell neue Rechts- der die sogenannten Reverse-Charge-Tatbestände, also unsicherheiten. Zudem ist die Fälschungssicherheit einer die Fälle in denen Umsatzsteuerzahlung und -erstattung Gelangensbestätigung schlicht nicht gegeben, sondern in einer Hand liegen, erweitert. Dies will ich an dieser im Zweifel sogar größer als bei anderen gängigen Aus- Stelle nicht infrage stellen, sondern weise ausdrücklich fuhrbelegen. darauf hin, dass uns erst Hinweise aus den Finanzämtern gezwungen haben, zu handeln, um Steuerausfälle durch Nehmen wir das Beispiel Betrug mit manipulierten Betrug zu vermeiden. An dieser Stelle sind wir uns in Registrierkassen: Nordrhein-Westfalen hat Belege gelie- der Bewertung der Sache sicher auch einig. Das schließt fert, dass an dieser Stelle hohe Steuerausfälle entstehen, auch den fünften Punkt unseres Antrags ein, den die unter anderem durch fehlende Umsatzsteuereinnahmen. Bundesregierung auf Initiative der Bundesländer mittler- Hier ziert sich das BMF, eine einfache und schnelle Lö- weile umgesetzt hat. sung zu beschließen. Vorschläge dazu gibt es, etwa die Einführung manipulationssicherer Kassen. Die entste- Dennoch sollten wir uns an dieser Stelle eingestehen, henden Kosten dazu halten sich im Rahmen. dass wir nicht unbegrenzt neue Sonderregelungen schaf- fen können, weil dadurch das Umsatzsteuerrecht noch Nehmen wir das Beispiel Betrug bei differenzbesteu- sehr viel unübersichtlicher und schwerer handhabbar erten Waren. Hier schlug der Bundesrechnungshof eine wird, als es heute schon ist. Und hier ist der Finanz- Ergänzung bei der Umsatzsteuererklärung um eine An- minister gefordert, das Thema endlich europäisch stärker gabe vor. Der bürokratische Aufwand wäre gering, aber zu thematisieren. Während die alte EU-Kommission ei- die Finanzämter könnten Betrug potenziell sehr viel nen Vorstoß mit ihrem Grünbuch zur Reform der Mehr- schneller erkennen. Was ist passiert? Nichts! wertsteuer gestartet hat, verharren Herr Schäuble und das BMF hier in einer nicht nachvollziehbaren Lethargie Die Bundesregierung muss dem Thema Umsatzsteu- und bremsen eher, als dass sie sich beispielsweise weiter erbetrug endlich international eine höhere Bedeutung für einen generellen Übergang zu einem Reverse- beimessen und sich innerhalb der EU für handhabbare Charge-Verfahren einsetzen würden. Dabei ist genau das Lösungen einsetzen, sie muss national mit Augenmerk der Schlüssel, um Umsatzsteuerbetrug wirksam zu be- auf Betrugsfälle reagieren, und sie darf auf keinen Fall grenzen und Unternehmen ein administrierbares Steuer- bestehenden Betrug weiter durch Nichthandeln dulden. recht zu bieten. Herr Schäuble muss seinen steuerpolitischen Winter- schlaf endlich beenden. Gerade bei diesem Thema ver- (B) Und wenn es nicht zu einer gesamteuropäischen Re- kennt er die Bedeutung und wird seiner Verantwortung (D) gelung kommen kann, weil einzelne Mitgliedstaaten nicht gerecht. eine Reform blockieren, sollte dennoch darüber nachge- dacht werden, ob nicht Sondergenehmigungen für eine vollständige Umstellung einzelner Nationalstaaten auf Anlage 8 das Reverse-Charge-Verfahren angestrebt werden soll- ten, zumal dies den innereuropäischen Warenverkehr Zu Protokoll gegebene Reden nicht beeinflussen würde. Hier ist es an der Bundesregie- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur rung, Lösungen zu entwickeln. Verringerung der Abhängigkeit von Ratings Aber auch national müssen wir mehr und vor allem (Tagesordnungspunkt 18) schneller handeln. Wir befinden uns in der Situation, dass wir im Deutschen Bundestag auf Hinweise aus den Matthias Hauer (CDU/CSU): Mit der heutigen Ver- Ländern angewiesen sind, wenn es um Steuerbetrug abschiedung des Ratinggesetzes machen wir einen wei- geht. Das BMF verweigert den Mitgliedern des Bundes- teren wichtigen Schritt zu einer wirksamen Regulierung tags stets konkrete Aussagen und zieht sich auf den der Finanzmärkte. Wir haben uns im Koalitionsvertrag Standpunkt zurück, dass Steuervollzug eben Ländersa- klar festgelegt und gehen mit dem Ratinggesetz direkt in che ist und es keine konkreten Informationen zu Be- die Umsetzung: Wir reduzieren die Bedeutung externer trugsfällen gibt. So stehen wir vor einer bizarren „Friss- Ratings; wir fördern die Wettbewerbsfähigkeit europäi- oder-Stirb“-Situation ohne die konkreten Hintergrund- scher Ratingagenturen; wir bauen Regelungen ab, die informationen einer geplanten Gesetzesänderung zu ken- eine Einschaltung der drei großen Ratingagenturen vor- nen. Das schließt auch Reaktionen auf Betrugsfälle ein, schreiben; wir verbessern die Aufsicht; wir führen harte und deswegen müssen wir die Entscheidungsgrundlage Sanktionen bei Verstößen ein. Das Ratinggesetz steht so- für den Bundestag als legislatives Organ unserer Verfas- mit für strengere Regeln auf den Finanzmärkten – und sung stärken; dazu gehören auch mehr und bessere Infor- dafür stehen auch CDU und CSU. mationen für Steuerdaten und Betrugsfälle. Bevor ich auf die Details zu sprechen komme, lassen Und wenn man Betrug bekämpfen will, dann sollte Sie uns gemeinsam noch einen Blick zurück werfen. man es auch schnell und richtig machen: Die Wurzeln der Ratingagenturen reichen über Beispiel Gelangensbestätigung: Das BMF denkt sich 150 Jahre zurück – bis in die Zeit des Wilden Westens: per Verordnung einen neuen Nachweis zur Bestätigung In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Amerika die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5943

(A) Vorläufer der ersten Ratingagenturen gegründet. Die vo- gelverstöße mit Bußgeldern zu ahnden. Im Jahr 2011 (C) ranschreitende Besiedlung und größere Distanzen zwi- wurde dann mit der ersten Novelle der Ratingverord- schen den Kaufleuten erzeugten Anonymität und schür- nung die Aufsicht an die Europäische Wertpapier- und ten Misstrauen. Bald wurden Informanten dafür bezahlt, Marktaufsichtsbehörde, ESMA, übertragen. Zusätzlich Profile über Geschäftsleute und über einzelne Geschäfte wurde die Transparenz für Ratings strukturierter Finanz- zu erstellen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden produkte erhöht. die ersten modernen Ratingagenturen gegründet. Es war eine Zeit der Pioniere: Neue Territorien in den USA wur- Diesen richtigen Weg führen wir mit der zweiten No- den besiedelt, Eisenbahnstrecken wurden gebaut – der velle der Verordnung, der Richtlinie und schließlich dem Finanzbedarf war extrem hoch. Die Finanzierung über vorliegenden Ratinggesetz nun konsequent weiter. Banken reichte nicht aus: Einige Banken hatten nicht ge- Zunächst müssen wir aber noch deutlich machen: Wir nug Geld – andere scheuten die Kreditvergabe gerade an brauchen auch weiterhin externe Ratings. In einer globa- die vielen neu gegründeten Unternehmen. Neue Lösun- lisierten Welt mit Millionen von Finanzierungsentschei- gen mussten her: Die Unternehmen beschafften sich das dungen sind Bonitätsbewertungen unerlässlich. Dafür Kapital fortan durch die Emission von Wertpapieren. Ei- muss es jedoch einen geordneten Rahmen geben – mit senbahnanleihen, aber auch Staatsanleihen bildeten seit- klaren Regeln für alle Beteiligten. dem den Kern des neu entstandenen Kapitalmarkts der Vereinigten Staaten von Amerika. Solche Wertpapiere Daher hat die EU mit deutscher Unterstützung in der amerikanischer Eisenbahnfirmen genauer zu analysieren zweiten Novelle der Ratingverordnung die Regulierung und zu bewerten, diese Idee legte damals den Grundstein der Ratingagenturen verschärft: für die Entwicklung der modernen Ratingagenturen. Die Die Transparenz von Länderratings wird verbessert. Agenturen – damals gegründet als Stifter von Transpa- Es gibt nun klare Regeln hinsichtlich Inhalt, Zeitpunkt renz, Vergleichbarkeit und Vertrauen – entwickelten sich und Anzahl der Veröffentlichungen. Jede Ratingagentur über die Jahrzehnte hinweg zu vermeintlich allwissen- darf nur noch dreimal im Jahr nicht angeforderte Länder- den und unfehlbaren Instanzen. Drei von ihnen etablier- ratings abgeben und muss die Termine der Veröffentli- ten sich besonders stark. Viele lauschten den Verkündun- chungen vorher bekannt geben. Sie müssen zudem die gen dieser drei großen Ratingagenturen wie einst den wesentlichen Faktoren erläutern, die ihren Ratings zu- Weissagungen des Orakels von Delphi. grunde liegen. Auch dürfen Ratingagenturen in Zukunft In der Finanzkrise ab dem Jahre 2008 sind die Pro- keine Empfehlungen mehr für die Finanzpolitik von bleme mit Ratingagenturen sehr deutlich geworden – der Staaten abgeben. Hauch von Allwissenheit ist der Klarheit gewichen, dass Die Interessenkonflikte bei Ratingagenturen werden (B) die Agenturen erheblich zur Entstehung der Krise beige- reduziert. Zum einen haben wir mit den Höchstlaufzei- (D) tragen haben. ten für vertragliche Beziehungen nun ein Rotationsprin- Finanzprodukte, Unternehmen und Staaten wurden zip. Der regelmäßige Wechsel verringert die Abhängig- unrealistisch positiv bewertet, ein zu niedriges Risiko keit der Agenturen von den Marktteilnehmern. Zugleich wurde suggeriert und Ausfallrisiken wurden unter- erleichtert die Rotation kleineren Ratingagenturen den schätzt. Als sich die Krise dann zuspitzte, erfolgte die Zugang zum Markt und erlaubt es gerade spezialisierten Anpassung der Ratings viel zu spät. Gerade die Länder- Agenturen, sich breiter aufzustellen. Zum anderen wur- ratings verwandelten den Sturm der Finanzkrise in einen den klare Regeln aufgestellt, dass Anteilseigner und Mit- wirtschaftlichen Orkan. glieder einer Ratingagentur keine Kontrolle oder einen beherrschenden Einfluss auf eine andere Ratingagentur Hinzu kamen massive Interessenkonflikte: Nicht sel- ausüben können. ten wurde eine Agentur von demselben Unternehmen ausgewählt und bezahlt, das sie auch bewerten sollte. Die Ratingagenturen werden für Fehler zur Verant- Ratingagenturen konzipierten oft sogar selbst Finanzpro- wortung gezogen. Die Grundlage für eine zivilrechtliche dukte, die sie dann später bewerteten. Und diese Pro- Haftung wurde geschaffen. Wenn Agenturen gegen die dukte wurden anschließend von den Muttergesellschaf- Regeln verstoßen, sollen sie auch effektiv gegenüber ten der Ratingagenturen im großen Stil gehandelt. Anlegern und Emittenten haften und Schadensersatz leisten müssen. Sowohl der europäische als auch der nationale Ge- setzgeber haben auf diese Missstände reagiert: Mit Mit dem vorliegenden Ratinggesetz stärken wir die Unterstützung der unionsgeführten Bundesregierungen Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleis- leistete die Europäische Union 2009 mit der Ratingver- tungsaufsicht, BaFin. Damit erhält diese die Befugnis, ordnung und der ersten Novelle 2011 bereits einen wich- insbesondere die Einhaltung der folgenden Pflichten zu tigen Beitrag zur strengeren Beaufsichtigung von Ra- überwachen, die ebenfalls in der Verordnung angelegt tingagenturen. sind. Zudem geben wir der BaFin mit dem Ratinggesetz Sanktionsmöglichkeiten an die Hand, um Pflichtver- Seit 2009 besteht für Ratingagenturen eine Registrie- stöße mit Bußgeldern zu ahnden. rungspflicht. Dazu gehören umfangreiche Prüfungs- und Genehmigungsverfahren und eine laufende Beaufsichti- Marktteilnehmer werden in Zukunft auch eigene Risi- gung. Dies waren erste wichtige Schritte, um die Trans- koanalysen vornehmen müssen. Eine unkritische Über- parenz des Bewertungsprozesses von Ratingagenturen nahme von externen Ratings führte in der Vergangenheit zu erhöhen, Interessenkonflikte zu vermeiden und Re- häufig zu falschen Einschätzungen der Ausfallrisiken. 5944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Ein ausschließlicher oder automatischer Rückgriff auf Erst heute Morgen haben wir in diesem Hohen Hause (C) Ratings ist daher nicht mehr zulässig. Die „Ratinggläu- dafür einen weiteren wichtigen Schritt unternommen bigkeit“, der viele Marktteilnehmer in der Vergangenheit und das Fundament der europäischen Einigung noch mit schwerwiegenden Folgen verfallen sind, wird so ein- weiter gestärkt. Mit der Bankenunion schaffen wir aber gedämmt. nicht nur ein Mehr an Europa, sondern sichern auch die Bürgerinnen und Bürger Europas deutlich stärker vor Bei strukturierten Finanzinstrumenten wird es künftig künftigen Folgekosten von Finanzkrisen. Damit stärken mindestens zwei Bewertungen geben müssen – nämlich wir das Vertrauen in Europa. Wie wichtig dieses Ver- durch zwei voneinander unabhängige Ratingagenturen. trauen ist, können wir gerade von Ungarn bis zum Balti- Auch kleine Agenturen mit einem Marktanteil von unter kum beobachten. 10 Prozent sollen in Zukunft einbezogen werden. Da- durch werden europäische Ratingagenturen deutlich ge- Aber wir haben heute nicht nur über die Bankenunion stärkt. Das kann auch dazu beitragen, das über die Jahre abgestimmt, sondern gehen auch mit der jetzigen aufgebaute Oligopol der drei großen Agenturen aufzu- Abstimmung einen weiteren und wichtigen Schritt – zu- brechen. gegeben, nicht ganz so prominent in der medialen Be- richterstattung vertreten. Transparenz, Vergleichbarkeit und Vertrauen: Mit die- sen Zielen wurden Ratingagenturen im 19. Jahrhundert In der Finanzkrise wurden Staaten, aber auch weite gegründet. Einige von ihnen sind in der Zwischenzeit Teile der Finanzwirtschaft zum Spielball der Urteile der vom Pfad dieser Tugenden abgekommen. Wir müssen Ratingagenturen, teilweise selbst verschuldet. Hier liegt verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt und Ra- auch noch ein langer Weg vor uns. Das will ich klar sa- tingagenturen eine Krise mit auslösen oder deren Verlauf gen. Trotzdem freue ich mich, dass wir heute mit dem negativ beeinflussen. Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings einen weiteren von vielen Schritten gehen. Unser Ratinggesetz wird das Handeln von Rating- agenturen transparenter machen. Es wird kleine, euro- Wie bereits erwähnt: Wir – die Staatengemeinschaft päische Agenturen am Markt etablieren und stärken. und die Finanzwelt selbst – haben uns in den letzten Und es wird einen Teil dazu beitragen, langfristig und Jahrzehnten in eine unkritische Abhängigkeit der nachhaltig für mehr Stabilität auf den Finanzmärkten zu Ratingagenturen ergeben, die uns mit in die Abwärtsspi- sorgen. rale der letzten Jahre hinabzog. Vergessen hat man dabei, wer eigentlich die Akteure hinter den Ratingagenturen sind. Es sind eben keine selbstlosen Finanzanalysten, Andreas Schwarz (SPD): Wir können uns heute nicht nur neutrale Institutionen oder unabhängige Markt- (B) hier alle gemeinsam über einen guten Tag für Deutsch- beobachter. Nein, es sind Akteure am Finanzmarkt, die (D) land und für Europa freuen. Wir kommen nämlich ent- an selbigem partizipieren und von selbigem profitieren scheidend voran. Schon die letzte Große Koalition hat wollen. unter der Führung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück das Schiff Bundesrepublik Deutschland in Peer Steinbrück hat einst vollkommen zu Recht die ruhigen Fahrwassern durch die steife Brise der welt- Frage gestellt, wer in Europa den Taktstock des Gesche- weiten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt. Die Krise hens in der Hand halten soll. Die SPD-Bundestagsfrak- führte uns allen vor Augen, dass sich insbesondere die tion ist sich da sehr sicher: nicht die Ratingagenturen! Finanzmärkte mehr und mehr von der Realwirtschaft Und deshalb hat die SPD im vergangenen Bundestags- und damit auch von der Realität entfernt hatten. Das wahlkampf richtigerweise gefordert, dass das Primat der Agieren der Finanzmärkte, das in weiten Teilen in einer Politik endlich wiederhergestellt werden muss. Parallel- oder Schattenwelt stattfand, brachte nahezu alle wichtigen Volkswirtschaften ins Schwanken, teilweise Diese Forderung haben wir erfolgreich in den Koali- Worte des ins Fallen. tionsvertrag geschrieben. Ich darf die weisen Koalitionsvertrages zitieren: Es war das Verdienst von Peer Steinbrück und Angela Die Bundesregierung wird sich für eine effektive Merkel, dass Deutschland so gut durch diese Krise Anwendung der zivilrechtlichen Haftungsregelun- gekommen ist. Ein Umstand, um den uns viele Staaten gen für Rating-Agenturen einsetzen und die Wett- beneiden. Es war die wohldurchdachte und maßvolle bewerbsfähigkeit europäischer Rating-Agenturen Politik dieser Jahre, die uns vor Schlimmerem bewahrte. fördern. Wir wollen die Rechtsnormen reduzieren, An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen: häu- die eine Einschaltung der drei großen Rating-Agen- fig mit der Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen. turen vorschreiben. Wir wollen auch die Bedeutung Es widerspricht aber dem sozialdemokratischen Natu- externer Ratings reduzieren. rell, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Wir haben uns Weiter heißt es: lang genug damit auseinandergesetzt, die Symptome der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zu bekämpfen. In Zukunft muss noch stärker gelten: Gemeinschäd- Nun geht es aber seit geraumer Zeit darum, sich den liches Handeln von Unternehmen und Managern Ursachen zu widmen und somit dafür Sorge zu tragen, muss angemessen sanktioniert werden. Wir unter- dass Krisen eines solchen Ausmaßes künftig verhindert stützen die Aufnahme strenger Vorschriften in den werden und Risiken aus solchen Krisen vermieden bzw. maßgeblichen europäischen Rechtsakten, welche auch anders verteilt werden. insbesondere den Rahmen für Geldsanktionen auf Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5945

(A) ein angemessenes Niveau anheben und die Verhän- hen, dass die Schaffung einer solchen Agentur bisher (C) gung spürbarer Sanktionen gegen Unternehmen nicht gelang. Übrigens nicht nur politisch. Auch die vorsehen, die gegen regulatorische Vorgaben ver- Wirtschaft selbst vermochte es nicht, zu einer Lösung zu stoßen, und werden für deren Umsetzung ins deut- kommen. Hier sollten wir den Gesprächsfaden nicht sche Recht Sorge tragen. abreißen lassen und langfristig weiter an dem Ziel fest- halten. Sie sehen also, dass wir uns durchaus etwas vorge- nommen haben, was noch gar nicht alles in diesem Ge- Es hilft aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. setzentwurf vollzogen werden kann. Aber mit diesem Wir müssen über andere Wege mehr Nachvollziehbar- Gesetzentwurf gehen wir einen weiteren wichtigen keit, Transparenz und Unabhängigkeit in das Geflecht Schritt in die richtige Richtung: Ziel muss es sein, die der Finanzbranche bringen. Abhängigkeit der Finanzbranche von den Bewertungen der Ratingagenturen zu reduzieren. Wenn Sie so wollen, Ich denke, im Rahmen der sehr gut funktionierenden geht es in diesem Gesetzentwurf um die Hilfe zur Selbst- großkoalitionären Zusammenarbeit tragen wir mit dem hilfe. heutigen Gesetz genau dafür Sorge. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion diesem Gesetz zustimmen. Mit dem Gesetz verhelfen wir der Wirtschaft zu einer größeren Eigenständigkeit und auch zu einem Mehr an Unabhängigkeit von den Bewertungen der großen Ra- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Mit der Entfesselung tingagenturen. Die Unternehmen der Finanzbranche der Finanzmärkte haben Ratingagenturen in den letzten werden künftig verpflichtet sein, stärker eigene und un- Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung gewonnen. abhängigere Einschätzungen in der Bonitätsprüfung Ihr Urteil beeinflusst, zu welchen Konditionen ein Un- durchzuführen. Daraus resultieren künftig belastbarere ternehmen oder ein Staat an Kredite kommt. In vielen Urteile, die nicht nur dem Staat, sondern vor allem den Gesetzen ist geregelt, dass sich bestimmte Anleger nur Unternehmen von großem Nutzen sein werden. Ihre Ri- an Produkte mit einem bestimmten Rating halten dürfen, sikobewertungen stehen nunmehr auf festerem Funda- etwa bei Versicherungen. Die Zentralbanken berufen ment. sich ebenfalls auf externe Ratings, wenn sie Finanzpro- dukte bewerten, die sie als Sicherheiten hineinnehmen. Die unkritische und oftmals schematische Übernahme der Ratings der Ratingagenturen – etwa zur Einstufung In der Finanzkrise hat sich deutlich gezeigt, dass die der Bonitätsgewichtung der Kreditnehmer und Wert- Ratingagenturen vielfach versagt haben. Dies gilt in be- papiere – führte häufig zu erheblichen Fehleinschätzun- sonderem Maß für sogenannte strukturierte Produkte, gen von Ausfallrisiken. Die Folgen konnten wir alle also extrem komplizierte Finanzprodukte. Diese lassen (B) miterleben. Dieses Gefahrenpotenzial werden wir mit sich nicht seriös bewerten. Da die Ratingagenturen dafür (D) dem vorliegenden Gesetz deutlich eindämmen. bezahlt wurden, haben sie es trotzdem gemacht, sich da- mit eine goldene Nase verdient und Anleger in Scharen Denn das ist eine der klaren Lehren aus den Gescheh- in die Irre geführt. Als die Blase schließlich platzte, wur- nissen an den Finanzmärkten seit 2008. Die Finanzbran- den angeblich hochsichere Papiere praktisch wertlos. che muss in ihren eigenen Bewertungen und Urteilen Aus diesem und anderen Beispielen ist bekannt, dass bei endlich wieder viel stärker eigene Einschätzungen in der den Agenturen die Zufriedenheit der Kunden an oberster Bonitätsprüfung vornehmen, um unabhängiger Ausfall- Stelle steht, nicht ein möglichst treffsicheres Urteil. Bei risiken beurteilen zu können. Es darf nicht sein, dass der Entwicklungsländern zeigte sich beispielsweise auch, eine einfach das übernimmt, was der andere bereits vor- dass die entsprechenden Ratings von schlechter Qualität formuliert hat. Die Gefahr von Kettenreaktionen war waren – weil sich die Bewertung aus privatwirtschaftli- und ist somit viel zu groß. cher Perspektive sonst zu wenig rentiert hätte. Oftmals wurden in der Vergangenheit Risiken viel zu Ratings sind, so die Ratingagenturen, im Grunde ge- positiv eingeschätzt, häufig durch Interessenkonflikte nommen private Meinungsäußerungen, die man schlecht innerhalb der Finanzmärkte selbst. Von diesen Interes- verbieten kann bzw. soll. Sie sind aber weit mehr als das, senkonflikten, die fast logischerweise aus den engen denn die Verankerung von Ratings in Gesetzen verleiht Verflechtungen am Finanzmarkt resultieren, machen wir ihnen einen regulativen Charakter. Es ist leicht möglich, die Finanzbranche nun unabhängiger. den Markt für Ratings konsequenter zu regulieren und vor allem die Verankerung von Ratings in Gesetzen zu Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem heute zu verringern. Die diesem Gesetz zugrunde liegende beschließenden Gesetz ein gutes Stück vorankommen. Verordnung ist ein Schritt in diese Richtung. Weitere Mit den mittlerweile drei CRA-Verordnungen haben Schritte sind nötig, denn viele starke Maßnahmen haben wir auf europäischer und nationaler Ebene die Beauf- den EU-Gesetzgebungsprozess nicht überlebt. sichtigung der Ratingagenturen verstärkt, mehr Transpa- renz in den Ratings geschaffen, Interessenkonflikte deut- Die drei großen Ratingagenturen besitzen einen riesi- lich gemildert. Jetzt sorgen wir endlich für noch mehr gen Marktanteil und haben eine entsprechend große Unabhängigkeit von den Urteilen der Ratingagenturen! Macht. Sie haben alle drei Wurzeln in den USA. Es gab in den vergangen Monaten Versuche, ihnen eine große Ich will nicht verhehlen, dass auch wir uns sehr mit private europäische Ratingagentur entgegenzusetzen. dem Gedanken einer großen europäischen Ratingagentur Dies ist gescheitert, weil sich dafür nicht genügend anfreunden konnten. Man muss sich aber auch eingeste- Geldgeber fanden. Wir waren immer schon der Mei- 5946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) nung, dass dies der falsche Ansatz gewesen ist. Denn für Darüber hinaus werden regulatorische Anreize ge- (C) den Aufbau einer neuen großen Agentur braucht man ei- setzt, um den Wettbewerb auf dem Ratingmarkt zu erhö- nen langen Atem, und zudem ist nicht gesichert, warum hen. Ob diese ausreichen, um die Marktmacht der drei eine private europäische Ratingagentur sich nicht ge- größten Ratingagenturen zu beschränken, wird sich zei- nauso verhalten wird wie die vielfach kritisierten großen gen müssen. Skepsis ist hier angebracht, denn ihr Repu- Drei. tationsvorteil ist enorm. Auch die Effektivität von Haf- tungsansprüchen, die Investoren in Zukunft bei grober Deswegen halten wir die Gründung einer öffentlichen Fahrlässigkeit der Ratingagenturen geltend machen kön- europäischen Ratingagentur für den deutlich vielverspre- nen, wird sich erst mit der Zeit zeigen. chenderen Weg. Wir kennen viele öffentliche Finanz- unternehmen, etwa die deutschen Sparkassen oder die Doch selbst wenn aufgrund dieser Regelungen Ra- Kreditanstalt für Wiederaufbau, die sich sehr gut mit tings tatsächlich realistischer würden, bliebe es ein Pro- Finanzgeschäften auskennen und entsprechend behaup- blem, wenn Investoren weiterhin einseitig auf externe ten. Dazu muss man auch Risiken bewerten können. Mit Ratings setzten. Es begünstigt Herdenverhalten und hat der dafür notwendigen Ausstattung wird auch die öffent- in Krisenzeiten eine prozyklische Wirkung, wenn alle liche Ratingagentur kompetente Urteile treffen können. sich auf dieselben wenigen Bewertungen beziehen. Hier Sie böte den Vorteil, dass sie aus dem jetzigen System wird durch die Richtlinie und Verordnung auf europäi- der privatwirtschaftlichen Ratings ausbrechen und unter scher Ebene vorgeschrieben, dass bestimmte Investoren Zugrundelegung anderer Kriterien bewerten könnte. auch interne Modelle zur Risikobewertung entwickeln müssen, externe Ratings nicht mehr automatisch die In- Weitere stärkere Maßnahmen wären etwa das Verbot vestitionsentscheidung bestimmen dürfen und ihre Be- von weiteren Übernahmen durch die großen Drei oder nutzung bis 2020 auch nicht mehr regulatorisch vorge- stärkere Haftungsregeln. All dies steht unter dem Ziel, schrieben sein darf. die Dominanz der Finanzmärkte zu brechen und das Pri- mat der Politik wiederherzustellen. Die Regulierungsbemühungen sind zu begrüßen, aber ihre Wirkung wird begrenzt sein. Tritt man einen Schritt zurück, kann man sich fragen, warum der Gesetzgeber Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich der Ratingproblematik überhaupt annehmen muss. In der Theorie sind Ratingagenturen objektive Dritte: Müssten nicht Investoren das größte Interesse daran ha- Der Emittent entwickelt ein Produkt, die Ratingagentur ben, dass die Ratings, die sie für die Bewertung des bewertet es, und der Investor wählt aus – unter angemes- Risikos ihrer Investitionen zurate ziehen, auf nachvoll- sener Zuhilfenahme der objektiven Bewertung. Die Re- ziehbare und sinnvolle Weise zustande kommen? Aus alität sieht freilich völlig anders aus: Die Ratingagentur Investorensicht ist es eine feine Sache, sich auf externe (B) arbeitet häufig eng mit dem Emittenten zusammen, wird (D) Ratings zu verlassen: Diejenigen sollen das Risiko einer von ihm bezahlt, verlässt sich auf die von ihm bereitge- Investition beurteilen, die es aufgrund ihrer Erfahrung stellten Daten und hilft unter Umständen sogar bei der vermeintlich besonders gut beurteilen können; erweist Entwicklung der Produkte, die sie bewertet. Manche Ra- sich die Beurteilung im Nachhinein als falsch, kann der tingagenturen bewerten Unternehmen, an denen sie oder Investor auf die falsche Bewertung durch die Agentur die an ihnen Anteile besitzen, oder Investoren besitzen verweisen, und haben seine Peers sich auf dieselbe Ra- Anteile an der Ratingagentur und die von dieser Agentur tingagentur verlassen, steht er im Vergleich auch nicht bewerteten Unternehmen. Investoren waren offenbar schlechter da. Hier ist auch ein Umdenken bei Investo- nicht willens oder nicht in der Lage, diese engen Bezie- ren erforderlich, denn die Qualität des Bewertungspro- hungen und die Interessenkonflikte, die dadurch entste- zesses sollte ihnen deutlich stärker am Herzen liegen, als hen, zu unterbinden. Trotz der Schwächen im Prozess sie es bisher getan hat. Eigene Bewertungsmodelle zu haben sie ihre Investitionsentscheidungen – zuweilen au- entwickeln und die Abhängigkeit von Ratingagenturen tomatisch und oftmals ohne eigene Prüfung des Produkt- zu verringern, ihre Haftungsansprüche bei Fahrlässigkeit risikos – auf Basis dieser Ratings getroffen. geltend zu machen und im Zweifelsfall lieber eine über Nun greift der Gesetzgeber ein, um die offensicht- jeden Interessenkonflikt erhabene Ratingagentur zu lichsten Probleme abzuschwächen: Unter anderem darf wählen – auch wenn sie unbekannt ist –, sollten Investo- eine Ratingagentur nicht länger als vier Jahre am Stück ren nicht nur aufgrund der neuen Regelungen auf euro- für einen bestimmten Emittenten restrukturierter Finanz- päischer und nationaler Ebene erwägen, sondern auch produkte tätig sein und unterliegt dann einer Sperrfrist. aus Eigeninteresse. Strukturierte Finanzprodukte müssen von mindestens zwei Ratingagenturen bewertet werden. Anteile, die In- vestoren, zu bewertende Unternehmen und Ratingagen- Anlage 9 turen aneinander halten, sogenannte Cross-Holdings, sind auf bis zu 10 Prozent begrenzt. Diese Schritte sind Zu Protokoll gegebene Reden positiv zu bewerten, in ihrer Reichweite aber stark ein- zur Beratung des Antrags: Anti-Doping-Gesetz gegrenzt: Cross-Holdings sind nicht grundsätzlich ver- für den Sport vorlegen (Tagesordnungspunkt 19) boten, wichtige Regelungen beziehen sich nur auf das Rating strukturierter oder restrukturierter Finanzpro- dukte. Das grundsätzliche Prinzip, dass der Emittent für Reinhard Grindel (CDU/CSU): Dass uns ausgerech- die Bewertung zahlt, wurde nicht infrage gestellt. net die Fraktion Die Linke hier einen Antrag zur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5947

(A) Dopingbekämpfung vorlegt, kann nicht ohne einen schaften oder Olympische Spiele versammeln wie sonst (C) grundlegenden Widerspruch hingenommen werden. kaum ein gesellschaftliches Ereignis Arm und Reich, Männer und Frauen, Ältere wie Jüngere vor dem Fernse- Wir verfolgen in diesen Wochen aus Anlass der Re- her oder in den Stadien. Für viele Jungen und Mädchen gierungsbildung in Thüringen ein peinliches Schauspiel sind Sportidole Vorbilder, denen sie nacheifern, die zum um die Frage, ob die Linke gerade angesichts von Teil auslösendes Moment dafür waren, im Verein wett- 25 Jahren Mauerfall bereit ist, die DDR als das zu be- kampfmäßig Sport zu betreiben. Diese jungen Menschen zeichnen, was sie war, nämlich ein Unrechtsstaat. Zu glauben an die Integrität des Sports. Es würde die Bereit- diesem Unrechtsstaat hat auch ein staatlich verordnetes schaft, Sport zu betreiben, damit zum Beispiel auch Ge- Doping gehört, dem bis heute Menschen zum Opfer fal- sundheitsvorsorge zu leisten, nachhaltig erschüttern, len, wenn man allein nur an das traurige Schicksal des wenn wir in Deutschland immer wieder Fälle von promi- Gewichthebers Gerd Bonk erinnert. Deswegen sage ich: nenten Sportlern hätten, die des Dopings überführt wür- Wer nicht klar als Partei seine eigene Geschichte aufar- den. Angesichts dieser überragenden gesellschaftlichen beitet und die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet und Bedeutung des Sports hat sich die Koalition entschieden, sich insofern auch nicht klar vom staatlich verordneten Doping auch mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämp- Doping der DDR distanziert, der hat jede Glaubwürdig- fen. Dazu werden der Bundesjustiz- und der Bundesin- keit verloren, uns hier mit Belehrungen zu kommen, wie nenminister in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, den ein Anti-Doping-Gesetz aussehen sollte. wir dann ausführlich mit allen Betroffenen aus dem Es ist völlig richtig: Auch in Westdeutschland hat es Sport hier im Parlament eingehend beraten werden. Doping gegeben, vor allem gesteuert durch Sportmedizi- Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß um die ner der Freiburger Uniklinik. Deswegen ist dort eigens Abläufe und kennt die ersten Formulierungen des Refe- eine Kommission zur Geschichte der Freiburger Sport- rentenentwurfs. Auch deshalb hätte es des Antrags der medizin eingesetzt worden. Und hier kommen wir nun Linken nicht bedurft, weil die Dinge bereits alle auf zur zweiten Oppositionsfraktion, den Grünen. Das hat einem guten Weg sind. auch mit einer entschlossenen Aufarbeitung bundesdeut- Guter Weg heißt vor allem, dass wir durch die Ent- scher Dopingvergangenheit wenig zu tun, was sich die scheidung, auch mit den Mitteln des Strafrechts gegen zuständige Wissenschaftsministerin der Grünen in Ba- Dopingsünder vorzugehen, auf keinen Fall die vorgela- den-Württemberg, Frau Bauer, da gerade erlaubt. Ich gerte Sportgerichtsbarkeit schwächen dürfen. Wenn finde es abenteuerlich, dass sie sich dazu verstiegen hat, Dopingvergehen vorliegen, dann muss schnell gehandelt der Kommissionsvorsitzenden, Letizia Paoli, einer aner- werden, um auch schnell die Integrität des sportlichen kannten Expertin, vorzuwerfen, die Veröffentlichung der Wettbewerbs wiederherzustellen. Das kann nur durch die Kommissionsergebnisse zu konterkarieren. Bevor uns (B) Sportgerichtsbarkeit und den Grundsatz der „strict liabi- (D) die Grünen hier gleich mit Belehrungen zum Anti- lity“, also der verschuldensunabhängigen Haftung, im Doping-Kampf kommen, sollten sie erst einmal in den Sport geschehen. Wer im Sport Dopingsubstanzen im eigenen Reihen für entschlossenes Handeln sorgen. Das Körper hat, wird gesperrt. Dieser Grundsatz muss weiter ist umso bemerkenswerter, als ja auch unser früherer gelten, und es muss auch eine Rechtsgrundlage für ent- Kollege aus dem Sportausschuss, , sprechende Athletenvereinbarungen geben. Mitglied der Landesregierung in Baden-Württemberg ist, der sich zu seinen Bundestagszeiten als oberster Im Strafrecht muss dann die Absicht hinzukommen, Dopingjäger geriert hat. In der Opposition dicke Backen sich durch den Einsatz von Dopingmitteln im sportlichen machen und, wenn man in Regierungsverantwortung ist, Wettbewerb einen Vorteil verschaffen zu wollen. Diese aus dem letzten Loch pfeifen, das ist keine überzeugende Absicht müssen Polizei und Staatsanwaltschaft dem Sportpolitik. Täter nachweisen. Das kann dauern, und es wäre ein Der Antrag der Linken zeichnet auch ein Zerrbild des unhaltbarer Zustand, dass der Sport möglicherweise Sports in Deutschland. Natürlich müssen wir entschlos- langjährige staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Ver- sen gegen Doping kämpfen, weil es blauäugig wäre, zu fahren abwarten müsste, bevor er einen gedopten Sport- leugnen, dass Doping auch heute noch für den Sport in ler aus dem Wettbewerb nehmen dürfte. Man muss auch Deutschland eine Bedrohung darstellt. Aber es sind nun ganz klar betonen, dass es durchaus Fälle geben kann, in nicht – wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben – krimi- denen eine sportrechtliche Strafe ausgesprochen wurde, nelle Netzwerke oder sogar die organisierte Kriminalität es für eine strafrechtliche Verurteilung aber nicht aus- im großen Stil am Werk. reicht, weil zwar die Verwirklichung des objektiven, nicht aber des subjektiven Tatbestands nachgewiesen Gleichwohl: Jeder Einzelfall, bei dem es zu Doping werden kann. In solchen Fällen darf es natürlich nicht kommt, ist einer zu viel. Das gilt umso mehr, als wir dazu kommen, dass ein Sportler etwa Schadensersatzan- doch immer stärker spüren, dass dem Sport in Deutsch- sprüche geltend machen kann. Aus generalpräventiven land und einzelnen Sportlern eine große gesellschafts- Gründen setzt der Staat hier lediglich das scharfe politische Bedeutung zukommt. Wir haben erst vor Schwert des Strafrechts ein, um vorsätzlich verübte kurzem im Sportausschuss ausführlich darüber gespro- Straftaten tatangemessen zu bestrafen. Bei der Einnahme chen, welche vielfältige Integrationskraft der Sport hat. von Dopingmitteln aus Unkenntnis, etwa über die Zu- Das gilt sowohl für Menschen mit Migrationshinter- sammensetzung von Nahrungsergänzungsmitteln, wird grund wie auch für Menschen mit Behinderungen. man zwar zu einer sportrechtlichen Sperre kommen, Sportliche Großveranstaltungen wie Fußballweltmeister- wahrscheinlich aber eine strafrechtliche Sanktion nicht 5948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) verhängen können. Auf diesen Unterschied wird man die besteht alleine schon aus 62 olympischen und nicht- (C) Öffentlichkeit immer wieder aufmerksam machen müs- olympischen Spitzenverbänden. sen. Die politische Willensbildung ist daher komplex. Ziel Wir müssen außerdem sehr präzise benennen, wer muss sein, dass die „große deutsche Sportfamilie“ ein Adressat einer Strafnorm sein soll. Das kann vor dem Gesetz zur Bekämpfung von Doping mit seinen weitge- Hintergrund, dass wir das Rechtsgut der Integrität des henden Regelungsbereichen – auch im Zusammenspiel sportlichen Wettbewerbs schützen wollen, natürlich nur mit der Sportgerichtsbarkeit – nachhaltig trägt. Gerade der sein, der in diesen Wettbewerb auch tatsächlich ein- dieses Spannungsfeld darf nicht ignoriert werden. Hier greifen kann. Das bedeutet konkret, dass natürlich nicht gilt also, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Frak- jeder Teilnehmer am Berlin-Marathon Normadressat tion Die Linke: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Den- sein kann. Sondern es macht Sinn, etwa die Teilnehmer noch gibt es für die Gesetzesinitiative der Bundesregie- am Testpool der NADA oder solche Sportler als mögli- rung einen ambitionierten, klaren Fahrplan: Im nächsten che Täter zu identifizieren, die in erheblichem Umfang Jahr genau um diese Zeit soll die jetzige Initiative bereits ihren Lebensunterhalt durch Einnahmen aus dem Sport im Gesetzblatt stehen. finanzieren. Kern des geplanten Gesetzes ist es, Doping als eige- Am Ende brauchen wir ein Gesetz, das etwas bringt, nen Straftatbestand zu führen. Zum Arzneimittelgesetz und nicht ein Gesetz, das nur gut klingt. Insofern müssen und zur Arbeit der Sportgerichte wäre das eine wichtige wir uns gerade im Bereich des Selbstdopings auf Tat- Ergänzung. bestandsmerkmale und entsprechende Formulierungen Ziel ist es, die Integrität des Sports zu gewährleisten verständigen, die dazu führen, dass die sportrechtliche und nachhaltig zu sichern. Denn gerade der Sport hat und die strafrechtliche Sanktion nicht zu sehr auseinan- eine hohe Strahlkraft. Sport steht für Fairness, Chancen- derfallen. Das würde die Glaubwürdigkeit unseres Ge- gleichheit und Wettbewerb. Und Sport bedeutet, dass setzes nur unnötig relativieren. große Erfolge durch Anstrengung und Leistung erzielt Gestatten Sie mir am Ende eine persönliche Anmer- werden. Ganz wichtig ist dabei die Vorbildfunktion der kung: Wenn wir die Integrität des sportlichen Wett- Spitzenathletinnen und -athleten für den Nachwuchs. bewerbs umfassend schützen wollen, dann dürfen wir Wenn hier Doping im Spiel ist, hat es fatale Wirkungen. uns nicht allein auf die Bekämpfung des Dopingmiss- Darüber hinaus kann durch Doping eine ganze Sport- brauchs konzentrieren. In einem ernstzunehmenden art kaputtgemacht werden. Schauen wir uns nur die Pro- Umfang erreichen uns aus dem Sport immer wieder bleme im Radsport an. Eine Tour de France war einmal Hinweise, dass auch die Spielmanipulation geeignet ist, (B) ein Megaevent; heute hat der Radsport große Mühen, (D) den fairen Wettbewerb auszuhebeln. Insofern würde ich sich vom Dopingimage zu erholen. mich persönlich freuen, wenn wir uns in einem Gesetz zum Schutz der Integrität des Sports nicht nur den Bei Betrachtung einer Studie der Deutschen Sport- Kampf gegen Doping, sondern auch den Kampf gegen hilfe und der Deutschen Sporthochschule vom Januar die Spielmanipulation vornehmen würden. 2013 wird klar, dass Handlungsbedarf besteht. Die Er- gebnisse der Studie, basierend auf einer anonymen Be- Johannes Steiniger (CDU/CSU): Zu dem Antrag fragung, sind erschreckend: So gaben 6 Prozent der be- der Fraktion Die Linke „Anti-Doping-Gesetz für den fragten Kaderathleten an, regelmäßig zu dopen. Sport vorlegen“ lässt sich zuallererst einmal sagen: Wir erwarten uns als CDU/CSU-Fraktion vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zahlen durch den Ge- Fakt ist: Wie im Koalitionsvertrag von CDU/CSU setzentwurf und die hohe Strafandrohung, mit Haftstrafe und SPD vereinbart, wird derzeit gerade ein solches Ge- bis zu drei Jahren, eine stärkere Drohkulisse. setz zur Bekämpfung von Doping im Sport auf den Weg gebracht. Es stellt sich daher für mich die Frage, ob Ihr In diesem Zusammenhang kann ich es nicht nachvoll- Antrag, wie Sie ihn hier vorstellen, nur dem Schaufens- ziehen, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der ter dient. Linkspartei, zwar zu einer ähnlichen Problemanalyse kommen, aber beim Thema Belegung mit Strafe ledig- Denn ein entsprechender Referentenentwurf aus den lich „vorrangig Geldstrafen“ fordern. Gerade eine mit- Bundesministerien für Inneres und Justiz liegt bereits unter hohe Strafandrohung soll schließlich abschrecken. vor. Hierüber wird im Sport derzeit schon beraten. Die positive Presseresonanz und die ersten Bewertungen Sie begründen das Absehen von härteren Strafen un- durch Athletinnen und Athleten sind ein gutes Signal für ter anderem mit „viel Unkenntnis über die Gefahren von die breite Akzeptanz des geplanten Gesetzes. Doping“, was aus unserer Sicht schlicht falsch ist. Bei Spitzensportlern und Profis dreht sich schließlich der ge- Ein solches Gesetz, sehr geehrte Damen und Herren samte Tagesablauf um Sport und Ernährung. Vielmehr der Fraktion Die Linke, darf allerdings kein Schuss aus ist Doping noch immer viel zu verlockend. Das Risiko, der Hüfte sein; es muss vielmehr sorgfältig abgewogen erwischt zu werden, ist für viele offenbar überschaubar. und umfassend beraten werden. Das gilt vor allem des- halb, weil es wichtig ist, den Sport selbst zum Gesetzent- Durch eine Aufhängung von Doping im Strafgesetz wurf maßgeblich zu hören. Und der organisierte Sport, wird es weitaus stärkere Möglichkeiten der Handhabe vertreten durch den Deutschen Olympischen Sportbund, gegen Dopingsünder geben. Es lassen sich bei Ermitt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5949

