Plenarprotokoll 18/173

Deutscher

Stenografischer Bericht

173. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2016

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- (CDU/CSU) ...... 17010 D neten Dr. Egon Jüttner, Karl Schiewerling und ...... 17001 A Sönke Rix (SPD)...... 17012 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (CDU/CSU)...... 17013 C nung ...... 17001 B Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Absetzung des Tagesordnungspunktes 26. . . 17002 A DIE GRÜNEN)...... 17013 D Begrüßung von Vertretern der Botschaften Ar- (CDU/CSU) ...... 17015 C meniens und der Türkei ...... 17028 A

Tagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung a) Erste Beratung des von der Bundesregie- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des zes zur Regulierung des Prostitutions- Europäischen Parlaments und des Rates gewerbes sowie zum Schutz von in der vom 5. April 2011 zur Verhütung und Be- Prostitution tätigen Personen kämpfung des Menschenhandels und zum Drucksache 18/8556...... 17002 B Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Bericht der Bundesregierung zu den Rates Auswirkungen des Gesetzes zur Rege- Drucksache 18/4613...... 17017 B lung der Rechtsverhältnisse der Prosti- tuierten (Prostitutionsgesetz – ProstG) Christian Lange, Parl . Staatssekretär Drucksache 16/4146...... 17002 B BMJV...... 17017 B Manuela Schwesig, Bundesministerin (DIE LINKE)...... 17018 C BMFSFJ ...... 17002 C Elisabeth Winkelmeier-Becker Cornelia Möhring (DIE LINKE) ...... 17003 D (CDU/CSU)...... 17019 D (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 17005 C (BÜNDNIS 90/ Cornelia Möhring (DIE LINKE) ...... 17006 B DIE GRÜNEN)...... 17021 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Dr . Eva Högl (SPD) ...... 17023 B DIE GRÜNEN)...... 17007 D Dr . (CDU/CSU)...... 17024 C Dr . Carola Reimann (SPD)...... 17008 D Dr . (SPD)...... 17026 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17009 C Dr . Hans-Peter Uhl (CDU/CSU)...... 17026 C II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . , Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Tagesordnungspunkt 5: Dr . (SPD)...... 17051 C a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD (CDU/CSU)...... 17052 D und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erin- nerung und Gedenken an den Völker- mord an den Armeniern und anderen Tagesordnungspunkt 31: christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksache 18/8613...... 17027 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Umweltstatistikge- b) Beschlussempfehlung und Bericht des setzes und des Hochbaustatistikgesetzes Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Drucksache 18/8341...... 17054 B der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Ku- nert, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abge- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 100. Jahresgedenken des Völkermords zes zu dem Abkommen vom 17. Dezem- an den Armenierinnen und Armeniern ber 2015 zwischen der Bundesrepublik 1915/1916 – Deutschland muss zur Auf- Deutschland und Japan zur Beseitigung arbeitung und Versöhnung beitragen der Doppelbesteuerung auf dem Ge- Drucksachen 18/4335, 18/7909...... 17028 A biet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern sowie zur Präsident Dr . ...... 17027 D Verhinderung der Steuerverkürzung und -umgehung Dr . Rolf Mützenich (SPD) ...... 17028 C Drucksache 18/8516...... 17054 B Dr . (DIE LINKE)...... 17030 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr . (CDU/CSU)...... 17031 D rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Umsetzung der Richtlinien Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ (EU) 2015/566 und (EU) 2015/565 zur DIE GRÜNEN)...... 17032 D Einfuhr und zur Kodierung menschli- Dr . (CDU/CSU)...... 17034 B cher Gewebe und Gewebezubereitungen Drucksache 18/8580...... 17054 B (SPD)...... 17035 A d) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr . Hans-Peter Uhl (CDU/CSU)...... 17036 C CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- (CDU/CSU)...... 17037 C wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes Dr . Martin Pätzold (CDU/CSU)...... 17038 B zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinan- zierungsgesetzes Tagesordnungspunkt 6: Drucksache 18/8616...... 17054 C Antrag der Abgeordneten Matthias W . Birk- e) Antrag der Abgeordneten Dr . Alexander wald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Her- S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, bert Behrens, weiterer Abgeordneter und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion DIE LINKE: Die Riester-Rente in DIE LINKE: Keine Verlegung von Bun- die gesetzliche Rentenversicherung über- deswehr-Einheiten nach Litauen führen Drucksache 18/8608...... 17054 C Drucksache 18/8610...... 17039 B f) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Matthias W . Birkwald (DIE LINKE)...... 17039 B Nationaler Implementierungsplan zur Umsetzung der EU‑Jugendgarantie in Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU). . . . 17041 A Deutschland Matthias W . Birkwald (DIE LINKE). . . . . 17041 C Drucksache 18/1108...... 17054 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ g) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- DIE GRÜNEN)...... 17043 B schung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: Tech- Matthias W . Birkwald (DIE LINKE). . . . . 17044 B nikfolgenabschätzung (TA): Bilanz der (SPD) ...... 17045 C Sommerzeit Drucksache 18/8000...... 17054 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE)...... 17046 D (CDU/CSU)...... 17047 C Zusatztagesordnungspunkt 2: (SPD)...... 17048 D Antrag der Abgeordneten , Christian Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 17050 B Kühn (Tübingen), , weiterer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 III

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ hier: Stellungnahme gegenüber der DIE GRÜNEN: Spekulation mit Immobilien Bundesregierung gemäß Artikel 23 Ab- und Land beenden – Keine Steuerbegüns- satz 3 des Grundgesetzes tigung für Übernahmen durch Share Deals Wirtschaftspartnerschaftsabkommen Drucksache 18/8617...... 17055 A mit der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika und der ostafrikani- schen Gemeinschaft ablehnen Tagesordnungspunkt 32: Drucksachen 18/8243, 18/8643...... 17056 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesregierung: Tagesordnungspunkt 7: Sechste Verordnung zur Änderung der a) Zweite und dritte Beratung des von der Außenwirtschaftsverordnung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Drucksachen 18/7992, 18/8129 Nr .2, eines Zweiten Gesetzes zur Änderung 18/8276...... 17055 B des Telemediengesetzes Drucksachen 18/6745, 18/8645...... b)–i) 17056 D Beratung der Beschlussempfehlungen des b) Zweite und dritte Beratung des von den Petitionsausschusses: Sammelübersich- Abgeordneten Dr . , ten 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319 und , (Köln), 320 zu Petitionen weiteren Abgeordneten und der Fraktion Drucksachen 18/8411, 18/8412, 18/8413, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den 18/8414, 18/8415, 18/8416, 18/8417, Abgeordneten , Her- 18/8418...... 17055 B bert Behrens, Dr . , weiteren Ab- geordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Zusatztagesordnungspunkt 3: zur Änderung des Telemediengesetzes – Störerhaftung a) Zweite und dritte Beratung des von der Drucksachen 18/3047, 18/3861...... 17056 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (SPD)...... 17057 A 29. Juni 2015 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Dr . Petra Sitte (DIE LINKE)...... 17057 D der Regierung der Republik Kosovo (CDU/CSU)...... 17059 A über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/8211, 18/8642...... 17056 B DIE GRÜNEN)...... 17059 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (SPD) ...... 17060 D schusses für wirtschaftliche Zusammenar- Hansjörg Durz (CDU/CSU)...... beit und Entwicklung zu dem Antrag der 17061 D Abgeordneten , Dr .Frithjof Christian Flisek (SPD) ...... 17063 A Schmidt, (Augsburg), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (CDU/CSU) ...... 17063 D NIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ für einen Beschluss des Rates über die DIE GRÜNEN)...... 17064 C Unterzeichnung und die vorläufige An- wendung des Wirtschaftspartnerschafts- abkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einer- Tagesordnungspunkt 8: seits und den SADC-WPA-Staaten an- a) – Zweite und dritte Beratung des von der dererseits, KOM(2016) 8 endg.; Rats- Bundesregierung eingebrachten Ent- dok. 5608/16 wurfs eines Gesetzes zur Stärkung und der beruflichen Weiterbildung und zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Versicherungsschutzes in der des Rates über die Unterzeichnung und Arbeitslosenversicherung (Arbeitslo- die vorläufige Anwendung des Wirt- senversicherungsschutz- und Weiter- schaftspartnerschaftsabkommens zwi- bildungsstärkungsgesetz – AWStG) . schen den Partnerstaaten der Ostafrika- Drucksachen 18/8042, 18/8647. . . . . 17066 A nischen Gemeinschaft einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitglied- – Bericht des Haushaltsausschusses ge- staaten andererseits, KOM(2016) 63 mäß § 96 der Geschäftsordnung endg.; Ratsdok. 6126/16 Drucksache 18/8648 ...... 17066 B IV Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeord- Ausschusses für Arbeit und Soziales neten , , – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabi- Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und ne Zimmermann (Zwickau), Matthias der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- W . Birkwald, Susanna Karawanskij, NEN: Milchmarkt stabilisieren – Milch- weiterer Abgeordneter und der Frakti- krise beenden on DIE LINKE: Schutzfunktion der Drucksachen 18/6206, 18/8641...... 17075 C Arbeitslosenversicherung stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, DIE GRÜNEN)...... 17075 C Markus Kurth, weiterer Abgeordneter , Parl . Staatssekretär BMEL. . . . . 17077 A und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitslosenversicherung Dr . (DIE LINKE)...... 17078 D gerechter gestalten und Zugänge ver- Dr .Wilhelm Priesmeier (SPD)...... 17079 D bessern Drucksachen 18/7425, 18/5386, (CDU/CSU)...... 17081 B 18/8647 ...... 17066 B (SPD) ...... 17082 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem (CDU/CSU)...... 17083 C Antrag der Abgeordneten Brigitte Poth- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE). . . . . 17084 B mer, Markus Kurth, Beate Müller-Gemme- ke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeits- Tagesordnungspunkt 10: förderung neu ausrichten – Nachhaltige Integration und Teilhabe statt Ausgren- Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und zung SPD: Das Fachkräftepotenzial ausschöp- Drucksachen 18/3918, 18/5119...... 17066 B fen – Zukunftschancen der deutschen Wirt- schaft sichern , Parl . Staatssekretärin Drucksache 18/8614...... 17085 B BMAS...... 17066 C Axel Knoerig (CDU/CSU)...... Sabine Zimmermann (Zwickau) 17085 C (DIE LINKE) ...... 17067 B Sabine Zimmermann (Zwickau) Albert Weiler (CDU/CSU)...... 17068 C (DIE LINKE) ...... 17086 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Dr . Hans-Joachim Schabedoth (SPD)...... 17087 C DIE GRÜNEN)...... 17069 B (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 17070 B DIE GRÜNEN)...... 17088 C Uwe Lagosky (CDU/CSU)...... 17071 A Jana Schimke (CDU/CSU)...... 17089 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (SPD)...... 17091 A DIE GRÜNEN)...... 17072 B Dr . (CDU/CSU)...... 17092 A Uwe Lagosky (CDU/CSU)...... 17072 C Dr . (SPD) ...... 17072 D Tagesordnungspunkt 11: Dr . (CDU/CSU) ...... 17073 C Antrag der Abgeordneten , , Sevim Dağdelen, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Anerken- Tagesordnungspunkt 13: nung der sowjetischen Kriegsgefangenen a) Antrag der Abgeordneten Friedrich Osten- als NS-Opfer dorff, Dr ., , Drucksache 18/8422...... 17093 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bäuerli- Jan Korte (DIE LINKE)...... 17093 B cher Milchviehhaltung eine Zukunft ge- Dr .André Berghegger (CDU/CSU) ...... 17094 C ben – Milchmenge jetzt begrenzen Drucksache 18/8618...... 17075 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17096 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- Matthias Schmidt (Berlin) (SPD)...... 17097 A schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte (DIE LINKE)...... 17097 D Dr . Kirsten Tackmann, , Heid- run Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Barbara Woltmann (CDU/CSU)...... 17098 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 V

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ in Lebanon“ (UNIFIL) auf Grundlage der DIE GRÜNEN)...... 17100 A Resolution 1701 (2006) und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheits- Barbara Woltmann (CDU/CSU)...... 17100 C rates der Vereinten Nationen, zuletzt Reso- (SPD)...... 17101 A lution 2236 (2015) vom 21. August 2015 Drucksache 18/8624...... 17113 C

Tagesordnungspunkt 12: Michael Roth, Staatsminister AA...... 17113 D Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)...... 17115 A der deutschen Beteiligung an der interna- Jürgen Hardt (CDU/CSU)...... 17116 A tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) (BÜNDNIS 90/ des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen DIE GRÜNEN)...... 17116 D vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech- nischen Abkommens zwischen der interna- (CDU/CSU) ...... 17117 C tionalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- goslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Tagesordnungspunkt 15: Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Drucksache 18/8623...... 17102 B Lay, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter Dr . , Parl . Staatssekretär und der Fraktion DIE LINKE: Bundespro- BMVg...... 17102 B gramm Kita- und Schulverpflegung – Für alle Kinder und Jugendlichen eine hoch- Dr .Alexander S . Neu (DIE LINKE)...... 17103 B wertige und unentgeltliche Essensversor- Dirk Vöpel (SPD)...... 17104 B gung sicherstellen Dr . (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/8611...... 17118 B DIE GRÜNEN)...... 17105 B Karin Binder (DIE LINKE) ...... 17118 C Florian Hahn (CDU/CSU) ...... 17106 A (CDU/CSU) ...... 17119 B Dr .Alexander S . Neu (DIE LINKE)...... 17107 A (DIE LINKE)...... 17119 D Florian Hahn (CDU/CSU) ...... 17107 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17120 C Tagesordnungspunkt 9: Dr . (DIE LINKE)...... 17121 D Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Katja Elvira Drobinski-Weiß (SPD)...... 17122 A Dörner, Luise Amtsberg, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (CDU/CSU)...... 17122 D GRÜNEN: Elternschaftsvereinbarung bei Samenspende und das Recht auf Kenntnis Karin Binder (DIE LINKE) ...... 17123 D eigener Abstammung (SPD)...... 17124 B Drucksache 18/7655...... 17107 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17108 A Tagesordnungspunkt 16: Dr . Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU). . . . 17109 A Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Jörn Wunderlich (DIE LINKE)...... 17110 A tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- (SPD)...... 17110 D rung des Agrarmarktstrukturgesetzes Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/8235, 18/8646 ...... 17125 B DIE GRÜNEN)...... 17111 B (CDU/CSU)...... 17125 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU)...... 17112 A Karin Binder (DIE LINKE) ...... 17126 A Dr . Matthias Bartke (SPD)...... 17113 A Dr .Wilhelm Priesmeier (SPD)...... 17126 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 14: DIE GRÜNEN)...... 17127 D Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Waldemar Westermayer (CDU/CSU)...... 17128 D Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der „United Nations Interim Force (SPD)...... 17129 D VI Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Tagesordnungspunkt 17: Änderung bewachungsrechtlicher Vor- schriften Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr .Thomas Gambke, wei- Drucksache 18/8558...... 17146 B terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für mehr Transpa- renz und demokratische Kontrolle bei der Tagesordnungspunkt 21: Ministererlaubnis Drucksache 18/8078...... 17130 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ besseren Vereinbarkeit von Familie, Pfle- DIE GRÜNEN)...... 17130 D ge und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes und Soldatinnen und Soldaten Dr . (CDU/CSU)...... 17131 D sowie zur Änderung weiterer dienstrechtli- Michael Schlecht (DIE LINKE)...... 17133 A cher Vorschriften Marcus Held (SPD)...... 17134 A Drucksache 18/8517...... 17146 C Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17134 B Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 18: eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Ge- setzes zur Änderung des Vierten Buches – Zweite und dritte Beratung des von der Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (6. SGB IV-Änderungsgesetz – 6. SGB IV- eines Zweiten Gesetzes über eine finan- ÄndG) zielle Hilfe für Dopingopfer der DDR Drucksache 18/8487...... (Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz) 17146 D Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461 Nr . 1 .4, 18/8515...... 17136 B Tagesordnungspunkt 23: – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Erste Beratung des von der Bundesregierung Drucksache 18/8528...... 17136 B eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung des GAK-Gesetzes (CDU/CSU)...... 17136 C Drucksache 18/8578...... 17146 D Dr .André Hahn (DIE LINKE)...... 17137 D (SPD) ...... 17139 A Tagesordnungspunkt 24: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17140 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes (CDU/CSU)...... 17141 A zur Änderung des Direktzahlungen-Durch- führungsgesetzes Drucksache 18/8514...... 17147 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Susanna Karawans- kij, , , weiterer Tagesordnungspunkt 25: Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Schutz von Verbraucherinteressen stärken rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Drucksache 18/8609...... 17142 C zes zur Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe Susanna Karawanskij (DIE LINKE)...... 17142 C Drucksache 18/8579...... 17147 B Dr . (CDU/CSU)...... 17143 B b) Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, (SPD) ...... 17144 C , Matthias W . Birkwald, (CDU/CSU)...... 17145 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zeitgemäße Ant- wort auf neue psychoaktive Substanzen Tagesordnungspunkt 20: Drucksache 18/8459...... 17147 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nächste Sitzung ...... 17147 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 VII

Anlage 1 Anlage 6 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 17149 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung bewa- Anlage 2 chungsrechtlicher Vorschriften Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- (Tagesordnungspunkt 20)...... 17158 A mung über den Antrag der Fraktionen CDU/ Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU)...... 17158 A Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Marcus Held (SPD)...... 17159 B Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 (DIE LINKE)...... 17160 A (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 17149 C (BÜNDNIS 90/ Michael Brand (CDU/CSU)...... 17149 C DIE GRÜNEN)...... 17160 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE)...... 17151 A (CDU/CSU)...... 17153 A Anlage 7 Dr . Dorothee Schlegel (SPD)...... 17153 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (CDU/CSU) ...... 17154 C des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Ver- (CDU/CSU)...... 17155 A einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes und Sol- Anlage 3 datinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann (Tagesordnungspunkt 21)...... 17161 B (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Aus- Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 17161 B schusses für Wirtschaft und Energie zu der von (CDU/CSU)...... 17162 C den Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- gebrachten Entschließung zum Entwurf eines Matthias Schmidt (Berlin) (SPD)...... 17163 B Zweiten Gesetzes zur Änderung des Telemedi- Frank Tempel (DIE LINKE)...... 17164 C engesetzes (Drucksache 18/8645) (Tagesordnungspunkt 7 a)...... 17155 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 17165 B

Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung Anlage 8 über den von der Bundesregierung eingebrach- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung ten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der des von der Bundesregierung eingebrachten beruflichen Weiterbildung und des Versiche- Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Ände- rungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Wei- anderer Gesetze (6 .SGB IV-Änderungsge- terbildungsstärkungsgesetz – AWStG) setz – 6 . SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 8 a)...... 17155 C (Tagesordnungspunkt 22)...... 17166 A (SPD) ...... 17155 C Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) ...... 17166 A Martin Dörmann (SPD) ...... 17156 A Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU). . . . 17166 C Siegmund Ehrmann (SPD)...... 17156 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD)...... 17167 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE)...... 17168 B Anlage 5 Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)...... 17168 D Antrags der Abgeordneten Susanna Karawans- kij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fi- Anlage 9 nanzaufsicht nach Anlagepleiten zum Schutz Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung von Verbraucherinteressen stärken des von der Bundesregierung eingebrachten (Tagesordnungspunkt 19)...... 17157 B Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung Dr. (BÜNDNIS 90/ des GAK-Gesetzes DIE GRÜNEN)...... 17157 B (Tagesordnungspunkt 23)...... 17169 C VIII Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Hans-Georg von der Marwitz Anlage 11 (CDU/CSU)...... 17169 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (SPD)...... 17170 B - des von der Bundesregierung eingebrach- (DIE LINKE)...... 17171 D ten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung der Verbreitung neuer psychoaktiver (BÜNDNIS 90/ Stoffe DIE GRÜNEN)...... 17173 C - des Antrags der Abgeordneten Frank Peter Bleser, Parl. Staatssekretär BMEL. . . . 17174 A Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zeitgemäße Anlage 10 Antwort auf neue psychoaktive Substanzen (Tagesordnungspunkt 25 a und b)...... 17178 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Marlene Mortler (CDU/CSU)...... 17178 C Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes Burkhard Blienert (SPD) ...... 17179 A (Tagesordnungspunkt 24)...... 17175 A Martina Stamm-Fibich (SPD)...... Artur Auernhammer (CDU/CSU)...... 17175 A 17180 A Hermann Färber (CDU/CSU) ...... 17175 C Frank Tempel (DIE LINKE)...... 17181 A Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD)...... 17176 B Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE)...... 17177 A 17182 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin DIE GRÜNEN)...... 17177 D BMG...... 17183 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17001

(A) (C)

173. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2016

Beginn: 9 .00 Uhr

Vizepräsidentin : a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Neh- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- men Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet . setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach- Deutschland und der Regierung der Republik träglich dem Kollegen Dr. Egon Jüttner zu seinem Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit 74 .Geburtstag, dem Kollegen Karl Schiewerling zu in Strafsachen seinem 65 . Geburtstag sowie dem Kollegen Bernhard Daldrup, der gestern seinen 60 . Geburtstag gefeiert hat . Drucksache 18/8211 (Beifall) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ihnen gelten alle guten Wünsche des gesamten Hauses . ses für Recht und Verbraucherschutz (6 .Aus - schuss) (B) Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord- (D) nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punk- Drucksache 18/8642 te zu erweitern: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: sammenarbeit und Entwicklung (19 .Ausschuss) Haltung der Bundesregierung zur Zukunft zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, der erneuerbaren Energien in Deutschland Dr ., Claudia Roth (Augsburg), und Europa weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN (siehe 172 . Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra- fahren tes über die Unterzeichnung und die vorläufi- (Ergänzung zu TOP 31) ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts- abkommens zwischen der Europäischen Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits Paus, Christian Kühn (Tübingen), Kerstin und den SADC-WPA-Staaten andererseits Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Spekulation mit Immobilien und Land been- und den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah- zu dem Vorschlag für einen Beschluss des men durch Share Deals Rates über die Unterzeichnung und die Drucksache 18/8617 vorläufige Anwendung des Wirtschafts- Überweisungsvorschlag: partnerschaftsabkommens zwischen den Finanzausschuss (f) Partnerstaaten der Ostafrikanischen Ge- Innenausschuss meinschaft einerseits und der Europäischen Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits heit KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16 ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- sprache regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des (Ergänzung zu TOP 32) Grundgesetzes 17002 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundes- (C) Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri- ministerin Manuela Schwesig . ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab- lehnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drucksachen 18/8243, 18/8643 ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines In- Senioren, Frauen und Jugend: tegrationsgesetzes Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der Bundesjustizminister und Drucksache 18/8615 ich legen Ihnen am heutigen Tage zwei Gesetzentwürfe Überweisungsvorschlag: vor, mit denen wir dafür sorgen wollen, dass Schluss mit Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Zwangsprostitution, Schluss mit Menschenhandel und Innenausschuss Gewalt in der Prostitution ist . Das sogenannte Prostitu- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- iertenschutzgesetz soll dazu beitragen, dass die Frauen schätzung und Männer, die in der Prostitution arbeiten, zukünftig Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO besser geschützt werden, und Sie werden den Parlamen- tarischen Staatssekretär in der Debatte zum nächsten Ta- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- gesordnungspunkt zum Thema Zwangsprostitution und weit erforderlich, abgewichen werden . Menschenhandel hören . Die Tagesordnungspunkte 9 und 13 tauschen ihre Plät- Zugegebenermaßen haben wir es hier mit einem sehr ze und die vorgesehenen Redezeiten . komplexen und schwierigen Thema zu tun . Warum? Vie- Der Tagesordnungspunkt 26 – Berufsbildungsbericht le Frauen und auch Männer in der Prostitution befinden 2016 – soll abgesetzt und stattdessen der Entwurf eines sich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen . Ich selbst Integrationsgesetzes auf der Drucksache 18/8615 aufge- habe zum Beispiel mit Prostituierten gesprochen, die rufen werden . ganz Verschiedenes erlebt haben . Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Da waren die zwei jungen Frauen, die mir ganz selbst- Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos- bewusst gesagt haben: Frau Schwesig, wir machen die- sen . sen Beruf gerne, wir machen ihn freiwillig . Wir haben in unserem Bereich gute Arbeitsbedingungen . Wir möchten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: (B) auch, dass wir akzeptiert und respektiert werden .– Ich (D) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- konnte das diesen Frauen abnehmen . Das war glaubwür- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regu- dig, das war verbindlich . lierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Aber im gleichen Gespräch hat mich eine junge Ost- Schutz von in der Prostitution tätigen Perso- europäerin angesprochen und gesagt: Ich habe anderes nen erlebt . Ich habe keine Freiwilligkeit erlebt . Ich habe auch Drucksache 18/8556 keine guten Arbeitsbedingungen erlebt . Ich habe Aus- beutung und Gewalt erlebt . Ich war wie versteckt . Mich Überweisungsvorschlag: hat niemand gesehen; ich musste ja nirgendwo hin, auch Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss zu keiner Beratung . Ich war sozusagen versteckt, und der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Zuhälter konnte machen, was er wollte . Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Eine andere Prostituierte hat mir berichtet, dass sie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe frühzeitig – schon als junges Mädchen, schon als Min- derjährige – zur Prostitution getrieben wurde . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Sie sehen an diesen drei Beispielen, dass wir es mit Bericht der Bundesregierung zu den Auswir- ganz unterschiedlichen Lebenslagen zu tun haben . Des- kungen des Gesetzes zur Regelung der Rechts- halb möchte ich dafür werben, auch an dieses Gesetz verhältnisse der Prostituierten (Prostitutions- entsprechend heranzugehen . Wir müssen versuchen, den gesetz – ProstG) verschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden, Drucksache 16/4146 und dafür sorgen, dass die Frauen und Männer, die in der Prostitution sind, gute Bedingungen haben . Gleichzeitig Überweisungsvorschlag: müssen wir aber dafür sorgen, dass niemand Frauen und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Männer, Mädchen und Jungen in unserem Land benutzen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und zur Prostitution zwingen kann . Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausschuss für Gesundheit Zur Wahrheit gehört, dass in Deutschland viele Prosti- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tuierte unter menschenverachtenden Bedingungen arbei- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- ten . Damit muss Schluss sein . Es wird künftig einfacher, nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Menschenhändler zu verurteilen, und es kann besser ge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17003

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) gen Zwangsprostitution vorgegangen werden . Wir wol- heitstechnische Mindestanforderungen . Ein konkretes (C) len aber auch dafür sorgen, dass Bordelle zukünftig klare Beispiel ist, dass das Arbeitszimmer mit einem Notrufs- Regeln bekommen . Viele Frauen sind nicht in der Positi- ystem ausgestattet sein muss, damit die Frauen in Notsi- on, selbst bessere Bedingungen durchsetzen zu können . tuationen auch wirklich Hilfe rufen können . Wir sorgen Viele Frauen sind in der Macht von Bordellbesitzern und auch dafür, dass Prostituierte besser beraten werden, und ihnen schutzlos ausgeliefert, oft auch der Gewalt . Nie- wir legen hohe Anforderungen an diejenigen, die Bordel- mand kontrolliert, unter welchen Bedingungen Bordelle le betreiben, an . arbeiten . Es ist in Deutschland schwieriger, eine Pom- Es gibt zukünftig klare Rechte und viel mehr Hand- mesbude zu eröffnen als ein Bordell . Damit muss Schluss lungssicherheit für die Prostituierten . Deshalb bin ich sein . Wir brauchen für Bordelle klare Regeln . zuversichtlich, dass es uns einerseits mit dem Prostitu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten iertenschutzgesetz und andererseits mit dem Gesetz von der CDU/CSU) Herrn Maas zur Bekämpfung von Menschenhandel ge- lingt, dafür zu sorgen, dass die legale Prostitution unter Wir wollen Frauen und Männer davor schützen, zur fairen Bedingungen abläuft und dass wir zukünftig gegen Prostitution gezwungen zu werden . Wir wollen die Frau- Zwangsprostitution, Ausbeutung und Gewalt besser vor- en und Männer, die freiwillig in der Prostitution arbeiten, gehen können . besser schützen: vor Gefährdungen ihrer Gesundheit und ihrer sexuellen Selbstbestimmung, vor Ausbeutung und Ich hätte mir gewünscht, dass diese Themen schon vor Gewalt . Deshalb geben wir den Prostituierten klare in den vergangenen Legislaturperioden intensiver ange- Rechte an die Hand und unterstützen sie bei der Wahrneh- gangen worden wären . Wir haben hier seit vielen Jahren mung ihrer Rechte . Nur wer seine Rechte kennt, nur wer Zustände, die unhaltbar sind . Ich habe selber erlebt, wie Beratungsangebote bekommt und sie auch in Anspruch schwierig es angesichts der verschiedenen Gemengela- nimmt, der ist wirklich geschützt . Deshalb ist es richtig, gen ist, die unterschiedlichen Positionen von „Lasst doch dass wir zukünftig eine Anmeldepflicht vorsehen und alles so, wie es ist“ über „Freiwilligkeit über alles“ bis diese mit einer Beratungspflicht verbinden, um genau der hin zu „Verbietet Prostitution am besten ganz“ in einem jungen Prostituierten, die bisher gar nicht rauskam, die Gesetz zusammenzubekommen, das den Frauen und gar nicht sichtbar war, die Chance zu geben, gute Hilfe Männern vor Ort wirklich gerecht wird . zu bekommen . Das ist keine Gängelung, sondern Schutz Ich bedanke mich herzlich bei der Regierungskoaliti- und Unterstützung für diese Prostituierten . on . Wir haben intensiv beraten, auch gestritten . Ich bin (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – aber davon überzeugt, dass wir jetzt gute Regeln vorlie- Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Die Ein- gen haben . (B) (D) sicht kommt spät, aber sie kommt!) Ich freue mich auf die Beratung und wünsche mir, Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Wir werden den dass wir nach vielen Jahren Stillstand dieses Gesetz jetzt Prostitutionsstätten, also den Bordellen, zukünftig Aufla- durchziehen, um endlich etwas gegen Ausbeutung in der gen erteilen . Bis jetzt ist es so, dass es kaum Regeln gibt . Prostitution und für einen besseren Schutz derjenigen, Jeder kann so einen Betrieb anmelden; überprüft wird so die ihr freiwillig nachgehen, zu tun . gut wie nichts . Damit muss Schluss sein . Zukünftig wird (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Gewerbe erlaubnispflichtig, und wir werden dafür sorgen, dass geschaut wird: Wie sehen die Verträge mit den Prostituierten aus? Wie gewährleistet der Betreiber, Vizepräsidentin Petra Pau: dass dort keine Minderjährigen beschäftigt werden? – Das Wort hat die Kollegin Cornelia Möhring für die Wenn die zuständige Behörde den Eindruck hat, dass et- Fraktion Die Linke . was nicht mit rechten Dingen zugeht, dann muss sie auch (Beifall bei der LINKEN) handeln können . Wir werden außerdem menschenunwürdige Betriebs- Cornelia Möhring (DIE LINKE): konzepte verbieten, zum Beispiel die Flatrate-Bordelle . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frau Ministerin Schwesig, heute ist der Internationale CDU/CSU) Hurentag, der Tag, an dem seit über 40 Jahren Sexarbei- terinnen weltweit für ihre Selbstbestimmungsrechte und Es kann nicht sein, dass eine Frau eine ganze Nacht zu für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen . allem verkauft wird . Die Frau muss die Möglichkeit ha- Dass Sie ausgerechnet an diesem Tag Ihr Gesetz auf den ben, selbst zu sagen, was sie kann und was sie will . Es Weg bringen, mit dem Sie das Leben der meisten Sexar- geht nicht, dass im wahrsten Sinne des Wortes auf dem beiterinnen erschweren werden, Rücken der Frauen Ausbeutung herrscht . (Widerspruch des Abg . Marcus Weinberg (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der [Hamburg] [CDU/CSU]) CDU/CSU) ist ignorant, eine Provokation oder beides . Zu der strengeren Regulierung dieses Gewerbes ge- (Beifall bei der LINKEN) hören zukünftig auch bessere Arbeitsbedingungen für Prostituierte . Das ist unser Ziel: Wir wollen Schutzstan- Ihr Gesetz nennen Sie zwar Prostituiertenschutzge- dards, insbesondere räumliche, hygienische und sicher- setz . Aber die Schutzmaßnahmen, die Frau Schwesig 17004 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Cornelia Möhring (A) hier eben beschrieben hat, finden sich zumindest in ih- lich Gewalt erfährt oder wenn sie wegen einer fehlenden (C) rer Schutzwirkung darin überhaupt nicht . Sie werden mit Anmeldung oder der Tätigkeit und der Angst vor dem diesem Gesetz die Arbeit im Verborgenen fördern – ohne Outing erpresst wird? Sie wird eben nicht zur Polizei ge- Rechte und ohne Schutz . hen . Sexarbeiterinnen sollen sich mit Inkrafttreten des Ge- Sie haben eben die Anmeldepflicht auch damit begrün- setzes individuell und persönlich mit Familiennamen und det, dass so eine Aufklärung über die Rechte von Prosti- Adresse registrieren lassen . Sie bekommen dann eine tuierten erfolgen kann oder Prostituierte sagen könnten, Anmeldebestätigung, so eine Art Hurenausweis . Diesen sie bräuchten noch eine Beratung . Das ist eine schlech- müssen sie mit sich führen und bei Kontrollen vorlegen . te Begründung . Information und Beratung können doch Die Anmeldung ist nicht etwa einmalig, und man meldet viel besser freiwillig in Beratungsstellen erfolgen . sich wieder ab, wenn man mit dem Beruf aufhört – nein, sie muss alle zwei Jahre erfolgen . „Was soll das?“, frage (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: ich Sie . Sie schützen damit nicht, Sie verbessern damit Natürlich!) nicht die Lebenssituation der Prostituierten, Sie stärken Wenn es Ihnen um Unterstützung und Beratung geht, damit nicht das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, Sie Herr Weinberg, dann nehmen Sie doch als Bund endlich verbessern damit nicht die Überwachung des Prostitu- einmal Geld in die Hand und bauen das Hilfesystem aus . tionsgewerbes, Sie bekämpfen damit nicht Kriminalität oder Zuhälterei . Nichts davon tun Sie . Ihre angeblichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziele sind alles Luftnummern . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Warum also? Die Registrierung ist ein Mittel der Ver- Der zweite Teil des Gesetzentwurfs, den Frau drängung und Verhinderung statt des Schutzes, weil sich Schwesig hier vorgestellt hat – da geht es um die Regulie- eben viele Frauen gar nicht anmelden werden, weil sie rung von Prostitutionsstätten –, legt Mindestanforderun- sich nicht anmelden können – aus verständlichen Grün- gen für gute Arbeitsbedingungen fest . Das ist im Prinzip den . Das gesellschaftliche Stigma ist noch viel zu groß . zu begrüßen . Aber auch hier schießt die Große Koalition Was passiert denn, wenn eine Prostituierte sich bei der gnadenlos am Ziel vorbei . Die Mindestanforderungen, zuständigen Behörde in einer Kommune, in der man die Sie festlegen wollen, können von Großbordellen er- sich kennt, registrieren lassen muss? Soll sie dort sagen: füllt werden, aber nicht von kleinen Wohnungsbordel- „Schönen guten Tag! Ich will als Prostituierte arbeiten . len . Getrennte Sanitärbereiche für Sexarbeiterinnen und Aber wenn Sie mich beim Elternabend oder beim Ein- Sexarbeiter sowie Kunden und Kundinnen – auch Kun- kaufen treffen, dann schauen Sie mich bitte nicht ko- dinnen gibt es manchmal –, technische Notrufsysteme, misch von der Seite an“? Dieser Berufsstand ist nun (B) getrennte Schlaf- und Arbeitszimmer: Das ist für kleine (D) einmal noch in der Schmuddelecke . Wenn Sie wirklich Wohnungsbordelle nicht drin . Aber das ist für sie auch helfen und schützen wollen, dann müssen Sie genau ge- nicht erforderlich . gen dieses Stigma wirken . Das tun Sie aber nicht . Worin besteht denn der Schutz, wenn die Sexarbei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- terin in einem anderen Zimmer schläft, als sie arbeitet? neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum braucht es denn teure Technik, wenn sie bei Ge- Es gibt viele Gründe, warum Frauen in der Prostitu- fahr rüberrufen kann? Gerade Wohnungsbordelle ermög- tion ein Zwangsouting befürchten oder die behördliche lichen es den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, selbst- Registrierung nicht riskieren wollen . Ihre Familie, ihr bestimmter zu arbeiten, etwa mit drei, vier oder fünf soziales Umfeld weiß vielleicht nichts und soll es auch Frauen in einem kleinen Bordell, als in Laufhäusern oder nicht wissen . Der Beruf wird vielleicht nur gelegentlich eben in Großbordellen . Aber kleinere Wohnungsbordelle ausgeübt . Ein Outing gefährdet den Teilzeitjob oder das dieser Art, die das ermöglichen, werden verschwinden . Sorgerecht im anstehenden Verfahren . Wie auch immer: Sie werden Ihr Gesetz nicht überleben . Im Ergebnis för- Es gibt viele Gründe . dern Sie Großbordelle, und das ist echter Mist . Ein nicht unerheblicher Teil dieser Personen wird (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- weiterhin sexuelle Dienstleistungen anbieten . Sie tun es neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dann bei Nichterfüllung der Anmeldepflicht aber eben illegal und unter Bußgeldandrohung . Ihr Gesetzentwurf Ich habe, ehrlich gestanden, den Eindruck, dass Sie bringt keinen Schutz . Dieses Gesetz fördert die Verdrän- bei dem Thema vor allem intern gekreist sind und eben gung ins Verborgene . Es ist ein Gesetz der Kontrolle . nicht mit den entsprechenden Expertinnen und Experten sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern geredet haben . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn Sie nur einmal den Berufsverbänden und Exper- Sie werden die Stigmatisierung verschärfen, anstatt sie tinnen und Experten richtig zugehört hätten, wenn Sie zu mindern . die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ernst nehmen wür- den, wenn Sie einmal den Bericht des Runden Tisches in Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch völlig NRW gelesen und dann dessen Erkenntnisse berücksich- absurd, zu glauben, dass sich ein in die Illegalität getrie- tigt hätten – benes Gewerbe besser überwachen ließe oder die Pros- tituierte, die dann illegal tätig ist, behördlichen oder po- (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: lizeilichen Schutz in Anspruch nehmen würde . An wen Sie müssen mal auf die Straße gehen, Frau soll sich die Prostituierte denn wenden, wenn sie tatsäch- Möhring!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17005

Cornelia Möhring (A) – da war ich, Herr Weinberg –, dann wüssten Sie, dass eben nicht . Die Linke wird Ihren Gesetzentwurf ableh- (C) die Prostitutionsstätten sehr unterschiedlich sind und na- nen . türlich auch unterschiedlich behandelt werden müssen . Vielen Dank . (Karin Maag [CDU/CSU]: Waren Sie eigent- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulle lich mal auf der Straße?) Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Sie können mir ja eine Zwischenfrage stellen . Die be- antworte ich gerne .– Ein Prostitutionsstättengesetz, in Vizepräsidentin Petra Pau: dem auf unterschiedliche Modelle eingegangen wird, in Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/ dem mit Betroffenen ausgehandelte Mindeststandards CSU-Fraktion das Wort . festgelegt und diese gemeinsam ausgehandelten Min- deststandards als Grundlage für die Konzessionierung (Beifall bei der CDU/CSU) genommen werden, wäre sinnvoll und wird auch von meiner Fraktion gefordert . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Möhring, wenn es denn einen Zum Abschluss habe ich noch eine Frage an Sie . Neh- Tag gibt, an dem man einen solchen Gesetzentwurf hier men wir einmal an, Sie würden es mit Ihrem Verhin- im Deutschen Bundestag diskutieren muss, dann ist es derungs- und Kontrollgesetz tatsächlich schaffen, dass genau der heutige Tag; denn dieses Gesetz ist endlich Frauen nicht mehr in der Prostitution arbeiten wollen, die richtige Antwort auf das, was wir seit 2002 erleben, (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein!) nämlich das Scheitern des Prostitutionsgesetzes von Rot- Grün . auch nicht illegal: Was dann? Wo sind die guten Jobs für sie? Wo sind die vielversprechenden Ausbildungschan- (Beifall bei der CDU/CSU) cen? Wo sind die bezahlbaren Wohnungen? Wenn Sie mir das nicht glauben, dann sprechen Sie bitte mit denjenigen, die die Wirklichkeit bewerten . Ich (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: will zitieren, was ein Reporter von RISE Project in der Ich bitte Sie!) Sendung Die Story im Ersten: Ware Mädchen sagte: „Als Bevor Sie in der Art, wie Sie es vorhaben, gegen einen Deutschland und die Schweiz die Prostitution legalisiert legalen Beruf vorgehen, sollten Sie sich erst einmal über- haben, war das eine gute Nachricht für die Menschen- legen, wie Sie diese sozialen Fragen lösen, und zwar händler …“ – Das hat sich seit 2002 verändert . Ihr Bei- (B) nicht nur für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, sondern trag gerade hat bewiesen, dass Sie anscheinend unter ei- (D) für alle . nem absoluten Realitätsverlust bei der Frage leiden: Wie sieht es in der Prostitution aus? (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Ich muss ganz ehrlich sagen, Frau Schwesig: Ich ver- stehe an dieser Stelle Ihr Tempo nicht . Nächsten Montag Schauen wir uns einmal die Ergebnisse des rot-grü- gibt es im Bundestag eine Anhörung . Da haben Sie noch nen Prostitutionsgesetzes an: Sicherheit und Schutz? einmal die Gelegenheit, tatsächlich mit Expertinnen und Fehlanzeige! – Bessere Arbeitsbedingungen? Fehlanzei- Experten sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu re- ge! – Selbstbestimmung der Prostituierten? Fehlanzeige! den und richtig hinzuhören . Schon einen Monat später Nein, weniger als 100 Prostituierte sind in Deutschland soll hier die zweite und dritte Lesung erfolgen, obwohl sozialversicherungspflichtig angestellt. Stattdessen ha- das Gesetz erst Mitte nächsten Jahres in Kraft treten soll . ben wir es mit Elend, Ausbeutung und Armut zu tun . Das Was soll denn das? Hat Ihnen die Union dafür verspro- werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf endlich chen, dass dann das Entgeltgesetz kommt, was ja nach- angehen . her doch immer nur eine Nullrunde bringt? Oder warum Ziel des Gesetzes – das hat die Ministerin dargestellt – diese Eile? ist es, den Prostitutionsmarkt, die legale Prostitution, Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist dabei, endlich zu regeln mit dem Ziel, dass die organisierte wenn Menschenhändlern, wenn Zuhältern, wenn Aus- Kriminalität zurückgedrängt wird, dass wir Prostituierte beutern der Kampf angesagt wird . vor Fremdbestimmung schützen und auch die Arbeits- bedingungen für die Prostituierten so gestalten, dass (Beifall bei der LINKEN) sie in diesem Bereich in Würde arbeiten können . Jede Form von Fremdbestimmung muss bekämpft werden, Wir sind dabei, wenn Armut bekämpft wird . Wir sind von Zwangsprostitution und Menschenhandel ganz zu dabei, wenn es darum geht, Selbstständige besser abzu- schweigen . Denn – das ist unsere Überzeugung – jede sichern und sie an Sozial- und Rentenversicherung teil- Art von Fremdbestimmung in der Prostitution ist mit der haben zu lassen . Wir sind dabei, wenn sexuelle Selbst- Würde des Menschen unvereinbar . Dieser Leitsatz trägt bestimmung gestärkt werden soll und die Betreiber von uns auch bei diesem Gesetzentwurf . Bordellen für bestmögliche und sichere Arbeitsbedin- gungen sorgen müssen . Wir sind dabei, wenn es um mehr Deswegen teile ich das, was die Ministerin zu der Fra- Schutz und um mehr Rechte geht . Aber all das tun Sie ge gesagt hat, welche Gruppe wir in den Fokus der Be- 17006 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) trachtung nehmen sollten . Das sind, bei allem Respekt, ne Frage. Aber heute findet um 11 Uhr vor dem Bundes- (C) nicht die gut situierten Hausfrauen oder Studierenden, tag eine Aktion zum Internationalen Hurentag statt . Da die nebenbei als Prostituierte arbeiten, beispielsweise haben alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, direkt ein Dominastudio betreiben und selbstbestimmt sind . mit Betroffenen darüber zu reden und von ihnen zu hö- Vielmehr müssen die in unserem Fokus stehen, die nicht ren, was sie von diesem Gesetzentwurf halten . sichtbar sind . Das sind die Tausenden von Prostituierten, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen (Beifall bei der LINKEN) sind, die übrigens immer öfter an den Landstraßen stehen und die keiner im Fokus hat . Das heißt, der Gesetzent- Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): wurf muss insbesondere diese Gruppe schützen; denn das Liebe Frau Kollegin Möhring, das nehme ich schon ist die Aufgabe des Staates: die Schwachen der Gesell- deshalb zur Kenntnis, weil der Sexdienstleisterin- schaft zu schützen . nen-Kongress in Hamburg stattgefunden hat, eröffnet von der Senatorin für Gleichstellung, Frau Fegebank von (Beifall bei der CDU/CSU) den Grünen . Deswegen sei noch eine Bemerkung zu Ihrer Aussage erlaubt, wir müssten mit den Sexdienstleisterinnen spre- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen . Das tun wir . Ich spreche gerne mit einem Verband, NEN]: Das hat sie gut gemacht, nicht?) der 36 oder 72 Mitglieder hat . Wir reden hier aber über Sprechen Sie einmal mit denjenigen, die sich um die Tausende, die in der Prostitution sind oder tätig sein müs- Prostituierten kümmern, die gerade nicht vertreten wer- sen . den! (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner GRÜNEN]: Mit denen sollten Sie auch mal [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir reden! Gehen Sie mal auf die Straße!) doch!) Das ist auch ein Appell an die gut organisierten Sex- Sprechen Sie mit Polizeibeamten vom LKA! Ich will dienstleisterinnen, die sich jetzt auch durch den Verband gerne zitieren, was eine verdeckte Ermittlerin im Zusam- vertreten sehen . Es geht um die Solidarität der Betrof- menhang mit der Fragestellung von Anmeldung und Be- fenen mit den Schwächeren und die Bereitschaft, auch ratung gesagt hat: für die Schwächeren einzustehen . Deshalb ist die fremd- bestimmte Prostitution in dem Sinne zu verändern, dass Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben, dass wir Hilfsangebote machen, Kontrollen vornehmen und sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen übrigens auch Möglichkeiten zum Ausstieg aus der Pros- ernst nehmen . Haben sie das Gefühl, dass man (B) (D) titution schaffen . Das sollte auch im Interesse derer sein, ernsthafte Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel, die sich in Verbänden vertreten sehen . Der Staat hat je- dass man NGOs einbindet, die eng an den Mädchen denfalls – ich wiederhole – die Aufgabe, gerade die zu dran sind, und das aufrechterhält, sagen sie aus . vertreten, die keine andere Möglichkeit haben . Das heißt, das, was die Polizistinnen und Polizisten über die, die sie täglich aufgreifen, über die, die an der Straße Vizepräsidentin Petra Pau: stehen und sich für 20 Euro anbieten müssen, sagen, dem Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Be- vertraue ich . Das sind auch meine Adressaten in der Dis- merkung der Kollegin Möhring? kussion über diesen Gesetzentwurf . Sie werden bei den Stellungnahmen zur Anhörung Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): einiges erleben . Wir werden am Montag darüber debat- Von Frau Möhring doch immer . tieren und darüber sprechen, wie die Realität aussieht . Sie wird nicht bestimmt von den wenigen, die in großen Edelbordellen arbeiten, sondern von der großen Masse, Cornelia Möhring (DIE LINKE): die wir an der Landstraße finden. Deshalb, glaube ich, Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg . – Herr Kollege muss bei allem Respekt vor der Arbeit der jeweiligen Weinberg, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass in al- Verbände – auch die nehmen wir gern zur Kenntnis; len Stellungnahmen der Verbände, die bisher zu unserer auch mit denen führen wir Gespräche – angesichts von Anhörung am nächsten Montag eingegangen sind, und 300 000 Prostituierten unser Ansinnen sein, dass wir uns auch bei den vergangenen Sexarbeiterinnen-Kongressen, Gedanken um diejenigen machen, die nicht durch die je- die nicht nur 35 Teilnehmerinnen hatten, sondern bei de- weiligen Verbände vertreten werden . nen ein breites Spektrum abgebildet war, von allen, wirk- lich ausnahmslos allen darauf hingewiesen wurde, dass (Beifall bei der CDU/CSU) die Registrierungs- und Anmeldepflicht mitnichten zu Genau die Beschreibung der Auswirkungen des Pro- mehr Schutz der Betroffenen führt, und dass auch die Be- stituiertengesetzes in Form von Elend, Armut und Aus- ratungsstellen, die sich mit Prostituierten auf dem Stra- beutung war es ja auch, was die Große Koalition in der ßenstrich beschäftigen, darauf hingewiesen haben, dass jetzigen Situation bewegt hat, zu handeln . Wir haben eine Registrierung mitnichten zu mehr Schutz führen, dann ja auch sehr intensiv miteinander gerungen – das sondern die Abdrängung in die Illegalität fördern wird? ist auch gut so –, weil wir am Thema interessiert waren, Ich kann Ihnen natürlich nicht vorwerfen, wenn Sie weil wir nicht weiter Ideologien aufbauen wollten . Die sich nicht vor Ort im Bordell kundig machen; das ist kei- Ministerin hat zu Recht gesagt, vielleicht kommt man Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17007