(A) lungen alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung aus- Es ist die Aufgabe der Politik, dies zu leisten. Sport und (C) schöpfen. Politik sind sich dabei sehr ähnlich. Im Sport muss man konzentriert und leidenschaftlich für das Team und die Breitensportler sind bewusst ausgenommen. Ziel des Ziele, die man verfolgt, eintreten. Geduld und Ehrgeiz Gesetzes ist es ausdrücklich nicht, den Sport zu krimina- sind dazu ebenso notwendig wie Sachkenntnis und der lisieren. Dabei sind zwei Kriterien wichtig, nämlich dass Wille, sich weiterzuentwickeln. es sich im Anwendungsbereich um Kaderathleten han- delt oder nennenswerte Einnahmen mit dem Betreiben Und Politik? Der berühmte Soziologe Max Weber des Sports erzielt werden. Dieser Punkt ist deshalb von meinte: „Politik bedeutet ein starkes und langsames Bedeutung, da auch die immer beliebter werdenden Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und sportlichen Großereignisse jenseits des organisierten Augenmaß zugleich.“ Das gilt meines Erachtens auch Sports, etwa ein Stadtmarathon mit hohen Preisgeldern, für den Sport und ganz besonders für die Sportpolitik. in besonderem Maße fair bleiben müssen. Das harte Brett – das Anti-Doping-Gesetz – kann nur Es ist richtig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen durch leidenschaftlichen Einsatz und mit zuverlässiger der Fraktion Die Linke, wenn Sie sagen, das gesamte Sachkenntnis gebohrt werden. Umfeld der Athleten muss beim Thema Doping in die Doch leider fehlt dem Antrag der Linken genau das: Pflicht genommen werden. Die Gesetzesinitiative von Augenmaß und Leidenschaft. Denn einige Forderungen BMI und BMJV sieht dies auch vor, sodass etwa Trainer sind teilweise etwas realitätsfern: Da soll die NADA und Betreuer bei aktiver Unterstützung strafbar handeln. eine Zusammenfassung der negativen Auswirkungen Besonders mit Blick auf die deutsche Olympiabewer- von Arzneimitteln zum Muskelaufbau herausgeben. Und bung halte ich das geplante Gesetz für sehr wichtig. Bei alle Sportvereine, Sporteinrichtungen und Fitnessstudios internationalen Sportgroßereignissen ist die mediale werden verpflichtet, Ausdrucke dieser Zusammenfas- Aufmerksamkeit bei einem konkreten Dopingfall enorm. sungen anzubringen. Im Lichte dieses Scheinwerfers ist die Integrität des Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wie Sports insgesamt schnell gefährdet. darf ich mir das denn in der Praxis vorstellen? Wer be- Es geht in der Gesetzesinitiative der Bundesregierung zahlt das, und vor allem wer soll das denn kontrollieren – genau um diese so zentrale Integrität des Sports. Es ist macht das Herr Gysi persönlich? Im besten Fall kommt wichtig, dass der Gesetzgeber zu seinem schärfsten dabei so etwas heraus wie bei den Jugendschutzgesetz- Schwert, nämlich dem Strafrecht, greift, um bei Regel- tafeln; die hängen in üblen Spelunken, übrigens gerne verstoß ein klares Zeichen zu setzen und den sauberen einmal in der Ecke hinter dem Feuerlöscher. Sport zu schützen. (B) Es ist die Aufgabe der Sportpolitik, den Sport kon- (D) struktiv und kritisch zu begleiten. Nicht den Sport zu Michaela Engelmeier (SPD): Wir beraten heute regeln, sondern einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, also den Antrag der Linken, und ich muss zugeben: Als der es dem Sport überhaupt erst ermöglicht, seine Auto- ich den Titel des Antrags, „Anti-Doping-Gesetz für den nomie und seine Integrität zu wahren. Dafür, liebe Kol- Sport vorlegen“, zum ersten Mal las, da musste ich leginnen und Kollegen von der Linken, ist einiges nötig schon schmunzeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von von dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. der Linken, seien Sie versichert: Das läuft! Wissen Sie auch, warum? Weil viele Mitglieder dieses Hohen Hau- Und – hören Sie genau hin – ich teile Ihre Ziele! Doch ses – ganz besonders aus der SPD, die es im Koalitions- muss ich Ihnen leider sagen: Wir setzen diese Ziele bes- vertrag verankert hat – ausdauernd und erbittert für ein ser um. Ich möchte heute nichts vorwegnehmen, doch solches Gesetz gekämpft haben. Ein Gesetz, das genau ich kann Ihnen versichern, da kommt etwas auf Sie zu. jene Ziele erfüllt, die Sie in Ihrem Antrag aufgeschrie- ben haben: Sie wollen „Sportlerinnen und Sportler sowie Sie fordern die Definition von Doping, Dopingmitteln den freien Wettbewerb im Sport vor unlauteren Mani- und Dopingmethoden. Das regeln wir! Man kann das pulationen in Form von Doping ... schützen“, und Sie übrigens recht aktuell gestalten, indem die Definition wollen „die Autonomie des Sports“ berücksichtigen. einfach aus dem Internationalen Übereinkommen gegen Doping im Sport übernommen wird. Aber das brauche Als sportpolitische Sprecherin meiner Fraktion kann ich Ihnen ja nicht zu sagen. Sie fordern ein gutes Anti- ich Ihnen sagen: Ja, das wollen wir auch. Mir fallen da Doping-Gesetz, das den genauen Adressatenkreis be- einige Kolleginnen und Kollegen ein, die – schon länger nennt und die Straftatbestände festlegt. Das regeln wir! als ich – hier im Haus genau dafür eintreten, ja regel- recht kämpfen. Und nicht nur in der Politik, auch in der Wir wollen aber noch mehr. Wir möchten ein Gesetz, Gesellschaft treffen diese Ziele auf eine breite Zustim- das die konkrete Anwendung von Doping unter Strafe mung. Doch geht es eben nicht nur darum, was wir wol- stellt und eine Dopingprävention ermöglicht. Darüber len, sondern auch darum, wie wir es erreichen möchten. hinaus müssen aber auch die Produktion und der Handel von Dopingmitteln beachtet werden. Die Werte des Sports – und das ist für mich als Sport- lerin keine Floskel – sind Fairness, Respekt und Tole- Leidenschaft und Augenmaß, nur so werden die ranz. Aber die Werte sind auch das Bewusstsein für und dicken Bretter der Politik gebohrt, nur so kommen wir die Achtung vor Gesundheit. Um diese Werte zu schüt- zu einem differenzierten und ausgewogenen Anti- zen, bedarf es einer leidenschaftlichen Kraftanstrengung. Doping-Gesetz. 5950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Für ein solches Gesetz streitet die SPD-Bundestags- ten in den 90er-Jahren nicht nur benannt, sondern zum (C) fraktion schon lange mit Leidenschaft und Augenmaß. Teil auch strafrechtlich verfolgt wurden. Und dieses Gesetz, das wird kommen! Von wirklich gleichberechtigter Aufarbeitung kann also keine Rede sein, und leider fehlt ja auch noch im- Dr. André Hahn (DIE LINKE): Über die Doping- mer eine ganz wichtige Untersuchung, nämlich die des praktiken im Leistungssport der DDR ist in den Jahren Zeitraums seit 1990. Wir als Linke plädieren ganz nach- nach 1990 umfänglich berichtet worden, und daran, dass drücklich dafür, dass die Studie der Humboldt-Universi- es in vielen, insbesondere den olympischen Sportarten tät noch um diesen Komplex ergänzt wird. ein organisiertes und politisch gestütztes Dopingsystem gegeben hat, gibt es heute keine ernsthaften Zweifel Ich habe eingangs die Uni in Freiburg erwähnt. Die mehr. Dieser Teil der deutschen Sportgeschichte wurde heutige Debatte kann logischerweise auch nicht losge- in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbei- löst von der derzeit tobenden Auseinandersetzung um tet – was notwendig war –, er wurde aber leider häufig die Fortführung der Arbeit der dort eingesetzten Aufklä- auch politisch instrumentalisiert. Ja, in der DDR wurde rungskommission und die Versuche der Universitätslei- gedopt, aber dennoch wurde die Mehrzahl der sportli- tung, deren vollständigen Abschluss zu be-, wenn nicht chen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was gar zu verhindern, geführt werden. Dabei wird offenbar bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt. sogar in Kauf genommen, dass die in den letzten Jahren akribisch zusammengetragenen Daten und Akten wo- Gedopt wurde – und auch das wird heute niemand möglich sogar vernichtet werden. Für die Linke sage ich mehr leugnen – auch in Westdeutschland, wenn auch hier klar und deutlich: Das darf nicht passieren! Die vielleicht nicht im gleichen Umfang. Kommission muss ihre Arbeit geordnet zu Ende führen „Wie nah war die BRD der DDR?“ So titelte der Ber- und die Ergebnisse öffentlich präsentieren können. Und liner Tagesspiegel im Mai 2007 seinen Bericht über sys- wenn das Gremium erst vor wenigen Tagen neue Unter- tematisches Doping im westdeutschen Radsport und die lagen im Umfang von über 18 000 Seiten über das Wir- darin nach Aussagen des Olympia-Arztes Georg Huber ken einer zentralen Figur der mutmaßlichen Dopingakti- offenbar verwickelten Sportmediziner der Universitäts- vitäten der Freiburger Medizinfakultät erhalten hat, dann klinik in Freiburg. müssen die Mitglieder diese natürlich auch auswerten und in den Abschlussbericht einarbeiten können. Alles Der heutige Bundesfinanzminister Schäuble soll laut andere wäre ja geradezu absurd. der früheren ARD-Sendung Kontraste schon 1977 hin- sichtlich der damals längst verbotenen Anabolika geäu- Wenn nun seitens des Rektorats ein unverzüglicher ßert haben: „Wir wollen solche Mittel nur eingeschränkt Abschluss der Überprüfung gefordert wird, dann drängt (B) und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es of- sich der Verdacht auf, dass hier etwas vertuscht werden (D) fenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz soll. Ich bin insofern der baden-württembergischen Wis- dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der senschaftsministerin Bauer sehr dankbar, dass sie sich Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.“ klar für eine gründliche Aufarbeitung ohne Druck ausge- sprochen hat. Bei der Einweihung des Medizinischen Zentrums Der Blick zurück ist wichtig. Noch wichtiger aber ist 1976 in Freiburg machte auch der damals für den Leis- die Auseinandersetzung mit Dopingpraktiken heute und tungssport zuständige Vertreter im Bundesinnenministe- mit präventiven Maßnahmen für morgen. Diesem Ziel rium, Gerhard Groß, im Südwestfunk brisante Aussagen. dient der von meiner Fraktion vorgelegte Antrag. An den Sportmediziner Joseph Keul gewandt, sagte der damals unter Minister Maihofer tätige Groß: „Wenn Seit 1990 hat es diverse Initiativen und Maßnahmen- keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit her- kataloge gegen Doping im Sport gegeben. Sie alle waren beigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für letztlich nur mäßig erfolgreich. Deshalb muss aus Sicht vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grund- der Linken nun endlich entschlossen gehandelt werden. sätzlich diese Auffassung. Was in anderen Staaten er- folgreich als Trainings- und Wettkampfhilfe erprobt Das hat ja offenbar auch die die Regierung tragende worden ist und sich in jahrelanger Praxis ohne Gefähr- Mehrheit erkannt, weshalb im Koalitionsvertrag die Ver- dung der Gesundheit der Athleten bewährt hat, kann abschiedung eines Anti-Doping-Gesetzes ausdrücklich auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden.“ verankert ist. Innenminister de Maizière hatte im Sport- ausschuss avisiert, dass ein entsprechender Gesetzent- Das hören heute manche nicht gern, die offenbar noch wurf bis zur Sommerpause vorliegen würde. Geliefert immer in Zeiten des Kalten Krieges verhaftet sind und in hat er nicht. Bislang kursiert lediglich ein Referentenent- erster Linie eine Abrechnung mit der DDR betreiben wurf, der viele vernünftige Punkte enthält, bei dem aber wollen; aber die Fakten sprechen eine klare Sprache. völlig unklar ist, ob er in der Koalition und insbesondere in der CDU/CSU-Fraktion auch nur ansatzweise mehr- 2013 kam dann auch eine Studie der Berliner heitsfähig ist. Deshalb stellen wir nunmehr hier im Bun- Humboldt-Universität zu dem Schluss: Doping mit wis- destag einen eigenen Antrag zur Diskussion. senschaftlicher Unterstützung und aus politischen Moti- ven hat es auch in Westdeutschland gegeben. Die soge- Für uns steht fest: Doping gefährdet die Gesundheit nannte Steiner-Kommission hat diesen Befund bestätigt. und ist eine Gefahr für den Sport als solchen und die Namen und Fakten, Ross und Reiter wurden allerdings Werte, die durch ihn in die Gesellschaft transportiert nicht geliefert, während Verantwortliche aus DDR-Zei- werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Do- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5951

(A) ping im Sport noch deutlich wirksamer als bisher zu be- Der vorliegende Antrag zielt hinsichtlich der straf- (C) kämpfen. rechtlichen Maßnahmen ganz bewusst auf die Dopingan- wendung im Hochleistungssport, nicht aber auf gesund- Zu den Vorschlägen der Linken gehören die Einfüh- heitliche Gefährdungen durch die Einnahme verbotener rung eines neuen Straftatbestandes „Sportbetrug“ in das Substanzen, wie zum Beispiel von Anabolika in Fitness- Strafgesetzbuch, die Erweiterung bestehender Strafvor- studios. Das kann weder in einem Gesetz geregelt noch schriften für den Handel mit Dopingmitteln sowie der wirksam kontrolliert werden. Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren. Mit unserem Antrag wollen wir als Linke konstruk- Pharmazeutische Unternehmen sollen verpflichtet wer- tive Vorschläge für ein Anti-Doping-Gesetz unterbreiten den, bei Produkten, welche zum Doping geeignet sind, und freuen uns auf die Debatte im Fachausschuss. entsprechende Warnhinweise auf den Verpackungen an- zubringen. Für den Schutz von Whistleblowern wollen wir bereichsspezifische Regelungen schaffen. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin mir sicher, dass wir über alle Fraktionen hinweg überein- Mit unserem Antrag werden auch deutlich verschärfte stimmen: Der Kampf gegen Doping ist eines der zentra- Sanktionen für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler len Themen im Sport. Gleichzeitig bestimmt Doping vorgeschlagen, welche Eigendoping mit dem Ziel betrei- auch viele Diskussionen im Spitzensport. Schauen Sie ben, sich einen unlauteren Vorteil im sportlichen Wettbe- auf den internationalen Radsport, wo trotz der Do- werb zu verschaffen. Für diesen Sportbetrug sollen bei pingskandale und der gefallenen Radsporthelden wie Wiederholungstätern auch Freiheitsstrafen verhängt wer- Armstrong munter weitergedopt wird. den können. Die Geldbußen sollen sich jeweils an der Höhe der direkt oder mittelbar durch den Sport erzielten Mitte Oktober standen 112 Profifahrer auf der Sperr- Einnahmen orientieren, können also wie Gehalt, Sieg- liste des Weltverbandes UCI und die Dunkelziffer wird prämien und Werbeverträge von Sportart zu Sportart weit höher sein. Und mit dem Rugby kommt ganz ak- durchaus unterschiedlich sein. Der Besitz nicht geringer tuell eine weitere Mannschaftssportart in Frankreich und Mengen an Dopingmitteln soll künftig unter Strafe ge- Kanada in die Diskussion. Vielleicht sollten wir uns stellt werden. Bereits vorhandene Regelungen, zum Bei- auch den Fußball genauer anschauen. Jedenfalls ist ein spiel aus dem Arzneimittelgesetz, AMG, sollen zusam- Anti-Doping-Gesetz überfällig. mengefasst und angepasst werden. Auch in diesem Bereich hat die Bundesregierung viel Anders als manche Skeptiker sehen wir in einem angekündigt, hier warten wir auf die Lieferung. Es ist Anti-Doping-Gesetz keine Beeinträchtigung oder Aus- doch mehr als peinlich, sich vom Chef der US-Antido- (B) höhlung der Sportgerichtsbarkeit. Beides kann problem- pingbehörde Trevis Tygart belehren lassen zu müssen, (D) los nebeneinander funktionieren. Die Verbände können wie der Kampf gegen Doping in Deutschland geführt bei Dopingvergehen weiterhin die in ihren Satzungen werden müsste. Das Schlimme ist doch, dass er in der vorgesehenen Wettkampfsperren aussprechen. Bei gra- Analyse recht hat und dass unsere Anstrengungen nicht vierenden Verstößen gegen Dopingbestimmungen oder weit genug gehen. bei Wiederholungstätern kann aber künftig auch die Staatsanwaltschaft tätig werden. Dieser mangelnde Wille in Deutschland zeigt sich zum Teil auch im Umgang mit der Dopingvergangenheit Das ist im Übrigen auch keine unzulässige Doppelbe- unseres Landes. Die Opfer des systematischen Dopings strafung, denn schon heute wird ein Fußballprofi gemäß in der DDR werden weiterhin mit den gesundheitlichen Regelwerk nach einer Tätlichkeit vom Platz gestellt und Folgen alleinegelassen, und es gibt keine Anzeichen, entsprechend gesperrt, und darüber hinaus kann es den- dass sich etwas grundsätzlich an dieser Haltung ändert. noch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung Aktuelles Beispiel Freiburg: Hier scheint die Arbeit ei- geben. Bei Sportlern am Ende ihrer Karriere können ner wichtigen Kommission zur Aufarbeitung der Do- Sperren sogar gänzlich ins Leere gehen, wenn sie ein- pingforschung in Westdeutschland durch die betroffene fach ihre Laufbahn beenden. Gerade auch hier erhöht Universitätsklinik behindert zu werden. Das darf nicht eine Strafbarkeit von Doping die Hürde, sich entspre- hingenommen werden. Also, wo bleibt die Initiative der chender Mittel zu bedienen. Bundesregierung in der Anti-Doping-Gesetzgebung? Ich Darüber hinaus muss aus unserer Sicht die Unabhän- bin gespannt, ob sich bis zum Ende der Wahlperiode et- gigkeit und angemessene finanzielle Förderung der Na- was tut – nötig ist es längst. tionalen Anti Doping Agentur, NADA, dauerhaft sicher- gestellt werden, damit auch die Kontrolldichte erhöht Inhaltlich möchte ich dafür werben, den Zweck eines werden kann. Anti-Doping-Gesetzes auf den Schutz der Sportlerinnen und Sportler und des Wettbewerbs im Sport vor unlaute- Zu den Präventionsmaßnahmen sollen Aufklärungs- ren Manipulationen auszurichten. Die Einführung einer aktivitäten im Jugend- und Nachwuchssport sowie im Besitzstrafbarkeit und die Ausrichtung des Gesetzes- Fitnesssport sowie die Aus- und Weiterbildung der in die- zwecks auf die Gesundheit der Sportlerinnen und Sport- sem Umfeld tätigen Personen über die Wirkungen von ler sind nicht auf der Höhe der Zeit. Vor allem ist es auch anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und höchst fragwürdig, der mit der Einnahme von Doping- sporttypischen Aufbaupräparaten sowie die Einrichtung mitteln verbundenen Eigengefährdung mit den Mitteln einer unabhängigen Ombudsstelle gehören. des Strafrechts zu begegnen. 5952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Und bezüglich der Meldepflichten der Sportlerinnen milienbetriebenen Landwirtschaft ausgerufen. Anhand (C) und Sportler braucht es eine eindeutige Rechtsgrund- der Daten der Agrarstrukturerhebung 2013 können wir lage. Dabei darf es nicht nur um die Verpflichtung der für Deutschland feststellen, dass rund 90 Prozent der Be- Sportlerinnen und Sportler gehen, jederzeit ihren Auf- triebe in Deutschland familiengeführt sind. Das ent- enthaltsort der NADA mitzuteilen, sondern dies auch da- spricht 256 000 Betrieben. Allerdings hat die Zahl der tenschutzrechtlich abzusichern. Denn wenn wir schon Familienbetriebe gegenüber der Landwirtschaftszäh- auf der einen Seite die Strafbarkeit deutlich verschärfen, lung aus 2010 um 6 Prozent abgenommen. Was können müssen wir wenigstens diskutieren und Wege aufzeigen, wir für Schlüsse aus dieser Entwicklung ziehen? wie im Gegenzug das Recht der Sportlerinnen und Sportler auf Privatsphäre gestärkt werden müsste. Die Antwort bestimmt das Auge des Betrachters: Wir sind nicht der Auffassung, dass Sportlerinnen und Aus Sicht der Verwaltung kann die Effizienz von För- Sportler völlig rechtlos gestellt werden dürfen. dermaßnahmen in diesem Bereich beurteilt werden. Die Wissenschaft kann mit aktuellen Zahlen Zukunftsszena- Wir sollten uns aber auch fragen, ob wir nicht auch rien berechnen und konkretisieren. Wir Politiker hinge- die Fördermechanismen des Leistungssports und die gen müssen uns entscheiden: Geht die Entwicklung in wieder stärker diskutierte Ausrichtung auf Medaillen die gewünschte Richtung? überdenken müssen. Um das zu entscheiden, braucht es zunächst ein ge- Denn wenn wir davon ausgehen – und meiner Ein- meinsames Ziel – oder vielmehr ein gemeinsames schätzung nach müssen wir dies –, dass im internationa- Leitbild. Je breiter die Mehrheiten für dieses Ziel sind, len Spitzensport Doping leider nicht die absolute Aus- desto effektiver können passende Maßnahmen durch- nahme, sondern eher die Regel ist, wird eine einseitige gesetzt werden. Ausrichtung der Sportförderung auf Medaillen nicht für weniger Doping im Sport sorgen. Bleiben wir beim Beispiel der Familienbetriebe: Familiengeführte Agrarunternehmen sind das Marken- Ich freue mich auf unsere kommenden Diskussionen. zeichen des ländlichen Raums in Deutschland – und sie bringen viele Vorteile. Denn landwirtschaftliche Famili- enunternehmen erzielen eine hohe Wertschöpfung, die in Anlage 10 der Regel im ländlichen Raum verbleibt. Sie wirtschaf- Zu Protokoll gegebene Reden ten meist nachhaltiger und mit mehr Arbeitskräften als zum Beispiel anonyme Kapitalgesellschaften. Durch Di- zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- versifizierung und Eigentumsstreuung wird struktur- (B) zes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes schwacher ländlicher Raum lebenswert gehalten. Nicht (D) (Tagesordnungspunkt 20) zuletzt sei erwähnt, dass das soziale und gesellschaftli- che Engagement der Familien – etwa in Kirchen, Verei- Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Im nen oder Feuerwehren – ein Garant für lebendige Dörfer letzten Jahr mussten zahlreiche Betriebsleiter den Äm- ist. tern Auskunft über Ihre Betriebs- und Produktionsstruk- Dass Landwirtschaft und ländlicher Raum auch an- turen erteilen. Für den einzelnen Landwirt ist die Agrar- ders aussehen können, ging aus dem Bericht der Dele- strukturerhebung zunächst ein bürokratischer Akt, den gationsreise des Landwirtschaftsausschusses in die USA man über sich ergehen lassen muss. hervor. Dort können Sie mehrere Hundert Kilometer Statistik und Zahlen, ein Thema, das vielfach auf über Land fahren, ohne an einem Haus, einem landwirt- Desinteresse stößt. Ähnlich wie bei Mathematik und schaftlichen Betrieb, geschweige denn an einem Dorf Ökonomie sehen Unbedarfte in der Statistik eine Übung, vorbeizukommen. Einmal davon abgesehen, dass wir es die der Praxis weit unterlegen ist und nur eine Berechti- nicht mit dem Flächenpotenzial der Vereinigten Staaten gung hat, wenn es darum geht, den eigenen Standpunkt aufzunehmen brauchen, stellt sich für mich vor allem die zu bekräftigen. Frage: Welche Agrarstruktur möchten wir in Deutsch- land haben, und wie können wir diese fördern und be- Für Verwaltung, Verbände und Wissenschaft liefert gleiten? sie jedoch wertvolle Erkenntnisse. Denn nur auf Grund- lage belastbarer Zahlen kann ein verlässliches Bild der Meiner Ansicht nach ist der landwirtschaftliche Fami- deutschen und europäischen Landwirtschaft gezeichnet lienbetrieb das passende Leitbild für die Agrarpolitik. werden. Schließlich geht es um nicht weniger als die Dabei ist es unerheblich, ob der Betrieb konventionell Nutzung von 18,6 Millionen Hektar Agrarland; das sind oder ökologisch bewirtschaftet wird. Wichtig erscheint mehr als 50 Prozent der Fläche unseres Landes. Mithilfe mir, dass die Verbindung von Eigentum, Arbeit und der Ergebnisse kann zum Beispiel der Erfolg von Agrar- Kapital in den ländlichen Regionen erhalten bleibt. und Marktpolitiken eingeordnet werden. Hat ein speziel- les Förderprogramm tatsächlich seine Wirkung erzielt? Auch wenn mehrheitlich noch die landwirtschaftli- Oder haben Marktmaßnahmen zum gewünschten Erfolg chen Betriebe für Arbeit und Vitalität im ländlichen geführt? Ein Vergleich der Statistiken gibt Aufschluss. Raum sorgen, können wir uns dem Wandel in den Dörfern nicht verschließen. Gerade auslaufenden Land- Nehmen wir ein Beispiel: Das Jahr 2014 wurde von wirtschaftsbetrieben müssen wir Chancen eröffnen, um den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der fa- zum Beispiel über Tourismus oder Umweltdienstleistun- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5953

(A) gen weiterhin im ländlichen Raum wirtschaften zu tet zwar nicht über die Mühen um Umstände ordentli- (C) können. cher Buchführung hinweg. Trotzdem mahnt es auch uns Landwirte zu Sorgfalt und Einsicht um die Bedeutung Natürlich lassen sich durch die Statistik Tatsachen statistischer Maßnahmen. verstärkt oder abgeschwächt darstellen, doch eins ist si- cher: Die Zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen Die Agrarstatistik liefert wertvolle Daten, die uns Po- geht stetig zurück. litikern als Entscheidungsgrundlage dienen. Nutzen wir die Fakten, um strukturelle Entwicklungen in der deut- Mit der heutigen Dritten Änderung des Agrarstatistik- schen Landwirtschaft zu erkennen und zu hinterfragen. gesetzes werden Erhebungsmerkmale für verschiedene Bereiche der Agrarstatistik angepasst und konkretisiert. In der Geflügelhaltung wird zum Beispiel der Geflügel- Marlene Mortler (CDU/CSU): Ein bekannter Auto- bestand nicht mehr zu einem Stichtag erfasst, sondern manager sagte einmal: „Ich will Sie nicht mit Statistiken über die Zahl der Haltungsplätze ermittelt. Das schafft quälen – sondern ganz ohne!“ Auch ich will Sie heute eine aussagekräftigere Datengrundlage, wodurch die nicht mit Statistikdetails quälen. Deswegen werde ich strukturelle Entwicklung der Branche besser interpretiert auch nicht über die hier zu beschließenden Änderungen werden kann. Im Zuge der Agrarstrukturerhebung 2016 des Agrarstatistikgesetzes im Einzelnen reden – nicht wird eine Produktionsgartenbauerhebung durchgeführt. über die Baumobstanbauerhebung, die Rebflächenerhe- Allerdings werden zusätzliche Angaben abgefragt, die bung, die Agrarstrukturerhebung, die Gartenbauerhe- nicht Teil der Agrarstrukturerhebung sind. Das sind zum bung, die Erhebung in den Betrieben der Holzbearbei- Beispiel Daten zum Energieverbrauch nach Energieträ- tung. Hier geht es in erster Linie um Anpassungen an gern oder zur Beheizung. Dadurch könnten Maßnahmen europäisches Recht. Das müssen wir einfach machen, zur energieeffizienten Produktion im Gartenbau abgelei- und zwar so schlank und so geschickt wie möglich. Ja, tet und gefördert werden. geschickt – weil davon, wie wir Anforderungen zur Da- tenerhebung ausgestalten, viel abhängt. Davon können Landwirtschaft ist Vielfalt. Dies sehen wir bestätigt, die Bauern in diesem Land ein Lied singen. wenn wir den Gesetzentwurf einmal durchblättern. Hennenhaltungsplätze, Mostgewicht, Aquakulturstatis- Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn wir tik, Gartenbausämereien, Bodenbearbeitungsverfahren, wirklich etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be- Rebsorten – das sind nur einige Stichworte, die im Text triebe machen wollen, dann sollten wir sie, wo es geht, enthalten sind. von Pflichten entlasten, die der Landwirt oder die Land- wirtin nicht auf dem Acker oder im Stall erfüllen muss, Und Landwirtschaft entwickelt sich; neue Techniken, sondern im Büro. Ich weiß, dass sich das immer so platt (B) neue Verfahren, neue Züchtungen kommen ständig dazu. anhört, und mir ist auch klar, dass es nicht einfach die (D) Gerne wird der landwirtschaftliche Berufsstand in Pres- bösen Ministerien sind, die sich neue Anforderungen semeldungen einzig auf Ertragszahlen reduziert. Doch ausdenken. Meist geht es einfach darum, das gut zu voll- unsere Bauern wissen um die Mehrdimensionalität ihrer ziehen, was wir hier im Parlament beschließen und was Tätigkeit. sich die Politik in Brüssel überlegt. Für den Landwirt im Betrieb bleibt das Ergebnis dennoch das Gleiche. Saatgut, Energieverbrauch, Produktqualität, Boden- beschaffenheit und die Gestaltung von Kulturräumen Deswegen möchte ich exemplarisch ein konkretes, sind längst integrale Bestandteile des Berufsfeldes. Die ein brandaktuelles Beispiel ansprechen, bei dem noch Agrarstatistik bildet all diese Entwicklungen ab, macht völlig offen ist, wie ernst es Bund und Länder mit dem sie zugänglich, erlaubt Interpretationen, und nicht zuletzt Thema Bürokratieabbau nehmen – die Antibiotikaüber- zeichnet sie ein Bild des Wandels in der Landwirtschaft. tragung. Der Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen, Sie wissen: Das neue Arzneimittelgesetz ist zum trägt den Veränderungen im Agrarbereich Rechnung. In 1. April 2014 in Kraft getreten. Danach müssen alle An- erster Linie geht es um die Anpassung an EU-Vorschrif- tibiotika, die für Masttiere angewendet oder abgegeben ten. Schließlich – so heißt es in der Begründung –: „Die werden, an eine staatliche Antibiotikadatenbank gemel- Betriebsstrukturerhebungen sind für die Europäische det werden. Das ist ein Riesenaufwand – vor allem, Kommission von großer Bedeutung als Grundlage für wenn man dieses System neu aus dem Boden stampft, die Entwicklung und Bewertung von Maßnahmen der statt Bestehendes zu nutzen. Gemeinsamen Agrarpolitik sowie zur Förderung der ländlichen Entwicklung.“ Es gibt ein bestehendes und bestens funktionierendes System, das wirtschaftsgetragene sogenannte QS-Sys- Bei einem Gesamtetat der EU von 57,8 Milliarden tem, das bereits in vielen Betrieben zum Einsatz kommt, Euro für den Agrarsektor ist Transparenz über Verwen- gerade in der Schweinemast. Wenn man das nutzt, liegt dung dieser öffentlichen Mittel oberstes Gebot. Das der Mehraufwand fast bei null. Nutzen wir es nicht, ist er Agrarstatistikgesetz schafft entsprechende Voraussetzun- gewaltig. gen und fördert die Kooperation zwischen den öffentli- chen Institutionen als Fördermittelgeber und den Land- Mir wurde gerade berichtet, dass QS jetzt die techni- wirten als Empfänger. schen Voraussetzungen für eine direkte Datenübermitt- lung geschaffen hat. Die Meldungen zur Abgabe von „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.“ Dieses Zitat, Antibiotika an Mastschweine, Mastgeflügel, Mastkälber das dem Griechen Pythagoras zugeschrieben wird, trös- und Mastrinder könnten also von QS jederzeit automati- 5954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) siert weitergeleitet werden. Ich danke dem BMEL hier Landwirtschaft. Auch darüber liefert das Agrarstatistik- (C) ausdrücklich für seinen großen Einsatz in den Gesprä- gesetz wichtige Informationen und Entscheidungshil- chen mit QS. fen. Die Erhebung zur Bodenerhaltung stellt Informatio- nen über die Bodenbedeckung im Winter und zur Größe Aber Sie werden es nicht glauben: Die Daten werden des Ackerlandes ohne Fruchtwechsel zur Verfügung. Zu- dennoch nicht übermittelt. Weil sie nicht von den Behör- sätzlich werden im Rahmen der Bodennutzungshaupter- den der Länder angenommen werden. Ich frage mich hebung Angaben zu angebauten Kulturarten, Pflanzen- und Sie: Warum? Vor allem deshalb, weil eine Reihe von gruppen, Pflanzenarten und Kulturformen erfragt. Ländern Anforderungen an die Datenerhebung stellen, die weder das AMG selbst noch die entsprechende Das vorliegende Gesetz ist zum einen notwendig, um Durchführungsverordnung vorsehen, nämlich die tagge- die Vorschriften des Unionsrechts umzusetzen, und zum naue Information über jeden Zu- und Abgang. anderen, um die Inhalte einiger Erhebungen im Agrarbe- reich an den aktuellen Datenbedarf anzupassen. Ich möchte einmal beschreiben, was das bedeutet: Da soll ein Betrieb mit, sagen wir, 200 000 Puten jeden Tag Mit diesem Gesetz kommen wir auch einer wichtigen jede einzelne Bestandsveränderung durchgeben, jedes Forderung des Bundesrates nach, eine Gartenbauerhe- einzelne gestorbene Tier den Behörden melden. Und wo- bung durchzuführen. Mit einer Bruttowertschöpfung von für? Als ob es für die Bemessung der Antibiotikamenge über 19 Milliarden Euro und einem Anteil von etwa auf einen Zweihunderttausendstelwert heruntergerechnet 11 Prozent am Produktionswert der deutschen Landwirt- ankäme. Das ist wirklich absurd! schaft leistet der Gartenbau einen wichtigen Beitrag im Agrarbereich. Zukünftig können wir auch in diesem Be- Deshalb an dieser Stelle mein Appell an die Länder: reich auf verlässliche Zahlen zurückgreifen. Bitte leisten nach dem BMEL und QS auch Sie Ihren Beitrag zu einer verantwortungsvollen, halbwegs büro- Im Bereich der Geflügelhaltung ist eine Anpassung kratiearmen Lösung der Antibiotikameldung im AMG. der Erfassung an den aktuellen Datenbedarf sinnvoll. So Denken bei allem auch Sie einen Moment lang an die wird neben der Zahl der Tiere auch die Zahl der Hal- Bauern und daran, wo wir deren Zeit wirklich brauchen: tungsplätze erfasst. Damit lassen sich strukturelle Ent- im Stall bei ihren Tieren zum Beispiel. wicklungen zukünftig besser interpretieren. Außerdem sollen Legehennenhalter monatliche Angaben zur Hal- Deshalb meine Botschaft: Statistiken sollten nicht tungsform machen. quälen, schon gar nicht ohne vernünftigen Grund. In der Landwirtschaft besteht die Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung, um den Landwirten die Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Heute debattieren Arbeit mit der Umsatzsteuer zu erleichtern. Dieses (B) (D) wir über die Änderung eines Gesetzes, das im Grundsatz Merkmal der Form der Umsatzbesteuerung wurde seit schon seit 1989 existiert, 2009 neu gefasst wurde und die der Änderung des Agrarstatistikgesetzes 2009 nicht Basis für statistische Auswertungen und damit für unsere mehr regelmäßig erhoben. Für die Arbeit in unseren Politik im Agrarbereich ist. Schon Galileo Galilei wies Ausschüssen ist es aber von großer Bedeutung, dass mit seinen Worten „Alles messen, was messbar ist – und diese Angaben aktuell sind. Der Bundesrechnungshof messbar machen, was noch nicht messbar ist“ darauf hin, stellte 2013 fest, dass ein nichtangepasster Umsatzsteu- wie bedeutsam statistische Erhebungen sind. ersatz für Pauschallandwirte zu erheblichen Steueraus- Das Agrarstatistikgesetz in seiner aktuellen Fassung fällen führen kann. Die Anpassung des Durchschnitt- regelt bereits die Durchführung von elf Einzelstatistiken satzes um 1 Prozentpunkt entspricht bereits einem im Rahmen der Bundesstatistik. Es ist damit die Grund- Umsatzsteuerbetrag von jährlich 150 Millionen Euro. lage für Erhebungen über Ernte, Bodennutzung, Viehbe- Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Form der Umsatz- stände, Strukturen in land- und forstwirtschaftlichen Be- besteuerung zukünftig wieder regelmäßig erfasst wird. trieben, Geflügel, Wein, Holz usw. Sehr zu begrüßen ist die Straffung von Verwaltungs- Beispielsweise führt das Bundesforschungsinstitut für aufgaben. Die Erhebung der weniger als 400 auskunftge- Ernährung und Lebensmittel (Max Rubner-Institut) im benden holzverarbeitenden Betriebe soll zukünftig durch Rahmen der „Besonderen Ernte- und Qualitätsermitt- das Statistische Bundesamt durchgeführt werden. Das ist lung“ jährliche Untersuchungen durch. Die Qualität un- ein Beispiel für eine sinnvolle Entlastung von Behörden serer landwirtschaftlichen Produkte und letztendlich die bei gleichzeitig schnellerer Datenverfügbarkeit. Sicherheit unserer Lebensmittel kann so besser beurteilt Mit den beschlossenen Änderungen wird außerdem werden. Dazu werden auf bis zu 10 000 Feldern unserer ein wichtiger Einwand des Bundesrates umgesetzt. Na- landwirtschaftlichen Betriebe Ernteproben gezogen, türlich ist es notwendig, den Energieverbrauch nicht für analysiert und ausgewertet. Das Gesetz schafft damit einen Berichtszeitpunkt, sondern für einen Berichtszeit- wesentliche Entscheidungshilfen für Politik und Wirt- raum zu erheben. Aus unserer Sicht ist nur schwer zu schaft. verstehen, wie dieser Punkt im Gesetzentwurf übersehen und erst durch Mitwirkung des Bundesrates angepasst Der Boden ist der wichtigste und ein knapper Produk- wurde. Diesen Fehler konnten wir noch rechtzeitig mit- tionsfaktor unserer Landwirtschaft. Er ist nicht vermehr- hilfe des beschlossenen Änderungsantrages korrigieren. bar. Darum ist die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit eines der wichtigsten Ziele im Agrarbereich. Die Boden- Die Gesetzesänderung sieht auch Ergänzungen im fruchtbarkeit ist Grundlage der Ertragsfähigkeit unserer Betriebsregister Landwirtschaft vor. Beispielsweise kön- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5955