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) mit diesem Gesetz zu spät . Richtig . Aber das Gute ist – Der vierte Punkt betrifft die Auswüchse der Prostitu- (C) und das ist unser Ziel –, dass wir dieses Gesetz in dieser tion gerade in ländlichen Bereichen . Wenn Sie heute mit Legislaturperiode auf den Weg bringen . Ich bin der SPD Kolleginnen und Kollegen aus Wahlkreisen sprechen, die sehr dankbar, dass wir bei den wesentlichen politischen aus einem ländlichen Bereich kommen, dann hören Sie, Themen auch Einigung erzielt haben . Es war ein langer, dass sich dort mehr und mehr junge Mädchen aus Rumä- streitbarer Weg, aber uns hat immer das Interesse gelei- nien, aus Bulgarien finden, die sich für billiges Geld an- tet, dass wir die Frauen schützen, dass wir die Betrof- bieten müssen, die elf Stunden im Regen stehen müssen . fenen schützen . Ich glaube, das ist mit den Regelungen Und das Geld, das sie verdienen, wird ihnen auch noch auch gelungen . abgenommen . Das heißt, wir werden überprüfen müssen, wie wir diese besondere Situation der Straßenprostitution Wir brauchen ein Anmeldeverfahren, wir brauchen mit dem jetzigen Gesetzesvorhaben verändern können . Angebote, und wir brauchen insbesondere den Schutz der Prostituierten, die unter 21 sind . Auch wenn die Pro- (Zurufe von der LINKEN) stitution weiter mit 18 zulässig ist, haben wir es zumin- dest erreicht, dass besondere Schutzfunktionen, besonde- Ich bin guter Dinge . Ich bedanke mich noch einmal für re Beratungsfunktionen jetzt bei der Gruppe der 18- bis diesen Gesetzentwurf . Wir haben hier und da noch Nach- 21-Jährigen implementiert werden . Das ist gut – gerade besserungsbedarf und müssen an Stellschrauben drehen . für die Gruppe, die wir auch mit Blick auf den Ausstieg Das werden wir gemeinschaftlich tun . Ich freue mich ansprechen wollen . sehr, dass SPD, CDU und CSU es gemeinsam in dieser Legislaturperiode schaffen, ein solches Gesetz auf den Im Übrigen, Frau Möhring, Ihre letzte Bemerkung Weg zu bringen . Es ist ein gutes Zeichen für die Große habe ich überhaupt nicht verstanden . Was ist denn das Koalition, dass wir, so weit auseinander wir auch waren, bitte für ein Ansatz: „Ja, und wenn die Prostituierten dann jetzt eng zusammengekommen sind – im Sinne der Be- mit ihrer Arbeit aufhören, was ist denn dann mit ihnen? troffenen . Und das ist unser Auftrag, nichts anderes . Dann müssen wir sie ja qualifizieren und Ausbildungsan- gebote schaffen“? Ja, ist denn der Umkehrschluss, dass Vielen Dank . sie in der Prostitution bleiben sollen, weil sie möglicher- weise keine Alternative haben? Das kann in dieser Frage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ja wohl nicht der richtige Weg der Politik sein . ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir werden uns jetzt tatsächlich nach der Anhörung Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frakti- (B) am Montag Zeit nehmen, ebendiese auszuwerten . Wir on Bündnis 90/Die Grünen . (D) als Union haben noch einige Punkte, die wir diskutieren wollen . Ich will ein paar davon ansprechen . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Erste ist das Thema der Einsichtsfähigkeit . Wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! halten es für falsch, dass sozusagen die Prüfung der Ein- Liebe Kollegen! Man sagt ja: Was lange währt, wird end- sichtsfähigkeit jetzt im Rahmen des Anmeldeverfahrens lich gut .– Auf diesen Gesetzentwurf trifft dieser schöne wieder herausgenommen wurde . Denn gerade die Men- Spruch leider nicht zu . schen mit kognitiven Schwierigkeiten, die Menschen mit Behinderung müssen davor geschützt werden, dass sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Anmeldebescheinigung ausgestellt bekommen, ohne sowie bei Abgeordneten der LINKEN) dass überprüft wird, ob sie über ausreichende Einsichts- fähigkeit verfügen, um ihr sexuelles Selbstbestimmungs- Wir sind uns ja alle einig, dass wir Regulierung im Be- recht selbst schützen zu können . Gerade diese Menschen reich der Prostitution brauchen und dass wir die Situation brauchen ein Anmelderegime, das dazu geeignet ist, ihr von Prostituierten verbessern wollen . Herr Weinberg hat Selbstbestimmungsrecht sicherzustellen . das Gesetz von 2002 angesprochen; es kommt ja auch in der gesamten Debatte immer wieder zur Sprache . Ich Das Zweite ist die Frage des Schutzes von schwange- will einmal sagen: Durch dieses Gesetz wurde wirklich ren Prostituierten und hochschwangeren Prostituierten . eine zentrale Weichenstellung vorgenommen, insbeson- In diesem Bereich gibt es ja die Entwicklung – das ist ja dere deshalb, weil es die sogenannte Sittenwidrigkeit erbärmlich –, dass man mit Schwangeren und mit Hoch- zivilrechtlicher Verträge über sexuelle Dienstleistungen schwangeren mittlerweile gute Geschäfte macht . Da sa- beseitigt hat . Hinter diesen Schritt will niemand mehr gen wir als Union ganz deutlich: Wir müssen schauen, zurück. Ich finde das gut, und ich möchte das hier noch wie wir es rechtlich hinbekommen, dass wir diese Men- einmal ausdrücklich festhalten . schen schützen, weil das ungeborene Leben geschützt werden muss . Das ist auch in der Frage der Prostitution (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für uns ein Grundsatz . sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber es ist auch richtig, dass sich viele der mit diesem Drittens werden wir auf das Thema Krankenversiche- Gesetz verbundenen Erwartungen und Hoffnungen nicht rung schauen . Wir wollen die Prostituierten beraten, wir erfüllt haben, beispielsweise im Bereich der sozialversi- wollen aber auch, dass alle krankenversichert sind . cherungspflichtigen Beschäftigung und im Hinblick auf 17008 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Katja Dörner (A) den Schutz vor Zwangsprostitution . Deshalb sagen wir sundheitliche Beratung immens wichtig . Deshalb ist es (C) als Grüne, dass wir neue Regelungen brauchen . unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es ausreichend Beratungsangebote gibt . Aber alle Erfahrungen zeigen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass den Beratungsangeboten Freiwilligkeit, Niedrig- Was wir brauchen, ist eine Regulierung der Prostitu- schwelligkeit und die Möglichkeit der Anonymität zu- tionsstätten als Gewerbebetrieb . Den Betreibern müssen grunde liegen müssen . Ich rate an, einen Blick in die Pflichten auferlegt werden. Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände zu werfen . Diese sagt ausdrücklich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass die Beratungspflicht stigmatisierend und kontrapro- Ihnen müssen klare Grenzen aufgezeigt werden . Dies- duktiv wirkt und dass sich gerade marginalisierte Prosti- bezüglich enthält der Gesetzentwurf einige Regelungen . tuierte dieser Pflicht entziehen und damit kriminalisiert An dieser Stelle können wir durchaus mitgehen . Der und noch vulnerabler werden . Deshalb meine ich: Die Webfehler des Gesetzentwurfs ist aber, dass Sie darüber Koalition sollte von dieser Regelung dringend Abstand hinaus den in der Prostitution Tätigen sehr weitreichen- nehmen . de Pflichten auferlegen. Dieser Ansatz ist falsch. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gängelung und fördert die Stigmatisierung . Das trägt nicht dazu bei, Prostituierte besser zu schützen . Der Gesetzentwurf trägt den Schutz der Prostituierten im Titel. Aber man findet diesen Schutz leider nicht in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Paragrafen . Deshalb sehen wir diesen Gesetzentwurf und bei der LINKEN) sehr kritisch . Wir hoffen auf die Anhörung und den Bun- Wir bemerken immer wieder, dass Prostitution ein desrat, der in dieser Frage offensichtlich sachorientierter sehr emotional besetztes Thema ist . Persönliche Wertvor- aufgestellt ist als die Koalitionsfraktionen . stellungen spielen hier immer eine große Rolle . Gerade Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . wenn aber die Gesellschaft mit heißem Herzen über eine Thematik diskutiert, müssen wir als Gesetzgeber umso (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr mit kühlem Kopf die Sache angehen und uns fra- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gen, ob die Maßnahmen, die wir vorschlagen, tatsächlich geeignet sind, unsere Ziele zu erreichen, gerade wenn es Vizepräsidentin Petra Pau: um den Schutz der Prostituierten geht . Die Kollegin Dr .Carola Reimann hat für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD-Fraktion das Wort . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD) (B) Ich will zwei Maßnahmen nennen, bei denen das nicht (D) der Fall ist bzw . mit denen das Gesetz das Gegenteil be- Dr. Carola Reimann (SPD): wirken wird . Wie gesagt, Prostitution wird noch immer Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und stigmatisiert . Deshalb sind viele Prostituierte dringend Herren! Mit dem Prostitutionsschutzgesetz schaffen wir auf Anonymität angewiesen . Sie werden sich daher nicht das erste Mal klare Regeln für den Betrieb und die Er- anmelden . Die vielleicht seitens der Koalitionsfraktio- laubnis von Prostitutionsstätten . Das ist gut; denn damit nen gut gemeinte Anmeldefrist wird in der Praxis dazu sorgen wir für bessere Arbeitsbedingungen für die in der führen, dass eine große Anzahl der Prostituierten in in- Prostitution tätigen Frauen und Männer . Für die SPD ist transparente, illegale Bereiche ausweichen muss . Damit das ein ganz entscheidender Punkt . Wir wollen nämlich, steigt die Gefahr von Übergriffen . Die Möglichkeiten, dass dieses Gesetz hält, was sein Name verspricht: ein Maßnahmen des Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen, höheres Schutzniveau und eine nachhaltige Verbesserung werden geschwächt . Auch der Zugang zu Beratungs- und der Situation von Prostituierten . Unterstützungsmöglichkeiten wird erschwert . Deshalb ist diese Anmeldefrist kontraproduktiv . Es ist schon angesprochen worden: Die Erfahrungen aus der Praxis haben gezeigt, dass auch nach dem im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahr 2002 unter Rot-Grün eingeführten Prostitutionsge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) setz Handlungsbedarf besteht . Leider, Kollege Weinberg, Zudem – das entnehmen wir auch einigen Stellung- hat aber ein schwarz-gelb dominierter Bundesrat in der nahmen zur Anhörung –: Die Annahme, Opfer von Vergangenheit immer notwendige Regulierungen verhin- Menschenhandel könnten im Rahmen der Anmeldung dert . erkannt und unterstützt werden, ist völlig lebensfremd . (Widerspruch bei der CDU/CSU) Vielmehr werden sich gerade Frauen in Abhängigkeits- verhältnissen anmelden müssen, damit die Hintermänner Das Prostitutionsgesetz setzt jetzt an dieser Stelle an . Die sie ungestört und ungefährdet weiterhin ausbeuten kön- Erlaubnispflicht für Prostitutionsstätten ist hierbei der nen . Gerade das wollen wir nicht . zentrale Punkt . Mit ihr setzen wir wichtige Mindeststan- dards bei den Arbeitsbedingungen durch . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte und Erstens . Die Betreiber eines Prostitutionsgewerbes der eng mit der Anmeldepflicht verknüpft ist, ist die ge- müssen sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen . sundheitliche Pflichtberatung. Selbstverständlich ist ge- Zweitens. Diese Erlaubnispflicht wird an die Erfüllung Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17009

Dr. Carola Reimann (A) gesetzlicher Mindestanforderungen für die Betriebe ge- Balance dieses Gesetzes gefährdet hätten . Dazu zählen (C) knüpft. Bei Verstößen drohen empfindliche Strafen und Forderungen nach Pflichtuntersuchungen oder nach dem der Entzug der Erlaubnis . Drittens . Es stehen uns mit Mindestalter. Richtig war auch, die Anmeldepflicht pra- dem Gesetz jetzt endlich neue Kontrollinstrumente zur xistauglicher zu machen . Unsere Marschrichtung ist klar: Verfügung, Wir wollen mehr Schutz, und wir wollen mehr Rechte für die Prostituierten . Wir wollen klare Standards für ordent- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Jetzt liche Arbeitsbedingungen . endlich!) Was wir aber nicht wollen, ist Tabuisierung, Stigmati- um auch die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten sicher- sierung und Regelungen, die diese für die Frauen schäd- zustellen . liche Entwicklung ohnehin verstärken; denn am Ende Wir brauchen diese Maßnahmen; denn es geht hier um schieben wir damit Probleme und auch Missstände in die nicht weniger als die Einhaltung von Grundrechten wie dunkle Ecke der Illegalität, obwohl wir eigentlich mehr der sexuellen Selbstbestimmung, der persönlichen Frei- Licht und mehr Transparenz an dieser Stelle brauchen . heit und auch der Gesundheit . Deshalb ist es richtig, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir mit Geschäftsmodellen Schluss machen, die mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung unvereinbar sind . Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind mit dem Gesetz auf einem guten Weg, wenn wir diese Leit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten linien auch im parlamentarischen Verfahren beherzigen . der CDU/CSU) Das heißt: keine weiteren Verschärfungen, stattdessen Wir regeln hier einen Bereich, der, wo immer man hin- mehr Rechte, mehr Beratung und mehr Unterstützung . schaut, ganz unterschiedlich ist, ja sogar widersprüchlich Vielen Dank . ausgeprägt ist . Zweifelsohne ist die Situation für viele in der Prostitution Tätige nach wie vor schwierig . Sie wer- (Beifall bei der SPD) den ausgegrenzt und stigmatisiert, nur wenige wagen es, offen über ihre Tätigkeit zu sprechen . Viele fürchten Be- Vizepräsidentin Petra Pau: nachteiligungen im eigenen sozialen Umfeld . Gleichzei- Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Frak- tig gibt es aber auch Sexarbeiterinnen, die selbstbewusst tion Bündnis 90/Die Grünen . für ihre Rechte kämpfen können, die Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit für sich reklamieren . Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ministerin hat in ihrer Rede auf diese ganz unter- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (B) schiedlichen Lebenslagen hingewiesen . Unsere Aufgabe und Kollegen! Wir reden hier im Bundestag in den letz- (D) als Gesetzgeber ist es, ein Gesetz auf den Weg zu brin- ten Wochen viel und oft über das Thema der sexuellen gen, das dieses Spektrum berücksichtigt und dem gerecht Selbstbestimmung . Gerade im Rahmen der Reform des wird . Das ist eine besondere Herausforderung . Das ist Sexualstrafrechts ist das ein sehr zentraler und wichtiger aber nicht die einzige Herausforderung und nicht der ein- Punkt . Da sind wir uns hier in diesem Parlament – vor zige Widerspruch, mit denen man sich in diesem Gewer- allem die Frauen – ziemlich einig . Umso mehr ist es für be konfrontiert sieht; denn wir sprechen hier über einen mich unverständlich, dass im Falle der Prostituierten bei Wirtschaftszweig, in dem Milliarden umgesetzt werden, der sexuellen Selbstbestimmung andere Maßstäbe ange- mit dem aber, wenn man sich umhört, niemand etwas zu legt werden . Warum stellen Sie die Selbstbestimmung tun hat . Es ist die Tabuisierung, das Verschweigen und von Prostituierten infrage? Denn das machen Sie mit die- zum Teil auch die Verlogenheit, die die Lage dieser Frau- sem Gesetzentwurf, Frau Ministerin . en und Männer so schwierig machen . Dieses Problem ist wesentlich tief greifender, als dass wir es mit einem ein- Diesem Entwurf liegt eine bevormundende Haltung zigen Gesetz von heute auf morgen ändern könnten . zugrunde, die allen Frauen und Männern in der Prosti- tution die Selbstbestimmung abspricht . Ich sage Ihnen: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dieser Gesetzentwurf ist Ausdruck von Bevormundung der CDU/CSU) und Kontrolle . Sie verändern damit genau nicht, was Sie vorgeben ändern zu wollen . Sie setzen die Stigmatisie- Es ist aber wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind rung der Stigmatisierten fort, Frau Schwesig . Sie ver- und verstehen, in welch unterschiedlichen Lagen sich säumen es, das wirklich Notwendige zu tun, nämlich die Prostituierte befinden. Das müssen wir auch als Gesetz- Menschen, die in der Prostitution arbeiten, zu bestärken geber vor Augen haben . Deshalb brauchen wir Regeln und zu unterstützen . mit Augenmaß, Regeln, die den Frauen ein sicheres Le- ben ohne gesellschaftliche Ächtung möglich machen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber auch Regeln, die der Lebens- und Berufspraxis ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) recht werden . Das ist das, was viele renommierte Ver- bände, angefangen vom Deutschen Juristinnenbund und Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten und die dem Deutschen Frauenrat über die Diakonie bis hin zur so zum Beispiel ihre Kinder ernähren oder die Pflege ei- Deutschen AIDS-Hilfe, im vorparlamentarischen Bera- nes Familienmitglieds mit diesem Job vereinbaren, sind tungsprozess immer wieder angemahnt haben . nach Ihrem Gesetzentwurf gezwungen, sich zu outen, oder sie können diese Tätigkeit nicht mehr legal ausüben . Deshalb bin ich froh, dass es in langen Verhandlun- Aber das ist doch, bitte schön, kein Schutzgesetz . Das ist gen gelungen ist, Forderungen abzuwehren, die die die Bevormundung einer ganzen Berufsgruppe . Genau 17010 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Ulle Schauws (A) aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, be- Das braucht Zeit, und es funktioniert nur freiwillig . Es (C) stehen schwerwiegende Bedenken gegen die Punkte des geht nur freiwillig, Herr Kollege . Gesetzentwurfs, mit denen Druck auf die Prostituierten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ausgeübt wird: die Anmeldepflicht – sie ist schon ge- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – nannt worden –, die verpflichtende Gesundheitsberatung Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: und auch die behördlichen Anordnungen, die in diesem Der Cousin aus Belgrad ist mit dabei!) Gesetzentwurf stehen . Wie Ihnen bekannt sein sollte, äußert auch der Bun- Bei den Anhörungen im Bundesministerium haben et- desrat in seiner Mehrheit deutlich Kritik . Er stellt die liche Fachleute – unter anderem der Diakonie, des Deut- Forderung auf, die §§ 3 bis 11 zu streichen . Und, ehrlich schen Frauenrates, des Deutschen Juristinnenbundes und gesagt, ich finde, das können Sie nicht so einfach ignorie- der Deutschen AIDS-Hilfe sowie Medizinerinnen und ren. Auch bei der Erlaubnispflicht, die wir Grünen schon Mediziner – früh davor gewarnt, den Zwang zum Ou- im Januar gefordert hatten – wir halten sie grundsätzlich ting in diesen Gesetzentwurf hineinzuschreiben, weil das für sinnvoll –, gibt es eine Einschränkung, die ich Ihnen kontraproduktiv ist . Die Caritas hat den Gesetzentwurf – nennen will . Sie legen für kleine Wohnungsprostituierte ich zitiere – mit folgenden Worten konterkariert: die gleichen Voraussetzungen an wie für große Laufhäu- ser . Gerade dort, wo sich zwei bis drei Frauen zusammen- Das geht an der Lebensrealität von Prostituierten tun, wo sie oft unter guten Arbeitsbedingungen arbeiten, vorbei . Expertenmeinungen und Erfahrungen aus erschweren Sie die Existenz für diese Prostituierten . Aus der praktischen Arbeit haben kaum bemerkbar Ein- meiner Sicht macht das überhaupt keinen Sinn . gang in den Gesetzentwurf gefunden . (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dem, was die Caritas sagt, schließe ich mich an . Ihr Ge- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) setzentwurf ignoriert Fachwissen, und das ist unprofes- sionell . Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz sollte Menschen in der Prostitution in ihrer Selbstbestimmung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stärken . Wir Grüne fordern deutlich mehr Beratungs- und bei der LINKEN) stellen . Wir fordern Unterstützung für die Prostituierten, und zwar auf freiwilliger Basis . Runde Tische nach dem Frau Schwesig, bei der Anmeldepflicht ignorieren Sie, Vorbild von NRW sind sinnvoll . Vor allem bringen sie dass sich die Prostituierten gerade aufgrund von Diskri- Erfahrungen und Kompetenzen von allen Beteiligten an minierungserfahrungen erstens häufig nicht als „Prosti- einem Tisch zusammen . Ich appelliere an Sie: Nutzen Sie die Anhörung nächste Woche zum Gesetzentwurf . Nut- (B) tuierte“, sondern mit anderen Berufsbezeichnungen an- (D) melden und zweitens Misstrauen wegen des fehlenden zen Sie die Expertise, die vorhanden ist . Und: Bessern Datenschutzes haben . Und was machen Sie? Sie schaffen Sie nach . Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der echte eine eigene Datei für Prostituierte . Die Folge – das wurde Unterstützung und Schutz für Prostituierte beinhaltet . heute schon sehr oft gesagt – ist klar: Viele werden sich Vielen Dank . nicht anmelden, und dann haben Sie nichts erreicht . Das schützt Prostituierte nicht . Nein, es sind viele erst recht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefährdet, wenn sie nicht legal arbeiten können . sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

(Zuruf des Abg . Marcus Weinberg [Hamburg] Vizepräsidentin Petra Pau: [CDU/CSU]) Die Kollegin Sylvia Pantel hat für die CDU/CSU-Frak- – Ja, so ist es, Herr Weinberg . tion das Wort . (Beifall bei der CDU/CSU) (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Damit sie sichtbar sind!) Sylvia Pantel (CDU/CSU): Die irrige Vorstellung, mit der verpflichtenden Gesund- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und heitsberatung Opfer von Menschenhandel entdecken zu Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine können, kommt genau daher, dass Sie den vielen Exper- junge Frau – ich nenne sie einmal Nadia – ist erst 19 Jah- tinnen nicht zugehört haben . re alt und kommt aus einem kleinen Ort in Rumänien . Vor einem Jahr kam sie ins Ruhrgebiet, um eine Stelle als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kellnerin anzutreten . Schnell landete sie in einem Lauf- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) haus . Sie wird von Haus zu Haus gereicht und weiß kaum noch, in welcher Stadt sie gerade ist . Nadias ganze Sorge Armutsprostituierte, die in schwierigen Lebenslagen ist, dass sie nicht genug Geld für ihre Familie zu Hause in stecken und besonders gefährdet sind, werden sich wäh- ihrem Dorf zusammenbekommt . Geschichten wie diese rend eines Gesprächs in einer Behörde doch nicht einer habe ich viel zu oft gehört, seit ich Berichterstatterin für völlig fremden Person anvertrauen . die Themen „Prostitution“ und „Gewalt gegen Frauen“ bin . (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Was machen denn heute die, die gefährdet Das 2002 von der rot-grünen Bundesregierung ge- sind?) schaffene Prostitutionsgesetz hat sein Ziel verfehlt; das Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17011

Sylvia Pantel (A) haben wir auch hier mehrfach gehört . Deutschland wird ist derzeit leider die, dass es juristisch einfacher ist, ein (C) heute das Bordell Europas genannt . Tausende Frauen Bordell zu betreiben als einen Kiosk an der Ecke oder die werden jeden Tag zu Opfern . Es wurde ein Markt ohne von Frau Schwesig angesprochene Pommesbude . klare Regeln geschaffen . Die Situation für die meisten Prostituierten ist alles andere als wirklich selbst gewählt . Prostituierte genießen in den Bordellen heute kaum Diesen Zustand müssen und werden wir ändern . Schutz . Die Bordellbetreiberlobby versucht, den Begriff „Sexarbeit“ zu etablieren und damit so zu tun, als sei Seit zwei Jahren haben wir innerhalb der Großen Ko- eine Arbeit in der Prostitution gleich jeder anderen Ar- alition um die richtigen Wege gestritten . Das Prostituti- beit . Prostitution ist aber keine Tätigkeit wie jede andere . onsgewerbe muss reguliert werden . Die Gegner klarer Der direkte Körpereinsatz und das Milieu weisen viele Regeln, allen voran die Bordellbetreiber, haben immer Gefahren auf . versucht, das Bild einer selbstbestimmten Studentin auf- zuzeigen, die sich als Escortdame oder Edelprostituierte Das Prostituiertenschutzgesetz setzt in zwei wesentli- etwas zu ihrem Studium hinzuverdient . Dieses Bild ist chen Bereichen an . für die Mehrheit der Prostituierten falsch . Die überwältigende Mehrheit der Prostituierten in Prostituierte müssen in Zukunft, wie jeder andere ar- Deutschland sind EU-Ausländerinnen, meist aus Südost- beitende Mensch auch, angemeldet sein . Dazu gehört, europa . Sie arbeiten für einen Hungerlohn in schäbigen dass sie nicht nur Tätigkeitsort und Identität angeben, Zimmern, in Wohnwagen und müssen auf der Straße an- sondern auch eine regelmäßige Gesundheitsberatung schaffen gehen . Diese Frauen sind meist nach Deutsch- nachweisen müssen . In diesen Beratungsgesprächen land gekommen, weil man ihnen zum Beispiel einen Job werden die Prostituierten über die Möglichkeiten der als Haushälterin, Kellnerin oder Model in Aussicht ge- gesundheitlichen Versorgung sowie über Wege aus dem stellt hat . Hier angekommen werden sie dann von ver- Milieu informiert . Woher sollten sie es denn wissen? Sie meintlichen Liebhabern, den sogenannten Loverboys, kennen unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen und auf perfide Art und Weise an das Milieu herangeführt. die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht . Außerdem Danach bleiben viele bei der Prostitution, weil sie Geld können sie sich einer Fachberaterin anvertrauen, ohne verdienen müssen und keinen Weg aus ihrer misslichen dass ihr Zuhälter dabei sein darf, um auf sie aufzupas- Lage heraus kennen . Das alles ist keine Zwangsprosti- sen . Prostituierte müssen jährlich ein solches Gespräch tution im Sinne des Strafrechts; aber es ist alles andere nachweisen, unter 21-Jährige sogar alle sechs Monate . als das Bild einer selbstbestimmten Frau, das wir sehen So schaffen wir ein wirkliches Beratungsnetz . sollen oder sehen wollen . Der zweite Schwerpunkt ist die Lizensierung von (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Bordellen . Betreiber von Prostitutionsstätten und deren (D) der SPD) ausführende Organe dürfen nicht einschlägig vorbestraft sein . Die Prostitutionsstätten müssen baulichen Stan- Wenn wir von Expertinnen und Experten oder Hilfs- dards entsprechen . Der Bordellbetreiber hat umfangrei- organisationen das Gewerbe geschildert bekommen, sind che Sorgfaltspflichten gegenüber seinen Angestellten wir schnell in der Realität angekommen . Wir bekommen und den freischaffenden Prostituierten zu erfüllen und eine andere Realität aufgezeigt, als Sie uns hier weisma- muss den Arbeitsschutz beachten – und dies erstmalig . chen wollen . Auch eine Handvoll Edelbordelle mit viel- leicht guten Arbeitsbedingungen kann nicht darüber hin- Aus den Reihen einiger Bundesländer kam schon der wegtäuschen, dass die Mehrheit der Prostituierten täglich Einwand, wegen unseres Gesetzes müssten sich mehr ausgebeutet und benutzt wird . Polizisten um das Rotlichtmilieu kümmern . Ich kann nur (Beifall bei der CDU/CSU) sagen: Das hoffe ich; es wird höchste Zeit . Beim Prostituiertenschutzgesetz ist der Name Pro- (Beifall bei der CDU/CSU) gramm . Wir schützen Prostituierte, indem wir einen völlig enthemmten Markt regulieren . Gerade die Damen Wir alle hier im Saal wissen, dass der Zustand derzeit und Herren der Opposition sind doch sonst immer dafür, unerträglich ist und großer Handlungsbedarf besteht . Märkte zu regulieren . Warum nicht hier? Wir beschließen nun ein gutes Gesetz . Daher können wir auch von den Ländern erwarten, dass die notwenige Zahl (Beifall bei der CDU/CSU) an Polizisten zur Durchsetzung des Gesetzes und damit Was sagen Sie denn zu Ausbeutung, Abhängigkeit von zur Kriminalitätsbekämpfung bereitgestellt wird . Loverboys und einem Milieu, das Kriminalität im Be- reich von Drogen und Waffen bis hin zum Menschenhan- Stellen Sie sich vor, wir würden Sicherheitsvorschrif- del befördert? Sollten wir hier nicht durchgreifen? Wir ten bei der Lebensmittelproduktion oder im Straßenver- sagen Ja . Wir müssen durchgreifen, um den Damen zu kehr nicht mehr anwenden, weil wir nicht genug kon- helfen . Es besteht Handlungsbedarf . trollieren können . Stellen Sie sich vor, wir würden den Arbeitsschutz außer Kraft setzen, weil Länder und Kom- Die Aufhebung der Sittenwidrigkeit der Prostitution munen lautstark jammern, ihnen wäre der Aufwand zu war ein Paradigmenwechsel; das ist klar . Ob man die- groß . Zu Recht würde ein Aufschrei durchs Land gehen . sen Paradigmenwechsel nun gut findet oder nicht: Po- litik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, und Es ist besonders bitter, dass ich gerade in meinem Hei- das haben wir bei diesem Gesetz getan . Die Wirklichkeit matbundesland NRW nicht davon ausgehen kann, dass 17012 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Sylvia Pantel (A) das Innenministerium die Zahl der Polizisten so erhöht, heraus tun – immer eine Stigmatisierung gibt . Das trifft (C) wie es sein müsste . auch für die Frauen zu, bei denen wir sagen: Das ist doch eine ganz selbstbewusste, toughe Frau; das ist doch gar (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht schlimm .– Wir, die wir uns jetzt zwei Jahre lang NEN]: Das Innenministerium hat in der Ver- intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben, würden gangenheit die Zahl der Polizisten erhöht!) wahrscheinlich sogar erst recht sagen: Alles nicht so NRW setzt lieber auf einen Blitzmarathon, anstatt die wild . – Aber es ist und bleibt eine Stigmatisierung . Kriminalität zu bekämpfen . Im vergangenen Frühjahr Die Situation ist immer noch so – auch am Internatio- war ich zu einem Termin in der Landespolizeischule . Die nalen Hurentag muss man darauf aufmerksam machen –, Polizisten dort erzählten mir, wie schwierig die Situati- dass wir dieses Thema – Frau Reimann hat es vorhin ge- on für sie wäre . Sie sollen nicht mehr in gewisse Ecken sagt – ein Stück weit verlogen, verdeckt und mit schrä- schauen, weil für die sich daraus ergebenden Ermittlun- gen moralischen Vorstellungen angehen . Das macht die gen das Personal fehle . Es ist ja nett, wenn man an run- ganze Debatte um diesen Bereich ja auch so schwierig . den Tischen darüber redet, aber man braucht klare Re- Wenn wir wirklich darüber diskutieren würden, wie wir geln und auch Polizisten, die hinschauen . den Menschenhandel bekämpfen können, dann würden (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE wir nicht nur über Prostituierte reden; denn der Men- GRÜNEN]: Sie haben ja keine Ahnung! – schenhandel betrifft nicht nur den Bereich der Prostituti- Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: on, in dem die Situation zugegebenermaßen sehr gravie- Das ist wirklich unverschämt!) rend ist . Auch Menschen in anderen Bereichen werden ausgebeutet und müssen beispielsweise auf Baustellen, – Das ist die Aussage der Polizisten . im Reinigungsgewerbe und wo auch immer arbeiten . Menschenhandel und Ausbeutung betreffen also nicht Vizepräsidentin Petra Pau: nur den Bereich der Prostitution, auch wenn die Situation Kollegin Pantel . in diesem Bereich am gravierendsten und schlimmsten ist, sondern Menschenhandel umfasst noch mehr . Sylvia Pantel (CDU/CSU): Genau aus diesem Grund haben wir die beiden Berei- Wenn es unser aller Ziel ist, die von Ausbeutung und che getrennt . Wir haben gesagt: Das eine ist die Regu- Gewalterfahrung betroffenen Frauen zu schützen, dann lierung der Prostitution und der Schutz von Prostituier- erwarte ich von den Ländern, dass sie nicht wegschauen, ten insgesamt, und das andere ist die Bekämpfung des sondern handeln . Ich erwarte, dass die Bundesländer mit Menschenhandels . Das sollten wir in dieser Debatte un- uns an einem Strang ziehen und das Gesetz vollumfäng- (B) terscheiden; den zweiten Teil dieses Komplexes beraten (D) lich unterstützen . wir getrennt, gleich im Anschluss an diese Debatte . Das Herzlichen Dank . wollte ich vorweg einmal sagen . (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws Nachdem wir zwei Jahre verhandelt haben, kann ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ignorie- feststellen, dass wir in dieser Koalition von sehr unter- ren die Realitäten!) schiedlichen Seiten gekommen sind . Es ist mitnichten so, dass das rot-grüne Prostitutionsgesetz dazu beigetragen hat, dass wir angeblich der Puff Europas sind . Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Sönke Rix hat für die SPD-Fraktion das (Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Doch! – Sabine Wort . Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Natürlich! Schauen Sie sich mal das Saarland an, wie die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten da aus Frankreich kommen! Wovon träumen der CDU/CSU) Sie denn nachts?) – Frau Kollegin, die massive Ausbeutung von Arbeits- (SPD): Sönke Rix kräften findet auch in anderen Bereichen statt. Das habe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ich Ihnen gerade gesagt . Damit hat das Prostitutionsge- Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Veranstaltung – setz nichts zu tun; es hat etwas mit anderen internationa- eine Familienfeier, ein größeres Fest, wie auch immer – len Rahmenbedingungen zu tun . Das muss man an dieser und lernen eine Frau kennen . Im Laufe des Gesprächs Stelle einmal unterstreichen . stellt sich heraus, dass sie als Prostituierte arbeitet . Ma- chen wir uns nichts vor, dass das für uns alle irgendwie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des eine sehr merkwürdige Situation wäre . Stellen Sie sich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weiterhin vor, Sie sind auf einer Familienfeier und eine Wir haben zwei Jahre lang intensiv verhandelt, wobei Frau erklärt, dass sie als Krankenschwester arbeitet . Kein wir aus sehr unterschiedlichen Richtungen gekommen Mensch würde dann schlucken und sagen: Oh, was ist sind . Natürlich haben auch unterschiedliche Wertevor- das denn? – Aber bei dem anderen Beruf würden wir es stellungen eine Rolle gespielt . Ich weiß, dass auch in- machen . nerhalb der Fraktionen und der Parteien die Wertevor- Warum sage ich das? Weil es in diesem Bereich – un- stellungen auseinandergehen . Es ist ja nicht so, dass abhängig davon, ob Frauen, die der Prostitution nachge- nur in einer Fraktion gesagt wird, dass man Prostitution hen, dies selbstbestimmt oder aus Nöten und Zwängen verbieten muss, und in einer anderen Fraktion niemand Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17013

Sönke Rix (A) das sagt . Die Wertevorstellung, dass man Prostitution am Vizepräsidentin Petra Pau: (C) besten verbieten müsste, gibt es – wie ich es zumindest Der Kollege Paul Lehrieder hat für die CDU/ den Äußerungen der Kolleginnen und Kollegen entneh- CSU-Fraktion das Wort . me, mit denen ich gesprochen habe – in allen Fraktio- nen . Aber wir dürfen nicht zulassen, dass wir im Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU) menhang mit der Regulierung von Prostitution aufgrund der Tatsache, dass wir uns unter Druck gesetzt fühlen, Paul Lehrieder (CDU/CSU): Schaufenstergeschichten machen . Deshalb ist es gut und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen richtig, dass wir sinnlose Sachen wie die Einführung der und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich Altersgrenze von 21 abgewendet haben; sie hätte dazu weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass sich die Medien- geführt, dass die Frauen unter 21 Jahren in die Illegalität wand rechts, auf der die Redner angezeigt werden, gera- gegangen wären . Bei der Einführung dieser Altersgrenze de während dieser Debatte mit einem roten Aufflackern, haben wir nicht mitgemacht . mit einem Rotlicht, verabschiedet hat . (Beifall der Abg . Petra Crone [SPD]) (Sönke Rix [SPD]: Jetzt ist es schwarz! – Ein weiterer Punkt ist, dass wir den sogenannten Bärbel Bas [SPD]: Ich sehe nur schwarz!) Bockschein nicht wieder eingeführt haben . Denn sämt- Laut Schätzungen der EU-Kommission arbeiten in liche Untersuchungen und Aussagen aus der Fachwelt Europa circa 200 000 Zwangsprostituierte . Die OSZE haben gezeigt, dass er nichts gebracht hat . Auch wenn spricht von jährlich 120 000 bis 500 000 Frauen, die als der Bockschein in dieser Debatte gefordert wurde – bei Prostituierte aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäi- sinnlosen Schaufenstergeschichten macht die SPD-Frak- sche Länder kommen, ungefähr 27 Prozent davon sind tion nicht mit . Kinder und Jugendliche . Menschenhändler verdienen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) pro Jahr circa 150 Milliarden Dollar, so die Internatio- nale Arbeitsorganisation, ILO . Daher liegt es in der Ver- Ich möchte den zweiten großen Bestandteil dieses antwortung der Politik, den in der Prostitution tätigen Gesetzes erwähnen . Wir haben eine große Einigkeit da- Menschen einen besseren Schutz zu gewähren, deren rüber – das haben auch die Kolleginnen der Grünen ge- Selbstbestimmungsrecht zu stärken und dieses Gewerbe sagt –, dass der größte Bestandteil dieses Gesetzes gar stärker zu kontrollieren . nicht das Anmeldewesen für die Prostituierten ist . Wir müssen das Anmeldewesen so ausgestalten, dass es ein Das derzeit noch geltende Prostitutionsgesetz, das Andockpunkt für Hilfe und Beratung ist und nicht zur die damalige rot-grüne Regierung 2002 auf den Weg Stigmatisierung beiträgt . Wir müssen also sagen: Das ist gebracht hat, konnte die Erwartungen nicht erfüllen . (B) (D) der Punkt, an dem ihr euch in der Behörde anmeldet, und Frau Dörner, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewie- wir zeigen euch Wege zur Hilfe, Beratung und Unterstüt- sen: Gut gemeint bedeutet nicht immer automatisch gut zung auf . – Das ist der Sinn der Anmeldung; es geht nicht gemacht . Deshalb hätte ich es begrüßt, wenn die Grü- um eine Registrierung zum Zwecke der Demütigung und nen – Sie haben eine gewisse Verantwortung vor dem Stigmatisierung . Hintergrund dessen, was Sie vor 14 Jahren auf den Weg gebracht haben – konstruktiv an der Verbesserung des (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Karin vorliegenden Gesetzentwurfs mitarbeiten würden . Maag [CDU/CSU]) (Abg . Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der viel größere Teil dieses Gesetzes – über 70 Pro- NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) zent – befasst sich mit der Regulierung der Bordelle und der Prostitutionsstätten . Wir legen endlich einmal fest, – Frau Pau, Frau Dörner hätte eine Zwischenfrage .– Frau dass nicht jeder – auf gut Deutsch – einen Puff aufma- Pau? Frau Dörner möchte mich etwas fragen . chen kann, sondern dass er vorstrafenfrei sein muss, also (Heiterkeit) keine relevanten Strafen begangen haben darf . Wir setzen fest, dass das Bordell entsprechende Standards vorwei- Ich lasse die Frage zu . sen muss und dass auch die freiberuflich Beschäftigten gewisse Regeln einzuhalten haben . Sie müssen allerdings Vizepräsidentin Petra Pau: auch entsprechend geschützt werden . Gut, dann lassen Sie also eine Frage oder Bemerkung zu . Wir waren gerade mit der Lösung technischer Pro- Vizepräsidentin Petra Pau: bleme beschäftigt . Entschuldigung . – Bitte, Frau Dörner . Herr Kollege Rix, ich bitte Sie, zum Schluss zu kom- men . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, dass Sie so überschwänglich meine Fra- Sönke Rix (SPD): ge zugelassen haben . Deswegen verdient das Gesetz auch den Namen, den es bekommt . Paul Lehrieder (CDU/CSU): Schönen Dank . Ich habe darauf gewartet .– Halt! Meine Zeit läuft noch . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) 17014 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Das 2002 verabschiedete Gesetz und die damit ver- (C) Kollege Lehrieder, Sie kennen sich aus, aber die Zeit bundene Liberalisierung des Prostitutionsgewerbes hat ist längst angehalten . nicht nur zu einer massiven Ausweitung der Prostituti- on, sondern auch zu einer zunehmenden Ausbeutung der in der Prostitution Beschäftigten und zu einer massiven (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Katja Dörner Verschlechterung ihrer sozialen Lage geführt . Men- Die Antwortzeit wurde offenbar schon in Ihre Rede- schenunwürdige und ausbeuterische Geschäftsmodelle zeit einkalkuliert . sind entstanden, und Zwangsprostitution, Menschenhan- Ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen del sowie die damit verbundene Begleitkriminalität ha- haben, dass wir uns schon vor einem halben Jahr sehr ben massiv zugenommen und stellen mittlerweile einen konstruktiv in diese Debatte eingebracht haben, indem Kriminalitätsschwerpunkt in unserem Land dar . wir einen eigenen Vorschlag zu einem Gesetz zur Re- Deutschland wurde zeitweise sogar als Bordell Euro- gulierung von Prostitutionsstätten vorgelegt haben . Ich pas bezeichnet; darauf wurde bereits hingewiesen . Die habe in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir über derzeit noch geltenden Regelungen schützen schon seit Regulierungsmöglichkeiten für das Gewerbe sehr wohl geraumer Zeit nicht mehr die in der Prostitution Täti- auch eigene Vorstellungen haben, die sich in Teilen mit gen . Kriminelle und zahlreiche Bordellbetreiber haben dem decken, was im vorliegenden Gesetzentwurf enthal- die geltende Rechtslage ausgenutzt und hieraus Profit ten ist, auch wenn wir in Bezug auf einige Details Kritik geschlagen . Durch die fehlenden Kontrollmöglichkeiten üben . ist der Raum für Missbrauch und Ausbeutung geöffnet Meine Frage lautet: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass worden . wir uns, gerade was die Regulierung von Betriebsstät- Frau Dörner, genau deshalb müssen wir die Bordelle ten angeht, sehr konstruktiv eingebracht haben, dass sich überprüfen bzw . die Möglichkeit haben, dass die Polizei unsere Kritik darauf bezieht, dass Sie in der Prostitution in den Bordellen nach dem Rechten schauen kann . Nicht Tätige mit zusätzlichen Pflichten belegen wollen? Das ist mehr und nicht weniger wollen wir tun, und das völlig zu der Punkt, an dem wir Kritik üben, die übrigens, wenn Recht . Frau Ministerin Schwesig hat auf die Pommesbu- man die Stellungnahmen, die für die Anhörung am kom- de hingewiesen . Jedes andere Gewerbe in Deutschland menden Montag eingegangen sind, liest, von der Breite ist mehr Regulierungen unterworfen als der Betrieb eines der Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten Bordells, und das kann es nicht sein . Bereichen geteilt wird . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (CDU/CSU): ordneten der SPD) (B) Paul Lehrieder (D) Frau Kollegin Dörner, Sie dürfen versichert sein, dass Meine sehr geehrten Damen und Herren, der CDU/ ich als Ausschussvorsitzender Ihre Anträge und Vorlagen CSU-Fraktion ist es ein wichtiges Anliegen, ein Prosti- sehr wohl kenne und zur Kenntnis nehme . Ich begrüße tuiertenschutzgesetz auf den Weg zu bringen . Ich muss ausdrücklich, dass Sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt ganz bewusst auf den Namen eingehen . Es heißt nicht mitgewirkt haben . Umso mehr hat es mich enttäuscht, Prostitutionsschutzgesetz, sondern es ist ein Prostituier- dass Sie vorhin in Ihrer Rede ausdrücklich gesagt ha- tenschutzgesetz, weil die Prostitution keines Schutzes ben – dabei ist die Anhörung erst am Montag –: Wir leh- bedarf . Sie wird nicht zu Unrecht oft als ältestes Gewer- nen diesen Gesetzentwurf ab . be der Welt bezeichnet . Wir müssen die Frauen und auch die Männer, die in der Prostitution tätig sind, schützen (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor ausbeuterischen Geschäftsmodellen, vor einer Aus- NEN]: Habe ich nicht gesagt!) nutzung ihrer persönlichen Lage . Genau dies bringt die- Hören wir uns doch erst einmal an, was die Sachverstän- ser Gesetzentwurf erstmalig richtig auf den Weg, meine digen am Montag sagen . Sie lehnen das Gesetz bereits Damen und Herren . jetzt ab; das können wir im Protokoll nachlesen .– Blei- (Beifall bei der CDU/CSU) ben Sie stehen, ich bin noch nicht fertig . Ich denke, dies ist uns mit dem jetzt vorliegenden Ge- Wir werden am Montag in der Anhörung über die setzentwurf, den wir von Juli 2017 an sukzessive umset- Stellungnahmen der Sachverständigen diskutieren . Dar- zen werden, gelungen . aus können wir dann Konsequenzen ziehen, Frau Dörner . Es kann doch nicht darum gehen, reflexartig abzulehnen, Es wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern was die Große Koalition sinnvollerweise auf den Weg bereits darauf hingewiesen: Wir haben uns die Beratun- bringt . Arbeiten Sie konstruktiv mit . Ich hoffe, dass Ih- gen nicht leicht gemacht . Wir sind von unterschiedlichen nen der Schutz gerade der jungen Frauen in diesem Ge- Ausgangspunkten aus an dieses Gesetz herangegangen . werbe genauso am Herzen liegt wie uns von der SPD und Es gibt in der Prostitution nicht die Prostituierte, es gibt von der CDU/CSU . vielmehr ganz unterschiedliche Beweggründe, warum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Menschen der Prostitution nachgehen . Es gibt die selbst- ordneten der SPD – Ulle Schauws [BÜND- bewusste 22- bis 24‑jährige Studentin, die sich etwas hin- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unter- zuverdienen will, die mit diesem Gesetz sehr wohl wird stellung!) leben können . Es gibt aber auch sehr viele – man schätzt 75 bis 80 Prozent – junge, heranwachsende Mädchen, – Ich muss Ihnen das unterstellen . die zum Teil der deutschen Sprache nicht mächtig sind Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17015