(A) nen befragte Ökolandwirte durch die Verlagerung der Ein Beispiel: Bisher wurde beim Mastgeflügel der (C) Aufgaben auf das Betriebsregister Landwirtschaft deut- Tierbestand an einem Stichtag erhoben. Falls genau an lich entlastet werden. Gleichzeitig ist sichergestellt, dass diesem Tag der Stall wegen der Reinigung vor Neuein- wir Biobetriebe eindeutig und effizient identifizieren stallung nach dem „Alles-rein-alles-raus-Prinzip“ leer können, und das kostenneutral. Zusätzlich wird zukünf- stand, entfiel für diesen Betrieb nicht nur die aktuelle tig die Angabe zur ökologischen Wirtschaftsweise auch Berichtspflicht, sondern er fiel komplett aus der Statis- bei Baumobstanbauern erhoben. Damit erreichen wir, tik. Wegen statistischer Nichtexistenz wurde er auch dass auch im Bereich Obst verlässliche Informationen nicht mehr kontrolliert. Diese Absurdität wird jetzt kor- und Zahlen zum Ökolandbau zur Verfügung stehen. Ins- rigiert durch die Erfassung der Haltungsplätze, egal ob gesamt können regionale landwirtschaftliche Strukturen sie aktuell besetzt sind oder nicht. in Deutschland besser dargestellt werden. Das begrüßen Dieses Beispiel zeigt, dass Statistik alles andere ist als wir besonders vor dem Hintergrund der Stärkung ländli- irrelevant und dröge. Leider hat die Statistik als Wissen- cher Räume sowie des ökologischen Landbaus. schaft ein schlechtes Image. Sie ist vielen suspekt, weil Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention hat sie ihr Regelwerk nicht durchschauen. Das gilt zwar für sich Deutschland verpflichtet, in jährlichen Emissionsin- viele Wissenschaftsdisziplinen, aber hier nährt es Miss- ventaren auch Angaben zu Treibhausgasemissionen aus trauen, weil sie gleichzeitig als manipulierbar gilt und in der Realität ja auch nicht selten missbraucht wird. Das der Landwirtschaft zu machen. Gerade mit Blick auf untergräbt in der Summe ihre Autorität und den Wert Strategien und Maßnahmen im Bereich der Klima- statistischer Analysen. Das wiederum ist fatal, denn ge- schutzpolitik und des Umweltschutzes sind diese Anga- rade in der Politik sind wir auf objektive Bewertungen ben von grundlegender Bedeutung. Ich begrüße deshalb von Daten dringend angewiesen, sollen sie nicht auf Da- die zusätzliche Erhebung von Merkmalen bei der Aus- tenfriedhöfen landen und ihre Erfassung damit Alibi bringung von Wirtschaftsdüngern sehr. Nur so können bleiben. Wir brauchen verlässliche statistische Analyse- wir die erforderlichen Daten bei der Emissionsberichter- ergebnisse, um Problemsituationen und ihre Ursachen stattung sowie den steigenden Bedarf bei der Evaluie- exakt erkennen oder die Folgen politischer Entscheidun- rung des Düngerechts sicherstellen. gen bewerten zu können. Mit dem gestern beschlossenen Änderungsantrag Voraussetzung für belastbare Ergebnisse ist aber unserer Koalition wird mit dem neuen Artikel 2 das Le- zwingend, dass erstens geeignete Daten erhoben und bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, LFGB, rechts- dass sie zweitens mit geeigneten Methoden analysiert technisch geändert. Die ab 13. Dezember dieses Jahres werden. Beides ist leider oft nicht der Fall und deshalb geltende EU-Lebensmittelinformationsverordnung machte (B) sind auch immer wieder politische Entscheidungen auf (D) es zwingend notwendig, allgemeine Täuschungsschutz- dieser Basis falsch. vorschriften des LFGB anzupassen. Nur so ist auch ge- währleistet, dass den Ländern mit Geltungsbeginn der Ein Beispiel. Wir wollen und müssen aus Klima- und Verordnung eine angepasste Täuschungsschutzvorschrift Artenschutzgründen das Grünland erhalten. Wer aber sowie darauf abgestimmte Straf- und Bußgeldvorschrif- Durchschnittswerte zum Grünlandanteil für große Zeit- ten zur Verfügung stehen. räume und große Regionen zur Bewertung der Situation nutzt, wird dramatische Entwicklungstendenzen inner- Insgesamt ist die Änderung des Agrarstatistikgesetzes halb dieses Zeitraums oder in Teilregionen übersehen. ein wichtiger Schritt, um auch langfristig die wissen- Ein anderes Beispiel. Wir wollen die biologische schaftliche Grundlage für die Politik im Agrarbereich zu Vielfalt in der Agrarlandschaft erhalten. Wer auf positive gewährleisten. Bestandsentwicklung der Kraniche schaut, wird beruhigt sein. Gleichzeitig senden dramatische Verluste bei bis- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Das Agrarsta- herigen Allerweltsarten wie Sperling oder Feldlerche tistikgesetz ist die einheitliche Rechtsgrundlage für den Alarmsignale. Agrarteil der Bundesstatistik. Das Gesetz wurde zuletzt Aus Sicht der Linksfraktion ist die Agrarstatistik also im Jahr 2012 geändert und muss nun erneut an EU-Vor- ein wichtiger und fahrlässig unter- oder absichtsvoll schriften angepasst werden. Das bezieht sich vor allem überschätzter Baustein der Agrarpolitik. Der Bundestag auf das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch. Es beschäftigt sich eher zu selten als zu oft mit statistischen geht aber auch um die Aktualisierung der Agrarstruktur- Analysen. Selbst der Agrarbericht erscheint nur noch erhebung aus Sicht der Agrarumweltpolitik. Die Erhe- alle vier Jahre, weil das die Union-FDP-Koalition so be- bung des Baumobstanbaus soll vereinfacht und die Reb- schlossen hat. Deshalb steht er auch im Parlament nur flächenerhebung angepasst werden. Die Vorschläge des noch einmal pro Wahlperiode auf der Tagesordnung. Die Bundesrats hat der Änderungsantrag der Koalitionsfrak- Linke war für einen zweijährigen Turnus, um auf Pro- tionen größtenteils aufgegriffen. blemsituationen schnell reagieren zu können. Ich halte das nach wie vor für richtig. Hört sich also gut und wenig spannend an und ist auch so. Eigentlich. Denn einige überfällige Änderungen Und leider werden in ihm auch längst nicht alle aus zeigen, wie schnell scheinbar harmlose Regelungsdetails linker Sicht agrarpolitisch interessanten Daten erhoben. zu grobem Unfug und falschen statistischen Aussagen Aktuelle Tendenzen der Umverteilung des Bodeneigen- führen. tums in immer weniger Hände mit schwarzen Geldkof- 5956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) fern ahnen wir bestenfalls. Aber politisch so brisante Mitteilungspflicht der Unternehmer im Fall von schwer- (C) Entwicklungen sollten wir genau kennen. Auch über die wiegenden Verstößen bei Täuschung einfallen. Eine sol- Zusammensetzung landwirtschaftlicher Einkommen wis- che Mitteilungspflicht könnte bei schwerwiegenden Ver- sen wir zu wenig. Spannend wäre auch die Analyse der stößen wie dem Pferdefleischskandal verhindern, dass Entwicklung von Agrargenossenschaften und ihrer die Unternehmen mit stillen Rückrufen reagieren, ohne Funktion in den Dörfern. Sie werden absichtsvoll in der Behörden oder Verbraucher zu informieren. Kategorie „juristische Personen“ versteckt. Sonst wür- den sie noch als soziale, ökologische und demokratische Aber dass die Bundesregierung wider alle Bekundun- Alternative zur Enteignung von Familienbetrieben durch gen nichts aus dem Pferdefleischskandal gelernt hat, ha- den Markt entdeckt. ben wir ja gerade beim Thema Separatorenfleisch ge- merkt. Wieder hat die Bundesregierung also eine Chance Deshalb: Statistik wird zum spannenden Krimi, wenn verstreichen lassen, systematische oder größere Betrugs- man mit der Frage beginnt: Wem nutzt sie? fälle schneller entdecken und verfolgen zu können. Man hätte diese LFGB-Änderung außerdem mit der Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- längst überfälligen Novellierung des § 40 1 a verknüpfen NEN): In unserem Land werden viele Tiere gehalten, können. Damit könnte die Bundesregierung erwirken, sehr viele sogar. Das Agrarstatistikgesetz soll unter an- dass die Veröffentlichung von Rechtsverstößen im Inter- derem dafür Sorge tragen, dass regelmäßig erfasst wird, net rechtssicher ist und die Länder wieder auf ihren In- über wie viele Tiere wir hier sprechen. Denn schon lange ternetseiten über Verstöße informieren können. Warum ist die konventionelle, intensive Tierhaltung indoor in soll bei uns nicht möglich sein, was in Österreich schon große Hallen verlegt. So kann es passieren, dass man längst praktiziert wird? Diese LFGB-Novellierung ist durch die Region mit der europaweit höchsten Vieh- schon lange angekündigt. Im Sommer war im Ausschuss dichte fährt und außer ein paar Reitponys kein einziges die Rede von „in den nächsten Wochen“, zuletzt war der Tier zu Gesicht bekommt. Entwurf für November angekündigt. Frau Aigner galt zu Dabei ist natürlich die Anzahl der genehmigten Hal- ihrer Amtszeit als Ankündigungsministerin. Es scheint tungsplätze ausschlaggebend, nicht die aktuell eingestallte sich so zu entwickeln, dass Minister Schmidt zumindest Tierzahl. Man stelle sich nur mal folgendes Szenario vor: in diese Fußstapfen seiner Vorgängerin tritt. Ob er damit Aus seuchenhygienischen Gründen beschließen Geflü- gut beraten ist, wage ich zu bezweifeln. gelmäster einer Region, die Ställe frühzeitig zu leeren und eine freiwillige Stallruhe einzurichten, um den Keimdruck zu reduzieren. So geschehen kürzlich beim Anlage 11 Auftreten der Virusinfektion der Infektiösen Laryngotra- (B) Zu Protokoll gegebene Reden (D) cheitis – ILT– im Emsland. Dann sinkt die Anzahl der gehaltenen Tiere ganz schnell um einige 100 000 auf we- zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes nigen Quadratkilometern. Daher ist die Änderung, dass zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Ta- beim Geflügel Haltungsplätze statt Tierzahlen erfasst gesordnungspunkt 21) werden, ein kleines, aber ungemein wichtiges Detail, das wir sehr begrüßen. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Mit der heutigen ab- Natürlich hätte die Bundesregierung noch weiter ge- schließenden Beratung des Gesetzentwurfs zur Ände- hen können, um für noch mehr Transparenz und Vertrau- rung des Urheberrechtsgesetzes bringen wir eine über enswürdigkeit zu sorgen: Bei der Geflügelmast wäre es mehrere Legislaturperioden geführte Debatte zu Ende. nämlich durchaus sinnvoll, die Häufigkeit der Erhebun- Wir werden heute die Regelung über die Nutzung von gen zu erhöhen. Denn kein anderer Zweig der sogenann- urheberrechtlich geschützten Werken in Unterricht und ten Veredelungsbranche wächst in so rasantem Tempo. Forschung endgültig entfristen. Will der Schlachthof in Wietze seine Kapazitäten voll Damit schaffen wir Rechtssicherheit für Verlage auf auslasten, müssen alleine hierfür noch 400 neue Hähn- der einen und Bildungs- und Forschungseinrichtungen chenmastanlagen gebaut werden. auf der anderen Seite. Was die Bundesregierung durch einen Änderungsan- In den Beratungen im Rechtsausschuss sowie in der trag kurzfristig noch angepackt hat, ist eine Änderung im Fraktion ist deutlich geworden, dass auch die beiden Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelge- jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes be- setzbuch, das der ab 13. Dezember 2015 geltenden Le- züglich der Definition der zulässigen Länge von Werk- bensmittelinformationsverordnung angepasst werden muss. teilen zur Nutzung in Unterricht und Forschung sowie Diese Änderung ist im Prinzip vor allem technisch insbesondere zur Regelung der Zugänglichmachung zu und entspricht der Regelung in der Lebensmittelinforma- dieser Rechtssicherheit für die Beteiligten beitragen. tionsverordnung, ist also tatsächlich eine Umsetzung und daher unproblematisch. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion wäre es sicherlich wünschenswert gewesen, das Ergebnis der höchstrich- Schade ist allerdings schon, dass nun diese rein tech- terlichen Entscheidungen zur Klarstellung daher auch in nische LFGB-Änderung vorgenommen wird, ohne sie mit den Gesetzestext aufzunehmen. Dies betrifft insbeson- anderen notwendigen Verbesserungen im Täuschungs- dere den Vorrang eines angemessenen Lizenzangebots schutz zu verknüpfen. Mir würde da zum Beispiel eine eines Verlages an eine Wissenschaftseinrichtung vor der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5957

(A) Zugänglichmachung durch eine Universität oder andere Systematik des Urheberrechts einfügen und den Urheber (C) Forschungseinrichtung. Da der Bundesgerichtshof die- mit seinen Rechten als Ausgangspunkt sehen. Dies wer- sen Vorrang von vertraglichen Lizenzen in einem Urteil den wir Rechtspolitiker in der anstehenden Diskussion im vergangenen Jahr festgestellt hat, ist § 52 a UrhG mit den Kollegen aus der Bildungspolitik intensiv disku- auch nach der Entfristung in diesem Sinne auszulegen, tieren. sodass materiell-rechtlich eine solche Aufnahme in den Gesetzestext entbehrlich ist. Heute erreichen wir das Ende einer über viele Jahre geführten Debatte über die Geltung des § 52 a des Urhe- Die Rechtsprechung stärkt somit insbesondere die berrechtsgesetzes. Wir wissen, dass es nur das vorläufige Position der Rechteinhaber und der Urheber. Die Verlage Ende sein wird. Daher freue ich mich auf die kommen- und damit die Rechteinhaber sind zur Refinanzierung ih- den Diskussionen im Rahmen der weiteren Umsetzung res Angebots auf die Einnahmen aus Lizenzverträgen des Koalitionsvertrages im Bereich des Urheberrechts. nicht nur angewiesen: Es liegt in der Natur des Urheber- rechts, dass die Rechte an einem Werk zunächst bei sei- nem Schöpfer liegen und alle Beschränkungen dieses Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent- Rechts, zu denen auch die Zugänglichmachung von Wer- wurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes wollen ken oder Werkteilen für Unterricht und Forschung gehö- wir die bis Ende diesen Jahres geltende Befristung des ren, daher zuallererst als Beschränkung des Eigentums § 52 a UrhG aufheben und die bisherige Sonderregelung verstanden werden müssen. Dabei ist das geistige Eigen- für die öffentliche Zugänglichkeit urheberrechtlich ge- tum, das beim Urheberrecht betroffen ist, nach dem schützter Werke für Unterricht und Forschung in eine Grundgesetz ebenso schützenswert wie materielles Ei- neu gefasste, dauerhafte Urheberrechtsschranke über- gentum. führen. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Zum Hintergrund: § 52 a des Urheberrechtsgesetzes es aufseiten der Rechteinhaber auch einige Vertreter (UrhG) ist durch das erste Gesetz zur Regelung des Ur- gibt, die unter dem Stichwort Schutz des Eigentums teils heberrechts in der Informationsgesellschaft vom illusorische Preisvorstellungen durchsetzen wollen. Ein 10. September 2003 in das UrhG eingefügt worden. solches Verhalten bedauern wir natürlich, denn es scha- Diese Regelung erklärt es für zulässig, kleine Teile eines det dem deutschen Rechtsstaat und widerspricht auch in Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Bei- erheblichem Maße dem berechtigten Anliegen derjeni- träge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Ver- gen Verleger, die selbstverständlich dem Prinzip des ehr- anschaulichung im Unterricht an Schulen, Hochschulen baren Kaufmanns, das wir aus dem Handelsrecht kennen, und weiteren Einrichtungen einem eingegrenzten Kreis verpflichtet sind. Gerade für die deutsche Verlagsland- von Personen für Unterrichtszwecke oder für For- (B) (D) schaft als mittelständisch geprägtem Wirtschaftszweig gilt schungszwecke öffentlich zugänglich zu machen. Dies dies besonders. gilt nur, soweit dies zu dem jeweiligen Zweck geboten und zur Verfolgung nicht kommerzieller Zwecke ge- Dennoch haben die Urteile des Bundesgerichtshofs rechtfertigt ist. Bei Werken, die für den Unterrichtsge- aus dem vergangenen Jahr bestätigt, dass der § 52 a des brauch an Schulen bestimmt sind, ist dies nur mit Ein- Urheberrechtsgesetzes eine bewährte Regelung ist, die willigung des Berechtigten zulässig; auch Filmwerke daher im Grundsatz nicht überarbeitet werden muss. Aus dürfen vor Ablauf von zwei Jahren nach Beginn der übli- diesem Grund werden wir den Gesetzestext ohne Ände- chen regulären Auswertung in Filmtheatern nur mit Ein- rungen in die entfristete Regelung überführen. willigung des Berechtigten genutzt werden. Für diese Die Diskussion um die urheberrechtlichen Schranken Nutzung ist eine angemessene Vergütung zu zahlen. für Bildung und Wissenschaft wird mit der heutigen Per- Um den Befürchtungen der wissenschaftlichen Verle- petuierung der im § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ent- ger vor unzumutbaren Beeinträchtigungen durch die haltenen Regelung jedoch nicht beendet sein. Wir haben neue Regelung Rechnung zu tragen, wurde die Regelung uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, eine allgemeine durch § 137 k UrhG zunächst befristet. Nach insgesamt Bildungs- und Wissenschaftsschranke einzuführen, die drei Evaluierungen über die Auswirkungen der Norm in sowohl den Belangen der Forschung als auch den be- der Praxis soll § 52 a UrhG nun endgültig entfristet wer- rechtigten Belangen der Verlage gerecht wird. Die Ein- den, nachdem auch die Rechtsprechung im vergangenen führung dieser allgemeinen Schranke für das Urheber- Jahr endgültig entschieden hat, dass es sich hierbei um recht in Bildung und Wissenschaft wird eine umfassende eine für die Praxis handhabbare Regelung handelt, die rechtspolitische Diskussion und Bewertung erfordern, einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen um die bestehenden Schrankenregelungen sinnvoll zu- Rechteinhabern und nutzenden Institutionen ermöglicht. sammenzufassen. Eine neue einheitliche Bildungs- und In einem Verfahren ging es um Reichweite und Grenzen Wissenschaftsschranke darf dabei nicht den Inhalt der des Tatbestands sowie um die Frage der Zulässigkeit von derzeit geltenden Schranken ad absurdum führen. Sekundärnutzungen wie das Herunterladen, Abspeichern Vielmehr muss gewährleistet sein, dass auch in einer und Ausdrucken. Danach darf eine Universität oder eine zusammengefassten Schranke ein angemessener Interes- andere Forschungseinrichtung ihren Studierenden ein ur- senausgleich zwischen den Beteiligten – Verlage, Wis- heberrechtlich geschütztes Werk in Teilen nur dann elek- senschaftsinstitutionen und ihre Nutzer – gegeben ist. tronisch zugänglich machen, wenn diese Teile nicht Die zukünftige Regelung einer einheitlichen Bildungs- mehr als 12 Prozent oder 100 Seiten in der Summe aus- und Wissenschaftsschranke muss sich in die bestehende machen. In dem anderen Verfahren ging es im Kern um 5958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) die Klärung der Frage der nach § 52 a UrhG angemesse- werden kann. In den beiden vergangenen großen Urhe- (C) nen Vergütung für Nutzungen an Hochschulen. Hier hat berrechtsreformen hat der Gesetzgeber bereits umfas- der BGH festgestellt, dass diese Zugänglichmachung sende Privilegien für den Bereich Wissenschaft geschaf- nicht geboten ist, wenn der Rechteinhaber eine an- fen. Mit dem Anfang diesen Jahres vorgelegten gemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Das Gutachten von Frau Professor de la Durantaye, welches heißt, der BGH geht ganz klar davon aus, dass vertragli- vom BMBF in Auftrag gegeben worden ist, haben wir che Regelungen Vorrang vor der Anwendung der eine gute Grundlage für die kommenden Debatten. Ich Schranke haben. Die Rechtsprechung räumt also einem bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird ein zeitge- angemessenen Lizenzangebot eines Verlages den Vor- mäßes und nutzerfreundliches Urheberrecht zu schaffen rang ein. Den Urteilen lassen sich im Ergebnis keine und dabei die Interessen der Urheberinnen und Urheber Hinweise entnehmen, die eine Überarbeitung des Wort- zu wahren und im Interesse der Allgemeinheit die Nut- lauts der Regelung nahelegen. zung von urheberrechtlich geschützten Werken in be- stimmtem Umfang für Zwecke von Bildung und Wissen- Nach über zehn Jahren schaffen wir mit der Entfris- schaft zu ermöglichen. tung Rechtssicherheit für alle Beteiligten und geben jun- gen Menschen zeitgemäßen Zugang zu Bildung und Lehrmaterialien. Zugang ist dabei das Schlüsselwort. Christian Flisek (SPD): Wir haben es endlich ge- Denn Wissenschaft und Bildung leben neben dem Aus- schafft! Nach elf Jahren fortwährender Befristung verab- tausch von Informationen auch vom Zugang zu diesen. schieden wir heute ohne weitere Einschränkungen den Da ein Großteil der Informationen oftmals in Werken Gesetzentwurf zur Entfristung des § 52 a und überneh- eingebunden ist, die urheberrechtlich geschützt sind, bie- men diesen in den urheberrechtlichen Normenbestand. tet § 52 a UrhG hier die entsprechende Nutzungserlaub- Damit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte von Schu- nis und gleichzeitig eine vergütungspflichtige Schranke. len und Hochschulen eine zukünftig dauerhafte Rechts- Damit wahrt er die Interessen der Urheber und ermög- sicherheit bekommen, wenn sie ihren Schülerinnen und licht zum anderen einen einfachen Weg für Bildung und Schülern Lehrmaterial zur Verfügung stellen, das von ih- Wissenschaft. nen selbst digitalisiert wurde. Im Koalitionsvertrag haben wir darüber hinaus ver- Es freut mich daher außerordentlich, dass die bishe- einbart, dass wir den wichtigen Belangen von Wissen- rige Befristung zum Ende dieses Jahres hinfällig wird schaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und wir den § 52 a des Urheberrechtgesetzes in dieser und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einfüh- und der folgenden Dekade in diesem Parlament nicht ren. Die Entfristung ist da ein kleiner Schritt in die rich- mehr zu verhandeln haben. Zusammen mit den Kolle- tige Richtung. Die Perpetuierung der Regelung des § 52 a ginnen und Kollegen der Union haben wir uns darauf (B) (D) UrhG präjudiziert aber nicht gleichzeitig die Einführung verständigt, diesen Paragrafen im Urheberrechtsgesetz einer einheitlichen Bildungs- und Wissenschafts- in seinem Inhalt unangetastet und ohne weitere Befris- schranke. Klar ist aber auch, dass durch die Digitalisie- tung zu übernehmen. rung die Zahl der Ausgleichsschranken an verschiedenen Auch mit so scheinbar kleinen Gesetzesänderungen Stellen im Urheberrechtsgesetz gestiegen ist, welche kann man manchmal Weitreichendes bewirken. Wie be- zum Teil unübersichtlich, wenig transparent und teil- reits angedeutet, ist dieser Paragraf außerordentlich rele- weise technisch überholt sind. Dieser Flickenteppich an vant, wenn es um einen angemessenen und zeitgemäßen Regelungen kann so nicht bleiben. Wir wollen daher die Zugang junger Menschen zu Bildung und Lehrmateria- Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen lien geht. und die Schrankenregelungen im Bereich Bildung und Wissenschaft praktikabler und für alle Anwender ver- Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel dazu: Eine Lehr- ständlicher gestalten. kraft scannt entsprechende Seiten der Unterrichtsmateri- alien ein und stellt sie den Schülern und Studenten im In- Wir sollten uns aber bei allen Veränderungen und bei tranet der Schule oder der Universität zur Verfügung. allem Veränderungsbedarf im Urheberrecht immer be- Die Schüler und Studenten laden sich dann das Unter- wusst machen, dass Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt richtsmaterial einfach herunter. Exakt dieses erlaubt der des Urheberrechts Artikel 14 unseres Grundgesetzes ist. § 52 a des Urheberrechtsgesetzes. Artikel 14 garantiert und schützt das Eigentum, sei es materielles oder geistiges Eigentum. Beschränkungen Das hört sich wie ein alltägliches Beispiel an, und das dieses Eigentumsrechts, also auch die sogenannten ist es tatsächlich auch. Schranken des Urheberrechts, sind daher immer als Aus- Warum wurde der § 52 a nicht schon viel früher ent- nahme zu verstehen und lassen sich nur durch die Inte- fristet? Auch ich habe mich das gefragt. Die Träger von ressen des Allgemeinwohls begründen. Vor diesem Schulen und Hochschulen, also letztlich die Bundeslän- Hintergrund müssen wir gesetzliche Änderungen im Ur- der, erhalten mit dieser Entfristung Planungssicherheit, heberrecht immer betrachten, und vor diesem Hinter- um entsprechende Infrastrukturen für ihre Institutionen grund müssen sich auch diejenigen messen lassen, die aufzubauen, wo bisher Unsicherheit herrschte. eine Schrankenregelung für sich in Anspruch nehmen. Die umfassende Umgestaltung aller Schrankenregelun- Ich bin froh, dass sich meine in der letzten Debatte gen in diesem Bereich erfordert daher eine intensive formulierten Hoffnungen zu diesem Gesetzentwurf er- rechtspolitische Diskussion, die voraussichtlich nicht füllt haben: Ohne weitere Aufregung ging der vorlie- vor Ende der Befristung des § 52 a UrhG abgeschlossen gende Entwurf in die heutige Schlussabstimmung. Dafür Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5959

(A) danke ich ausdrücklich der Opposition. Dies ist ein gutes Wissen und Information in einer digitalen Welt stellt die (C) Zeichen für uns als Verantwortliche und für alle Bil- derzeitige Gesetzeslage eine unangemessene Beschrän- dungsträger, Lehrkräfte, Schüler und Studenten in unse- kung dar. Wissenschaftler, Lehrkräfte und Lernende sind rem Land. durch die Angst vor teuren Abmahnungen stark verunsi- chert und nutzen die Chancen der Digitalisierung für Die Entfristung steht aber auch für das, was meiner eine vernetzte und kollaborative Bildungslandschaft des- Fraktion in allen urheberrechtlich relevanten Fragen be- halb nur mit angezogener Handbremse. Für eine Moder- sonders wichtig ist. Es geht darum, die Rechte der kreati- nisierung des Urheberrechts ist die endgültige Entfris- ven Urheber und auch ihrer Verwerter in einem digitalen tung der Bildungs- und Wissenschaftsschranke daher nur Umfeld zu stärken. Es geht auch darum, die Rechte der ein erster Schritt. Nutzer auf eine legale Nutzung digitaler Inhalte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. In diesem Dreieck SPD und Union haben im Koalitionsvertrag verein- von Kreativen, Verwertern und Nutzern solch einen an- bart, dass das Urheberrecht an die Erfordernisse und He- gemessenen Ausgleich herzustellen, erfordert in vielen rausforderungen des digitalen Zeitalters angepasst wer- Detailfragen oft urheberrechtliches Fingerspitzengefühl, den muss. Dieses Vorhaben wurde mit der Digitalen sehr viel Arbeit und sehr oft auch Geduld. Alle, die sich Agenda der Bundesregierung nochmals bestätigt. Wir im parlamentarisch-politischen Umfeld mit Urheber- brauchen ein bildungs-, forschungs- und wissenschafts- recht beschäftigen, wissen das und können das sicherlich freundliches Urheberrecht. Hierzu zählt insbesondere bestätigen. die vereinbarte Einführung einer allgemeinen und zeit- gemäßen Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die den Stimmen Sie mit mir für ein fortschrittliches Urheber- wichtigen Belangen einer offenen und vernetzten Wis- recht, für die digitale Bildung unserer Kinder und für senschaft, Bildung und Forschung Rechnung trägt. Kei- diesen Gesetzentwurf! nesfalls dürfen die bestehenden Schranken für Bildung, Wissenschaft und Forschung in irgendeiner Form einge- Saskia Esken (SPD): Die bisherige Regelung des engt werden. § 52 a – also die Erlaubnis der elektronischen Nutzung kleiner Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes Eine Neuregelung des Urheberrechts muss endlich für Lehrveranstaltungen – war durch die Geschichte ei- ein zeitgemäßes Forschen, Lehren und Lernen ermögli- ner fortgesetzten Befristung eng verbunden mit der chen. Für die SPD ist daher ein weiterer Novellierungs- Angst vor der eigenen Courage. Dreimal wurde diese für korb für die Belange von Bildung, Wissenschaft und den Bildungs- und Wissenschaftsbereich so wichtige Er- Forschung unverzichtbar. laubnis wider besseres Wissen neu befristet, und nie gab (B) es wirkliche Klarheit, Rechts- und Planungssicherheit Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Wege im Laby- (D) für Schulen, Hochschulen und andere Lehreinrichtun- rinth des Urheberrechts sind unergründlich. Nehmen wir gen. an, Sie sind Astronaut und filmen sich in der Raumsta- tion beim Singen eines Liedes, das ein bekannter Mann Der Wegfall der Entfristung löst nun endlich diese geschrieben hat und dessen Rechte einer Plattenfirma Unsicherheit und auch die Investitionsblockade der gehören. Sie wollen das Video ins Internet stellen. Schulen und Hochschulen. Mit der Rechtssicherheit ent- Danach beginnt eine sehr komplizierte rechtsphilosophi- steht eine Planungssicherheit für Investitionen in die sche Debatte, in der sogar die Herkunft der Teile der technischen Infrastrukturen, die an den Einrichtungen Raumstation, ihre Flughöhe und die Länder, die sie über- für die Nutzung erforderlich sind. Bislang wurden diese fliegt, eine Rolle spielen. Investitionen, beispielsweise zur Erstellung eines Intra- net an Schulen und Hochschulen, wegen der Befristung Fast so kompliziert wie diese Debatte gestaltet es sich immer wieder verschoben oder in Gänze vermieden. für eine Hochschullehrerin hierzulande, einen Reader mit Unterrichtsmaterial über das Internet an die eigenen Die endgültige Entfristung des § 52 a ist daher ein Studierenden zu verteilen. kleiner, aber sehr wichtiger Schritt im Bereich des Urhe- berrechts. Sie schafft endlich Rechtssicherheit über die Laut § 52 a UrhG dürfen „kleine Teile eines Werkes, genehmigungsfreie Verwendung von durch das Urheber- Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus recht geschützten Objekten in Lehrveranstaltungen, und Zeitungen oder Zeitschriften“ aber auch nur „zur Veran- zwar für alle Beteiligten. Sowohl die Evaluation des Ge- schaulichung“ und auch nur einem „bestimmt abge- setzes und seiner Befristung durch das Bundesjustiz- grenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern“ zugänglich ministerium als auch die Überprüfung durch den Bun- gemacht werden. desgerichtshof sind übrigens zu derselben Auffassung gelangt. Zusätzlich muss laut Gesetz jedes Mal die Einwilli- gung des Berechtigten, also des Inhabers der Nutzungs- Ganz klar bekennt sich auch die SPD darüber hinaus rechte, Verlage, Medienunternehmen oder Sendeanstal- zu einer zeitgemäßen Weiterentwicklung des Urheber- ten, eingeholt und eine „angemessene Vergütung“ rechts. Mit der Entfristung des § 52 a sind bei weitem gezahlt werden. Mit diesem Gesetz fingen die Fragen nicht alle bildungs- und wissenschaftspolitischen Pro- erst an: Was sind kleine Teile, was Werke geringen bleme im Urheberrecht gelöst. Zahlreiche Formulierun- Umfangs, was ist ein begrenzter Kreis, wer ist der Be- gen des Gesetzes sind ungenau und auch für Experten oft rechtigte, was ist eine angemessene Vergütung? Diese strittig. Für einen offenen, freizügigen Umgang mit Fragen sind für unsere Hochschullehrerin nicht zu beant- 5960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) worten. Damit war diese Urheberrechtsschranke im durch die zunehmende Digitalisierung haben sich Nut- (C) Prinzip unbrauchbar. Es bedurfte einer Kette von Grund- zerverhalten, Verbreitung urheberrechtlich geschützter satzurteilen, bis die Umrisse des Regelungsgehaltes eini- Inhalte und viele Geschäftsmodelle komplett gewandelt. germaßen klar zu erkennen waren. Gerade der Zugang zur wichtigsten Ressource des 20. Jahrhunderts, Wissen, muss durch das Urheberrecht Zu dieser Klarheit gehört seit dem bisher letzten für das digitale Zeitalter geregelt werden. Urteil zur Sache auch, dass die kleinen Werkteile nur dann zugänglich gemacht werden dürfen, wenn die Aber Ihr jetzt vorgelegter Gesetzentwurf zur Ände- Verlage selbst kein entsprechendes elektronisches Ange- rung des Urheberrechtsgesetzes ist bei weitem kein bot vorhalten. Bevor unsere Hochschullehrerin also Glanzstück Ihrer Regierungsarbeit, denn er besteht lei- ihren Seminarreader aus dem zusammenstellt, was ihre der nur aus der Entfristung der Wissenschaftsschranke. Unibibliothek so bietet, muss sie nun die E-Book- und E-Learning-Angebote der Verlage durchforsten und, Dabei ist eine Entfristung ja durchaus richtig, aber falls sie fündig wird, die Lizenz zur Nutzung der benö- diese Detailregelung ist bei weitem nicht des Rätsels tigten Teile einkaufen. Lösung zur Modernisierung des Urheberrechts, und sie war darüber hinaus längst überfällig. Wir Grünen for- Der § 52 a ist in der Praxis deshalb keine Einschrän- dern sie schon lange, denn nur durch eine Entfristung der kung des Urheberrechtsschutzes zugunsten von Bildung Wissenschaftsschranke kann der wichtige Ausbau von und Wissenschaft, sondern eher ein Schrankennutzungs- netzgestützten Lehr- und Forschungsstrukturen in Schu- verhinderungsparagraf. Wenn dieser nun auf Dauer ge- len, Universitäten etc. sichergestellt werden. stellt werden soll, kann man das nicht als Fortschritt, sondern bestenfalls als Vermeidung von Rückschritt be- Bildung und Wissenschaft leben von einem freien zeichnen. Austausch von Informationen und von einem freien Zu- gang zu Informationen. Da viele Werke jedoch urheber- Wir werden deshalb seit Jahren nicht müde, zu wie- rechtlich geschützt sind, können sie nicht ohne Weiteres derholen: Wirklich helfen würde den Kitas, Schulen und im Bildungs- und Wissenschaftsbereich genutzt werden. Hochschulen, wenn die Koalition einen Blick in den ei- Deshalb ist eine diesbezügliche Erlaubnis in § 52 a des genen Vertrag würfe: „Wir werden den wichtigen Belan- Urheberrechtsgesetzes inhaltlich ebenfalls richtig. gen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung tragen und eine Bildungs- und Wissenschafts- An eine weitere kleine, aber sinnvolle Detailänderung schranke einführen.“ Ein unmissverständlicher Auftrag. haben Sie sich beim Thema Wissenschaftsschranke schon nicht mehr herangetraut. Aufgrund der sprachli- (B) Die Frage ist, wann diese allgemeinverständliche und chen Ungenauigkeiten und der Unstimmigkeiten bei der (D) hoffentlich praktikable Pauschalregelung denn nun end- Rechtsprechung gibt es immer wieder neuen Streit be- lich kommen soll. Im heute zu behandelnden Entwurf züglich des Umfangs der Wissenschaftsschranke. Um steht nämlich, dass die Entfristung des § 52 a nicht die diese Widersprüche und auslegungsfähigen Ungenauig- Einführung einer einheitlichen Bildungs- und Wissen- keiten zu beheben, hätte es nur einer kleinen Neuformu- schaftsschranke präjudiziere. Diese Debatte über eine lierung bedurft, wie „zur Veranschaulichung für alle Umgestaltung der Schrankenregelungen, so schreiben Zwecke des Unterrichts“ statt der derzeitigen „zur Ver- die Fraktionen von Union und SPD, erfordere eine inten- anschaulichung im Unterricht“. Denn für die Lehre ist es sive rechtspolitische Diskussion, die nicht in der Kürze immens wichtig, dass digitale Inhalte auch unterrichts- der Zeit zu führen sei. begleitend und zum Selbststudium vorgehalten werden Nur: Wenn Sie so lange für die Vorbereitung einer können. Bildungs- und Wissenschaftsschranke brauchen, wann Außer der Entfristung enthält Ihr Gesetz leider keine wollen Sie denn damit anfangen? Unsere Fraktion hat weiteren Neuausrichtungen. Das Urheberrecht zu novel- eine solche Regelung bereits in der letzten und in der lieren, ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Denn dem vorletzten Legislaturperiode eingefordert. Es liegen berechtigten Schutz der Rechte der Urheberinnen und – auch das muss für die Große Koalition offenbar mehr- Urheber stehen die Anforderungen an eine digitale Rea- fach gesagt werden – bereits konkrete Vorschläge für lität und neue Nutzungsgewohnheiten gegenüber. Diese eine solche Regelung vor – unter anderem einer von in Einklang zu bringen, ist eine große Herausforderung. Frau Professor Durantaye von der Humboldt-Universität Aber die Reform, die sowohl den Kreativen als auch den im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Nutzerinnen und Nutzern entgegenkommt, ist seit Jahren Forschung. überfällig. Es wird Zeit, dass sich die Anwältinnen und Anwälte Trotz zahlreicher Handlungsempfehlungen der En- für einen freieren Umgang mit Wissen in den Koalitions- quete-Kommission „Internet und Gesellschaft“ und Ih- fraktionen durchsetzen und wir hier im Bundestag end- ren jahrelangen Ankündigungen bezüglich eines dritten lich über fortschrittliche Regelungen auf der Grundlage Korbes zur Reform des Wissenschaftsbereichs legen Sie eines Regierungsentwurfes diskutieren können. mit den jetzigen Minimaländerungen noch immer keine konkreten und visionären Vorschläge vor. Und auch Ihre Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Re- Digitale Agenda bleibt an dieser Stelle alle Antworten formbedarf beim Urheberrecht besteht seit Jahren. Denn schuldig. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5961

(A) Anlage 12 Ein Auslieferungsverfahren wird nach den Regelun- (C) gen des IRG durch ein Fahndungsersuchen, ein Ersu- Zu Protokoll gegebene Reden chen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Auslieferungs- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu ersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte Person dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter vorzu- 2010 zum Europäischen Auslieferungsüberein- führen (§§ 21, 22 IRG). kommen vom 13. Dezember 1957 (Tagesord- Im Rahmen der Vernehmung ist die verfolgte Person nungspunkt 22) über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu belehren. Der Richter nimmt die Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Am 9. Oktober Erklärung der verfolgten Person zu Protokoll (§ 21 Ab- 2014 wurde ohne Debatte der Gesetzesentwurf zum satz 6, § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Dritten Zusatzprotokoll vom 20. November 2010 zum Nummer 40 Absatz 2 der Richtlinien über den Verkehr Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De- mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, zember 1957 in erster Lesung beraten. RiVASt). Zudem kann die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezialitätsschutz verzichtet (§ 41 Vorliegend geht es um die deutsche Umsetzung des Absatz 2 IRG). Die Einverständniserklärung kann auch Zusatzprotokolls. Das Europäische Auslieferungsüber- zu einem späteren Zeitpunkt im Auslieferungsverfahren einkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II zu Protokoll eines Richters abgegeben werden. Sie ist S. 1369, 1371) soll durch das Dritte Zusatzprotokoll nicht widerruflich (§ 41 Absatz 3 IRG). vom 10. November 2010 in bestimmten Punkten ergänzt werden, um das Auslieferungsverfahren zu vereinfachen Nach der Vernehmung übersendet die Generalstaats- und zu beschleunigen, wenn die verfolgte Person der anwaltschaft die Verfahrensakte an das Oberlandesge- Auslieferung zugestimmt und auf den Schutz des Spezi- richt, das über den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls alitätsgrundsatzes verzichtet hat. Durch das Dritte entscheidet, falls dieser noch nicht vorliegt (§ 17 Absatz 1 Zusatzprotokoll soll im Interesse der verfolgten Person IRG). Über die Zulässigkeit der Auslieferung kann die Dauer der Inhaftierung verkürzt und die Effizienz der anschließend die Generalstaatsanwaltschaft entschei- Strafjustiz in den Vertragsstaaten erhöht werden, so wird den, ohne das Oberlandesgericht damit zu befassen (§ 29 in dem Gesetzentwurf ausgeführt. Absatz 1 IRG). Im Folgenden werde ich einzelne Regelungen der Gemäß § 29 Absatz 2 IRG bleibt der Generalstaatsan- Umsetzung näher vorstellen. Diese sind von besonderer waltschaft bei komplexen Verfahrensgegenständen oder Relevanz, da sie das Auslieferungsverfahren genauer be- Zweifeln an der Wirksamkeit des Einverständnisses die (B) schreiben. Möglichkeit, die Entscheidung des Oberlandesgerichts (D) herbeizuführen und so das übliche Auslieferungsverfah- Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk beschreibt die Ver- ren anzuwenden. pflichtung zur Auslieferung im vereinfachten Verfahren. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, einander Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilli- die Personen, nach denen gemäß Artikel 1 des Überein- gen anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren kommens gesucht wird, in dem vereinfachten Verfahren, materiellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den wie es in diesem Protokoll vorgesehen ist, auszuliefern, §§ 1 bis 9, 10 Absatz 2, § 73 IRG aufgezählt sind, sind in sofern diese Personen und die ersuchte Vertragspartei jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis hierzu ihre Zustimmung gegeben haben. mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor- derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie- Von dieser Verpflichtung gibt es eine Ausnahme. ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest Nach Artikel 6 Absatz 2 des 3. ZP-EuAlÜbk kann der ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG ersuchte Staat in Ausnahmefällen entscheiden, das nor- muss jedoch vorliegen. male Verfahren nach dem EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies dem ersuchenden Staat so Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög- rechtzeitig mitzuteilen, dass dieser die Frist zur Vorlage lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes eines Auslieferungsersuchens einhalten kann. Die der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Verpflichtung geht damit nicht über die Regelung des Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver- deutschen Rechtes hinaus. § 29 IRG sieht vor, dass die folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu- Generalstaatsanwaltschaft die Akte trotz des Einver- chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt ständnisses der verfolgten Person dem Oberlandes- gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie- gericht zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Aus- fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er- lieferung vorlegen kann. suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten In Artikel 2 des 3. ZP-EuAlÜbk wird sodann das verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden Verfahren geregelt, dann in den folgenden Artikeln die Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen Unterrichtung der betroffenen Person, die Zustimmung Verfahren auf einmal erledigt werden. zur Auslieferung und der Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität. Das Verfahren der vereinfachten Ausliefe- Der ersuchte Staat ist auch nach Abgabe einer rung nach den Artikeln 2, 3 und 4 des 3. ZP-EuAlÜbk Zustimmungserklärung der verfolgten Person nicht ver- entspricht dem des § 41 IRG: pflichtet, ein vereinfachtes Verfahren durchzuführen, 5962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) sondern kann am normalen Auslieferungsverfahren fest- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit dem Gesetzent- (C) halten. wurf zum Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 vom 13. Dezember 1957, 3. ZP-EuAlÜbk, geht es um und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und die deutsche Umsetzung des Zusatzprotokolls mit dem Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind Ziel, das EuAlÜbk in bestimmten Punkten zu verbessern keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, und zu ergänzen. Am 9. Oktober 2014 wurde der Gesetz- gebunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet entwurf bereits ohne Debatte in erster Lesung beraten. werden, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung Zum Hintergrund: Das vereinfachte Auslieferungs- erheblich verkürzt wird. verfahren nach deutschem Recht ist in § 41 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG, Der Anwendungsbereich des 3. ZP-EuAlÜbk er- normiert. Im Jahr 2009 hat in Deutschland mehr als die streckt sich auf Fälle, in denen die verfolgte Person ihre Hälfte der verfolgten Personen ihrer vereinfachten Aus- Zustimmung bis zum Eingang der Unterlagen im Sinne lieferung zugestimmt. Auch die Regelungen zum Euro- von Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk erteilt hat. Anschlie- päischen Haftbefehl sehen die Möglichkeit eines verein- ßend ist es entsprechend bis zur Übergabe der verfolgten fachten Verfahrens vor. In diesen Verfahren verkürzte Person anwendbar. Artikel 12 des 3. ZP-EuAlÜbk for- sich im Jahr 2012 die durchschnittliche Zeitspanne zwi- dert als formale Voraussetzung einer Auslieferung die schen Festnahme und Auslieferungsentscheidung von Vorlage eines Auslieferungsersuchens, dem eine Reihe durchschnittlich 38,4 Tagen im Normalfall auf 15,2 Tage von Unterlagen beizufügen sind. bei Zustimmung der verfolgten Person. Der Europarat hat mit dem 3. ZP-EuAlÜbk das Mutterübereinkommen Das 3. ZP-EuAlÜbk sieht eine Möglichkeit zur Ver- (BGBl. 1964 II S. 1369, 1371) ergänzt, um das Ausliefe- einfachung des Auslieferungsverfahrens durch Verzicht rungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, auf Vorlage des Ersuchens nach Artikel 12 des 3. ZP- wenn die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt EuAlÜbk vor, wenn die verfolgte Person der Ausliefe- und auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzich- rung zustimmt. Für diesen Fall sind in Artikel 3 und 4 tet hat. Es dient damit einerseits den Interessen der ver- des 3. ZP-EuAlÜbk besondere Regelungen zum Schutz folgten Person, indem es die Dauer des Freiheitsentzuges der verfolgten Person aufgenommen worden. Diese be- im Ergreifungsstaat reduziert und eine zeitnahe Verteidi- sonderen Regelungen sind erstens eine umfassende Be- gung im Staat, der um Auslieferung ersucht hat, ermög- lehrung, zweitens eine Protokollierung der Erklärungen licht. Andererseits wird damit die Effizienz der Strafjus- der verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten tiz in den beteiligten Staaten erhöht. Deutschland hat (B) Vertragspartei, drittens die Möglichkeit der Beiziehung sich während der Verhandlungen zum 3. ZP-EuAlÜbk (D) eines Rechtsbeistandes und letztens die Hinzuziehung für eine die Grundrechte schonende Gestaltung des Aus- eines Dolmetschers. lieferungsverfahrens eingesetzt. Der Gesetzentwurf steht darüber hinaus im Einklang mit den Leitgedanken der Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des 3. ZP- Bundesregierung zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne EuAlÜbk weiterhin dadurch geschützt, dass die Einwil- der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, weil die Krimi- ligung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen nalitätsbekämpfung und die grenzüberschreitende Zu- Tragweite zu erfolgen hat. sammenarbeit der Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Kri- minalitätsbekämpfung verbessert werden. Das EuAlÜbk Letztlich folgen noch allgemeine Ausführungen zur und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind allerdings im Geltung des Zusatzprotokolls wie Geltungsdauer, Kün- Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union digung und Notifikation. nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro- päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Ziel des 3. ZP-EuAlÜbk ist es, das EuAlÜbk in be- stimmten Punkten zu verbessern und zu ergänzen. Das Folgend möchte ich Neuerungen durch das Überein- EuAlÜbk und damit auch das 3. ZP-EuAlÜbk sind im kommen vorstellen, welches das Auslieferungsverfahren Verhältnis zu Mitgliedstaaten der Europäischen Union näher beschreibt: nicht anwendbar. Hier haben die Regelungen zum Euro- Artikel 1 des 3. ZP-EuAlÜbk verpflichtet den er- päischen Haftbefehl Vorrang (§ 78 IRG). Das 3. ZP- suchten Staat zur Durchführung des vereinfachten Aus- EuAlÜbk greift nur im Verhältnis zu Staaten, die das lieferungsverfahrens, wenn die verfolgte Person damit EuAlÜbk und das 3. ZP-EuAlÜbk ratifiziert haben einverstanden ist. Von dieser Verpflichtung gibt es aller- (Artikel 12 Absatz 2, Artikel 14 Absatz 1 des 3. ZP- dings eine Ausnahme. Nach Artikel 6 Absatz 2 des EuAlÜbk). 3. ZP-EuAlÜbk kann der ersuchte Staat in Ausnahme- fällen entscheiden, das normale Verfahren nach dem Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir das EuAlÜbk anzuwenden. Er ist lediglich verpflichtet, dies Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Euro- dem ersuchenden Staat so rechtzeitig mitzuteilen, dass päischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. De- dieser die Frist zur Vorlage eines Auslieferungsersu- zember 1957 effektiv in das nationale Recht um. Dabei chens einhalten kann. wird ein guter Ausgleich zwischen den europäischen Verpflichtungen einerseits und nationalen Anforderun- Artikel 2 ff. des 3. ZP-EuAlÜbk legen das Grundprin- gen des Strafverfahrensrechts andererseits geschaffen. zip des vereinfachten Verfahrens, die Unterrichtung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5963

(A) betroffenen Person, die Zustimmung zur Auslieferung suchte Staat auch nach Abgabe einer Zustimmungserklä- (C) und den Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität fest. rung der verfolgten Person nicht verpflichtet, ein verein- Das Verfahren der vereinfachten Auslieferung entspricht fachtes Verfahren durchzuführen, sondern er kann am dem des § 41 IRG: Ein Auslieferungsverfahren wird normalen Auslieferungsverfahren festhalten. nach den Regelungen des IRG durch ein Fahndungsersu- chen, ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme oder ein Zur weiteren Beschleunigung sehen die Artikel 6, 7 Auslieferungsersuchen vorbereitet. Wird die verfolgte und 9 des 3. ZP-EuAlÜbk Fristen für Mitteilungen und Person aufgegriffen, ist sie unverzüglich einem Richter Entscheidungen vor. An deren Nichteinhaltung sind vorzuführen (§§ 21, 22 IRG). Im Rahmen der Verneh- keine Rechtsfolgen, insbesondere keine Sanktionen, ge- mung ist die verfolgte Person über die Möglichkeit der bunden. Durch die Fristsetzung soll gewährleistet wer- vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen zu den, dass die übliche mehrmonatige Verfahrensdauer bei belehren. Der Richter nimmt die Erklärung der verfolg- Zustimmung der verfolgten Person zur Auslieferung er- ten Person zu Protokoll (§ 21 Absatz 6, § 22 Absatz 3, § heblich verkürzt wird. 28 Absatz 2, § 41 Absatz 4 IRG, Nummer 40 Absatz 2 Im Ergebnis lässt sich durch das vereinfachte Verfah- der Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in ren der Auslieferungsverkehr im Kreis der Staaten des strafrechtlichen Angelegenheiten, RiVASt). Zudem kann Europarats insgesamt effektiver gestalten und beschleu- die verfolgte Person entscheiden, ob sie auf den Spezia- nigen. Es wird kein neues Verfahren eingeführt, sondern litätsschutz verzichtet (§ 41 Absatz 2 IRG). Die Einver- das 3. ZP-EuAlÜbk führt dazu, dass die übrigen Ver- ständniserklärung kann auch zu einem späteren Zeit- tragsstaaten bei Auslieferungen nach Deutschland das punkt im Auslieferungsverfahren zu Protokoll eines vereinfachte Verfahren anwenden können. Ich bin zuver- Richters abgegeben werden. Sie ist nicht widerruflich (§ sichtlich, dass wir dadurch die grenzüberschreitende Zu- 41 Absatz 3 IRG). Nach der Vernehmung übersendet die sammenarbeit zur Kriminalitätsbekämpfung verbessern Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensakte an das können. Oberlandesgericht, das über den Erlass eines Ausliefe- rungshaftbefehls entscheidet, falls dieser noch nicht vor- Dirk Wiese (SPD): Die Hindernisse für die Strafver- liegt (§17 Absatz 1 IRG). Über die Zulässigkeit der folgung und -vollstreckung durch Staatsgrenzen haben Auslieferung kann anschließend die Generalstaatsan- in den letzten Jahren durch verschiedene Abkommen waltschaft entscheiden, ohne das Oberlandesgericht da- deutlich abgenommen. Meilensteine auf dem Weg zu ei- mit zu befassen (§ 29 Absatz 1 IRG). Gemäß § 29 Ab- ner besseren Zusammenarbeit sind das Europäische Aus- satz 2 IRG bleibt der Generalstaatsanwaltschaft bei lieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das komplexen Verfahrensgegenständen oder Zweifeln an mehrmals durch Zusatzprotokolle ergänzt wurde, und der Wirksamkeit des Einverständnisses die Möglichkeit, (B) der europäische Haftbefehl. Gleichwohl besteht immer (D) die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen noch Optimierungsbedarf, und so liegt uns heute ein Ge- und so das übliche Auslieferungsverfahren anzuwenden. setzesentwurf vor, mit dem die Ratifikation des Dritten Die gemäß § 74 IRG zuständigen Behörden bewilligen Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsüber- anschließend die Auslieferung. Die unverzichtbaren ma- einkommen vom 13. Dezember 1957 nach Artikel 59 teriellen Auslieferungsvoraussetzungen, die in den §§ 1 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes vorbereitet werden bis 9, 10 Absatz 2 und § 73 IRG aufgezählt sind, sind in soll. Das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November jedem Fall einzuhalten. Wird jedoch ein Einverständnis 2010 ergänzt hierbei das Mutterübereinkommen sowie mit der Auslieferung erteilt, so ist es nicht mehr erfor- die beiden Zusatzprotokolle vom 15. Oktober 1975 bzw. derlich, dass der ersuchende Staat ein förmliches Auslie- vom 17. März 1978. ferungsersuchen nach § 12 IRG übersendet; zumindest ein Ersuchen um vorläufige Inhaftnahme nach § 16 IRG Ziel des Dritten Zusatzprotokolls ist vor allem die muss jedoch vorliegen. Vereinfachung und Beschleunigung der Auslieferungs- verfahren. Es profitieren davon sowohl der Beschuldigte Die verfolgte Person wird gemäß Artikel 4 des als auch der Staat, in dem die Person ergriffen wurde: So 3. ZP-EuAlÜbk dadurch geschützt, dass die Einwilli- wird einerseits das Freiheitsinteresse der verfolgten Per- gung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtlichen son gewürdigt, indem die Dauer des Freiheitsentzuges Tragweite zu erfolgen hat. im Ergreifungsstaat deutlich reduziert und eine zeitnahe Verteidigung in dem Staat, der um Auslieferung ersucht Artikel 5 des 3. ZP-EuAlÜbk sieht ferner die Mög- hat, ermöglicht wird. Andererseits wird damit die Effi- lichkeit des Verzichts auf den Schutz des Grundsatzes zienz der Strafjustiz in den beteiligten Staaten erhöht. der Spezialität vor. Nach diesem Grundsatz darf eine Besonders betonen möchte ich an dieser Stelle, dass Person nach der Auslieferung nur wegen der Taten ver- Deutschland sich während der Verhandlungen zum Drit- folgt werden, die Gegenstand des Auslieferungsersu- ten Zusatzprotokoll für eine die Grundrechte schonende chens waren. Die Verfolgung wegen weiterer Taten setzt und wahrende Gestaltung des Auslieferungsverfahrens gemäß Artikel 14 EuAlÜbk eine Zustimmung des auslie- eingesetzt hat. fernden Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den er- suchenden Staat voraus. Verzichtet die verfolgte Person Voraussetzung für die Vereinfachung und Beschleuni- auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer Taten gung der Auslieferungsverfahren ist allerdings, dass die verfolgt werden und damit die Verfahren im ersuchenden verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und auf Staat beschleunigen und erreichen, dass alle anhängigen den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat. Verfahren auf einmal erledigt werden. Dabei ist der er- Nach diesem Grundsatz darf eine Person nach der Aus- 5964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) lieferung nur wegen der Taten verfolgt werden, die Ge- Aus Sicht der Linken ist das Dritte Zusatzprotokoll (C) genstand des Auslieferungsersuchens waren. Um Miss- aus verschiedenen Gründen problematisch. brauch zu verhindern, bieten Artikel 3 und 4 des Dritten Zusatzprotokolls der verfolgten Person in diesen Fällen Es kann zwar ausnahmsweise auch im Interesse des besondere Regelungen zum Schutz an. So muss die Ein- Beschuldigten liegen, nach seiner Festnahme kein länge- willigung freiwillig, bewusst und im Wissen der rechtli- res Auslieferungsverfahren abzuwarten und alsbald in chen Tragweite erfolgen; ferner wird die Erklärung der den die Auslieferung ersuchenden Staat zu gelangen, al- verfolgten Person nach dem Recht der ersuchten Ver- lerdings überwiegen regelmäßig die Nachteile eines ver- tragspartei protokolliert, die Person wird umfassend einfachten Verfahrens. Eine Auslieferung ist immer ein aufgeklärt und vor allem auf die Möglichkeit der Beizie- schwerer Eingriff in Rechte von Beschuldigten und kann hung eines Rechtsbeistandes und/oder eines Dolmet- mit Artikel 16 Absatz 2 GG in Konflikt geraten, der ein schers hingewiesen. grundsätzliches Auslieferungsverbot eigener Staatsbür- ger und Staatsbürgerinnen enthält und nur wenige Aus- Anzumerken ist, dass die strafrechtliche Verfolgung nahmefälle zulässt. Eine Auslieferung soll nun aber ohne wegen weiterer Taten eine Zustimmung des ausliefern- die Vorlage eines Auslieferungsersuchens und der Unter- den Staates oder eine freiwillige Rückkehr in den ersu- lagen nach Artikel 12 des Protokolls möglich sein (Arti- chenden Staat voraussetzt. Verzichtet die verfolgte Per- kel 2 Drittes Zusatzprotokoll). Konkret heißt das, dass son auf diesen Schutz, kann sie auch wegen anderer unter anderem statt der Urschrift oder beglaubigten Ab- Taten verfolgt werden und damit die Verfahren im ersu- schrift eines vollstreckbaren Haftbefehls (Artikel 12, 2. a chenden Staat beschleunigen und erreichen, dass alle an- des Übereinkommens) das Bestehen eines solchen aus- hängigen Verfahren auf einmal erledigt werden. Sie reicht (Artikel 2 Absatz 1 c des Zusatzprotokolls). Statt sehen, wie effektiv die Möglichkeit der Verfahrensbe- der genauen Darstellung der vorgeworfenen Hand- schleunigung hier ist. lungen, inklusive Zeit und Ort ihrer Begehung, ihrer rechtlichen Würdigung unter Bezugnahme auf die an- Zu beachten ist außerdem, dass das Europäische Aus- wendbaren Gesetzesbestimmungen sowie deren Mit- lieferungsabkommen und damit auch das Dritte Zusatz- übersendung (Artikel 12, 2. b, c des Übereinkommens) protokoll im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU soll nun allgemein die Art und die rechtliche Würdigung nicht anwendbar sind. Hier haben gemäß § 78 IRG die der Straftat ausreichen (Artikel 2 Absatz 1 d des Zusatz- Regelungen zum Europäischen Haftbefehl Vorrang. protokolls). Hier wird der Grundsatz verletzt, dass Men- Ferner greift das Zusatzprotokoll nur gegenüber Staaten, schen wissen müssen, weshalb der Staat wie in Bezug die sowohl Auslieferungsübereinkommen als auch das auf ihre Person handelt – auch um sich gegebenenfalls Zusatzprotokoll ratifiziert haben. Einer weiteren gesetz- verteidigen zu können. (B) lichen innerstaatlichen Ausführungsbestimmung bedarf (D) es in Deutschland übrigens nicht. Eine Regelung der ver- Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausliefe- einfachten Auslieferung im Falle des Einverständnisses rungsverpflichtung Deutschlands kann so nicht gründ- der verfolgten Person enthält bereits § 41 IRG. lich und umfassend geprüft werden. Gerade die Angabe der gesetzlichen Bestimmungen sind für die hiesige Prü- Die Ratifizierung des Dritten Zusatzprotokolls wird fung wichtig, aber auch eine genaueste Tatbeschreibung die internationale Strafvollstreckung und -verfolgung sowie die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Haftbe- weiter optimieren, und zwar sowohl im Sinne der ver- fehl. Das Protokoll geht implizit davon aus, dass in allen folgten Personen als auch der beteiligten Staaten, in de- Unterzeichnerstaaten (Staaten des Europarats) ähnliche nen die Effizienz der Strafjustiz deutlich erhöht wird. Standards im Strafverfahren herrschen; davon kann aber Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu dem heute selbst innerhalb der EU noch nicht gesprochen werden vorliegenden Gesetzentwurf, um die Ratifizierung des und schon gar nicht im Rahmen der Europaratsstaaten. Abkommens möglichst schnell auf den Weg zu bringen. Eine Auslieferung wäre so innerhalb weniger Wochen möglich. In dieser kurzen Zeit und mit den niedrigen Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir reden heute Informations- und Übermittlungsanforderungen an den über das Gesetz zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom die Auslieferung ersuchenden Staat ist ein gleicher- 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungs- maßen gründliches und rechtsstaatliches Verfahren im übereinkommen vom 13. Dezember 1957. sensiblen Bereich des Strafrechts nicht zu gewährleisten. Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab. Dieses Auslieferungsübereinkommen ist durch das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 in be- Nun könnten Sie sagen: Die Einwände sind gut und stimmten Punkten ergänzt worden, um das Auslieferungs- schön, aber sie laufen ins Leere, denn der Beschuldigte verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn muss ja zustimmen. Doch die Zustimmung zu diesem die verfolgte Person der Auslieferung zugestimmt und vereinfachten Verfahren durch den Beschuldigten ändert auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet nichts an unserer Kritik. Er soll sich innerhalb von zehn hat. So soll die Inhaftierungsdauer im ausliefernden Tagen entscheiden (Artikel 6 Absatz 1 des Zusatzproto- Staat verkürzt werden, und es sollen Verwaltungs- und kolls), was schon einen gewissen Druck entfacht. Diese Haftkosten gespart werden. Durch den vorliegenden Ge- Zeit reicht häufig nicht aus, alle notwendigen Informa- setzentwurf der Bundesregierung sollen die Vorausset- tionen für eine freiwillige Entscheidung zu erhalten und zungen nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Rati- zu prüfen. Zwar sollen die Staaten sicherstellen, dass die fikation des Übereinkommens geschaffen werden. Zustimmung und der Verzicht auf den Spezialitätsgrund- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5965

(A) satz freiwillig erfolgen und ein Rechtsbeistand beigezo- ler erscheint mir, ein Gericht übernähme diese Beleh- (C) gen werden kann, bei Bedarf soll auch ein Dolmetscher rung. hinzugezogen werden müssen, aber in der Praxis sieht es dann doch häufig anders aus. Denn der bzw. die Betref- Im Zusatzprotokoll in Artikel 4 Absatz 1 steht, dass fende befindet sich in einer Druck- und eventuell Zustimmung und/oder Verzicht von der „zuständigen Schocksituation nach der Festnahme. In einer solchen Justizbehörde“ der ersuchten Vertragspartei entgegenzu- Situation sind unüberlegte oder eben nicht ganz freiwil- nehmen sind. Die Zuständigkeit richtet sich nach den na- lige Entscheidungen nicht selten. Die Folgen der Auslie- tionalen Rechtsvorschriften der jeweiligen Vertragspar- ferung werden häufig nicht überblickt. Ein Rechtsbei- teien. Nach deutschem Recht ist das Gericht für die stand oder Dolmetscher wird in dieser Situation nicht Entgegennahme der Erklärung zuständig (§ 21 Absatz 6, immer vom Beschuldigten eingefordert. Und ob ein Be- § 22 Absatz 3, § 28 Absatz 3, § 41 Absatz 4 IRG). darf für einen Dolmetscher besteht, liegt letztlich im Er- Aber wie sieht es in anderen Ländern aus? Diese messen der Behörde, die im Zweifel – vor allem, wenn Frage habe ich am Mittwoch auch im Rechtsausschuss nicht unmittelbar einer zur Verfügung steht – eher davon gestellt, wo uns das Gesetz zur Behandlung vorlag. Da- ausgehen wird, dass ein solcher nicht erforderlich ist. bei antwortete die Bundesregierung, dass die „zustän- Um einen Anwalt seines Vertrauens um Rat zu ersuchen dige Behörde“ wohl in der Regel auch in anderen Län- – in einem dem Beschuldigten eventuell fremdem Staat – dern ein Gericht sein wird. und die Entscheidung mit allen Vor- und vor allem Nachteilen in Ruhe abzuwägen, bedarf es wesentlich Dem Punkt sollte man aber nochmals genauer nach- mehr als zehn Tage. Das Zustimmungserfordernis kann gehen. die Bedenken im Hinblick auf ein gründliches und faires Eindeutiger wäre wohl gewesen, man hätte im Dritten Verfahren daher nicht ausräumen. Zusatzprotokoll festgelegt, dass in jedem mitzeichnen- den Staat grundsätzlich das Gericht für Anhörung, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Belehrung und Entgegennahme der Zustimmung zum NEN): Stellen Sie sich vor, Sie wurden in, sagen wir Al- vereinfachten Verfahren und/oder des Verzicht des Spe- banien aufgrund eines internationalen Haftbefehls fest- zialitätsgrundsatzes zuständig sein soll. So gäbe es genommen. In Deutschland werden Ihnen verschiedene hierzu keine Unklarheit. Taten zur Last gelegt, deshalb verlangt Deutschland Ihre Die Möglichkeit des vereinfachten Auslieferungsver- Auslieferung. Bis das Verfahren geklärt ist, sitzen Sie in fahrens an sich ist nichts Neues und bereits in § 41 IRG Albanien in Untersuchungshaft. Sicher nicht das Ange- geregelt. Für Deutschland muss aufgrund des Dritten nehmste. Zusatzprotokolls – so geht es auch aus der Denkschrift (B) Durch das Dritte Zusatzprotokoll, 3. ZP, vom 10. No- der Bundesregierung zum Gesetzentwurf hervor – ein (D) vember 2010 zum Europäischen Übereinkommen vom neues Verfahren nicht eingeführt werden. Die Ratifika- 13. Dezember 1957 soll das Auslieferungsverfahren ver- tion führt hier „nur“ dazu, dass die übrigen Vertragsstaa- einfacht und beschleunigt werden. Um bei meinem Bei- ten bei Auslieferungen nach Deutschland das verein- spiel zu bleiben: Ihre Inhaftierungszeit in dem Staat, in fachte Verfahren anwenden können. dem Sie festgenommen wurden, also Albanien, würde Insofern haben wir dem Gesetzentwurf auch schon im verkürzt und Sie könnten wesentlich schneller in den Rechtsausschuss unsere Zustimmung geben können. Zu Staat, der um Auslieferung ersucht – also nach Deutsch- dem genannten Problempunkt – Zuständigkeit der Ge- land – gelangen und sich dort um Ihre Verteidigung richte für die Entgegennahme der Zustimmung zum ver- kümmern. Reguläre Auslieferungsverfahren hingegen einfachten Verfahren oder des Verzichts auf den Grund- können sich mehrere Monate hinziehen; insofern ist die satz der Spezialität, auch in anderen Ländern – werde ich Möglichkeit eines verkürzten Verfahrens durchaus posi- mich eingehender informieren. tiv zu bewerten. Allerdings ist dies an einige Voraussetzungen gebun- den: Zunächst müssen Sie als Verfolgter dem vereinfach- Anlage 13 ten Verfahren zustimmen; das steht in Artikel 4. Außer- Zu Protokoll gegebene Reden dem können Sie auch noch auf den Grundsatz der Spezialität verzichten. zur Beratung: Damit Sie die Auswirkungen dieser Entscheidung – Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung besser einschätzen können und sichergestellt ist, dass Sie des Haager Übereinkommens vom 30. Juni die Entscheidung völlig freiwillig treffen, ist vorgese- 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen hen, dass Sie umfassend belehrt werden und Anspruch auf einen Rechtsbeistand sowie Dolmetscher haben. – Beschlussempfehlung und Bericht: Kurzzei- tig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Das klingt alles ganz wunderbar. Trotzdem möchte Arbeitslosenversicherung ermöglichen ich an diesem Punkt auf ein paar Probleme hinweisen: Kann das denn so tatsächlich gewährleistet werden? Rei- (Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b) chen Rechtsbeistand und Dolmetscher dafür aus? Wer garantiert, dass der Rechtsbeistand, der möglicherweise Sebastian Steineke (CDU/CSU): Bereits im Jahr gestellt wird, völlig neutral in dieser Frage ist? Sinnvol- 2009 hat die Europäische Union das Haager Überein- 5966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) kommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- stellung ein, um die gebotene Gleichstellung mit der Be- (C) barungen gezeichnet. Die Ratifizierung und die damit stellung eines Betreuers im Hauptsacheverfahren herzu- einhergehende Verbindlichkeit für die EU-Mitgliedstaa- stellen. Bei einer Dauerbetreuung fallen Gerichtskosten ten werden zeitnah erfolgen. Das heute vorliegende Ge- in Form einer Jahresgebühr an, deren Höhe sich nach setz dient der Durchführung des Übereinkommens in un- dem Vermögen des Betreuten richtet. Ob diese Gebühr ser nationales Recht. auch bei der Bestellung eines vorläufigen Betreuers im Rahmen einer einstweiligen Anordnung fällig ist, bleibt Das Haager Übereinkommen regelt im Wesentlichen in der gerichtlichen Praxis umstritten. Auf die Bestel- die internationale Zuständigkeit für Streitsachen mit aus- lung eines vorläufigen Betreuers kann prinzipiell eine schließlicher Gerichtsstandsvereinbarung sowie die An- Entscheidung in der Hauptsache fallen, mit der die vor- erkennung und Vollstreckung der betroffenen Gerichts- läufig angeordnete Betreuung in eine endgültige überge- entscheidungen. Um die Änderungen so sinnvoll wie leitet oder aufgehoben wird, weil sich herausgestellt hat, möglich in unsere bislang vorhandenen Vorschriften ein- dass sie zu Unrecht angeordnet wurde. In der Praxis zubetten, haben wir auf ein eigenständiges Gesetz ver- kommt es häufig aber nicht zu dieser Hauptsacheent- zichtet. Folgerichtig werden die Neuregelungen daher scheidung, zum Beispiel wenn der Betreute stirbt. Der weitgehend in das Anerkennungs- und Vollstreckungs- Betreute wird hierbei kostenrechtlich oft schlechter ge- ausführungsgesetz aufgenommen. stellt als ein Betroffener, für den ein Betreuer im Haupt- Ziel des Übereinkommens ist die Harmonisierung sacheverfahren bestellt und von dem die Jahresgebühr und Vereinfachung der Gerichtszuständigkeitsregelun- und nicht die übliche Wertgebühr erhoben wird. Die Än- gen bei grenzüberschreitenden Rechtssachen. Ausge- derungen sollen die Bestellung des vorläufigen Betreu- nommen sind Verbraucher- und Arbeitsverträge und Ver- ers gerichtskostenrechtlich der Bestellung eines Betreu- sicherungssachen. Besonders unsere mittelständischen ers im Hauptsacheverfahren gleichstellen. Unternehmen werden davon profitieren. Als Wirtschaft Die Neuregelung des Rechtspflegergesetzes erfolgt im einer Exportnation kann unsere Wirtschaft in überdurch- Rahmen einer notwendigen Korrektur der Verordnungs- schnittlich vielen Fällen regelmäßig mit grenzüber- ermächtigung für die Länder hinsichtlich der Übertragung schreitenden Streitfällen in Berührung kommen. Daher von Geschäften der Verfahrenskostenhilfe auf den ist eine Vereinheitlichung des Rechts der Gerichtsstands- Rechtspfleger. Die bisherige Vorschrift überträgt dem vereinbarungen und die Anerkennung und Vollstreckung Rechtspfleger die Verfahrenskostenhilfe, die den ihm von Gerichtsentscheidungen im Ausland insbesondere übertragenen Aufgaben in Verfahren über die Prozess- aus Sicht der deutschen Unternehmen zwingend gebo- kostenhilfe entsprechen, zum Beispiel die Ermittlungen ten. zu persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des (B) Dem Übereinkommen kommt zudem eine weitere er- Antragstellers, wenn der Vorsitzende dies dem Rechts- (D) hebliche praktische Bedeutung zu. So kann nach Ratifi- pfleger überträgt. Das Rechtspflegergesetz enthält für zierung durch die USA die Zuständigkeit amerikanischer die Prozesskostenhilfe eine Verordnungsermächtigung Gerichte per Vereinbarung ausgeschlossen werden. Dies für die Landesregierungen, die Prüfung der persönlichen ist im Hinblick auf die bisweilen außergewöhnliche und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers vom amerikanische Schadensersatzrechtsprechung aus Sicht Rechtspfleger vornehmen zu lassen, wenn der Vorsit- der Wirtschaft ein wichtiger Aspekt. zende das Verfahren dem Rechtspfleger überträgt. Das Gesetz enthält die Möglichkeit, diese Ermächtigung auf Zum Inhalt: Zunächst liegt die Zuständigkeit einer die Landesjustizverwaltungen zu delegieren. Im Gesetz Rechtssache bei dem Gericht, das in der ausschließli- fehlt bislang allerdings der Verweis auf diese Delega- chen Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet ist. Ge- tionsmöglichkeit. Die jetzige Fassung ist nicht eindeutig richte, die dort nicht benannt sind, erklären sich für un- und birgt die Gefahr einer zu weit gefassten Übertragung zuständig. Die Entscheidung des zuständigen Gerichts von Aufgaben auf den Rechtspfleger. Der jetzige Ver- wird in den anderen Vertragsstaaten des Übereinkom- weis, dass die „entsprechenden Geschäfte übertragen“ mens automatisch anerkannt und dort auch vollstreckt. werden, impliziert, dass die in § 20 Absatz 2 des Rechts- Ein weiterer Vorteil: Gläubiger können entsprechende pflegergesetzes aufgeführten Geschäfte durch die bun- gerichtliche Bestätigungen aus dem Ursprungsstaat über desrechtliche Regelung direkt vom Richter auf den Vollstreckbarkeiten von Entscheidungen sowie Auskunft Rechtspfleger übertragen werden, ohne dass noch der über den Inhalt des Verfahrens einholen. Die Regeln der Erlass einer entsprechenden Verordnung durch die Län- in diesem Jahr bereits auf den Weg gebrachten Umset- der gemäß § 20 Absatz 2 Rechtspflegergesetz erforder- zung der Brüssel-1 a-Verordnung bleiben durch den Ge- lich wäre. Diese Rechtslücke wird durch den vorliegen- setzentwurf unberührt, solange keine Partei ihren Auf- den Gesetzentwurf geschlossen. enthalt in einem Vertragsstaat außerhalb der EU hat. Die mit dem Entwurf vollzogene Umsetzung des Neben der Umsetzung des Haager Übereinkommens Haager Übereinkommens sowie der notwendigen An- über Gerichtsstandsvereinbarungen werden wir mit dem passungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im vorliegenden Gesetzentwurf auch notwendige Anpas- Rechtspflegergesetz ist aus unserer Sicht zielführend sungen im Gerichts- und Notarkostengesetz und im und sachgerecht. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung. Rechtspflegergesetz vornehmen. Im Gerichts- und Notarkostengesetz führen wir eine Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Es gibt ein- Regelung über die Gebühr bei vorläufiger Betreuerbe- fach Situationen, in denen muss man Regelungen nur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5967

(A) verlängern, und man tut damit trotzdem etwas Gutes und nun im kommenden Jahr tun. Denn wenn nur 200 Men- (C) Richtiges. Diese Situation hier ist eine solche. Mit den schen im Jahr von dieser Sonderregelung profitieren, Änderungen im Dritten Buch Sozialgesetzbuch und im müssen wir uns fragen, ob wir die Zielgruppe, die wir Altersteilzeitgesetz, die an diesem Gesetz mit dem wun- mit dieser Regelung erreichen wollten, auch wirklich er- derschönen Namen dranhängen, verlängern wir auslau- reichen. Im Koalitionsvertrag ist deshalb angedacht, für fende Regelungen, die für die betroffenen Menschen die Sonderregelung die Rahmenfrist auf drei Jahre zu er- sehr hilfreich sind. höhen. So vergrößert sich die Chance, trotz sehr kurz- fristiger Arbeitsverhältnisse Arbeitslosengeld I beziehen Da geht es zum Beispiel um ältere Arbeitsuchende. zu können. Zwar hat sich die Beschäftigungssituation in dieser Gruppe in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch Wir bleiben aber dabei: Wir wollen nur da eine Aus- ist der Anteil der Arbeitsuchenden bei den über 50-Jähri- nahme machen, wo es tatsächlich strukturelle Nachteile gen überproportional hoch. Und auch der demografische auszubessern gilt, und nicht, wie Sie von der Linken es Wandel wird dazu führen, dass das Problem nicht ver- in Ihrem Antrag fordern, die gesamten arbeitsmarktpoli- schwindet. Um die Eingliederung von älteren Arbeitsu- tischen Reformen der vergangenen Jahre infrage stellen. chenden in Beschäftigung fördern zu können, wurden Die Ausnahme darf nur da gemacht werden, wo sie ge- befristet besondere Eingliederungszuschüsse für ältere rechtfertigt ist und wo sie notwendig ist. Deshalb ist eine Arbeitnehmer eingeführt. Diese Befristung soll bis Ende Definition der Kurzfristigkeit der Arbeitsverhältnisse bei des Jahres 2019 verlängert werden. Damit setzen wir etwa zehn Wochen genauso richtig wie eine Verdienst- weiterhin an den richtigen Stellen Anreize, um älteren obergrenze. Menschen, die es sonst sehr schwer auf dem Arbeits- markt haben, eine Beschäftigung zu ermöglichen. Unser Arbeitsmarkt und unsere Sozialversicherungen stehen sehr gut da. Das wollen wir nicht aufs Spiel set- Auch die berufliche Weiterbildungsförderung für Ar- zen. Wir verlängern deshalb die bewährten Regelungen beitnehmer unter 45 Jahren in kleinen und mittleren Un- und drehen die Arbeitsmarktpolitik nicht in das vergan- ternehmen wird bis Ende 2019 ausgedehnt. Mit dieser gene Jahrtausend zurück, wie die Linke das fordert. Regelung unterstützen wir den Mittelstand in Deutsch- land bei der so wichtigen Frage der Fachkräftesicherung. Dr. Matthias Bartke (SPD): Als am 30. Juni 2005 Weitere Sonderregelungen betreffen die Gewährung das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsverein- von Zuschuss-Wintergeld für das Gerüstbauerhandwerk barungen geschlossen wurde, dachte vermutlich nie- und die Verlängerung einer Übergangsvorschrift in der mand an Altersteilzeit und das Dritte Buch Sozialgesetz- Altersteilzeitregelung. Beides sind keine allgemeinen buch. Und doch werden Änderungen in diesen beiden (B) Regelungen, sondern betreffen nur einen kleinen Perso- Bereichen gemeinsam mit dem Haager Übereinkommen (D) nenkreis. Für diesen sind sie aber umso wichtiger. in einem Gesetz geregelt. Mir als Kulturpolitikerin liegt die Sonderregelung zur So wichtig das Haager Übereinkommen ist, so drin- Anwartschaftszeit von überwiegend kurz befristet Be- gend notwendig sind die Änderungen im Altersteilzeit- schäftigten besonders am Herzen. Diese Regelung soll gesetz und im Arbeitsförderungsrecht. Konkret handelt speziellen Erwerbsbiografien, die geprägt sind von vielen es sich um fünf Änderungen. kurz befristeten Arbeitsverhältnissen, Rechnung tragen. Das kommt vor allem in der Kunst- und Kulturbranche Die erste Änderung ist eine Übergangsregelung der häufig vor, bei Filmschaffenden und den darstellenden Versicherungspflicht für Beschäftigte in Altersteilzeit. Künstlern. Sie zahlen in die Arbeitslosenversicherung Hintergrund dieser Regelung ist die Anhebung der Ge- ein, haben durch ihre kurzen Beschäftigungsverhältnisse ringfügigkeitsgrenze von 400 Euro auf 450 Euro. Vorher aber fast nie die Chance, die Leistung in Anspruch zu war die Altersteilzeitarbeit in diesem Bereich versiche- nehmen. Sozialversicherungsrechtlich sind das struktu- rungspflichtig. Nun ist die Geringfügigkeitsgrenze aber relle Nachteile. angehoben. Versicherungspflicht besteht damit erst ab 450,01 Euro. Für all jene, die sich in Altersteilzeit befin- Ihnen wird der Zugang zum Arbeitslosengeld I durch den, ist das ein gehöriger Unterschied. Die Vorausset- die Sonderregelung erleichtert, ja eigentlich überhaupt zung für Altersteilzeitarbeit ist nämlich eine versiche- ermöglicht. Sie haben danach Anspruch auf Arbeitslo- rungspflichtige Beschäftigung. Daher wurde eine sengeld I, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt Übergangsvorschrift geschaffen, die jedoch nur bis zum der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen. Ende dieses Jahres gilt. Das ist aber nicht ausreichend. Auch diese Regelung würde Ende des Jahres auslau- Es gibt noch immer Altersteilzeitbeschäftigte, die von fen. Nun wird sie um ein Jahr verlängert. Diese Verlän- einem Auslaufen der Übergangsvorschrift hart getroffen gerung ist erst einmal positiv. Sie ist allemal besser als würden. Für den Einzelnen bedeutet das ein Ende der ein Auslaufen ohne Nachfolgeregelung. Denn dann wür- Altersteilzeitarbeit vor dem Eintritt in die Altersrente. den die Betroffenen faktisch nie die Voraussetzungen für Was heißt das genau? Das heißt: zurück in die Vollzeitar- ALG-I-Bezug erfüllen können. Das ist also erst einmal beit oder Arbeitslosigkeit! Für die Betroffenen ist weder ein gutes Zeichen für alle Betroffenen. das eine noch das andere attraktiv. Aus diesem Grund wird die Übergangsregelung fortgeführt. Wir haben sie aber nur um ein Jahr verlängert, weil wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, diese Die zweite Änderung verlängert die Regelung zum Regelung inhaltlich weiterzuentwickeln. Das wollen wir Eingliederungszuschuss für ältere Arbeitnehmer. Der 5968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Eingliederungszuschuss ist normalerweise auf zwölf Das heißt in der Praxis vor allen Dingen mehr Rechts- (C) Monate beschränkt. Arbeitsuchende, die älter als 50 sicherheit für europäische Unternehmen, die außerhalb Jahre sind, können hingegen 36 Monate gefördert wer- der EU tätig sind; denn sie können darauf vertrauen, dass den. Das ist dreimal so lang! Damit bedeutet diese För- ihre Gerichtsstandsvereinbarungen und die entsprechen- derung für ältere Arbeitsuchende eine ganz besondere den gerichtlichen Entscheidungen in den Ländern, die Chance. Eine Chance, die wir ihnen geben müssen. Fast das Übereinkommen ratifiziert haben, beachtet, aner- jeder dritte Arbeitslose ist 50 Jahre und älter. Das Risiko kannt und vor allem vollstreckt werden. Damit fällt für der Langzeitarbeitslosigkeit ist für sie deutlich höher. viele europäische Unternehmen, die international expan- Die Neueinstellung eines älteren Arbeitsuchenden ist da- dieren wollen, ein entscheidendes Rechtsrisiko weg, das her von ganz besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund in vielen Fällen bislang auch zum konkreten Investi- wird die längere Förderdauer fünf weitere Jahre fortge- tionshindernis wurde. Gerade für uns in Deutschland ist führt. dies also ein entscheidender Schritt zur Stärkung unserer internationalen Rolle als Vize-Exportweltmeister. Die dritte Änderung verlängert die Sonderregelung für das Gerüstbauerhandwerk. Winterbauförderung Kurz ein paar Worte zum Aufbau des Abkommens. funktioniert nur, wenn Arbeitslosigkeit der Gerüstbauer Es basiert auf drei Grundsätzen: auch im Winter vermieden wird. Zu diesem Zweck be- Erstens. Nur das von den Beteiligten vereinbarte Ge- kommen Gerüstbauer auch in Zeiten von Überbrü- richt soll den Rechtsstreit entscheiden. ckungsgeld einen Winterzuschuss. Ohne diese Regelung ist die Winterbauförderung in Gefahr. Aus diesem Grund Zweitens. Alle anderen Gerichte müssen sich für un- wird die Sonderregelung bis März 2018 fortgeführt. zuständig erklären. Die vierte Änderung verlängert die Weiterbildungs- Drittens. Die Entscheidung des vereinbarten Gerichts förderung für Jüngere in kleinen und mittleren Unterneh- soll in den anderen Vertragsstaaten anerkannt und voll- men. Durch die Förderung wurden in den letzten Jahren streckt werden. deutlich mehr Weiterbildungen nachgefragt. Das ist ein Sie sehen also, dass hier sehr eindeutige und einfach wichtiger Beitrag zur Fachkräftesicherung. Aus diesem umsetzbare Voraussetzungen geschaffen wurden. Kurz Grund wird die Förderung bis Ende 2019 fortgeführt. gesagt: Dieses Maßnahmenbündel sorgt für Rechtssi- Die fünfte und damit letzte Änderung verlängert die cherheit und Vorhersehbarkeit. Sonderregelung zur verkürzten Anwartschaftszeit. Kurz Kurz ein paar Sätze zum Ursprung des Abkommens: befristet Beschäftigte erfüllen ihre Anwartschaftszeit Das Gerichtsstandsübereinkommen geht auf eine Initia- (B) nicht mit zwölf, sondern schon mit sechs Monaten Versi- tive von Ländern zurück, die alle Mitglieder der Haager (D) cherungszeit. Wir sprechen hier vor allem von Erwerbs- Konferenz für Internationales Privatrecht sind. Die USA, biografien in der Kultur. Für diese Gruppe werden wir Japan, China, Russland und Kanada seien an dieser eine Anschlussregelung finden. Der Diskussionsprozess Stelle als Beispiele genannt. dazu braucht jedoch Zeit. Aus diesem Grund wird die Sonderregelung bis Ende 2015 fortgeführt. Gerade der Ursprung in dieser Initiative, also von Mitgliedern der Haager Konferenz, die international mit Die Verlängerung der Fristen bedeutet Förderung, 76 teilnehmenden Staaten breit gefächert ist, kann weg- Unterstützung und Schutz von Arbeitnehmerinnen und weisend sein, und ich sehe ich hier das Potenzial, dass das Arbeitnehmern. Die Verlängerung der Fristen bedeutet Abkommen sich in Zukunft zu einer weltweiten Rechts- eine Fortsetzung erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik. grundlage für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen entwickeln kann. Wichtig ist dafür natürlich, dass möglichst viele Staaten das Übereinkommen ratifi- Dirk Wiese (SPD): Der uns heute vorliegende zieren. Deshalb sollten wir als europäische Mitgliedstaa- Gesetzentwurf beinhaltet die notwendigen nationalen ten mit gutem Beispiel vorangehen und ein starkes Si- Vorschriften, die zur Durchführung des Haager Überein- gnal an die Mitglieder der Haager Konferenz senden, die kommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsverein- noch nicht unterzeichnet haben. Deshalb bitte ich Sie barungen – dem Haager Übereinkommen – erforderlich hier und heute um Ihre Zustimmung zu dem vorliegen- sind. den Gesetzesentwurf. Ich bin sicher, dass nach der Zu- Worum geht es genau? Das Haager Übereinkommen stimmung aller europäischen Mitgliedstaaten auch die enthält für internationale Sachverhalte, in denen eine Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen wird ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung geschlos- und damit der Beschluss des Rates endgültig erlassen sen worden ist, Zuständigkeitsregeln sowie Regeln über und in der Europäischen Union in Kraft treten wird. Da- die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen mit schaffen wir dann in Europa ein deutliches Mehr an Entscheidungen. So sperrig das klingen mag, vereinfacht Rechtssicherheit im internationalen Handelsverkehr, von es doch den internationalen Handelsverkehr immens, in- der auch gerade wir in Deutschland deutlich profitieren dem es rechtlich stabile Rahmenbedingungen schafft. In werden. Zukunft herrscht in Ländern, die Vertragspartei des Ab- kommens sind, damit nun Klarheit über die gerichtliche Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Es Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gibt Hunderttausende Beschäftigte mit kurzfristigen Ar- von Urteilen. beitsverträgen. Viele zahlen in die Arbeitslosenversiche- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5969