Paul Lehrieder (A) und aus dem osteuropäischen Ausland kommen . Dies Weil vorhin darauf hingewiesen wurde, möchte ich (C) sind vulnerable Heranwachsende, die mit Loverboy-Me- noch zwei Sätze zur Anmeldung sagen . Die Anmeldung thoden nach Deutschland gelockt wurden . Sie wurden ist erforderlich, weil uns die Kriminalpolizei sagt: Wir zunächst für Putzjobs angeheuert und dann tatsächlich können nur die schützen, die wir kennen . Die Person kann in die Prostitution geschickt . Auch diese müssen wir im auch mit einem Alibinamen registriert sein . Im Ausweis Fokus haben, auch die müssen wir schützen . kann auch „Domina 2000“ stehen, um die Identität dieser Person auf der Straße zu verschleiern; aber sie muss bei Auch hier ist es natürlich wichtig, zu sagen: Ja, du der Meldebehörde registriert sein, damit man weiß, wie bekommst ein Beratungsangebot außerhalb des Milieus . viele Prostituierte in welchem Alter wo tätig sind . Nur Deshalb die Gesundheitsberatung . Wir haben über den dann kann man als Polizei nach dem Rechten schauen . Begriff „Gesundheitsuntersuchung“ diskutiert, aber wir haben gesagt: Nein, wir machen eine Gesundheitsbera- Dies wollen wir, wie schon gesagt, erstmalig ermögli- tung . Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, chen . Es geht nicht um Gängelung, es geht nicht um Stig- jedes halbe Jahr einen Kontakt außerhalb des Milieus matisierung, es geht nicht um Bevormundung, sondern zu haben, um im Falle eines Übergriffs oder einer Ver- es geht um den Schutz der Frauen . Allen Fraktionen in letzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich jemanden zu diesem Hohen Haus würde es gut anstehen, konstruktiv haben, an den sie sich vertrauensvoll wenden können . daran mitzuarbeiten . Deshalb erfolgt die Gesundheitsberatung natürlich ohne den Zuhälter; denn es macht keinen Sinn, wenn die Be- Herzlichen Dank . troffenen mit ihrer Begleitperson erscheinen, die entspre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- chend Druck ausübt . Sie wären dann nicht in der Lage, ordneten der SPD) ehrlich und offen zu sagen, was sie bedrückt bzw . wo die Probleme liegen . Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/ Petra Crone [SPD]) CSU-Fraktion . Wir hätten uns auch vorstellen können, das Mindestal- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ter für die Prostitution auf 21 Jahre heraufzusetzen, aber das war hier im Gesetzgebungsverfahren nicht durch- setzbar . Deshalb gibt es zumindest die Verdoppelung der Karin Maag (CDU/CSU): Anzahl der medizinischen Beratung; denn in vielen Be- Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen reichen unseres Rechtssystems sind die Heranwachsen- und Kollegen! Wir haben es gehört: Das Prostitutions- (B) den, die 18- bis 21‑Jährigen, besonders geschützt, zum gesetz von 2002 war gut gemeint – das gestehe ich zu –; (D) Beispiel beim Betreten einer Spielhalle oder im straf- im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union hat rechtlichen Bereich . Es gilt, besonders diese Heranwach- sich aber so viel verändert, da sind so viele Themen neu senden davor zu schützen, einen Fehler zu machen . hinzugekommen, dass es längst überfällig ist, ein neues Prostitutionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen . Es gibt eine Schweizer Expertise, die besagt: 97 bis 98 Prozent der in der Prostitution Tätigen leiden auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nach Beendigung dieser Tätigkeit . Diese Tätigkeit zieht Viel Zeit wurde vertan, in der nur darüber diskutiert man nicht mit der Kleidung aus . Man verletzt sich selbst: wurde, wer vermeintlich schutzbedürftig ist und wer tat- psychisch und ein Stück weit auch physisch . Deshalb sächlich schutzbedürftig ist . Liebe SPD, ja, es gibt sie, müssen wir aufpassen, dass wir gerade die vulnerablen, die freien Sexarbeiterinnen, die zufriedenen, die sich in die verletzlichen jungen Frauen, aber auch die Männer Verbänden – zum Teil auch sehr kleinen Verbänden mit in dem Alter von 18 bis 21 Jahren besonders schützen . nur etwa 34 Mitgliedern – organisieren . Man sieht sie im Hoffentlich gelingt dies mit diesem Gesetz . Wir werden Fernsehen in den Talkrunden . Sie waren auch in der An- darüber diskutieren . Wir hätten hier noch etwas weiterge- hörung vertreten . hen wollen, das war aber nicht machbar . (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Abso- Meine Damen und Herren, die umfassende Verände- lute Minderzahl!) rung der Regulierung der Prostitution und der Prostitu- tionsstätten in unserem Land durch ein neues Gesetz ist Es gibt die selbstständigen Sexarbeiterinnen – auch ich längst überfällig . Durch ein neues Prostituiertenschutz- habe mit einer gesprochen –, die in Voll- oder Teilzeit gesetz wollen wir – in Abstimmung mit den strafrechtli- arbeiten . Das sind unter anderem Studentinnen, die sich chen Erfordernissen bei der Verfolgung von Zwangspro- durch den Escortservice etwas hinzuverdienen wollen . stitution und Menschenhandel – die Fremdbestimmung Das ist aber nicht das Berufsleitbild, wie man uns weis- in der Prostitution wirksam bekämpfen . Bereits im ge- machen will . meinsamen Koalitionsvertrag hatten wir vereinbart, Frauen besser vor Menschenhandel und Zwangsprosti- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ge- tution zu schützen, Täter konsequenter zu bestrafen und nau!) das Prostitutionsgesetz im Hinblick auf die Regulierung Wir in der Union haben auch die vielen Zwangsprosti- der Prostitution sowie die gesetzliche Verbesserung der tuierten bei ihrer täglichen Arbeit im Blick . ordnungsbehördlichen Kontrollmöglichkeiten umfas- send zu überarbeiten . Die Würde des Menschen ist unantastbar . 17016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Karin Maag (A) So steht es im Grundgesetz . Das umfasst auch und vor al- von Prostituierten und deren oftmals ausbeuterische Ar- (C) lem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung . Trotzdem beitsbedingungen . wird in Deutschland jeden Tag diese Würde, insbesonde- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! re die von Frauen, mit Füßen getreten . Diskriminierung! Ausbeutung!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, wir sind auf gutem Wege, diese ausbeuteri- schen Arbeitsbedingungen und diese Diskriminierung zu Realität ist doch: Prostitution in Deutschland ist im We- beenden . sentlichen Armutsprostitution . Wir reden von Frauen und Mädchen in totaler Abhängigkeit . (Beifall bei der CDU/CSU) (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Maßnahmen dazu wurden dargestellt . Richtig ist: NEN]: Sie haben überhaupt keine Zahlen Freiwillige Ausübung der Prostitution in Deutschland dazu! Was reden Sie da?) durch Erwachsene und die entsprechende Nachfrage bleiben in Deutschland zulässig, auch wenn ich persön- Der Anteil der ausländischen Frauen steigt zum Beispiel lich sehr viel Verständnis für das schwedische Modell in Stuttgart seit Jahren kontinuierlich an . Er liegt derzeit habe, je länger ich mich mit Prostitution beschäftige . bei 90 Prozent . Diese Frauen kommen aus Osteuropa, Aber es wird künftig wenigstens eine persönliche An- aus Rumänien, aus Bulgarien, aus Ungarn . Der größte meldepflicht geben, die die bisher weitgehend unsichtba- Teil entstammt der Volksgruppe der Roma und den türki- ren Frauen aus Osteuropa, die sogenannten importierten schen Minderheiten in Bulgarien und Rumänien . Ein Teil Frauen, überhaupt erst sichtbar macht . Uns geht es vor kommt aus Afrika . Die Frauen sprechen kaum Deutsch, allem um die Gelegenheit zur persönlichen Kontaktauf- können weder lesen noch schreiben . Viele sind sogar gar nahme, um die Gelegenheit zur Beratung . Mit dieser per- nicht alleine hier . Sie bringen ihre Brüder, Ehemänner sönlichen Anmeldepflicht können die Frauen zum ersten und Väter mit . Es ist fürchterlich, aber manchmal sind Mal über elementare Rechte in Deutschland aufgeklärt es auch die Mütter, die ihre Töchter zur Prostitution und informiert werden . nach Deutschland bringen . Die Prostituierte erwirtschaf- Liebe Frau Schauws, ohne diese Anmeldung dürfen tet dann nicht nur das Geld für die Familie zu Hause, die Frauen zum Beispiel im Bordell gar nicht arbeiten . sondern auch den Unterhalt für die sie begleitenden Per- Das heißt, der Zuhälter hat sogar ein großes Interesse da- sonen . Fürchterlich ist: Je besser diese Frauen „funktio- ran, dass sie sich anmelden . Ich glaube nicht, dass sie nieren“, so will ich es bezeichnen, je versorgter die Fa- dadurch in irgendeiner Form in der Illegalität verschwin- milien zu Hause sind, umso größer ist der Anreiz für alle den . anderen, ebenfalls ihre Töchter, Schwestern, Frauen zur (B) Prostitution nach Deutschland zu schicken . Nächstes Thema . Prostituierte sind oft sehr junge (D) Menschen, die zwar auf dem Papier volljährig sind, aber Meine Damen und Herren, Realität sind auch soge- mit 18 bis 21 Jahren – ich will es einmal vorsichtig aus- nannte Gang-Bang-Partys, der Flatratesex: Prostituierte, drücken – noch sehr beeinflussbar sind und vielleicht so- die morgens um 2 Uhr für 8 Euro Geschlechtsverkehr gar – das sage ich in Anführungszeichen – formbar im anbieten müssen, der sie schmerzt, weil sie noch nicht Sinne ihrer Zuhälter und der sogenannten Loverboys . Die genügend verdient haben, um die 130 Euro pro Nacht für Polizei berichtet, dass diese Gruppe sehr junger Frauen ihr Zimmer zahlen zu können . seit der EU-Osterweiterung deutlich zugenommen hat . Sie brauchen unseren Schutz am allermeisten . Deswegen Realität sind die Großbordelle . 2012 wurde in der ist es gut, dass wir für die unter 21-Jährigen mit der jähr- Region Stuttgart, aus der ich komme, Flatratesex für lichen Anmeldung und einer Gesundheitsberatung alle 100 Euro angeboten . Dafür durfte man eine Frau belie- sechs Monate ein erhöhtes Schutzniveau eingeführt ha- big oft in Anspruch nehmen . Die Prostituierte erhielt pro ben . Ich persönlich ärgere mich, dass wir das Verbot der Kundenkontakt 5 Euro . Arbeitszeit: 14 Stunden täglich Prostitution mit Ihnen nicht erreichen konnten . Vielleicht an sechs Tagen in der Woche . schaffen wir es noch in der Anhörung . Um diese sich unfreiwillig prostituierenden Frauen (Sönke Rix [SPD]: Was?) geht es uns in der Union . Die wollen wir schützen . Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere . Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Frauen und Männer sind erheblichen psychischen und Sönke Rix [SPD]) physischen Gefahren ausgesetzt . Lebensumstände und Gesundheitsrisiken können sich schnell verändern . Ich Wenn Deutschland als Bordell Europas bezeichnet wird – nenne den Suchtmittelmissbrauch . Ich nenne das Schutz- dieser Begriff ist heute mehrfach gefallen –, verhalten bei sexuell übertragbaren Krankheiten . Durch den wiederholten Kontakt mit der Anmeldebehörde, mit (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE der Beratungsstelle kann sich durchaus eine Vertrauens- GRÜNEN]: Nur von CDU und CSU!) beziehung entwickeln . dann ist das ein erbärmliches Etikett . Das werden wir mit (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Gesetz beenden . NEN]: Wann denn? Im Viertelstundentakt?) Frau Möhring, Sie haben vorhin den Internationalen Sie ist Voraussetzung dafür, dass Gewalt, Drogenkonsum Hurentag erwähnt . Er erinnert an die Diskriminierung und Zwang überhaupt angesprochen werden können . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17017

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Bekämpfung des Menschenhandels besser Rechnung zu (C) Kollegin Maag, die anderen Punkte müssen Sie bitte tragen . Denn schon der Koalitionsvertrag enthält Vorga- in die Anhörung verschieben; denn Sie müssen jetzt zum ben für eine umfassende Neuregelung der Strafvorschrif- Schluss kommen . ten zum Menschenhandel . Insbesondere soll die überra- gende Bedeutung der Opferaussage darüber, ob es zur Ausbeutung gebracht worden ist, abgemildert werden, (CDU/CSU): Karin Maag und die Ausbeutung der Arbeitskraft soll stärker in den Ich komme zum Schluss .– Ich bin der Überzeugung, Mittelpunkt gerückt werden . dass wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz, mit der Um- setzung der Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des Menschenhandels, über die wir im Anschluss disku- tieren, und mit den geplanten Änderungen im Strafrecht Es liegt nunmehr ein Änderungsantrag der Koalitions- zum Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung fraktionen vor, mit dem diesem weiter gehenden gesetz- nochmals sehr viel für die Frauen in Deutschland errei- geberischen Handlungsbedarf entsprochen werden soll . chen . Darauf bin ich als Unionsmitglied stolz . Wir blei- Ich möchte mich bei den Koalitionsfraktionen für die ben dran . intensiven Fachgespräche ausdrücklich bedanken . Ich habe es mittlerweile aufgegeben, zu zählen, wie viele es Danke schön . waren; aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir (Beifall bei der CDU/CSU) haben es geschafft . Das ist die gute Botschaft des heuti- gen Tages .

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ich schließe die Aussprache . CDU/CSU) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/8556 und 16/4146 an die in der Dieser Änderungsantrag enthält einen Vorschlag zur Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Neufassung der strafrechtlichen Vorschriften zum Men- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann schenhandel . Ergänzend schlägt er neue Straftatbestän- sind die Überweisungen so beschlossen . de der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung sowie eine Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Regelung zur Strafbarkeit von Kunden sexueller Dienst- leistungen von Menschenhandelsopfern oder Zwangs- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- prostituierten vor . Die bisherigen Vorschriften der §§ 232 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- und 233 Strafgesetzbuch bleiben als Zwangsprostitution (B) zung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäi- (D) und Zwangsarbeit zur Vermeidung von Strafbarkeitslü- schen Parlaments und des Rates vom 5. April cken im Wesentlichen unverändert . Diese Vorschläge 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des entsprechen auch einer Formulierungshilfe unseres Hau- Menschenhandels und zum Schutz seiner Op- ses, die das Kabinett im April dieses Jahres beschlossen fer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlus- hat . ses 2002/629/JI des Rates Drucksache 18/4613 Der Aufbau der neu gefassten §§ 232 ff . Strafgesetz- buch folgt der zeitlichen Reihenfolge strafbarer Handlun- Überweisungsvorschlag: gen in diesem Deliktsbereich, nämlich: Menschenhandel Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss als der Prozess von der Anwerbung des Opfers bis zu Ausschuss für Arbeit und Soziales dessen Ankunft am Bestimmungsort der Ausbeutung, das Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Veranlassen des Opfers zur Aufnahme ausbeuterischer Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Tätigkeiten – seien es Prostitution, Arbeitsausbeutung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für oder sonstige Formen der Ausbeutung – und schließlich die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- die Ausbeutung des Opfers selbst . nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Meine Damen und Herren, wie sehen nun die prakti- Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parla- schen Folgen dieser neuen Tatbestände aus? Stellen wir mentarische Staatssekretär Christian Lange . uns einen Menschen vor, der aus dem Ausland gekom- men ist, nur unzureichende Sprachkenntnisse und nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vage Kenntnisse der hiesigen Lebens- und Arbeitsbe- der CDU/CSU) dingungen hat, wegen fehlender Aufenthaltspapiere aber Angst hat – Angst vor der Polizei und Angst vor Behör- Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes- den – und nun auf einen Landsmann trifft . Dieser betreibt minister der Justiz und für Verbraucherschutz: eine Gaststätte, und er bittet ihn, ihn bei sich arbeiten zu Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lassen . Dieser lässt ihn in der Küche unentgeltlich an Herren! Die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bun- sieben Tagen in der Woche je zwölf Stunden arbeiten . desregierung hat sich geraume Zeit verzögert . Sowohl Veranlasst, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat er diesen der Regierung als auch den Koalitionsfraktionen war es Entschluss nicht . Ausgebeutet hat er das Opfer aber sehr nämlich ein Anliegen, im Rahmen dieses Gesetzgebungs- wohl und dabei dessen Zwangslage und Hilflosigkeit in verfahrens dem gesetzgeberischen Handlungsbedarf zur einem ihm fremden Land ausgenutzt . In Zukunft wird 17018 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Parl. Staatssekretär Christian Lange (A) dies nach dem neuen § 233 Strafgesetzbuch – Ausbeu- Herzlichen Dank . (C) tung der Arbeitskraft – strafbar sein . Das ist überfällig . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Stellen wir uns weiter vor, das Opfer aus dem vor- Vizepräsidentin Petra Pau: herigen Beispiel erkennt, dass ihm dieses Leben keine Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Perspektive bietet, und er möchte in sein Heimatland zu- Die Linke . rückkehren . Sein Arbeitgeber möchte aber auf diese billi- ge und auch praktische Arbeitskraft jetzt nicht mehr ver- (Beifall bei der LINKEN) zichten . Er sperrt sein Opfer deshalb ein und überwacht es während der Arbeitszeit . Dann macht sich dieser nach Ulla Jelpke (DIE LINKE): dem neuen § 233a Strafgesetzbuch der Ausbeutung unter Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Ausnutzung einer Freiheitsberaubung strafbar . Auch das Linke ist völlig klar: Menschenhandel ist ein schweres ist überfällig . Verbrechen . Er gehört bekämpft . Alle Maßnahmen, die Stellen wir uns schließlich ein entsprechendes Aus- dazu führen, dass er bekämpft werden kann, wird die beutungsverhältnis in der Prostitution vor, in dem eine Linke unterstützen . Prostituierte an sieben Tagen die Woche vom frühen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Abend bis in die späte Nacht in einem Bordell der Pro- Dr . Matthias Bartke [SPD]) stitution nachgehen und den überwiegenden Teil ihrer Einkünfte abgeben muss . Damit sie sich dieser Situation Aber ich sage auch: Bedauerlicherweise geht der Ge- nicht entzieht, darf sie den täglichen Weg von der Unter- setzentwurf bei weitem nicht weit genug; denn die Opfer kunft bis zum Bordell nur begleitet zurücklegen; in der werden so gut wie gar nicht berücksichtigt . Uns ist min- übrigen Zeit wird sie eingeschlossen . Wir haben uns in destens genauso wichtig, dass in diesem Land die Opfer unseren Gesprächen und Anhörungen viele solcher Fäl- geschützt werden . le schildern lassen . Auch in diesen Fällen ist der neue (Beifall bei der LINKEN) § 233a Strafgesetzbuch anwendbar . Das ist gut und rich- tig so . Hier schließt sich der Kreis zum Prostituierten- Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen hat schutzgesetz bzw . zu der Debatte von soeben über den eine australische Stiftung den sogenannten Sklaverei-In- Gesetzentwurf von Bundesministerin Schwesig . dex veröffentlicht . Demzufolge gibt es in Deutschland 14 500 Menschen, die als Opfer von Menschenhandel in (B) Es ist richtig, dass wir endlich der Zwangsprostitution sklavereiähnlichen Verhältnissen leben . Die Dunkelziffer (D) zu Leibe rücken . Das tun wir mit dieser neuen Regelung, dürfte weit höher liegen . meine Damen und Herren . Die meisten von ihnen sind in der Tat junge Frauen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ihnen werden Versprechungen gemacht . Sie werden hier- Wir haben nämlich im Koalitionsvertrag vereinbart – ich hergelockt, indem sie glauben gemacht werden, dass sie will das hier ausdrücklich noch einmal zitieren –: gutbezahlte Arbeit bekommen . Aber kaum sind sie hier, nehmen ihre Peiniger ihnen ihre Pässe ab, damit sie sie Wir werden nicht nur gegen die Menschenhändler, finanziell ausbeuten können. Das sind häufig Schleuser, sondern auch gegen diejenigen, die wissentlich und aber auch Zuhälter . willentlich die Zwangslage der Opfer von Men- schenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen und Tatorte können Großbordelle, aber auch Privathaus- diese zu sexuellen Handlungen missbrauchen, vor- halte, Baustellen oder sonstige Betriebe sein . Menschen gehen . werden regelrecht eingekauft und danach ausgebeutet, etwa als Zwangsprostituierte, Haushaltshilfen, Pflege- Dies haben wir nun umgesetzt . Das ist gut für den Kampf kräfte oder Handwerker . gegen Menschenhandel und den Kampf gegen Zwangs- prostitution . Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregie- rung hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass an der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutsch-tschechischen Grenze Babys von Prostituierten zum Zweck ihrer späteren sexuellen Ausbeutung ver- Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir dieses kauft werden . Rund 4 000 Euro ist ein Menschenleben Gesetzgebungsverfahren nunmehr zeitnah abschließen dort wert . Es ist doch ein unglaublicher Skandal, dass so können . Das sage ich nicht nur im Hinblick auf die Frist etwas mitten in Europa stattfinden kann. zur Umsetzung der EU-Richtlinie und das Vertragsver- letzungsverfahren der EU-Kommission . Ich meine, dass (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wir eine umfassende, durchdachte Gesamtlösung für ei- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nen Regelungsbereich gefunden haben, den der Gesetz- und der Abg . Dr . Silke Launert [CDU/CSU]) geber – auch das gehört zur Wahrheit – in der Vergangen- heit etwas vernachlässigt hat . Meine Damen und Herren, gegenwärtig besteht die Gefahr, dass zunehmend Flüchtlinge in die Fänge von Deshalb bitte ich um konstruktive Beratungen und Menschenhändlern geraten . Vor allem unbegleitete Kin- schließlich um Ihre Zustimmung . der und Jugendliche laufen Gefahr, von Verbrechern zum Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17019

Ulla Jelpke (A) Drogenhandel oder zur Prostitution gezwungen zu wer- Betreuung, bei der Unterbringung und bei der Sicher- (C) den . stellung ihres Lebensunterhalts . Insbesondere wird in der Richtlinie der Schutz von Kindern gefordert, die dem Diese Menschen befinden sich in einer schier auswe- Menschenhandel unterworfen sind. Aber auch davon fin- glosen Lage, aus der sie sich oft alleine nicht befreien det sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf . Der Schutz der können . Selbst wenn sie eine Fluchtmöglichkeit hätten, Opfer wird von der Bundesregierung einfach hintange- müssten sie damit rechnen, dass ihre Familien zu Hause stellt und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag mit der Be- bedroht werden . Sie können auch nicht einfach zur Poli- gründung verschoben: Irgendwann werden wir dazu et- zei gehen, weil sie oftmals keinen Aufenthaltstitel haben was machen . – Das ist wirklich nicht hinnehmbar, meine und fürchten müssen, selbst bestraft oder abgeschoben Damen und Herren . zu werden . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir dürfen nicht hinnehmen, dass es so etwas wie neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sklaverei und Menschenhandel in unserem Land gibt . Deshalb sind wir moralisch und politisch verpflichtet, Für uns ist das ein ganz klares Versagen; hier werden diesem Unrecht entgegenzutreten . wir unserer politischen und humanitären Verantwortung nicht gerecht . Die Bundesregierung zeigt dazu leider nur wenig Bereitschaft . Die Europäische Union hat schon vor Jah- Die Linke hat in den letzten Jahren in zahlreichen An- ren eine Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhan- trägen und interfraktionellen Gesprächen immer wieder dels erlassen . Die Frist zur Umsetzung ist bereits im eingebracht, dass zu den überfälligen Verbesserungen April 2013 abgelaufen . beim Opferschutz die Gewährung eines Bleiberechts ge- hört, und zwar unabhängig von der Aussagebereitschaft Das, was die Regierung jetzt vorlegt, ist wirklich eine in einem Strafverfahren . Erst dann haben die betroffenen peinliche Schmalspurlösung . Der Gesetzentwurf be- Menschen überhaupt die Möglichkeit, sich aus der Ab- schränkt sich auf strafrechtliche Aspekte und lässt den hängigkeit zu befreien und sich ihren Peinigern öffent- Schutz von Opfern völlig außen vor . Menschenhändlern lich und juristisch entgegenzustellen . werden darin höhere Strafen – zwischen sechs Monaten und zehn Jahren – angedroht . Neue Straftatbestände wie Bislang hängt das Bleiberecht jedoch in aller Regel erzwungene Bettelei und die zwangsweise Organentnah- davon ab, ob die Betroffenen bei der Polizei oder vor Ge- me werden im Gesetzentwurf benannt . Außerdem soll richt eine Aussage machen . Viele Opfer schweigen aber, der Kreis von Zwangsprostituierten erweitert werden: weil sie Angst haben, dass sie selber oder ihre Famili- Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren sollen dazu- en bedroht werden oder sogar Gewalt erleiden . Es kann also nicht sein, dass wir diese Menschen einfach in ihre (B) gehören . All diese Verschärfungen tragen wir mit, weil (D) es richtig ist, hier mit harten Strafen zu drohen . Der Ge- Herkunftsländer zurückschicken, wo sie erneut ins Visier setzentwurf greift aber zu kurz . Als Beispiel nenne ich dieser Menschenhändler geraten . Es gibt diverse Beispie- die Vorschläge des Koordinierungskreises gegen Men- le, dass Frauen, die abgeschoben wurden, immer wieder schenhandel . Danach sollen der Missbrauch von Macht in Deutschland aufgetaucht sind . Die Linke fordert des- oder auch List und Täuschung in den Straftatbestand wegen: Opfer von Menschenhandel und moderner Skla- aufgenommen werden. Nichts davon finden wir im Ge- verei müssen in Deutschland bleiben dürfen, ohne Wenn setzentwurf . und Aber . Meine Damen und Herren, überhaupt kein Verständ- (Beifall bei der LINKEN) nis haben wir dafür, dass der Gesetzentwurf den wich- Der Schutz der Menschenrechte muss gewährleistet wer- tigsten Punkt der EU-Richtlinie völlig ignoriert, nämlich den . den Schutz und die Unterstützung der Opfer von Men- schenhandel . Die meisten Betroffenen arbeiten weit über Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen, dass zehn Stunden am Tag und verdienen dabei so gut wie gar dieser Gesetzentwurf in den Beratungen in den Aus- nichts . Sie arbeiten faktisch ohne Rechte . Sie haben kei- schüssen verbessert wird; denn ohne Opferschutz können ne Perspektive . Vor allen Dingen kommen sie aus diesem wir ihm wirklich nicht zustimmen . Elend nicht heraus, weil sie ständig unter dem Druck Ich danke Ihnen . von irgendwelchen Zuhältern oder Schleusern stehen . Deswegen verdienen sie unsere Solidarität, nicht nur mit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Worten, sondern vor allen Dingen auch mit Taten . Das neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) muss sich im Gesetzentwurf niederschlagen, meine Da- men und Herren . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Winkelmeier-Becker . In der EU-Richtlinie wird eindeutig gefordert, den (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen, denen Gewalt angetan wird, die verschleppt, ausgebeutet und ausgenutzt werden, weitreichende Un- Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): terstützung zukommen zu lassen . Es geht um den Aufbau Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- von Beratungsstrukturen, um kostenlose Rechtshilfe, um gen! Es geht in der heutigen Debatte um Menschenhan- Unterstützung bei medizinischer und psychologischer del und Ausbeutung . Es geht um Menschen, die als Ware 17020 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) gehandelt und aufgrund einer Notlage oder von Hilfslo- oder zu den nordischen Ländern . Überall dort zeigt sich, (C) sigkeit skrupellos ausgebeutet werden . Damit wird nicht dass wir für Menschenhändler besonders lukrativ sind . nur ihre Menschenwürde verletzt; sie werden auch um Diese Zahlen sind schon schlimm genug . Aber vergli- ihre Lebenschancen – die Chance auf ein selbstbestimm- chen mit den tatsächlichen Opferzahlen zeigt sich vor al- tes Leben und ein gerechtes Einkommen – gebracht . Das lem eins: Die Verfolgung und Verurteilung der Täter sind sind ganz schlimme Verbrechen . völlig unzureichend . Man kann auch sagen: Der Staat Wer einen Beweis für die Aktualität unserer heutigen versagt in seiner Aufgabe, die Opfer zu schützen und die Debatte braucht, der braucht nur einen Blick in die aktu- Täter zu verurteilen . Er lässt die Opfer im Stich . Dabei elle Presse zu werfen . Bild berichtete am Dienstag über dürfen wir es nicht bewenden lassen . bettelnde Kinder in Berlin, die mit ihren Müttern oder an- (Beifall bei der CDU/CSU) deren Erwachsenen beim Betteln ausharren müssen, um Mitleid zu erregen und dabei auch ganz gezielt Touristen Über einen Punkt haben wir heute Morgen schon ge- anzusprechen . sprochen: das ungeregelte Prostitutionswesen, dem wir jetzt ein Prostituiertenschutzgesetz entgegensetzen . Der Das Bundeskriminalamt schreibt in seinem Lagebe- BKA-Bericht nennt dafür eine weitere Ursache . Darin richt, dass aufgrund von Erfahrungen in anderen Ländern heißt es: davon auszugehen ist, dass auch in unseren Großstädten Strukturen organisierter Bettelei bestehen . Um das zu Vielmehr ist zu vermuten, dass Probleme im Be- wissen, muss man aber nicht den BKA-Bericht lesen: reich der Verfahrensführung in Verbindung mit dem Das zeigt sich auch auf unseren Straßen . in der Praxis schwierig anzuwendenden Straftatbe- stand für diese niedrigen Zahlen ursächlich sind und Der Express berichtet am 25 .Mai über den Arbeiter- daher auf einfacher anzuwendende Straftatbestände strich in Köln, auf dem sich Arbeiter als Tagelöhner ver- ausgewichen wird . dingen, zu einem Stundenlohn, der deutlich unter dem Das heißt, dass wir dringend eine konsequente Be- Mindestlohn liegt . Sie haben keine andere Wahl . Das kämpfung des Menschenhandels und dafür auch Än- nutzen ihre Arbeitgeber aus . derungen im Strafgesetz brauchen . Deshalb setzen wir Die Welt schrieb über die Razzia im größten Bordell nicht nur die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung , in dem laut Polizeibericht die Prostituierten ohne des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer um . eigene Entscheidungsgewalt arbeiten . Die Südwest Pres- Schon dazu müssen wir die Tatbestände des Menschen- se schrieb am 25 .Mai aus dem Blick einer Aussteigerin handels zum Zwecke der Ausnutzung durch Bettelei, aus der Prostitution Folgendes: durch strafbare Handlungen und zum Zweck der Organ- (B) entnahme neu unter Strafe stellen . (D) Zehn Freier am Tag, fünf Jahre lang – danach war Wir gehen darüber hinaus weiter und überarbeiten Vivian … fertig . Als sie mit dem Entschluss zum außerdem die einschlägigen Strafvorschriften zum Men- Ausstieg in der Stuttgarter Beratungsstelle Café La schenhandel, um die Täter besser belangen zu können . Strada stand, hatte sie ein paar Klamotten und eine Handtasche dabei, aber keinen einzigen Euro . Ihr Es wird in Zukunft klarer definiert, was Ausbeutung Traum vom großen Geld, mit dem Bekannte sie im bedeutet . Dieses Merkmal ist von der Rechtsprechung Alter von 19 Jahren von Rumänien nach Deutsch- sehr eng ausgelegt worden . Hier regeln wir ausdrücklich, land gelockt hatten, wurde im Stuttgarter Leon- dass der Prostituierten wenigstens der überwiegende Teil hardsviertel zum Alptraum . der Einnahmen verbleibt . Es darf nicht alles auf angebli- che Kosten für Reise, für Kleidung, für Essen, für über- Meine Damen und Herren, das sind keine Einzelfäl- teuertes Wohnen in Rechnung gestellt werden, sodass am le, sondern Beispiele für viele Schicksale in Europa, wo Ende kaum etwas übrig bleibt . Außerdem gehen wir an Menschen als Ware gehandelt und durch organisierte die subjektiven Voraussetzungen . Bisher war nachzuwei- Bettelei, Arbeitsausbeutung und Zwangsprostitution aus- sen, dass das Opfer zur Prostitution durch den Täter be- gebeutet werden . Etwas viel Schlimmeres kann es nicht stimmt wurde . Das ist im Sinne einer Conditio sine qua geben . non zu verstehen . Oft wird dem Opfer aber erfolgreich eingeredet: Wenn du mit der Polizei sprichst, dann sagst Es gibt naturgemäß keine exakten Zahlen . Die im du, dass du das hier alles freiwillig machst . – Das ist Raum stehende Zahl von 400 000 Prostituierten ist viel- nicht immer glaubwürdig, aber zumeist ist es jedenfalls leicht etwas zu hoch, aber sechsstellig ist sie mit Sicher- nicht möglich, das Gericht vom Gegenteil zu überzeu- heit . Wir haben Zigtausende ausgebeutete Arbeiter . Wir gen . Deshalb heißt es in Zukunft: wer veranlasst . Das sind Durchgangs- und vor allem Zielland von Menschen- bedeutet dann nur eine Mitursächlichkeit, die leichter zu handel, bei uns vor allem mit dem Schwerpunkt Prosti- beweisen ist . tution . Wir haben auch im Ausland einen sehr schlechten Ruf . Das hat seinen Grund . Wir sind für Menschenhänd- Ganz wichtig: Wir werden in Zukunft die Freier aus- ler besonders lukrativ, bei geschätzt 1 Million Freiern pro drücklich in die Verantwortung nehmen . Denn solche Tag und einem Umsatz von 14 Milliarden Euro im Jahr Erfahrungsberichte, wie eingangs geschildert, gibt es mit dem liberalsten Gesetz, das man sich vorstellen kann, zuhauf . Fangen Sie bei SOLWODI an, gucken Sie Do- mit der geringsten Kontrolldichte und umgeben von Län- kumentationen im Fernsehen – davon war vorhin auch dern, in denen das alles viel restriktiver ist . Das merken schon die Rede –, fragen Sie die Sachverständige Sabine vor allem die Regionen an den Grenzen zu Frankreich Constabel, die in der nächsten Woche auch in der Sach- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17021

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) verständigenanhörung dabei sein wird . Das, was dort Beide Formen der Ausbeutung bedeuten sicherlich (C) geschildert wird, ist Realität und nicht nur Kulisse für schwere Schicksale, sowohl die Ausbeutung der Arbeits- gelegentliche Tatort-Zweiteiler . Und es wäre eigentlich kraft als auch die Ausbeutung durch Zwangsprostitution . auch Grund genug, die Prostitution gänzlich zu verbie- Aber aus meiner Sicht macht es noch immer einen Un- ten – für die Freier, nicht für die Prostituierten –, sie unter terschied, ob man zur Arbeit am Bau oder zur saisonalen Strafe zu stellen, wie es Schweden und neuerdings auch Erntearbeit auf einem Bauernhof eingesetzt wird oder ob Frankreich tun . man jeden Tag zehn Freier zufriedenstellen muss . Letzte- res ist deutlich übergriffiger und verletzt die Menschen- Es gibt durchaus auch Gegenargumente; das will ich würde . Das Verhältnis in der Strafbarkeit dieser Ausbeu- nicht in Abrede stellen . Vor allem gibt es, nachdem Rot- tungsformen ist nach meiner Meinung noch nicht richtig Grün in 2002 das Prostitutionsgesetz verabschiedet hat, ausgewogen . keine Mehrheit in der Koalition für ein Verbot . Deshalb halten wir am Konzept der legalen Prostitution fest, auch wenn mir die Begründung, die in Schweden und in Präsident Dr. Norbert Lammert: Frankreich für ein komplettes Verbot genannt wird, sehr Frau Kollegin . gut gefällt . Dort wird nämlich die Sache beim Namen genannt . Es wird gesagt, dass Prostitution Gewalt gegen Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Frauen ist und dass sie mit dem Grundsatz der Gleichheit Noch ein Wort . – Ich vermisse bei den Redebeiträgen von Mann und Frau und mit der Menschenwürde unver- der Oppositionsfraktionen einbar ist . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir werden hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, Ich hab doch noch gar nicht geredet!) ein anderes Konzept weiterverfolgen, das gerade auch in den Niederlanden eingeführt worden ist . Wir wollen, dass vor allem die Frage, wer eigentlich von dem Ganzen pro- die Freier nicht generell, sondern nur dann unter Strafe fitiert. Angeblich prostituieren sich die meisten Frauen gestellt werden, wenn sie erkennen, dass die Prostituier- freiwillig . Seltsamerweise sind viele Frauen später thera- te nicht selbstständig tätig ist, sondern dass es sich um piebedürftig, und so gut wie keine der Frauen hat in ma- Zwangsprostitution handelt . Dafür gibt es klar erkenn- terieller Hinsicht etwas auf die Seite legen können . Für bare Anzeichen: wenn zum Beispiel keine Sprachkom- alle Frauen verschlechtert sich die ohnehin prekäre Aus- petenz da ist, wenn Spuren von Gewalt da sind, wenn gangssituation durch jahrelange Arbeit in der Zwangs- sich die ganze Abwicklung nicht mit der Frau vollzieht, prostitution erheblich. Wer hier verdient und profitiert, sondern über ihren Zuhälter abläuft . Da müssen wir die sind die Freier, die sich für wenig Geld tabulosen Sex Freier in die Verantwortung nehmen . Der Freier muss ein einkaufen, den sie in einer anstrengenden Beziehung mit (B) eigenes Risiko tragen . Der Gedanke: „Ich bezahle doch, einer ernstzunehmenden Partnerin nicht bekommen . Die (D) alles andere geht mich nichts an“, darf da nicht mehr wei- finanziellen Einnahmen ziehen die Hintermänner ab. Da- terhelfen . für müssten uns allen doch Frauen zu schade sein . Des- halb lassen Sie uns gemeinsam den Opfern helfen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Vielen Dank . Für den Freier, der sich dann eines Besseren besinnt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und dazu beiträgt, dass Dinge aufgeklärt werden, wollen ordneten der SPD) wir eine goldene Brücke bauen . Er hat die Möglichkeit, zur Straffreiheit zu kommen . Das ist, denke ich, wichtig . Präsident Dr. Norbert Lammert: Dann ist uns der Strafanspruch nicht so wichtig wie die Verhinderung weiterer Straftaten . Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . Wir müssen außerdem bei den Gewinnen ansetzen . Denn es geht letztlich ums Geld . Wenn wir dieses Geld Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besser abschöpfen können, ist das Geschäftsmodell ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und stört, dann ist der Anreiz weg . Das trifft die Hintermän- Kollegen! Ich will mit dem Positiven anfangen . Die ner am besten . Überarbeitung der §§ 232 ff . Strafgesetzbuch ist in der Ich muss sagen: Der Entwurf ist gut, aber noch nicht Tat überfällig, da die einschlägige EU‑Richtlinie zur Ver- perfekt . Wir hätten uns dringend gewünscht, dass auch hütung und Bekämpfung von Menschenhandel bereits im die §§ 180a und 181a des Strafgesetzbuches miteinbe- April 2013 hätte umgesetzt werden müssen . Deutschland zogen worden wären . Wir haben hier aus meiner Sicht ist das einzige Land von 27 Ländern, das die Richtlinie eine Unwucht im Vergleich zu der sicherlich wichtigen bislang nicht umgesetzt hat . Es besteht also Handlungs- und richtigen Verschärfung der Strafbarkeit bei der Ar- bedarf . Soweit sind wir uns einig . Einig sind wir uns beitsausbeutung. Hier haben wir weitere Qualifikati- auch, dass der Gesetzentwurf vom 15 .April 2015 diesen onen . Wenn die Tat mit einer schweren Misshandlung Zweck nicht erfüllt . Damit sollte lediglich § 233 – der oder Todesgefahr verbunden ist oder wenn das Opfer in sogenannte Menschenhandel zum Zweck der Ausbeu- materielle Not gerät, dann haben wir hier ganz andere tung der Arbeitskraft – ergänzt werden um die Bettelei, Strafrahmen, als es bei der Zwangsprostitution, bei der die Begehung von Straftaten und die Organentnahme . Ausnutzung durch Prostitution der Fall ist . Ich muss sa- Diese Ergänzung geht die eigentlichen Defizite der be- gen: Das ist eine Unwucht . stehenden Tatbestände allerdings überhaupt nicht an . An 17022 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Katja Keul (A) dieser Stelle möchte ich die Bemerkung machen, Herr Mit dem Tatbestand der Zwangsprostitution vermen- (C) Lange, dass dieser Gesetzentwurf, an dem wir alle nicht gen Sie außerdem zwei unterschiedliche Schutzgüter . mehr festhalten wollen, das Einzige ist, was heute formal Schutzgut des Menschenhandels ist vor allem die berufli- Gegenstand dieser Debatte sein kann, weil nur er einge- che und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und nicht die bracht ist . sexuelle Selbstbestimmung . Soweit es um die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung geht, gehört der Tatbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stand in den Dreizehnten Abschnitt des Strafgesetzbu- ches und sollte von der dort angestrebten Reform erfasst Der angekündigte Änderungsantrag der Koalitionsfrak- werden . tionen, auf dessen Basis wir nun diskutieren, ist formal noch nicht in den Bundestag eingebracht . Daneben gibt es weiterhin die §§ 180a und 181a, in denen die Zuhälterei bzw . die Ausbeutung der Prostitu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tion unter Strafe gestellt werden . Dort ist von persönli- cher und wirtschaftlicher Abhängigkeit die Rede, in Ih- Zurück zum Inhalt . Menschenhandel im Sinne der rem neuen § 232a von persönlicher und wirtschaftlicher EU-Richtlinie ist nicht nur die Ausbeutung, sondern es Zwangslage . Dieses Wirrwarr an Überschneidungen und sind auch die Nachschub- und die Logistikebene . Hier unterschiedlichen Begrifflichkeiten ist weder geeignet, besteht im deutschen Recht eine Lücke, die wir schließen den Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit zu erleichtern, wollen . In den §§ 232 und 233 StGB wird Menschen- noch entspricht es rechtsstaatlichen Anforderungen an handel bislang fälschlicherweise gleichgesetzt mit sexu- ein Strafgesetz . eller Ausbeutung bzw . mit Ausbeutung der Arbeitskraft . Erst in § 232a geht es dann am Rande um Anwerben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Befördern, Weitergeben und Beherbergen . Es ist insofern Mir scheint es deutlich sinnvoller, die Veranlassung konsequent, dass Sie nun in Ihrem angekündigten Ände- zu einer ausbeuterischen Tätigkeit in einem einzigen Tat- rungsantrag die Nachschubebene mit dem neuen § 232 bestand zu erfassen und damit die ausbeuterische Pros­ zum Grundtatbestand machen und darin auch alle Arten titution als einen besonderen Fall der ausbeuterischen der Ausbeutung erfassen, sowohl die Prostitution als Beschäftigung zu behandeln . Dann müssten Sie nämlich auch sonstige Beschäftigung . Absatz 1 enthält außerdem auch folgerichtig einheitlich entscheiden, ob und wie der eine Legaldefinition von Ausbeutung. Danach kommt es Kunde, der eine ausbeuterische Dienst- oder Arbeitsleis- künftig auf das auffällige Missverhältnis der Arbeitsbe- tung in Anspruch nimmt, bestraft werden soll . dingungen und das Gewinnstreben des Täters an . Das ist sicherlich hilfreich . Unklar bleibt aber, warum dieses Mit Ihrem neuen § 232a Absatz 6 wollen Sie die Frei- erstrafbarkeit bei der Ausnutzung der Zwangslage unter (B) Gewinnstreben zusätzlich rücksichtslos sein muss, wenn (D) schon das objektive Missverhältnis der Arbeitsbedingun- Strafe stellen, während das bei der Inanspruchnahme von gen feststeht . Diese zusätzliche Einengung scheint mir anderen Dienstleistungen nach § 232b nicht gelten soll . überflüssig zu sein. Insgesamt ist der neue Grundtatbe- Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass es Ihnen in stand des § 232 trotz einigem Änderungsbedarf zumin- Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich die sexuel- dest eine geeignete Diskussionsgrundlage . Aber danach le Selbstbestimmung zu schützen . Das erreichen Sie aber wird es chaotisch . nur auf anderem Wege . Schaffen Sie im Sexualstrafrecht einen Grundtatbestand, bei dem es auf den erkennba- Nachdem § 232 den eigentlichen Menschenhandel un- ren entgegenstehenden Willen ankommt, und Sie haben ter Strafe stellt, regelt § 232a das Veranlassen zur Pros- mehrere Probleme auf einmal gelöst . titution und § 232b das Veranlassen zur ausbeuterischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beschäftigung . Sie nennen die Tatbestände in diesen Vorschriften Zwangsprostitution und Zwangsarbeit . Da- Die Beweisbarkeit wird in einer solchen Konstellation bei soll es aber laut Begründung vielmehr um die Beein- immer schwierig bleiben . Aber die von Ihnen hier vor- flussung des Willens gehen. Sogar eine einfache Auffor- geschlagenen umfangreichen objektiven und subjektiven derung zu ausbeuterischer Tätigkeit soll schon genügen . Tatbestandsmerkmale machen es nun wirklich auch nicht Damit erfassen Sie auch Jugendliche, Nachbarn oder einfacher . So reicht es danach nicht aus, dass der Freier Freunde . Das geht zu weit und muss in geeigneter Form die Zwangslage bzw. die Hilflosigkeit erkennt und für begrenzt werden . den Sexualkontakt ein Entgelt bezahlt; darüber hinaus muss er die Zwangslage auch noch bewusst ausgenutzt Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob der haben . Das ist dann doch wohl eher Symbolgesetzge- Begriff „veranlassen“ jetzt irgendetwas anderes bedeu- bung als praxistauglich . tet als „jemanden dazu bringen“, wie es bisher im Ge- Es geht noch weiter . Mit dem ebenfalls neuen § 233 setz stand . Die Ermittlungsbehörden hatten immer die stellen Sie unter Strafe, wenn jemand eine Person durch Beweisbarkeit dieses Tatbestandsmerkmals als schwer eine ausbeuterische Beschäftigung ausbeutet . Auch hier überwindbare Hürde kritisiert . Ich sehe aber nicht, wo holen Sie Ihre systematischen Mängel wieder ein . Die der Unterschied zwischen „jemanden veranlassen“ und Absicht, die Ausbeutung unter Strafe zu stellen, auch „jemanden dazu bringen“ liegen soll . Im Übrigen wie- wenn die Beeinflussung, also das Veranlassen, von dritter derholen §§ 232a und b sämtliche Voraussetzungen und Seite erfolgt, ist grundsätzlich lobenswert . Varianten, die schon in § 232 genannt sind . Das ist nicht nur unübersichtlich, sondern widerspricht auch dem Als Niedersächsin sind mir die Konstellationen gerade Grundsatz der Rechtsklarheit . in der Fleischindustrie nur zu gut bekannt, wo sogenann- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17023

Katja Keul (A) te Werkvertragsunternehmen und ihre Unterhändler die Morgen hier zusammengekommen sind, um diese beiden (C) Menschen aus Rumänien und Bulgarien unter Vorspiege- wichtigen Gesetzesvorhaben zu beraten . lung falscher Tatsachen in die hiesigen Schlachthöfe von Staatssekretär Christian Lange hat vorhin den Koali- Wiesenhof, Tönnies, VION und Westfleisch verbringen, tionsfraktionen für die konstruktive Arbeit an den ver- wo sie ausgebeutet werden . Die Ausbeutung soll aber änderten Formulierungen gedankt . Ich möchte dieses nach wie vor nicht reichen, sondern erst bei bewusster Dankeschön ganz herzlich zurückgeben; denn die Ver- Ausnutzung der Zwangslage strafbar sein . Wie soll denn handlungen waren nicht ganz einfach . Das Bundesmi- da jemals beim Hauptunternehmen ein Vorsatz nachweis- nisterium der Justiz und für Verbraucherschutz hat uns bar sein? Den Auftraggeber eines ausbeuterischen Werk- hervorragend unterstützt . Vor allen Dingen hat es jetzt vertragsunternehmens werden Sie nur erfassen, wenn etwas ganz Hervorragendes vorgelegt . Dafür ein ganz Sie ihn als Dienstleistungsnehmer, der die Ausbeutung herzliches Dankeschön! mindestens billigend in Kauf genommen hat, unter Strafe stellen, also im Prinzip genau so, wie Sie es bei der sexu- (Beifall bei der SPD) ellen Ausbeutung vorhaben . Liebe Frau Keul, Ihren Äußerungen habe ich entnom- Fazit: Ihre Strafrechtsänderungen sind insgesamt un- men, dass Sie sehr wohl die Änderungsanträge, die im systematisch, voller Überschneidungen, und Sie schaf- Übrigen Anfang April im Kabinett beschlossen worden fen damit weder Rechtsklarheit noch eine Hilfe für die sind, sehr gut studiert haben; denn Sie haben sich ja sehr Ermittler . Das Wichtigste für die Opfer haben Sie dabei sachkundig und sehr detailliert damit auseinandergesetzt, ganz vergessen: den Schutz vor der eigenen Kriminali- sodass ich auch auf diese geänderten Vorschläge hier Be- sierung und vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen . zug nehme . Zeigt ein Opfer von Menschenhandel eine Tat an, so kann Zunächst einmal möchte ich aber das deutlich ma- nun von der Verfolgung wegen der eigenen Tat abgese- chen, was uns hier alle eint und woran wir gemeinsam hen werden . Die Einstellung steht aber nach wie vor im arbeiten . Der Menschenhandel ist eines der schlimmsten Ermessen der Staatsanwaltschaft . Bei Ihrem Vorschlag Verbrechen, die es überhaupt gibt . Menschenhandel trau- zur Freierstrafbarkeit hingegen tritt die Straflosigkeit für matisiert Opfer lebenslang, und es wird viel Geld damit den Freier quasi automatisch mit der Anzeige ein . Was verdient. Denn die Täter profitieren hiervon – ganz an- für den Freier recht und billig ist, sollte doch mindestens ders als bei anderen Verbrechen – ganz außerordentlich . auch für die Opfer gelten . Deswegen lohnt sich unser gesamtes Engagement, Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenhandel zu bekämpfen . Meine Fraktion hat außerdem einen eigenen Gesetz- Die Europäische Kommission hat in diesen Tagen ei- (B) entwurf vorgelegt, mit dem die Opfer von Menschenhan- nen Bericht vorgelegt und noch einmal deutlich gemacht, (D) del einen eigenen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel dass wir gegen Menschenhandel viel mehr tun müssen, nach § 25 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz erhalten sollen . Wir als das bisher der Fall war . Auch mich hat die Nachricht schlagen weiter die Einrichtung eines Ausgleichsfonds sehr schockiert, die Frau Jelpke schon erwähnte, dass für Opfer von Menschenhandel sowie einer „Berichter- nämlich 46 Millionen Menschen weltweit in der Skla- statterstelle Menschenhandel“ beim Bundesministerium verei leben – allein 14 500 davon in Deutschland . Das für Arbeit und Soziales vor . ist eine schockierende Zahl und Anlass genug, dagegen etwas mit großem Engagement zu tun . Verengen Sie Ihren Blick also nicht wieder nur auf die Ich möchte auch kurz hervorheben, dass es einen Zu- strafrechtlichen Aspekte, sondern lassen Sie uns für einen sammenhang zwischen Migration und Menschenhandel umfassenden Schutz der Menschenhandelsopfer sorgen . gibt . Denn Menschen, die in großer Not sind, verfolgt Vielen Dank . werden und sich aus ihren Heimatländern auf den Weg machen, sind natürlich ganz anders davon bedroht, Opfer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Schleppern und Menschenhändlern zu werden . Sie sind leicht empfänglich für Versprechungen . Auch daran Präsident Dr. Norbert Lammert: sollten wir anlässlich der Situation, vor der wir im Mo- ment stehen – die enormen Fluchtbewegungen aus unter- Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Eva schiedlichen Teilen der Welt –, immer denken . Högl . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Menschenhandel ist ein Phänomen bzw . Verbrechen, das hauptsächlich Frauen betrifft . Die Zahlen schwan- Dr. Eva Högl (SPD): ken; aber zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Op- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen fer sind Frauen. Es ist häufig – manchmal ist das auch und Kollegen! Sowohl die Debatte heute Morgen über ausschließlich der Fall – mit sexueller Ausbeutung ge- den Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Pros- paart . Mich erschreckt auch besonders, dass die Zahlen titutionsgewerbes als auch die jetzige Debatte über den beim Kinderhandel zunehmen und dass es uns immer Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Menschen- noch nicht gelungen ist, Kinderhandel wirksam zu un- handel und Zwangsprostitution sind eine ganz wichtige tersagen und zu bekämpfen . Deswegen müssen wir auch Etappe bei der Bekämpfung von Zwangsprostitution international tätig werden . Von daher ist es gut, dass es und Menschenhandel . Ich bin sehr froh, dass wir heute schon seit 2005 eine Konvention des Europarates und 17024 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Eva Högl (A) seit 2011 eine europäische Richtlinie dazu gibt . Ich will Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) auch noch einmal ganz deutlich sagen, dass es durchaus Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Launert für peinlich ist, dass wir hier in Deutschland erst jetzt die die CDU/CSU-Fraktion . entsprechenden Maßnahmen ergreifen . Es ist allerhöchs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) te Zeit, dass wir unsere Gesetze verbessern .