(A) rung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlustes kein schweige denn eine Änderung der restriktiven Zugangs- (C) Arbeitslosengeld. Die Vorschläge unseres vorliegenden bedingungen. Antrags zielen darauf ab, dieses Problem anzugehen und mehr Beschäftigten den Zugang zur Arbeitslosenversi- Wir als Linke haben rechtzeitig einen Antrag vorge- cherung zu eröffnen. legt, der heute zur Abstimmung steht. Viele der Betroffenen erhalten kein Arbeitslosengeld I, Wir fordern, die Rahmenfrist, innerhalb derer Versi- weil sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenfrist cherungsansprüche aufgebaut werden können, von zwei von zwei Jahren nicht die erforderliche Versicherungs- Jahren auf drei Jahre zu erweitern. Wir wollen die not- zeit von zwölf Monaten erreichen. Zwar gibt es eine wendige Versicherungszeit auf sechs Monate verkürzen. Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte; diese ist Das heißt, mit sechs Monaten Versicherungszeit würde aber so gestaltet, dass sie einen Großteil der Betroffenen man bereits einen Anspruch auf drei Monate Arbeitslo- ausschließt. Denn die Sonderregelung gilt nur für Ar- sengeld erwirken. Und wir wollen die restriktiven Zu- beitslose, deren einzelne Beschäftigungszeiten mehrheit- gangsbedingungen aufheben, also keine Vorbedingungen lich nicht auf mehr als zehn Wochen angelegt waren. für die Dauer der einzelnen Beschäftigungszeiten oder die Verdienstgrenze nennen. Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Ein Leiharbeiter, eine Beschäftigte in der Gastronomie oder Wäre unser Antrag bereits in Gesetzesform umge- dem Handel hatte in den zurückliegenden zwei Jahren setzt, hätten in der Vergangenheit bis zu 200 000 Be- drei Jobs. Einmal waren sie oder er für eine Zeit von ei- schäftigte mehr Zugang zur Arbeitslosenversicherung nem Monat beschäftigt, zweimal für vier Monate. erhalten. Das hat das Wissenschaftliche Institut der Bun- desagentur für Arbeit errechnet. Insgesamt ergibt das eine Versicherungszeit von neun Monaten. Das reicht nicht, um normales Arbeitslosen- Die Regierung hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. geld zu erhalten, denn dafür wären zwölf Versicherungs- Ich fordere die Abgeordneten von Union und SPD auf, monate notwendig. Aber weil zwei der drei Jobs länger im Sinne der Betroffenen dann wenigstens unserem An- als zehn Wochen dauerten, sind sie auch vom Bezug des trag zuzustimmen. Arbeitslosengeldes nach der Sonderregelung ausge- schlossen. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Jus- Gleiches gilt auch für kurzzeitig Beschäftigte, de- tizminister der EU-Mitgliedstaaten haben am 10. Okto- ren Bruttoverdienst eine bestimmte Grenze über- ber 2014 den Beitritt der EU zum Haager Übereinkom- schreitet. Im Jahr 2014 liegt diese in den alten Bun- men über Gerichtsstandsvereinbarungen beschlossen. desländern bei 2 765 Euro im Monat, in den neuen (B) Das Übereinkommen vom 30. Juni 2005 regelt die (D) Bundesländern bei 2 345 Euro. Anwendung von ausschließlichen Gerichtsstandsverein- Diese Einschränkungen sind ein wichtiger Grund da- barungen bei internationalen Rechtsstreitigkeiten. Unter- für, dass es bisher jährlich nur gut 200 Arbeitslosengeld-I- nehmen können künftig im Rechtsverkehr darauf Beziehende nach der Sonderregelung gibt. Dem gegen- vertrauen, dass ihre Gerichtsstandsvereinbarungen in über stehen knapp 700 000 kurzzeitige Beschäftigte im Staaten, die das Abkommen ratifiziert haben, auch An- Jahr 2010. Neuere Zahlen liegen nicht vor. wendung finden. Andere als die vereinbarten Gerichte müssen sich für unzuständig erklären. Außerdem können Wie aus einer Kleinen Anfrage der Linken zu dem Urteile aus einem Vertragsstaat nun leichter in einem an- Thema hervorgeht, sind von dem Problem kurzzeitiger deren Vertragsstaat vollstreckt werden. Beschäftigung überdurchschnittlich viele junge Men- schen, Migrantinnen und Migranten und Teilzeitarbei- Verbraucher- und Arbeitsverträge werden davon zu tende betroffen. Ursprünglich wurde die Sonderregelung Recht nicht erfasst. Wer einem stärkeren Vertragspartner für kurzzeitig Beschäftigte für die Berufe der Kultur- gegenübersteht, soll nicht gezwungen werden können, branche geschaffen. Diese nutzen die Regelung auch am auf seinen gesetzlichen Richter verzichten zu müssen. Es stärksten. Mit der ausufernden befristeten Beschäftigung fragt sich natürlich, inwieweit dies nicht auch für klei- reicht das Problem inzwischen jedoch weit über den nere Unternehmen im Verhältnis zu großen Konzernen Kulturbereich hinaus. gelten kann. Zumindest wird man bei international täti- gen Unternehmen eine ausreichende Rechtskenntnis zu- Bezogen auf die Branchen trifft man auf das Problem grunde legen dürfen. der kurzfristigen Beschäftigung vor allem in der Leihar- beit, im Einzelhandel, in der Gastronomie sowie im Gar- Ein positiver Aspekt dieses Abkommens ist insbeson- ten- und Landschaftsbau und in der Landwirtschaft. dere, dass die staatliche Justiz gegenüber der privaten Schiedsgerichtsbarkeit gestärkt wird. Ein gern verbreite- Die Große Koalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag tes Argument für Schiedsgerichte ist häufig die leichtere eigentlich vereinbart, die 2014 auslaufende Sonderrege- Vollstreckbarkeit der Urteile. An dieser Stelle wird das lung durch eine Anschlussregelung zu ersetzen, und an- Haager Übereinkommen die Situation zugunsten der gekündigt, die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu staatlichen Justiz verbessern. Das Übereinkommen erweitern. schafft Klarheit über die gerichtliche Zuständigkeit so- Aber sie hat nicht ihre Hausaufgaben gemacht und wie die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. will nun die bestehende Regelung lediglich um ein Jahr Die Ratifikation des Übereinkommens und die jetzt be- verlängern. Es gibt also keine längere Rahmenfrist, ge- vorstehende Vereinheitlichung sind daher zu begrüßen. 5970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Allerdings dürfen wir uns auch nichts vormachen: Anlage 14 (C) Ausreichen wird das nicht. Zu Protokoll gegebene Reden Wir sollten uns bemühen, den Einfluss von Schieds- zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- gerichten, soweit es geht, einzudämmen und nicht durch setzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes neue Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA wei- 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes (Ta- ter zu fördern. Schiedsgerichte formen im Hinterzimmer gesordnungspunkt 24) neues Recht, das der Allgemeinheit weitgehend unbe- kannt bleibt. Die Rechtsfortbildung von Schiedsgerich- ten ist dem kritischen Blick von Öffentlichkeit und Andrea Lindholz (CDU/CSU): Der vorliegende Ge- Wissenschaft nahezu vollständig entzogen. Das schafft setzentwurf zur Änderung des Mikrozensusgesetzes und des Bevölkerungsstatistikgesetzes stieß sowohl im Bun- dauerhaft keine Rechtssicherheit und ist daher auch nicht destag als auch im Internet auf Skepsis. Das ist verwun- im langfristigen Interesse der Unternehmen. derlich, denn weder der Bundesrat noch die Bundesda- Es geht heute jedoch nicht nur um die Umsetzung des tenschutzbeauftragte noch die Datenschutzbeauftragten Haager Übereinkommens, sondern wir stimmen über ein der Länder haben Kritik daran geäußert. sogenanntes Omnibusgesetz ab. Dabei werden mittels Die Skepsis gegenüber diesem Gesetzentwurf zeugt eines Änderungsantrages dem Gesetz im Ausschuss für mich von einem diffusen Misstrauen gegenüber jegli- noch weitere sachfremde Regelungen angehängt. Auch cher Datenerhebung durch den Staat. Inhaltliche und so- wenn wir diesen Regelungen am Ende zustimmen, mit ernst zu nehmende Kritik hat niemand an den kon- möchte ich doch zum Verfahren grundsätzliche Kritik kreten Gesetzesänderungen vorgebracht. äußern: Das Omnibusverfahren ist unter Transparenzge- sichtspunkten schwierig zu rechtfertigen; es sollte nur in Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich Ausnahmefällen angewandt werden. Bei diesem Omni- betonen, dass die minimalen Gesetzesänderungen, die wir heute für das Mikrozensusgesetz und das Bevölke- bus geht es überwiegend nicht um plötzlich auftretende, rungsstatistikgesetz beschließen wollen, keinen Anlass sondern vielmehr um leicht planbare Fristverlängerun- zur Sorge bieten. Die Änderungen haben weder die gen für auslaufende Gesetzte. Ob der Griff zum Omni- Tragweite noch das Gewicht, um darüber in eine Grund- bus hier wirklich notwendig gewesen ist, ziehe ich in satzdebatte zum Datenschutz zu verfallen. Die hohen Zweifel. Weihnachten kommt für die meisten von uns ja Datenschutzstandards in Deutschland bleiben vollkom- auch nicht überraschend. men unberührt. Auch die inhaltliche Ausgestaltung des In der Sache geht es um Folgendes: Im Koalitionsver- Mikrozensus und der Bevölkerungsstatistik wird durch (B) die Novellierung nicht tangiert. (D) trag haben die Regierungsparteien Verbesserungen beim Zugang zu ALG-I-Leistungen für Arbeitnehmerinnen Die Neuerungen sind rein technischer bzw. redaktio- und Arbeitnehmer versprochen, die häufig hintereinan- neller Natur. Wenn man sich näher damit beschäftigt, der auf kurze Zeiträume befristete Arbeitsverhältnisse wird deutlich, dass die Änderungen ziemlich unspekta- eingehen und daher Schwierigkeiten haben, die Anwart- kulär sind. schaftszeiten innerhalb der Rahmenfrist zu erfüllen, ob- Gerne erläutere ich sie noch einmal: wohl sie in der Zeit ihrer Beschäftigung regulär in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Für den Mikrozensus werden insgesamt circa 830 000 Personen in rund 370 000 Haushalten in Deutschland Wir begrüßen dieses Ziel, halten aber den im Koali- ausgewählt. Das entspricht 1 Prozent der Gesamtbevöl- tionsvertrag vorgegebenen Weg für falsch. Danach soll kerung. Die Auswahl der Personen basiert auf einer ma- es unter anderem für die Beschäftigten eine von zwei auf thematisch berechneten repräsentativen Stichprobe. drei Jahre verlängerte Rahmenfrist geben, innerhalb de- rer die Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslo- Im Gegensatz zum großen Zensus werden die Teil- sengeld I erfüllt werden muss. Eine solche Ausweitung nehmer des Mikrozensus innerhalb von fünf aufeinan- der Rahmenfrist innerhalb der Sonderregelung macht es derfolgenden Jahren bis zu viermal befragt. Pro Jahr gibt aber für die Antragstellerinnen und Antragsteller im es maximal eine Befragung. Zweifel schwerer, einen Anspruch zu erwerben. Die zentrale Gesetzesänderung ist nun die Einführung einer Experimentierklausel, dank der alternative Erhe- Gutachten haben für einen Dreijahreszeitraum das er- bungsmethoden unter realen Bedingungen getestet wer- höhte Risiko belegt, dass Beschäftigungsverhältnisse zu den können. Vor allem sollen sogenannte unterjährige lang sind für die Sonderregelung, aber auch nicht ausrei- Befragungen, also mehrfache Befragungen innerhalb ei- chen, um einen regulären Leistungsanspruch zu erwer- nes Jahres, getestet werden. ben. Die Betroffenen würden dann direkt in Hartz IV landen. Grund für die Erprobung dieser unterjährigen Befra- gungen ist eine anstehende Reform der EU-Verordnung Wir halten es daher für besser, wenn Sie Ihren Koali- (EG) Nr. 577/98 von 1998, welche die Erhebung der tionsvertrag so nicht umsetzen, sondern vielmehr die be- europäischen Arbeitskräftestichprobe regelt. Diese Ar- reits bestehende Ausnahmeregelung um ein weiteres beitskräftestichprobe wird in Deutschland zusammen Jahr verlängern. mit dem Mikrozensus erhoben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5971

(A) Während des Experiments sollen die ausgewählten Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs das Geld er- (C) Personen und Haushalte nun innerhalb eines Jahres in hält, was ihr tatsächlich zusteht. zwei aufeinanderfolgenden Quartalen befragt werden. Insgesamt bleibt es aber auch für die Teilnehmer des Ex- Wir müssen daher unsere Statistiken konsequent prü- periments bei maximal vier Befragungen. fen und weiterentwickeln. Das gilt für den Zensus wie für den Mikrozensus. Die Änderungen, die wir heute be- Diese alternativen Befragungsmethoden werden an schließen wollen, sind ein Beitrag dazu. maximal 2,5 Prozent aller für den Mikrozensus ausge- wählten Personen getestet. Das Experiment betrifft also Der Änderungsantrag der Grünen ist aus drei Grün- rund 8 500 Haushalte. Belgien und Deutschland sind die den abzulehnen. Erstens gilt das Mikrozensusgesetz einzigen EU-Staaten, die bisher keine unterjährigen Be- 2005 nur noch bis Ende 2016. Die Gesetzesnovellierung fragungen einsetzen. umfasst ausschließlich kleine technische Änderungen, um das noch zu entwickelnde Mikrozensusgesetz 2017, Es freut mich, feststellen zu können, dass den Teil- das andere europarechtliche Bedingungen erfüllen muss, nehmern durch das Experiment insgesamt kein Mehrauf- methodisch vorzubereiten. Es macht daher keinen Sinn, wand entsteht. Mehrere Befragungen kurz hintereinan- kurz vor dem Auslaufen des Gesetzes noch inhaltliche der können den Zeitaufwand sogar verringern, da sich Änderungen vorzunehmen. Fragen schneller beantworten lassen, wenn die Antwor- ten gleich bleiben. Zweitens ist der implizierte Vorwurf, gleichge- schlechtliche Lebenspartnerschaften würden im Mikro- Zudem sollen anstelle der bisherigen Fragebögen und zensus nicht abgebildet, nicht korrekt. In Frage 9 und persönlichen Interviews nun Befragungen auch per Tele- Frage 14 des aktuellen Fragebogens zum Mikrozensus fon und Internet ausprobiert werden. Die Nutzung dieser werden Lebenspartnerschaften explizit abgefragt. Ent- neuen Befragungsinstrumente geschieht auf freiwilliger sprechend detailliert lassen sich heute schon Rück- Basis. Auch eine Befragung per Telefon kann eine Zeit- schlüsse ziehen. ersparnis gegenüber dem Ausfüllen eines Fragebogens sein. Drittens kann nicht abgefragt werden, was rechtlich nicht möglich ist. Ein gemeinsames Sorgerecht gleichge- Mit der Änderung des Mikrozensusgesetzes wollen schlechtlicher Lebenspartner bei Geburt gibt es nach gel- wir vor allem unseren Statistikern die Möglichkeit ge- tendem deutschem Recht nicht. Ein Kind kann erst nach ben, die neuen Anforderungen seitens der EU metho- der Sukzessivadoption zwei gleichgeschlechtliche El- disch frühzeitig vorzubereiten. ternteile haben. Im Bevölkerungsstatistikgesetz werden die Anschrift (B) In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: „Ziel ist (D) der Betroffenen sowie das Ordnungsmerkmal der Mel- es, die Haushaltsbefragungen so zu organisieren, dass sie debehörde als Hilfsmerkmal in das Bevölkerungsstatis- den steigenden Anforderungen an Datenproduktion und tikgesetz aufgenommen. Damit sollen die Plausibili- -bedarf gerecht werden, die Bürgerinnen und Bürger so tätsprüfungen verbessert werden. Wesentliches Ziel wenig wie möglich zusätzlich belasten und möglichst dieser Neuerung ist es, die Qualität der Statistik insbe- wenig zusätzliche Kosten verursachen.“ sondere im Hinblick auf die Einwohnerzahl und deren Fortschreibung zu erhöhen. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Bei aller Notwendigkeit einer verlässlichen Datengrund- Zudem wird die Übermittlung von Daten zur Neben- lage dürfen wir nicht übersehen, dass die Erhebung der wohnung eingeschränkt, da nicht alle Daten erforderlich Daten eine nicht unerhebliche Belastung für die Betrof- sind. Dieser Punkt stellt genau genommen eine kleine fenen darstellen kann. datenschutztechnische Verbesserung dar, da die Infor- mationsflut eingeschränkt wird. Zuletzt soll im Bevöl- Ab 2017 benötigen wir ein neues Mikrozensusgesetz, kerungsstatistikgesetz hinsichtlich der eingetragenen das die Grundlage für ein statistisches Gesamtsystem Lebenspartnerschaften eine klarstellende Änderung vor- schaffen soll. Ziel dieses Systems ist es, die Interessen genommen werden. der Befragten zu wahren, die Datenerhebung effizienter zu gestalten und den neuen statistischen Anforderungen Nicht nur wir Politiker, sondern alle Teile der Gesell- seitens der EU rechtzeitig zu begegnen. schaft sind auf valide und zuverlässige Daten angewie- sen, um die gesellschaftlichen Realitäten zutreffend ana- Vier statistische Erhebungen, die bisher weitgehend lysieren zu können. Der Mikrozensus als maßgebliche getrennt voneinander erfolgen, sollen dazu zusammen- Referenzgröße in der deutschen Statistik schafft eine un- geführt werden. Das ist erstens der Mikrozensus und verzichtbare Basis für die Erhebung zahlreicher anderer zweitens die europäische Arbeitskräfteerhebung, die be- Statistiken. reits zusammen erhoben werden. Das System soll drit- tens die Gemeinschaftserhebungen über Einkommen Die aktuelle Diskussion um den großen Zensus zeigt, und Lebensbedingungen in Europa, EUSILC, und über welche entscheidende Rolle Statistik in einem demokra- die private Nutzung von Informationstechnologien, IKT, tischen Rechtsstaat spielen kann. Wenn die Einwohner- sowie viertens die Freiwilligenstichpobe nach § 7 des zahl einer Kommune kleiner oder größer gerechnet wird, Bundesstatistikgesetzes umfassen. als sie tatsächlich ist, werden Gelder falsch verteilt. Von der korrekten Berechnung der Einwohnerzahlen im Rah- Dieses System steht aber heute nicht zur Diskussion. men der Volkszählung hängt ab, ob eine Kommune im Erst wenn substanzielle Ergebnisse über die Weiterent- 5972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) wicklung des Gesamtsystems vorliegen, können wir da- In DDR und Bundesrepublik waren Volkszählungen (C) rüber beraten und sie bewerten. fester Bestandteil der Verwaltungshoheit. Die Verfahren waren sehr aufwendig und erfolgten bis 1970 noch mit Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Heute kommen Lochkartentechnik. Die Volkszählung 1987 war in der unsere Beratungen zum Mikrozensusgesetz und zum Be- Bundesrepublik mit heftigen Diskussionen verbunden. völkerungsstatistikgesetz zum Ende. Wir beschließen Einige von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer- damit wichtige und notwendige Änderungen, die einen den sich an die Boykottaufrufe erinnern. Ich selber war Fortschritt für die amtliche Statistik bedeuten. Die Ge- als Volkszähler unterwegs. Mit Papier und Bleistift aus- schichte der amtlichen Statistik reicht weit zurück und gestattet, habe ich in vielen Haushalten geholfen, die ist vor allen Dingen eines: eine Geschichte der Optimie- umfangreichen Fragen zu beantworten. Allerdings rung. wurde mir auch so manche Tür regelrecht vor der Nase zugeschlagen. Ganz frühe Erfassungen zur Bevölkerung gab es be- Die erste gesamtdeutsche Volkszählung folgte dann reits in der Antike. Die Bibel beschreibt sie an promi- erst 2011. Es war eine registergestützte Erhebung, bei nenter Stelle. Im Mittelalter waren es vor allen Dingen der auf Daten aus der Verwaltung, also auf Register, zu- Klöster und Stifte, in denen sich Daten befanden. Sie rückgegriffen wurde. Zuvor wurde die Erhebung noch- waren jedoch zu dieser Zeit noch wenig verlässlich. Erst mal um weitere Angaben erweitert – zum Beispiel um im 18. Jahrhundert erfuhr die Datensammlung eine Pro- die Zahl der lebend geborenen Kinder. Der Gesetzent- fessionalisierung und wurde auch in Preußen zu einem wurf dazu kam 2007 von der damaligen Großen Koali- wichtigen Instrument der Staatsführung. „Populations-“ tion, und auch er qualifizierte die Statistik. Nun wurden und Wirtschaftstabellen sowie Todesursachenstatistiken Rückschlüsse auf die Anzahl von Kindern pro Frau, auf entstanden, die dem preußischen König einen Überblick die Geburtenfolgen und auf den Geburtenabstand mög- über Bevölkerung und Ressourcen gaben. Das war nicht lich. Die Daten lieferten eine wichtige Grundlage für nur in Kriegszeiten unentbehrlich. Diese Daten waren eine gezielte Sozial- und Familienpolitik. zumeist streng geheim. Nur der preußische König und seine „Cabinet-Minister“ hatten Zugang. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte von Optimierungen. Das wurde durch diesen kurzen histori- Regelmäßige und vollständige Volkszählungen wur- schen Rückblick deutlich. Und diese Geschichte wollen den in vielen europäischen Ländern erst im 19. Jahrhun- wir heute fortschreiben. dert vorgenommen. So sollte 1810 in Berlin ein Zensus stattfinden, da man der Meinung war, dass die Bevölke- Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf darum, rungstabellen nicht mehr stimmten. Die Volkszählung das Mikrozensusgesetz zu ergänzen, womit wir einer (B) konnte nur mit großen Verzögerungen durchgeführt wer- EU-Vorgabe folgen. Auf Basis einer Experimentierklau- (D) den, da dem Berliner Magistrat Personal dafür fehlte. sel können neue Erhebungsverfahren erprobt werden, Man könnte sich an heutige Zeiten erinnert fühlen. um die Qualität der Statistik zu verbessern. Ziel der Er- probung ist auch, die Bürgerinnen und Bürger zu entlas- 1861 folgte ein weiterer Zensus in Berlin, und dieser ten. verlief bereits deutlich strukturierter. In 40 Polizeirevie- ren wurden Zählbezirke gebildet. In Gegenwart von Dis- Darüber hinaus wollen wir eine Korrektur in der Be- triktkommissaren mussten die Formulare ausgefüllt wer- völkerungsstatistik vornehmen – auch das mit dem Ziel den. Da gab es kein Lamentieren. der Optimierung. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Die Daten, die erfasst wurden, waren schon qualifi- Nach Inkrafttreten des Bevölkerungsstatistikgesetzes zierter. So wurden auch soziale Daten zu den Wohnver- am 1. Januar 2014 wurden einige „handwerkliche Män- hältnissen erhoben, aus denen die ersten Wohnstatistiken gel“ offenkundig, die mit dem Gesetzentwurf wieder entstanden. Auch die Methoden waren inzwischen wis- korrigiert werden müssen. So hat das Fehlen der An- senschaftlich verfeinert. Die Daten nahmen erheblich zu, schrift zur Folge, dass zum Beispiel Wanderungsbewe- was sich an ersten statistischen Jahrbüchern zeigte. 1872 gungen in der Kommune nicht mehr nachvollzogen wer- wurde dann das „Kaiserliche Statistische Amt“ gegrün- den können. Damit fehlen elementare Daten, und das ist det, das fortan viele weitere Statistiken, wie die Land- natürlich zurückzunehmen. Das tun wir heute und leisten wirtschafts-, die Verkehrs- und sogar eine Bautätigkeits- damit einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung unse- statistik, betreute. rer Statistik. Es sind kleine Änderungen mit viel Ge- wicht, die uns wie vielen anderen Stellen die Arbeit er- Volkszählungen gehörten mit der Reichsgründung leichtern. 1871 zur festen statistischen Grundlage in Deutschland. 1910 wurde die letzte vor dem Ersten Weltkrieg und „Statistik ist das Informationsmittel der Mündigen“, 1917 eine sogenannte Kriegszählung vorgenommen, um hatte die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demos- die Lebensmittelkarten zu planen. Angestrebt war ei- kopie, Elisabeth Noelle-Neumann, gesagt. Dem ist gentlich ein Fünfjahresrhythmus, der aber immer wieder nichts mehr hinzuzufügen. Lassen Sie uns das Mikro- durch politische Entwicklungen durchbrochen wurde. zensusgesetz und das Bevölkerungsstatistikgesetz heute Während Volkszählungen in der dunklen Zeit des Natio- zu einem guten Abschluss bringen. nalsozialismus menschenverachtenden Maximen folg- ten, wurden sie in der Nachkriegszeit wieder zum wich- Jan Korte (DIE LINKE): In der ersten Lesung gab tigen Barometer der Bevölkerungsentwicklung. die Kollegin Lindholz zur Erläuterung, worum es bei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5973

(A) Ihrem Gesetzentwurf überhaupt geht, für die Unions- Interviewer/-innen von durchschnittlich 25 Prozent in (C) fraktion zu Protokoll, dass „mit der vorliegenden Geset- einem laufenden Erhebungsgeschäft realistisch. zesänderung […] nun auch mehrmalige Befragungen einer Person innerhalb eines Jahres eingeführt [werden]. Dies macht es erforderlich, dass die Statistischen Diese sogenannten unterjährigen Befragungen können Landesämter eine ausreichend große Anzahl von Reser- einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand für veinterviewern einplanen, was offensichtlich relativ die Teilnehmer bedeuten.“ Damit steht die CSU-Kolle- schwierig ist. Darüber hinaus ist nach allem, was man gin im Widerspruch zu der Behauptung im Gesetzent- dazu liest, damit zu rechnen, dass für ausfallende Inter- wurf, wonach die Änderungen nämlich keinen Mehrauf- viewerinnen und Interviewer nicht immer Ersatz gefun- wand für die Befragten bedeuten würden. Diesen den werden kann und die noch ausstehenden Auswahl- Mehraufwand in einem Jahr, den im Übrigen auch die bezirke mit großen Problemen sowie hohem Aufwand, Interviewer der Landesämter für Statistik haben, gibt es vor allem in den Flächenländern, vom jeweiligen Statis- tischen Landesamt aus bearbeitet werden müssen. Insge- eben tatsächlich. Und sie versuchen diesen ja eben samt muss also mit einem erheblichen Mehraufwand in dadurch zu entkräften, indem künftig auf „einfachere den Statistischen Landesämtern gerechnet werden. Auf Befragungsmethoden“ mittels Telefon und Internet aus- grund der durch die Unterjährigkeit bedingten starken gewichen wird und die Bürgerinnen und Bürger durch regionalen Streuung ist in ländlichen bzw. schwach Nutzung eines sogenannten „modular aufgebauten, besiedelten Gebieten der ganzjährige Dauereinsatz der kohärenten Systems der Haushaltsstatistiken“ entlastet Interviewer/-innen von der Bereitschaft abhängig, große würden. Wie so ein modular aufgebautes, kohärentes Wegstrecken zu bewältigen. Inwieweit eine ausreichend System konkret aussehen soll, können sie allerdings große Zahl von qualifizierten Interviewern gewonnen noch nicht sagen. Ich halte das für unprofessionell, werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Um eben diese reichlich problematisch und zudem, was die Ausweitung massiven Probleme zu umgehen, soll künftig verstärkt elektronischer Erhebungsformen angeht, für ziemlich auf elektronische Befragungsmethoden gesetzt werden. riskant. Doch dazu später mehr. Diese Zusammenhänge werden aber gezielt verschwie- Was kommt also auf uns zu? gen. Beim vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich auf Wie ist es denn nun um die Datensicherheit bei den elektronischen Befragungsmethoden bestellt? den ersten Blick nur um eine unbedeutende Änderung des bis Ende 2016 geltenden Mikrozensusgesetzes 2005. Die Internetbefragungen sollen analog zu den Online- Durch Ihren Gesetzentwurf soll „nur“ eine kleine Expe- erhebungen beim Zensus 2011 durchgeführt werden. rimentierklausel eingefügt werden, mit der andere Erhe- Dies hatte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte (B) bungsverfahren getestet werden sollen. Die Einführung geprüft und als ausreichend abgesichert angesehen. Nun (D) dieser Experimentierklausel führt zwar vermutlich tat- sind wir aber einige Jahre später und nicht zuletzt durch sächlich nicht zu einem umfangreicheren Fragebogen, Edward Snowden etwas schlauer, sodass ich davon aus- bedeutet für die Auskunftspflichtigen aber, dass diese in gehe, dass es durchaus angebracht wäre, das Konzept einem kürzeren Zeitraum mehrfach befragt werden. Dies noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Nur weil bis- betrifft in der Experimentierphase erst einmal nur 8 500 lang, vielleicht ja auch aufgrund der noch nicht so gro- Haushalte, künftig sollen es aber 50 Prozent der zwangs- ßen Anzahl an Erhebungen, die auf diesem elektroni- weise am Mikrozensus Teilnehmenden, also mehr als schen Weg erhoben werden, noch kein Datendiebstahl 400 000 Personen sein. Die Bundesdatenschutzbeauf- bekannt geworden ist, bedeutet dies ja keineswegs, dass tragte hatte angeregt, dass die relativ kleine Testgruppe sich dies nicht künftig bei größeren Datenmengen än- vollständig freiwillig an der unterjährigen Befragung dern könnte. Auch ist für mich unklar, wie sichergestellt teilnimmt. Doch selbst diese minimale Freiwilligkeit werden soll, dass Fehler bei der Datenerhebung vermie- ging dem Bundesinnenministerium offenkundig schon den und Missbrauch ausgeschlossen wird. Und mir zu weit. So können die auskunftspflichtigen Probanden leuchtet es auch überhaupt nicht ein, wieso es im Jahr entweder das verkürzte Befragungsverfahren durchlau- eins nach Snowden nicht Standard sein kann, dass sen- fen oder die elektronischen Auskunftswege nutzen. sible Datenerhebungen – zumal von solchem Ausmaß! – anonymisiert erfolgen. Erklären Sie doch bitte einmal, Eine unterjährige Erhebung bedingt gegenüber dem warum lediglich eine Pseudonymisierung erfolgt und bisherigen Verfahren gravierende Veränderungen, die wieso sie das für ausreichend halten? vor allem die Erhebungs- und Ablauforganisation der Statistischen Landesämter betreffen. Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus auch im Widerspruch zum Recht auf infor- Die Testerhebung im Rahmen der Mikrozensuserhe- mationelle Selbstbestimmung. Bis jetzt sind sie jeden- bung 2000 hatte bereits gezeigt, dass durch den mehr- falls eine befriedigende Antwort auf die Frage, wieso maligen Interviewereinsatz in einem laufenden Erhe- Staat und Statistikämter nicht endlich auf die Mittel Aus- bungsgeschäft verstärkt mit krankheitsbedingten oder kunftszwang, Zwangsgelder und Drohbriefe verzichten sonstigen Ausfällen bei den Interviewern zu rechnen ist. können, wenn sie Informationen für bestimmte Projekte Die Interviewer-Ausfallquote bewegt sich demnach in brauchen, schuldig geblieben. Positiv in den Beratungen einem Rahmen von rund 15 Prozent bis etwa 30 Prozent. war immerhin, dass Sie sich auf den Druck der Opposi- Angesichts der Erfahrungen aus der Organisationsunter- tion hin nun endlich dazu bequemt haben, einmal Zahlen suchung erscheint eine jährliche Fluktuationsrate der zu Zwangsgeldverfahren in den Ländern vorzulegen. 5974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Die nun auf die Schnelle aus vier Bundesländern be- in Kraft getreten ist, nun durch die vorgesehene eilige (C) schafften Zahlen zeigen zumindest, dass so eine Abfrage Nachbesserung – und hier gibt es zusätzliche Datenerhe- schon viel früher möglich gewesen wäre, aber eben poli- bungen! – geändert werden muss? Ich nicht. tisch nicht gewollt war. Leider bleibt auch jetzt unklar, um welche Bundesländer es sich dabei eigentlich han- Ich komme also zum Schluss: Meine Fraktion hatte delt. Aber das können Sie ja vielleicht demnächst noch das Mikrozensusgesetz 2005 abgelehnt, weil aus unserer einmal im Zuge einer Aufstellung aller 16 Länder nach- Sicht und nach Auffassung vieler Bürgerrechtlerinnen holen. und Bürgerrechtler, seine Notwendigkeit nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd Wenn Ihre Zahlen stimmen, dann verweigern bis zu und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewe- 2,3 Prozent der Befragten die Auskunft. Das ist viel- sen ist. Auch dieser Gesetzentwurf reiht sich in die vor- leicht in Ihren Augen nicht sonderlich viel, meines Er- anschreitende Katalogisierung des Bürgers ein. Er setzt achtens angesichts von bis zu 5 000 Euro Bußgeldern auf die Herrschaft der Zahl statt auf Qualitätspolitik. An aber auch kein Pappenstiel. dieser grundsätzlichen Kritik halten wir fest. Aus unse- Dass die „Datenqualität“ bei einer Mikrozensuserhe- rer Sicht öffnet die Experimentierklausel den Weg zu ei- bung auf Freiwilligkeit nicht aufrechterhalten werden ner Ausweitung der Erhebungen. Wir wollen aber das könnte, konnte bislang auch vor dem Hintergrund, dass Gegenteil, nämlich weniger Datenhalden und vor allem 17 von 28 EU-Staaten ihre Erhebungen auf freiwilliger weniger Zwangserhebungen. Meine Fraktion plädiert Basis durchführen, nicht schlüssig dargelegt werden. entschieden für das Prinzip der Freiwilligkeit bei Volks- Selbst wenn es bei Freiwilligkeit dazu käme, dass keine zählungen jeder Art und für den konkreten Nachweis der validen Ergebnisse erzielt würden und sich dort, wie Erforderlichkeit von Zahlen für nachvollziehbare Zwe- auch bei Wahlen, der sogenannte „Mittelstands-Bias“ cke. Nur so werden sie die nötige Akzeptanz bei den zeigte, sodass die prekären Ränder am oberen und unte- Bürgerinnen und Bürgern bekommen. ren Rand der Gesellschaft unterdurchschnittlich in die Deshalb lehnen wir auch heute Ihre Gesetzesände- Ergebnisse einflössen, wäre dies doch kein generelles rung ab. Argument gegen das Prinzip der Freiwilligkeit. Das wäre nur ein Grund mehr, sich endlich innovativ mit dem Problem fehlender demokratischer Beteiligung aus- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einanderzusetzen. NEN): Der Zensus 2011 ist gerade erst ausgewertet. Er hat durchaus äußerst kontroverse Reaktionen ausge- Auch auf meine Frage, ob die Bundesregierung mir löst. Nun steht für fast eine Million Bundesbürgerinnen auch nur einen einzigen politischen Bereich nennen und -bürger der nächste Zensus bereits vor der Tür. (B) könne, in dem es in letzter Zeit wegen fehlender „Daten“ (D) zu problematischen Entscheidungen gekommen sei, ist Gerade weil der präventive, der vorsorgende und auch sie die Antwort schuldig geblieben. Das ist aber auch auf Nachhaltigkeit und komplexe Steuerungskonzepte nicht wirklich überraschend, denn es fehlt ja eben nicht setzende Staat nur effektiv sein kann, wenn er über lau- an Daten, sondern am politischen Willen, bestimmte fend aktuelle Zahlen zur Bevölkerung verfügt, gewinnt Probleme, wie beispielsweise die große Zahl nach wie das Statistikwesen laufend an Bedeutung. Wer wie die vor fehlender Kitaplätze, zu lösen. Ich zitiere hier erneut Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren Thilo Weichert, den Landesdatenschutzbeauftragten in mit den Folgen einer schrumpfenden Erwerbsbevölke- Schleswig-Holstein: „Politische Fehlplanungen basieren rung, der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der falschen Be- einem anhaltendem Kinderschwund zu rechnen hat, wertung vorhandener Daten.“ kann auf die Statistik nicht verzichten. Darüber besteht Einigkeit. Wir haben uns bereits im vergangenen Jahr Kurz noch ein paar Worte zu den Kosten: hinlänglich im Rahmen der Debatte um den Zensus 2011 Bislang sind Sie die Antwort auf die Frage, wie hoch darüber austauschen können. die jährlichen Mehrkosten beim Bevölkerungsstatistik- gesetz ausfallen werden, schuldig geblieben. Im Gesetz- Der Mikrozensus stellt die Grundlage unserer Er- entwurf heißt es dazu nur: „Für die nach Landesrecht kenntnisse dar, er ist gewissermaßen der kleine Bruder zuständigen Stellen, die durch dieses Gesetz zu Daten- der bei uns nur selten erfolgenden großen Zensen und lieferungen verpflichtet werden, entstehen für die von zentraler Bedeutung unter anderem für die For- Anpassung von vorhandenen Softwarelösungen gegebe- schung. Alljährlich sehen sich circa eine Million Bun- nenfalls einmalige Kosten, die angesichts der unter- desbürger, eine durchaus beachtliche Anzahl, mit den schiedlichen Gestaltung der jeweiligen Fachverfahren umfänglichen Fragenkatalogen der Statistikbehörden nicht beziffert werden können.“ Das ist ja nun nicht ge- konfrontiert, denen sie nicht ausweichen können. Denn rade sehr informativ. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Teilnahme an den Interviews oder die wahlweise nicht wenigstens interne Kostenhorizonte existieren. Al- Ausfüllung der Fragebögen ist aufgrund einer Aus- les andere wäre ja noch unverantwortlicher als gedacht. kunftspflicht bußgeldbewehrt. Die oft besonders weit das Privatleben der Befragten berührenden Fragen etwa Ein letztes Wort zum ganz nebenbei mitveränderten nach dem Einkommen, nach den familiären Verhältnis- Bevölkerungsstatistikgesetz: Finden Sie es eigentlich sen oder der Ausbildung stellen ohne Zweifel – völlig vertrauenerweckend, dass das Bevölkerungsstatistikge- unabhängig von ihrer konkreten Weiterverarbeitung – setz, welches in dieser Form ja erst zum 1. Januar 2014 aufgrund der Zwangslage der Auskunftspflicht einen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5975