(Beifall bei der SPD) Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir wollen das Strafrecht auf diesem Gebiet deutlich Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! verschärfen; denn wir haben festgestellt, dass es in der Es ist sowohl moralisch als auch rechtlich inakzep- Praxis nicht ausreichend angewendet werden kann . Wir tabel, dass . . Menschen wie Waren gekauft, ver- haben uns mit Praktikerinnen und Praktikern unterhal- kauft und ausgebeutet werden . ten . Sie haben uns erläutert, woran die Anwendung der Strafvorschriften scheitert . Das haben wir uns genau Zitat Ende . angesehen . Jetzt haben wir einen guten Vorschlag dafür Man möchte meinen, dieser Satz sei vor etwa 150 oder gemacht, wie wir die Strafrechtsvorschriften verschärfen 200 Jahren gefallen, auf jeden Fall nicht im 21 . Jahrhun- können, damit Täter wirksamer bestraft werden können . dert und erst recht nicht in Europa . Doch wer das glaubt, Denn es ist auch wichtig, Täter wirksamer zu bestrafen . der liegt falsch . Damit verbessern wir gleichzeitig die Sicherheit der Opfer, und wir schützen sie . Das sind unsere beiden Ge- Der zuständige EU-Kommissar kommentierte mit die- sichtspunkte . ser Äußerung den genau heute vor zwei Wochen von der Europäischen Kommission erstatteten Bericht über die Ich will noch kurz einen weiteren Gesichtspunkt Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels . hervorheben, der der SPD-Bundestagsfraktion und mir In diesem Bericht wird festgestellt, dass 2013 bis 2014 ebenfalls sehr am Herzen liegt – es ist für uns ein wich- insgesamt 15 846 Männer und Frauen, Jungen und Mäd- tiger Baustein –: das Thema Arbeitsausbeutung . Wir ha- chen als Opfer von Menschenhandel in der EU registriert ben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Fokus stärker wurden . Allein 2 375, also etwa 16 Prozent davon, waren Kinder, wobei – das wurde schon gesagt – die Zahl der auf Arbeitsausbeutung zu richten . Liebe Frau Kollegin betroffenen Kinder erschreckend stark zugenommen hat . Winkelmeier-Becker, ich glaube, es hilft nicht weiter, Nach dem Bericht ist zudem die tatsächliche Zahl der wenn wir sexuelle Ausbeutung gegen Arbeitsausbeutung Opfer wahrscheinlich wesentlich höher . Das entspricht stellen . Vielmehr wissen wir, dass Arbeitsausbeutung ein dann auch den Erfahrungen der Praxis und den Schät- (B) (D) verbreitetes Phänomen ist, bei dem es sich lohnt, dass wir zungen, die hier in der Debatte schon genannt wurden . uns dagegen engagieren . Angesichts der aktuellen Migrations- und Flücht- Die Arbeitsausbeutung ist mitten unter uns: in den lingsbewegungen ist uns allen bewusst, dass die Händ- Gaststätten, bei den Reinigungsbetrieben, bei haushalts- ler gerade in diesen Zeiten leichtes Spiel haben . Mehr nahen Dienstleistungen, hier in Berlin, in den Botschaf- und mehr Kriminelle finden hier neue Betätigungsfelder ten und auf den Baustellen . Zum Beispiel Mall of Berlin und nutzen das Chaos der Flucht, um Menschen in ihre oder auch Bundesbauten: Dort werden häufig Arbeits- Gewalt zu bringen . Auch der Bericht der Kommission leistungen von Menschen erbracht, die sich in der Ar- weist auf diese Verbindung zwischen Menschenhandel beitsausbeutung befinden. Das ist ein Grund dafür, dass und der Ausbeutung der Schutzbedürftigsten vor dem wir in diesem Gesetzentwurf ganz stark die Bekämpfung Hintergrund der aktuellen Migrationsbewegung hin . Ins- von Arbeitsausbeutung thematisiert haben . besondere Frauen und Kinder – auch das wurde schon mehrfach betont – sind leichte Beute . Wenn ich an die (Beifall bei der SPD) unbegleiteten Minderjährigen denke und daran, wie viele seit ihrer Ankunft in der EU 2015 – laut Europol sollen Noch ein letztes Stichwort . Meine Damen und Her- es 10 000 sein – verschwunden sind, dann wird mir angst ren, wir verschärfen das Strafrecht . Wir verbessern den und bange . Opferschutz . Aber das wird noch nicht ausreichen . Wir Machen wir uns also keine falschen Illusionen: Die brauchen mehr Beratungsstellen . Wir brauchen Sensibi- bei den Behörden zahlenmäßig erfassten Opfer sind lisierungskampagnen . Wir müssen die Öffentlichkeit bei nur die Spitze des Eisberges . Illusorisch wäre es auch, der Bekämpfung von Menschenhandel und Arbeitsaus- zu glauben, dass der Menschenhandel mit all seinen beutung viel stärker an unsere Seite holen . Deswegen kriminellen Auswüchsen haltmacht vor Deutschland . müssen wir über das Strafrecht und über die Verbesse- Durch Entführung, Drohung oder Zwang in die Gewalt rung im Prostitutionsgesetz hinaus viel mehr tun, um die gebracht, werden die Opfer mithilfe von professionellen Opfer wirksam zu schützen . Daran werden wir weiter Schleuserbanden auf der berüchtigten Balkanroute über arbeiten . Italien oder direkt aus Russland, der Ukraine oder Weiß- russland nach Deutschland gebracht . In manchen Fällen Herzlichen Dank . kommt es aber auch zur Einreise, weil man den Opfern einen Job verspricht, ein besseres Leben, die große Lie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten be . Das Elend und die Not oder auch die Träume und die der CDU/CSU) Naivität scheinen groß genug zu sein, sodass ausreichend Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17025

Dr. Silke Launert (A) viele Menschen immer wieder darauf hereinfallen . Wenn Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, die Frei- (C) sie dann hier angekommen sind, hält man sie unter bruta- erstrafbarkeit ins Gesetz zu schreiben . Dazu möchte ich len, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen, beu- klarstellen: Natürlich bestrafen wir nicht jeden Freier . tet sie aus: in der Prostitution – das betrifft, wie gesagt, Die vielen „selbstbestimmten Prostituierten“, wie ich es zwei Drittel der registrierten Fälle, also mit Abstand die hier von den Grünen und von den Linken immer höre, Mehrheit der Fälle –, als Arbeitssklaven, zur Begehung die im Escortservice so viel Geld verdienen und das lie- von Straftaten wie Drogenschmuggel oder Diebstahl, zur bend gerne machen, dürfen weiterhin ihre Freier haben . Bettelei oder zur Organentnahme . Diese Freier haben nichts zu befürchten . Aber die Freier, die sehen, dass es sich um ein Opfer des Menschenhan- „Wie kann all das möglich sein, mitten in Europa?“, dels handelt, um eine Frau, die kein Deutsch spricht, die fragt man sich . Die Antwort liegt auf der Hand: weil die vielleicht verwundet ist, zum Teil regungslos daliegt, Grundlage jedes Geschäfts, dass die Nachfrage das An- die sehen, dass die Frau keine Wahl hat, sich im hoch- gebot bestimmt, auch hier greift, und zwar insbesonde- schwangeren Zustand prostituiert, die also damit rechnen re deshalb, weil es keine ausreichenden und effektiven müssen und dies billigend in Kauf nehmen, dass es sich Bekämpfungsmaßnahmen gibt . Die Nachfrage nach Sex- um ein Opfer des Menschenhandels handelt, die können sklaven, nach Arbeitssklaven scheint ja sehr groß zu sein nun bestraft werden . und steigt, und die Ware Mensch – Wahnsinn, dass dieser Begriff so gebraucht werden kann – scheint unerschöpf- Ich gebe zu: Die Fassung ist eng . Frau Keul hat da lich zu sein . Es handelt sich offensichtlich um einen lu- völlig recht . Mir wäre eine weitere Fassung auch lieber krativen Markt . Dem können wir eine im Moment noch gewesen . Die Frage ist: Wie viele Fälle wird man damit nicht einmal ansatzweise effektive Gesetzeslage entge- in der Praxis erreichen? Aber es ist auf jeden Fall ein genhalten . Das aktuelle Recht ist unsystematisch, nur ganz klares Signal an die Freier: Schaut hin! Wer ist euer punktuell regelt es Einzelfälle . Die Praktiker erzählen Gegenüber? Ist das vielleicht ein Opfer in Not? Nutzt ihr uns, dass es schwierig anzuwenden ist . Opfer sind nicht diese Not anderer aus? – Dieses Signal geht davon auf bereit, auszusagen, es kommt kaum zu Verurteilungen . jeden Fall aus . Ich denke, auch das ist schon ein Schritt Schwierig wird es insbesondere beim Auslandsbezug . in die richtige Richtung . Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Versuch, hieran Ich gebe zu, dass ich mir sowohl beim Prostituierten- etwas zu verbessern, so wie man es im Koalitionsvertrag schutzgesetz als auch bei diesem Gesetz noch viel mehr auch vereinbart hat . Wir werden die Tatbestände refor- Maßnahmen zum Schutz der Opfer gewünscht hätte . Die mieren und verschärfen . Wir haben – das ist etwas, was Diskussion ging ja dahin: Verbieten wir es wieder? Denn ich betonen möchte – nun sichergestellt, dass wirklich das Prostitutionsgesetz hat ja genau das Gegenteil von (B) jeder, der sich an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt, dem bewirkt, was es erreichen sollte . Es hat die Prosti- (D) auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden tuierten nicht geschützt, sondern in vielen Fällen in eine kann, und zwar auch dann, wenn er nur einen kleinen viel prekärere Situation gebracht hat . Also: Verbieten wir Beitrag geleistet hat . Erfasst werden alle, angefangen von es, oder machen wir Einzelmaßnahmen? dem, der die Opfer anwirbt, transportiert oder auch nur Der Kompromiss waren die Einzelmaßnahmen . Aber beherbergt, über den, der das Opfer dazu veranlasst, die was mich schon enttäuscht hat, ist, dass wir selbst bei Prostitution oder die Zwangsarbeit aufzunehmen, bis hin den Einzelmaßnahmen so kämpfen mussten . Es ist für zu dem, der es dann letztlich ausbeutet . Das Geschäft des mich nach wie vor unverständlich, wieso es mit der SPD Menschenhandels, das typischerweise arbeitsteilig ist, nicht möglich war, eine Gesundheitsuntersuchung ein- wird also von diesem Gesetz ganz genau mit all seinen zuführen . Wenn ich hier höre, mit welchen Argumenten Einzelheiten erfasst . man dabei arbeitet: Man spricht von „Bockschein“ und meint, das wäre Symbolpolitik . Wissen Sie was? Die Neu ist, dass wir ab sofort auch die Fälle des Men- Untersuchung zeigt, ob die Frau Geschlechtskrankheiten schenhandels zum Zwecke der Begehung von strafbaren hat, ob sie verwundet wird . Gerade eine solche Untersu- Handlungen erfassen . Ich denke da an Diebesbanden, chung dient der Gesundheit der Prostituierten, aber auch in denen überwiegend Kinder eingespannt sind . Erfasst der Freier und der Personen im familiären Umfeld . Denn werden aber nun auch die Fälle des Menschenhandels Krankheiten könnten über sexuellen Kontakt oder durch zum Zwecke der Bettelei . Es wurde bereits angespro- Bluttransfusionen übertragen werden . Ich muss schon chen, dass auch hierfür überwiegend Kinder missbraucht sagen: Es hat mich sehr enttäuscht, dass wir da so sehr werden . Neu aufgenommen ins Strafgesetzbuch wird kämpfen mussten . auch der Straftatbestand des Menschenhandels zum Zwecke der Organentnahme, was bisher lediglich als Frau Keul hat auch völlig zu Recht § 180a und § 181a Beihilfe zu Straftaten nach dem Transplantationsgesetz StGB angesprochen . Diese Vorschriften hätten nach un- bestraft werden konnte . serer Meinung auch geändert werden sollen; wir hätten es gerne gemacht . Wir hätten gerne etwas Effektiveres Wichtig für die Union war aber auch – ich habe es geschaffen, etwas, was für die Praxis noch besser ist . Lei- vorhin betont: Was macht diesen Markt so lukrativ? –, der hat die SPD das blockiert . Ich gebe zu: Das ist für dass man bei der Ursache ansetzt . Und das ist die Nach- mich völlig unverständlich . frage . Deshalb wollen wir die bestrafen, die im Wissen, dass die Menschen in Not sind, diese bewusst ausbeuten und davon profitieren. Das heißt in dem Fall auch: die Präsident Dr. Norbert Lammert: Bestrafung der Freier, die das wissen . Frau Kollegin . 17026 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Dr. Silke Launert (CDU/CSU): des Freiers sein . Wir wollen damit für die Freier einen (C) Ich komme gleich zum letzten Satz .– Vielleicht Anreiz setzen, an der Aufklärung von Zwangsprostituti- kommt ja bis zum Ende der Legislaturperiode noch et- on und Menschenhandel mitzuwirken . was zustande . Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir Zuletzt möchte ich zusammenfassend sagen: Das Ge- es endlich geschafft haben, mit unserem Änderungsan- setz ist kein Heilsbringer, aber ein Schritt in die richtige trag umfassende Regelungen zur Bekämpfung des Men- Richtung . Hoffen wir, dass im weiteren Gesetzgebungs- schenhandels vorzulegen . Die Umsetzung der EU-Richt- verfahren, vielleicht auch durch die Anwendung in der linie ist überaus wichtig und längst überfällig; meine Praxis, aus diesem Schritt doch noch ein richtiger Sprung Vorredner haben es bereits ausgeführt . Der Gesetzent- wird . wurf unserer schwarz-gelben Vorgängerregierung hat uns aber eines mehr als deutlich gezeigt: Die Umsetzung der Vielen Dank . Richtlinie allein ist nicht ausreichend . Mit unseren Än- (Beifall bei der CDU/CSU) derungsvorschlägen fokussieren wir den strafrechtlichen Schutz auf die Ausbeutung als solche und damit auf die Präsident Dr. Norbert Lammert: objektiven Tatumstände . Wir haben damit die Chance, die bisher geringe Anzahl der Verurteilungen an das tat- Matthias Bartke ist der nächste Redner für die sächliche Ausmaß der Kriminalitätsform des Menschen- SPD-Fraktion . handels anzupassen . (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]) Ich danke Ihnen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Matthias Bartke (SPD): der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs Wochen gingen Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll hier Präsident Dr. Norbert Lammert: in Berlin mit insgesamt 900 Beamten bei einer Razzia Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der gegen das Artemis vor . Das Artemis ist eines der größ- Kollege Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion . ten Bordelle Deutschlands . Die Staatsanwaltschaft wirft den Festgenommenen Menschenhandel vor . Die Razzia (Beifall bei der CDU/CSU) war überregional in den Nachrichten und hat uns wieder eines deutlich gemacht: Menschenhandel findet auch in (CDU/CSU): Deutschland statt . Dr. Hans-Peter Uhl (B) Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und (D) Das Bundeslagebild des BKA berichtet für 2014 von Kollegen! Es war 2002, also vor 14 Jahren, als Rot-Grün insgesamt 403 abgeschlossenen Verfahren beim Delikt das Prostitutionsgesetz mit großem Brimborium verab- Menschenhandel . Das ist eine relativ geringe Zahl, aber schiedet hat . Es ging damals darum – zu Recht, würde leider kein Grund zum Aufatmen: Beim Menschenhan- ich sagen –, dieses Milieu vom Verdikt der Sittenwid- del zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und auch zum rigkeit zu befreien; und das ist ja auch richtig . Man hat Zweck der Arbeitsausbeutung müssen wir von einem dabei nur eines übersehen: dass es sich um einen Lebens- enormen Dunkelfeld ausgehen; es ist bereits gesagt wor- sachverhalt handelt, bei dem schwache, häufiger aus dem den . Es ist vor allem die schwierige Verfahrensführung, Ausland kommende, nicht Deutsch sprechende, hilflose die zu so geringen Ermittlungs- und Verurteilungszahlen Frauen starken, mit krimineller Energie ausgestatte- führt . Bisher kann Menschenhandel fast nur nachgewie- ten Männern gegenüberstehen, die alles tun, um diese sen werden, wenn das Opfer eine Aussage macht . Das schwachen Frauen auszubeuten und damit Geld zu ma- liegt vor allem an der Gesetzesformulierung „dazu brin- chen . Das ist der Lebenssachverhalt: Es handelt sich hier gen“ in § 232 StGB . Der Täter muss beim Opfer also den um ein kriminogenes Milieu . Entschluss herbeiführen, ein ausbeuterisches Arbeits- verhältnis einzugehen, es also „dazu bringen“ . Ein Ent- Was muss der Staat tun, wenn sich ein extrem Schwa- schluss ist aber höchstpersönlich . Im Ergebnis sind wir cher und ein extrem Starker gegenüberstehen? Der Staat daher auf die Aussage des Opfers angewiesen . Das Opfer muss kontrollieren, regeln und zum Schutz der Schwa- muss bestätigen: Ja, der Täter hat mich dazu gebracht .– chen eingreifen . Das ist die Aufgabe des Staates, nicht Diese Aussage ist erfahrungsgemäß sehr, sehr schwer zu nur in diesem, sondern auch in allen anderen Lebens- bekommen . Durch unsere Änderungsvorschläge werden sachverhalten, wo sich Schwache und Starke gegenüber- daher nun auch Fälle erfasst, in denen das Opfer selbst stehen; eigentlich eine Banalität . Aber diesem Umstand die ausbeuterische Tätigkeit aufnimmt . Die Bedingung wurde mit dem Gesetz, das vor 14 Jahren beschlossen ist nur, dass der Täter die Zwangslage des Opfers erkennt wurde, nicht Rechnung getragen . Nein, man hat jede Re- und diese Gelegenheit zur Ausbeutung nutzt . gelung unterlassen . Das Ergebnis ist mehrfach beschrie- ben worden – ich will das nicht mehr wiederholen –: Die Darüber hinaus sollen sich künftig auch Freier von Starken haben sich auf Kosten der schwachen Frauen Zwangsprostituierten strafbar machen . Das ist dann ausgetobt . Damit haben wir einen Zustand in Deutsch- der Fall, wenn sie die persönliche oder wirtschaftliche land erreicht, der eine Schande für unseren Rechtsstaat Zwangslage oder auch die auslandsspezifische Hilf- ist, nämlich „Bordell Europas“ geworden zu sein . losigkeit der Prostituierten ausnutzen . Grund für eine Strafaufhebung kann allerdings die freiwillige Anzeige (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17027

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Die Frauen kommen hierher, naiv, zum Teil gelockt ritierend, wenn jetzt der Bundesjustizminister Maas sagt, (C) von dem Versprechen, dass sie in kurzer Zeit viel Geld auf die Opferaussage werde es auch in Zukunft immer verdienen können . In Wahrheit werden ihnen sofort die noch schwerpunktmäßig ankommen . Das ist bedauerlich . Pässe abgenommen, sie werden behandelt wie Ware, sie Das ist genau das, was wir nicht wollen, nämlich dass es werden von einem Bordell ins nächste geschickt, sie wis- auf die Opferaussage ankommt . Also bitte ich alle Betei- sen gar nicht, in welcher Stadt sie sind, und sie müssen ligten an der Debatte, die jetzt in den Ausschüssen und in irgendwelche Reisekosten oder sonstige Auslagen zu- der Anhörung beginnt, darum, offen zu sein für Nachbes- rückbezahlen . Das heißt – ich will das nicht weiter be- serungen dieses Gesetzentwurfs . Wir brauchen den Rat schreiben; es ist zum Teil auch beschrieben worden –, es der Praktiker, der Polizei, der Staatsanwälte, die in die- ist alles sehr schlimm . sem Milieu unterwegs sind; denn bei uns kann nicht die Sach- und Fachkunde in der Frage sein, wie man diese Die Verbrecher – und Menschenhändler sind Verbre- Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringt . Das müssen cher – sind zu allem bereit . Der jetzige Paragraf zum wir von den anzuhörenden Personen in Erfahrung brin- Menschenhandel baut darauf auf – leider; auch das ist gen . schon zu Recht gesagt worden –, dass der Menschen- händler das Opfer dazu gebracht hat, sich der Prostitution Wir bringen diese Offenheit mit . Frau Högl, die SPD hinzugeben . Das heißt, es muss im Kopf des Opfers et- hat uns zugesagt, dass sie die Anhörung sehr ernst nimmt was passiert sein, was vor Gericht üblicherweise kaum zu und bereit ist, noch nachzubessern; denn ein Ziel haben beweisen ist; es sei denn, es kommt zu der Aussage des wir doch wohl hoffentlich alle gemeinsam, nämlich dass Opfers: Dieser Menschenhändler war es . – Wir erleben wir den jetzigen Zustand beenden, dass Deutschland das aber fortlaufend, dass eine solche Aussage entweder nie „Bordell Europas“ ist . zustande kam oder, wenn sie einmal zustande kam, recht- zeitig vor der Gerichtsverhandlung vom Opfer widerru- Sie von der Opposition können sich nicht darauf be- fen wurde . Das ist typisch für dieses Milieu . Verbrecher, schränken, dies zu beklagen, dann aber zu sagen, dass die mit Menschen handeln, die Frauen ausbeuten und zur man Prostituierte mit den neuen Regelungen dazu zwingt, Prostitution zwingen, haben natürlich auch die kriminelle sich anzumelden und sich regelmäßig einer Gesundheits- Energie, ihr Opfer zum Schweigen zu bringen . Das ist untersuchung zu unterziehen, das heißt, dass man ihnen der Sachverhalt, um den es hier geht . Pflichten auferlegt. Das beklagen Sie ja. Dagegen sagen Kenner: Genau diese Pflichten wünschen sich die Betrof- Die EU-Richtlinie zeigt uns den richtigen Weg, wenn fenen, weil sie dadurch aus den Klauen des Zuhälters he- sie uns, den Mitgliedstaaten, vorgibt, zu sagen: Wir müs- rauskommen. Sie unterwerfen sich diesen Pflichten gern, sen die Menschenhandelsparagrafen so formulieren, dass um von diesen Menschenhändlern freizukommen, die (B) es auf die Opferaussage nicht ankommt . Selbst wenn das sie auf schändliche Weise malträtieren . Das ist die Logik (D) Opfer seine Aussage zurückzieht, muss der Menschen- dieser Verpflichtungen, die eigentlich keine Verpflichtun- händler verurteilt werden können . Aber davon sind wir gen zulasten der Betroffenen sind, sondern zugunsten der weit entfernt . Wir haben Hunderte tatverdächtige Men- Betroffenen . Das muss man verstanden haben, wenn man schenhändler, aber von diesen Hunderten wurden im über dieses Milieu redet . Jahr 2013 in Deutschland ganze 79 verurteilt . Auch im Jahr 2014 gab es Hunderte Verdächtige, aber es wurden (Beifall bei der CDU/CSU) nur 82 verurteilt; ich sage das, damit Sie ein Gespür für den Umfang der kriminellen Energie und für die tatsäch- Präsident Dr. Norbert Lammert: lich kleine Zahl von Verurteilten bekommen . Im Koaliti- Ich schließe die Aussprache . onsvertrag haben wir deswegen, zu Recht, das Problem beschrieben und dazu aufgefordert, ein besseres Gesetz Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- zu machen . wurfes auf der Drucksache 18/4613 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt Der Wahrheit zuliebe möchte ich noch auf eines hin- es dazu andere Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht weisen: Wir waren schon einmal so weit wie heute, am der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen . Ende der letzten Koalition mit der FDP . Da haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Probleme be- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: handelte . Es war eben nicht so, wie die stellvertretende a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Fraktionsvorsitzende der SPD, Frau Reimann, es vorhin SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Debatte gesagt hat, dass dieser im Bundesrat mit den Stimmen von CDU und CSU gestoppt worden ist . Erinnerung und Gedenken an den Völker- Nein, ich bitte darum, zum Beispiel bei Spiegel Online mord an den Armeniern und anderen christ- vom 20 . September 2013 nachzulesen . Es war der Bun- lichen Minderheiten in den Jahren 1915 und desrat mit der Mehrheit der Stimmen von SPD, Grünen 1916 und Linken, der diesen Gesetzentwurf der letzten Koa- lition gestoppt hat . Das muss man der Wahrheit zuliebe Drucksache 18/8613 hier doch noch sagen dürfen . b) Beratung der Beschlussempfehlung und des (Beifall bei der CDU/CSU) Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3 .Aus - schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Wir wollen diese Verbrecher hinter Schloss und Rie- Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, wei- gel bringen, das ist unser Ziel . Da ist es schon etwas ir- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 17028 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss (C) Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – von ihnen nicht einschüchtern lassen . Wir nehmen unsere Deutschland muss zur Aufarbeitung und Ver- Verantwortung wahr . söhnung beitragen (Beifall im ganzen Hause) Drucksachen 18/4335, 18/7909 Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstes das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wort dem Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Frak- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Dazu höre und tion . sehe ich keinen Widerspruch . Also können wir so ver- fahren . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, zu dieser Debatte begrüße ich auf der Ehrentribüne besonders herzlich die Vertre- Dr. Rolf Mützenich (SPD): ter der Botschaften Armeniens und der Türkei. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer alles gelesen hat, weiß, dass der heutige Antrag auf Bun- (Beifall) destagsdebatten aus dem Jahr 2005, aus dem letzten Jahr Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und aus diesem Jahr basiert . Ich bin froh, dass wir einen und sich ein persönliches Bild davon machen, wie ernst- gemeinsamen Antrag formuliert haben . Persönlich sage haft und differenziert der Deutsche Bundestag mit die- ich: Ich hätte mir einen Antrag aller Bundestagsfraktio- sem Thema umgeht . nen gewünscht . Aber anscheinend schwingt in dieser De- batte nicht nur ein Tabu mit, sondern noch ein weiteres . Ein Parlament ist keine Historikerkommission und Deswegen sage ich: Ich hoffe nicht, dass dem erneut ein ganz gewiss kein Gericht . Der Deutsche Bundestag kann Handschlag vorausgehen muss, aber irgendwann wird es und will jedoch unbequemen Fragen und Antworten so sein, dass wir zumindest bei diesen Themen einen ge- nicht aus dem Weg gehen, zumal dann, wenn – wie bei meinsamen Antrag formulieren . dem Völkermord an den Armeniern und anderen christ- lichen Minderheiten vor 100 Jahren im Osmanischen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Reich – das Deutsche Reich selbst Mitschuld auf sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geladen hat . geordneten der CDU/CSU) Wir Deutsche wissen aufgrund der dunklen Kapitel Meine Damen und Herren, der Antrag ist keine Kla- unserer eigenen Geschichte vielleicht noch mehr als an- geschrift . Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: De- dere, dass der Umgang mit historischen Geschehnissen monstrationen sind zulässig, aber genauso zulässig ist, (B) außerordentlich schmerzhaft sein kann . Wir haben aber dass der Deutsche Bundestag aus den Debatten über den (D) auch erfahren dürfen, dass eine ehrliche und selbstkri- Völkermord politische Schlussfolgerungen zieht . Das tische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Bezie- steht einem selbstbewussten Parlament gut zu Gesicht, hungen zu anderen Ländern gefährdet; sie ist vielmehr und deswegen sage ich sehr eindeutig: Wir als Abgeord- Voraussetzung für Verständigung, Versöhnung und Zu- nete lassen uns nicht einschüchtern, und zwar – das sage sammenarbeit . ich gleichzeitig – egal von welcher Seite . (Beifall im ganzen Hause) (Beifall im ganzen Hause) Ich habe bei gleicher Gelegenheit schon vor einem Dieser Antrag ist in der Tat auch ein Appell zur Auf- Jahr darauf hingewiesen, dass wir die türkische Bereit- arbeitung und zur Selbstverantwortung der Türkei . Letzt- schaft, heute, in der Gegenwart, Verantwortung insbeson- lich gehört aber eben auch die armenische Seite mit dere für das Schicksal von Flüchtlingen zu übernehmen, dazu – ich finde, auch das wird in diesem Antrag sehr ausdrücklich würdigen, wenn wir an das Bewusstsein deutlich –; denn wir wollen zukünftig in der Region des und auch die Verantwortung für die eigene Vergangen- größeren Kaukasus keine weiteren Spannungen sehen . heit appellieren . Die heutige Regierung in der Türkei ist Deswegen bieten wir als Deutscher Bundestag gemein- nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, sam mit der Bundesregierung Unterstützung an, damit aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zu- dort, wo der Versuch unternommen wird, Schritte zur kunft wird . Entspannung zu gehen, dies auch geschehen kann . Das (Beifall im ganzen Hause) halte ich für legitim . Ich glaube, dazu muss auch der Deutsche Bundestag etwas sagen dürfen und können, Meine Damen und Herren, im Vorfeld der heutigen Debatte kam es neben Protesten und Demonstrationen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch zu zahlreichen Drohungen, insbesondere gegenüber der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Kolleginnen und Kollegen mit einem türkischen Famili- NISSES 90/DIE GRÜNEN) enhintergrund – bis hin zu Morddrohungen . So selbstver- insbesondere weil Deutschland zurzeit den Vorsitz bei ständlich wir jede Kritik akzeptieren, auch unsachliche, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in polemische und aggressiv vorgetragene Kritik, so klar Europa hat . Im Grunde genommen ist der Kern der Ent- muss auf der anderen Seite sein: Drohungen mit dem spannungspolitik, die auch den Kalten Krieg überwun- Ziel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundes- den hat, dass viele Länder versuchen, über ihre Streit- tages zu verhindern, sind inakzeptabel . punkte hinaus internationale und regionale Institutionen (Beifall im ganzen Hause) zu nutzen, um Versöhnung zu schaffen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17029

Dr. Rolf Mützenich (A) Zweiter Punkt . Wir wollen, dass gerade junge Wissen- Deswegen sage ich sehr eindeutig: Wenn wir heute Völ- (C) schaftlerinnen und Wissenschaftler – ich sage ganz offen, kermord mit den Mitteln des internationalen Rechts be- dass ich große Hoffnung in die junge Generation habe, strafen wollen, so spricht nichts dagegen, die Konvention die oft viel bereiter ist, in diese Richtung zu gehen – zum aus ihrer Entstehung heraus zu würdigen . Beispiel mit Stipendien unterstützt werden, um die ge- meinsame historische Aufarbeitung voranzubringen . Ich würde gerne eine weitere grundsätzliche Bemer- kung machen . Gegenstand der Debatte ist der Völker- Dritter Punkt . Dies möchte ich auch an die Repräsen- mord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Prä- tanten der beiden Länder sagen: Im Jahre 2009 sind unter sident Erdogans . Schweizer Vermittlung die Zürcher Protokolle zustande (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gekommen, wo es eben diesen Aussöhnungsprozess ge- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- geben hat . Ich bitte darum, dass beide Parlamente dem- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nächst versuchen, endlich eine Ratifikation dieser Proto- kolle vorzunehmen . Ich denke, in dieser Debatte sollte man das auseinan- derhalten . Ich weiß, Max Weber würde ihn vielleicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Prototypen des autoritären Herrschers sehen, aber der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- das sei dahingestellt . Ich glaube, diese Debatte hilft so NISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht weiter . Sie hilft nicht weiter, weil man Außenpo- Letzter Punkt . Der Deutsche Bundestag stellt sich litik nicht mit Schaum vor dem Mund machen darf . Ich der Verantwortung und hat auch das Recht, die deutsche gebe insbesondere zu bedenken, dass dies vielleicht die Mitschuld zu betonen . Auch deswegen reden wir heute Allmachtsfantasien von geglaubten Alleinherrschern be- darüber . Wir erinnern daran, dass es mutige Diplomaten fördert . Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssen waren, Krankenschwestern, aber eben auch Politiker wie aufpassen, nicht nur eine Person verantwortlich zu ma- Eduard Bernstein und Karl Liebknecht, die auf die Ver- chen . Es gibt mehrere, die willfährig sind . Wir brauchen folgungen hingewiesen haben. Deswegen, finde ich, ist deshalb eine differenzierte Debatte, insbesondere wenn es das Recht und auch die Pflicht des Deutschen Bundes- wir versuchen, mit der türkischen Republik auf gleicher tages, über dieses Thema zu reden . Augenhöhe manches aufzuarbeiten, was in dieser Zeit geschehen ist . Nur die Widersprüche, die es in diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Land gibt, machen einen Präsidenten Erdogan erst mög- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- lich . Deswegen sage ich als Demokrat sehr deutlich: Wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) dürfen nicht vergessen – egal, wie wir das beurteilen –, dass er immerhin die Mehrheit der Wählerstimmen be- Die Vertreibung der armenischen Volksgruppe wäh- (B) kommen hat . Dennoch gibt es manche Bedenken, die wir (D) rend des Ersten Weltkrieges wurde „in der Absicht began- offen genug formuliert haben . gen . ,. eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ . Das Ich will eine Sorge, die im Hinblick auf die Außenpo- ist ein Zitat aus der Völkermordkonvention, die – das ist litik nicht ganz uninteressant ist, hinzufügen: Präsident richtig; dies wird uns oft vorgehalten – eben nicht gilt, Erdogan und seine AKP repräsentieren den politischen weil sie erst 35 Jahre später in Kraft getreten ist und erst Islam . Der politische Islam wird in der Türkei teilweise 1954 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert worden als Vorbild gesehen . Deswegen appelliere ich sehr deut- ist . Aber sie hat Relevanz, weil der maßgebliche Autor lich an die AKP: Wenn sie irgendwann einmal nicht mehr Raphael Lemkin gerade vor dem Hintergrund der Verfol- die Mehrheit in der Türkei hat, muss sie andere politi- gung der Armenier zu der Schlussfolgerung gekommen sche Kräfte an die Regierung lassen. Ich finde, das ist der ist: Internationale Institutionen wie die Vereinten Nati- Auftrag, der von dieser Seite zumindest angesprochen onen müssen gegen Völkermord aufstehen . Deswegen, werden muss . glaube ich, ist es legitim, auf diese Relevanz hinzuwei- sen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Dennoch, glaube ich, sind Veränderungen möglich . NISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie kommen natürlich insbesondere aus der türkischen Gesellschaft. Wir können von außen wenig beeinflussen, Ein weiterer Punkt. Die Konvention definiert Völ- aber ich bin zuversichtlich; denn das, was ich vonseiten kermord unabhängig davon, ob es „im Frieden oder im der Zivilgesellschaft, in den Medien und in vielen Ge- Krieg begangen“ wurde . Auch das greift eine Diskussion sprächen erlebe, zeigt eine viel größere Differenzierung . auf, die uns oft begegnet, wenn wir über den Völkermord Als Sozialdemokrat sage ich: Natürlich irritiert es mich, sprechen und gesagt wird: Das ist im Krieg passiert .– wenn auch die Partei, zu der wir in der Vergangenheit Ich sage sehr eindeutig: Krieg relativiert nichts, wenn enge Kontakte gehalten haben, im Parlament der Aufhe- die Menschenrechte verletzt werden . Das hat auch einen bung der Immunität zustimmt . aktuellen Bezug . Wie sollten wir in Zukunft gegen die- ( [CDU/CSU]: Ja, das stimmt!) jenigen vorgehen, die schwerste Menschenrechtsverlet- zungen zum Beispiel in Syrien begehen, wenn der Krieg Auch deswegen müssen wir das eine oder andere hier relativieren würde? durchaus ehrlich benennen . (Beifall im ganzen Hause) (Beifall im ganzen Hause) 17030 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Rolf Mützenich (A) Wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, dann müs- Glauben Sie mir: Sie müssen sich einen Ruck geben . (C) sen wir sie nutzen . Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar, Es ist ganz einfach, sich therapieren zu lassen: Sie müs- dass sie bei ihrem letzten Besuch endlich mit Vertretern sen ein paar demokratische Grundsätze akzeptieren . der Zivilgesellschaft zusammengetroffen ist . Aber ich hätte mir viel mehr gewünscht, dass sie – genauso wie (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagen ausge- bereits der deutsche Außenminister – frühzeitig auch mit rechnet Sie!) der Opposition und insbesondere mit Mitgliedern der Sie müssen akzeptieren, dass ein Parlament Ausdruck HDP-Fraktion zusammengetroffen wäre . Das wäre mög- unterschiedlicher Interessen ist . Sie müssen Toleranz lich gewesen . entwickeln, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr . Moral Gysi!) und Sie sollten nicht vergessen, dass im September die- Ich glaube, sie sollte sich überlegen, ob sie das nicht ses Jahres in Berlin Wahlen sind . Vielleicht – ich weiß es nachholen kann . ja nicht – kommt meine Partei an die Regierung; Ich finde, umso mehr müssen wir auf die Regeln der (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU Zusammenarbeit achten . Es ist unsere Aufgabe – das ist und der SPD) genauso wichtig –, uns frühzeitig gegen autoritäre An- sprüche in der Europäischen Union zu wehren . Nur das dann brauchen Sie uns . Das ist mit krankhaften Leuten ist nach meinem Dafürhalten das richtige Signal an die immer schwer hinzubekommen . Türkei . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, wir wissen aus Erfahrung, Nun zum Inhalt . Nach Frankreich, der Schweiz, Zy- wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der ei- pern, der Slowakei, Litauen, den Niederlanden, Schwe- genen Geschichte sein kann . Dennoch sollten auch die den, Italien, Belgien, Russland, dem Vatikan, Kanada, politisch Verantwortlichen in Ankara und Eriwan wissen: Chile, Argentinien, Venezuela und Uruguay gedenkt nun Ein solches gemeinsames Vorhaben ist kein Zeichen von auch der Bundestag der Opfer der Deportationen und Schwäche . Im Gegenteil: Nur so können neues Vertrauen Massaker im Osmanischen Reich, der fast vollständigen und menschliche Stärke wachsen . Die Türkei hat Juden Vernichtung der armenischen Bevölkerung in Anatolien vor dem von Deutschland entfachten Holocaust gerettet . vor genau 100 Jahren . Endlich müssen auch wir es als Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit Dankbarkeit an das benennen, was es war: ein Völkermord an 1,5 Millio- (B) die Aufnahme politisch Verfolgter; ich denke etwa an nen Armenierinnen und Armeniern . Auch aramäisch-as- (D) Ernst Reuter . Heute wünschen wir uns eine Türkei, die in syrische und chaldäische Christinnen und Christen sowie vergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Ka- Pontosgriechinnen und -griechen wurden gejagt und um- pitel ihrer Geschichte gerecht wird . gebracht .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit . Es gibt eine historische Mitverantwortung Deutsch- lands; darauf hat der Bundestagspräsident zu Recht hin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gewiesen . Das Deutsche Reich als Verbündeter des Os- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- manischen Reiches im Ersten Weltkrieg leistete Beihilfe NISSES 90/DIE GRÜNEN) zum Völkermord . Wir müssen deshalb sehr aktiv an der Aufklärung der Hintergründe und der Beteiligung mit- wirken . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulli Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Nissen [SPD]) Die Linke . Allerdings müssen wir, das heißt der Bundestag, uns (Beifall bei der LINKEN) auch noch klar und unmissverständlich zu den Ermor- dungen und Grausamkeiten gegenüber den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 in der damaligen Kolonie Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Deutsch-Südwestafrika erklären . Das steht noch aus . Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Herr Kollege Kauder, ich hatte so sehr gehofft, dass Sie neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Krankheit überwinden, wenn ich als Fraktionsvor- sitzender aufhöre; aber Sie leiden immer noch schwer Wir wissen aus eigener Geschichte über die Schwie- darunter . Ich muss es der Bevölkerung erklären: Es gibt rigkeiten, sich den Verbrechen aus der eigenen Bevölke- eine pathologische, also krankheitsbedingte Ausschließe- rung zu stellen . Im Westen – nicht im Osten – dauerte es ritis . Diese Krankheit führt dazu, dass sie mit den Linken bis 1968, also 23 Jahre, bis sich die jüngere Generation zusammen keinen Antrag einbringen . gegen das Verschweigen der Naziverbrechen auflehn- te . Es dauerte sogar 40 Jahre, bis sich Bundespräsident ( [CDU/CSU]: Sehr an- Richard von Weizsäcker 1985 endlich klar zu den Ver- ständig ist das! – Weitere Zurufe von der brechen der Nazidiktatur bekannte, für das gesamte deut- CDU/CSU: Oh! – Furchtbar schade!) sche Volk die historische Verantwortung dafür übernahm Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17031

Dr. Gregor Gysi (A) und das Ende des Krieges als Tag der Befreiung auch für sungsänderung Verfolgung droht; überwiegend sind es (C) das deutsche Volk deklarierte . die Mitglieder der kurdischen Demokratischen Partei der Völker, der HDP . Wir erleben darüber hinaus eine Ver- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- folgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei . Wir neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erleben die Bombardierung der Kurdinnen und Kurden Heute ist das kein Problem mehr, von der Union bis zur durch die Türkei in Syrien . Das sind aber jene Menschen, Linken . Wir können gemeinsam die Naziverbrechen ver- die den aktivsten Kampf gegen die schlimmste Terroror- urteilen . Das geschieht ja auch . ganisation, den „Islamischen Staat“, am Boden führen . Die Türkei hat alle Grenzübergänge zu Syrien dort ge- Ich weiß, dass Flüchtlinge damals auch über die Tür- schlossen, wo die Kurdinnen und Kurden herrschen, lässt kei gerettet wurden . Dafür gebührt der Türkei nach wie aber im Interesse des Nachschubs alle Übergänge offen, vor unser Dank . wo der „Islamische Staat“ herrscht . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge- Es demütigt uns alle, dass die Bundeskanzlerin zu all ordneten der CDU/CSU, der SPD und des diesen Menschenrechtsverletzungen mehr schweigt als BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spricht und sich bei Präsident Erdogan eher anbiedert . So Ich möchte aber hinzufügen, dass die Verbrechen der bewältigt sie die Flüchtlingsfrage nie . Nazidiktatur einzigartig sind und nicht mit anderen ge- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder schichtlichen Vorgängen verglichen werden sollten, auch [CDU/CSU]: Jetzt wissen Sie, wieso Sie mit nicht mit den Verbrechen des Osmanischen Reiches . uns keinen Antrag stellen können!) Gerade deshalb frage ich mich, warum es der türkischen Regierung 100 Jahre nach dem Völkermord an den Ar- Heute fehlt sie, ebenso Vizekanzler Gabriel . Der Außenmi- menierinnen und Armeniern immer noch nicht möglich nister fehlt ebenfalls . Das ist auch nicht besonders mutig . erscheint, dies ehrlich einzuräumen und aufzuarbeiten, Wir müssen aber auch der Menschen im Osmanischen (Beifall der Abg . [SPD]) Reich gedenken, die Widerstand leisteten und sich gegen den Völkermord stellten . Darunter waren auch ranghohe­ und stattdessen Regierungen und Ländern, die das Ver- osmanische Staatsbeamte und Gouverneure . Ich nen- brechen des Völkermordes benennen, droht . ne Faik Ali Bey, Mechmet Celal Bey, Mustafa Aga Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn unsere Abgeord- ­Azizoglu und Hüseyin Nesimi Bey . Sie alle stehen für nete Sevim Dağdelen – ich nehme an, Cem Özdemir, den Widerstand . Sie haben sich den Deportationsbefeh- dem Kollegen der Grünen, geht es genauso – in den so- len widersetzt und mussten das zum Teil mit ihrem Leben (B) zialen Netzwerken und im Internet mit Hassmeldungen bezahlen .– Ich kann heute nicht über das Verhältnis von (D) bedroht wird und Morddrohungen erhält . Der Bundestag Armenien und Aserbaidschan sprechen, bei dem wir die muss diese Angriffe auf unsere Abgeordneten entschie- Rolle Armeniens kritisch sehen . Das ist nicht das Thema; den zurückweisen . Ich danke dem Bundestagspräsiden- das machen wir ein anderes Mal . ten dafür, dass er das schon getan hat . Liebe Türkinnen und Türken, liebe deutsche Staatsan- (Beifall im ganzen Hause) gehörige türkischer Herkunft, bitte glauben Sie mir: Nur wenn man die historische Verantwortung für begangene Wenn der Bundestag dies zurückweist und sich von den Verbrechen übernimmt, Drohungen durch Präsident Erdogan nicht einschüchtern lässt, dann beweist er Souveränität und setzt ein spätes, (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagt der Rich- aber wichtiges Signal . tige!) Auch aktuell ist dieses Signal wichtig . Die Problema- wird der Weg der Aussöhnung mit den Armenierinnen tik der hohen Zahl an Flüchtlingen über ein finanziell und und Armeniern und anderen frei . Ich kenne viele, die wirtschaftlich schwaches Griechenland und die Türkei diesen Weg gehen . Aber es müssen noch mehr werden, lösen zu wollen, scheint mehr als absurd . Natürlich muss bis hin zur türkischen Regierung, zum türkischen Präsi- man helfen, auch und gerade der Türkei . Man muss dann denten und irgendwann vor allem auch zum türkischen aber auch dafür sorgen, dass das Geld wirklich bei den Parlament . Flüchtlingen ankommt . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- In der Türkei werden Menschenrechtsverletzungen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) begangen . Eine Regierung ist nur dann souverän und auf- richtig, wenn sie diese klar benennt und verurteilt – nicht Präsident Dr. Norbert Lammert: nur, wenn es ihr politisch passt, sondern immer – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Franz Josef Jung . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) und wenn sie sich von keiner anderen Regierung nötigen oder gar erpressen lässt . Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): Was erleben wir jetzt in der Türkei? Wir erleben das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Verbot der größten Oppositionszeitung . Wir erleben, dass ne sehr verehrten Damen und Herren! Wir beenden heute 138 Abgeordneten der Opposition nach einer Verfas- eine Debatte, die wir am 100 .Jahrestag der Vertreibung 17032 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Franz Josef Jung (A) und des Massakers an den Armeniern sowie den assyri- beschreiten, um Fortschritte für die Zukunft und damit (C) schen, aramäischen und chaldäischen Christen und eben- für die Aussöhnung zu erreichen . so den Pontosgriechen und anderen christlichen Minder- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- heiten begonnen haben . Ich bin froh darüber, dass es uns ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ gelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag mit der Über- DIE GRÜNEN) schrift „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in Meine Damen und Herren, der Versöhnungsprozess den Jahren 1915 und 1916“ zu entwickeln . Ich will auch ist gestoppt worden . Wir wollen einen neuen Impuls zur daran erinnern, dass in der Debatte am 24 .April letzten Versöhnung setzen . Wir fordern deshalb in unserem An- Jahres bereits der Bundestagspräsident sehr deutlich von trag die Bundesregierung auf, Projekte, die sich der Auf- „Völkermord“ gesprochen hat und ebenso unsere Redner arbeitung der Geschichte und der Annäherung der Men- und einen Tag zuvor unser Staatsoberhaupt, der Bundes- schen in beiden Ländern widmen, zu fördern: Stipendien präsident, diese Formulierung gewählt haben . für Wissenschaftler und die Unterstützung zivilgesell- schaftlicher Kräfte, die sich für Versöhnung einsetzen . Meine Damen und Herren, der historische Anlass ge- bietet das gemeinsame Gedenken . Es ist auch Ausdruck Es hat übrigens 2014 von dem damaligen Minister- des tiefen Respekts und des Mitgefühls gegenüber den präsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan eine Opfern und gegenüber den Armeniern als eine der äl- Beileidskundgebung gegenüber den Armeniern zu ihrem testen christlichen Nationen . Bis zu 1,5 Millionen Men- Gedenktag gegeben . 2009 – darauf wurde schon hinge- schen haben bei diesem Massaker ihr Leben verloren . Es wiesen – ist in den Zürcher Protokollen zwischen der war die fast vollständige Vernichtung der Armenier im türkischen und armenischen Regierung vereinbart wor- Osmanischen Reich . den, dass eine Kommission zur wissenschaftlichen Auf- arbeitung und Untersuchung der geschichtlichen Ereig- Wir bezeichnen das Massaker in Übereinstimmung nisse eingesetzt wird . Vereinbart wurde, diplomatische mit der Definition der Vereinten Nationen nicht nur als Beziehungen aufzunehmen und die Grenze zu öffnen . das, was es war, nämlich Völkermord, sondern machen Aber diese Vereinbarungen sind nicht ratifiziert worden. auch die Mitverantwortlichkeit des Deutschen Reiches Meine Damen und Herren, es ist unsere Auffassung, dass deutlich, des damaligen militärischen Hauptverbündeten die Ratifizierung dieser Protokolle für beide Seiten ein des Osmanischen Reiches, das trotz entsprechender In- Gewinn wäre, und wir wollen einen Impuls setzen, dass formationen nicht versucht hat, dieses Verbrechen gegen dies in Zukunft möglich wird . die Menschlichkeit zu stoppen . (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (D) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . geordneten der LINKEN) [DIE LINKE]) Wir wollen mit unserem gemeinsamen Antrag deut- Wir Deutsche wissen sehr genau, wie schwierig die lich machen, dass wir die Aufarbeitung der Vergangen- Aussöhnung mit den Nachbarn bzw . den Völkern ist, de- heit und die Aussöhnung und Annäherung zwischen der nen man unzähliges Leid zugefügt hat . Wir verkennen heutigen Türkei und Armenien unterstützen . In Erinne- hierbei nicht die Einzigartigkeit des Holocaust; dieser rung an das Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dies nimmt in der Geschichte eine schreckliche Sonderstel- nicht wiederholt . Wir sind gemeinsam aufgefordert, alles lung ein . Aber ich will insbesondere auch gegenüber der zu tun, damit Menschen und Völker nicht Opfer von Hass türkischen Regierung und der Bevölkerung zum Aus- und Vernichtung in der Gegenwart und in der Zukunft druck bringen: Man muss zwischen der Schuld der dama- werden . Deshalb bitte ich Sie herzlich um Unterstützung ligen jungtürkischen Regierung und der Verantwortung unseres gemeinsamen Antrags . für die Gegenwart und die Zukunft deutlich unterschei- Ich danke Ihnen . den . Uns geht es nicht darum, die Türkei an den Pranger zu stellen oder auf die Anklagebank zu setzen . Uns geht (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem es darum, deutlich zu machen, dass zur Aussöhnung die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Verantwortung für die gemeinsame Vergangenheit unab- geordneten der LINKEN) dingbar ist . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall im ganzen Hause) Das Wort erhält nun der Kollege Cem Özdemir für die Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann Versöh- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . nung und somit die Zukunft gestalten . Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Uns verbindet mit der heutigen Türkei sehr viel . Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist für uns ein wichtiger Partner . Wir sind gemeinsam in Exzellenzen und Eminenzen! Viele Vertreterinnen und der NATO, in der OSZE und im Europarat . Zwischen un- Vertreter der Aramäer, der Assyrer, der Armenier, der seren Ländern bestehen gute wirtschaftliche, kulturelle Chaldäer, der Pontosgriechen und übrigens auch der tür- und zivilgesellschaftliche Beziehungen . 3 Millionen Mit- kischen Zivilgesellschaft sitzen heute auf der Besucher- bürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft sind ein tribüne . Seien Sie uns alle herzlich willkommen! Teil unseres Landes . Gerade deshalb ist es uns besonders wichtig, den Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit zu (Beifall) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17033

Cem Özdemir (A) Der Zeitpunkt, um über etwas so unvorstellbar Grau- Auch dieser Völkermord wartet darauf, aufgearbeitet zu (C) sames wie einen Völkermord zu sprechen, ist nie günstig . werden . Nach einem langen und mühsamen Hin und Her stim- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, men wir heute über einen Antrag ab, der von Völker- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- mord spricht, klar die deutsche Mitschuld benennt und geordneten der CDU/CSU) feststellt, dass daraus geradezu eine Verpflichtung für Deutschland erwächst, sich dafür einzusetzen, dass das Als der Statthalter von Kütahya 1915 den Befehl zur Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien normali- Verschleppung der armenischen Bevölkerung in seinem siert wird und es zu einer Wiederannäherung kommt . Bezirk empfing, gab er öffentlich bekannt, dass er die- sem Befehl nicht Folge leisten werde . Der Gouverneur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Konya, die Anhänger des Mevlevi-Derwisch-Ordens sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und in Konya haben genau dasselbe gemacht . Sie haben auf der SPD) ihr Herz gehört . Ihr menschlicher Kompass hat nicht ver- Ich will zunächst die Gelegenheit nutzen, der Großen sagt . Bei vielen war es der muslimische Glaube oder ihr Koalition dafür zu danken, dass sie mit dem gemeinsa- Menschenbild, das es nicht zuließ, dass sie diesem nie- men Antrag Wort gehalten hat . Ich will aber auch einen derträchtigen Befehl aus Istanbul Folge leisteten . Vor ih- Dank an die Kirchen für ihre Unterstützung in der Sache nen und all den mutigen Helden, die es auch in der Türkei und an unseren Bundespräsidenten und an unseren Bun- gab, die den Befehl nicht umgesetzt haben, verneigen wir destagspräsidenten für ihre klaren Worte richten . Ohne uns in Hochachtung . sie hätte es diesen gemeinsamen Antrag heute so nicht (Beifall im ganzen Hause) gegeben . Auf diese türkischen Schindlers, und nicht auf die Mör- Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es der Talat Pascha und Enver Pascha, haben die Menschen geht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dass in der Türkei, aber auch die Menschen aus der Türkei, die wir moralische Hoheit für uns beanspruchen . Denn wir in der Bundesrepublik Deutschland leben, allen Grund, bringen diesen Antrag ja gerade nicht ein, weil wir uns stolz zu sein . moralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angele- genheiten einmischen wollen, sondern weil es hier eben Indem wir den Völkermord anerkennen, die deutsche auch um ein Stück deutscher Geschichte geht . Ich darf Mitverantwortung daran bekennen und die Aufarbeitung zitieren . Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte: vorantreiben, möchten wir aber auch den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland mit türkischem Hintergrund Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des die Möglichkeit geben, Antworten auf die Fragen zu fin- (B) Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob den, auf die sie in den türkischen Geschichtsbüchern kei- (D) darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht . ne Antwort finden. Ich weiß, wovon ich spreche. Wie un- Das Ergebnis berichtete Graf von Lüttichau, Gesandt- ser Bundespräsident letztes Jahr in seiner Rede deutlich schaftsprediger der Deutschen Botschaft in Konstantino- gemacht hat: Die heute Lebenden tragen keine Schuld – pel, dann 1918 nach Berlin: das gilt im Übrigen für uns auch im Zusammenhang mit der Schoah –, aber eine Verantwortung . Diese Verant- In den östlichen Provinzen, also mit Ausschluss von wortung tragen wir Deutsche genauso wie die Menschen Konstantinopel und Smyrna und anderen Plätzen in in der Türkei . der westlichen Türkei, sind von der Gesamtbevöl- kerung 80–90 %, von der männlichen Bevölkerung (Beifall im ganzen Hause) 98 % nicht mehr am Leben . . . Wir wollen niemanden stigmatisieren . Im Gegenteil: Was die Geistlichen anlangt, so sind sie fast völlig Wir wollen die ermutigen, die Fragen stellen . Ich will ausgerottet . die Gelegenheit nutzen, auch an das Leid der aus dem Balkan vertriebenen Muslime zu erinnern . Ich will an Genau deswegen haben wir geradezu eine historische das Leid der Tscherkessen erinnern – darunter die Vor- Verpflichtung, Armenier und Türken aus Freundschaft fahren meines Vaters –, von denen manche Experten sa- zur Versöhnung zu ermuntern . gen, dass das, was ihnen widerfuhr, auch als Völkermord (Beifall im ganzen Hause) beschrieben werden kann . Auch ihre Geschichten warten darauf, erzählt zu werden, damit künftige Generationen Mit Blick auf die in Deutschland lebenden Armenier sage ein Bild der türkischen Geschichte vermittelt bekommen, ich: Das gilt ausdrücklich auch für die in Deutschland das eben nicht schwarz und weiß ist, sondern bunt und lebenden Armenier . komplex . Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in der Ver- Wenn wir heute in die Region schauen, dann sehen gangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens wir, dass wieder Christen verfolgt werden – im Irak, in geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Kom- Syrien und auch in der Türkei . Die Orte, in denen die- plizen der Leugner werden . Die Aufarbeitung der Schoah jenigen Armenier angekommen sind, die die Trecks der ist die Grundlage unseres demokratischen Deutschlands . Vertreibung überlebt haben, liegen mitten im syrischen Deshalb ist es Zeit, dass wir nun auch andere Verbre- Kriegsgebiet, beispielsweise Aleppo und Deir al-Sor . chen von früheren Vorläuferstaaten der Bundesrepublik Nachdem wir uns alle hier im Haus jahrelang über die Deutschland aufarbeiten . Darum will auch ich ausdrück- Sanierung von Kirchen in der Türkei freuen durften, wer- lich den Völkermord an den Herero und Nama erwähnen . den nun wieder Kirchen verstaatlicht und geschlossen . 17034 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Cem Özdemir (A) Priester dürfen faktisch ihre Ausbildung in der Türkei len Dingen auf diesen Begriff konzentrierten, möchte ich (C) nicht mehr machen . Was vielleicht am bittersten ist: „Du Verschiedenes klarstellen . Armenier“ ist schon immer ein Schimpfwort in der Tür- kei gewesen . Aber es ist heute mehr denn je ein Schimpf- Erstens . Wir verwenden diesen Begriff nicht im Sinne wort . Auch ich werde als „Du Armenier“ bezeichnet . Ich einer juristischen Anklageerhebung; das wurde bereits empfinde es nicht als Beleidigung, als Armenier bezeich- gesagt . Es ist auch mir wichtig, das zu betonen . net zu werden . Zweitens . Wir fühlen uns genötigt, von Völkermord zu sprechen, um die Dimension der Tragödie angemes- Als jemand, der aus einer sunnitisch-muslimischen sen zu beschreiben, die sich vor 101 Jahren im Osmani- Familie stammt, bin ich in großer Sorge, wenn ich an das schen Reich ereignet hat . Um den Opfern das besondere Ostchristentum denke . Christliche Gemeinschaften sind Gedenken zu widmen, das ihnen als Opfer einer syste- ausgerechnet an der Geburtsstätte des Christentums von matischen und massenhaften Verfolgung und Tötung zu- der Ausrottung bedroht . kommt, und auch um unsere Mitverantwortung als Deut- „Wenn die Armenier heute noch leben würden, wäre sche nicht zu bagatellisieren, ist es wichtig, den Begriff Van das Paris des Ostens .“ Der dies gesagt hat, war mein „Völkermord“ unzweideutig zu verwenden . ermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink, ein Meine Damen und Herren, wir verwenden den Be- Journalist, der sich wie kein anderer für die Versöhnung griff „Völkermord“ aber auch, weil wir ihn für unver- von Türken und Armeniern in der Türkei eingesetzt und zichtbar halten und weil nur dieser Begriff die exemp- dafür mit seinem Leben bezahlt hat . larische Bedeutung der Ereignisse vor über 100 Jahren Ich bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür, verdeutlichen kann . Mir ist ein Satz in unserem Antrag dass er angesprochen hat, dass Bundestagsabgeordnete wichtig – den möchte ich kurz zitieren –, der besagt, dass für ihre Meinung nicht bedroht werden dürfen . Aber ich die Vernichtung von über 1 Million ethnischer Armenier tue mich ein bisschen schwer damit, liebe Kolleginnen „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtun- und Kollegen, hier darüber zu reden, weil ich weiß, dass gen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja ich, wenn ich nachher den Bundestag verlasse, nicht ver- der Völkermorde, von denen das 20 .Jahrhundert auf ab- haftet werde, dass meine Immunität, wenn ich heute nach solut schreckliche Weise gezeichnet ist“, steht . Hause gehe, vermutlich nicht aufgehoben wird, dass ich Das kennzeichnet die exemplarische Bedeutung . Herr nicht zusammengeschlagen oder umgebracht werde . Das Mützenich hat darauf hingewiesen, dass für Raphael gilt nicht für alle unsere Kollegen in der Türkei . Das gilt Lemkin der Völkermord an den Armeniern gewisser- nicht für diejenigen, die sich in der Türkei für die Aufar- maßen das erste Lehrstück für die Formulierung der beitung dieser Verbrechen einsetzen . Deshalb gilt unsere (B) UN-Konvention gegen Völkermord wurde, die heute (D) Solidarität diesen Menschen . Sie haben wirklich etwas Grundbestandteil des modernen Völkerrechts ist . zu befürchten . Sie zahlen einen hohen Preis . Aber wenn ich von der exemplarischen Bedeutung der Herzlichen Dank . Ereignisse von damals spreche, dann möchte ich auch an (Beifall im ganzen Hause) die Gedenkrede unseres Bundespräsidenten am 23 .April 2015 erinnern, in der er herausgearbeitet hat, dass das Streben der Jungtürken, die jungtürkische Ideologie, die Präsident Dr. Norbert Lammert: einen ethnisch homogenen, religiös einheitlichen Natio- Das Wort hat der Kollege Christoph Bergner für die nalstaat suchte, das eigentliche Motiv für die Massaker CDU/CSU-Fraktion . an den Armeniern und anderen christlichen Gruppen war . Ich darf auch den Bundespräsidenten kurz zitieren: (Beifall bei der CDU/CSU) Trennung nach Volksgruppen, ethnische Säube- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): rungen und Vertreibungen bildeten Anfang des 20 .Jahrhunderts oftmals die düstere Seite der Ent- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stehung von Nationalstaaten . Hochverehrte Gäste! Als wir am 24 .April vergange- nen Jahres hier anlässlich des 100 . Jahrestages der Ver- Es gehört auch aus meiner Sicht zu den bedrücken- nichtung der osmanischen Armenier zusammenkamen, den Erfahrungen der Moderne, dass die Entwicklung zur standen Erinnern und Gedenken im Vordergrund unse- Volkssouveränität oft mit der Herausbildung ethnischer rer Debatte . Aber es ist in dieser Sitzung etwas deutlich Reinheitsideologien verbunden ist . Der britische Sozio- geworden, was zumindest in den Koalitionsfraktionen loge Michael Mann spricht von der „Dunklen Seite der zuvor als umstritten galt, nämlich der Umstand, dass Demokratie“ und davon, dass mit der Volkssouveränität wir nur dann angemessen der Ereignisse von damals ge- Minderheiten in der Sorge leben müssen, dass sie majo- denken können, wenn wir den Begriff „Völkermord“ zu risiert werden und ihre Identität unterdrückt wird . Auch ihrer Kennzeichnung gebrauchen . Deshalb kann ich es dies macht die exemplarische Bedeutung des Völker- nur begrüßen, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag mords an den Armeniern aus und bezieht sich nicht nur einbringen, der aus wohlerwogenen Gründen den Begriff auf die Genozide des vergangenen, des 20 .Jahrhunderts; „Völkermord“ bereits in der Überschrift verwendet . Ich ich denke in diesem Zusammenhang auch an die bitteren weiß: Es wäre sachlich fragwürdig, das Anliegen dieses Erfahrungen beim Scheitern des Arabischen Frühlings, Antrags auf diesen Begriff zu reduzieren . Aber da sich als mit aufblühender Demokratisierung ethnische, religi- die Vorwürfe und die Kritik der letzten Wochen vor al- öse und konfessionelle Konflikte aufgebrochen sind, als Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17035

Dr. Christoph Bergner (A) Staatengebilde in Bürgerkriegen versanken und versin- sagt – einen Begriff für ein so unbegreifliches Verbrechen (C) ken, wie wir es heute noch in Syrien erleben . gefunden: Völkermord . Angesichts bestimmter Debatten, die jetzt gerade au- Präsident Dr. Norbert Lammert: ßerhalb dieses Hohen Hauses stattfinden, möchte ich an Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit . dieser Stelle noch einmal klarstellen: Wir sitzen hier nicht zu Gericht . Niemand sitzt auf der Anklagebank – weder Mitglieder der Bundesregierung, die heute nicht auf der (CDU/CSU): Dr. Christoph Bergner Regierungsbank sitzen, und schon gar nicht das türkische Deshalb sollte – damit schließe ich, Herr Präsident – Volk, dem wir, glaube ich, alle in großer Freundschaft der Völkermord an den Armeniern für uns nicht nur ein verbunden sind . Anlass zum fortwährenden Gedenken an die Opfer sein, sondern er gibt auch Stoff, über die Entwicklung moder- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ner Staaten und Nationen und über die Bedingungen der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Entstehung souveräner Völker nachzudenken . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) Herzlichen Dank . Ich finde, dass nur derjenige, der unredliche Absich- ten im Sinn hat, den Text unseres gemeinsamen Antrages (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem in eine Anklageschrift uminterpretieren kann . Denn die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Überschrift und auch der erste Satz dieses Textes zeigen: Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) Dies ist keine Anklageschrift, sondern das ist eine Ver- neigung vor den Opfern . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dietmar Nietan BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . für die SPD-Fraktion . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD) Nein, es wird heute keine Anklageschrift und auch kei- nen donnernden Urteilsspruch geben . Dietmar Nietan (SPD): Nun könnte man sich ja fragen: Warum das Ganze? Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Die Antwort ist vielleicht so banal wie wegweisend . Kollegen! Vor über 101 Jahren nahm eines der großen Heute wollen wir als Parlament, als die demokratisch Menschheitsverbrechen des 20 . Jahrhunderts seinen gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Souveräns – (B) Lauf . Die Regierung des Landes, welches damals seinem wir, die die Nachfahren derer sind, die damals wegge- (D) Verbündeten hätte in den Arm fallen können, ja hätte in schaut haben –, uns vor den Opfern verneigen . Wir wol- den Arm fallen müssen, ließ die Barbarei in zynischer len das in aller Demut und ohne Selbstgerechtigkeit tun . Menschenverachtung einfach geschehen . Das Land, von Wir wollen den Opfern dieses Menschheitsverbrechens dem ich hier spreche, heißt Deutschland . unseren aufrichtigen Respekt zollen . Wenn es darum geht, aufrichtig zu sein, muss man auch sagen, was war . Im damaligen Osmanischen Großreich mussten in Und dann gilt: Ein Völkermord bleibt ein Völkermord den Jahren 1915 und 1916 Hunderttausende unschuldige bleibt ein Völkermord . Männer – insbesondere aber auch Frauen und Kinder – erleben, dass sie nachts aus ihren Häusern gerissen und, (Beifall im ganzen Hause) ohne genügend Essen und Wasser zu haben, auf Todes- Auf diese Klarheit haben die Opfer und ihre Nachfah- märsche in die Wüste geschickt wurden, um sie jämmer- ren schon viel zu lange gewartet . Deshalb kann ich die lich – man muss es so hart sagen – verrecken zu lassen . Debatten um den Zeitpunkt der heutigen Behandlung Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, des Themas, die wir in der Öffentlichkeit erleben, nicht wurden sie auf diesem Weg Räuberbanden anheimge- verstehen . Ich glaube, wir müssen nicht kritisieren, dass geben, die massenhaft Frauen vergewaltigten und ihnen wir das heute hier machen, sondern wir müssten uns eher noch das Letzte nahmen, was sie vielleicht auf der Flucht fragen, ob man nicht kritisieren muss, dass wir es erst hatten mitnehmen können . heute, nach 101 Jahren machen . Aghet, die große Katastrophe, ist – das ist hier schon (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem betont worden – eben kein Kollateralschaden der Kriegs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- wirren der damaligen Zeit . Die systematische Vertrei- geordneten der CDU/CSU) bung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie auch der Aramäer, Assyrer, Pontosgriechen und chaldä- Wenn ich sage, dass es gilt, den Respekt vor den Op- ischen Christen war von staatlichen Stellen auf Befehl fern in den Vordergrund zu stellen, dann sollten wir auch des damaligen jungtürkischen Regimes systematisch nicht vergessen, dass sich die Opfer nicht mehr wehren geplant, und sie wurde auch systematisch durchgeführt . können . Sie können nicht mehr mitdiskutieren . Sie konn- Dieses Verbrechen hatte ein klares Ziel . Es hatte das Ziel, ten sich auch damals nicht wehren . Auch ihre Nachfah- diese Volksgruppen im damaligen Osmanischen Reich zu ren konnten das nicht, wenn sie von denen, die ihnen das eliminieren . Sicherlich auch dank der Bemühungen von Leid angetan hatten, im Nachhinein noch verunglimpft Raphael Lemkin haben wir mittlerweile in der internati- und verleugnet wurden, wenn die Verbrechen relativiert onalen Staatengemeinschaft – auch das wurde hier ge- wurden . 17036 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dietmar Nietan (A) Sie können sich aber auch nicht wehren, wenn heuti- Wer sich dazu herbeilässt, Erinnerungen an die Op- (C) ge Politikerinnen und Politiker, egal auf welcher Seite, fer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal . glauben, den Völkermord an den Armeniern zur Keule in Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Appell tagespolitischen Auseinandersetzungen machen zu müs- von Elie Wiesel von immer mehr Menschen, auch von sen . Wenn man das tut, wird man dem Respekt vor den immer mehr jungen Menschen in der Türkei, gehört Opfern auch nicht gerecht . wird . Sie hören auf ihr Herz . Sie haben ein Herz für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Opfer . Sie werden sich in Zukunft nicht mehr von staatli- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der chen Stellen ein Geschichtsbild vorschreiben lassen . Das CDU/CSU und der LINKEN) gibt mir die Hoffnung, dass es Versöhnung geben wird . In diesem Sinne danke ich Ihnen allen für Ihre Aufmerk- Ich bin auch der festen Überzeugung – ich konnte Ent- samkeit . sprechendes in einer Zeitung lesen –, dass das deutsche Parlament heute hier nicht Rechthaberei betreibt, son- (Beifall im ganzen Hause) dern ich sehe die heutige Debatte auch als eine Selbst- behauptung des Parlaments, das – unabhängig davon, Präsident Dr. Norbert Lammert: wie bestimmte Dinge, die wir heute beschließen, von der Der Kollege Hans-Peter Uhl spricht nun für die CDU/ Regierung gesehen werden – das Heft des Handelns in CSU-Fraktion . die Hand genommen hat und sich selbst eine Meinung gebildet hat und sie zum Ausdruck bringt. Ich finde, das (Beifall bei der CDU/CSU) ist keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer Demo- kratie . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (Beifall im ganzen Hause) Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! „In jeder Geschichte“, sagt Goethe, „selbst Erlauben Sie mir zum Abschluss, darauf hinzuwei- einer diplomatisch vorgetragenen, sieht man immer die sen – Staatsminister Michael Roth hat das vor ein paar Nation, die Partei durchscheinen, wozu der Schreibende Tagen in der Presse geäußert –: Wir sollten unseren Be- gehörte “. Wenn also ein Deutscher über den – ich zitiere schluss nicht überhöhen; denn – da hat der Staatsminister eine 100 Jahre alte Formulierung des deutschen Pfarrers recht – Versöhnung kann man nicht beschließen . Johannes Lepsius – „Todesgang des armenischen Vol- kes“ spricht, wird die persönliche Betroffenheit zu spü- Deshalb möchte ich zum Schluss meiner Ausführun- ren sein . gen einen Appell an alle jungen Menschen, ob sie tür- kischer, armenischer, deutscher oder welcher Herkunft Wie sehr ein Völkermord, geschehen im Namen des (B) (D) auch immer sind, richten: Bitte glauben Sie nicht alles, eigenen Volkes, der eigenen Nation diese Nation belastet, was man Ihnen sagt, was in Ihren Schulbüchern steht, wissen gerade wir nur zu gut . Der Verleger der Allge- möglicherweise auch das nicht, was wir Ihnen hier heu- meinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Karl te im Bundestag sagen . Ich bitte Sie darum: Machen Sie Marx, beschrieb im November 1952, wie er alleine mit sich selber ein Bild . Schauen Sie sich die Dokumente an, dem damaligen ersten Bundespräsidenten der Bundesre- die im Auswärtigen Amt einsehbar sind, die zu einem publik Deutschland, Theodor Heuss, nach dessen Rede großen Teil ja auf Deutsch sind, weil sie von deutschen zur Weihe des Gedächtnismales in Bergen-Belsen zu ei- Diplomaten stammen . Bilden Sie sich selber ein Urteil . nem Gedenkstein ging, der von den überlebenden Juden Lassen Sie Ihr Herz sprechen, wenn Sie sich diese Do- unmittelbar nach der Befreiung errichtet worden war . Er kumente anschauen, und lassen Sie sich nicht, von wem schrieb: auch immer, einreden, dass diejenigen, die das Wort Wir mußten einen schmalen Pfad zwischen den „Völkermord“ in den Mund nehmen, das türkische Volk Massengräbern passieren . Plötzlich verfärbte sich beleidigen wollen . Nein, das türkische Volk ist ein gro- Heuss und stützte sich auf mich . Er brachte nur die ßes und starkes Volk, und es hat es nicht nötig, sich vor Wörter hervor: „Schrecklich, schrecklich“, und zit- seiner Vergangenheit zu verstecken, sondern es kann sich terte am ganzen Körper . ihr selbstbewusst und mit Demut stellen . Kämpfen Sie dafür, dass das geschieht; denn das ist der richtige Weg, So der erste Bundespräsident der Bundesrepublik der Verantwortung gerecht zu werden, die uns allen aus Deutschland . unserer Geschichte auferlegt ist . In Kenntnis dieses Schrecklichen kam Charles de (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gaulle nach Deutschland und sprach bei seinem ersten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Staatsbesuch 1962 von dem Vertrauen, das er „für Ihr NISSES 90/DIE GRÜNEN) großes Volk, jawohl! – für das große deutsche Volk, hege“ . Präsident Dr. Norbert Lammert: Genauso sind auch wir bei der heutigen Erinnerung Herr Kollege . und dem heutigen Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten auf- gerufen, etwas, auch wenn selbstverständlich, nochmals Dietmar Nietan (SPD): auszusprechen: unsere Achtung vor dem bedeutenden Liebe Kolleginnen und Kollegen, Elie Wiesel hat am Osmanischen Reich und unseren Respekt vor dem gro- 27 . Januar 2000 an dieser Stelle gesagt: ßen türkischen Volk . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17037

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Wir sind zuversichtlich, dass auch die türkische Re- Albert Weiler (CDU/CSU): (C) gierung zunehmend verstehen wird, dass es unser nach Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und dem Zweiten Weltkrieg gewachsenes europäisches Be- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Arme- wusstsein ist, dass man Opfer gedenkt, ohne damit an- nierinnen und Armenier! Liebe Türkinnen und Türken! dere in eine Schuldrolle drängen zu wollen . Wir kennen Sireli Hayer! Sevgili Türkler! Danke vorab an den Bun- Albert Schweitzers kulturethische Lehre „Ehrfurcht vor despräsidenten, danke an Norbert Lammert, den Bundes- dem Leben“ . In diesem Sinne und aus keinem anderen tagspräsidenten, aber auch danke an die Kanzlerin und Grunde führen wir die heutige Aussprache . die Fraktionen, die konstruktiv dazu beigetragen haben, dass diese Abstimmung heute stattfindet. Vielen Dank! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der LINKEN) Es wird vielfach gesagt: Ist es nicht ungerecht und in gewisser Weise auch willkürlich, sich in diesem Zu- „Was hat der Mensch dem Menschen Größeres zu ge- sammenhang nur mit dem Osmanischen Reich und den ben als Wahrheit?“ Weise Worte Friedrich Schillers, wie Armeniern zu beschäftigen? Ich nehme diese Fragen ich meine . sehr ernst; denn das, worüber wir heute reden, liegt ja nun über 100 Jahre zurück . In Abwandlung eines Satzes Als Bundestagsabgeordneter und Präsident des von Bundespräsident Gauck kann man darauf antworten, Deutsch-Armenischen Forums sowie bekennender Christ das Schicksal der Armenier stehe beispielhaft für die Ge- liegt mir das Thema Völkermord an den Armeniern und schichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säu- anderen christlichen Minderheiten, wie zum Beispiel berungen, der Vertreibungen im 20 .Jahrhundert . Mit den Aramäern oder Pontosgriechen, im Osmanischen Reich Pogromen an den Armeniern begann es im 20 . Jahrhun- sehr am Herzen . dert, Massenmord als legitime Antwort auf staatliche und Deutschland als damaliger Hauptverbündeter des Os- gesellschaftliche Probleme zu sehen . Natürlich hatte das manischen Reiches darf in Europa auf keinen Fall eine Osmanische Reich Probleme mit den Armeniern; das ist Ausnahme machen. Wir haben die historische Verpflich- unbestritten . Das Erschrecken darüber war so groß, dass tung, die jungtürkischen Gräueltaten beim Namen zu selbst der als humanistisches Vorbild allseits anerkannte nennen und als Völkermord zu bezeichnen . Es ist beson- Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Massaker ders erfreulich, dass sich dabei unsere Koalition und die damals als eine Art Notwehr der Türken bezeichnete . Grünen auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Die Antwort des Osmanischen Reiches war aber die ers- Antrag geeinigt haben . te zahlreicher staatsterroristischer Aktionen, mit denen (B) Staatenlenker auf Massenmord und Völkermord setzten . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (D) Mit Stalins Sowjetunion und ihrem Massenmord an den SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Kulaken, dem Genozid an den Ukrainern, den innersow­ NEN) jetischen Säuberungsaktionen und vor allem mit der Das heißt, an dieser historischen Tatsache gibt es für uns durch ihre bürokratisch-perfektionistische Durchführung keinen Zweifel, und es gibt keinen Zweifel daran, wer unvergleichbaren Vernichtungsaktion der Deutschen an Opfer und wer Täter war . Die größte Herausforderung den Juden nahm das Fürchterliche seinen Verlauf . ist und bleibt weiterhin die schonungslose, kritische und In engem Zusammenhang mit dem Heutigen habe ich ehrliche Aufarbeitung und Anerkennung dieser Tatsache im Juni 2000 auf die innere Einheit von Erinnerung und seitens der Türkei . Es fehlt bis heute ein eindeutiges Be- Zukunft hingewiesen . Ich habe damals gesagt: kenntnis der türkischen Regierung zu dem Unrecht, das damals geschehen ist, jenem schrecklichen Unrecht, das … denn ohne Erinnerung und Übernahme der Ver- den Armeniern widerfahren ist . antwortung für das Geschehene kann es keine ge- Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag wol- deihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinan- len wir vor allem diesen schweren Weg bereiten, indem der unter Nachbarn . wir uns auch zu unserer Mitschuld und unserer Mitver- Das gilt auch für das heutige Miteinander von Türken antwortung bekennen, weil es ohne Anerkennung keine und Armeniern . Das ist in diesem Hause unser heutiges Versöhnung und keine Annäherung geben kann . Die An- Anliegen: mit dem Blick der Wahrheit zurückzuschauen, erkennung des Völkermords ist ein wichtiger Schritt auf um mit dem Blick des Friedens nach vorne schauen zu dem Weg zur Verhinderung weiterer Genozide und ein können . Weg, den vielen Millionen armenischen Nachkommen unser Mitgefühl zu erweisen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Meine Damen und Herren, das Leid kennt keine Zeit- GRÜNEN) grenzen; der Genozid an den Armeniern gerät nie in Vergessenheit . Auch nach einem Jahrhundert ist er uns bewusst . Er ist auch ein Teil unserer gemeinsamen euro- Präsident Dr. Norbert Lammert: päischen Vergangenheit . Er beschäftigt uns alle; er geht Albert Weiler erhält nun das Wort für die CDU/ uns alle an . Aber wir wollen vorankommen . Wir wollen CSU-Fraktion . auch bei dem schwierigen Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien das erleben, was wir Deutsche erlebt ha- (Beifall bei der CDU/CSU) ben, nämlich Vergebung und Versöhnung . Das wäre nicht 17038 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Albert Weiler (A) geschehen, wenn wir uns nicht der Vergangenheit gestellt ner friedlichen Welt leben können . Sie haben Ihren per- (C) hätten, sie nicht aufgearbeitet hätten – kritisch aufgear- sönlichen Hintergrund dargestellt . Bei mir ist es so, dass beitet, wissenschaftlich aufgearbeitet, gesellschaftlich ich als Deutscher eine Mutter habe – sie sitzt heute auf aufgearbeitet . Das war nicht einfach . Das war anstren- der Besuchertribüne –, die in Armenien geboren ist . Ich gend . Meine Damen und Herren, das war schmerzhaft . habe zur Kenntnis genommen, lieber Albert, dass du heu- Doch ohne die Aufarbeitung wäre uns niemals das Maß te etwas Armenisch gesprochen hast, die Sprache habe an Vergebung und Versöhnung mit Israel begegnet, das ich als Kind gelernt . So bin ich als Deutscher mit armeni- wir Deutsche seit 1945 erleben durften und erleben dür- schen Wurzeln aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass fen . Mit unserer Anerkennung im Parlament ermutigen es bei der Fragestellung des Genozids nicht darum geht, wir auch die türkische Regierung, dass sie diesen ersten mit dem Finger auf andere zu zeigen und über Schuld mutigen Schritt zur Anerkennung, Aufarbeitung und Ver- zu diskutieren . Vielmehr geht es darum, Versöhnung und söhnung unternimmt, der die beiden Länder näher zu- Aussöhnung zu ermöglichen . Das ist tief in meinem Be- sammenbringen wird . wusstsein verankert . Es ist erfreulich, dass es gerade in der heutigen Tür- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie kei Menschen gibt, die eine ehrliche Aufarbeitung und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Versöhnung mit Armenien anstreben – Menschen, die an GRÜNEN) einer gemeinsamen Zukunft bauen . Mit unserem Antrag Und weil das so ist, stellen wir dieses Thema eben nicht wollen wir auch diese ehrwürdigen Frauen und Männer in den aktuellen Kontext . Wir sehen und bewerten, was bestärken, die bereits mutige Schritte unternehmen, jene die Türkei heutzutage für Flüchtlinge tut . 2,5 bis 3 Mil- türkischen Intellektuellen, die sich kritisch mit diesem lionen Syrer bekommen dort Schutz und werden unter- Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen . Wir werden stützt . Die moralische Aufarbeitung des Genozids darf gemeinsam mit diesen Menschen daran arbeiten, dass aber nicht in diesen Kontext gestellt werden . der Genozid von der türkischen Regierung aufgearbeitet wird zum Wohl der Türkei und Armeniens . Wir wollen Mit dem vorgelegten Antrag, den wir heute im Deut- aber keine Schuldzuweisungen . Unser Ziel ist, durch schen Bundestag verabschieden werden, machen wir Anerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung zu einer der Bundesregierung gegenüber erstens deutlich, dass gemeinsamen Zukunft, zu einem friedlichen Miteinan- wir den Versöhnungsprozess unterstützen möchten, und derleben in dieser Region beizutragen . Genau dieses Ziel zweitens, dass wir zivilgesellschaftliche, kulturelle und wollen wir gemeinsam erreichen . wissenschaftliche Aufarbeitung in Armenien und in der Türkei mit Projekten unterstützen wollen . Wir wollen, Vielen Dank. Çok teşekkürler. Shat shnorhakalutyun. dass man sich in der Türkei, aber auch in Armenien mit (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem wissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen be- (D) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schäftigt, sich an die gemeinsame Geschichte und Kultur erinnert . Präsident Dr. Norbert Lammert: Das dritte Thema in unserem Antrag – für mich übri- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der gens vielleicht das wesentliche Thema in Bezug auf die Kollege Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion . Fragestellung einer friedlichen Zukunft – ist der Umgang mit dem Zürcher Protokoll, das – es wurde schon ange- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sprochen – 2009 auf den Weg gebracht wurde, aber nun ins Stocken geraten ist . In dem Zürcher Protokoll geht es Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): gerade darum, dass die Grenzen zwischen der Türkei und Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Armenien geöffnet werden . In diesem heutigen Europa, und Herren! Der heute dem Deutschen Bundestag vor- wo Mauern hochgezogen werden, wo Grenzen geschlos- liegende Antrag soll einen Beitrag zur Versöhnung der sen werden, wäre es, auch von dieser Debatte ausgehend, Völker leisten . Eine Aussöhnung zwischen Armenien ein starkes Zeichen, wenn es gelingt, dass die Grenzen und der Türkei ist nur möglich, wenn eine Aufarbeitung zwischen der Türkei und Armenien geöffnet werden und der Geschehnisse von 1915 und 1916 erfolgt . dass die Armenier von mehr Handel und von mehr Mög- lichkeiten einer freien Grenzöffnung profitieren würden. Ich bin Ihnen, Herr Kauder, sehr dankbar dafür, dass Sie am 25 .Februar dieses Jahres die ausgestreckte Hand Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen von Herrn Özdemir angenommen haben und dieses Dank dafür, dass sich der Deutsche Bundestag entschie- wichtige moralisch-historische Thema, bei dem wir als den hat, den Völkermord in dieser Form anzuerkennen . Bundesrepublik Deutschland eine Mitverantwortung tra- (Beifall im ganzen Hause) gen, eben nicht zum Parteiengeplänkel gemacht haben, sondern die Möglichkeit gegeben haben, es interfrakti- Präsident Dr. Norbert Lammert: onell zu diskutieren . Noch einmal vielen Dank dafür an dieser Stelle . Ich schließe die Aussprache . (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/ Sie, Herr Özdemir, haben deutlich gemacht, dass es Die Grünen auf der Drucksache 18/8613 mit dem Titel Ihnen um das Thema geht, um die Aufarbeitung und auch „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den um die Fragestellung, wie unterschiedliche Völker in ei- Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17039

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Jahren 1915 und 1916“ . Zu dieser Abstimmung liegen Es ist so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen . Sie (C) mir eine Reihe von persönlichen Erklärungen zur Ab- ist angebohrt, sie ist riesig groß, und sie wird spru- stimmung vor, die wir wie immer dem Protokoll beifü- deln . gen werden 1). Aha . Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- Wie kam es zu Riester? Erstens wollten die Arbeitge- gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist bei einer ber sich um das Jahr 2000 herum nicht mehr zur Hälfte an Gegenstimme und einer Enthaltung diese Entschließung der Finanzierung einer Lebensstandard sichernden Rente mit einer bemerkenswerten Mehrheit des Deutschen beteiligen . Sie wollten schlicht geringere Rentenbeiträge Bundestages angenommen . zahlen . Zweitens wollte die Versicherungswirtschaft Pro- (Beifall im ganzen Hause) visionen mit privater Altersvorsorge kassieren . Bundeskanzler Schröder und Arbeitsminister Walter Vizepräsident : Riester, SPD und Grüne haben die Rente aktiv teilpriva- Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 b: Be- tisiert, und das war schlecht . schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum (Beifall bei der LINKEN) Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „100 .Jah - resgedenken des Völkermords an den Armenierinnen So mussten fortan die Arbeitgeberinnen und Arbeitge- und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Auf- ber weniger in die Rentenkassen einzahlen, als für eine arbeitung und Versöhnung beitragen“ . Der Ausschuss gute Rente nötig gewesen wäre, und das war ein politisch empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- willkürlich in die Rentenkassen gerissenes Loch . Diesem sache 18/7909, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Loch sollen die Beschäftigen allein mit der Riester-Ren- Drucksache 18/4335 abzulehnen . Wer stimmt für die te und steuerlichen Zulagen hinterhersparen . Die Arbeit- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- nehmerinnen und Arbeitnehmer wurden belastet, und die haltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wurden entlastet . Die Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Linke sagt dazu: Diese Entscheidung war grottenfalsch, Fraktion der Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion und sie ist grottenfalsch . Die Linke angenommen . (Beifall bei der LINKEN) (Unruhe – Glocke des Präsidenten) Heute müssen die Arbeitgeber nur 9,35 Prozent des Lohnes für die Altersvorsorge ihrer Beschäftigten zah- – Es kommt ein spannender Tagesordnungspunkt . Aber len . So viel zahlen die Beschäftigten ebenfalls . Dazu (B) wer ihn nicht verfolgen möchte, möge bitte allfällige Ge- kommen aber noch 4 Prozent ihres Lohnes für die Ries- (D) spräche draußen führen . ter-Rente und 1,4 Prozent für die betriebliche Altersver- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sorgung . Die Beschäftigten müssen also 14,75 Prozent ihres Bruttolohns in die drei Säulen der Altersvorsorge Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: stecken, um eine Lebensstandard sichernde Alterssiche- rung zu erhalten . Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der 3 022 Euro brutto zahlen heute also 163 Euro mehr im Fraktion DIE LINKE Monat für ihre Altersvorsorge als ihre Chefs . Und weil die Arbeitgeber zu wenig zahlen, wird das Rentenniveau Die Riester-Rente in die gesetzliche Renten- von Lebensstandard sichernden 53 Prozent im Jahr 2000 versicherung überführen auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030 sinken, und das darf Drucksache 18/8610 nicht so bleiben . Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Für die Menschen ist das brutal; denn die Kaufkraft Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss der gesetzlichen Rente ist massiv geschrumpft . Ein Bei- spiel: Eine durchschnittliche Rente für langjährig Ver- Erster Redner ist der Abgeordnete Matthias W . sicherte mit mindestens 35 Beitragsjahren ist zwischen Birkwald, Fraktion Die Linke . 2000 und 2014 von 1 021 Euro auf 916 Euro gesunken . Wenn man die Preissteigerungen seit dem Jahr 2000 be- (Beifall bei der LINKEN) rücksichtigt, hätte eine durchschnittliche Rente für lang- jährig Versicherte 1 284 Euro und nicht nur 916 Euro Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): betragen müssen . SPD, Grüne und CDU/CSU haben mit Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Carsten der Riester-Rente und der Absenkung des Rentenniveaus Maschmeyer, ein enger Freund von Gerhard Schröder also dafür gesorgt, dass denen, die Jahrzehnte gearbei- und Chef eines Finanzvertriebs, schwärmte nach der Ein- tet haben und in die Rentenkasse eingezahlt haben, nun führung der Riester-Rente: jeden Monat 368 Euro Rente im Portemonnaie fehlen . Meine Damen und Herren, das ist unverantwortlich . 1) Anlage 2 (Beifall bei der LINKEN) 17040 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Matthias W. Birkwald (A) Die Rentnerinnen und Rentner werden nicht mehr Viertens . Gleichzeitig wird die steuerliche Förderung (C) vollständig am steigenden Wohlstand in unserem Land der privaten Altersvorsorge eingestellt . Die freiwerden- beteiligt . Im Gegenteil: Es gibt immer mehr arme Rent- den Finanzmittel in Höhe von jährlich über 3 Milliarden nerinnen und Rentner . Schon heute sind es 3 Millionen . Euro fließen direkt in die gesetzliche Rentenversiche- Das darf nicht so bleiben . rung . (Beifall bei der LINKEN) Fünftens . Dann werden wieder die Ziele der Lebens- standardsicherung und der strukturellen Armutsvermei- Es geht auch anders . In unseren Nachbarländern dung in der gesetzlichen Rentenversicherung verankert . Dänemark, Schweden, Niederlande, Schweiz und Ös- terreich leben viele Rentnerinnen und Rentner deutlich Sechstens . Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpas- besser . In Österreich ist der Beitragssatz seit 1988 stabil . sungsformel werden gestrichen . Er ist etwas höher als bei uns, aber dafür zahlen die Ar- beitgeber in Österreich auch mehr in die Rentenkasse ein (Beifall bei der LINKEN) als die Beschäftigten . Österreich hat deshalb eine star- Als rentenpolitisches Sicherungsziel wird dann für ke gesetzliche Rente . Ein österreichischer Beschäftigter die sogenannte Standarderwerbsbiografie – 45 Versiche- erhält nach 35 bis 45 Beitragsjahren sage und schreibe rungsjahre mit einem Durchschnittsgehalt – ein Siche- 1 820 Euro Rente . Der vergleichbare Beschäftigte in rungsniveau von 53 Prozent vor Steuern festgeschrieben, Deutschland erhält nur 1 050 Euro Rente . 770 Euro mehr, also genau so, wie es war, bevor Schröder, Riester und ganz ohne Riester, dazu sage ich: Das muss drin sein, Fischer das Rentenniveau in den Sinkflug schickten. auch bei uns . Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Dieses (Beifall bei der LINKEN) Rettungsprogramm für die gesetzliche Rente ist verfas- Die Riester-Rente kann die Rentenlücke nicht ausglei- sungskonform, und es ist finanzierbar. Wir haben den chen, und die Menschen wissen das . Seit fünf Jahren sta- Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gniert die Zahl der Riester-Verträge . Es werden einfach gefragt, ob eine Überführung von Riester-Guthaben in nicht mehr . Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr ging die die gesetzliche Rente mit dem Grundgesetz vereinbar Zahl der Neuverträge erneut zurück . Nach 15 Jahren ha- sei . Die klare Antwort lautet: Solange die Überführung ben nun der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts- freiwillig bliebe, gebe es keine verfassungsrechtlichen bundes, Reiner Hoffmann, CSU-Chef Seehofer, der Wirt- Bedenken . schaftsweise Professor Peter Bofinger und viele andere Was würde ein Rentenniveau von 53 Prozent die Bei- die Notbremse gezogen . Sie sagen: Schluss mit der steu- tragszahler und Beitragszahlerinnen sowie die Arbeitge- (B) erlichen Riester-Förderung . – Sie haben recht . ber und die Arbeitgeberinnen kosten? Der aktuelle Ren- (D) (Beifall bei der LINKEN) tenwert müsste ab 1 . Juli von 30,45 Euro auf 33,83 Euro steigen . Das wäre eine Rentenanpassung von gut 11 Pro- Meine Damen und Herren, die Riester-Rente ist in- zent . Sie würde im kommenden Jahr 29,11 Milliarden effizient wegen der hohen Verwaltungskosten, die Ries- Euro kosten . Das klingt viel, ist aber nur eine Beitrags- ter-Rente ist intransparent, weil die hohen Kosten und satzerhöhung um 2,3 Prozentpunkte auf 21 Prozent . Be- die schmalen Renditen für die Verbraucherinnen und schäftigte mit einem durchschnittlichen Bruttomonats- Verbraucher nicht erkennbar sind, die Riester-Rente ist einkommen von zurzeit 3 022 Euro müssten im Monat ineffektiv, weil das Ziel, die Versorgungslücke zu schlie- gerade einmal knapp 35 Euro mehr an Beitrag in die ge- ßen, nicht erreicht wird, und die Riester-Rente ist sozial setzliche Rentenversicherung zahlen und eben nicht die ungerecht, weil die staatlichen Subventionen von bisher für Riester-Renten geforderten 4 Prozent vom Bruttoein- 35 Milliarden Euro nahezu ausschließlich in die Taschen kommen . 35 Euro statt 108 Euro – das ist gerecht, und der Versicherungsunternehmen geflossen sind. Aus all das ist ein Schnäppchen . diesen Gründen fordert die Linke: Die milliardenschwere Riester-Förderung muss jetzt gestoppt werden . (Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was (Beifall bei der LINKEN) zahlen die 2040?) Die Linke legt Ihnen heute eine machbare Alternative Denn damit würde eine sogenannte Standardrente nach zu dem Riester-Unsinn auf den Tisch . 45 Berufsjahren von aktuell 1 370 auf 1 522 Euro stei- Erstens . Riester-Sparerinnen und Riester-Sparer sollen gen . Monatlich wären das 152 Euro mehr Rente . Das ist ab sofort das Recht erhalten, das bisher in Riester-Versi- die linke Alternative zu Riester . Es ist eine gute Alterna- cherungen angesparte Kapital freiwillig in die umlagefi- tive, finde ich. Das muss drin sein. nanzierte gesetzliche Rentenversicherung zu überführen . Herzlichen Dank . Zweitens . Damit entstehen eins zu eins Anwartschaf- (Beifall bei der LINKEN) ten auf ihrem persönlichen Rentenkonto bei der gesetzli- chen deutschen Rentenversicherung . Vizepräsident Peter Hintze: Drittens . Die Wechselkosten für den Riester-Vertrag Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- werden auf ein absolutes Minimum begrenzt . Für die be- ordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion . reits eingezahlten Eigenbeiträge und die erhaltenen Zu- lagen wird selbstverständlich Vertrauensschutz gewährt . (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17041

(A) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Deswegen lese ich sie Ihnen wortwörtlich vor: (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Würden nun in größerem Ausmaß aufgrund der Jeder deutsche Erstklässler weiß: Wenn er sich spätes- Übertragung von Altersvorsorgevermögen in die tens zum Beginn der Europameisterschaft im Fußball ein gesetzliche Rentenversicherung höhere Beitragsein- neues Trikot von seinem Taschengeld kaufen will, dann nahmen zu verzeichnen sein, würden die heutigen kann er das ihm am Monatsanfang von seinen Eltern Beitragszahler und Rentenberechtigten von einem ausgezahlte Taschengeld nicht gleich für mehrere große niedrigeren Beitragssatz und höheren Renten pro- Eisbecher zu 100 Prozent verausgaben, sondern er muss fitieren. Wenn dann später aus der Übertragung etwas davon zurücklegen . Das, was jeder deutsche Erst- Rentenleistungen zu gewähren sind, hat dies wie- klässler weiß, wissen, glaube ich, die meisten Menschen derum Auswirkungen auf den Beitragssatz und die in Deutschland, aber nach dieser Rede muss ich feststel- Rentenhöhe . Durch die höheren Ausgaben ergäben len: Die Linke weiß das nicht . sich dann ein höherer Beitragssatz und niedrigere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Renten . Benachteiligt wäre insbesondere die spätere der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LIN- Generation der Beitragszahler . KE]: Aber auch die Österreicher wissen es, Das ist das Resümee der Stellungnahme des Wissen- und da funktioniert es, Herr Kollege! – Sabine schaftlichen Dienstes . Genau so ist es auch . Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Herr Weiß!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Aus dem Bundeshaushalt fließen über 80 Milliarden Euro jährlich in die gesetzliche Rentenversicherung, die umlagefinanziert ist. Vizepräsident Peter Hintze: Herr Kollege, der Kollege Matthias W . Birkwald wür- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das de gerne eine Zwischenfrage stellen . Wollen Sie sie zu- sind schon ein paar mehr!) lassen? Das ist eine großartige Leistung, mit der wir aus Steuer- mitteln die Renten mit unterstützen . Herr Birkwald hat Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): von 3 Milliarden Euro gesprochen . Es ist sicherlich noch Bitte schön . mehr, wenn man sich anschaut, was der Staat denjenigen an Unterstützung gibt, die für die Zukunft noch zusätz- lich etwas ansparen wollen, einmal über die Zulage zur Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (B) kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, sprich Ries- Vielen Dank, Herr Weiß .– Herr Weiß, unser Ziel war, (D) ter-Sparen, erst einmal herauszubekommen, ob es verfassungsgemäß wäre, die Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenver- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sagen sicherung zu übertragen . Da hat das Gutachten gesagt: Sie doch einmal etwas zu meinem Argument!) Ja, wenn das freiwillig erfolgt, ist das so .– Das halte ich und durch den Verzicht auf Steuern auf die sogenannte erst einmal fest . Entgeltumwandlung zur Finanzierung einer betriebli- Darüber hinaus hat das Gutachten Ceteris-paribus-Be- chen Altersvorsorge . Aber wenn man auch dieses Geld, dingungen genannt . Das bedeutet: Wir sind der Gesetz- das für das Ansparen für die Zukunft vorgesehen ist, jetzt geber, uns obliegt es, die Rentenanpassungsformel und einfach eins zu eins nimmt und als zusätzlichen Bundes- auch die Rentenformel zu ändern, wenn es hier die ent- zuschuss in die Rentenkasse einzahlt, passiert Folgendes: sprechende Mehrheit und die politische Einsicht gäbe . Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt, übrigens auch für Uns obliegt es, beispielsweise dafür zu sorgen, dass die den Arbeitgeber, Nachhaltigkeitsrücklage stärker wachsen kann und der (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das Deckel, den es heute gibt, wegfällt . Das heißt, es gibt muss ja nicht so bleiben! Wir sind ja der Ge- zahlreiche Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass das, was setzgeber!) im Gutachten drinsteht, nicht passiert . also er spart etwas – das steht im Gegensatz zu dem, was Ich will Ihnen noch einmal sagen: In Österreich wird die Linken wollen –, aber für die Zukunft fehlt das Geld es genau so gemacht . Dort gibt es eine deutlich höhere aus der zusätzlichen Altersvorsorge . Das ist der Effekt Rente – ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen –, und von dem, was die Linken hier vorschlagen . alles ist stabil . Deswegen bitte ich Sie: Sagen Sie doch einmal etwas dazu, dass jemand nach den heutigen Re- (Beifall bei der CDU/CSU) gelungen 108 Euro in Riester stecken muss, wenn er Nun hat die Linke gehofft, dass sie mit einem Gutach- oder sie durchschnittlich verdient, und dass das mit ei- ten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun- ner Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung mit destages, das sie in Auftrag gegeben hat, ihre Position 35 Euro für den Arbeitnehmer bzw . die Arbeitnehmerin untermauert bekommt . Leider hat Kollege Birkwald uns und 35 Euro für den Arbeitgeber bzw . die Arbeitgeberin die letzten Sätze dieses Gutachtens vorenthalten . zu erledigen wäre . Man bräuchte also, wenn man die Zu- lagen nicht mitrechnet, insgesamt 38 Euro weniger . Der (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das Punkt ist nämlich, dass wir den Versicherungsunterneh- machen Sie jetzt!) men dieses Geld wegnehmen wollen . Für die Beschäf- 17042 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Matthias W. Birkwald (A) tigten wäre das deutlich besser . Was sagen Sie zu diesem Bein, sondern zumindest auf zwei Beine zu stellen . Die (C) Argument? meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben zum Beispiel die vermögenswirksamen Leistungen, von (Beifall bei der LINKEN) denen heute kaum noch jemand spricht, genutzt, um ei- nen Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung abzu- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): schließen, oder sie haben sich angestrengt, ein eigenes Herr Kollege Birkwald, Sie machen es nicht besser . Häuschen zu erwerben, auch als Rücklage für die eigene Erstens . Natürlich – da haben die Gutachter recht –: Altersversorgung . 2001 wurde mit Blick auf das, was die Wir als Deutscher Bundestag können die Rentengesetz- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gebung verändern; gar keine Frage . Das machen wir auch ohnehin wissen, lediglich ein zusätzlicher Anreiz gesetzt hin und wieder . bzw. eine zusätzliche finanzielle Unterstützung durch den Staat geschaffen . Zweitens . Ihre schlichte Behauptung ist: Wenn man das Geld, das der Staat denjenigen, die für die Zukunft Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine sparen wollen, wegnimmt und es in die Rentenkasse ein- Lebensweisheit, die jeder kennt . Wenn ich meine Al- zahlt, wird eine höhere Rente herauskommen .– Genau tersversorgung nicht nur auf ein Bein stelle, sondern sie das ist falsch . Es wäre ein Vorteil für die heutigen Bei- auf zwei Beine stelle, ist das mit Sicherheit besser . tragszahler, weil der Beitragssatz sinken würde . Aber es Genau darum geht es . Sie betreiben eine Politik, mit wäre eine Belastung für die künftigen Generationen, die der Sie die Bereitschaft der deutschen Arbeitnehmerin- auch noch eine Rente bekommen wollen . nen und Arbeitnehmer, ihre Altersversorgung nicht nur (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nur auf die umlagefinanzierte Rente abzustellen, sondern für wenn wir nichts ändern!) sich selber auch noch etwas Zusätzliches anzusparen, Das ist das Ergebnis der Untersuchung des Wissenschaft- (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist gar lichen Dienstes . Genau das habe ich Ihnen eben vorge- nicht zusätzlich!) halten, und dem haben Sie auch nicht widersprochen . kaputtmachen . Wir wollen das Gegenteil . Wir wollen (Zuruf von der LINKEN: Die wollen es nicht diese Bereitschaft stärken . verstehen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth Da Sie auf Österreich und die Schweiz hinweisen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht muss ich Ihnen übrigens sagen: Die Deutsche Rentenver- mit Riester! Das macht doch keiner! – sicherung bzw . die gesetzliche Rente steht hervorragend Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Und wir (B) da . Sie verfügt über eine hervorragende Rücklage . wollen die gesetzliche Rente stärken! Das ist (D) viel besser!) (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!) Viel Kritik an der Riester-Rente ist berechtigt . Deswe- Die Österreicher und die Schweizer haben mit der Finan- gen ist sie auch reformbedürftig . Ich würde aber niemals zierung ihrer Rentensysteme schwer zu kämpfen; das ist die öffentliche Förderung abschaffen . leider die Wahrheit . (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Übrigens kommt Folgendes hinzu: Die öffentliche Birkwald [DIE LINKE]: Aber den Rentnerin- Förderung der privaten Altersvorsorge ist die einzi- nen und Rentnern geht es da besser!) ge Form, bei der auch konkret etwas für Familien mit Kindern geleistet wird . Für jedes Kind gibt es nämlich Nun will ich ja nicht bestreiten, dass es Reformbedarf 300 Euro jährlich . gibt . Wir wollen die Reformen aber nicht so durchfüh- ren, wie Sie es machen wollen . Es gibt einen Reform- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Füh- bedarf bei der gesetzlichen Rente, die Gott sei Dank gut ren Sie lieber den dritten Entgeltpunkt bei der dasteht . So sieht die Gesetzgebung von 2001 zum Bei- Mütterrente ein!) spiel vor, dass es nach dem Jahr 2030 kein Mindestsiche- Diese 300 Euro will Herr Birkwald ebenfalls in den gro- rungsniveau mehr gibt . Ich glaube, gerade an die junge ßen Topf schmeißen – mit dem Ergebnis, dass die Fami- Generation muss es eine klare Ansage geben: Auch für lien nichts von dem Geld sehen, das man ihnen geben die Zukunft wollen wir, dass die starke erste Säule der wollte, damit sie trotz der hohen Aufwendungen für die Altersversorgung in Deutschland, nämlich die gesetzli- Familie ein bisschen finanziellen Spielraum haben, um che Rentenversicherung, stabil bleibt und dass sie eine zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben . Dieses Geld will Mindestsicherungszusage für die junge Generation bein- Herr Birkwald ihnen wegnehmen und es in den großen haltet . Das ist, glaube ich, eine Reformaufgabe, die vor allgemeinen Rententopf schmeißen . uns liegt, eine Aufgabe, die die Bundesregierung im Ren- tendialog jetzt übrigens auch anpacken will . (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Damit begehen Sie ein Verbrechen an den Familien [SPD]) in unserem Land, deren Leistung schlichtweg nicht mehr anerkannt wird . Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- land haben schon vor der Rentenreform 2001 gewusst, (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Schal- dass es sinnvoll ist, die Altersvorsorge nicht nur auf ein ten Sie mal einen Gang runter!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17043