(A) schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht wurden bereits erste eingehende gutachterliche Stellung- (C) aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz dar. nahmen bekannt. Diese werfen, ganz unabhängig von der Differenz zwischen den Zwecksetzungen und Und genau dieser Konflikt hat die Volkszählungspro- Durchführungsverfahren des Zensus 2011 und des Mik- teste der 1980er-Jahre ausgelöst. Viele Grüne haben rozensus, grundlegende Fragen nach den mathematisch- diese Bewegung mitgetragen, und sie zählt sicherlich als statistischen Verfahren der Statistikämter auf, bei denen bürgerrechtliches Großereignis bis heute zu einer der nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese auch Fol- Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland. Im gen für den Mikrozensus haben werden. Hier wird es ei- Kern geht es dabei um die Sicherung der informationel- ner weiteren, intensiven Beobachtung der Entwicklung len Selbstbestimmung des Einzelnen. Selber wissen und auch seitens des Deutschen Bundestages bedürfen. soweit als möglich auch mitentscheiden zu können, wer was wann über einen erfährt und was dann mit diesem Auch wegen der Eingriffstiefe der bußgeldbewehrten Wissen gemacht werden darf, das zählt bis heute zu einer Auskunftspflicht dürfen wir nicht nachlassen zu fragen, Vorstellung des Datenschutzes, wie ihn auch meine Par- auf welche Weise die Anzahl der Betroffenen und der tei gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Umfang der Fragen weiter reduziert werden können, Gruppen erstritten hat. damit das Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung weiter reduziert werden kann. Der uns jetzt vorliegende Dank des tatsächlich wegweisenden Volkszählungsur- Entwurf gibt dazu bedauerlicherweise kaum Antworten. teils von 1983 wurden genaue Vorgaben gemacht, die Die Experimentierklausel scheint vielmehr noch weniger den Gesetzgeber bis heute beschäftigen und binden. Das Rechtssicherheit für Betroffene zu bieten als zuvor, so- Mikrozensusgesetz basiert auf diesen Vorgaben; es dient weit es um die beabsichtigte Reduzierung der Grund- dazu, diese Vorgaben zum Schutz der Bürgerinnen und rechtseingriffe geht. Vielmehr drängt sich der Eindruck Bürger gegen eine überbordende staatliche Datenerhe- auf, zukünftig werde sich der Mikrozensus über das bung, und sei sie auch nur zu statistischen Zwecken, si- ganze Jahr verteilen und immer wieder auskunftspflich- cherzustellen. tige Situationen erzeugen. Die unterjährige Kontaktauf- nahme der Verpflichteten bedeutet erneute pflichtige Die Aufsichtsbehörden für den Datenschutz in den Zugriffe auf die Privatheit. Es war deshalb richtig, diese Ländern berichten alljährlich von Bürgerinnen und Kontaktaufnahmen unter die Bedingung der Freiwillig- Bürgern, die sich mit Beschwerden auch gegen den keit für die Betroffenen zu stellen. Gleichwohl ist die Mikrozensus an sie wenden. Das derzeit in Kraft befind- insgesamt weiter gefasste und damit in ihren Auswirkun- liche, wie seine Vorgänger zeitlich befristete Mikrozen- gen nicht vollständig determinierte Experimentierklausel susgesetz von 2005 enthält zwar nicht mehr sämtliche angesichts des gerade für das Grundrecht auf informatio- Einzelfragen im Gesetz selbst, sondern Fragenkomplexe, nelle Selbstbestimmung geltenden Bestimmtheitsgebo- (B) die dann im späteren Verordnungswege konkretisiert (D) tes eine durchaus problematische Vorgehensweise. werden dürfen. Gleichwohl besteht an dieser Verfahrens- weise trotz der teilweisen Zurücknahme des strikten Vor dem Hintergrund der nach wie vor offenen Gesetzesvorbehalts ein berechtigtes Interesse der Flexi- Fragen und der rechtsstaatlich problematisch gewählten bilisierung, um eben möglichst aktuelle, besonders ziel- Lösung einer Experimentierklausel, bei der gleichwohl gerichtete Fragenkomplexe entwerfen zu können. versucht werden soll, die Anzahl der Betroffenen und den Umfang möglichst gering zu halten, werden wir uns Lassen Sie mich klarstellen: Das Mikrozensusverfah- bei der heutigen Abstimmung enthalten. Das Verspre- ren zählt insgesamt zu den bislang weitgehend geregel- chen der Bundesregierung, in 2017 eine endgültige ge- ten und überwiegend zufriedenstellend verlaufenden setzliche Klärung zum Mikrozensusverfahren vorzule- Datenerhebungen unseres Staates. Allerdings gibt es gen, werden wir erinnern. Wir erwarten dann allerdings auch weiterhin eine beständig hohe Zahl von Betroffe- eine erneute, eingehende parlamentarische Auseinander- nen, die über die umfassenden Fragebögen so empört setzung über Zukunft und Inhalt dieses Verfahrens. sind, dass sie förmlich Beschwerde einlegen oder sich zum Beispiel an die Datenschutzbehörden oder ihre Ab- geordneten wenden. Dies war einer der Gründe, warum Anlage 15 wir auf die Durchführung eines erweiterten Bericht- erstattergesprächs gedrungen haben. Die Ergebnisse des Zu Protokoll gegebene Reden kurzen Termins haben die zahlreichen aufgeworfenen Fragen nicht zur Gänze klären können: Zwar wurden uns zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur dankenswerterweise Einschätzungen einiger Bundes- Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die länder vorgelegt, wie viele Bürgerinnen und Bürger ei- Europäische Schutzanordnung, zur Durchfüh- nen Mahnbescheid riskieren, wir würden es aber für rung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über sinnvoller erachten, dass die Akzeptanz dieses Verfah- die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaß- rens systematischer und bei allen Bundesländern ab- nahmen in Zivilsachen und zur Änderung des gefragt würde. Dies geschieht bislang nicht. Noch weit- Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen gehend ungeklärt blieb auch die Frage nach den und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge- zugrunde liegenden Rechenverfahren. Wir haben derzeit richtsbarkeit (Tagesordnungspunkt 25) eine Situation, in der eine sehr große Zahl von Kommu- nen Gerichtsverfahren gegen die Ergebnisse des Zensus Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Der vor- 2011 aufgenommen hat. Im Rahmen dieser Verfahren liegende Gesetzentwurf dient in erster Linie der Umset- 5976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord- Gesetzentwurf beinhaltet. Diese Vorschriften werden (C) nung sowie der Durchführung der Verordnung über die aufgrund der besonderen Bedeutung in einem eigenstän- gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi- digen Gesetz, namentlich EU-Gewaltschutzverfahrens- vilsachen. gesetz, normiert. Bereits heute gibt es in allen EU-Staaten Opferschutz- Durch die Richtlinie sollen Schutzmaßnahmen für maßnahmen. Diese können bislang aber nur in dem Mit- Opfer von Straftaten gewährleistet bleiben, die ihr Recht gliedstaat durchgesetzt werden, in dem sie erwirkt wor- auf Freizügigkeit wahrnehmen und ihren Wohnort in ei- den sind. Derartige Maßnahmen können erwirkt werden, nen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Durch das wenn das Leben der zu schützenden Person, ihre körper- Recht auf Freizügigkeit dürfen den Unionsbürgern keine liche oder psychische Unversehrtheit, ihre Freiheit, Si- Nachteile durch möglichen Verlust des Schutzes entste- cherheit oder sexuelle Integrität in Gefahr sind. Die ge- hen. richtlich festzustellenden Schutzmaßnahmen können Die Gewährleistung des Schutzes für die Opfer soll beispielsweise die Verpflichtung beinhalten, sich der ge- wie folgt geregelt werden: Die Behörde eines EU-Staa- fährdeten Person nicht weiter als bis auf eine bestimmte tes ordnet eine Schutzmaßnahme nach dem nationalen Entfernung zu nähern oder bestimmte Orte nicht zu be- Recht an. Im zweiten Schritt erlässt die Behörde des ent- treten oder – heute ganz wichtig – nicht mit ihr in einen sprechenden Staates eine Europäische Schutzanordnung. wie auch immer gearteten medialen Kontakt zu treten. Nach dem Umzug des EU-Bürgers in einen anderen EU- Aufgrund der Richtlinie und der Verordnung kann in Zu- Staat erkennt dieser Staat die bereits erlassene Schutzan- kunft jeder, der seinen Wohnort in ein anderes Mitglieds- ordnung an und erlässt eine nach dem nationalen Recht land verlegt, einen ähnlichen Schutz beantragen, den er in einem vergleichbaren Fall vorgesehene Maßnahme. bereits in seinem Heimatland erstritten hat. Es findet keine erneute Sachprüfung statt, sodass hier eine wesent- Die Verordnung vervollständigt die Richtlinie, indem liche Erleichterung für die Betroffenen zu verzeichnen sie die Übertragbarkeit der angesprochenen zivilrechtli- ist. chen Gewaltschutzanordnungen regelt. Die Verordnung betrifft ebenfalls den Gewaltopferschutz, der in einem Der entscheidende Unterschied zwischen der Richtli- Mitgliedstaat durch die Justiz- oder eine andere Behörde nie und der Verordnung besteht in der Entstehungsart der angeordnet wurde und in einem anderen Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen. Die Richtlinie ist nur auf Schutz- anzuerkennen ist. maßnahmen in Strafsachen anwendbar. Diese Schutzmaß- nahme muss also nach einer strafrechtlichen Entscheidung Diese Verordnung beseitigt also das bisher erforderli- bzw. in einem Strafverfahren angeordnet worden sein. che Exequaturverfahren, in dem die Voraussetzungen der (B) Ausschlaggebend für die Anordnung einer nationalen Anerkennung der Vollstreckbarkeit im Inland geprüft (D) Schutzmaßnahme ist ausschließlich, dass nach dem natio- werden. Um eine Schutzmaßnahme in einem anderen nalen Recht strafbares Verhalten vorliegt. Das deutsche EU-Mitgliedstaat geltend zu machen, benötigt die zu Recht kennt jedoch nur Gewaltschutzanordnungen nach schützende Person eine Bescheinigung, die auf Antrag dem Gewaltschutzgesetz, die auf zivilrechtlicher Grund- durch die Entscheidungsbehörde des Heimatstaats aus- lage ergehen. Das Opfer von Gewalttaten ist berechtigt, gestellt wird. Mit dieser Bescheinigung kann die gefähr- einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen. dete Person in dem Mitgliedstaat ihres Aufenthaltes die Dies kann sowohl in einem Verfahren der einstweiligen Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung der Anordnung als auch in einem Hauptsacheverfahren ge- Schutzmaßnahme beantragen. Entscheidend ist, dass schehen. Die strafrechtlichen Schutzmaßnahmen sind keine erneute Sachprüfung stattfindet. folglich dem deutschen Recht fremd und können auf Die zeitgerechte Umsetzung der Richtlinie und der diese Weise nicht erlassen werden. Aufgrund der Richtli- Verordnung ist zu begrüßen. Hierdurch schaffen wir nie kommt Deutschland daher lediglich als vollstrecken- Rechtssicherheit und erhöhen das Vertrauen in den der Staat in Betracht. Die Verordnung hingegen vervoll- grenzüberschreitenden Schutz der EU-Bürger. Körperli- ständigt die Richtlinie und regelt die Übertragbarkeit der che und seelische Gewalt bedeutet für das Opfer immer zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen, sodass die in einen enormen Einschnitt in das eigene Leben. Beson- Deutschland erlassenen Maßnahmen in anderen Mit- dere Bedeutung hat diese Gewalt, wenn sie im engen so- gliedsländern einen ähnlichen Schutz genießen. zialen Umfeld stattfindet. Daher gilt es, die Opfer sol- Am 13. Dezember 2011 verabschiedete die Europäi- cher Taten effektiv und schnell schützen zu können. sche Union die Richtlinie über die Europäische Schutzan- Meine langjährige anwaltliche Tätigkeit verdeutlichte ordnung. Am 12. Juni 2013 beschloss sie die Verordnung mir, dass die meisten Gewaltschutzverfahren emotional über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnah- belastend und entsprechend aufwendig für die Beteilig- men in Zivilsachen. Diese Rechtsakte sollen sich gegen- ten waren. Aus diesem Grund sollte der Schutz der ge- seitig vervollständigen und gemeinsam einen effektiven, fährdeten Person im Vordergrund stehen. Sie sollte des- europaweiten Schutz der Opfer vor Gewalt gewährleis- halb das Verfahren im Falle eines Umzugs in einen ten. Diese Richtlinie ist bis zum 11. Januar 2015 umzu- EU-Mitgliedstaat nicht erneut durchlaufen. Die Anerken- setzen. Ab diesem Tag gilt ebenfalls die Verordnung. nung und Vollstreckung der Schutzmaßnahmen dürfen keine wiederholte Belastung für das Opfer darstellen. Um Für die Umsetzung der Richtlinie sowie Durchfüh- diesem notwendigen Schutz der EU-Bürgerinnen und rung der Verordnung bedarf es nationaler Umsetzungs- -Bürger gerecht zu werden, wird die Erleichterung beim bzw. ergänzender Durchführungsvorschriften, die dieser Anerkennen und Vollstrecken der Schutzmaßnahmen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5977

(A) durch die Richtlinie und die Verordnung von unserer dass uns dies sozusagen unvermittelt von außen herein- (C) Fraktion befürwortet. schneien würde. In diesem Hause wurde schon in der letzten Wahlperiode über die Europäische Schutzanord- Im vorliegenden Entwurf wird ferner eine Änderung nung debattiert; schon damals hat sich die SPD-Fraktion des FamFG aufgenommen, die das Scheidungsverbund- mit deutlichen Worten für diese neue Richtlinie ausge- verfahren betrifft. sprochen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Für einen ganz speziellen Fall sollen den Beteiligten im Europäischen Parlament haben tatkräftig an ihrer im Ehescheidungsverbundverfahren Rechtsmittel abge- Ausgestaltung mitgewirkt. Nun, da es um die Umset- schnitten werden. Damit soll eine mögliche Doppelehe zung in deutsches Recht geht, gehen wir diesen Kurs vermieden werden. Da aber auch ein wirtschaftliches weiter. Ungleichgewicht entstehen kann, habe ich Bedenken. Dieser Teil unterliegt im Übrigen nicht der bereits ge- Das Prinzip der Europäischen Schutzanordnung ist nannten Umsetzungsfrist zum 11. Januar 2015. einfach: Es gibt nun ein unkompliziertes, unbürokrati- sches Verfahren, mit dem gesetzliche Maßnahmen zum Das Verbundprinzip soll eine gleichzeitige und ab- Schutz vor Gefährdung grenzübergreifend anerkannt schließende Regelung aller Folgen einer Ehescheidung werden können. Ich will ein Beispiel nennen: Man stelle ermöglichen. An diesem Verfahren wird der Versor- sich vor, eine Frau in Frankreich wird Opfer von Nach- gungsträger im Rahmen des Versorgungsausgleichver- stellung. Es gelingt ihr, zu erwirken, dass ihr Stalker sich fahrens ebenfalls beteiligt. Durch diese Beteiligung im ihr nicht mehr nähern darf. Damit ist ein gewisser Schutz Verfahren erlangt der Versorgungsträger ein Beschwer- geschaffen. Wenn sie nun aber eine neue Arbeit in Berlin derecht, wenn er materiell in seinen Rechten verletzt ist. annimmt und deswegen nach Deutschland zieht, so geht Wird dennoch der Versorgungsträger fälschlicherweise sie das Risiko ein, dass die gefährdende Person ihr nach- nicht beteiligt oder einem beteiligten Versorgungsträger zieht und sie in Deutschland ungeschützt ist. Sie musste die Entscheidung nicht bekannt gegeben, hat er die Mög- nach bestehender Rechtslage entsprechende Maßnahmen lichkeit, auch nach vermeintlichem Eintritt der Rechts- wieder von Grund auf beantragen, sozusagen bei null be- kraft Rechtsmittel einzulegen, da für ihn nach den allge- ginnen. Das ist eine reelle Einschränkung der Freizügig- meinen Rechtsgedanken keine Fristen laufen. Hat nun keit gerade für schutzbedürftige Personen. nach vermeintlichem Eintritt der Rechtskraft einer der ehemaligen Eheleute erneut geheiratet, besteht die Ge- Künftig hingegen soll die Anwendung ausländischer fahr der Doppelehe, da die alte Ehe nicht rechtskräftig Schutzmaßnahmen in Deutschland ganz einfach werden: geschieden worden ist. Dies will der Gesetzentwurf ver- Die geschützte Person stellt einen Antrag beim für sie hindern. zuständigen örtlichen Familiengericht. Daraufhin wird (B) eine europäische Schutzanordnung erlassen, mit der die (D) Wenn nun allerdings, wie es der Gesetzentwurf vor- Vorkehrungen des ersten Landes, in unserem Beispiel sieht, die Anschlussrechtsmittel der Beteiligten für die- also Frankreich, nun auch in Deutschland gelten. Dies sen speziellen Fall abgeschnitten werden, wird zwar die kann das Familiengericht ausschließlich aus formellen Gefahr der Doppelehe vermieden; das Gesamtkonstrukt Gründen ablehnen, weil beispielsweise wichtige Infor- des Verbundes Ehescheidung bestehend aus Versor- mationen fehlen oder es gar keine Schutzmaßnahme im gungsausgleich, Zugewinnausgleich, Kindes- und Ehe- ersten Land gibt. Ist dies nicht der Fall, so soll die An- gattenunterhalt könnte aber in Schieflage geraten. passung zügig erfolgen. Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Die Beteiligten Gegenüber den Vorschlägen, mit denen sich dieses haben eine Gesamtvereinbarung getroffen, in der ein Haus zuletzt im Jahr 2010 befasst hat, erhält die jetzt ausgeglichenes Verhältnis der zuvor genannten Folgesa- umzusetzende Richtlinie erhebliche Verbesserungen. chen besteht. Da nun aber der Versorgungsträger die Sollte damals noch die geschützte Person in ihrem eige- Möglichkeit hat, einen Baustein des Konstruktes, nämlich nen Land den Antrag stellen, so geschieht dies nun am den Versorgungsausgleich, zu ändern, kann das Gesamte neuen Wohnort und wird vom örtlichen Familiengericht unausgeglichen werden. Für den Fall der nachträglichen behandelt; es sind damit allerlei Zwischenschritte, die Einlegung eines Rechtsmittels des Versorgungsträgers dem Prinzip „schnell und unbürokratisch“ zuwidergelau- müssen die Beteiligten also die Möglichkeit haben, die fen wären, entfallen. Zudem haben die Fraktionen der anderen Folgesachen auch zu ändern. Sie müssen daher SPD und der CDU/CSU beantragt, dass die gefährdende die Möglichkeit der Anschlussbeschwerde behalten. Die Person nicht mehr angehört werden muss, ehe die An- Rechtskraft der Ehescheidung soll unangetastet bleiben. passung erfolgt. Der Schutz des Opfers muss hier deut- Sie sehen, die Sache ist kompliziert. Es besteht aus lich vorgehen. unserer Sicht weiterer Diskussionsbedarf, den wir inner- Die europäische Einigung muss sich auch und gerade halb der Umsetzungsfrist der Gewaltschutzanordnung daran messen lassen, was sie für schutzbedürftige Men- nicht sachgerecht bewältigen können. Deshalb hält es schen erreicht. Solange beispielsweise Frauen bei einem meine Fraktion für notwendig, den Artikel 5 des Gesetz- Umzug in ein anderes europäisches Land befürchten entwurfs abzutrennen. müssen, ihr gesetzlicher Schutz vor Nachstellung falle weg, so lange gibt es eben noch reale Hindernisse, die Dennis Rohde (SPD): Der heute in erster Lesung der Freizügigkeit im Wege stehen. Um es klar zu sagen: beratene Gesetzentwurf dient der Umsetzung einer euro- Eine europäische Einigung, die nur der Wirtschaft und päischen Richtlinie. Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, dem Handel dient, verdient ihren Namen nicht. Erst die 5978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. 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(A) Sicherung der Freiheiten des Einzelnen über die Staaten- danach in einem eigenständigen Gesetz zusammenge- (C) grenzen hinaus – und das schließt den europaweiten fasst. Die gemeinsame Umsetzung und Durchführung Schutz vor Nachstellung und Gewalt ein – macht die eu- erscheint angezeigt, weil beide Rechtsakte sich gegen- ropäische Einigung zu einer wirklichen, zu einem Zu- seitig vervollständigen sollen und dieselbe Zielsetzung sammenwachsen, bei dem der einzelne Mensch an erster haben. Außerdem erfolgt sowohl die Umsetzung der Stelle steht. Richtlinie als auch die Durchführung der Verordnung im Zivilrecht anknüpfend an das Familienverfahrensrecht Ursprünglich sollte mit diesem Gesetz eine Änderung und das materielle Gewaltschutzrecht. Eine VO dieser in § 145 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensa- Vorschriften in einem bereits bestehenden Gesetz er- chen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge- scheint dagegen nicht sachgerecht, da insbesondere im richtsbarkeit, FamFG, verbunden werden. Es geht dabei FamFG bisher keine Vorschriften zur Umsetzung bzw. darum, eine Lücke im Scheidungsrecht zu schließen, bei Durchführung internationaler Rechtsakte enthalten sind. der durch Verwaltungsfehler Ehescheidungen potenziell nicht rechtskräftig werden und so die Gefahr einer Dop- Der Gesetzentwurf beinhaltet zum einen Regelungen, pelehe entsteht. Wir nehmen diesen Abschnitt per Ände- die die Anerkennung von Schutzmaßnahmen ermögli- rungsantrag aus dem Gesetzentwurf heraus – nicht etwa, chen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU in weil wir die Gesetzesänderung für unnötig hielten, sondern Strafsachen erlassen worden sind. Zum anderen regelt er vielmehr, um Zeit für weitere Beratungen zu gewinnen, so- die Ausstellung der Bescheinigung über inländische Ge- dass am Ende auf jeden Fall eine gute, wasserdichte Lö- waltschutzanordnungen, die in anderen Mitgliedstaaten sung erarbeitet wird. Gründlichkeit vor Schnelligkeit: ohne Vollstreckbar-Erklärungsverfahren vollstreckt wer- Das ist eine Maxime der SPD-Bundestagsfraktion, die den sollen. Darüber hinaus enthält er Vorschriften zur wir in die große Koalition getragen haben. Anerkennung und Vollstreckung von zivilrechtlichen Gewaltschutzanordnungen aus anderen Mitgliedstaaten. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion begrüßen es aus- Außerdem wird eine Änderung des FamFG aufgenom- drücklich, dass die europäische Schutzanordnung nun- men, die das Scheidungsverbundverfahren betrifft. Mit mehr deutsches Recht wird. Wir sorgen damit dafür, dass einer Änderung im Rechtsmittelrecht in Ehesachen sol- das europäische Versprechen der Freizügigkeit, Gleich- len falsche Rechtskraftzeugnisse zur Ehescheidung ver- heit und Sicherheit weiter verwirklicht wird. Es ent- mieden werden. spricht unserem Selbstverständnis, dass wir reelle Hin- dernisse der Freizügigkeit erkennen und gesetzliche Da Intention und Inhalt sowohl der Richtlinie als auch Abhilfe schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auch der Verordnung zu begrüßen sind und eine EU-rechtliche über den breiten Konsens, den die europäische Schutz- Pflicht zu deren Umsetzung bzw. Durchführung besteht, (B) anordnung erfahren hat, und die konstruktive Kritik, mit ist die Gesetzinitiative grundsätzlich zustimmungsfähig. (D) der auch der Bundestag erhebliche Verbesserungen be- Da zudem nach bisheriger Prüfung auch keine gravieren- wirkt hat. Ich würde mich – und dies richte ich auch an den handwerklichen oder inhaltlichen Kritikpunkte of- die Oppositionsfraktionen – darüber freuen, wenn diese fensichtlich erkennbar sind, dürften sich die Beratungen sachorientierte konstruktive Zusammenarbeit auch in dazu im Ausschuss als nicht sonderlich konträr erwei- Bezug auf andere Gesetzesvorhaben zum Regelfall wer- sen. Mit anderen Worten: sachlich und rechtlich geprüft den könnte. und bislang für gut befunden. Erforderliche marginale Änderungen, die sich möglicherweise noch als notwen- dig erweisen, können in den anstehenden Beratungen Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Europäische durchgeführt werden. Union hat 2011 die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung und 2013 die Verordnung über die ge- genseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zi- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ge- vilsachen verabschiedet. Beide Rechtsakte sollen sich waltschutzgesetz war ein Meilenstein rot-grüner Rechts- gegenseitig ergänzen und zusammen einen effektiven, und Frauenpolitik. Heute sprechen wir über eine euro- europaweiten Schutz der Opfer von Gewalt gewährleis- päische Dimension des Themas. Die Mitgliedstaaten der ten. Zu diesem Zweck sehen sowohl die Richtlinie als Europäischen Union haben in ihren Rechtsordnungen auch die Verordnung Systeme vor, wonach sowohl straf- unterschiedlich ausgeprägte Schutzmechanismen gegen rechtliche als auch zivilrechtliche Gewaltschutzanord- häusliche Gewalt. Bei der Europäischen Schutzanord- nungen der Mitgliedstaaten auch in den anderen Mit- nung geht es darum, den Schutz aus dem Heimatland ge- gliedstaaten der EU anerkannt und die den Opfern wissermaßen mit über die Grenze nehmen zu können. gewährten Schutzmaßnahmen auf einen anderen Mit- Dafür war ein Instrument gegenseitiger Anerkennung gliedstaat ausgedehnt werden können. Für die Umset- nötig. Hierzu ist eine EU-Richtlinie beschlossen worden. zung der Richtlinie und für die Durchführung der Ver- Diese Richtlinie ist jetzt in nationales Recht umzusetzen. ordnung bedarf es Umsetzungs- bzw. ergänzender Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu ei- Durchführungsvorschriften. Die Richtlinie ist bis zum nige Anpassungen vor. 11. Januar 2015 umzusetzen. Ab diesem Tag gilt auch die Verordnung. Die Koalition hatte ursprünglich vorgesehen, diesen Gesetzentwurf ohne Debatte in die erste Lesung zu ge- Der vorliegende Entwurf beinhaltet die erforderlichen ben. Das wird dem Thema aus unserer Sicht allerdings Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und zur nicht gerecht, zumal sich doch einige Fragen stellen hin- Durchführung der Verordnung. Die Vorschriften werden sichtlich der gesetzlichen Änderungen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5979

(A) Eine dieser Fragen betrifft die vorgesehene Verkür- die durch die Verordnung bedingten nationalen Durch- (C) zung des Rechtsschutzes im Scheidungsverfahren. Wenn führungsvorschriften bis zu dem Tag, ab dem die Ver- ein Träger der Altersvorsorge Rechtsmittel einlegt gegen ordnung gilt, also bis zum 11. Januar 2015, in Kraft sind. die Entscheidung des Familiengerichts, sollen die ge- Dieses Ziel soll mit dem vorliegenden Entwurf erreicht schiedenen Ehegatten künftig kein Anschlussrechtsmit- werden. tel mehr einlegen können, damit die Rechtskraft der Ver- Kernstück des Entwurfs ist dabei Artikel 1, der das bundentscheidung und damit der Ehescheidung nicht Gesetz zum Europäischen Gewaltschutzverfahren, kurz nachträglich aufgehoben werden kann. EU-Gewaltschutzverfahrensgesetz, einführt. § 145 FamFG – Gesetz über das Verfahren in Famili- In Deutschland ist der Gewaltschutz durch das Ge- ensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen waltschutzgesetz zivilrechtlich geregelt. Wer sich Nach- Gerichtsbarkeit – bedeutet damit eine teilweise Aufhe- stellungen, Belästigungen oder tätlichen Angriffen aus- bung des Verbundes zwischen der Ehesache und dem gesetzt sieht, kann eine gerichtliche Anordnung Versorgungsausgleich. Dieser Verbund hat aber eine erwirken, die es dem Täter zum Beispiel verbietet, sich Schutzfunktion gerade gegenüber dem wirtschaftlich dem Opfer auf einen geringeren als den in der Anord- schwächeren Ehegatten. Deswegen sehen unter anderem nung vorgesehenen Mindestabstand anzunähern, oder der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsan- die es ihm untersagt, das Opfer telefonisch oder auf an- waltskammer die Aufhebung an dieser Stelle sehr kri- dere Weise zu belästigen. Bislang reicht die Wirksamkeit tisch. Hier würde mich schon interessieren, wie die Bun- einer solchen Anordnung geografisch bis zu Deutsch- desregierung zu diesen Bedenken steht? lands Grenzen. Im Ausland entfaltet sie keine Wirkung, Ein anderer Aspekt betrifft das Gewaltschutzgesetz Umgekehrt gilt dies für vergleichbare Gewaltschutzan- selbst. Der Deutsche Juristinnenbund hält es für falsch, ordnungen aus dem Ausland. Die durch eine solche An- in dem Gesetzentwurf eine mit § 4 Gewaltschutzgesetz ordnung geschützte Person kann sich, wenn sie sich au- parallel laufende Strafvorschrift – § 23 des neuen EU- ßerhalb der Grenzen des Anordnungsstaates aufhält, Gewaltschutzverfahrensgesetzes – einzufügen, ohne da- nicht auf den Schutz der Anordnung berufen. bei das Gewaltschutzgesetz selbst zu ändern. Eine Dopp- Für den Bereich der EU wird dies jetzt mit der Umset- lung von gleichlautenden Strafvorschriften entspricht si- zung der Richtlinie über die Europäische Schutzanord- cherlich nicht der Rechtsklarheit. nung und der neuen Verordnung über die gegenseitige Ich möchte daher die Chance dieses Gesetzgebungs- Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen verfahrens nicht ungenutzt lassen, um darauf hinzuwei- verbessert. Künftig wird die „Reisefähigkeit“ nationaler sen, dass wir in der Tat über Reformbedarf beim Gewalt- Gewaltschutzanordnungen in der gesamten Europäi- (B) schutzgesetz diskutieren sollten. Man kann sich schen Union gewährleistet sein, dies insgesamt mit Aus- (D) beispielsweise fragen, ob wir nicht eine strafrechtliche nahme Dänemarks und teilweise mit Ausnahme Irlands. Schutzlücke haben, wo keine gerichtliche Anordnung Es bedurfte hierfür auf europäischer Ebene zweier nach § 1 Gewaltschutzgesetz erging, weil sich die Par- Rechtsakte. Denn das Gewaltschutzrecht innerhalb der teien auf einen Vergleich geeinigt haben, dieser Ver- Europäischen Union ist nicht einheitlich zivilrechtlich gleich aber nicht eingehalten wird. geregelt. Etwa in Spanien und Portugal ergehen Gewalt- schutzanordnungen als Nebenfolge im Strafverfahren. Diese und weitere Fragen sollten wir in der Aus- Die Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung schussberatung gründlich beraten. betrifft allein solche, dem deutschen Recht zunächst fremde Schutzanordnungen. Demgegenüber erfasst die Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Ihnen Schutzmaßnahmen in Zivilsachen solche Anordnungen liegt heute der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung wie die nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz, näm- der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutz- lich zivilrechtliche Schutzanordnungen. Richtlinie und anordnung, zur Durchführung der Verordnung (EU) Verordnung ergänzen sich also und sorgen gemeinsam Nummer 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung für einen umfassenden EU-weiten Opferschutz im Be- von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur Änderung reich des Gewaltschutzrechts. des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Es ist nun aber nicht so, dass die Richtlinie uns zwin- vor. gen würde, in Zukunft auch in Deutschland ein straf- rechtlich ausgestaltetes Gewaltschutzsystem vorzuhal- Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei EU-Rechtsakte ten. Und demgemäß bleibt es auch zukünftig dabei, dass umgesetzt werden, die die grenzüberschreitende Wir- Gewaltschutz in Deutschland allein zivilrechtlich er- kung von nationalen Gewaltschutzanordnungen inner- folgt. Der vorliegende Entwurf ändert hieran nichts. Dies halb der EU gewährleisten sollen. Diese Rechtsakte sind bedingt aber ein rechtstechnisches Novum, nämlich die im Kontext der Bestrebungen des Rates und der Europäi- Transformation strafprozessualer Anordnungen aus dem schen Kommission zu sehen, EU-weit einen besseren Ausland in unser zivilrechtliches System. Der vorlie- Schutz der Opfer von Gewalt zu bewerkstelligen. gende Entwurf enthält die hierzu erforderlichen gesetzli- Deutschland hat dieses Bestreben stets unterstützt, und chen Maßgaben in den §§ 1 bis 11. Danach erlässt das die Bundesregierung schlägt daher vor, die Richtlinie angerufene deutsche Gericht auf der Grundlage der aus- jetzt umzusetzen und dafür Sorge zu tragen, dass auch ländischen Ausgangsmaßnahme eine vergleichbare An- 5980 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) ordnung nach dem Gewaltschutzgesetz, aus der das Op- tionell vorhanden und mit der notwendigen fachlichen (C) fer dann in Deutschland vollstrecken kann. Qualifikation besetzt sind. Darüber hinaus und für Deutschland von größerer Be- Drittens legen die aufsichtsrechtlichen Anforderun- deutung führt der Entwurf die zivilrechtliche Verord- gen erhöhte Berichtspflichten an die BaFin fest. Die Zu- nung durch. Ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt ist hier sammenarbeit der Unternehmen mit der Aufsicht wird die Abschaffung des sogenannten Exequaturverfahrens. gestärkt und schafft dadurch Möglichkeiten einer enge- Nach der Verordnung können EU-Bürger dann im EU- ren Kontrolle. Ausland unmittelbar aus jeder nationalen zivilrechtli- chen Gewaltschutzanordnung vollstrecken, ohne dass es Schon im Jahr 2009 hat die EU-Kommission die dort noch eines zwischengeschalteten Anerkennungsver- Richtlinie verabschiedet. Die Arbeiten daran hatten fahrens bedürfte. Dies gilt auch umfassend für alle Ge- schon vor der Finanz- und Währungskrise begonnen. waltschutzanordnungen nach dem deutschen Gewalt- Dennoch hat die Krise der Richtlinie in ihrer Entwick- schutzgesetz. Ein deutscher Bürger kann sich etwa bei lung ihren Stempel aufgedrückt. Solvency II wird heute spanischen Behörden unmittelbar auf die Geltung einer in einem Atemzug genannt mit den europäischen solchen deutschen Anordnung berufen, aus der dann Finanzmarktreformen von Basel II und III. nach spanischem Recht vollstreckt und Opferschutz her- Die Finanzkrise hatte weitaus weniger Auswirkun- gestellt wird. gen auf die Versicherungswirtschaft als auf den Banken- Die Artikel 2 bis 4 enthalten notwendige Folgeände- sektor. Die Versicherungskonzerne haben aus der Er- rungen in bereits bestehenden Gesetzen, so insbesondere fahrung vergangener Zeiten eine sehr konservative im Kostenrecht. Anlagestrategie gefahren. Dies hat dazu geführt, dass heute viele Versicherer überwiegend Anleihen in ihren Ich bitte Sie nun um Ihre Zustimmung. Depots haben. Eine einseitige Anlagestrategie ist aber auch eine Form von hohem Risiko, da Marktveränderun- gen voll auf die komplette Anlage durchschlagen. Anlage 16 Dieses Risiko wird unter Solvency II neu bewertet Zu Protokoll gegebene Reden werden können. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Mit der Risiko- und Prinzipienbasiertheit des novel- Modernisierung der Finanzaufsicht über Versi- lierten Aufsichtsgesetzes werden diese Schwächen der cherungen (Tagesordnungspunkt 26) heutigen Anlageverordnung ausgemerzt. (B) Deswegen ist es richtig, mit Solvency II analog zu (D) Anja Karliczek (CDU/CSU): Mit der heutigen Le- den Banken auch die Versicherer zu verpflichten, sich sung beginnt die Umsetzung der europäischen Richtlinie mit den zukünftigen Risiken ihrer Bilanzen stärker aus- Solvency II in nationales Recht. Der Entwurf der Bun- einanderzusetzen. Die Perspektive verändert sich. Sol- desregierung für das Gesetz zur Modernisierung der Fi- vency II fordert die Versicherungsunternehmen auf, ihre nanzaufsicht liegt vor. Im März kommenden Jahres wer- Bilanzen mit Blick darauf zu betrachten, was zukünftige den die Beratungen im Plenum und den Ausschüssen Marktveränderungen für ihre Kapitalanlage bedeuten. abgeschlossen sein. Dann haben wir ein Mammutprojekt bewältigt, denn mit Solvency II wird die Versicherungs- Wir wollen mit Solvency II für die Versicherungsunter- aufsicht in Europa grundlegend reformiert. nehmen mehr Stabilität schaffen; denn Versicherungen als Kapitalsammelstellen sind für unsere Volkswirtschaft von Die einheitliche europäische Aufsicht über Versiche- immenser Bedeutung. Allein die Lebensversicherer ha- rungsunternehmen ist für uns hier in Deutschland ein ben im letzten Jahr 900 Millionen Euro Anlagevermögen Wechsel der Aufsichtsphilosophie und damit eine He- eingesammelt. Die Versicherungswirtschaft insgesamt rausforderung, die nur mit gemeinsamen Anstrengungen hat 2013 fast 1,4 Billionen Euro an Kapital angelegt. bewältigt werden kann. Dies erklärt auch den hohen Regulierungsgrad der Sie trägt veränderten Rahmenbedingungen in der Fi- Branche durch das Versicherungsaufsichts- und Versi- nanzindustrie Rechnung und führt in einer hochregulier- cherungsvertragsgesetz. Er ist Ausdruck des gesamtge- ten Branche Entscheidung und Verantwortung weiter zu- sellschaftlichen Stellenwertes der Branche für unsere sammen. Volkswirtschaft. Worüber reden wir im Detail? Neben den wirtschaftlichen und finanzpolitischen As- Das Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht in pekten hat diese Reform aber auch eine gesellschafts- der Versicherungswirtschaft besteht aus drei Säulen: ei- politische Aufgabe: Wir wollen sicherstellen, dass die ner quantitativen, einer qualitativen und einer aufsichts- Versicherten Vertrauen haben in die Garantien, die ihnen rechtlichen. seitens der Versicherungsunternehmer gegeben wurden. Die quantitativen Anforderungen legen eine Eigen- Fast jeder Bürger hat eine Versicherung. Sie dienen mittelunterlegung der Anlagen nach Risikoaspekten fest. der Absicherung von Lebensrisiken oder der Vorsorge auf das Alter. So sollen über 90 Millionen Lebensversi- Die qualitativen Anforderungen fordern den Nach- cherungsverträge auch dafür sorgen, dass Einkünfte in weis der Unternehmen, dass Schlüsselpositionen funk- der Zeit nach dem Erwerbsleben gesichert bleiben. Die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5981