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Die Linken wollen die Familien enteignen und dieses den letzten anderthalb Jahren angucken, um ein ziemlich (C) Geld in den großen allgemeinen Rententopf schmeißen . genaues Bild von der Lage zu bekommen . Das ist die Wahrheit . Wem das zu viel Arbeit ist, dem empfehle ich die Do- (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . kumentation unseres Fachgesprächs „Ist Riester noch zu Birkwald [DIE LINKE]: Merken Sie, dass Sie retten?“ vom März 2015 . sich damit lächerlich machen, Herr Kollege?) – Das ist so . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie Dort kann man alles sehr gut nachlesen . machen sich lächerlich!) Die nackten Zahlen sind ebenso einfach wie leider – Es ist so . zum Teil auch erschreckend . Wir sehen, dass die Zahl der (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Albern! – Wei- Verträge seit einigen Jahren bei über 16 Millionen sta- terer Zuruf von der LINKEN: Quatsch!) gniert . Besorgter stimmen muss allerdings, dass längst Zweitens . Wir wissen, dass wir für die zusätzliche Al- nicht alle Verträge bespart werden . Voll bespart werden tersvorsorge etwas tun müssen . Deswegen sind wir zur- ausweislich der jüngsten Kleinen Anfrage nur noch ins- zeit in sehr engen Gesprächen und Verhandlungen darü- gesamt 6 Millionen dieser Verträge . ber, die betriebliche Altersvorsorge als eine Möglichkeit (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das einer kapitalgedeckten Altersvorsorge zu stärken . war eine von mir!) Die Gutachten, die von Arbeitsministerium und Fi- nanzministerium in Auftrag gegeben worden sind, liegen Wir müssen sehen, dass die Grundannahmen, die 2001 vor . Darin wird uns zum Beispiel empfohlen, dass wir in einem zugegebenermaßen sehr optimistischen Klima für Geringverdiener zusätzlich ein eigenes Förderinstru- der Finanzmärkte getroffen worden sind – 4 Prozent mentarium schaffen . Ja, das ist richtig . Geringverdiener durchschnittliche Rendite, 10 Prozent Verwaltungskos- haben die größten Schwierigkeiten, zusätzlich etwas zu tenbegrenzung –, so nicht eingetreten sind . machen . Deswegen brauchen sie auch zusätzliche Unter- stützung . Das wollen wir umsetzen . Letztlich müssen wir uns auch noch einmal anschau- en, wie sich die Förderung zwischen den besonders von In dieser Rentendebatte, die die Linke wieder einmal Altersarmut bedrohten Geringverdienenden und den angesetzt hat, komme ich auf die Erstklässler zurück . Besserverdienenden verteilt . Da sehen wir eben ganz Wäre das, was da vorgeschlagen worden ist, das Resultat (B) klar, dass Geringverdienenden nur ein sehr kleiner Teil (D) eines Erstklässlers, das im Zeugnis benotet werden müss- der staatlichen Förderung im Rahmen der Riester-Rente te, stünden bei Lesen eine Fünf, bei Rechnen eine Sechs, zufließt und sie überwiegend zur Gruppe derjenigen ge- bei Märchenerzählen eine Eins . hören, die ihre Verträge im Moment beitragsfrei stellen . Vielen Dank . Angesichts dieses Gesamtbildes muss man sich also (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die Frage stellen: Ist die Riester-Rente geeignet, das Ab- ordneten der SPD) sinken des Rentenniveaus, das mit dem Aufbau der För- derung einherging, auszugleichen? Nein, das ist sie leider Vizepräsident Peter Hintze: nicht . Insofern kann und muss man zunächst einmal die Als nächster Redner erhält das Wort Markus Kurth, Aussage treffen: Als systematische Lösung ist die soge- Bündnis 90/Die Grünen . nannte Riester-Rente gescheitert .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Meine Damen und Herren! Nachdem wir hier eben Das bedeutet nicht – das will ich ausdrücklich dazu- etwas von Enteignung und Verbrechern gehört haben, sagen –, dass individuell jeder Vertrag gescheitert ist . Ich sollten wir jetzt verbal wieder einen Gang zurückschal- finde, da muss man schon, um die Menschen in diesem ten . Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich auch ohne Land nicht zu verunsichern, genau argumentieren . Wer Polizeischutz noch ganz gut hier vorne stehen kann . beispielsweise aufgrund von vielen Kindern eine höhe- Kaum ein Satz ist an diesem Pult häufiger gefallen als re Zulage bekommt, für denjenigen oder diejenige – das der Ausspruch: „Politik beginnt mit dem Betrachten der sind insbesondere die Frauen – wird es sich auch in Zu- Wirklichkeit“, kunft lohnen, den Riester-Vertrag weiterzuführen . Für diese Personen kommt auch eine angemessene Rendite ( [CDU/CSU]: Von Volker Kauder!) heraus . Hier muss man zwischen systematischer und in- dividueller Sicht unterscheiden . und selten war es so einfach wie heute bei diesem The- ma . Man muss sich nämlich nur einmal die gesammel- (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Richtig! – ten schriftlichen Fragen und mündlichen Anfragen von Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Rich- Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Riester-Rente aus tig!) 17044 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Markus Kurth (A) Was aber die Gesamtlösung anbelangt – das hat in- Ich möchte, wenn man den Grundsatz, dass Politik mit (C) zwischen sogar Herr Weiß von der Union zugegeben –, dem Betrachten der Realität anfängt, ernst nimmt, doch besteht dringender Reformbedarf . sagen, was dies im Gesamtbild der Sozialversicherungs- beiträge bedeutet . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Frage ist jetzt: Was tun? Die Lösung, die die Frak- der SPD) tion Die Linke hier vorgeschlagen hat, basiert auf einer Rechnung, die die langfristigen Kosten vollständig außer Wir wissen ja, dass wir auch in der Kranken- und Pfle- Acht lässt . Sie sagen, dass jetzt, um das Rentenniveau geversicherung mit Sicherheit – eine vernünftige Kran- zu erreichen, wenn man die Riester-Rente abschaffte, ken- und Pflegeversorgung wollen ja alle haben – höhere durchschnittlich ein um 70 Euro höherer Beitragssatz Beiträge zu gewärtigen haben . notwendig ist . Sie sagen aber nicht, was das denn in der (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nein, Fortschreibung für das Jahr 2030 und darüber hinaus bei der Bürgerversicherung nicht!) bedeutet . Sie sagen, dass jetzt eine Beitragssatzerhö- hung um 2,3 Prozent notwendig ist . Das bedeutet aber, Der Punkt ist, dass wir uns an dieser Stelle über syste- dass wir noch die steigenden Beitragssätze ab den Jah- matische Lösungen Gedanken machen . Die Lösung, die ren 2025 mit in Rechnung stellen müssen . Ich bitte Sie Bündnis 90/Die Grünen schon seit Jahren vorschlagen, also, sozusagen das Gesamtbild zu zeichnen . ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und bei- spielsweise die Verbreiterung des Sozialschutzes mit der Vizepräsident Peter Hintze: Bürgerversicherung . Herr Kollege Kurth, Herr Birkwald möchte gern etwas (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum Gesamtbild sagen . Möchten Sie das zulassen? Auch der Blick ins Ausland, den Sie bemühen, be- darf einer vollständigen Betrachtung . Sie haben eben das Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beispiel Dänemark angeführt . Wir waren gerade letzte Ja, ich lasse das zu . Woche in Dänemark, um uns das dortige System anzu- sehen . Das Versorgungsniveau ist dort in der Tat deut- Vizepräsident Peter Hintze: lich höher . Aber dabei handelt es sich nicht allein um das gesetzlich garantierte Versorgungsniveau; denn ein Bitte schön . Großteil davon ist auf eine kapitalgedeckte betriebliche Altersversorgung zurückzuführen, die, weil tariflich breit (B) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): abgestützt, nahezu verpflichtend ist. Sie wissen genauso (D) Vielen Dank .– Ich habe mit der Kritik gerechnet . Des- wie ich – wir waren ja beide dort –, dass das betriebliche wegen haben wir auch ausgerechnet, was das Ganze im Kapitalvermögen und das in Pensionsfonds gesammelte Jahr 2029 kosten würde . Dazu muss man aber wissen, Vermögen 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von dass das Durchschnittseinkommen nach den Annah- Dänemark entspricht . Das ist für ein Land mit 5,6 Milli- men der Bundesregierung im Jahr 2029 bei 4 400 Euro onen Einwohnern, das das Vermögen seit über 50 Jahren und nicht wie heute bei 3 000 Euro liegen würde . Dann aufgebaut hat, eine zurzeit noch interessante Perspekti- würde das, was ich eben vorgetragen habe, nämlich ein ve . Auf Deutschland übertragen bedeutete das, dass wir lebensstandardsicherndes Rentenniveau in der gesetzli- 6 Billionen Euro Kapital ansparen müssten . Allein diese chen Rente, 99 Euro mehr im Monat kosten, wäre also im Größenordnungen zeigen, dass derjenige, der einfach nur Jahr 2029 für durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit dem Finger auf das Ausland zeigt, Äpfel mit Birnen sogar immer noch 9 Euro günstiger als heute, also in ei- vergleicht . ner Zeit, in der sie 1 400 Euro weniger an Einkommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben . Das kann man nachlesen . Man muss auch beden- NEN und bei der CDU/CSU sowie der Abg . ken, dass nach dem jetzigen Riester-Gesetz die Men- Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) schen in 2029 mit dem dann höheren Gehalt 164 Euro für die Riester-Rente bezahlen müssten, wenn sie durch- Das Gleiche gilt in anderer Weise für Österreich . schnittlich verdienten . Man darf auch die dortige Rentenversicherung nicht isoliert betrachten, sondern muss – hören Sie zu, Herr Ich halte fest: Auch im Jahr 2029 sind nach den jetzi- Birkwald! – auch die Krankenversicherung berücksich- gen Daten und Annahmen der Bundesregierung 65 Euro tigen, die bei weitaus niedrigeren Beitragssätzen we- weniger zu bezahlen, wenn wir die gesetzliche Rente sentlich stärker steuermitfinanziert ist, sodass sich der stärkten und nicht bei Riester blieben .– Ich hoffe, ich Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die Arbeitgeber konnte mit diesen Hinweisen helfen . anders darstellt .

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bitte darum, dass wir, wenn wir internationale Ver- gleiche ziehen, nicht immer nur sozusagen Scheuklappen Sie haben aber, Herr Birkwald, nicht gesagt, bei wel- anlegen und einen ganz kleinen Ausschnitt betrachten . chen Beitragssätzen wir dann am Ende im Jahr 2030 lan- Damit trägt man nichts zur Klärung der Wirklichkeit bei . den . Das haben Sie in anderen Debatten gesagt . Da sind Werte von bis zu 28 Prozent gefallen . – Ja, Sie nicken (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bestätigen das hiermit . sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17045

Markus Kurth (A) der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LIN- Ralf Kapschack (SPD): (C) KE]: Aber unterm Strich geht es den Rentnern Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver- dort deutlich besser!) ehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Eine ausreichende Was wir jetzt vorschlagen, geht allerdings deutlich Absicherung im Alter ist eines der zentralen Versprechen über die vagen Andeutungen von Herrn Weiß hinaus . Wir des Sozialstaats . Wer jahrelang gearbeitet hat und trotz- haben unseren Antrag zur Reform der Riester-Rente ein- dem mit der Angst lebt, im Alter in Armut zu fallen, der gebracht . Wir werden auch in unserer Partei – das sage hat wenig Vertrauen in diesen Sozialstaat, und er hat auch ich offen – noch Diskussionen über Sinn und Unsinn von wenig Vertrauen in diejenigen, die politische Entschei- Förderung führen . Stand ist, dass diese unsere Fraktion dungen treffen . Deshalb geht es in dieser Debatte längst hier in der Mitte des Hauses vorschlägt, die Förderung nicht nur um Zahlen . neu zu justieren und sie durch eine Anhebung der Grund- Für uns steht ohne Frage die gesetzliche Rente im Mit- zulage, die seit Jahren nicht mehr gestiegen ist, auf Ge- telpunkt der Alterssicherung . Sie muss gestärkt werden . ringverdiener zu konzentrieren . Gleichzeitig wollen wir ein sogenanntes Basisprodukt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft einführen . Das der CDU/CSU und der LINKEN und des Abg . heißt, die Versicherten würden künftig nicht mehr mit Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vertriebskosten, Provisionen und anderem belastet . Das NEN]) würde deutlich attraktiver und transparenter für die Ver- Die weitere Absenkung des Rentenniveaus ist aus unse- sicherten . Es soll ein gutes Angebot mit Wahlmöglichkei- rer Sicht nicht vernünftig . ten sein . Versicherte sollen ebenfalls die Möglichkeit ha- ben, geförderte Beiträge in eine Betriebsrente oder auch Natürlich müssen wir auch – deswegen diskutieren in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, die wir heute über dieses Thema – Konsequenzen aus den eine gar nicht so schlechte Rendite aufweist . Das wäre Erfahrungen mit der Riester-Rente ziehen . Der Vorwurf also echte Wahlfreiheit . allerdings: „Riester lohnt nicht, ein Sparstrumpf bringt mehr“ – den haben wir ja immer wieder gehört –, trifft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – so nicht zu . Das sage nicht ich, sondern die Zeitschrift Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Finanztest. Ich zitiere: Hört!) Wer einen guten Vertrag abschließt, erreicht durch Das sind, glaube ich, Punkte, die es verdienen, bera- die staatliche Förderung eine ganz ordentliche Ren- ten zu werden . Ich sage auch ganz offen: Wir werden si- dite auf seine Riester-Beiträge . Sie ist jedenfalls cherlich nicht mit einer reformierten Riester-Rente oder (B) höher als bei anderen vergleichbaren Produkten, (D) einem Basisprodukt alleine das 4-Prozent-Rendite-Ziel beispielsweise einer privaten Rentenversicherung . erreichen . Darum – auch das sagen wir klar – müssen wir uns im Zusammenhang mit dem Rentenniveau drin- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Darum gend über eine Mindestsicherung Gedanken machen . Wir soll die Überführung ja auch freiwillig sein!) werden dazu Vorschläge machen . Wir wollen das Niveau stärken . Aber wir wollen kein Wolkenkuckucksheim à la Deshalb macht es wenig Sinn, denjenigen, die einen ent- Linke und auch keine Vorschläge aus dem Bauch heraus sprechenden Vertrag abgeschlossen haben, einzureden, wie die von , sondern wir wollen finan- sie hätten ihr Geld zum Fenster herausgeschmissen . zierbare Vorschläge machen . (Beifall bei der SPD – Matthias W . Birkwald (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [DIE LINKE]: Freiwillig!) Außerdem sagen wir: Für jahrzehntelang versicher- Unstrittig – das sage ich hier auch ganz klar – ist: Die te Personen muss es eine garantierte Mindestsicherung Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt . Da sind geben; das ist die Garantierente . Wenn man die private wir uns einig . Sie war und ist zu kompliziert und zu teu- Vorsorge attraktiv halten will, dann heißt das auch, dass er . Und vor allem: Diese Form der zusätzlichen Alters- private Sparbeträge nicht auf diese Garantierente ange- vorsorge nutzen viel zu wenige Frauen und Männer . Mit rechnet werden dürfen . rund 16 Millionen Verträgen ist das Ziel längst nicht er- reicht, die Riester-Rente als Vorsorge für alle zu etablie- Nur durch ein Konzert dieser Gesamtmaßnahmen ren, um die Einbußen bei der gesetzlichen Rente auszu- kommt man zu einer nachhaltigen Rente, die den Men- gleichen . Gerade die, die es besonders nötig hätten, wie schen ein verlässliches Niveau verspricht, statt ihnen nur zum Beispiel Geringverdiener, haben von diesem Ange- Sand in die Augen zu streuen . bot kaum Gebrauch gemacht . Viele hatten und haben of- Vielen Dank . fenbar nicht das Geld, um etwas auf die Seite zu legen . Manche haben es vielleicht, tun es aber trotzdem nicht . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nur, wenn in der Rentenformel unterstellt wird, alle tun es, aber maximal die Hälfte es tatsächlich tut, kann man Vizepräsident Peter Hintze: davor die Augen nicht verschließen . Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- ordneten Ralf Kapschack, SPD-Fraktion . (Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE], an die SPD gewandt: Warum klatscht denn bei (Beifall bei der SPD) euch keiner?) 17046 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Ralf Kapschack (A) – Moment! , hören Sie doch einmal Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Betrieb- (C) zu! liche Altersversorgung ist für uns kein Nice-to-have, be- triebliche Altersversorgung ist für uns ein Must-have . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Sie kommen jetzt mit der Idee: Lasst uns doch die Sie ist ein sinnvolles Instrument der Sozialpolitik . Des- Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenversicherung halb wollen wir sie stärken . Betriebliche Altersversor- überführen . Das hört sich plausibel an – ich habe grund- gung muss auch in kleinen und mittleren Betrieben sätzlich auch kein Problem damit –, aber ganz so einfach selbstverständlich werden . ist es nicht . Ich hatte mir auch das Zitat aus dem Gut- achten des Wissenschaftlichen Dienstes herausgesucht; Und noch einmal: Das hat auch etwas mit Gerechtig- daraus zu zitieren, kann ich mir jetzt sparen . Das Ergeb- keit zu tun . Denn wir wollen nicht, dass weiterhin nur nis dieses Gutachtens ist: Rechtlich ist das machbar; die Beschäftigte in Großbetrieben und in gut organisierten heutigen Rentner und Beitragszahler würden profitieren; Branchen Zugang zur betrieblichen Altersversorgung ha- für die Zukunft hätte das aber negative Auswirkungen – ben . unter sonst gleichen Voraussetzungen . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias Es gibt noch ein paar andere Stellschrauben, die für W . Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Pro- die Verbreitung von betrieblicher Altersversorgung wich- blem!) tig sind . Als Allererstes muss sich Sparen lohnen . Wer Die Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt, wegen einer Minirente im Alter auf Grundsicherung an- ja, aber wir ziehen daraus andere Konsequenzen als Sie . gewiesen ist, sollte zumindest einen Teil seiner Betriebs- Klar ist, alle laufenden Riester-Verträge müssen ge- rente behalten dürfen, ohne dass diese mit der staatlichen schützt und weiterhin gefördert werden . Künftig wollen Hilfe verrechnet wird . Auch über den Krankenkassenbei- wir aber die betriebliche Altersversorgung ausbauen . trag müssen wir sicherlich noch einmal reden . Denn die betriebliche Altersversorgung ist für uns die Im Herbst wird ein Konzept zur Alters- beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente . Wir wollen des- sicherung vorlegen . Das ist ein hartes Stück Arbeit . Die halb eine flächendeckende, obligatorische Betriebsrente SPD-Fraktion steht ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite . mit klarem und verbindlichem Rahmen und einem Vor- rang für tarifliche Lösungen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der SPD – Bernd Siebert [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Das wird helfen!) (B) (D) Wir wollen kollektive Lösungen, die Verwaltungskosten minimieren und die Übertragbarkeit bei einem Jobwech- Vizepräsident Peter Hintze: sel garantieren . Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- ordneten Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke . Riester hat auch deshalb nicht funktioniert, weil es nicht obligatorisch war . (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Diesen Konstruktionsfehler müssen wir bei einer betrieb- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie lichen Altersversorgung vermeiden . Jeder Arbeitsvertrag kommen nicht darum herum: Die Riester-Rente war und sollte künftig ein Angebot für eine betriebliche Altersver- bleibt ein Rohrkrepierer . sorgung erhalten – möglichst mit finanzieller Beteiligung (Beifall bei der LINKEN) des Arbeitgebers . Sehen Sie endlich den Realitäten ins Auge: Sie konnte (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nie die politisch herbeigeführte Sicherungslücke in der NEN]: Angebot ist aber etwas anderes als ein gesetzlichen Rente schließen . Nicht einmal die Hälfte der Obligatorium!) Förderberechtigten hat überhaupt einen Riester-Vertrag abgeschlossen . 20 Prozent der Verträge sind beitragsfrei Da ist noch reichlich Luft nach oben . In der privaten gestellt . Von der Riester-Förderung und den Steuernach- Wirtschaft haben gerade einmal 50 Prozent der Beschäf- lässen profitieren – das haben wir schon gehört – eher tigten einen Anspruch auf eine Betriebsrente . Es geht die Einkommensstarken als die Geringverdiener . Die auch anders: In Dänemark – das ist ja eben schon genannt hohen Provisions- und Verwaltungskosten zehren dann worden – sind es deutlich über 80 Prozent . noch die theoretische Rendite auf . Um sein eingezahltes Entgelt noch herauszubekommen, muss man fast so alt Und Luft nach oben ist auch bei der Absicherung von werden wie Methusalem . Die Riester-Rente ist für die Geringverdienern im Alter . International stehen wir da Versicherten letztendlich teurer als die gesetzliche Rente . nicht so richtig gut da . Deshalb wollen wir vor allem Ge- Verkaufen Sie die Leute draußen nicht für dumm! Sagen ringverdienern den Zugang zur betrieblichen Altersver- Sie klipp und klar: Die Riester-Rente war ein Schuss in sorgung erleichtern . Entsprechende Vorschläge, wie man den Ofen . das mit Zulagen erreichen kann, werden gerade im Fi- nanz- und im Arbeitsministerium erarbeitet . (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17047

Susanna Karawanskij (A) Legen Sie den Rückwärtsgang ein, und stärken Sie die Daher fordern wir eine verpflichtende Zulassungsprüfung (C) gesetzliche Rente! sowohl für Geldanlagen als auch für Finanzpraktiken . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Beenden Sie die Förderung der privaten Altersvorsorge, Wir brauchen einen Neuaufbau in der Altersvorsor- und schaffen Sie für die Sparerinnen und Sparer eine ge . Statt der vorhandenen drei dürren Ästchen, die wir Möglichkeit, ihre Riester-Rente freiwillig in die gesetzli- da jetzt haben, brauchen wir wieder einen festen Stamm . che Rente zu überführen . Das ist die gesetzliche Rente . Dabei müssen Sie auch, um das hier noch einmal deutlich zu sagen, die Lebensleis- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) tungen der Menschen in Ostdeutschland anerkennen und für eine umfassende bzw . gerechte Rentenüberleitung Das Grundproblem der dritten Säule, also der priva- Ost sorgen . ten und kapitalgedeckten Vorsorge, besteht ja eben da- rin, dass die Renditen von den Launen der Finanzmärkte (Beifall bei der LINKEN) abhängig sind . Das sehen wir doch auch bei den kapital- Wir haben das Konzept einer solidarischen Rentenver- basierten Lebensversicherungen, die schon immer sehr sicherung mit einer gerechten Mindestrente vorgelegt . Es teure Produkte waren: In Zeiten niedriger Zinsen wie ist jetzt an der Zeit, dass Sie Riester in Rente schicken . jetzt wurden die Versicherungskonzerne gepäppelt, die Versicherten weiter geschröpft . Die Bewertungsreserven Vielen Dank . wurden gekürzt . Die Überschüsse, die mit dem Geld der (Beifall bei der LINKEN) Kunden erwirtschaftet wurden, werden einbehalten und nicht an die Versicherten ausgeschüttet . Der Garantiezins ist im freien Fall . Gleichzeitig liest man, dass die Versi- Vizepräsident Peter Hintze: cherungsunternehmen weiterhin Gewinne einfahren, von Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- denen vor allen Dingen die Aktionäre profitieren. Le- ordneten Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion . bensversicherungen sind der Goldesel für die Versiche- (Beifall bei der CDU/CSU) rungen – zulasten der Versicherten . Um es noch einmal deutlich zu sagen: Ob Riester-Rente oder Lebensversi- (CDU/CSU): cherung, die dritte Säule der Altersvorsorge zerfällt nach Jana Schimke und nach . Hier darf man den Bürgerinnen und Bürgern Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines kann nicht länger Sand in die Augen streuen . man den Linken nicht unterstellen: Sie hätten keinen Sinn für Kreativität .– Nur schade, dass Ihre Ideen we- (B) (Beifall bei der LINKEN) der zukunftsorientiert noch gerecht sind . Ich habe selten (D) einen Antrag gelesen, der in letzter Konsequenz so viel Weil das gerade betont wurde: Auch die zweite Säule, Ungerechtigkeit in sich barg . die betriebliche Altersvorsorge, zerbröselt zunehmend . Dr .Frank Grund, Exekutivdirektor der Versicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . aufsicht bei der BaFin, sagte Mitte Mai: Birkwald [DIE LINKE]: Was?) Möglicherweise können daher bald einzelne Pensi- So möchte ich Sie fragen: Ist es gerecht, Politik für die onskassen nicht mehr aus eigener Kraft ihre Leis- einen zu machen und die anderen dafür zur Kasse zu bit- tungen in voller Höhe erbringen . ten? Ist es also gerecht, das Rentenniveau dauerhaft auf 53 Prozent festzuschreiben und dafür die Rentenbeiträge Das klang schon wie eine Warnung . Wenig überraschend der Arbeitnehmer in der Zukunft auf bis zu 28 Prozent konnte man dann vergangenen Dienstag im Internetauf- zu erhöhen? tritt der Süddeutschen Zeitung lesen: „Erste Pensionskas- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die se senkt Betriebsrenten“ . Im Schnitt gibt es dort 16 Pro- zahlen weniger, weil sie den Riester-Quatsch zent weniger Betriebsrente . nicht mehr haben!) Ob nun bei der privaten oder der betrieblichen Vorsor- Sicher nicht, denn jeder zusätzliche Prozentpunkt für ge, die Bürgerinnen und Bürger erfahren hautnah, dass die Sozialversicherung nimmt den Beschäftigten etwas sie später kaum noch das Geld, das sie eingezahlt haben, vom monatlichen Netto . Für andere notwendige Dinge herausbekommen, geschweige denn, dass die Rendite des Alltags steht dieses Einkommen dann nicht mehr zur zur Armutsvermeidung im Alter reicht . Aus Angst vor Verfügung . Altersarmut und in Zeiten niedriger Zinsen folgen Ver- braucherinnen und Verbraucher verlockenden Verspre- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die chungen der Finanzbranche . Diese vermeintlich sicheren zahlen weniger!) und renditestarken Geldanlagen entpuppen sich allzu Das kann die Miete sein, das kann die Autoreparatur sein oft als hoch riskant und vor allen Dingen als gänzlich oder der jährliche Familienurlaub . ungeeignet für die Altersvorsorge . Um hier Verbraucher zu schützen, muss man dafür sorgen, dass dieser ganze Wenn die Kaufkraft verloren geht, spüren wir das alle Finanzschrott erst gar nicht auf den Markt kommt und durch eine schwächere Konjunktur . Und das Einkommen Anleger schädigen kann . fehlt am Ende auch in einem ganz entscheidenden Be- reich unserer Altersvorsorge: bei der Finanzierung des (Beifall bei der LINKEN) Eigenheims . Jeder zusätzliche Prozentpunkt geht auf 17048 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Jana Schimke (A) Kosten unserer wirtschaftlichen Entwicklung . Höhere aber kein Versicherungssystem, liebe Kolleginnen und (C) Sozialbeiträge machen Arbeit noch teurer und kosten Kollegen, in das jeder wie ihm beliebt einfach einmal schließlich Arbeitsplätze in Deutschland . Das können einzahlen kann und seine Rentenansprüche damit indivi- wir nicht wollen, meine Damen und Herren . duell ausbauen kann . Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt war noch nie so (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gut wie heute . Das belegen auch die aktuellen Zahlen der NEN]: Freiwillige Beiträge! Sehr gut!) Bundesagentur für Arbeit . Die Arbeitslosenquote liegt Unser Rentensystem ist solidarisch und umlagefinan- bei 6 Prozent, und mit 43,4 Millionen Menschen können ziert . Es fußt auf dem gesamten Erwerbsleben, in dem wir derzeit von einer Rekordbeschäftigung in Deutsch- jeder Beschäftigte seinen prozentualen Beitrag zu zahlen land sprechen . Dies sind alles Belege unserer guten Ar- hat . Das heißt, heutige Arbeitnehmer zahlen die Renten beitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahre . Da- heutiger Rentner, und künftige Arbeitnehmer zahlen die rauf können wir stolz sein . Renten künftiger Rentner . Wenn die Linke also fordert, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass Beschäftigte ihr Sparvermögen in die gesetzliche Rente einzahlen, dann sind es die künftigen Generatio- Diese Entwicklung aber setzt die Linke durch die Forde- nen, die diesen höheren Rentenanspruch mit deutlich hö- rung nach höheren Beiträgen in der Rentenversicherung heren Rentenbeiträgen zu finanzieren haben. aufs Spiel . (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Dafür (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Höhere gibt es keine Riester-Rente!) Leistungen!) Das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht und Natürlich geraten unsere sozialen Sicherungssysteme, kann nicht die Lösung sein . insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, zuneh- mend unter Druck . Weniger Kinder in Deutschland, eine (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . immer älter werdende Gesellschaft, die steigende Le- Birkwald [DIE LINKE]: Dafür fällt Riester benserwartung und damit auch steigende Rentenlaufzei- weg! Ist billiger!) ten führen dazu, dass das Sicherungsniveau der gesetzli- Jetzt sind wir uns dessen, was sich auf den Finanz- chen Rente sinkt . Aber gerade deshalb kann doch nicht märkten abspielt, bewusst . Wir wissen auch, dass wir die die Konsequenz sein, andere Formen der Altersvorsorge Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik, die sich natürlich infrage zu stellen oder gar abzuschaffen . Ziel unserer Po- auch auf die privaten und die betrieblichen Rentenan- litik kann doch nicht sein, Dinge, die sich auch bewährt wartschaften auswirkt, haben, abzuschaffen; vielmehr müssen wir versuchen, (B) Hemmnisse und Hürden zu überwinden und für Verbes- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) serungen zu sorgen . NEN]: Davon profitiert Herr Schäuble ja!) (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Riester schwerlich im Deutschen Bundestag überwinden können . hat sich aber nicht bewährt, Frau Kollegin!) Was wir aber tun können und auch tun werden, ist, die private und die betriebliche Altersvorsorge – dazu zählt Warum ist das so sinnvoll? Weil die private und die be- natürlich auch Riester – wieder attraktiver zu machen . triebliche Altersvorsorge eben zwingende Voraussetzun- gen sind, um Vorsorge individuell und auch krisensicher (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, machen Sie auszugestalten . Dazu zählt natürlich auch die staatliche mal!) Förderung . Dazu müssen Mehrfachbelastungen und Bürokratie ab- (Dr .Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- gebaut werden . Das muss das Ziel unserer Politik sein . NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sicher die Ka- Wir alle hier in diesem Hause tragen Verantwortung pitaldeckung ist, haben wir in den letzten Jah- für eine gute und vor allem eine generationengerechte ren gesehen!) Alterssicherung . Weil das so ist, werden wir den Antrag Die staatliche Förderung ist ein ganz entscheidender der Linken heute ablehnen . Anreiz für die zweite und dritte Säule der Altersvorsor- (Zuruf von der LINKEN: Überraschung!) ge, und beide dienen letztendlich dazu, Vorsorge für die Menschen allumfassend auszugestalten . Deshalb, meine Vielen Dank . Damen und Herren, ist es wichtig, den Menschen mehr Netto vom Brutto zu lassen . So weit zum Grundsatz . (Beifall bei der CDU/CSU)

(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das Vizepräsident Peter Hintze: macht unser Vorschlag! – Markus Kurth Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die letzte ordneten Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion . Fraktion, die das gefordert hat, ist jetzt nicht mehr da!) (Beifall bei der SPD) Jetzt fordern die Kollegen von der Linken, dass die Förderung der privaten Altersvorsorge, also Riester, ab- Cansel Kiziltepe (SPD): geschafft wird und Sparvermögen freiwillig in die ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und setzliche Rente überführt wird . Die gesetzliche Rente ist Kollegen! Sehr geehrte Frau Schimke, ich habe den Ein- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17049

Cansel Kiziltepe (A) druck, dass nicht nur Sie, sondern Ihre gesamte Fraktion des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen, (C) die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten der Alterssiche- dass nur 7 Prozent der Angehörigen des untersten Ein- rung in Deutschland verkennen . kommensdezils, also der untersten Einkommensgruppe, aktuell mit Riester sparen und, wenn man die Gesamt- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) förderung betrachtet, der Anteil noch viel niedriger liegt . Wenn man die Zahlen für 2020 zugrunde legt – da soll (Dr . [CDU/CSU]: In der der Beitragssatz für die Arbeitgeber und auch für die Ar- Theorie war die SPD immer gut, in der Pra- beitnehmer 11 Prozent nicht übersteigen; zugleich soll xis nie! – Heiterkeit des Abg . Matthias W . das Sicherungsniveau in der ersten Säule konstant blei- Birkwald [DIE LINKE]) ben –, dann darf man nicht vergessen, dass die Arbeitneh- mer mit 4 Prozent privat vorsorgen sollen . Was bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die, die es gerade brauchen, erreichen wir mit diesem Instru- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Rich- ment nicht . Und das geht nicht . tig!) Die Defizite der Riester-Rente sind ja vielfach benannt Wenn ich diese Gesamtkosten addiere – 11 Prozent plus worden . Die Bürgerinnen und Bürger erwarten auch Ver- 11 Prozent und 4 Prozent, welche die Arbeitnehmer allei- besserungen . Die staatliche Förderung in diesem Bereich ne tragen –, komme ich auf 26 Prozent . ist nicht gerade klein . Sie umfasst etwa 3 Milliarden Euro (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: So ist pro Jahr . Wir müssen schauen, ob der Fokus verlagert es!) werden kann . Aus meiner bzw . unserer Sicht müssen wir die Riester-Produkte transparenter, einfacher und ren- Ich möchte damit nur zeigen, dass die volkswirtschaftli- diteträchtiger machen . Wir müssen aber auch schauen, chen Gesamtkosten nicht anders sein würden . Es reicht ob wir Fördermittel und staatliche Subventionen auch also nicht aus, hier nur anzuprangern, dass die Renten- anders nutzen können, zum Beispiel, um stärker in die versicherungsbeiträge zu hoch stiegen . betriebliche Altersversorgung zu gehen . (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: So geht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rechnen, Frau Schimke!) Wir möchten die zweite Säule der Alterssicherung – Das sollte keine volkswirtschaftliche Nachhilfestunde stärken . Hier muss es vorrangig darum gehen, gezielt sein . Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu stärken . (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Es war vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD) allen Dingen auch falsch und unvollständig, (B) Frau Kollegin!) Das kann durch ein Obligatorium – dies wurde schon (D) genannt – geschehen, aber auch dadurch, dass man die Ich gebe aber zu bedenken, dass Sie auch das berücksich- Arbeitgeber mit ins Boot holt . tigen sollten . Ein weiterer Fokus muss – wie zum Beispiel in Däne- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mark oder Schweden – auf ein Basisprodukt gelegt wer- LINKEN) den, das staatlich organisiert ist . Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Teilprivati- Eines sollten wir nicht tun, nämlich, wie im Antrag der sierung der Rente war von Anfang an umstritten . Nach Linken gefordert, die bisher für Riester gezahlten Beiträ- 15 Jahren sehen wir, dass die Riester-Rente ihr Ziel nicht ge in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen . erreicht hat . Die Rentenniveauabsenkung konnte nicht ausgeglichen werden . Im Jahr 2015 gab es 16 Millionen (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Frei- Riester-Verträge, aber nur noch in 12 Millionen wird willig!) aktiv eingezahlt – und das bei einer Arbeitnehmerinnen- Damit würden wir weder Vertrauen in die gesetzliche und Arbeitnehmerzahl von 38,5 Millionen . Das war nicht noch in die private Rentenversicherung schaffen . unser Ziel, und das ist auch nicht unser Ziel, liebe Kolle- ginnen und Kollegen . (Beifall des Abg . Dr . Martin Rosemann [SPD]) (Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ja was ist denn schiefgelaufen?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Riester-För- derung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge Die Erwartungen, die mit der Riester-Rente verbunden heutzutage kaum genutzt wird, hängt unter anderem mit waren, haben sich nicht erfüllt . Vielen Menschen gelingt der doppelten Verbeitragung zusammen . es immer weniger, die Rentenlücke zu schließen . Aber generell davon zu sprechen, die Riester-Rente sei ge- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sehr scheitert, ist auch nicht ganz richtig . gut!) Wenn wir ernsthaft über die Probleme der Ries- Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kol- ter-Rente sprechen, dann kommen wir um einen Punkt legen . nicht herum . Es sind nämlich gerade die Haushalte mit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) niedrigem Einkommen, die zwar in der Theorie stark davon profitieren – das war auch unser Ziel –, aber bei Wir diskutieren das in unserer Fraktion, und unsere Ar- denen es in der Realität ganz anders aussieht . Die Zahlen beitsministerin arbeitet daran in ihrem Ministerium . 17050 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Cansel Kiziltepe (A) Die bestehenden steuerlichen Regelungen, die be- müssen wir bei der Riester-Rente reformieren, wie von (C) darfsgerechte Zulagenförderung und der Sonderausga- Rednern schon mehrmals gesagt worden ist . benabzug für Riester-Rentenbeiträge in der bAV müssen ausgeweitet werden . Dazu liegen schon Vorschläge vor . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Geringverdiener sollen auch in diesem Bereich gezielter Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gefördert werden . Das halte ich für eine sinnvolle Refor- NEN]: Ist das derselbe Horst Seehofer, der moption . von Neoliberalisierung gesprochen hat?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Geringverdie- „Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversiche- ner in dieser Debatte zielgenauer gefördert werden müs- rung überführen“ lautet der Titel des Antrags der Links- sen, darüber sind wir uns einig . Daran arbeiten wir . Das fraktion . Lassen Sie mich zu Beginn einige Schlagzeilen Bundesarbeitsministerium wird im Herbst dazu, auch der letzten Tage zitieren . Da hieß es: „Sackgasse Ries- in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium, ter-Rente?“, „Rettung für Riester-Sparer gesucht“, „Die Vorschläge erarbeiten . Aber eines möchte ich an dieser Riester-Rente muss bleiben“ . Damit wird deutlich, dass Stelle noch einmal sagen: Wir dürfen nicht verkennen, wir es mit einem Thema zu tun haben, das kontrovers dass sich das Umlageverfahren im Vergleich zum kapi­ betrachtet werden kann . Diese Pressemitteilungen lassen talgedeckten System als stabiler und krisenfester bewährt für jeden erkennen: Es gibt keine einfache Lösung . hat; das hat die Finanzkrise gezeigt . Wichtig ist hierbei: Wir müssen die Alterssicherung aufgrund der demografischen, gesellschaftlichen und Vizepräsident Peter Hintze: ökonomischen Veränderungen anpassen . Gleichwohl darf dies nicht zulasten jüngerer Generationen gehen . Frau Kollegin . Die gesetzliche Rente im Umlageverfahren ist und bleibt für uns die wichtigste Säule . Dennoch dürfen wir die ka- Cansel Kiziltepe (SPD): pitalgedeckte Vorsorge als zweite und dritte Säule nicht Ich komme zum Ende, Herr Präsident . vernachlässigen . Aufgrund des demografischen Wandels werden je- Vizepräsident Peter Hintze: doch immer weniger Beitragszahler für die Finanzierung der Rente aufkommen . Deshalb ist es unausweichlich, Dazu hätten Sie schon längst kommen müssen . dass die Altersvorsorge auf drei Säulen gestützt wird; Vorredner haben das schon gesagt . Nach Angaben des Cansel Kiziltepe (SPD): Statistischen Bundesamtes wurden in den Jahren 2001 (B) (D) Deshalb möchten wir als SPD-Bundestagsfraktion bis 2015 – darauf möchte ich hinweisen – 16 Millionen eine starke erste Säule in der Alterssicherung, die für Riester-Verträge geschlossen . Diese Zahl könnte durch- eine lebensstandardorientierte Rente sorgt . Unsere Prio- aus höher sein . Dennoch spricht sie gegen eine Abschaf- rität liegt hier . fung der Riester-Rente . Natürlich gibt es auch eine hohe Anzahl von ruhenden Vielen Dank . Verträgen . Auch das muss bei einer ehrlichen Diskussion (Beifall bei der SPD) erwähnt werden . Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass die Riester-Rente kein Wundermittel ist . Die Idee der damaligen Regierung war vielmehr die Schaffung einer Vizepräsident Peter Hintze: weiteren Vorsorge und nicht eine unschlagbare Rendi- Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- teoptimierung . Es war vor allem die Intention, neben ein- ordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion . kommensschwachen Steuerpflichtigen auch kinderreiche Familien zu unterstützen . So lautete die Aussage 2001, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn ich mich richtig erinnere . Seit der Einführung der Riester-Rente haben – um Matthäus Strebl (CDU/CSU): auch das einmal zu erwähnen – über 2 000 Anbieter rund Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und 4 300 Produkte entwickelt . Zweifelsfrei gibt es dabei Kollegen! Frau Kollegin vom geschätzten Koalitions- auch Probleme: Die Riester-Rente ist, wie viele Kri- partner SPD, die gerade gesprochen hat, zeitweise dach- tiker bemängeln, ein sehr komplexes System mit einer te ich, Sie sprächen über die Riester-Rente und Walter Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten, für das Riester habe ehemals der CDU/CSU-Fraktion angehört . Alter vorzusorgen . Da müssen wir ansetzen . Seit der So ist es aber nicht . Ich kann mich noch gut daran erin- Wirtschafts- und Finanzkrise ist das Vertrauen in Finanz- nern, dass hier in diesem Haus 2001 – ich gehörte schon dienstleistungen erheblich gesunken . Auch die mitunter damals dem Deutschen Bundestag an – über die Ries- hohen Abschluss- und Verwaltungskosten lassen den ter-Rente in zweiter und dritter Lesung debattiert worden Unmut über Riester-Sparverträge noch steigen . Viele ist . Walter Riester saß damals auf der Regierungsbank, Kunden bemängeln besonders die fehlende Transparenz und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach hier über die tatsächlichen Kosten, und durch die seit Jahren Horst Seehofer . Er wies damals auf die Schwierigkeiten andauernde Niedrigzinsphase ist die kapitalgedeckte Al- hin . Heute wissen wir, dass wir in der Breite nicht das tersvorsorge natürlich weniger attraktiv als noch bei der erreicht haben, was wir erreichen wollten . Deswegen Einführung 2002 . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17051

Matthäus Strebl (A) Diese Einwände kann ich ohne Zweifel nachvollzie- Dr. Martin Rosemann (SPD): (C) hen . Vergessen dürfen wir aber bei dieser Diskussion Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht, dass Renditen langfristig betrachtet werden müs- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will in die- sen . Die Riester-Rente ist – da stimme ich den Antrag- ser Debatte noch einmal vier Punkte deutlich machen . stellern ausnahmsweise zu – umstritten; aber die Ab- schaffung der Riester-Rente, werter Kollege Birkwald, Erster Punkt . Es ist ja mehrfach der Blick in andere halte ich für falsch . Allerdings stimme ich zu, wenn For- Länder angesprochen worden . Ich bin immer sehr da- derungen nach der Vereinfachung der Riester-Rente und für, dass wir uns anschauen, was in anderen Ländern gut den Förderungsbedingungen laut werden, so wie es der läuft, dass wir etwas von anderen Ländern lernen, dass Kollege Peter Weiß bereits gesagt hat . Eine Optimierung wir über den Tellerrand hinausschauen . Aber wir sollten halte ich deshalb für geboten und unausweichlich . dann auch sehr genau hinschauen und fragen, was viel- leicht nicht so leicht übertragbar ist und was da passiert . Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak- tion, bei aller berechtigten Kritik an der Riester-Rente Insofern will ich gerne etwas zu Österreich sagen . halte ich Ihren Antrag für falsch . Sie fordern die Mög- Wenn Sie sich das österreichische System genau an- lichkeit einer freiwilligen Überführung der Riester-Pro- schauen, Herr Birkwald, dann werden Sie feststellen: Die dukte in die gesetzliche Rentenversicherung . Zunächst Österreicher zahlen – das hat Herr Kurth vorhin schon stellt sich die Frage: Wie wollen Sie die Abschaffung den gesagt – deutlich höhere Beiträge zur Rentenversiche- Menschen erklären, die auf die Einhaltung der Verträge rung, sie zahlen gleichzeitig deutlich geringere Beiträge vertrauen, genau den Menschen, die im Vertrauen auf die in die Krankenversicherung . Dafür gibt es einen höheren staatliche Förderung die Riester-Verträge geschlossen Steuerzuschuss . Der Hauptpunkt aus meiner Sicht ist, haben? dass die Österreicher vor etwas mehr als zehn Jahren die Selbstständigen und Beamten in die Rentenversicherung (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die einbezogen haben. Das finde ich auch richtig. können sie ja weiterführen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Diese Menschen sollen also dann keine staatliche Förde- LINKEN) rung für ihre Verträge mehr erhalten . Aber sie haben es so gemacht, dass die zusätzlich ein- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Dann genommenen Beiträge jetzt unmittelbar in Form höherer kriegen sie eine höhere gesetzliche Rente!) Leistungen ausgezahlt werden . Es gibt also zusätzliche Beitragszahler, denen im Moment aber keine zusätzli- Neben dem Vertrauensschutz auf staatliche Förderung chen Empfänger gegenüberstehen . Das nutzen die Ös- der Riester-Sparer spricht die Vermischung zweier unter- terreicher, um damit das System im Moment stabil zu (B) schiedlicher System gegen Ihren Antrag . Die heutigen (D) halten, und verschieben damit aber die Lasten auf die Beschäftigten zahlen im Laufe ihres Erwerbslebens regel- Zukunft . Das halte ich für falsch . mäßig Beiträge ein . Durch das Umlageverfahren werden die Beitragsleistungen, wie wir wissen, für die Renten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahlungen an die Rentnerinnen und Rentner verwendet . der CDU/CSU) Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten im Gegenzug für ihre Beiträge einen Anspruch auf Rente Zweiter Punkt . Ich will auch einmal ganz deutlich ma- im Alter, der dann von der nachfolgenden Beitragszahl- chen: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- ergeneration finanziert wird. Wenn die Riester-Rente in ten ist die gesetzliche Rente die zentrale Säule unseres die gesetzliche Rentenversicherung überführt wird, dann Alterssicherungssystems. Ich finde, da müssen wir uns werden die heutigen Rentnerinnen und Rentner durch überhaupt nicht verstecken . Gerade in diesem Jahr haben die höheren Beitragseinnahmen erheblich profitieren, die wir Rentensteigerungen von 5 Prozent im Osten und über nachfolgenden Generationen jedoch benachteiligt . Ihren 4 Prozent im Westen . Vorschlag bewerte ich deshalb als systemwidrig . Ebenso (Beifall bei der SPD) widerspricht er der Generationengerechtigkeit . Ich finde, da kann man erst einmal sagen: Die Rentenver- Ich bin davon überzeugt, dass die Riester-Rente blei- sicherung in Deutschland steht gut da . ben muss; denn sie hat Potenzial . Dieses Potenzial, mei- ne sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten wir (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!) nutzen . Wir lehnen daher den Antrag der Linksfraktion Natürlich müssen wir die gesetzliche Rente für die Zu- ab . kunft stärken . Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht, Herzlichen Dank . dass wir eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, vor allem eine gute Entwicklung bei der sozialversiche- (Beifall bei der CDU/CSU) rungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland haben. Deswegen ist Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Vizepräsident : die wichtigste Rentenpolitik, meine Damen und Herren . Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Dr . Martin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rosemann . der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen arbeiten wir an Baustellen wie der Stärkung der CDU/CSU) der Tarifbindung, Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von 17052 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Martin Rosemann (A) Frauen, Integration von Flüchtlingen in den Arbeits- che Altersvorsorge stärken wollen, dass wir einen deut- (C) markt, Förderung von Langzeitarbeitslosen und Gering- lich höheren Verbreitungsgrad erreichen wollen und dass qualifizierten. wir die Sozialpartner stärken wollen . Es kommt aus meiner Sicht ein zweiter Punkt hinzu . (Beifall bei der SPD) Wenn wir das System der gesetzlichen Rente stärken Damit erhöhen wir die Verbindlichkeit . Damit erreichen wollen – und wir wollen das –, dann müssen wir gesamt- wir mehr Beschäftigte, vor allem auch in kleinen und gesellschaftliche Aufgaben – dazu gehört für mich auch mittleren Betrieben, dadurch reduzieren wir Vertriebs- die Mütterrente – konsequent über Steuern finanzieren. und Verwaltungskosten, damit ermöglichen wir optima- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Markus lere Anlagestrategien . Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Ich sage auch: Wir Sozialdemokraten setzen dabei we- Hört!) niger auf Entgeltumwandlung und mehr auf arbeitgeber- – Ja . Ich sage das in Richtung des Koalitionspartners, finanzierte Betriebsrentenmodelle. und das weiß er auch . (Beifall bei der SPD) Zur Stärkung der ersten Säule gehört aber auch eines Wir halten nach den Erfahrungen der vergangenen zehn ganz klar: Wer sein Leben lang gearbeitet hat und Leis- Jahre eine gesetzliche Verpflichtung für sinnvoll. tungen erbracht hat, der darf am Ende des Erwerbslebens nicht weniger als die Grundsicherung haben . Mein Fazit: Ich finde, wir sollten uns dieser histori- schen Aufgabe gemeinsam annehmen und gemeinsam (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dafür sorgen, dass sich die Altersvorsorge weiterentwi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl ckelt und dass sich die betriebliche Altersvorsorge von Schiewerling [CDU/CSU]: Da bin ich auch einem Instrument der betrieblichen Personalpolitik zu für!) einem Instrument der Sozialpolitik weiterentwickelt . Dritter Punkt . Wir brauchen natürlich Antworten auf Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . die Herausforderungen des demografischen Wandels – die niedrige Geburtenrate und vor allem die ständig stei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gende Lebenserwartung . Dazu gehört aus meiner Sicht, der CDU/CSU) dass wir die Lasten gerecht zwischen den Generationen verteilen und dass wir die Finanzierung der Alterssiche- Vizepräsident Johannes Singhammer: rung tatsächlich auf mehrere Säulen stützen . Auch ein Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die (B) internationaler Vergleich, wie ihn viele hier gezogen ha- Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU . (D) ben, zeigt, dass das Sicherungsniveau in den Ländern am höchsten ist, die einerseits eine starke erste gesetzliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Säule haben und andererseits mindestens eine zweite ka- pitalgedeckte Säule . Das war ja auch der Grund für die Anja Karliczek (CDU/CSU): Einführung der Riester-Rente . Meine Damen und Her- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten ren, diese Überlegung bleibt auch richtig . Kolleginnen und Kollegen! Liebe Linke! Den Antrag, (Beifall der Abg . Anja Karliczek [CDU/ den Sie uns heute vorlegen, können Sie nicht wirklich CSU]) ernst meinen . Ich will an der Stelle deutlich sagen: Alle, die Ries- (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Doch!) ter-Verträge abgeschlossen haben, haben richtig gehan- – Nein . – Die Linke will ein Instrument, das ganz gezielt delt . Es gilt das, was Bundesarbeitsministerin Andrea Kleinstverdienern und auch Kleinstverdienern mit Kin- Nahles gesagt hat – ich zitiere –: dern überproportional unter die Arme greift, nicht refor- Der Staat garantiert, dass alle Riester-Inhaber ihr mieren – eine Reform kann ich mir ja noch vorstellen –, Geld ausgezahlt bekommen . Auch für die staatli- sondern abschaffen . Ihr Antrag zeugt entweder von blin- chen Zulagen gibt es Vertrauensschutz, die zahlt der der Ideologie oder von Unkenntnis in der Sache . Alles, Staat weiterhin . was Sie vortragen, blendet den demografischen Wandel aus . Auch von der Tatsache, dass zwei Drittel der Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lagenempfänger ein Bruttoeinkommen von weniger als der CDU/CSU) 30 000 Euro haben, habe ich hier noch nichts gehört . Vierter und letzter Punkt . Natürlich ist die Kritik – (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben es ange- hätten alle mehr von einer höheren gesetzli- sprochen – nicht von der Hand zu weisen: Wir haben chen Rente!) Probleme bei der Ausgestaltung der Riester-Rente, mit Sie verunsichern die Menschen in unserem Land immer Intransparenz, mit hohen Vertriebs- und Verwaltungskos- wieder mit unausgereiften Ideen, ohne eine nachhaltige ten, mit in der Regel wenig rentablen Anlagestrategien . Lösung, wie wir der Herausforderung des demografi- Daran müssen wir arbeiten . Wir müssen die kapitalge- schen Wandels begegnen können, zu nennen . deckte Altersvorsorge in Deutschland weiterentwickeln . Unser Ansatzpunkt ist – das hat Ralf Kapschack gesagt, (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . das hat Cansel Kiziltepe gesagt –, dass wir die betriebli- Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben es Ihnen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17053

Anja Karliczek (A) vorgerechnet! Deutlich günstiger als Riester! Eine lebensstandardsichernde Rente aber würde unse- (C) Haben Sie nicht zugehört?) re Kinder überfordern . – Ich habe gut zugehört . (Zuruf der Abg . Kathrin Vogler [DIE LIN- KE]) Unsere umlagefinanzierte Rente, der Sie alle Heraus- – Sie sind ganz schön aufgeregt .– Deswegen haben wir forderungen der Zukunft aufs Auge drücken wollen, vor 15 Jahren begonnen, eine zusätzliche kapitalgedeck- kommt aus einem Dilemma nicht heraus: Spätestens ab te Vorsorge zu unterstützen . Diesen Zusammenhang end- dem Jahr 2029 gehen die Babyboomer in Rente . Das ist lich einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist die Basis für eine die Zeit, in der auf anderthalb Beitragszahler ein Rentner ehrliche Diskussion darüber, wie es weitergehen soll . kommt. Umlagefinanziert bedeutet das, dass anderthalb Dann kommen wir auch ganz schnell zu der Erkenntnis, Beitragszahler einen Rentner finanzieren müssen. dass wir den Aufbau einer kapitalgedeckten Vorsorge in- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: An- tensiver unterstützen müssen . Es geht nicht um das Ent- derthalb stimmt nicht! Es sind zwei!) weder-oder – umlagefinanziert oder kapitalgedeckt? –, sondern um das Sowohl-als-auch . Das ist hier das Thema . Dass es unserer umlagefinanzierten Rente heute gera- (Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler de gut geht, das bestreitet niemand . Aber woran liegt das [DIE LINKE]: Wie soll man bei 17 000 Euro denn? Es liegt daran, dass wir erstens in unserem schö- Jahresverdienst noch was zurücklegen?) nen Land so viele sozialversicherungspflichtige Arbeits- plätze wie noch nie haben Wir brauchen die umlagefinanzierte Rente als Basis unserer Altersabsicherung und mindestens eine kapital- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Zu wenig!) gedeckte Säule . Den immer weniger werdenden jungen Menschen dürfen wir nicht die Finanzierung der Rente und dass zweitens die Lohnsteigerungen in der letzten der immer größer werdenden Zahl von Rentnern auf- Zeit so hoch waren . bürden . Deshalb wollen wir gerade den Menschen mit Die Wirtschaft floriert, und daran sollen alle teilhaben. kleinen Einkommen dabei helfen – das ist unser obers- Deshalb bekommen unsere Rentner ab 1 . Juli eine saftige tes Ziel –, dass auch sie eine anständige Rente erreichen Rentenerhöhung . können . Ich könnte gut verstehen, wenn Sie heute sagen wür- (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . den: Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Ries- Birkwald [DIE LINKE]: Tut die gesetzliche ter-Sparen in Zeiten niedriger Zinsen attraktiver machen Rente ja nicht mehr! Das ist ja das Problem! (B) können . Wie können wir Vertrauen zurückgewinnen, das (D) Das Rentenniveau sinkt!) im Zuge der Finanzkrise und durch das Verhalten man- So hat es sich schon Ludwig Erhard vorgestellt, und so cher Anbieter verloren gegangen ist? Das sind die rich- funktioniert es bis heute . tigen Fragen .

(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie Vizepräsident Johannes Singhammer: erzählen hier Unsinn! – Gegenruf der Abg . Frau Kollegin Karliczek, gestatten Sie eine Zwischen- Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist frage? kein Unsinn! Das passt doch!)

Dank umfangreicher Rentenreformen in den vergan- Anja Karliczek (CDU/CSU): genen Jahren steht die soziale Absicherung, die umla- Nein, ich rede erst zu Ende . Die Kollegin kann gleich gefinanzierte Rente, auf soliden Füßen. Wir können uns etwas sagen . darauf verlassen, dass das System funktioniert . Darauf können wir sehr stolz sein . Eigene Vorsorge für das Alter muss selbstverständli- cher werden; nur so können wir dauerhaft und langfristig (Beifall bei der CDU/CSU) steigende Altersarmut verhindern . Das muss sich eben auch für Geringverdiener lohnen . Wer vorsorgt, muss Die Sorgen, über die wir heute reden, liegen in der mehr haben als der, der es nicht tut . Das muss das Maß Zeit nach 2030 . Dann gehen 1,3 Millionen Menschen in unserer Bemühungen sein . den Ruhestand; Gott sei Dank oft recht fitte Menschen, die dann noch auf einige Jahre erfüllten Ruhestand hof- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fen dürfen . In den Arbeitsmarkt hinein kommen aber nur Deshalb kann es zum Beispiel eine Möglichkeit sein, knapp halb so viele junge Menschen . Eine immer kleiner einen Freibetrag auf die Grundsicherung einzurichten für werdende Gruppe von Beitragszahlern muss dann die alle diejenigen, die kapitalgedeckt Eigenvorsorge leisten . Rente für immer mehr Rentner erwirtschaften . Das ist Dann schaffen wir Mehrwert gerade für die Menschen in die Perspektive. So funktioniert unsere umlagefinanzier- unserer Gesellschaft, die die Hilfe am nötigsten haben . te gesetzliche Rente . Eine weitere richtige Frage ist die nach dem Umgang (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Haben mit den niedrigen Zinsen . Wenn Zinsen keine Ertrags- Sie schon etwas von Produktivitätssteigerung quelle mehr sind, weil sie so niedrig sind, dann ist zu gehört?) fragen: Wie können wir Menschen über die Altersvorsor- 17054 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Anja Karliczek (A) ge einen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung in Überweisungsvorschlag: (C) unserem Land zukommen lassen, ohne dem Einzelnen Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ein hohes Risiko zumuten zu müssen? Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Das, was Sie machen, ist billig . Es verunsichert gera- schätzung de die Menschen, die eine kapitalgedeckte Vorsorge am d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ nötigsten haben . Es ist in der aktuellen Situation sogar CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines brandgefährlich . Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fi- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie nanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Ta- führen doch die Leute hinter die Fichte!) gesbetreuung für Kinder und des Kinderbe- treuungsfinanzierungsgesetzes Noch eine Bemerkung am Rande . Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf eine Aussage des bayerischen Minister- Drucksache 18/8616 präsidenten . Dazu kann ich nur sagen: Wir sind alle Men- Überweisungsvorschlag: schen . Menschen sind nicht unfehlbar, Menschen können Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) irren . Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen . Finanzausschuss Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birkwald [DIE LINKE]: Seehofer irrt sich! Dr .Alexander S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan Das haben wir jetzt amtlich! Dann hat die van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- Rede doch noch etwas gebracht!) tion DIE LINKE

Vizepräsident Johannes Singhammer: Keine Verlegung von -Einheiten Damit schließe ich die Aussprache . nach Litauen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8608 Drucksache 18/8610 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag: führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- Verteidigungsausschuss (f) verstanden? – Widerspruch sehe ich keinen . Dann ist die Auswärtiger Ausschuss Überweisung so beschlossen . f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 g gierung sowie den Zusatzpunkt 2 auf: Nationaler Implementierungsplan zur Umset- (B) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung zung der EU-Jugendgarantie in Deutschland (D) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Drucksache 18/1108 derung des Umweltstatistikgesetzes und des Überweisungsvorschlag: Hochbaustatistikgesetzes Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/8341 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- schätzung heit (f) Ausschuss für Tourismus Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Wirtschaft und Energie g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem (18 .Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsord- Abkommen vom 17. Dezember 2015 zwischen nung der Bundesrepublik Deutschland und Japan zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf Technikfolgenabschätzung (TA) dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Bilanz der Sommerzeit bestimmter anderer Steuern sowie zur Verhin- derung der Steuerverkürzung und -umgehung Drucksache 18/8000 Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/8516 Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Finanzausschuss (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- heit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- zung der Richtlinien (EU) 2015/566 und (EU) schätzung 2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierung Ausschuss für Tourismus menschlicher Gewebe und Gewebezuberei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union tungen ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Paus, Drucksache 18/8580 Christian Kühn (Tübingen), Kerstin Andreae, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17055

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Tagesordnungspunkt 32 c: (C) NIS 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Spekulation mit Immobilien und Land been- onsausschusses (2 .Ausschuss) den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah- men durch Share Deals Sammelübersicht 314 zu Petitionen Drucksache 18/8617 Drucksache 18/8412 Überweisungsvorschlag: Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Finanzausschuss (f) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Innenausschuss übersicht 314 ist damit angenommen mit den Stimmen Ausschuss für Wirtschaft und Energie von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- heit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke . Dabei handelt es sich um Überweisungen im verein- Tagesordnungspunkt 32 d: fachten Verfahren ohne Debatte. Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an onsausschusses (2 .Ausschuss) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Sammelübersicht 315 zu Petitionen überweisen . Die Vorlage auf der Drucksache 18/8608 zu Tagesordnungspunkt 31 e soll federführend im Ver- Drucksache 18/8413 teidigungsausschuss beraten werden . Gibt es dagegen Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann sind diese Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Überweisungen so beschlossen . übersicht 315 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 i sowie angenommen . die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf . Es handelt sich dabei Tagesordnungspunkt 32 e: um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist . Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- onsausschusses (2 .Ausschuss) Tagesordnungspunkt 32 a: Sammelübersicht 316 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Drucksache 18/8414 (D) gie (9 .Ausschuss) zu der Verordnung der Bun- desregierung Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Sechste Verordnung zur Änderung der Au- übersicht 316 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und ßenwirtschaftsverordnung SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent- haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen . Drucksachen 18/7992, 18/8129 Nr. 2, 18/8276 Tagesordnungspunkt 32 f: Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8276, Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/7992 onsausschusses (2 .Ausschuss) nicht zu verlangen . Wer für diese Beschlussempfehlung Sammelübersicht 317 zu Petitionen des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzei- chen .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Drucksache 18/8415 Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke . Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- übersicht 317 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des angenommen . Petitionsausschusses . Tagesordnungspunkt 32 g: Tagesordnungspunkt 32 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- onsausschusses (2 .Ausschuss) onsausschusses (2 .Ausschuss) Sammelübersicht 318 zu Petitionen Sammelübersicht 313 zu Petitionen Drucksache 18/8416 Drucksache 18/8411 Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- übersicht 318 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und übersicht 313 ist damit mit den Stimmen des gesamten SPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen Hohen Hauses angenommen . von Bündnis 90/Die Grünen angenommen . 17056 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) Tagesordnungspunkt 32 h: Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (C) KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16 Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- onsausschusses (2 .Ausschuss) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Sammelübersicht 319 zu Petitionen Grundgesetzes Drucksache 18/8417 Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammel- ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab- übersicht 319 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD lehnen und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Drucksachen 18/8243, 18/8643 Fraktion Die Linke angenommen . Zusatzpunkt 3 a . Der Ausschuss für Recht und Ver- Tagesordnungspunkt 32 i: braucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- auf Drucksache 18/8642, den Gesetzentwurf der Bun- onsausschusses (2 .Ausschuss) desregierung auf Drucksache 18/8211 anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Sammelübersicht 320 zu Petitionen len, um das Handzeichen .– Wer stimmt dagegen? – Wer Drucksache 18/8418 enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Enthaltung der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/ Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel- Die Grünen angenommen . übersicht 320 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Dritte Beratung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen . und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- setzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und von setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015 Bündnis 90/Die Grünen angenommen . zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 3 b . Der Aus- (B) Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf (D) in Strafsachen Drucksache 18/8643, den Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8243 abzulehnen . Drucksache 18/8211 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die ses für Recht und Verbraucherschutz (6 .Aus - Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von schuss) CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen . Drucksache 18/8642 Damit kommen wir jetzt zu den Tagesordnungspunk- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ten 7 a und 7 b, die ich hiermit aufrufe: richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (19 .Ausschuss) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Dr .Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg), Gesetzes zur Änderung des Telemediengeset- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- zes NIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 18/6745 zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- tes über die Unterzeichnung und die vorläufi- ses für Wirtschaft und Energie (9 .Ausschuss) ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts- abkommens zwischen der Europäischen Drucksache 18/8645 Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- und den SADC-WPA-Staaten andererseits neten Dr .Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16 Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Herbert zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Behrens, Dr .Petra Sitte, weiteren Abgeordneten Rates über die Unterzeichnung und die und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- vorläufige Anwendung des Wirtschafts- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tele- partnerschaftsabkommens zwischen den mediengesetzes – Störerhaftung Partnerstaaten der Ostafrikanischen Ge- meinschaft einerseits und der Europäischen Drucksache 18/3047 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17057

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- zungen Dritter in Haftung genommen zu werden, so wie (C) ses für Wirtschaft und Energie (9 .Ausschuss) dies bisher leider der Fall gewesen ist . Wir brauchen die- se Hotspots auch in Cafés, in Bibliotheken, in Schulen, Drucksache 18/3861 auf den Marktplätzen dieser Republik und überall dort, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für wo sich Tourismus in Deutschland entwickelt und sich diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch Gäste mithilfe des Internets über ihr jeweiliges Umfeld höre ich keinen . Dann ist das somit beschlossen . informieren wollen, beispielsweise wenn sie hier in Ber- lin unterwegs sind . Wir schaffen Rechtssicherheit, meine Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Damen und Herren, die alle Betreiber brauchen, egal ob ner das Wort dem Kollegen Marcus Held für die SPD . Freifunk-Initiativen, Handelsverbände oder unsere Kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten munen, die sich ja seit vielen Wochen und Monaten mit der CDU/CSU) dem Ziel befassen, öffentliche Hotspots intensiver auszu- bauen und zu installieren . Marcus Held (SPD): Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Malu Dreyer beispielsweise hat sich zum Ziel gesetzt, Damen und Herren! In dieser Woche hatte ich eine Schü- 1 000 Hotspots in Rheinland-Pfalz zu installieren und lergruppe hier im Bundestag in Berlin zu Gast, so wie dafür zu sorgen, dass alle öffentlichen Gebäude, die ei- hier heute sicherlich auch einige zugegen sind . Sie ka- nen Internetanschluss haben, auch einen öffentlichen men aus Polen, genauer gesagt aus Koscian, dem Part- WLAN-Zugang um- bzw . einbauen müssen . Das ist vor- nerlandkreis des Landkreises Alzey-Worms in meinem bildlich . Ich möchte an dieser Stelle, auch wenn auf der Wahlkreis . Bundesratsbank niemand sitzt, alle Bundesländer auffor- dern, diesem positiven Beispiel – dieses Ziel kann auf- (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE grund unserer Gesetzesänderung nämlich noch leichter GRÜNEN]: Und hatten kein WLAN!) umgesetzt werden – nachzueifern . Als ich versucht habe, meine aktuellen Tätigkeitsfelder Wir haben in der Koalition sehr lange über dieses The- im Bundestag zu beschreiben, scheiterte es an der Über- ma diskutiert . Wir, die SPD, hätten es gerne schon viel setzung des Begriffs der WLAN-Störerhaftung . Ich ver- früher abgeschlossen . Aber wir können heute im Ergeb- suchte es dann ein bisschen anders und habe gefragt: Wie nis sagen: Es gibt keine Zwischenlösungen; sie alle sind sieht es aus, kennt ihr es, dass ihr auf eurem Smartphone vom Tisch . Es wird keine Vorschaltseiten und keine Pass- ein Kennwort eingeben müsst, wenn ihr euch über einen wortpflicht geben. Die heutige Gesetzesänderung fördert Hotspot ins Internet einwählen wollt? Da rief dann die echtes freies WLAN . (B) Lehrerin gleich: Nein, das kennen wir in Polen nicht, (D) aber wenn wir in Alzey in Deutschland sind, dann müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen wir das regelmäßig tun . der CDU/CSU) (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Neben dem WLAN möchte ich noch kurz auf § 10 GRÜNEN]: Ja!) unseres Entschließungsantrages eingehen . Unser Ziel ist es, gegenüber Internetplattformen, deren Geschäfts- Diesen Zustand wollen wir mit der heutigen Gesetzesän- modell im Wesentlichen auf der Verletzung von Urhe- derung beenden . berrechten beruht, wirksam vorgehen zu können und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Recht durchzusetzen . Diese Diensteanbieter sollen sich der CDU/CSU) nicht länger auf das Haftungsprivileg, welches sie als Host-Provider genießen, zurückziehen können und ins- Mit der Änderung des Telemediengesetzes sorgen wir besondere keine Werbeeinnahmen mehr erhalten . heute dafür, dass in Deutschland endlich gleiche Mög- lichkeiten und gleiche Chancen bestehen wie in anderen Jetzt hoffen wir gemeinsam, dass das Gesetz auch for- europäischen Ländern schon seit vielen Jahren . Denn wir mell schnell wirksam wird . Denn am dritten Wochenende sind das einzige Land in Europa und vielleicht sogar in im September ist in Alzey Winzerfest; dann kommen die der Welt, das über eine solche längst überholte Regelung Schüler aus Koscian wieder . Spätestens dann sollen sie verfügt . kein Passwort mehr eingeben müssen . (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Danke schön . GRÜNEN]: Unfassbar!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Heute machen wir hier im Deutschen Bundestag endlich den Weg frei für offene WLAN-Netze und – das ist rich- Vizepräsident Johannes Singhammer: tig und wichtig – für eine moderne digitale Infrastruktur Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin in unserem Land . Dr . Petra Sitte . (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN]: Leider nicht!) Künftig haben Private die Möglichkeit, ihre Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): WLAN-Router zu öffnen und sie so zu echten Hotspots Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich zu machen, und das ohne die Gefahr, für Rechtsverlet- hatte die Hoffnung, dass wir uns heute zum letzten Mal 17058 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Petra Sitte (A) mit dem Problem der Störerhaftung bei offenen WLANs auch für WLAN-Anbieter gilt . Nur ist das leider auch (C) beschäftigen . schon nach jetzigem Recht so . (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wäre es!) GRÜNEN]: So ist es!) Was Sie heute vorschlagen, geht zum Teil in die richtige Dumm nur, dass nach der Rechtsprechung des Bundes- Richtung . Aber den entscheidenden Knoten, von dem Sie gerichtshofes die Haftungsprivilegierung des § 8 Teleme- gerade selbst gesprochen haben, lösen Sie leider nicht . diengesetz gerade nicht für Unterlassungsansprüche gilt . (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Was wäre wirklich nötig? Wir Linken und die Bünd- Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nisgrünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der GRÜNEN]) umfassende Rechtssicherheit garantieren würde . Ja, es gibt Verbesserungen gegenüber dem, was ur- sprünglich geplant war . Zum Glück verzichten Sie bei- (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE spielsweise auf irgendwelche Pflichten für WLAN-An- GRÜNEN]: Wegweisend!) bieter wie nutzlose Vorschaltseiten . Vernünftigerweise Er basiert auf einem Vorschlag des Vereins Digitale Ge- verzichten Sie auch darauf, die Haftungsprivilegien für sellschaft . Host-Provider zu schleifen . Die heftige Kritik, die an den ursprünglichen Plänen geäußert wurde, scheint also – zu- Wenn Sie meinen – so verbreiten Sie es ja auch in mindest teilweise – angekommen zu sein . Aber Ihr Vor- den sozialen Netzwerken –, dass die Erwähnung dieses schlag – da muss ich Ihnen widersprechen – ändert de Themas in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs aus- facto nichts am heutigen Problem der Störerhaftung . reicht, kann ich Ihnen nur entgegnen, dass der für Ur- heberrechtsfragen zuständige I .Zivilsenat des Bundes- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Was?) gerichtshofs immer wieder ausdrücklich erklärt hat, dass Der entscheidende Knackpunkt ist nämlich der soge- eine Erwähnung in der Begründung nicht genügt, wenn nannte Unterlassungsanspruch . dies keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzestext findet. (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Bisher können Rechteinhaber bzw . deren Anwaltskanz- leien vom Rechteverletzer eine Erklärung verlangen, Die Linke hat einen solchen Gesetzentwurf sogar dass eine angeblich getätigte rechtswidrige Handlung (B) schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht . Wir (D) künftig ausbleibt . Bei Zuwiderhandlung wird dann nicht hätten also bereits seit drei Jahren Rechtssicherheit haben selten eine saftige Geldstrafe fällig . können – aber das nur einmal nebenbei . (Christian Flisek [SPD]: „Vertragsstrafe“ Wir wollen ganz explizit die Haftungsfreistellung heißt das!) auch für gewerbliche und nichtgewerbliche WLAN-An- Nach derzeitiger Rechtsprechung können solche An- bieter festschreiben und sie insbesondere auf Ansprüche sprüche auch gegen WLAN-Anbieter erhoben werden . auf Unterlassung ausweiten . Dann kann kein Gericht die- Es kann also von einer WLAN-Anbieterin verlangt ses Landes mehr auf die Idee kommen, hier anders zu ur- werden, eine mögliche rechtswidrige Handlung eines teilen – und es wird weitere Rechtsstreite geben . Das ist WLAN-Nutzers zu unterbinden . Dies ist insbesondere für diejenigen, die auf die offenen WLANs warten, ex- für private WLAN-Anbieter, wie wir alle wissen, kaum trem wichtig . Auch für die Anbieter ist es extrem wichtig . zu kontrollieren . Die Experten raten deshalb, die Haf- Dazu müssten Sie allerdings dem von den Grünen und tungsfreistellung von WLAN-Betreibern explizit auf die uns vorgelegten Vorschlag Ihre Stimme geben . Ich hoffe, Unterlassungsansprüche auszuweiten . dass das bei Ihnen auch in irgendeiner Weise seinen Nie- (Marcus Held [SPD]: Was? Das stimmt doch derschlag findet; denn wir müssen davon ausgehen, wie alles gar nicht!) ich anfangs gesagt habe, dass wir uns weiter mit diesem Thema beschäftigen werden, weil weitere Rechtsstreite Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie- folgen – was sehr schade ist, da man die Chance hatte, rung war das auch noch vorgesehen . An genau dieser hier etwas zu ändern . Stelle haben die Kolleginnen und Kollegen der Koali- tionsfraktionen aber gegen den Gesetzentwurf der Bun- Besten Dank . desregierung gearbeitet; Sie haben das nämlich wieder gestrichen . So werden nach Ihrem Vorschlag weiterhin (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- WLAN-Anbieter für die Handlungen ihrer Nutzer haft- NIS 90/DIE GRÜNEN) bar gemacht werden . (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Völlig Vizepräsident Johannes Singhammer: falsches Rechtsverständnis! – Marcus Held Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der [SPD]: Warum das denn?) Kollege Axel Knoerig . Sie wollen zwar klarstellen, dass die Haftungsprivile- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gierung nach § 8 des Telemediengesetzes grundsätzlich ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17059

(A) Axel Knoerig (CDU/CSU): serer Regelung haben wir eine ausgewogene Balance (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dieser Grundrechte erzielt . WLAN-Betreiber, Nutzer und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die- Rechteinhaber werden gleichermaßen berücksichtigt, se Abstimmung heute hat schon eine gewisse – in Anfüh- und das bei einer praktikablen Handhabung . rungsstrichen – „historische“ Bedeutung; denn wir ebnen Meine Damen und Herren, damit erfüllen wir den den Weg für freies WLAN in der Bundesrepublik . Koalitionsvertrag . Darin steht auch, dass wir die Bür- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ger über die Risiken, die mit der Nutzung offener Netze verbunden sind, aufklären . Ich möchte darauf hinweisen, In ganz Deutschland soll es künftig offene Netze ge- dass man sensible Daten, etwa beim Onlinebanking, nur ben. Damit wird der flächendeckende Internetausbau in privaten Netzen abrufen sollte . Ebenso sind E-Mails weiter beschleunigt . Gerade für die ländlichen Regionen zu verschlüsseln . Wir müssen – auch das haben wir im ist das besonders wichtig . Als jemand, der aus dem länd- Koalitionsvertrag festgehalten – diese grundlegenden lichen Raum kommt, sage ich das bewusst immer wieder . IT-Kompetenzen in der Zukunft noch stärker vermitteln . Wir haben immer noch viel zu viele Gemeinden, in denen die insbesondere für Downloads entscheidenden Bitraten Im Regierungsentwurf war vorgesehen, die Haftung nur sehr gering sind und in weiten Teilen sogar das Mo- von Plattformbetreibern zu regeln . Da haben wir ganz bilfunknetz nur sehr unzureichend ausgebaut ist . klar gesagt: Das muss auf europäischer Ebene geregelt werden . Das betrifft besonders Geschäftsmodelle, die im Wir ergänzen dies durch eine bundesweite Breit- Wesentlichen auf Verletzung von Urheberrechten beru- bandförderung, insbesondere durch das geplante Digi- hen . Diesen Plattformen muss schlichtweg der Geldhahn Netz-Gesetz zur Beschleunigung des Glasfaserausbaus . zugedreht werden . Sie dürfen keine Werbeeinnahmen Wir müssen nämlich die weißen Flecken auf unserer mehr kassieren . Landkarte bis 2018 ausradieren . Das wird auch gelingen, Meine Damen und Herren, diese Änderungen beim und zwar auch durch das WLAN . Telemediengesetz werden gewiss nicht die letzten sein . Damit ist eine gute Nachricht für alle Hoteliers und Der digitale Wandel wird weiterhin rechtliche Anpassun- Besitzer von Gastronomiebetrieben verbunden: Sie müs- gen erfordern . Wir als Union setzen dabei auf eine ver- sen nicht mehr dafür haften, wenn ihre Gäste Rechtsver- antwortungsvolle Digitalpolitik . stöße im Internet begehen . Wir alle kennen aus unseren Mit diesem WLAN-Gesetz legen wir das Fundament Wahlkreisen das Dilemma, von dem uns Hoteliers und für neue Geschäftsmodelle . Wir geben heute innovativen Cafébetreiber berichten . Es gehört heute dazu, dass man Diensten die Möglichkeit, sich freier und leichter zu ent- den Kunden ein funktionsfähiges WLAN anbietet; denn wickeln . (B) man möchte konkurrenzfähig sein . Illegale Downloads (D) seitens der Nutzer haben den Hoteliers und Cafébetrei- (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE bern in den vergangenen Jahren aber teure Abmahnungen GRÜNEN]: Wovon träumen Sie nachts, fragt beschert . man sich!) (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ Ich rufe insbesondere die Kommunen und die Landkrei- DIE GRÜNEN]: Ja! Sie haben das jahrelang se, aber auch die Bibliotheken, dazu auf, WLAN-Netze blockiert! – Gegenruf des Abg . Marcus Held einzurichten und anzubieten; denn sie sind sehr wohl – [SPD]: Das stimmt leider!) das hat auch Kollege Held treffend gesagt – ein wichtiger Faktor für Bildung, Tourismus und Wirtschaft . Doch damit ist nun Schluss . Wir geben den WLAN-Be- treibern Rechtssicherheit . Dazu werden sie mit den Net- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . zanbietern gleichgestellt. Das bedeutet: Sie profitieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- vom Haftungsausschluss . Den Regierungsentwurf haben ordneten der SPD) wir gerade auch dahin gehend verbessert . Dabei orientie- ren wir uns sehr wohl inhaltlich an dem, was der Gene- ralanwalt am Europäischen Gerichtshof vorgegeben hat . Vizepräsident Johannes Singhammer: Schließlich ist es nötig und wichtig, zu schauen, wie es Nächster Redner ist der Kollege Dr .Konstantin von auf EU-Ebene geregelt ist . Er hat ganz klar ausgeführt, Notz, Bündnis 90/Die Grünen . dass es keine völlige Haftungsfreistellung geben kann . Das heißt: Wenn in einem Netz eindeutig Rechtsverstöße Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erfolgt sind, muss ein Unterbinden weiterer Vergehen per NEN): Gerichtsbeschluss möglich sein . Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Dieser Punkt wird bei den Linken sowie bei den Grü- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Mai 2010 gibt nen und leider in Teilen auch von der SPD vernachläs- es die Entscheidung des BGH zum Musiktitel Sommer sigt . Wir können doch nicht den Schutz von WLAN-Be- unseres Lebens. Seitdem gibt es diese Rechtsunsicher- treibern über den Schutz geistigen Eigentums stellen . heit, über die wir heute reden . Aus dem Sommer unseres Das sagt der Generalanwalt am EuGH . Lebens sind sechs Jahre unseres Lebens geworden – was für ein Wahnsinn! –: sechs Jahre Unklarheit, welche Vielmehr brauchen wir ein Gleichgewicht zwischen Pflichten man erfüllen muss, um aus der Haftung genom- der Informations- und der unternehmerischen Freiheit men zu werden, wenn man seine Netze für Dritte öffnet; einerseits sowie dem Urheberrecht andererseits . Mit un- sechs Jahre, in denen die Digitalisierung Deutschlands 17060 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Konstantin von Notz (A) eines der Topthemen war, und zwar gesellschaftlich wie sollte vor allen Dingen auch die nächste Klatsche vom (C) wirtschaftlich; sechs Jahre Regierungsverantwortung der EuGH . CDU/CSU, die bei einer ganz entscheidenden Grundlage der Digitalisierung voll auf der Bremse stand und nicht Seit vorgestern Abend wissen wir, dass Sie die zwei aus dem Quark gekommen ist . zentralen Versprechen, die Sie gemacht haben, Trotz Forderungen von allen Seiten, diese Rechtsun- (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Beide hal- sicherheit durch gesetzliche Klarstellung zu beseitigen, ten!) hat erst, Dorothee Bär, Schwarz-Gelb nichts unternom- nicht erfüllen, nämlich erstens Rechtssicherheit herzu- men . Auch danach ist trotz Appellen aus der wegwei- stellen und zweitens die Störerhaftung zu beseitigen . senden Enquete-Kommission „Internet und digitale Verstehen Sie es nicht falsch: Ich sehe durchaus auch, Gesellschaft“ und trotz der Zusage im Koalitionsvertrag dass es in manchen Bereichen im Hinblick auf den Vor- der Großen Koalition, als Gesetzgeber endlich Rechtssi- schlag der Bundesregierung Verbesserungen gibt . So- cherheit herzustellen, lange, viel zu lange, nichts passiert . wohl die Klarstellung in § 8 TMG als auch der komplette Das ist und bleibt ein Armutszeugnis, meine Damen und Wegfall des § 10 und des absurden Konstrukts – auch Herren . das muss man sich vor Augen führen – der „besonders (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefahrgeneigten Dienste“ ist eine Verbesserung . und bei der LINKEN) Aber während der Entwurf der Bundesregierung die Dabei ist es gar nicht so schwer: Die Opposition, Lin- Notwendigkeit erkannt hatte, eine saubere Klarstellung ke und wir, haben direkt zu Beginn dieser Wahlperiode im Gesetzestext selbst vorzunehmen, fehlt diese bei Ih- einen Gesetzentwurf vorgelegt . Sie haben mit einigen nen . Stattdessen überlassen Sie es den überlasteten Ge- Jahren Verzögerung einen Gesetzentwurf der Bundesre- richten erneut, nach Ihrer Begründung eines Änderungs- gierung nachgeschoben, der in die völlig falsche Rich- antrags im Bundestag zu googeln, um das Gesetz, das tung ging: weitreichende Verpflichtungen für WLAN-Be- Sie vorgelegt haben, auslegen zu können . Was für ein treiber, ihre Netze zu schützen, die so abwegig waren, Wahnsinn! Sie beziehen sich dabei auf das Argument des dass sich peinlicherweise selbst die eigenen Ministerien, Generalanwalts am EuGH . Was machen Sie eigentlich, Frau Bär, bis heute nicht daran halten; fernliegende, dem wenn der EuGH anders entscheidet? Sollen dann die TMG fremde Unterscheidungen zwischen privaten und Menschen weitere sechs Jahre auf freies WLAN warten, kommerziellen Anbieterinnen und Anbietern; namentli- nur weil Sie es nicht schaffen, dies direkt ins Gesetz zu che Registrierungen, die man sonst nur aus autoritären schreiben? Es ist unfassbar, meine Damen und Herren . Staaten kennt . Auch § 10 TMG war von vornherein völ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) lig abwegig . und bei der LINKEN) (D) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung war insge- Den einzigen guten Punkt in dem Entwurf der Bun- samt gänzlich untauglich und hätte zu mehr Rechtsunsi- desregierung haben Sie herausgestrichen . Herr Knoerig cherheit und zu weniger offenen Netzen geführt . Da fragt hat eben ziemlich unverhohlen die Motive dafür genannt . man sich: Wie kann es eigentlich nach Jahren zu einem Deswegen sage ich voraus, dass sich Frau Merkel heu- solchen Gesetzentwurf der Bundesregierung kommen? te Abend auf der CDU-MediaNight gerade nicht dafür Wenn sich solche Fragen stellen, meine Damen und Her- feiern lassen kann, die Störerhaftung beseitigt zu haben . ren, dann macht man etwas grundsätzlich falsch, liebe Jegliche Siegerpose ist fehl am Platz . Sie sind den ent- Regierung . scheidenden Schritt eben leider nicht gegangen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!) und bei der LINKEN – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Lob für das Par- Sie haben keine Rechtssicherheit hergestellt, sondern das lament? Habe ich das richtig verstanden?) erneut an die Gerichte delegiert . Das ist für dieses Parla- ment ein Armutszeugnis und leider zu wenig . Ich bedau- – Zum Parlament komme ich noch, Thomas .– Der Ge- ere das hochgradig . setzentwurf wurde zu Recht von allen Seiten, selbst von den eigenen Sachverständigen in der Bundestagsanhö- Herzlichen Dank . rung und von den eigenen Ministerien, zerrissen . Es war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klar: Es musste etwas Neues her . Aber statt sich auf un- und bei der LINKEN) seren lichtvollen und wegweisenden Entwurf der Oppo- sition zu beziehen, Vizepräsident Johannes Singhammer: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Für die SPD spricht jetzt der Kollege Lars Klingbeil . SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – La- chen bei der CDU/CSU – Thomas Jarzombek (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Den hat die Opposition doch abgeschrieben! Das ist ein Plagiat! Das haben Lars Klingbeil (SPD): Sie vorhin gelernt bei der Netzpolitik!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! brauchte es erst ein Machtwort der Kanzlerin, um das Der Bundestag macht heute den Weg für mehr offenes mittlerweile maximal peinliche Nicht-aus-dem-Quark- WLAN in Deutschland frei . Das ist das Ergebnis einer Kommen der Koalition zu beenden . Verhindert werden langen Diskussion, die wir hatten, und es ist das Ergebnis Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17061

Lars Klingbeil (A) eines Gesetzentwurfs, den Sigmar Gabriel mit dem Wirt- faktor auch für den Tourismus, dass wir dort freie und (C) schaftsministerium auf den Weg gebracht hat . offene WLAN-Netze bekommen werden . Wir als Koalition haben in den letzten Wochen um Dieses Gesetz, das wir heute auf den Weg bringen, den richtigen Weg gerungen . Aber es ist klar: Wir verab- steht in einer Reihe mit vielen anderen Prozessen, die schieden heute einen Gesetzentwurf in zweiter und drit- wir erleben – etwa hier in der Stadt Berlin, wo 600 Hot- ter Lesung, der endlich den Weg für offenes WLAN in spots geschaffen werden . Die Kirche in Brandenburg und Deutschland frei machen wird . Es ist gut, dass wir heute Berlin hat sich auf den Weg gemacht, zunächst 300, bald im Parlament endlich diese Entscheidung treffen . 3 000 Hotspots zu schaffen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis einer (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE langen Diskussion ist ein Paradigmenwechsel, den wir GRÜNEN]: „Gottspots“!) erreicht haben . Ich erinnere daran, dass wir noch vor ei- Und wir sehen, dass erste Städte – etwa Erlangen – in ih- nem Jahr – ich glaube, das kann jeder, der sich mit dem ren Innenbereichen eine komplett offene WLAN-Struk- Thema beschäftigt hat, bestätigen – immer zuerst zu der tur schaffen . Unser Gesetz kann dann dafür sorgen, dass Frage kamen, was es bedeutet, wenn wir in Deutschland auch Private künftig nicht mehr vor ihrer Haftung für WLAN-Netze öffnen . Es war von Urheberrechtsver- Rechtsverletzungen Dritter Angst haben müssen . letzungen, die massenhaft zunehmen würden, und von Straftaten die Rede, die vielleicht in Cafés und Restau- Weil ich in den letzten Tagen auch etwas über eine rants geplant würden . Das waren doch die Argumente, „Mogelpackung“ gelesen habe, die wir hier angeblich gegen die wir immer wieder anargumentieren mussten . auf den Weg bringen, will ich noch einmal vorlesen, was im Gesetz und in der Gesetzesbegründung explizit steht . Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf gelingt es wirk- Dort steht: lich, den Paradigmenwechsel zu schaffen: weg von den Gefahren, die immer wieder gesehen werden, wenn es Die Haftungsprivilegierung um offene Netze geht, und hin zu den Chancen, die wir – die dank der gesetzlichen Änderungen zweifelsfrei sehen und definieren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg auch für WLAN-Anbieter gilt –, des Parlaments . Das haben wir auch gemeinsam mit den Oppositionsfraktionen in der Diskussion erreicht . Dafür umfasst … auch die verschuldensunabhängige Haf- ein großer Dank an alle, die daran mitgewirkt haben! tung im Zivilrecht nach der sog . Störerhaftung und steht daher nicht nur einer Verurteilung des Vermitt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lers zur Zahlung von Schadenersatz, sondern auch der CDU/CSU) seiner Verurteilung zur Tragung der Abmahnkosten (B) und der gerichtlichen Kosten … entgegen . (D) Das ist aber bei Weitem nicht nur das Verdienst der Politik . In den letzten Jahren hat es immer wieder Akteu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten re gegeben, beispielsweise vorneweg die Freifunker, die der CDU/CSU – Zuruf des Abg . Dr . Konstantin darum gerungen haben, dass wir eine solche Gesetzes- von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) änderung auf den Weg bringen . Internetvereine wie D64 Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will sagen: Wer oder die Digitale Gesellschaft, Akteure wie der Deutsche diese Begründung nicht versteht, und wer diesen aus- Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Handelsver- drücklichen Wunsch des Gesetzgebers an dieser Stelle band, aber auch rot-grüne Landesregierungen haben be- nicht versteht, der ignoriert bewusst das, was wir hier auf grüßt, was wir jetzt auf den Weg bringen, und sagen, dass den Weg bringen, das, was die Große Koalition verabschiedet, der richtige Weg ist . Alle diese Akteure haben ein großes Verdienst (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE daran, dass wir endlich freie und offene WLANs in GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal dem Kolle- Deutschland schaffen . gen Knoerig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ignoriert bewusst das Mehr an Rechtssicherheit, das der CDU/CSU) wir hier schaffen . Und dem kann ich leider keine guten Absichten unterstellen . Der Gesetzentwurf zeigt also, dass Politik lernfähig ist . Wir schaffen mit offenen WLAN-Netzen einen wei- Herzlichen Dank fürs Zuhören . teren Teil einer modernen digitalen Infrastruktur . Das Di- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) giNetz-Gesetz ist angesprochen worden . Der Breitband- ausbau ist auch erwähnt worden . Wir sorgen also dafür,

dass es eine gute digitale Infrastruktur in Deutschland Vizepräsident Johannes Singhammer: gibt . Der Kollege Hansjörg Durz spricht jetzt für die Frak- tion der CDU/CSU . Wir alle wissen aus unseren Erfahrungen, dass heute häufig eine der ersten Fragen in Hotels oder Restaurants (Beifall bei der CDU/CSU) die nach einem WLAN ist . WLAN ist Innovationstreiber . Viele Geschäftsmodelle werden entstehen . Wir werden Hansjörg Durz (CDU/CSU): eine Modernisierung der Innenstädte erleben . Ich selber Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und komme aus dem ländlichen Raum . Dort spielt der Tou- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die rismus eine große Rolle . Es ist ein wichtiger Wirtschafts- Gleichstellung von WLAN-Anbietern – auch von Priva- 17062 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Hansjörg Durz (A) ten mit klassischen Zugangsprovidern – ist ein riesiger stützen, in der Praxis zu gravierenden Problemen führen (C) Schritt nach vorn . Wir schaffen damit Rechtssicherheit, können . Hier versuchte der Gesetzentwurf, durch die und zwar insbesondere für diejenigen, die sich bislang Charakterisierung eines gefahrengeneigten Dienstes ei- aus Sorge etwa vor teuren Abmahnungen dagegen ent- nen Weg zu finden, um Rechtsverstöße einfacher ahnden schieden haben, WLAN anzubieten . Wir erfüllen damit zu können . Wir haben die geplanten Maßnahmen und unseren eigenen, im Koalitionsvertrag formulierten An- deren Auswirkungen im parlamentarischen Verfahren spruch, der da lautete: intensiv unter die Lupe genommen . Die Konsultation so- Die Potenziale von lokalen Funknetzen . . als Zu- wohl der Rechteinhaber als auch der Internetwirtschaft gang zum Internet im öffentlichen Raum müssen hat ergeben, dass mit den geplanten Maßnahmen des ausgeschöpft werden . § 10 TMG weder der einen noch der anderen Seite ge- Ich denke hier vor allem an die riesigen Potenziale, holfen gewesen wäre . Deswegen haben wir uns dazu ent- die etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Touris- schieden, es beim Status quo zu belassen . Mit dem Koali- mus oder auch im Verkehrsbereich stecken . Überall dort tionspartner haben wir uns stattdessen darauf verständigt, werden digitale Anwendungen den Nutzern in Zukunft die Bundesregierung aufzufordern, sich auf europäischer weit einfacher zugänglich gemacht werden . Insofern ist Ebene für eine Überarbeitung des Haftungsregimes für der heutige Tag ein richtig guter für den Digitalstandort Plattformbetreiber einzusetzen . Ein einheitliches Haf- Deutschland . tungsregime für Rechtsverletzungen im Internet ist eine vorrangig europäische Aufgabe . Gerade die aktuellen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Konsultationsprozesse der Europäischen Kommission zur Haftung von Plattformbetreibern und Intermediären Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens stand für sind eine gute Gelegenheit, sich hier aktiv einzubringen . uns neben den Potenzialen, die es zu heben gilt, auch das Thema Sicherheit im Mittelpunkt . Das in dreierlei Hin- Klar ist, dass wir in Zukunft innovative und wirksame sicht: Ansätze brauchen, um auf die rasante Entwicklung un- Zum einen ging es uns um Rechtssicherheit für die terschiedlicher Dienste und Geschäftsmodelle reagieren WLAN-Anbieter und damit die Gewähr, vor teuren zu können . Wie die Bekämpfung illegaler Plattformen Abmahnkosten und vor Schadensersatzansprüchen ge- gelingen kann, dazu listen wir im Entschließungsantrag schützt zu werden . sieben für uns wichtige Punkte auf . Exemplarisch möch- te ich auf das Prinzip „Follow the money“ hinweisen . Zweitens ging es um die Sicherheit für Rechteinha- Wenn wir es schaffen, Geldströme auszutrocknen, indem (B) ber, die auch weiterhin die Möglichkeit haben, Urheber- (D) rechtsverletzungen durch gerichtliche Anordnungen wir- solche Plattformen legal keine Werbeeinnahmen generie- kungsvoll entgegenzutreten . ren können, gehen wir direkt an die Wurzel der illegalen Geschäftsmodelle . Und drittens ging es um die Sicherheit für Nutzer von offenen WLAN-Verbindungen . Dabei ist sehr interessant, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass bereits wenige Stunden nachdem die Einigung der Koalitionsfraktionen bekannt wurde, eine große deutsche Noch zu einem dritten Themenkomplex . Der Bundes- Tageszeitung sofort einen Artikel mit der Überschrift „So rat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf eine schützen Sie sich in öffentlichen WLAN-Netzen“ veröf- Ergänzung zum § 14 TMG angeregt, um die Durchsetz- fentlichte . Sie schrieb darüber, welche Gefahren und Ri- barkeit von Persönlichkeitsrechten zu verbessern . Wir siken mit dem Surfen in öffentlichen Netzen verbunden teilen die Position des Bundesrats ausdrücklich . Daher sind . Hier werden wir weiter Aufklärungsarbeit betreiben fordern wir die Bundesregierung in unserem Entschlie- und die Nutzer sensibilisieren müssen, potenziell betrü- ßungsantrag auf, bis Ende des Jahres eine umfassende gerische Netzwerke zu erkennen, sichere Verschlüsselun- gen zu nutzen und sensible Daten nicht arglos zu kom- Erhebung zu Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und munizieren . des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe- betrieb durchzuführen und Ergebnisse vorzulegen . Falls Darüber hinaus haben wir in einer Protokollerklärung sich aus den Ergebnissen der Erhebung ein Rechtsset- die Bundesregierung aufgefordert, uns nach zwei Jahren zungsbedarf ergibt, soll dieser noch in dieser Legislatur- zu berichten, wie sich die WLAN-Ausbreitung entwi- periode gedeckt werden . ckelt hat und wie es in dieser Zeit mit Rechtsverletzun- gen ausgesehen hat . Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen: Auch wenn es in der öffentlichen Diskussion also Mit dem geänderten Telemediengesetz entwickeln wir ausschließlich um das Thema WLAN geht, so regelt das den Digitalstandort Deutschland ein enormes Stück wei- Telemediengesetz aber nicht nur die Haftung von diesen ter . Wir werden die positiven Auswirkungen in Bälde se- Zugangsanbietern, sondern auch von Diensteanbietern, hen . Ich bitte Sie daher um Zustimmung . die zur Datenspeicherung Dritten eine technische Infra- struktur zur Verfügung stellen . Diese sogenannten Host Vielen Dank . Provider genießen für die Ausübung ihrer Tätigkeiten Haftungsprivilegierungen, die jedoch bei Geschäftsmo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dellen, die sich im Wesentlichen auf Rechtsverletzungen ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17063