(A) Menschen werden glücklicherweise immer älter. Die rung ist, die nicht mal eben hopp, hopp zu erfüllen ist. (C) Absicherung im Alter erhält damit aber eine immer grö- Deshalb sieht das Gesetz eine Übergangszeit von 16 Jah- ßer werdende Bedeutung. ren vor, um diese Anforderungen zu erfüllen. Die neuen Anforderungen – das betone ich ausdrücklich und gehe Die Finanz- und Schuldenkrise hat Vertrauen in Kapi- davon aus, dass Sie es genauso sehen – sind ein wichti- talanlagen zerstört. Mit Solvency II machen wir nun ger Beitrag zur Stabilität der Finanzbranche insgesamt. weitere Schritte, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Wir tun dies, indem wir mit Solvency II den Fokus auf Mit den qualitativen Anforderungen der zweiten die langfristige Tragfähigkeit von Risiken durch Versi- Säule erhält die Geschäftsorganisation der Unternehmen cherungsunternehmen legen. neue Regeln. Bestimmte Schlüsselfunktionen wie Risi- Solvency II ist ein völlig neues Modell. Wurden die kocontrollingfunktionen, Compliance-Funktionen, versi- Eigenmittelanforderungen der Versicherer bislang pau- cherungsmathematische Funktion und interne Revision schal bestimmt und die Risiken begrenzt, so folgt Sol- sind von den Unternehmen einzurichten und zu unterhal- vency II einem risiko- und prinzipienorientierten Ansatz. ten. Dazu zählt auch ein adäquates Risikomanagement- Die Versicherer werden künftig frei entscheiden können, system. Kern des Riskomanagementsystems ist die Ri- worin sie investieren. Sie müssen aber im Gegenzug alle siko- und Solvabilitätsbeurteilung der Unternehmen, eingegangenen Anlagerisiken adäquat mit Eigenmitteln kurz ORSA. Durch die Kalkulation des eigenen Risikos unterlegen. Zudem müssen sie regelmäßig prüfen, ob sie werden Risiko- und Kapitalmanagement miteinander ihr Risiko auch angemessen abbilden. Das ist ein grund- verknüpft. Die Inhaber der entsprechenden Schlüssel- sätzlich neues Modell der Versicherungsaufsicht. funktionen werden ihre Eignung mit der Einführung von Solvency II nachweisen müssen. Natürlich bedeuten die neuen Eigenmittelvorschriften für die Unternehmen eine große Herausforderung. Auch Säule III schließlich umfasst die Berichtspflichten ge- die qualitativen Anforderungen sind nicht einfach umzu- genüber der Versicherungsaufsicht und der Öffentlich- setzen. Gleiches gilt für die neuen Berichtspflichten. Mit keit. Einmal pro Jahr erhält die Aufsicht im sogenannten ihnen ist viel Aufwand verbunden. Doch ich bin sicher: Regular Supervisory Report, RSR, qualitative und quan- Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. titative Informationen zur Geschäftstätigkeit, Gover- nance und Risikolage des Unternehmens. In einem Sol- Große, weltweit agierende Versicherungsunterneh- venz- und Finanzbericht, dem Solvency and Financial men brauchen stabile Strukturen. Deshalb führt an die- Condition Report, SFCR, wird außerdem die Öffentlich- sen Maßnahmen kein Weg vorbei. keit über die Risikosituation und das Kapitalmanage- Welche Ziele verfolgen wir im Einzelnen mit Sol- ment sowie zur Geschäftstätigkeit informiert. (B) vency II? (D) Dies alles steht detailliert auf den vor uns liegenden Grundsätzlich wollen wir mit Solvency II den Schutz 362 Seiten. Die werden wir nun in die Ausschüsse über- der Versicherten in Europa stärken. Wir wollen einheitli- weisen. Bis zum März des kommenden Jahres liegen da- che Regeln für den Wettbewerb und für die Aufsicht mit intensive Beratungen vor uns, in denen die noch of- schaffen. fenen Fragen erörtert werden. Die aufsichtsrechtlichen Bestimmungen werden er- Die Versicherungswirtschaft ist ein tragender Teil des weitert, um Risiken und Missstände frühzeitig zu erken- Finanzsystems unserer Volkswirtschaft. Gute Lösungen nen und gegen sie einschreiten zu können. für eine moderne Aufsicht sind deshalb im Sinne jedes Strengere Anforderungen an das Risikomanagement einzelnen Bürgers. Der Aspekt der Altersvorsorge treibt der Versicherer erhöhen die Sicherheit. Anlagen werden mich in diesem Zusammenhang sehr um. künftig nach ihrem Risiko bewertet und die Versiche- Die neue Aufsicht ist ein komplexes Gesetzeswerk. rungskunden erhalten mehr Transparenz. Deshalb wünsche ich mir eine konstruktive Zusammen- Zurück zu den drei Säulen: arbeit zwischen allen Beteiligten. Uns alle eint das Ziel, die Stabilität der Versicherungsunternehmen und damit Säule I regelt die quantitativen Anforderungen. Die das Vertrauen der Versicherten zu stärken. Ich denke, das Kapitalausstattung eines Versicherungsunternehmens ist aller Mühe wert. wird nach mathematischen Kriterien über die Risiko- struktur errechnet und damit dessen Risikotragfähigkeit ermittelt. Die Bewertung von Aktiva und Passiva orien- Manfred Zöllmer (SPD): Wir haben heute Vormittag tiert sich künftig am Markt und dessen Risiken und nicht das BRRD-Umsetzungsgesetz verabschiedet, das eine mehr an der HGB-Bilanz. So ist eine Anleihe – wie wir wichtige Säule der Bankenunion mit seinem Restruktu- in der Vergangenheit festgestellt haben – ja nicht immer rierungs- und Abwicklungsregime darstellt. Die europäi- risikolos. Andersherum ist ein kleines Investment einer sche Bankenunion ist ein Quantensprung, was Aufsicht großen Kapitalanlagegesellschaft in einen Investment- und Abwicklung angeht, und Ergebnis einer Lehre aus fonds junger Unternehmen kein unüberschaubares Ri- der globalen Finanzkrise. siko. Auf die Diversifizierung der Anlage kommt es an. Die Lehren aus der Finanzkrise haben uns aber auch Wir wissen, dass diese grundlegende Änderung in der gezeigt, dass nicht nur von Banken eine Gefahr ausgeht, Bewertung von Bilanzpositionen einhergehend mit den wenn sie im Zweifel zu groß sind, um zu scheitern, son- daraus entstehenden Kapitalbedarfen eine Herausforde- dern auch von Versicherungsunternehmen. Es gibt auch 5982 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) in Europa systemrelevante Versicherungsunternehmen. der Testierfähigkeit der Solvabilität, die Umsetzung von (C) „Too big to fail“ gilt auch für sie. Leitlinien der EIOPA oder Übergangsfristen. Wir erinnern uns, dass nicht nur Banken durch den Manche Kritik scheint berechtigt, bei mancher scheint Steuerzahler gerettet werden mussten, sondern der ame- die Idee vorzuherrschen, mit Einführung von Solvency II rikanische Steuerzahler musste mit 182 Milliarden Dol- würden langjährig etablierte nationale Standards kom- lar für den Versicherungsgiganten American Internatio- plett aufgegeben. Man wird nicht langgehegte Rege- nal Group, AIG, einspringen. Die Schulden hat dieser lungswünsche quasi durch die Hintertür verwirklichen Versicherungskonzern zwar inzwischen zurückgezahlt, können. Andererseits scheint manche Befürchtung grö- aber die Grundproblematik einer wirksamen und auch ßer zu sein als die tatsächliche gesetzgeberische Auswir- strengeren Finanzaufsicht für Versicherer bestand. kung. Vor uns liegt nun ein Gesetzentwurf, der eine Ver- Insgesamt werden wir darauf achten müssen, dass schärfung der nationalen Versicherungsaufsicht vorsieht. Maß und Mitte, also in diesem Fall insbesondere Ver- Damit wird die sogenannte Solvency-II-Richtlinie der hältnismäßigkeit und Proportionalität, gewahrt bleiben. EU in nationales Recht gegossen. Jahrelang ist über Neue Anforderungen sollten beispielsweise kleine Un- Details intensiv diskutiert worden. Nun liegt ein über ternehmen nicht überlasten, weil etwa Berichtspflichten 360 Seiten starkes Mammutwerk vor uns. einen kaum zu erfüllenden bürokratischen Aufwand be- deuten. Die Größe der Versicherer und ihre jeweiligen Die wichtigste Neuregelung im Gesetzentwurf ist Risiken müssen wir beachten und entsprechend bewer- eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften für Versi- ten – vergleichbar der Systemrelevanz bei den Banken. cherungen. Diese orientieren sich nicht mehr allein an der Größe eines Versicherers, sondern berücksichtigen Die neuen Regelungen sollen zum 1. Januar 2016 in auch andere Risikofaktoren wie etwa Kapitalmarkt- und Kraft treten. Bis 31. März 2015 muss die Richtlinie in Kreditrisiken, die ebenfalls die Existenz eines Unterneh- nationales Recht umgesetzt sein. Dies ist ehrgeizig aber mens bedrohen könnten. zu schaffen. Diese neuen Eigenkapitalvorschriften sollen das Mit diesem Gesetzesvorhaben wird die Regulierung „operationelle Risiko“ eines Versicherungsunterneh- der Versicherungsbranche harmonisiert, die Branche ri- mens berücksichtigen. Das ist das Verlustrisiko, das sich sikofester gemacht, und insgesamt schaffen wir damit aus der Unangemessenheit oder dem Versagen von inter- mehr und notwendiges Vertrauen. nen Prozessen, Mitarbeitern oder Systemen oder durch externe Ereignisse ergeben kann. Die Versicherungen Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Mit der vor- (B) werden mit dem Gesetz zukünftig verpflichtet sein, auch liegenden Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes, (D) für diese Risiken Kapital bereitzuhalten. Dies ist ein sehr VAG, geht die Umsetzung des neuen europäischen Auf- wichtiger Schritt zur Stabilität innerhalb der Versiche- sichtsrechts, Solvency II, in die vorerst letzte Runde. Es rungsbranche. wird zweifelsohne ein Epochenwechsel eingeleitet. Aber Ferner erfolgt im Gesetz eine Überarbeitung der Be- dieser muss auch zwingend eingeleitet werden, damit wertungsvorschriften. Vermögenswerte und Verbindlich- der Versicherungsmarkt nicht zum Ursprung der nächs- keiten der Versicherungen sollen stärker an Marktwerten ten großen Finanzkrise wird. gemessen werden. Die Tochterunternehmen von großen Umso unverständlicher ist, dass die Versicherungs- Versicherern werden sich zusätzlichen Aufsichtspflich- branche und ihre Lobby schon wieder das große Klage- ten unterziehen müssen, bei denen die Finanzlage der lied anstimmen. Rechtzeitig dafür hat ja der Gesamtver- gesamten Versicherungsgruppe berücksichtigt wird. band der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, Mit dem Gesetz wird auch eine bessere Zusammenar- seine Medienabteilung entsprechend aufgerüstet. Das beit mit anderen nationalen Aufsichtsbehörden der EU wäre aber gar nicht nötig gewesen. Denn ohne Zweifel auf den Weg gebracht. Das Aufsichtsrecht im europäi- gibt es für die Versicherungsbranche viel zu tun, es wird schen Binnenmarkt wurde harmonisiert. Damit wird be- ihr schon einiges abverlangt. Vielleicht wird an einigen rücksichtigt, dass viele Versicherer grenzüberschreitend Stellen auch zu viel abverlangt, wenn man zum Beispiel tätig sind. Beispielsweise müssen Erstversicherer zu- an die umfänglichen formalen Anforderungen, die Be- künftig ihre gebuchten Prämienbeträge, die Höhe der Er- richtspflichten denkt, die Kosten mit sich bringen. Ge- stattungsleistungen und Rückstellungen nach Mitglied- rade kleinere Versicherungen kann dies vor größere He- staaten aufgeschlüsselt mitteilen. rausforderungen stellen, weswegen man über geringere formale Anforderungen nachdenken sollte, solange we- Mit dem Gesetz soll auch eine gewisse Abhängigkeit der die angestrebte systemische Risikobegrenzung gelo- von Ratings zurückgedrängt werden, um letztlich wei- ckert wird noch der Verbraucherschutz bzw. Versicher- tere Gradmesser für die Solvenz eines Unternehmens zu tenschutz leidet. finden. Dies sind zugleich die beiden Begriffe, die nach Auf- Wie bei jedem Gesetzentwurf gibt es auch beim aktuel- fassung der Linken als Fixpunkte zur Beurteilung der len bereits jetzt einige Kritikpunkte, die wir uns im Ver- VAG-Novelle herangezogen werden sollten. Aus dieser lauf des Gesetzgebungsverfahrens genauer anschauen und Perspektive bleiben dann doch einige Unklarheiten und die Gegenstand der Sachverständigenanhörung Anfang Kritikpunkte bestehen. Ich möchte im Folgenden exem- Dezember sein werden. Dabei geht es etwa um Aspekte plarisch auf ein paar Probleme eingehen: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5983

(A) Zum einen enthält der Gesetzentwurf nun die Rege- Modelle zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderun- (C) lungen, die bereits vor einiger Zeit mit dem Lebensversi- gen nebeneinander existieren. Dies erschwert letztlich cherungsreformgesetz an den Start gebracht wurden. Ins- die Arbeit der Aufsicht, was insgesamt die Finanzmarkt- besondere habe ich die §§ 139 und 145 des Entwurfs zu stabilität beeinträchtigen kann. der Überschussbeteiligung vor Augen. Sie können nun sagen, dass es da doch gar nicht um die Aufsicht gehe, Hier setzt nun gleichsam eine grundsätzliche Kritik dass dies doch kalter Kaffee sei, aber dennoch ist für die an: Die Eigenmittelanforderungen sind schon von der Versicherten an dieser Stelle ein nochmaliger Hinweis Versicherungslobby in Brüssel Stück für Stück nach unten wichtig: Mit dieser Regelung können ihnen die Bewer- gedrückt worden. Dadurch behalten die Versicherungsun- tungsreserven gekürzt werden. Vertraglich zustehende ternehmen höhere ausschüttungsfähige Gewinne – zulas- Ansprüche an Überschüssen verbleiben so in den Versi- ten ihrer Kunden. Alles in allem werden die in Solvency II cherungsunternehmen. Die Versicherten sind die Ge- zugrunde gelegten Eigenmittelanforderungen die Versi- lackmeierten. Dass dies ungerecht ist, kann man nicht oft cherungen nicht schützen und festigen können, wenn es genug wiederholen. mal zu einem wilden Sturm statt zu einem lauen Lüft- chen kommt. Es besteht aus unserer Sicht tatsächlich die An dieser Stelle muss man zudem die freien Rückstel- Gefahr, dass derart Versicherungen zu einem Ursprung lungen für Beitragsrückerstattung, freie RfB, erwähnen. für eine kommende Finanzkrise werden können. Auch Sie gehören zu dem großen Überschusstopf, aus dem an weil die Regulierungsvorschriften gleichgerichtet zu de- die Versicherten ausgeschüttet werden soll. Doch der nen im Bankensektor wirken, was im Krisenfall verstär- vorliegende Gesetzentwurf verfestigt, dass diese freien kend wirken kann. Die Gelackmeierten wären dann nicht RfB als Eigenmittelersatz missbraucht werden. Eigen- nur die Versicherten, sondern gleich alle Steuerzahlerin- mittel werden schlichtweg durch Kundengelder ersetzt, nen und Steuerzahler, wenn sie zur Rettung maroder In- dadurch sinkt zugleich die Überschussbeteiligung der stitute herangezogen werden. Versicherten. Auch dies ist höchst ungerecht. Ganz zu schweigen von den immensen Gefahren für Taschenspielertricks sind aus meiner Sicht absolut die Altersvorsorge der Menschen, was uns Linke nur da- fehl am Platze, wenn es darum geht, den Versicherungs- rin bestärkt, die Altersvorsorge von den Risiken des sektor auf Jahre zu stabilisieren und risikofester zu ma- Kapitalmarktes zu entkoppeln und statt Versicherungs- chen. Während die beiden eben genannten Fälle eher den unternehmen durch die Propagierung privater, kapitalge- Verbraucher- bzw. Versichertenschutz betreffen, bezie- deckter Altersvorsorge zu mästen, endlich wieder die ge- hen sich folgende Punkte auf die Frage, ob im Gesetz- setzliche Rente entscheidend zu stärken. entwurf tatsächlich für eine ausreichende systemische Es führt kein Weg daran vorbei, aus Gründen der ge- (B) Risikobegrenzung gesorgt wird. samtwirtschaftlichen Stabilität und des Versicherten- (D) Kritisch ist, dass sich durch die angestrebten Neure- schutzes beim Gesetzentwurf nachzubessern. gelungen der Derivatehandel ausweiten kann, weil auf- grund der Risikosensitivität von Solvency II die Nach- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): frage nach Derivaten zur Absicherung eben dieser Mit Solvency II betreten wir bei der Regulierung der Risiken steigen wird. In § 15 Absatz 1 und § 124 Absatz Versicherungen eine neue Welt. Der Systemwechsel 1 Nummer 5 VAG-E ist eine Begrenzung des Deriva- ähnelt dem des Übergangs von Basel I zu Basel II im tehandels kaum gegeben, wenn derartige Finanzinstru- Bereich der Bankenregulierung. Wie bei den Regeln von mente schon zur „Erleichterung einer effizienten Portfo- Basel II den Banken wird nun den Versicherungsunter- lioverwaltung“ in großem Umfang Verwendung finden nehmen die Möglichkeit eingeräumt, ihre Anlagerisiken dürfen. Die Finanzkrise hat gezeigt, wozu der blauäu- mit mehr Eigenverantwortung selbst einzuschätzen und gige Umgang mit Derivaten führen kann. Hier sollten diese Einschätzungen als Grundlage für die Berechnung also aus Sicht der Linken noch Regelungen eingebaut ihres regulatorischen Eigenkapitals zu verwenden. werden, um die gesamtwirtschaftliche Stabilität nicht zu gefährden. Beide Systemwechsel lehnen wir ab. Im Bankbereich hat sich inzwischen gezeigt, dass ein höheres Maß an Des Weiteren sind die internen Modelle nicht unpro- Komplexität der Regeln keineswegs zu mehr Effizienz blematisch, welche von Versicherungen anstelle eines führt, wie anfangs behauptet wurde, und schon gar nicht Standardmodells zur Berechnung der aufsichtsrechtli- zu mehr Stabilität. Im Gegenteil: In der Summe führte chen Eigenmittelanforderungen – in Abhängigkeit vom der Systemwechsel dazu, dass die Banken weniger Risiko der Vermögensanlagen – genutzt werden dürfen. Eigenkapital vorgehalten haben. Es ist nicht erkennbar, Der Grundsatz bei Solvency II lautet: „Mehr Risiko er- warum die gleichen Hoffnungen im Versicherungssektor fordert mehr Sicherheiten“. Doch dieser Grundsatz wird nun erfüllt werden sollten. Mehr Freiheiten zur Selbstre- öfter durchbrochen. Nicht nur dadurch, dass Staatsanlei- gulierung durch das selbstständige Einschätzen der Risi- hen aus dem europäischen Wirtschaftsraum per se als ri- ken, sogenanntes ORSA: Own Risk Solvability Assess- sikolos angesehen werden. Gerade interne Modelle sind ment, führen nicht zu stabileren Unternehmen und schon problematisch, weil sie die Möglichkeit bieten, eigene gar nicht zu stabileren Finanzmärkten. Doch damit nicht Risiken klein zu rechnen. Erst recht, wenn aufgrund sehr genug: Versicherungsunternehmen haben auch mehr langer Übergangsfristen genug Zeit zum kreativen Trick- Freiraum, zu entscheiden, in welche Anlagen sie inves- sen bleibt. Ferner werden Kontrolle sowie Vergleichbar- tieren. Die Begrenzung auf bestimmte Anlageformen keit zwischen den Versicherungen erschwert, wenn zig wird aufgehoben, die Anlageverordnung fällt ersatzlos 5984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) weg. Es müssen lediglich Prinzipien der unternehmeri- pflichten oder Organisationserfordernisse überfordert (C) schen Vorsicht eingehalten werden und die Anlage- werden. Wie bereits bei Basel II profitieren von den risiken angemessen berücksichtigt werden. Was ange- schönen neuen Freiheiten in erster Linie die großen Ver- messen ist, so befürchte ich, wird in Hinterzimmern sicherungsunternehmen. Als besonderes Schmankerl der Aufsichtsbehörden ausgehandelt. „Prinzipienbasiert können sie sogar wählen, für welche Risikoklassen sie anstatt regelbasiert“ ist das Stichwort. Im Sinne einer ein internes Modell verwenden und für welche sie ihre einfachen, transparenten und nachvollziehbaren Regu- Risiken mit dem Standardmodell bewerten. Eine Einla- lierung ist das garantiert nicht, und ob es im Sinne der dung zum Rosinenpicken, um die Kapitalanforderungen Versicherungsnehmer ist, muss sich erst noch zeigen, es noch weiter herunterzurechnen. Kleine Unternehmen darf jedoch zumindest bezweifelt werden. kommen zwar in den Genuss aller Nachteile einer über- komplexen Regulierung, sie können sie jedoch nicht in Schon die zahlreichen Auswirkungsstudien zur ver- dem Maße nutzen, wie es die Großunternehmen tun meintlich richtigen Kalibrierung der Modellparameter können. So müssen nach dem aktuellen Entwurf des Ver- sowie die wiederholte Verschiebung des Inkrafttretens sicherungsaufsichtsgesetzes auch kleine Unternehmen des neuen Aufsichtssystems zeigen, wie komplex dieses ihre Solvabilitätsübersicht von einem Wirtschaftsprüfer System ist. Schon die Rechtssetzung auf europäischer testieren lassen. Die Solvabilitätsübersicht ist eines der Ebene hat sich immer wieder verschoben. Dann sollte Kernstücke der neuen Aufsicht. Die Prüfung dieses Solvency II 2012 in nationales Recht umgesetzt werden. Kernstücks sollte eigentlich Sache der Aufsicht sein. Es Auch daraus wurde nichts. Inzwischen sind fünf Auswir- ist schon falsch, dass die BaFin diese Kernaufgabe an kungsstudien durchgeführt, die Parameter wurden unter private Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auslagert. Lobbyeinfluss immer wieder verändert, und Solvency ist Noch falscher ist es allerdings, dass es für kleine Unter- Ende 2014 immer noch nicht in Kraft. Einfache Regulie- nehmen keine Ausnahmen von der Vorschrift der Zertifi- rung sieht anders aus. zierung gibt. Hier könnte die BaFin ohne Probleme ihren Job selbst erledigen. Da die Bewertung der Anlagen zwingend dem Fair- Am Ende will ich einen positiven Punkt setzen: Aus Value-Prinzip folgt, bringt das neue Regulierungssystem unserer Sicht ist es gut, dass weiterhin an dem deutschen zudem erhebliche Risiken prozyklischer Wirkungen mit Konzept der Missstandsaufsicht festgehalten wird. Dies sich. Das gesamte Finanzsystem wird in der Folge geht zwar über eine reine eins-zu-eins-Umsetzung hi- dadurch noch volatiler. Denn wenn im Finanzmarkt die naus, lässt der Aufsicht aber den nötigen Entscheidungs- Kurse fallen, werden die Versicherungen nun mehr da- spielraum zum Eingreifen, wenn sie Missstände erkennt. von betroffen sein. Versicherungen, die ja in der Regel Gut ist auch, dass künftig das Hauptziel der Beaufsichti- ein sehr langfristiges Geschäftsmodell haben, werden gung durch die BaFin der „Schutz der Versicherten und (B) künftig eher im Gleichlauf mit den Banken handeln und der Begünstigten von Versicherungsleistungen“ sein (D) ihr Verhalten den Risikomodellen anpassen. Für den wird. Dieses Ziel muss die BaFin erfüllen und die Auf- Finanzmarkt als Ganzen sind solche parallelen Entschei- gabe der Missstandsaufsicht endlich ernst nehmen! Der- dungen im Versicherungs- wie im Bankbereich fatal. zeit scheint es allerdings so zu sein, dass die BaFin ihren Eine mögliche Abwärtsspirale verschärft sich schneller gesetzlichen Auftrag, Missstände bei Versicherungsun- und tiefer. ternehmen zu vermeiden oder zu beseitigen, nicht erfüllt. Dafür gibt es viele Beispiele wie Debekas jahrzehntelan- Zwar werden Unternehmen weitgehend freie Hand gen illegalen Kauf von Daten, Ergos Lustreisen, Infinus’ haben, ihren Kapitalbedarf selbst zu ermitteln. Aller- Insolvenz oder den Fall Mehmet Göker mit seiner MEG. dings legt der Gesetzgeber wichtige Parameter, Rahmen- Nach den Bankenskandalen waren sich alle einig, dass daten und Aufsichtsprozesse fest. Hier stellt sich die es eine Neuaufstellung der Bankenaufsicht braucht. Eine Frage, welche Rolle dem Parlament zukommt. Die solche Neuausrichtung muss es nun auch für die Versi- entscheidenden Fragen und Kennzahlen der künftigen cherungsaufsicht geben. Wir haben als Gesetzgeber die Regulierung werden auf die Fachebene delegiert. Im Aufgabe, die umfassende Reform des Versicherungsauf- deutschen Umsetzungsgesetz gibt es zu diesem Zweck sichtsgesetzes zu nutzen, um neben der Einführung der insgesamt 14 Verordnungsermächtigungen. Wir werden neuen Regeln auch dafür zu sorgen, dass diese adäquat als Parlament lediglich über die leere Hülle Versiche- umgesetzt werden. Dafür werden wir Grüne im Parla- rungsaufsichtsgesetz abstimmen. Die diese Hülle ausfül- ment uns mit aller Kraft einsetzen. lenden Normen und Vorschriften werden von der BaFin bzw. dem BMF und auf europäischer Ebene von Kommission oder EIOPA erlassen. Nicht selten unter er- Anlage 17 heblichem Einfluss von Lobbygruppen, aber jeweils ohne Diskussion im Parlament. Das Parlament ist aus Zu Protokoll gegebene Reden diesen Diskussionen, die letztendlich entscheidend für zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur die Regulierungsziele sind, komplett ausgeschlossen. Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll- kodex der Union und zur Änderung weiterer Die Struktur des deutschen Versicherungsmarkts ist traditionell sehr kleinteilig. Dies muss sich auch in der steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs- Regulierung widerspiegeln. Auch die kleinen Unterneh- punkt 27) men müssen zwar strengen Regeln unterliegen in Bezug auf ihre Solvabilität. Allerdings dürfen sie nicht durch Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers- überzogene regulatorische Anforderungen wie Berichts- ter Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgabenord- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5985

(A) nung an den Zollkodex der Union und zur Änderung lichkeiten entgegenwirken, indem alle Aufwendungen (C) weiterer steuerlicher Vorschriften. des Arbeitgebers anteilig beim Arbeitnehmer berück- sichtigt werden müssen. Auch wenn der sperrige Titel etwas anderes suggerie- ren will, maßgeblich ist, dass mit diesem Gesetz über- Vierter Punkt: Wir erweitern den Kindergeldanspruch wiegend steuerrechtliche Anpassungen und einige tech- während einer Zwangspause von höchstens vier Mona- nische Änderungen vorgenommen werden sollen, die in ten, die zwischen einem Ausbildungsabschnitt und Zei- der Vergangenheit jeweils mit Jahressteuergesetzen ge- ten der Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes liegen. regelt wurden. Fünfter Punkt: Besonders erwähnenswert ist die Ein- Wir sind verpflichtet, mit diesem Gesetzentwurf ins- führung einer Verordnungsermächtigung als Schnellre- besondere die betroffenen Regelungen der Abgabenord- aktionsmechanismus zur vorübergehenden Einführung nung rechtzeitig an den neuem Zollkodex der Union an- neuer Tatbestände in das Reverse-Charge-Verfahren zur zupassen. Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug. Diese Maßnahme ist als Umsetzung von Unionsrecht zunächst auf einen Warum dies in diesem Jahr nicht in einem einzigen Zeitraum von neun Monaten beschränkt. einheitlichen Gesetzentwurf erfolgen konnte – welcher vor allem zeitlich weit genug vor dem vorgesehenen In- Auch bei der Steuergesetzgebung gilt der bekannte krafttretenszeitpunkt beraten und abgeschlossen werden Satz, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es kann –, müssen wir im Rahmen der Gespräche nochmals eingebracht worden ist. Allein die Bundesländer werden genauer eruieren. – das zeigen die Erfahrungen aus den vorangegangenen Für die Beraterbranche und die Steuerpflichtigen ist Steuergesetzen – eine Vielzahl von Forderungen, teils es sehr unbefriedigend, dass ein Gesetz mit wichtigen technischer Natur, aber auch politisch umstrittene Rege- steuerrechtlichen Anpassungen nur wenige Tage nach lungen in das Verfahren einbringen wollen. seiner Verkündung in Kraft treten soll. Ein Punkt, den wir bei den Beratungen nochmal auf- Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden greifen sollten, ist das mit dem Kroatiengesetz eingeführte uns daher dafür einsetzen, nur diejenigen Regelungen Reverse-Charge-Verfahrens bei Metalllieferungen. Hier zum 1. Januar 2015 in Kraft treten zu lassen, die absolut haben sich in der Praxis erhebliche Abgrenzungspro- notwendig sind. Alle weiteren Regelungen sollten wir bleme ergeben, die in der Folge auch auf andere Bran- im Interesse der Genauigkeit und auch im Interesse der chen abstrahlen. Steuerpflichtigen und deren Berater nochmals auf den In den Beratungen können wir auch die vielfältige Prüfstand stellen. Ob die zwischenzeitlich vorgelegten Kritik, vor allem der Familienunternehmen, an der Än- (B) weiteren Maßnahmen, welche die Empfehlungen des derung der Wegzugsbesteuerung nach § 50 i EStG auf- (D) Bundesrechnungshofes aufgreifen und der Sicherung des greifen. Steueraufkommens oder der Verfahrensvereinfachung im Besteuerungsverfahren dienen, unbedingt jetzt mit Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver- diesem Gesetz in dieser verfahrenstechnischen Eile be- ständigenanhörung und auf gute Beratungen in den schlossen werden müssen, ist fraglich. nächsten Wochen. Inhaltlich sind insbesondere folgende steuerliche Än- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Mit dem derungen hervorzuheben: Gesetzentwurf zum Zollkodexanpassungsgesetz werden Erster Punkt: Mit der Erweiterung der Mitteilungs- vornehmlich die notwendigen Anpassungen der Abga- pflichten der Finanzbehörden an die zuständigen Ver- benordnung an die EU-Verordnung zur Festlegung des waltungsbehörden wollen wir die Geldwäsche weiter be- Zollkodex der Europäischen Union umgesetzt. Außer- kämpfen. dem werden weitere steuerliche Regelungen getroffen, die unser Steuerrecht an Recht und Rechtsprechung der Zweiter Punkt: Wir definieren mit diesem Gesetz den Union anpassen und Empfehlungen des Bundesrech- Begriff der Erstausbildung. Mit der Neuregelung liegt nungshofes und Verfahrensvereinfachungen im Besteue- eine – bis zu einem Betrag von maximal 6 000 Euro im rungsverfahren umsetzen. Kalenderjahr – als Sonderausgabe absetzbare Erstausbil- dung nur dann vor, wenn die Ausbildung mindestens Vonseiten der Länder wurden bisher weitere 72 Rege- 18 Monate in Vollzeit dauert und mit einer Abschluss- lungen gefordert, die rein technischer Natur sind, aber prüfung abschließt. Wir wollen mit dieser Maßnahme auch politisch umstrittene Sachverhalte umfassen. Ich Rechtsklarheit schaffen und verhindern gleichzeitig er- halte es aber für mehr als bedenklich, wenn eine solche hebliche Steuermindereinnahmen. Vielzahl von Steueränderungen kurz vor Jahresende ver- abschiedet werden soll, sind doch die bereits jetzt vorge- Dritter Punkt: Geldwerte Vorteile, die ein Arbeitgeber sehenen Gesetzesänderungen sehr umfangreich und von seinem Arbeitnehmer im Rahmen von Betriebsveranstal- weitreichender Bedeutung. Den Steuerpflichtigen und tungen, zum Beispiel durch Weihnachtsfeiern gewährt, ihren Beratern entsteht dadurch ein erheblicher Mehrauf- bleiben bis zu einem Betrag von 150 Euro steuer- und wand, der so kurz vor dem Jahreswechsel wirklich unzu- sozialversicherungsfrei. Die bisher geltende Verwaltungs- mutbar ist. vorschrift wird insoweit in Gesetzesform übernommen und der Betrag von 110 Euro auf 150 Euro angehoben. Wir sollten uns als Gesetzgeber im Interesse unserer Auch mit dieser Regelung wollen wir Gestaltungsmög- Bürger dagegen wehren, Gesetze, insbesondere auf dem 5986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Gebiet des Steuerrechtes, zu verabschieden, deren An- im Zuge der Beratungen dieses Gesetzentwurfes be- (C) wendung in der Praxis zu diesen Belastungen führt. So- schließen könnten. wohl der einzelne Steuerpflichtige wie auch sein Berater sollten ausreichend Zeit im Kalenderjahr haben, um sich Ich wünsche uns bei diesem Gesetzentwurf noch wei- mit den durch das jeweilige Gesetz veränderten Verhält- tere gute Ideen und kluge Beratungen in allerdings sehr nissen ausführlich zu beschäftigen und vertraut zu ma- kurzer Zeit. chen. Von besonderer Bedeutung erscheint mir, dass wir un- Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in ter anderem neben einigen Erleichterungen und Verein- erster Lesung das Gesetz zur Anpassung der Abgaben- fachungen im Einkommensteuerrecht, Änderungen in ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung der Abgabenordnung und bei der Grunderwerbsteuer, weiterer steuerlicher Vorschriften, das nichts anderes ist eine Verordnungsermächtigung zur Bekämpfung von als das Jahressteuergesetz 2015. Ich freue mich, als Umsatzsteuerbetrug mit diesem Gesetzentwurf einfüh- Berichterstatter für die SPD-Bundestagsfraktion das ren. Zollkodexanpassungsgesetz im Gesetzgebungsverfah- ren begleiten zu dürfen. Wie das Jahressteuergesetze so Mit der Einfügung einer Ermächtigungsklausel zum an sich haben, finden wir hierin eine Reihe an redaktio- § 13 b UStG erhält Deutschland die Möglichkeit, schnell nellen Änderungsvorschlägen quer durch das deutsche auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der Umsatz- Steuerrecht, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb steuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreaktionsmecha- nicht erforderlich, auf jeden einzelnen Änderungsvor- nismus, der auf der Grundlage einer EU-Richtlinie schlag einzugehen. beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zustim- mung des Bundesrates schnell einen neuen Tatbestand in Viele Änderungen sind nötig, um das deutsche Steu- den § 13 b UStG einfügen und damit in der gebotenen errecht an Recht und Rechtsprechung der Europäischen Kürze Umsatzsteuerbetrug in bestimmten Fällen unter- Union anzupassen. Weitere Änderungen berücksichtigen binden. Empfehlungen des Bundesrechnungshofes oder dienen dazu, die Besteuerungsverfahren zu vereinfachen. Im Rahmen der Beratung des Gesetzentwurfs besteht die Möglichkeit, auch noch weitere, wichtige Änderun- Gleichwohl möchte ich betonen, dass es sich hierbei gen im Steuerrecht vorzunehmen. vielleicht um unstrittige, aber keineswegs um unwich- tige Änderungen handelt. Wir sind uns hier mit unserem Ich denke hier insbesondere an den § 50 i EStG, der Koalitionspartner einig: Diese Änderungen erleichtern dringend einer Änderung bedarf. Wir haben diese Vor- den Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in den Fi- schrift durch das Kroatien-Gesetz vor kurzem geändert. (B) nanzbehörden für ihre immens wichtigen Aufgaben ihre (D) Leider stellt sich nun heraus, dass nicht nur diese Ände- tägliche Arbeit. rung, sondern bereits die ursprüngliche Fassung das deutsche Steuerrecht wieder einmal wesentlich kompli- Auch wenn wir in den Beratungen noch ganz am An- zierter macht, und darüber hinaus auch noch die Um- fang stehen: Es zeichnet sich ab, dass es neben vielen wandlung von Unternehmen im In- und Ausland drama- technischen Änderungen durchaus auch einige wichtige tisch erschwert bzw. ganz verhindern wird. Faktisch inhaltliche Punkte gibt, über die im Gesetzgebungspro- wird durch diese Vorschrift nun auch noch ein wesentli- zess diskutiert werden wird. cher Teil des Umwandlungssteuerrechts ausgehebelt. Lassen Sie mich also die Gelegenheit nutzen, einige Wirtschaftlich notwendige unternehmensinterne Um- dieser Punkte anzusprechen. Ich denke hier unter ande- strukturierungen und Übertragungen sind in vielen Fäl- rem an den Vorschlag, der den Begriff einer Erstausbil- len nur noch unter Aufdeckung und Versteuerung der dung gesetzlich definieren soll. Bisher waren die Krite- stillen Reserven möglich. Dies trifft in erster Linie Fami- rien einer Erstausbildung nicht gesetzlich geregelt. Von lienunternehmen, deren Mitglieder zumindest teilweise der Frage, ob jemand eine Erstausbildung abgeschlossen im Ausland, hier in Staaten mit Doppelbesteuerungs- hat, hängt allerdings ab, ob die Kosten einer weiteren abkommen, wohnen, zum Beispiel wegen der Ausbil- Ausbildung steuerlich als Werbungskosten oder Be- dung der schon geringfügig beteiligten – mindestens triebsausgaben absetzbar sind. Der Bundesfinanzhof hat 1 Prozent – Kinder oder aber auch, um ausländische Ak- die bisherige Verwaltungspraxis in einem Urteil von tivitäten des Betriebes zu leiten. Das betrifft auch Schen- 2013 kritisiert. kungen und Erbschaften, selbst bei einem inländischen Nachfolger. Eine klare gesetzliche Definition, wann eine Erstaus- bildung vorliegt, ist durchaus sinnvoll. Für die Betroffe- Die Tragweite der Gesetzesänderung, die letztlich auf nen und die Finanzbehörden gleichermaßen. Denn eine einer Regelung zur Lösung eines Einzelfalles beruht, ist Skilehrer-Lizenz ist nicht das Gleiche wie eine dreijäh- bei den damaligen Beratungen wohl übersehen worden. rige Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Die jetzt im Deshalb sollten wir jetzt die Gelegenheit nutzen und die- Entwurf vorgesehene Mindestdauer von 18 Monaten, die sen Fehler korrigieren. für eine Einstufung als Erstausbildung vorliegen muss, Ich würde mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam mit scheint allerdings zu lang. Wir werden uns hier gemein- unserem Koalitionspartner die notwendigen Schritte bei sam mit unserem Koalitionspartner für eine Verkürzung der Beratung dieses Gesetzentwurfes vornehmen würden der Mindestdauer einsetzen. Gleichzeitig werden wir in und die dringend notwendige Korrektur des § 50 i EStG den Beratungen im Finanzausschuss intensiv prüfen, ob Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5987

(A) für bestimmte Berufsgruppen Ausnahmen sinnvoll sein Der bestehende Höchstbetrag von 20 000 Euro reicht (C) können. völlig aus, um eine angemessene Förderung der Alters- vorsorge bei Selbstständigen herbeizuführen. Zumal Ich freue mich außerdem, dass eine Änderung in den diese Regelung nur einen Bruchteil aller Versicherten Gesetzentwurf aufgenommen wurde, bei der es um den beträfe. Wir begrüßen deshalb die Empfehlung der Län- 2013 eingeführten INVEST-Zuschuss geht. Momentan der, diese Regelung aus dem Gesetzentwurf zu streichen. wird der aus Bundesmitteln gezahlte Zuschuss besteuert. Der Zuschuss verliert damit natürlich einen Teil seiner Wir haben bereits in den Verhandlungen zum Kroati- Wirkung. Es ist deshalb nur sinnvoll und konsequent, enanpassungsgesetz (dem Jahressteuergesetz 2014) und dass hier eine Steuerbefreiungsvorschrift verabschiedet in den aktuellen Verhandlungen zur strafbefreienden wird, die rückwirkend auch für 2013 gilt. Die SPD-Bun- Selbstanzeige gezeigt, dass wir es auch bei einem ande- destagsfraktion möchte die Gründerszene in Deutsch- rem Thema ernst meinen: Wir wollen den Missbrauch land stärken und die Rahmenbedingungen für Beteili- des Steuerrechts verhindern und der Ausnutzung von Re- gungskapital verbessern. gelungslücken im – bekanntermaßen sehr komplexen – deutschen Steuerrecht einen Riegel vorschieben. Noch zu klären ist hierbei allerdings, ob diese Rege- lung in diesem Gesetzentwurf gut aufgehoben ist. Der Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine faire Bundeswirtschaftsminister hat in letzter Zeit oft deutlich und leistungsgerechte Besteuerung ein, die für Privatper- gemacht, dass er die deutsche Gründerszene mit einem sonen ebenso gelten muss wie für Unternehmen. Hierbei umfassenden Maßnahmenpaket beleben möchte. Es wird gibt es drei Punkte, die in den Verhandlungen zu diesem deshalb noch zu diskutieren sein, ob sich die rückwir- Gesetz eine wichtige Rolle für uns spielen werden. Denn kende Steuerbefreiung für den INVEST-Zuschuss nicht solche fragwürdigen Steuersparmodelle kosten nicht nur noch besser in einen kommenden Gesetzentwurf des den Staat Steuereinnahmen und schaden damit der Ge- Bundeswirtschaftministeriums für ein Venture-Capital- meinschaft: Jeder einzelne ehrliche Steuerzahler wird Gesetz fügt, in dem ein ganzes Bündel an ähnlichen damit verhöhnt. Maßnahmen enthalten sein wird. Natürlich werden wir bei dieser Regelung auch die Verbesserungsvorschläge Ein Paradebeispiel für solche Steuervermeidungsstra- aus den Ländern aufmerksam prüfen. tegien ist der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche- Deal“. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil- Als Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion für hersteller Porsche übernommen. Erworben hat die das Thema Geldwäscheprävention begrüße ich aus- Volkswagen AG die Porsche Holding SE dadurch, dass drücklich eine Regelung, die bereits im Entwurf zum sie eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding Kroatien-Gesetz enthalten war, den Weg in das Gesetz SE übertragen hat. Der Erwerb wurde durch das Finanz- (B) allerdings nicht gefunden hat. Die vorgesehene Ände- amt Stuttgart nicht als Kauf bewertet, bei dem die (D) rung des Paragrafen 31b der Abgabenordnung soll die üblichen Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde Mitteilungspflichten der Finanzbehörden zur Bekämp- dies als Umstrukturierung nach dem Umwandlungsge- fung der Geldwäsche erweitern. Ein effizienterer setz eingestuft, mit der Folge, dass eine Steuerbefreiung Austausch zwischen den Finanzbehörden und den Er- eingesetzt hat. mittlungsbehörden ist ein richtiger Schritt und ein wich- tiges Zeichen gegen Geldwäsche. Diese Konstruktion war nach geltendem Recht zwar legal, gewünscht ist sie allerdings nicht. Denn hierbei Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ge- handelt es sich ohne Frage um eine zielgerichtete Steuer- hört seit Jahrzehnten zum Markenkern der SPD. Als vermeidung, die dem Staat geschätzte Steuereinnahmen Bundestagsfraktion begrüßen wir deshalb selbstver- in Höhe von 1,5 Milliarden Euro vorenthalten hat. ständlich die Maßnahme im Gesetzentwurf, die be- stimmte Serviceleistungen des Arbeitgebers und kurz- Wir als SPD-Fraktion begrüßen deshalb ausdrücklich, fristige Betreuungskosten für Pflegebedürftige und dass die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung in den Kinder bis zu einem bestimmten jährlichen Betrag steu- Empfehlungen der damit befassten Fachausschüsse des erfrei stellen soll. Die Regelung im Gesetzentwurf geht Bunderates zum Zollkodexanpassungsgesetz einem in die richtige Richtung. Sie muss aber jenen nützen, die Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland- es wirklich brauchen. Wir begrüßen deshalb die Empfeh- Pfalz zugestimmt haben, der diese unglückliche Rege- lung der fachlich zuständigen Ausschüsse des Bundes- lungslücke schließen soll. rates, durch die die Steuerbefreiung auf Kindergärten Meine Erwartung ist, dass es bei der Änderung des und Horte eingegrenzt werden soll. Umwandlungssteuerrechts nur um Detailfragen gehen Wir werden uns aber mit einigen Vorschlägen im Ge- wird, die hier mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU setzentwurf auch kritisch auseinandersetzen müssen. zu klären sind. Ich gehe davon aus, dass wir uns mit der Dies betrifft unter anderem die Anhebung der Förder- CDU/CSU in der Sache einig sind. Deshalb haben wir höchstgrenze von 20 000 auf 24 000 Euro bei der Basis- auch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir prüfen versorgung im Alter. Uns erscheinen nicht nur die be- werden, wie ein solcher Anteilstausch nicht mehr sys- rechneten Mindereinahmen von 20 Millionen Euro temwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich freue jährlich als zu niedrig. Wir sehen hier außerdem eine mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlungen. Ungleichbehandlung der Rentensysteme, weil beispiels- Denn wir können hier – Bund und Länder gemeinsam – weise der Förderhöchstbetrag der Riesterrente unverän- ein weiteres wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung dert bleibt. Wir teilen hier die Auffassung der Länder: und Steuerhinterziehung setzen. Je früher, desto besser. 5988 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Wir als SPD-Fraktion unterstützen außerdem zwei wei- erste Jahressteuergesetz hieß Kroatiengesetz, das zweite (C) tere Äntrage, die die gleiche Stoßrichtung haben. Ein An- heißt jetzt Zollkodexanpassungsgesetz. Aber was in die- trag widmet sich der Verhinderung sogenannter Hybrider sen beiden Gesetzen steht, hat wenig mit der Überschrift Finanzierungen. Was mysteriös klingt, ist eigentlich ganz zu tun. Warum darf denn ein Jahressteuergesetz nicht einfach: Es gibt global agierende Unternehmen, die be- Jahressteuergesetz heißen, Herr Schäuble? Was ist daran wusst die Unterschiede in der steuerlichen Einstufung von Verwerfliches, meine Damen und Herren? Jedes Jahr Unternehmensformen oder Finanzierungsinstrumenten in gibt es Änderungen und Anpassungsbedarf im Steuer- verschiedenen Staaten ausnutzen, um davon zu profitie- recht, sei es aufgrund der Rechtsprechung der Gerichte, ren. Steuern können dadurch gespart werden, dass es ent- sei es aufgrund geänderter EU-Vorgaben oder sei es we- weder zu einer doppelten Nichtbesteuerung oder zu einem gen entdeckter Steuerlücken. Selbst die Regierung doppelten Betriebsausgabenabzug kommt. Der Bundesrat spricht in ihrem Gesetzentwurf von einem fachlich not- hat hier die Bundesregierung bereits im Mai aufgefor- wendigen Gesetzgebungsbedarf in verschiedenen Berei- dert, beides unmöglich zu machen. chen des Steuerrechts. Das reicht doch für ein eigenstän- diges Jahressteuergesetz und zwar auch dann, wenn man In der Sache stimmen wir innerhalb der Bundesregie- berücksichtigt, dass die Regierungskoalition steuerpoli- rung überein. Der Bundesregierung möchte ich für ihren tischen Stillstand bis 2017 vereinbart hat. Doch auch Einsatz auf internationaler Ebene im Rahmen der soge- wenn die Bundesregierung in den nächsten drei Jahren nannten BEPS-Initiative der OECD ausdrücklich dan- steuerpolitisch in ihrem Koalitionsvertrag nichts geplant ken. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den hat, dreht sich die Erde trotzdem, und das Steuerrecht Abschluss an den Arbeiten zur BEPS-Initiative im schreitet weiter voran. nächsten Jahr abzuwarten, bis wir hier konkrete gesetz- geberische Maßnahmen ergreifen. Der Bundesrat aber Gerade bei Jahressteuergesetzen, egal wie sie von Ih- argumentiert, dass die Arbeiten in dem Bereich Hybrider nen auch genannt werden mögen, gibt es im parlamenta- Finanzierungen weitgehend abgeschlossen sind. Wir tei- rischen Ablauf viele Änderungen. Das wird auch bei die- len die Auffassung der Länder im Wesentlichen; denn sem Gesetz so sein. Wir haben auch eine längere Liste an auch hier gilt die Devise: Je früher und schneller wir Änderungswünschen, zum Beispiel bei der kleinlichen diese Lücke internationaler Steuervermeidung schließen, Regelung der Obergrenze von 150 Euro pro Jahr, wenn desto besser. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Betriebsveran- staltungen teilnehmen. Ein weiteres Abwarten können wir uns in beiden Fäl- len eigentlich nicht leisten. Wir werden deshalb hier in Mit den vorgesehenen steuerfreien Serviceleistungen den Verhandlungen mit den Unionskollegen die Argu- des Arbeitgebers wird das Problem der Rückkehr von Beschäftigten nach der Elternzeit oder der Unterstützung (B) mente für und gegen die Aufnahme dieser Regelungen in (D) den Gesetzentwurf intensiv diskutieren. von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die pflege- bedürftige Angehörige betreuen, nicht wirklich adres- Einen weiteren Prüfauftrag aus den Ausschüssen des siert. Ein Freibetrag von 600 Euro je Kalenderjahr und Bundesrates, bei dem es um die Besteuerung von Streu- Arbeitnehmer, also monatlich durchschnittlich 50 Euro, besitzdividenden geht, sehen wir positiv. Die Umsetzung wird den hohen Belastungen nicht gerecht. Die behaup- eines EuGH-Urteils 2011, mit dem die vorherige Steuer- tete bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss freistellung von Streubesitzdividenden eingeschränkt woanders ansetzen. Die Schwierigkeiten bei der Verein- wurde, hat zu einer Ungleichbehandlung von Dividen- barkeit von Beruf und Familie haben gesellschaftliche den und Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteili- und ökonomische Ursachen. gungen geführt. Die Folge: Seither werden Erträge aus der Veräußerung gegenüber Dividenden bevorzugt, was Einige Ihrer geplanten Änderungen werden unter der zu unerwünschtem steuerlichem Gestaltungsspielraum Überschrift „Steuervereinfachungen“ verkauft. Doch der geführt hat. Wir wollen aber Anpassungen vermeiden, Arbeitsaufwand für die Steuerzahlerin und den Steuer- die zu Steuerausfällen führen. Hier wird zu diskutieren zahler bleibt bestehen, denn er wird genau nachrechnen und zu prüfen sein, ob diese Regelung in dieses Gesetz müssen, ob er mit seinen Ausgaben unter der Pauschal- aufgenommen wird. grenze bleibt oder doch nach Einzelbelegen abrechnen muss. Ich glaube, obige Aufzählung hat deutlich gemacht, dass es einigen Gesprächsbedarf in den Verhandlungen Interessant ist aber auch, was nicht im Gesetzentwurf geben wird. Ich jedenfalls freue mich auf eine Beratung steht beziehungsweise wieder nicht angegangen wird. des Gesetzentwurfs und der Länderempfehlungen im Fi- Aber das ist bei einer Bundesregierung, die erklärterma- nanzausschuss des Deutschen Bundestages und hoffe auf ßen in der Steuerpolitik nichts ändern will, nicht überra- eine gute Zusammenarbeit mit allen Berichterstattern der schend. Schon aus dem Vorschlag des Bundesrates ist anderen Fraktionen. sehr viel herausgestrichen worden. Die Frage nach der Verzinsung von Steuernachzah- Richard Pitterle (DIE LINKE): Wir diskutieren heute lungen hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen, ob- Abend das „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung wohl das höchste Gericht, der Bundesfinanzhof, den der- an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer zeitigen Zinssatz von 6 Prozent nur bis zum März 2011 steuerlicher Vorschriften“. Einfacherer Titel war nicht zu für rechtens erklärt hatte. Die Europäische Zentralbank finden. Wie wäre es einfach mit „Jahressteuergesetz hat mitgeteilt, dass sie auch in den nächsten Jahren eine 2014 – Teil 2“? Warum dieser Etikettenschwindel? Das absolute Niedrigzinspolitik verfolgt. Daran zweifelt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5989

(A) auch keiner. Inzwischen müssen Banken sogar Strafzin- gerade für den Mittelstand dringend einer Überarbeitung (C) sen zahlen, wenn sie bei der Europäischen Zentralbank bedarf. Würde die Bundesregierung ihre Verantwortung Geld deponieren – erst waren es 0,1 Prozent, das ist in- wahrnehmen, würden wir heute ein Jahressteuergesetz zwischen aber verdoppelt worden auf 0,2 Prozent. Viele beraten, das zum Beispiel diese beiden Fehlregulierun- Unternehmen müssen ebenfalls ihren Banken Zinsen gen in der Steuergesetzgebung korrigiert. Das hätte dann zahlen, wenn sie ihr Geld kurzfristig bei ihnen stehen eine Bedeutung, und wir würden heute zu prominenterer lassen. Inzwischen hat die erste Bank auch ihren Sparern Zeit die Debatte führen. Aber ein wichtiges Thema wird einen negativen Einlagenzinssatz für Tagesgeldkonten doch in dem Gesetzentwurf angesprochen: Wirtschafts- aufgedrückt. Der Staat finanziert sich zu fast 0 Prozent, minister Sigmar Gabriel erwähnt in jedem zweiten State- greift aber trotzdem bei Steuernachzahlungen mit ment die Bedeutung der Förderung von Wagniskapital, 6 Prozent gierig zu. Hier hätte ich von Ihnen eine Re- und in diesem Gesetz befindet sich seine zentrale aktion erwartet, zumal wir Ihnen im Rahmen unserer Maßnahme, mit der er dies erreichen will, nämlich die Kleinen Anfrage Anfang Oktober dieses Problem bereits Freistellung der Zuschüsse aus dem INVEST-Programm detailliert erläutert hatten. von der Einkommensteuer. Existenzgründern, die voraussichtlich nicht mehr als Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregierung des 17 500 Euro Bruttoumsatz im ersten Geschäftsjahr er- Themas Wagniskapitalfinanzierung annimmt. Aber dann wirtschaften werden, also Kleinunternehmer sind, muss man doch fragen, ob mit der vorgeschlagenen wollen wir eine Alternative bei ihren Umsatzsteuervor- Maßnahme, mit einem Entlastungsvolumen von 10 Mil- anmeldungen eröffnen. Sie müssen jetzt ihre Umsatz- lionen Euro, überhaupt ein Effekt erzielt werden kann. steuervoranmeldungen monatlich abgeben, statt wie Zudem wirft der Vorschlag bei mir einige Fragen auf. sonst üblich je nach Umsatzhöhe quartalsweise. Diese Zuschüsse sind grundsätzlich steuerpflichtige Einkünfte, Ausnahme von der Regel hat nicht zu einer Verringerung und die Steuerfreistellung eines einzigen Zuschusspro- des Umsatzsteuerbetruges beigetragen, wie vom Gesetz- gramms ist ordnungspolitisch zumindest fragwürdig. geber ursprünglich gedacht. Wir schlagen alternativ da- Eine ordnungspolitisch saubere Lösung wäre, das För- her vor, Existenzgründern die Möglichkeit zu eröffnen, derprogramm aufzustocken und so die Steuerpflicht zu ihre Umsatzsteuererklärung auf Wunsch quartalsweise kompensieren. Diese Maßnahme hätte zudem die Wir- abgeben zu können. kung, dass finanziell nicht so erfolgreiche Beteiligungen ihre Risiken stärker abgefedert bekommen, weil bei ih- Über die seit fast 50 Jahren unveränderte Betrags- nen die Steuerpflicht schlicht geringer ist, sie aber poten- grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter, das sind ziell höhere Zuschüsse erhalten würden. Ich werde mich 410 Euro, könnte man auch mal nachdenken – in Verbin- dafür einsetzen, dass wir an dieser Stelle gemeinsam im (B) dung mit dem Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpos- Gesetzgebungsprozess den Vorschlag der Bundesregie- (D) tens für alle Wirtschaftsgüter mit Anschaffungs- oder rung nochmals kritisch hinterfragen. Die Stellungnahme Herstellungskosten zwischen 150 und 1000 Euro. der Fachausschüsse des Bundesrates untermauert meine Wie bereits gesagt: Gerade bei Jahressteuergesetzen Einschätzung, zumal hier vorgeschlagen wird, auch gibt es besonders viele Änderungen im parlamentari- andere Zuschussprogramme ähnlich dem INVEST- schen Prozess. Ich freue mich auf die Diskussionen mit Zuschuss von Wagniskapital steuerfrei zu stellen und das Ihren Fachpolitikern. vorher vom Wirtschaftsministerium bescheinigen zu las- sen. Mein Credo wäre hier: Nein, wir brauchen keine Ausnahmen, sondern müssen ordnungspolitisch sauber Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- arbeiten und so Bürokratie vermeiden. Auch würden wir NEN): Unsere Bundesregierung weigert sich beharrlich, die Intransparenz von Förderprogrammen weiter erhö- ein Jahressteuergesetz vorzulegen, und denkt sich für hen, wenn wir steuerfrei gestellte Zuschüsse von ande- ihre Gesetze möglichst trivial klingende unpolitische ren Förderungen unterscheiden müssten. Namen aus. Nun also zunächst einmal Glückwunsch an die Öffentlichkeitsarbeit des BMF zur tollen Wortschöp- Das Thema Bürokratie ist auch für die Vorschläge zur fung: „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an Betrugsbekämpfung bei der Umsatzsteuer von hoher Be- den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer deutung. Die Bundesregierung will einen nationalen steuerlicher Vorschriften“ und zu dem Debattenbeitrag Schnellreaktionsmechanismus zur punktuellen Einfüh- um drei Uhr nachts im Deutschen Bundestag. Das ist rung neuer Reverse-Charge-Tatbestände einführen und aber auch die einzige Anerkennung an die Regierung, die monatliche Umsatzsteuervoranmeldung auch bei die ich hier zollen kann. Denn mit der Vorlage dieses Firmenübernahmen einführen. Diese Pflicht hatten bis- Gesetzes beweisen Herr Schäuble und die Regierungs- her nur neu gegründete Unternehmen. Letztlich ist eine fraktionen, welchen Stellenwert sie ihrer Steuerpolitik wirklich objektive Bewertung beider Maßnahmen kaum beimessen – nämlich gar keinen. Das ist eine nicht ak- möglich, schlicht weil der Bundestag als Legislative zeptable, verantwortungslose Verweigerungshaltung! über keinerlei Informationen über aufgetretene Betrugs- fälle und Umfang dieses Betruges verfügt. Wenn ich Denn es gibt steuerpolitisch durchaus Handlungsbe- davon ausgehe, dass Betrug in relevantem Maß stattge- darf. Ich will hier nur zwei Beispiele aufführen: Nach funden hat und weiter stattfindet, dann sind beide Ände- wie vor gibt es vollkommen irrationale Regelungen beim rungen wohl geboten. verminderten Mehrwertsteuersatz. Nach wie vor haben wir mit der bürokratielastigen Abschreibungsvorschrift Dennoch sehe ich beim nationalen Schnellreaktions- für geringwertige Wirtschaftsgüter eine Regelung, die mechanismus, wie er vom BMF vorgeschlagen wird, 5990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) Nachbesserungsbedarf. Das BMF will sich selbst dazu che Steuerbelastung hergestellt wie bei einer inländi- (C) ermächtigen, mit Zustimmung des Bundesrates neue schen Gesellschaft. Reverse-Charge-Tatbestände per Verordnung zu erlas- Ich begrüße ebenfalls, dass der Bundesrat konkrete sen. Dabei wird der Deutsche Bundestag völlig übergan- Vorschläge macht, wie hybride Steuergestaltungen noch gen und kann nur zusehen, welche Regelungen per besser einzudämmen sind. Hier muss man sich die BMF-Schreiben verkündet werden. Erst nach einer Ge- Details sicher nochmal ansehen, aber die grundsätzliche nehmigung durch die EU-Kommission für den neuen Richtung stimmt. Ausnahmetatbestand soll der Bundestag für einen nor- malen Gesetzesänderungsprozess beteiligt werden. Der Das Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an Bundestag sollte schon früher in den Entscheidungs- den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer prozess eingebunden werden, dies schon allein deshalb, steuerlicher Vorschriften steht an der Stelle eines Jahres- um die hinter einer solchen Entscheidung stehenden steuergesetzes, das an vielen Stellen dringend notwen- objektiven Daten öffentlich zu machen. Die Praxis, dass dige Korrekturen an der bestehenden Gesetzgebung per BMF-Schreiben Steuerrecht materiell geändert wird, hätte vornehmen müssen. Die Bundesregierung hat sich ist generell höchst fragwürdig und sollte nicht weiter be- dieser Verantwortung nicht gestellt. Ich kann nur hoffen, fördert werden. dass es im Zuge der jetzt anstehenden Beratungen in den Ausschüssen und im Bundesrat gelingen wird, doch Die Bundesländer haben in ihrer ersten Stellung- noch dringende Änderungen in das Gesetz einzubringen. nahme über den Bundesrat deutlich gemacht, dass sie anders als Herr Schäuble und die Bundesregierung durchaus Bedarf an größeren steuerlichen Änderungen Anlage 18 sehen. Dabei haben sie insbesondere Steuervereinfa- chungen und den Schluss bestehender Steuergestaltungs- Zu Protokoll gegebene Reden optionen im Visier. Hier müssen Sie sich in den Regie- zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes von rungsfraktionen und in der Bundesregierung schon der Bundesregierung zu dem Europäischen fragen lassen, warum Sie nicht selber tätig werden. Übereinkommen vom 27. November 2008 über die Adoption von Kindern (revidiert) (Tages- Die vom Bundesrat vorgelegten Vereinfachungsvor- ordnungspunkt 28) schläge verdienen zumindest eine kritische Würdigung. Letztlich soll insbesondere durch höhere Pauschal- beträge und der Einschränkung von Mitnahmeeffekten Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Am an anderer Stelle eine aufkommensneutrale Vereinfa- 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das revidierte eu- (B) chung des Steuerrechts erreicht werden. Natürlich müs- ropäische Übereinkommen über die Adoption von Kin- (D) sen wir uns genau ansehen, wer von diesen Vorschlägen dern unterzeichnet. Ziel des Übereinkommens ist die potenziell schlechter- und bessergestellt wird. Aber eine Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften der Mitglied- substanzielle Vereinfachung des Steuerrechts wäre eine staaten des Europarats bezüglich der Adoption von Kin- ausgiebige und ernsthafte Prüfung sicher wert. Da die dern. Bundesregierung sich hier schon mehrfach verweigert Nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes ist die hat, bin ich aber eher skeptisch. Mitwirkung oder Zustimmung an völkerrechtlichen Ver- trägen durch Bundesgesetz erforderlich. Darüber hinaus haben die Ausschüsse des Bundes- rates einige Vorschläge im Unternehmensteuerbereich Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nun also gemacht. Ich begrüße, dass man sich mit der Besteue- die Voraussetzungen geschaffen werden, dieses Überein- rung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitz befasst. kommen ratifizieren zu können. Ich möchte besonders Hier war schon im Gesetzgebungsprozess 2013 klar, darauf hinweisen, dass unser deutsches Recht dafür nur dass ein Steuerschlupfloch offengelassen wird, wenn in einem einzigen Punkt an das Übereinkommen ange- Dividenden aus Streubesitz besteuert werden, Veräuße- passt werden muss: Die Frist zur Aufbewahrung der Ver- rungsgewinne aber nicht. Deswegen hätten wir Grünen mittlungsakten ist anders zu berechnen, als es der § 9 b uns damals auch eine andere Umsetzung des Urteils des des Adoptionsvermittlungsgesetzes derzeit vorsieht. Europäischen Gerichtshofes gewünscht; leider konnte Dieser geringe Anpassungsbedarf zeigt: Die Bundesre- sich dieser Vorschlag bisher nicht durchsetzen. Die beste publik Deutschland hat hohe Standards, wenn es um die Lösung für die Besteuerung von Streubesitzdividenden Adoption von Kindern geht. Mit der Zeichnung und Ra- wäre gewesen, eine Veranlagungsoption für ausländi- tifikation unterstützt Deutschland nun auch die Durch- sche Gesellschaften in Deutschland zu schaffen. Schon setzung dieser Standards in den Mitgliedsländern des bei anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten im Europarats. Binnenmarkt hat Deutschland Regelungen getroffen, die Deutschland wäre damit das achte Land innerhalb der es dem Ausländer erlauben, sich voll wie ein Inländer Runde der Mitgliedstaaten des Europarats, welches das besteuern zu lassen, zum Beispiel bei der Erbschaft- Übereinkommen umsetzt. 17 Mitgliedstaaten haben das steuer. Eine analoge Regelung wäre auch bei der Divi- Übereinkommen bislang unterzeichnet. dendenbesteuerung möglich. In Deutschland würden die ausländischen Gesellschaften mit ihren Dividenden von Das revidierte Übereinkommen ersetzt das Europäi- Inländern dann zu Körperschaftsteuer und Gewerbe- sche Übereinkommen von 1967 über die Adoption von steuer veranlagt. Damit würde in Deutschland die glei- Kindern, das bereits früh, insbesondere durch die tief- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5991

(A) greifenden gesellschaftlichen Veränderungen Ende der Wie Sie, meine Damen und Herren, sicher schon ver- (C) 60er-Jahre, nicht mehr als zeitgemäß anzusehen war. Um muten, gestattet das „alte“ Übereinkommen von 1967 diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, wurde das nur heterosexuellen Ehepaaren die Adoption. Im neuen Übereinkommen durch mehrere Übereinkommen erwei- Abkommen sollen nun auch homosexuelle Partner, die tert. Die Rechte der Kinder sind unter anderem durch das entweder verheiratet sind oder in einer eingetragenen Europäische Übereinkommen von 1975 über die Recht- Lebenspartnerschaft leben – die Regelungen sind inner- stellung der unehelichen Kinder, das Übereinkommen halb der Mitgliedstaaten des Europarats sehr verschieden –, der Vereinten Nationen vom November 1989 über die Kinder adoptieren dürfen. Das ist auch eine entschei- Rechte des Kindes, das Haager Übereinkommen von dende Änderung des revidierten Übereinkommens. Es 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammen- wird den Mitgliedstaaten nunmehr freigestellt, die Suk- arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption und zessivadoption durch Paare, die in einer eingetragenen das Europäische Übereinkommen von 1996 über die Lebenspartnerschaft, gleich welchen Geschlechts, leben, Ausübung von Kinderrechten gestärkt worden. zuzulassen. In Deutschland ist das Gesetz zur Umset- zung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Geändert hat sich auch die Rechtsposition des nicht- zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner vom 20. ehelichen Vaters. Sie hat sich deutlich verbessert. In vie- Juni 2014 am 27. Juni desselben Jahres bereits in Kraft len Ländern ist nicht mehr nur die Ehe die rechtliche getreten. Verbindung zwischen zwei Menschen, die zusammen le- ben, füreinander Verantwortung übernehmen und sogar Zudem besteht nunmehr die Möglichkeit im revidier- eine Familie gründen wollen. In Deutschland können ten Übereinkommen, fakultativ im jeweiligen Adop- zwei gleichgeschlechtliche Partner seit 2001 eine einge- tionsrecht der Mitgliedstaaten auch die gemeinsame tragene Lebenspartnerschaft begründen. Adoption durch Lebenspartner zuzulassen. Vor diesem Hintergrund wurde es zwangsläufig not- So weit geht der hier vorliegende Gesetzentwurf wendig, das Adoptionsübereinkommen aus dem Jahr nicht. Das dürfte auch für niemanden, der die erst vor 1967 im Rahmen des Europarats unter Federführung des wenigen Monaten geführte Debatte zur Sukzessivadop- Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenar- tion verfolgt hat, eine große Überraschung sein. Die Dis- beit zu überarbeiten. Nach Annahme des Übereinkom- kussionsgrundlage hat sich seitdem nicht entscheidend mens durch das Ministerkomitee des Europarats wurde verändert. Im vorliegenden, durch die Bundesregierung es 2008 zur Zeichnung aufgelegt. eingebrachten Entwurf wird von der Option, im nationa- len Adoptionsrecht die gemeinsame, simultane Adoption Wo liegen nun die Unterschiede? Die Kinderrechte durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen, kein Ge- (B) und das Kindeswohl werden noch stärker in den Mittel- brauch gemacht. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt (D) punkt gestellt als in der Fassung von 1967. So ist nach dies. der neuen Fassung nach Artikel 5 Absatz 1 b nunmehr die Zustimmung des Kindes zur Adoption notwendig, Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Eines vorweg: Wir, wenn dieses hinreichend verständig ist. Andernfalls – das die Sozialdemokraten, wollen endlich die Gleichstellung regelt der Artikel 6 des revidierten Übereinkommens – ist gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften auch bei das Kind dennoch, soweit möglich, anzuhören, und seine uns. Bei uns in Deutschland. Alles, was auf diesem Weg Meinung und Wünsche sind zu berücksichtigen. erreicht werden kann, ist gut. Auch das Europäische Die Rechtsposition nichtehelicher Väter wird eben- Übereinkommen vom 27. November 2008 über die falls verbessert, da nun auch ihre Zustimmung zur Adop- Adoption von Kindern bringt uns diesem Ziel einen tion erforderlich ist. Im Übereinkommen von 1967 war wichtigen Schritt näher. Mit einer Verzögerung von die Zustimmung des Vaters beim „nichtehelichen“ Kind sechs Jahren – spät, aber es kommt. Das revidierte Über- überhaupt nicht erforderlich. Dies widerspricht unter an- einkommen überlässt es den Mitgliedstaaten, die Voll- derem der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- adoption für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen, hofs für Menschenrechte. Die Rechtstellung des Vaters was sein Vorgänger von 1967 noch ausschloss. eines nichtehelichen Kindes im deutschen Adoptions- Unser Ziel ist es, die Unterschiede zwischen eingetra- recht wurde bereits im Zuge der Kindschaftsrechtsre- gener Partnerschaft und Ehe zu beseitigen; so steht es im form von 1997 wesentlich gestärkt. Koalitionsvertrag, und so ist es auch gut. Schön, dass wir Weitere zentrale Neuerungen des revidierten Überein- diese Aufgabe nun angehen. Zugegeben, nicht alle ganz kommens beziehen sich auf die in Artikel 7 geregelten freiwillig und noch nicht alle frohen Herzens. Bedingungen für die Adoption. In der „neuen“, revidier- Doch das EU-Übereinkommen und die Entscheidung ten Fassung des Übereinkommens ist etwas vorgesehen, unseres Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Februar das uns in Deutschland fremd erscheint: Auch heterose- 2013 stärken uns. Sie sind nicht nur ein klares Signal, xuelle Paare, die nicht verheiratet sind, sondern in einer sondern ein Handlungsauftrag. eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können Kin- der adoptieren. Dies kann selbstverständlich nur dort Durch den Entwurf des Vertragsgesetzes soll das gelten, wo das nationale Recht die Möglichkeit der Ein- Übereinkommen ratifiziert werden. Damit kommen wir gehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft für He- der Gleichstellung näher. Die rechtliche Grundlage für terosexuelle vorsieht. Wie gesagt, das gibt es in Deutsch- ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Le- land nicht. benspartnerschaften schaffen wir damit leider noch 5992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) nicht. Denn wir haben das Urteil des Bundesverfas- Durch das Zustimmungsgesetz sollen die erforderli- (C) sungsgerichts zur Sukzessivadoption zwar umgesetzt, chen Voraussetzungen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 mehr jedoch leider noch nicht. Die gemeinsame Adop- Grundgesetz für die Ratifikation des revidierten Über- tion durch die Lebenspartner ist immer noch verwehrt. einkommens geschaffen werden. Und dies nicht aus Gründen des Kindeswohls, wie uns die öffentliche Anhörung dazu bestätigt hat. Daher ist es Ziel des revidierten Übereinkommens ist, in den Un- längst überfällig, dass wir Kindern die Rechte, die ihnen terzeichnerstaaten – unter anderem Mitgliedstaaten des zustehen – Eltern zu haben, gleich welchen Geschlechts –, Europarats – gemeinsame Grundsätze hinsichtlich des nicht länger verwehren. Oder einfach gesagt: Die soge- Adoptionsrechts zu schaffen und so auch grenzüber- nannte Volladoption muss endlich Gesetz werden. schreitende Adoptionen und deren Anerkennung zu er- möglichen. Warum sollen konkurrierende Elternrechte bei Le- Anpassungsbedarf im deutschen Recht besteht laut benspartnern eine Gefahr für das Kindeswohl sein, bei Bundesregierung nur insoweit, als die Frist zur Aufbe- Ehepartnern jedoch nicht? Sind das nicht vorgeschobene wahrung der Vermittlungsakten anders zu berechnen sei, als Argumente, Rechte zu verwehren? Eine Adoption durch es § 9 b des Adoptionsvermittlungsgesetzes, AdVermiG, den eingetragenen Lebenspartner unterscheidet sich derzeit vorsieht. nicht von der durch den Ehepartner. Wo soll also der Un- terschied liegen? Die eingetragene Lebenspartnerschaft Dem Vertragsgesetz ist zuzustimmen. Das Überein- ist, wie die Ehe, auf Dauer angelegt und durch eine ver- kommen ist recht progressiv und leistet einen Beitrag zu bindliche Verantwortungsübernahme geprägt. Sie bedeu- hohen Standards bei der Adoption im Sinne des Kindes- tet, ebenso wie die Ehe, Solidarität und Zusammenhalt. wohls in den Unterzeichnerstaaten. Werte, die gut sind, die wir in unserem Land brauchen. Das Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung el- Vor allem begrüßenswert ist der Artikel 7 Absatz 2 terlicher Pflege und Erziehung, das Elterngrundrecht des Übereinkommens. Danach steht es den Staaten frei, und das Familiengrundrecht werden gestärkt. Was will den Anwendungsbereich des Übereinkommens „auf man mehr? gleichgeschlechtliche Paare zu erstrecken, die miteinan- der verheiratet oder eine eingetragene Partnerschaft mit- Eine dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Klage einander eingegangen sind. Es steht den Staaten auch zur gemeinsamen Adoption eines fremden Kindes wurde frei, den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens im Januar 2014 wegen Unzulässigkeit nicht zur Ent- auf verschiedengeschlechtliche Paare und gleichge- scheidung angenommen. Es ist allerdings zu erwarten, schlechtliche Paare zu erstrecken, die in einer stabilen dass auch über das generelle Adoptionsrecht gleichge- Beziehung zusammenleben.“ (B) (D) schlechtlicher Lebenspartnerschaften früher oder später durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden Auch wenn eine Verpflichtung dazu nicht durchsetz- bar war, ist schon allein die Einräumung dieser Möglich- wird. Dem müssen wir doch zumindest in der politischen keit ein deutlicher Fortschritt. Und wenn Mitgliedstaaten Debatte zuvorkommen und uns nicht ständig im Kreis diese Möglichkeit regeln, müssen die anderen Unter- drehen. zeichnerstaaten dies anerkennen, was ebenfalls ein Fort- Sehr verehrte Damen und Herren, insbesondere liebe schritt ist. Kolleginnen und Kollegen von der Union: Lassen Sie Leider führt die Bundesregierung zur Beschwichti- uns nicht wieder warten, bis das Bundesverfassungsge- gung konservativer Kreise, eingeschlossen sie selbst, in richt die Richtung vorgibt. Lassen Sie uns diesen wichti- der Gesetzesbegründung aus: „Von der in dem Überein- gen Schritt in Richtung absolute Gleichstellung tun. kommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adop- Die Eltern, die Kinder, ja unser Land haben es ver- tionsrecht die gemeinsame Adoption durch Lebenspart- dient! ner zuzulassen, wird die Bundesregierung keinen Gebrauch machen.“

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Das Europäische Hier will die Regierung nach wie vor bestehende Fa- Übereinkommen vom 27. November 2008 über die milienstrukturen nicht entsprechend akzeptieren und an- Adoption von Kindern (revidiert) ist am 1. September erkennen und Kindern dieser Familien gesicherte 2011 in Kraft getreten. Es ersetzt und modernisiert das Rechtspositionen, was nur beispielsweise das Erbrecht Europäische Übereinkommen vom 24. April 1967 über betrifft, verweigern. Aber für diese Gleichberechtigung die Adoption von Kindern, dessen Vertragsstaat auch die und verbesserte Rechtsposition von Kindern wird die Bundesrepublik Deutschland ist, unter stärkerer Berück- Linke weiter kämpfen, notfalls auch wieder mit Unter- sichtigung des Kindeswohls und insbesondere im Hin- stützung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen wir blick auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen mal, wie lange die Regierung an ihrer Position festhalten vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes, will, kann oder darf. das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gebiet der internationalen Adoption und das Europäi- Meine Fraktion hat bereits zu Jahresbeginn einen Ge- sche Übereinkommen vom 25. Januar 1996 über die setzentwurf zum Europäischen Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten. Adoption von Kindern eingebracht. Zu dem Zeitpunkt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014 5993

(A) hat die Koalition den Gesetzentwurf allerdings noch ab- Wenn also sowohl Studien zu Regenbogenfamilien (C) gelehnt. und Anhörungen von Experten immer wieder zu dem Schluss kommen, dass das Kindeswohl in Regenbogen- In dem Übereinkommen ist festgehalten, dass grund- familien nicht gefährdet ist, sondern gefördert wird, sätzlich allen verheirateten und gegebenenfalls verpart- dann ist es doch absurd, dass CDU/CSU immer wieder nerten Paaren, auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaf- diesen ideologischen Zombie aus der Argumentekiste ten sowie Alleinstehenden ein Adoptionsrecht eröffnet holen. Ganz offensichtlich ist das Kindeswohl für CDU/ wird. Die Adoption für gleichgeschlechtliche, verpart- CSU immer noch zweitrangig. Ihnen geht es darum, Res- nerte Paare ist allerdings als Opt-Out-Option formuliert, sentiments zu bedienen, und um die Zustimmung von ho- das heißt, es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, ob mophoben Stammtischen. Aus Angst vor den Rechts- sie diese Möglichkeit nutzen. Neben verheirateten und populisten der AfD wird hier auf dem Rücken von verpartnerten Paaren besteht auch die Möglichkeit, in- Kindern verfassungsfeindliche Politik gemacht! Ginge formell lebenden Paaren, die sich in stabilen und lang- es wirklich um den Schutz der Familie und um das Kin- fristigen Beziehungen befinden, das gemeinschaftliche deswohl, dann würden Sie sich dafür einsetzen, diese El- Adoptionsrecht einzuräumen. Das Übereinkommen in tern-Kind-Beziehungen rechtlich abzusichern. der Fassung von 1967 sah die gemeinschaftliche Adop- tion für Verheiratete und durch Ehegatten vor. Es war Ausrede für SPD und Union, eine gemeinschaftliche Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbaucher- Adoption durch eingetragene Lebenspartner zuzulassen. schutz: Am 23. Mai dieses Jahres hat Deutschland das Schweden und das Vereinigte Königreich haben aus die- revidierte Europäische Übereinkommen vom 27. No- sem Grund das Übereinkommen vor einigen Jahren ge- vember 2008 über die Adoption von Kindern unterzeich- kündigt, um nicht gegen diese Passage zu verstoßen. Seit net. Endlich, möchte ich hinzufügen. Sechzehn andere 2008 ist nun die revidierte Fassung verabschiedet und Mitgliedstaaten des Europarates hatten das Übereinkom- seit 2011 in Kraft, und es wird Zeit, dass auch Deutsch- men schon vor uns unterzeichnet. land das Abkommen endlich ratifiziert. Sie wissen, warum Deutschland mit der Unterzeich- Jetzt fragt man sich also, ob die Bundesregierung in nung so zögerlich war: Das revidierte Übereinkommen der Sache zur Einsicht gekommen ist und einen längst gestattet den Vertragsstaaten erstmals, in ihrem nationa- notwendigen Schritt in Sachen Gleichberechtigung ma- len Adoptionsrecht die Adoption durch Personen glei- chen will. Der Haken findet sich dann aber in der Be- chen Geschlechts zuzulassen. gründung, in der die Bundesregierung ihre vorgestrigen Ansichten deutlich werden lässt. Dort heißt es: „Von der Die Sukzessivadoption durch Lebenspartner ist in (B) in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im na- Deutschland inzwischen zulässig. Das allein ist Grund (D) tionalen Adoptionsrecht die gemeinsame Adoption genug, das revidierte Übereinkommen zu ratifizieren: Es durch Lebenspartner möglich zu machen, wird die Bun- gilt, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden, der desregierung keinen Gebrauch machen.“ darin besteht, dass die jetzige – durch das Bundesverfas- sungsgericht gestaltete und nunmehr auch gesetzlich ge- Der Bundestag sollte der Bundesregierung in ihrer regelte – Rechtslage dem „alten“ Übereinkommen von gesetzgeberischen Apathie nicht folgen und sich den 1967 widerspricht, an das Deutschland derzeit noch ge- Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu Herzen neh- bunden ist. Das Übereinkommen von 1967 erlaubte die men. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass Sukzessivadoption nur Ehegatten. Das Übereinkommen es keine relevanten Unterschiede zwischen Ehe und Le- von 2008 erlaubt die Sukzessivadoption auch für Le- benspartnerschaften gibt, die es rechtfertigen würden, benspartner. Adoptionsmöglichkeiten unterschiedlich auszugestal- ten. In der Urteilsbegründung hält das Gericht wortwört- Die gemeinsame Adoption bleibt in Deutschland da- lich fest: „Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener gegen Ehegatten vorbehalten, und ich möchte eines sehr Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal- deutlich klarstellen: Das revidierte Übereinkommen tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, zwingt uns keineswegs, diese Rechtslage zu ändern! Es bestehen nicht.“ Genau das wird hier allerdings – mal eröffnet den Vertragsstaaten im Wege einer Öffnungs- wieder – ignoriert. Das ist nicht nur falsch und beschä- klausel nur Spielraum, den sie nutzen können, aber nicht mend, sondern auch gleich doppelt verfassungswidrig. müssen. Ich möchte daher nicht weiter auf die Frage ein- Nicht nur werden Menschen in Lebenspartnerschaften gehen, ob Deutschland die gemeinsame Adoption durch benachteiligt, sondern auch die betroffenen Kinder. Lebenspartner zulassen sollte oder nicht. Die unter- Während Ehepaare gemeinschaftlich adoptieren können, schiedlichen Ansichten hierzu sind hinreichend bekannt. bleibt das Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern ver- Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass der Schwer- wehrt. Den Kindern fehlt es dadurch an Sicherheit: Sie punkt des revidierten Europäischen Adoptionsüberein- leben nicht in einer rechtlich anerkannten Familie, und kommens nicht in der soeben angesprochenen Öffnungs- sie werden im Unterhalts- und Erbrecht benachteiligt. klausel liegt. Das Übereinkommen von 1967 ist in Dabei sind die Bedenken, dass es Kindern in Regenbo- mehrfacher Hinsicht veraltet und musste deshalb grund- genfamilien weniger gut gehe, längst ausgeräumt. Sämt- legend überarbeitet werden. liche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, keinen Die Neufassung berücksichtigt diverse internationale Nachteil davon haben. Übereinkommen, wie zum Beispiel das Übereinkommen 5994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. November 2014

(A) der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über Damit werden für Deutschland schon vorhandene (C) die Rechte des Kindes. Entsprechend wird die Rechts- Standards übernommen. Anpassungsbedarf im deut- stellung der Kinder verbessert, unter anderem dadurch, schen Recht besteht nur im Hinblick auf die Frist zur dass sie im Adoptionsverfahren grundsätzlich anzuhören Aufbewahrung der Vermittlungsakten für die Adoption. sind. Das Kind wird damit zum selbstständigen Verfah- rensbeteiligten. Das ist für unsere Rechtstradition selbst- Der Blick auf unser eigenes Adoptionsrecht würde verständlich. Für andere Staaten des Europarates ist das aber zu kurz greifen: Außerhalb Deutschlands wird das aber Neuland. revidierte Übereinkommen zu einer Stärkung der Kin- derrechte beitragen. Wir sollten durch die Ratifizierung Die Rechtsstellung nichtehelicher Väter wird eben- ein gutes Beispiel geben und andere Staaten ermutigen, falls verbessert, da nach der Neufassung nun auch ihre mit der Ratifizierung des Abkommens die Kinderrechte Zustimmung zur Adoption erforderlich ist. in ihrem Land zu stärken.

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