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: lig zu Recht hingewiesen –, dass wir nicht so tun, als ob (C) Nächster Redner ist der Kollege Christian Flisek für wir in einer globalen digitalen Welt mit nationalem Recht die SPD . und nationalen Gesetzen alles lösen könnten . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Plattformen, die es im Wesentlichen auf Urheber- der CDU/CSU) rechtsverletzungen abgesehen haben und darauf abzie- len, die Profite einzufahren, sitzen eben nicht in Deutsch- Christian Flisek (SPD): land . Sie sitzen nicht in Tuttlingen, sondern sie sitzen in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin- Timbuktu . Deswegen ist der Ansatz, den wir mit unserem nen und Kollegen! Nach dem ehemaligen Vorsitzenden Entschließungsantrag gehen, nämlich dass wir den Geld- der SPD-Bundestagsfraktion ist ein Gesetz benannt, nach strömen folgen wollen oder, besser formuliert, dass wir dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es von solchen illegalen Plattformen nachhaltig den Geldhahn der Regierung eingebracht wurde . Für dieses sogenann- zudrehen wollen, der richtige Ansatz . Mit dem Entschlie- te Struck’sche Gesetz ist die heute debattierte Änderung ßungsantrag haben wir genau das in das Hausaufgaben- des Telemediengesetzes geradezu ein Musterbeispiel . heft unserer Bundesregierung hineingeschrieben . Der Gesetzentwurf hat uns parlamentarisch sehr intensiv (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und lange beschäftigt . Aber im Ergebnis beschließen wir der CDU/CSU) heute ein Gesetz, das an ganz erheblichen Stellen vom Regierungsentwurf abweicht . Herr Kollege von Notz, Ich glaube, wir können heute gemeinsam diesen Ge- deswegen sollten Sie sich in zweiter und dritter Lesung setzentwurf guten Gewissens beschließen . Ich würde nicht am Regierungsentwurf abarbeiten . Vielmehr sollten mich wirklich darüber freuen; ich sage das ausdrücklich Sie sich mit der heutigen Beschlussvorlage befassen . zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition . Ich weiß, in der Stellenbeschreibung des Oppositionspoliti- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – kers steht Lob für die Regierung nicht drin, das ist nicht Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ausdrücklich erwähnt . GRÜNEN]: Verschlimmbessert!) (Dr .Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber wir kön- Wir schaffen Rechtssicherheit in Deutschland für öf- nen eigene Vorschläge haben, und die haben fentliche WLANs; darauf wurde schon hingewiesen . Wir wir!) leisten damit einen ganz erheblichen Beitrag dazu, dass Deutschland aus der WLAN-Wüste geführt wird . Das ist Aber vielleicht können auch Sie irgendwann einmal über allerhöchste Zeit . Die bisher geltende Störerhaftung bei Ihren Schatten springen . Heute wäre dazu die Gelegen- der Bereitstellung von öffentlichen WLAN-Netzen traf (B) heit . (D) allzu oft die falschen Personen: den Familienvater, der oft erst mit der Abmahnung erfahren hat, was alles über Herzlichen Dank . seinen Anschluss möglich ist, oder die Kaffeehausbetrei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) berin, die die Handlungen ihrer Gäste nicht kontrollie- ren konnte und die Gäste auch nicht persönlich kannte . Eine ganze Abmahnindustrie konzentrierte sich auf die- Vizepräsident Johannes Singhammer: se Menschen, um Profite zu machen, ohne irgendeinen Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kol- volkswirtschaftlichen Nutzen dabei zu erzielen . Die Be- lege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU . reitsteller von WLAN-Netzen wie etwa der Familienva- ter oder die Gastronomin waren und sind aus zwei Grün- (Beifall bei der CDU/CSU) den die falschen Adressaten einer Haftung . Erstens . Sie wollten sich in den allermeisten Fällen immer rechtstreu Thomas Jarzombek (CDU/CSU): verhalten . Zweitens fehlten ihnen schlicht die Mittel, um Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heu- die Nutzer ihrer W-LAN-Netze zu kontrollieren . te ein guter Tag für das digitale Deutschland . Wir haben Die bisherige Störerhaftung war aus Sicht der Rechte­ lange daran gearbeitet und heute einen Gesetzentwurf inhaber ein effektives und vielleicht auch ein lukratives vorgelegt, den wir auch beschließen werden . Dieses Instrument, aber es war in höchstem Maße unfair . Dieser Gesetz ist vielleicht von seiner Bedeutung her nicht das Situation schieben wir heute gemeinsam einen Riegel größte Gesetz dieser Legislaturperiode, aber vielleicht vor . Deshalb ist es auch richtig, sie abzuschaffen . Um eines, das die meisten Menschen zum Aufbruch bringt jede rechtliche Unsicherheit zu beseitigen, haben wir – und eine ähnliche Dynamik freisetzt wie das Gesetz, mit darauf hat der Kollege Klingbeil ausdrücklich hingewie- dem wir es in der letzten Legislaturperiode erlaubt ha- sen – auch klargestellt, dass die Haftungsprivilegierung ben, dass Fernbusse wieder Menschen zwischen Städten jede Art der Haftung umfasst . kommerziell transportieren dürfen . Da ist ein richtiger Boom entstanden, und ich glaube, wir werden jetzt auch Lassen Sie mich aber auch klarstellen, dass die Rechte­ einen WLAN-Boom in Deutschland erleben . Das ist das inhaber nach wie vor nicht schutzlos zu stellen sind . Ziel dieses Gesetzes . Deshalb bin ich froh, dass wir den Das Gegenteil ist der Fall . Wir müssen die Inhaber von Gesetzentwurf heute hier beraten und gleich beschließen immateriellen Schutzgütern auch im digitalen Zeitalter werden . schützen; sie brauchen genauso viel Rechte, wie es im analogen Zeitalter notwendig war und ist . Deswegen ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es auch ganz wichtig – der Kollege Durz hat darauf völ- ordneten der SPD) 17064 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Thomas Jarzombek (A) Der Deutsche Bundestag hat nach dem Struck’schen Sie haben auch gelesen, dass es einen Streit unter (C) Gesetz immer alles zu verändern . In meinen sieben Jah- Juristen gibt . Sie wissen, dass beispielsweise Professor ren als Bundestagsabgeordneter habe ich allerdings auch Härting zu Recht gesagt hat, vor Abmahnungen – – Gesetze gesehen, die der Bundestag nicht mehr so durch- einandergeschüttelt hat, wie Herr Struck es damals so (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE plastisch zum Ausdruck gebracht hat . Hier hat das Par- GRÜNEN]: Euer Sachverständiger!) lament – da nehme ich den Kollegen von Notz als Kron- – Frage stellen, nicht Zwischenrufe machen, bitte! zeugen – doch wirklich einmal richtige Arbeit geleistet und das, was die Regierung uns vorgelegt hat, nicht nur (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das ein bisschen überarbeitet und ein Stückchen verändert; muss er selber entscheiden!) das Parlament hat vielmehr etwas Neues gebaut, was – Ja, eben! wirklich gut ist und von dem ich überzeugt bin, dass es eine effektive und endgültige Problemlösung ist . (Abg . Dr .Konstantin von Notz [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer (Beifall bei der CDU/CSU – Dr .Konstantin Zwischenfrage) von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verbessert und verschlimmert!) – Ich wollte Sie nicht provozieren, aber ich gehe der Dis- kussion natürlich nicht aus dem Weg . Zu der Frage der Rechte wurde schon vieles gesagt . Ich glaube, es ist richtig, mit dem heutigen Tag einen Pa-

radigmenwechsel einzuleiten . Würde man von der Post Vizepräsident Johannes Singhammer: reden, würde man sagen: Jetzt ist wieder derjenige dran, Ich vermute nach Ihrer Reaktion, dass Sie mit einer der den Brief verschickt, und nicht der Postbote .– Jetzt Zwischenfrage des Kollegen Dr . von Notz einverstanden kann man auf das Internet bezogen sagen: Wir fokussie- sind . ren unser Engagement auf diejenigen, die wirklich große illegale Plattformen betreiben . Das sind diejenigen, die Thomas Jarzombek (CDU/CSU): damit Geld verdienen und massiv den Urhebern schaden . Ja, sehr gerne . Wir gehen nicht mehr gegen Familien mit 14-jährigen Teenagern vor . Ich glaube, das ist die richtige Ausrich- tung für die Rechtsdurchsetzung in Deutschland . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lieber Thomas Jarzombek, erst einmal vielen Dank (B) für die Aufforderung und das Zulassen der Frage . – Ich (D) Es wurde in den letzten Tagen sehr viel darüber disku- habe die eilige Stellungnahme Ihres Sachverständigen, tiert, ob die Störerhaftung jetzt wirklich abgeschafft wird Herrn Härting, nach der Diskussion gelesen . Er stellte – oder nicht . Ich verstehe die Rolle der Opposition, und ich ich hoffe, Sie glauben es mir jetzt einfach – in der Anhö- verstehe auch die Eitelkeiten derjenigen, die selber einen rung zu Punkt 8 auf Seite 2 seiner Stellungnahme – ich Gesetzentwurf eingebracht haben, den sie übrigens eins zitiere – mit Bezug auf die Regelung des Regierungsent- zu eins abgeschrieben haben . Das wurde vorhin schon wurfs selbst und die Änderung des Bundesrates fest: einmal gesagt . Wegen Plagiaten mussten manche hier schon zurücktreten . Im Ergebnis teile ich vollumfänglich die Kritik des Bundesrates an § 8 Abs .4 TMG-E . Nur durch eine (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE vorbehaltlose Abschaffung jedweder Störerhaftung GRÜNEN]: Wir haben draufgeschrieben, von des Betreibers wird man das erklärte Ziel erreichen, wem er ist!) die WLAN-Abdeckung des öffentlichen Raums nachhaltig zu fördern . Dass alle diejenigen jetzt enttäuscht sind, kann ich verstehen . Aber mit der Störerhaftung ist jetzt endgültig (Christian Flisek [SPD]: Das ist doch der Re- Schluss . Das ist ganz einfach zu erklären: Als hier vorhin gierungsentwurf! Wir behandeln etwas ande- jemand sagte, in einem Bundesland würden jetzt massiv res!) Hotspots gebaut, raunte mir der Kollege von Notz zu: Hoffentlich gibt es auch eine ausreichende Prozesskos- Jedwede Abschaffung! Sie haben diesen Unterlassungs- tenkasse .– Lieber Kollege von Notz, wir stellen hier klar, anspruch, der auch heute noch beklagt werden kann, dass das Providerprivileg, das für die Deutsche Telekom eben nicht herausgenommen . Das haben Sie nicht hin- und andere gilt, künftig für jeden gilt, der in diesem Land bekommen . Herr Knoerig hat auch gesagt, warum: weil ein WLAN betreibt . Sie können ja einmal fragen, welche man ihn eben nicht heraus haben will . Man will diese Prozesskostenkasse die Deutsche Telekom hat oder wel- Unsicherheit bewusst so belassen . che Prozesskostenkassen andere haben . (Christian Flisek [SPD]: Das ist doch (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Quatsch!) GRÜNEN]: Ihr hättet es in das Gesetz schrei- Sie vielleicht nicht; aber das war ja der Kompromiss . ben müssen!) Und zu dem sollten Sie sich bekennen . Auch können Sie fragen, wie viele Abmahnungen sie be- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kommen haben . SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17065

(A) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ich glaube, das muss man bei jeder dieser Abwägungen (C) Lieber Kollege von Notz, ich kann mich gut an die immer mit einbeziehen; sonst macht man einen großen Anhörung erinnern . Interessanterweise habe ich gerade Fehler . noch nachgelesen, was Professor Härting geschrieben Jetzt sind alle gefordert, sich auf den Weg zu machen . hat . Die Kritik bezog sich ja auf den Regierungsentwurf, Ich erwarte, dass jetzt, wo die WLAN-Störerhaftung den wir vollständig gestrichen haben . Genau den Satz, abgeschafft ist, mehr WLANs geschaffen werden . Da- den er kritisiert hat, haben wir gestrichen . Seine Äuße- mit meine ich die Städte . Ich appelliere jetzt an meinen rungen bezogen sich darauf, dass im Regierungsentwurf eigenen Oberbürgermeister: In Düsseldorf gibt es zwar zwei Konditionen für das Entfallen der Störerhaftung trotz der Störerhaftung schon WLANs – aber nur da, enthalten waren . Die erste Kondition betraf die Ver- wo zufällig schon Sendestationen eines großen Netzbe- schlüsselung, die zweite bezog sich auf die Vorschaltsei- treibers sind . Ich erwarte, dass die Städte jetzt losgehen te . Deshalb glaube ich, dass das ein Zeichen ist, dass wir und flächendeckende Zonen mit WLANs schaffen, das, aus dieser Anhörung gelernt haben . Wir haben gelernt, was wir als Voraussetzung geschaffen haben, nutzen, um diese Dinge – was richtig ist – herauszunehmen . Insofern den Menschen ein wirklich tolles WLAN-Ergebnis zu sehe ich hier überhaupt keinen Gegensatz . Ich lese viel- präsentieren . Ich fange selber damit in meinem eigenen leicht einmal § 8 so vor, wie er jetzt eben besteht .– So, Wahlkreisbüro an . Ich lade alle ein, da zu surfen . Auf jetzt ist er auf meinem iPad verschwunden . die Abmahnungen, die nicht kommen werden, freue ich (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE mich schon heute . GRÜNEN]: Wahrscheinlich kein WLAN!) Vielen Dank . – Das ist nicht so schlimm, ich habe auch eine mobile (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Datenverbindung . Ich empfehle, das einmal nachzulesen . ordneten der SPD) § 8 Telemediengesetz, der jetzt für alle gilt, stellt den Be- treiber ausdrücklich frei . Das Einzige, was übrig bleibt,

ist der Unterlassungsanspruch . Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache . (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Tagesordnungspunkt 7 a . Wir kommen jetzt zur Ab- stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach- Das ist auch richtig, weil wir sonst nicht mehr europa- ten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des rechtskonform wären . Dann stünden wir wieder vor dem Telemediengesetzes . Der Ausschuss für Wirtschaft und EuGH . Energie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- (B) empfehlung auf Drucksache 18/8645, den Gesetzent- (D) Der Unterlassungsanspruch – das erklären wir auch wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6745 in noch einmal in der Begründung – gilt dann, wenn es eine der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt dieje- gerichtliche Anordnung gibt . Härting schrieb heute oder nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung gestern dazu, dass man natürlich keinen Schutz vor einer zustimmen wollen, um das Handzeichen .– Wer stimmt Abmahnung bekommen kann, weil eine Abmahnung ja dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da- ungerechtfertigt sein kann . Wir können nur vor Urtei- mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen len – und damit gerechtfertigten Abmahnungen – schüt- von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion zen . Genau das ist es, was wir hier tun . Deswegen darf Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . sich hier keiner mehr hinter die Fichte führen lassen . Es gibt keinen berechtigten Abmahnanspruch mehr . Punkt . Wir kommen jetzt zur Aus . Ende . dritten Beratung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Ich beziehe mich jetzt noch einmal auf einen Blogger, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– Wer der ansonsten noch viel härter mit allen ins Gericht geht . stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ich finde, dass Markus Beckedahl relativ milde war. Er ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU schrieb, diese ganze Debatte sei ein gutes Sinnbild für und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und den Zustand der Digitalen Agenda in der Großen Koa- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . lition . Meine Damen und Herren, deshalb sage ich zum Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Schluss: Es gibt diejenigen, die im Internet und in den Drucksache 18/8645 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- neuen Technologien viele Chancen sehen . Auch ich zäh- schließung anzunehmen . Wer für diese Beschlussemp- le mich dazu . Es gibt aber auch viele, die sich fragen, fehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen .– Wer ob all diese Veränderungen, die jetzt mit solch einer Ge- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- schwindigkeit kommen, richtig und gut sind . Sie meinen, empfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, dass man das alles erst einmal durchdenken muss . Wir SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Frakti- müssen uns davor hüten, zuzulassen, dass diejenigen, die on Die Linke angenommen 1). den Weg vorangehen, eine Arroganz entwickeln gegen- über denjenigen, die sagen: Wir müssen darüber noch Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7 b . einmal einen Tag nachdenken und diskutieren .– Das be- Abstimmung über den von den Fraktionen Bündnis 90/ zieht sich auf die gesamte Bundesrepublik und nicht nur auf den Deutschen Bundestag oder auf diese Koalition . 1) Anlage 3 17066 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) Die Grünen und Die Linke eingebrachten Entwurf eines Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes – Stö- diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch rerhaftung . Der Ausschuss für Wirtschaft und Ener- erhebt sich dagegen keiner . Dann ist die Redezeit so be- gie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der schlossen . Drucksache 18/3861, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksa- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- che 18/3047 abzulehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, die nerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Anette Kramme für die Bundesregierung . chen . Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge- Dr .Astrid Freudenstein [CDU/CSU]) gen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- nis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach unserer Anette Kramme, Parl . Staatssekretärin bei der Bun- Geschäftsordnung die weitere Beratung . desministerin für Arbeit und Soziales: Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter dem etwas kompliziert lautenden Titel a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- „Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und desregierung eingebrachten Entwurfs eines des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversiche- Gesetzes zur Stärkung der beruflichen rung“, kurz: AWStG, setzen wir ein weiteres Vorhaben Weiterbildung und des Versicherungs- aus dem Koalitionsvertrag um . Wir leisten mit diesem schutzes in der Arbeitslosenversicherung Gesetz einen Beitrag zu einer präventiven und aktivie- (Arbeitslosenversicherungsschutz- und renden Arbeitsmarktpolitik . Ich freue mich sehr, dass Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) unser Gesetzentwurf bei den Sachverständigen überwie- Drucksache 18/8042 gend auf positive Resonanz stößt . So begrüßen Arbeit- geber- und Gewerkschaftsseite sowie die Bildungs- und Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Wohlfahrtsverbände, dass wir mit dem AWStG bei der schusses für Arbeit und Soziales (11 .Aus - Förderung der Grundkompetenzen, die für das Nachho- schuss) len eines Berufsabschlusses notwendig sind, bei Wei- Drucksache 18/8647 terbildungsmaßnahmen für Geringqualifizierte und in kleinen und mittleren Unternehmen ein gutes Stück vor- – Bericht des Haushaltsausschusses (8 .Aus - ankommen . Außerdem führen wir Weiterbildungsprämi- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung (B) en ein, die das Durchhalten bis zum Ende einer Ausbil- (D) Drucksache 18/8648 dung belohnen sollen . b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir haben über dieses Instrument lange Zeit disku- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales tiert . Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (11 . Ausschuss) hat noch einmal unterstrichen, dass unser Modell mit – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine abschlussbezogenen Prämien einen deutlich besseren Zimmermann (Zwickau), Matthias W . Anreiz setzt als etwa ein Modell mit monatlichen Prä- Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer mien . Die Betroffenen werden besser motiviert . Wir Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE eröffnen damit Menschen, denen bislang ganz grundle- gende Voraussetzungen fehlen, bessere Chancen auf dem Schutzfunktion der Arbeitslosenversiche- Arbeitsmarkt. Es profitieren aber auch diejenigen, für rung stärken die Weiterbildung bisher ohne Anreize oder schlichtweg – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte verschlossen war, zum Beispiel in kleinen Handwerks- Pothmer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, betrieben . weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ein Wort auch zur Finanzierung der Weiterbildungs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN förderung: Für das Jahr 2016 planen die Agenturen für Arbeitslosenversicherung gerechter gestal- Arbeit und die Jobcenter immerhin mit Ausgaben von ten und Zugänge verbessern insgesamt fast 3 Milliarden Euro für die berufliche Wei- terbildungsförderung . Mit mehr Mitteln ist es aber nicht Drucksachen 18/7425, 18/5386, 18/8647 an jeder Stelle getan, wenn es an Kompetenzen zum Er- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- reichen eines Berufsabschlusses fehlt . Mit dem Gesetz richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales geben wir deshalb den Agenturen und Jobcentern künftig (11 .Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Instrumente an die Hand, um Kompetenzen aufzubau- Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Beate Müller- en – gerade im niedrigqualifizierten Bereich –, Motiva- Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Frak- tionshemmnisse abzubauen und während der Weiterbil- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dung noch besser zu unterstützen . Schließlich geht es nicht darum, was gut und teuer klingt, sondern darum, Arbeitsförderung neu ausrichten – Nachhalti- das zu tun, was hilft und was wirkt . Und am Ende geht ge Integration und Teilhabe statt Ausgrenzung es darum, das umzusetzen, was geht und was wir hier im Drucksachen 18/3918, 18/5119 Haus auch durchbekommen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17067

Parl. Staatssekretärin Anette Kramme (A) Ja, wir als Bundesministerium für Arbeit und Sozia- Sie reden davon, dass Sie Langzeiterwerbslose ver- (C) les haben vorgeschlagen, den Zugang zum Anspruch auf stärkt für eine berufliche Weiterbildung gewinnen und Arbeitslosengeld, insbesondere nach einer befristeten ihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen durch Beschäftigung, auszuweiten, zu erleichtern und die so- Prämien stärken möchten . Mal wieder tun Sie so, als genannte Rahmenfrist des Arbeitslosengeldbezuges ge- ob die Menschen selber ganz alleine daran schuld wä- nerell auf drei Jahre zu erweitern . Das hätte bestimmten ren, in welcher Situation sie sich befinden, weil sie wohl Erwerbsbiografien, die durch viele kurzzeitige Beschäf- nicht motiviert seien . Fragt sich nur: Wofür motiviert? tigungen geprägt sind, etwa im Kulturbereich, besser In Wahrheit gibt es kaum Weiterbildungsangebote . Statt Rechnung getragen . dies einzugestehen, bedienen Sie sich immer wieder der Legende vom unmotivierten Erwerbslosen . Das ist schä- (Beifall bei der SPD) big, meine Damen und Herren . Ich denke, damit muss in Allerdings war dies innerhalb der Bundesregierung diesem Hause endlich mal Schluss sein . nicht durchsetzbar . Aber angesichts dessen, was wir er- (Beifall bei der LINKEN) reicht haben, was an Verbesserungen kommt, bin ich, sind wir durchaus zufrieden . Auch weil wir Arbeitneh- Im Jahr 2010 gab es im Bereich des SGB II noch rund merinnen und Arbeitnehmern, die von Restrukturierung 220 000 Zugänge zur beruflichen Weiterbildung, im betroffen sind, künftig schneller Zugang zu beruflicher letzten Jahr gab es nur noch rund 130 000 – ein Rück- Weiterbildung verschaffen . So können notwendige Qua- gang um über 40 Prozent . Die Zahl der Erwerbslosen im lifizierungen von Älteren und von geringqualifizierten Rechtskreis des SGB II ging aber im selben Zeitraum um Beschäftigten bereits während der Zeit in einer Trans- nur 10 Prozent zurück . Wenn Sie also behaupten wollen, fergesellschaft gefördert werden, wenn der Arbeitgeber dass der Rückgang der Weiterbildung den sinkenden Er- mindestens die Hälfte der Kosten trägt, auch bei Maß- werbslosenzahlen folgt, verkaufen Sie die Menschen für nahmen, die zu einem Abschluss im Ausbildungsberuf dumm . Da sagen wir: Das kann nicht sein . führen. Ich finde, dass wir damit das Instrumentarium der Transfergesellschaften in durchaus sinnvoller Weise (Beifall bei der LINKEN) weiterentwickeln . Viele wollen sich weiterbilden, doch Sie lassen sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim AWStG geht nicht . Ich kenne genügend Beispiele aus den Bürger- es auch darum, möglichst allen Menschen lebenslanges sprechstunden in meinem Wahlkreisbüro oder aber auch Lernen zu ermöglichen . Weiterbildung darf kein Luxus aus meiner Gewerkschaftsarbeit . Anstatt die Weitbil- für wenige sein, Weiterbildung muss für alle möglich dungsinteressierten zu unterstützen, speisen Sie sie mit sein, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen und Almosen ab, und selbst die kürzen Sie noch über Sankti- (B) egal wie groß der Betrieb ist, in dem sie arbeiten . onen . So sieht Ihre Arbeitsmarktpolitik aus . (D) Am Ende wollen wir ein Recht auf Weiterbildung Die Bundesregierung wollte einen besonderen erreichen – in der Praxis, nicht auf dem Papier . Ich bin Schwerpunkt beim Abbau der verfestigten Langzeitar- der festen Überzeugung, dass wir mit dem AWStG einen beitslosigkeit setzen . Jetzt sind bald drei Jahre vergan- weiteren Schritt in die richtige Richtung gehen . Ich bitte gen, und es hat sich nichts getan . Hier haben Sie grandios deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf . versagt . Herzlichen Dank . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das können Sie nicht schönreden, so wie Herr der CDU/CSU) Schiewerling immer alles schönredet . Er guckt gar nicht hoch, er liest ganz verbissen, wahrscheinlich in den neu- Vizepräsident Johannes Singhammer: esten Zahlen, die er wieder nicht versteht . Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann (Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von für die Fraktion Die Linke . der CDU/CSU: Unter der Gürtellinie!) (Beifall bei der LINKEN) Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, Herr Schiewerling: Es gibt immer noch über 1 Million lang- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): zeiterwerbslose Menschen in diesem Land . Aber Sie tun Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen an dieser Stelle nichts . und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Wis- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sen Sie, dieser Gesetzentwurf ärgert mich eigentlich so richtig . Sie haben davon gesprochen, dass das Gesetz so Wenn Sie mehr Weiterbildungsangebote möchten, dann einen schönen, schwierigen Namen hat . Ich sage, es ist müssen Sie einfach auch Geld in die Hand nehmen, dann ein vielversprechender Name: Gesetz zur Stärkung der müssen Sie dafür sorgen, dass mehr Bildungsmaßnah- beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut- men stattfinden. Denn Bildung ist das A und O, um auf zes in der Arbeitslosenversicherung . Eine tatsächliche dem Arbeitsmarkt bestehen zu können . Stärkung habe ich aber leider in Ihrem Gesetzentwurf vergeblich gesucht . Das Verhältnis muss sich umkehren: Anstatt den Menschen zu misstrauen oder sie zu verfolgen, sorgen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie lieber dafür, dass Langzeiterwerbslose ein Recht auf 17068 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) Weiterbildung bekommen! Dieses Recht fordern wir als Albert Weiler (CDU/CSU): (C) Fraktion Die Linke ein . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei der LINKEN) und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir sagen lassen, Herr Schiewerling kann keine Zahlen Alles kann man aber nicht mit Weiterbildung lösen; lesen, die SPD kann auch nichts; denn nicht immer sind es fehlende Qualifikationen, die (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU einer Arbeitsaufnahme im Weg stehen . Viele Menschen und der SPD) sind sogar überqualifiziert, weil sie zwei, drei oder vier Berufsabschlüsse haben . In vielen Regionen gibt es es geht also ganz schön unter die Gürtellinie hier . Lassen reichlich qualifizierte Erwerbslose, aber viel zu wenige Sie uns demgegenüber darauf zu sprechen kommen, was Arbeitsplätze . Das ist leider Realität, zum Beispiel in das Gesetz wirklich kann . Ostsachsen: Erst gingen die Betriebe, dann gingen die Beschäftigten, die Arbeitskräfte; heute ist diese Region Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das fast ausgeblutet . Wir brauchen hier Perspektiven . Des- von uns eingebrachte Gesetz zur Stärkung der beruflichen halb fordern wir schon lange die Einführung eines öffent- Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar- lich geförderten Beschäftigungssektors . beitslosenversicherung . Mit diesem Gesetz nehmen wir vor allem Geringqualifizierte, Ungelernte und Langzeit- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- arbeitslose in den direkten Fokus, um diese verstärkt in neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) existenzsichernde Arbeit zu vermitteln, sie passgenau zu qualifizieren und zu begleiten. Nun zur Arbeitslosenversicherung . Dazu gibt es in Ih- rem Gesetzentwurf ja wirklich überhaupt nichts zu fin- Das ist wichtig und richtig . Das IAB bestätigt, dass den . Über zwei Drittel der Erwerbslosen werden nicht im Geringqualifizierte, die an einer abschlussbezogenen Bereich der Arbeitslosenversicherung betreut, sondern Weiterbildung teilgenommen haben, eine 20 Prozent hö- im Hartz-IV-System . Fast ein Viertel der Beschäftigten, here Beschäftigungswahrscheinlichkeit aufweisen, und die erwerbslos werden, fallen direkt in Hartz IV . Das ist das auch noch nach sieben oder acht Jahren . Dr . Kruppe Ihre Arbeitsmarktpolitik der letzten 15 Jahre . vom IAB spricht von sehr hohen und sehr deutlichen Ef- fekten . Die Arbeitslosenversicherung muss wieder der Regel- fall bei der Absicherung von Erwerbslosigkeit sein . Dies Unser Gesetz enthält einen ganzen Blumenstrauß betrifft auch im besonderen Maße die kurzzeitig Be- sinnvoller Maßnahmen, mit denen wir den Zugang zur schäftigten wie Filmschaffende, aber auch etliche Leih- beruflichen Weiterbildung für Geringqualifizierte, Lang- arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gehören dazu . zeitarbeitslose und Ältere verbessern und die berufliche (B) Für diese bieten Sie ein völlig unzureichendes Angebot . Qualifikation enorm erhöhen. Auf einige will ich kurz (D) eingehen . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden die Grundkompetenzen für Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer stärker fördern . Daher för- Eine wirkliche Antwort wäre, die Rahmenfrist wieder dern wir zur Vorbereitung auf eine abschlussbezogene von zwei auf drei Jahre zu erweitern berufliche Weiterbildung notwendige Grundkompeten- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sehr zen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik und gute Idee!) Informations- und Kommunikationstechnologien . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld bereits der SPD) nach vier Monaten Beitragszeit zu gewähren . – Danke . – Lese- und Rechenfähigkeit sind unabdingbare (Beifall bei der LINKEN) Voraussetzungen, um die berufliche Handlungsfähigkeit Ich komme zum Schluss . Diesen Fehler sozialdemo- zu erwerben, um schlussendlich auch einen Berufsab- kratischer Regierungsverantwortung zu korrigieren, soll- schluss erfolgreich nachholen zu können . te eigentlich auch Anliegen der Genossinnen und Genos- Wir werden Weiterbildungsabbrüchen vorbeugen, sen der SPD sein . Ich weiß natürlich, dass Sie das nicht indem wir zur Stärkung von Motivation und Durchhal- wollen . Für eine tatsächliche Umsetzung scheinen Sie im tevermögen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Moment saft- und kraftlos zu sein . abschlussbezogenen Weiterbildung beim Bestehen der Danke schön . Zwischenprüfung eine Prämie von 1 000 Euro zahlen . Bei Bestehen der Abschlussprüfung kommen noch ein- (Beifall bei der LINKEN) mal 1 500 Euro dazu . Derzeit bricht jeder Vierte vorzei- tig seine Weiterbildung ab . Wenn wir es schaffen, diese Vizepräsidentin : Quote zu verringern, dann ist das gut investiertes Geld . Vielen Dank .– Als nächsten Redner rufe ich jetzt den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kollegen Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion, auf . ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Karl Schiewerling Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Weiterbildungs- [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Zahlenverste- förderung für Beschäftigte in kleinen und mittleren Un- her!) ternehmen. Diese wird weiter flexibilisiert und in Betrie- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17069

Albert Weiler (A) ben mit weniger als 250 Beschäftigten künftig gefördert . finde es schade, dass Sie sich trotz dieser Kritik so bera- (C) Wir stärken in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten tungsresistent gezeigt haben . der Kofinanzierung von beruflicher Weiterbildung durch die Agenturen für Arbeit und die Arbeitgeber . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gesetz verbessert zudem den Schutz für berufli- Dabei wissen Sie es doch selbst; denn die Zahlen ha- che Unterbrechungen bei Weiterbildung oder Kinderer- ben wir von Ihnen: Über 1 Million Menschen sind neun ziehung nach dem dritten Lebensjahr . Wir schaffen hier Jahre und länger im Hartz-IV-Bezug . Das ist wirklich ein die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung, um grandioses Versagen der Arbeitsmarktpolitik . Das liegt Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden . an den Kürzungen, die im Bereich der aktiven Arbeits- marktpolitik vorgenommen wurden . Das liegt daran, dass Wir entfristen die bis zum 31 . Dezember 2016 befris- Sie jahrelang nur Kurzfristmaßnahmen gemacht haben, tete Leistung, nach der innovative Ansätze in der Arbeits- die eben nicht zu einer besseren Qualifizierung geführt marktpolitik erprobt werden können . Damit stellen wir haben, und das liegt vor allen Dingen daran, dass Sie der Bundesagentur für Arbeit künftig dauerhaft innovati- nach dem Motto gehandelt haben: Vermittlung um jeden onsfördernde Instrumente zur Verfügung . Das bietet die Preis, ganz unabhängig davon, ob es in irgendeiner Weise Chance, neue Handlungsansätze in der Arbeitsmarktpo- nachhaltig ist . Diese Strategie ist wirklich gescheitert . litik zu erproben sowie flexibel auf Entwicklungen am Arbeitsmarkt zu reagieren . Wir fördern somit gezielt die (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Kooperation der BA mit verschiedenen Partnern auf re- GRÜNEN]: Das ist unmenschlich!) gionaler Ebene . Daraus werden sich Synergieeffekte für Ihre Analyse, die Sie in den Gesetzentwurf hineinge- die verstärkte Netzwerkarbeit der Agenturen für Arbeit schrieben haben, ist ja durchaus richtig . Sie sagen: Wir ergeben . haben in Deutschland einen Fachkräftearbeitsmarkt, und Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Wir stärken für einen solchen Fachkräftearbeitsmarkt braucht man mit unserem Gesetz erstens eine breitere und stärkere bekanntlich Fachkräfte; die muss man qualifizieren, und Partizipation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- in die muss man investieren . Jetzt behaupten Sie, dass mern an Fort- und Weiterbildung . Zweitens erhöhen wir Sie dies mit genau diesem Gesetzentwurf tun würden . die Durchlässigkeit für einen beruflichen Aufstieg. Wir (Zuruf von der SPD: Das stimmt ja auch!) verbessern drittens die Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft . Wir leisten viertens einen wichtigen Das machen Sie in begrenztem Umfang tatsächlich für Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und die Arbeitslosengeld-I-Bezieherinnen und -Bezieher . fünftens geben wir der BA dauerhaft flexible innovative Aber, liebe Frau Kramme, lieber Herr Weiler – Sie haben (B) Instrumente an die Hand, mit denen sie für die Situation hier das große Loblied auf die Bedeutung der Weiterbil- (D) und die Region passende Maßnahmen stricken kann, um dung gesungen –: Warum gilt dies bitte schön nicht für Arbeitslose innovativ in den Arbeitsmarkt zu bringen . SGB-II-Bezieher, also für diejenigen, die Hartz IV be- ziehen? Warum gilt für die nicht, dass Weiterbildung vor (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vermittlung steht? Das, was Arbeitslosengeld-I-Bezie- ordneten der SPD) her kriegen, kriegen die SGB-II-Bezieher nicht . Warum – Vielen Dank . nicht? Erläutern Sie uns das mal! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetz große Chancen bei der Bekämpfung der Lang- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zeitarbeitslosigkeit eröffnen, und danke denen, die daran Für die gibt es keinen einzigen Cent zusätzlich für die gearbeitet haben . Ich freue mich darauf, dass Sie dem Weiterbildung . Gesetz zustimmen . Vielen Dank . Die Jobcenter stehen vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder sie fördern einige wenige etwas bes- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ser, oder sie fördern viele ganz schlecht . Meine Damen und Herren, so kann das nicht weitergehen . Mit diesem Gesetzentwurf zeigen Sie zum x-ten Mal, dass Sie die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: SGB-II-Bezieher vollständig abgeschrieben haben . Das Vielen Dank .– Für Bündnis 90/Die Grünen spricht werden wir nicht hinnehmen . jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kapituliert haben Sie offensichtlich auch vor der Auf- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Peter gabe, die Arbeitslosenversicherung für die veränderte Struck hat bekanntermaßen einmal gesagt: Kein Gesetz Arbeitswelt fit zu machen. Angesichts dessen, dass Sie verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht worden mit Ihrer Sonderregelung nur 0,6 Prozent derjenigen er- ist . – Formal trifft das auch auf dieses Gesetz zu, in- reichen, die Sie erreichen wollten, können Sie doch selbst haltlich leider nicht, obwohl die Koalition in der Aus- nur sagen: Die ist vollständig wirkungslos .– Da Sie die- schussanhörung, wie ich finde, mit substanzieller Kritik se wirkungslose Regelung jetzt noch einmal verlängern bedacht worden ist . Frau Kramme, da waren wir offen- und damit vor der Aufgabe, in dieser Legislaturperiode sichtlich in zwei unterschiedlichen Veranstaltungen . Ich Veränderungen vorzunehmen, kapitulieren: Bitte, sagen 17070 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Brigitte Pothmer (A) Sie nie wieder: Eine Große Koalition ist dafür da, große von Arbeit und Ausbildung ausgeschlossen waren, neue (C) Aufgaben zu lösen . – Das hier ist Pipifax . Wege eröffnen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜND- GRÜNEN]: Es könnten noch mehr sein!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kleines Karo!) Es ist aus sozialen sowie aus gesellschaftlichen Gründen Wenn dieser Gesetzentwurf, wenn diese Regelung die nicht hinnehmbar, dass die Mehrheit der Menschen im Blaupause dafür sein soll, wie Sie zukünftig mit den An- SGB-II-Bezug keinen Berufsabschluss nachweisen kann . forderungen von Arbeit 4 0. umgehen wollen, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie! Arbeit 4 .0 ist nicht irgend- Warum wir das AWStG so begrüßen, liegt auf der etwas, was in der Zukunft stattfindet. Das hat bereits be- Hand: Je geringer die Qualifikation, desto schlechter die gonnen, und deswegen müssen wir die Regelungen jetzt Chancen, desto weniger Teilhabe . Wir Sozialdemokra- anpassen . Das dürfen wir nicht auf den Sankt-Nimmer- ten wollen selbstverständlich das Gegenteil: Wir wollen leins-Tag verschieben . mehr Menschen durch gute Arbeit teilhaben lassen am gesellschaftlichen Leben. Die Fragen der beruflichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weiterbildung werden nicht zuletzt auch aufgrund von Aber, meine Damen und Herren, ich bin ja fair . Globalisierung und Digitalisierung immer dringender . Einerseits wird immer schneller neues Wissen abgefor- (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten dert, andererseits müssen aber auch die Grundlagen stim- der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE men . Deshalb ist es uns so wichtig, sprachliche sowie LINKE]: Hart, aber fair!) mathematische Grundkompetenzen zu fördern . Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Ja, der Gesetz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entwurf enthält auch einige wenige positive Elemente . der CDU/CSU) (Katja Mast [SPD]: Hört! Hört!) Arbeitsförderung mit Zukunft heißt für uns, die Be- Wir finden es gut, dass es jetzt möglich wird, auch die schäftigungsfähigkeit zu sichern, und das geht nicht ohne Ausbildung von Grundqualifikationen zu fördern. Wir Bildung . Das geht auch nicht ohne stetige Auffrischung finden es gut, dass es eine Verbesserung der präventiven und Erweiterung des eigenen Könnens . Die Verantwor- Qualifizierung gibt. Deswegen werden wir – schweren tung für die berufliche Weiterbildung ruht auf mehreren Herzens – diesen Gesetzentwurf nicht ablehnen, sondern Schultern: Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen uns enthalten . Aber, meine Damen und Herren, verstehen ihren Beitrag leisten . Sie das nicht falsch . Das ist wirklich ein großes Zuge- (B) In der gestrigen Ausschusssitzung hieß es, die Regie- (D) ständnis . Nehmen Sie zur Kenntnis: Dieser Gesetzent- rungsfraktionen vertrauten ihrem eigenen Gesetzentwurf wurf löst die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht . Doch, das tun wir . Ich bin überzeugt, dass Ideen wirklich nicht . und Ziele richtig sind . Das haben im Übrigen auch die Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit . Experten in der Anhörung bestätigt . Ich war übrigens bei der gleichen Veranstaltung wie Frau Kramme . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gleichwohl werden nicht alle Probleme des Arbeits- markts mit dem AWStG allein gelöst; das ist richtig . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Liebe Frau Zimmermann, ja, wir haben es zum Beispiel Vielen Dank . – Als Nächstes hat jetzt der Kollege nicht geschafft, im Rahmen dieses Gesetzentwurfs den Michael Gerdes, SPD-Fraktion, das Wort . Zugang zum Arbeitslosengeld I so zu regeln, dass kurz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeitig Beschäftigte, insbesondere im Kulturbereich, bes- der CDU/CSU) ser abgesichert sind . Das bleibt für die SPD aber auf der Tagesordnung; das kann ich Ihnen versprechen . Michael Gerdes (SPD): (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ver- Für mich als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet bleibt schiedenen Maßnahmen des AWStG wurden nun schon ebenso auf der Agenda, dass wir mit Blick auf Langzeit- mehrfach zitiert . Sie sind bekannt . Ich möchte deshalb arbeitslose eine Doppelstrategie fordern . Wir müssen noch einmal unsere Zielrichtung in den Mittelpunkt stel- gleichzeitig auch alternative Wege ebnen, wir müssen len . die Bildung der Menschen fördern, und wir wollen bei- Dieser Gesetzentwurf, Frau Pothmer, ist kein Pipifax . spielsweise auch den sozialen Arbeitsmarkt auf den Weg bringen . Es ist besser, Beschäftigung statt Arbeitslosig- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit zu finanzieren. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank, dass Sie sich kraftvoll enthalten wer- der CDU/CSU) den! Wir verabschieden diesen Gesetzentwurf, damit mehr Menschen in unserem Land Zugang zu berufli- Für Betroffene bedeutet der soziale Arbeitsmarkt ge- cher Weiterbildung und Ausbildung haben . Wir wollen sellschaftliche Teilhabe . Er bedeutet Minimierung mate- möglichst vielen die Chance geben, so qualifiziert wie rieller und kultureller Teilhabedefizite sowie verbesserte möglich zu arbeiten . Wir wollen denjenigen, die bisher Chancen auf Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17071

Michael Gerdes (A) Nebenbei werden auch eigenständige Ansprüche in den wir heute verabschieden, ist aber die Tatsache, dass wir (C) sozialen Sicherungssystemen geschaffen . Ich glaube, das Beschäftigten mit einer geringen Qualifikation, die im ist einer der Wege, den wir gehen werden . Beruf stehen, über die berufliche Weiterbildung in der Zukunft eine entsprechende Förderung zukommen las- Herzlichen Dank, Glück auf! sen können . Damit kann präventiv erreicht werden, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine mögliche Langzeitarbeitslosigkeit dieser Menschen der CDU/CSU) verhindert wird . Wir helfen Beschäftigten, Grundkompetenzen zu er- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: werben, um einen Berufsabschluss nachzuholen . Sie Vielen Dank .– Als Nächstes spricht der Kollege Uwe haben künftig Anspruch auf Förderleistungen in den Lagosky, CDU/CSU-Fraktion . Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik, Informations- und Kommunikationstechnologien . Das haben wir heute (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . schon gehört . Dr . Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Uwe Lagosky (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lagosky, gestatten Sie eine Zwischen- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau frage der Kollegin Pothmer? Pothmer, wir haben es eben gerade noch einmal klären lassen . Es kam auch im Ausschuss zur Sprache, ist dort Uwe Lagosky (CDU/CSU): aber nicht geklärt worden . Es ist so: Der Instrumenten- Ich würde das gerne auf das Ende verschieben . Jetzt kasten des SGB III gilt über die Verweisklausel auch nicht . für das SGB II . Insofern ist das, was Sie gesagt haben, scheinbar – scheinbar; das sage ich ganz bewusst an der (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stelle – nicht richtig . NEN]: Ach, nein! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Stellung beziehen!) Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, aber nicht in diesem Fall! – Gegen- Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung der Ar- ruf von der CDU/CSU: Doch!) beitswelt und die Veränderung, die damit einhergeht, ein lebenslanges Lernen erfordern . Insbesondere vor dem Die Arbeitslosenquote von Arbeitnehmerinnen und Hintergrund der Arbeitswelt 4 0. steigen die Ansprüche (B) Arbeitnehmern mit einem qualifizierten Berufsab- an die Beschäftigten in allen Bereichen . Dies ist schon (D) schluss entwickelt sich in Richtung Vollbeschäfti- heute zu erkennen . Deshalb ist es umso wichtiger, dass gung . wir diese Menschen, die eine geringe Qualifikationsstu- fe haben, im Beruf so fördern und fordern, dass sie den Das ist ein Zitat aus der Begründung des Gesetzentwurfs Anschluss an den Arbeitsmarkt in der Zukunft nicht ver- und bringt zum Ausdruck, dass wir in Deutschland auf lieren . dem richtigen Weg sind . Doch trotz der guten Konjunk- tur und der vielen unterschiedlichen Unterstützungspro- Die bereits vorhandene Weiterbildungsförderung für gramme und der immensen Arbeit, die die Jobcenter und Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unterneh- Arbeitsagenturen leisten, hat sich an der Zahl von 1 Mil- men hat zu einer wachsenden Nachfrage nach Weiter- lion Langzeitarbeitslosen in den letzten Jahren nicht viel bildungsmaßnahmen geführt . Daher führen wir eine zu- geändert . sätzliche altersunabhängige Förderung von beruflichen Weiterbildungen außerhalb der Arbeitszeit ein, die an die (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- Bedingung geknüpft ist, dass die Arbeitgeber 50 Prozent KE]: Genau!) der Kosten übernehmen . Es kommen Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit In der gesamten deutschen Wirtschaft ist die berufli- heraus . Dafür kommen andere wieder hinein . che Weiterbildung von absolut großer Bedeutung . Die (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- Weiterbildungsförderung insbesondere in kleinen und KE]: Neun von zehn!) mittelständischen Unternehmen ist ganz besonders wich- tig, weil man hiermit denjenigen, die in diesem Bereich Daher ist es von besonderer Bedeutung, sich mit den arbeiten und eine geringe Qualifizierung haben, zusätzli- Wurzeln des Problems auseinanderzusetzen . Das wollen che Weiterbildungen ermöglicht . Der Regierungsentwurf wir vor dem Hintergrund dieser Zahlen bei der Langzeit- enthält eine ganze Reihe von Schritten, um langzeitar- arbeitslosigkeit tun . beitslose Menschen effektiver und nachhaltiger zu unter- (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- stützen . KE]: Wann? Wann?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz all dieser Maß- Der vorliegende Gesetzentwurf setzt bei der Stärkung nahmen ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass es ex- der beruflichen Weiterbildung an und enthält eine Rei- trem schwierig ist, Langzeitarbeitslose zu vermitteln, he von Schritten, um die von Langzeitarbeitslosigkeit weil es eine ganze Reihe von Vermittlungshemmnissen betroffenen Menschen besser vermittelbar zu machen . gibt, die nicht nur mit Qualifizierung zu tun haben. Das Mindestens genauso wichtig in dem Gesetzentwurf, den zeigt auch die Eingliederungsquote nach arbeitsmarktpo- 17072 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Uwe Lagosky (A) litischen Maßnahmen von etwa 23 Prozent im Jahr 2014, Uwe Lagosky (CDU/CSU): (C) wie dem Bericht der BA zur Arbeitsmarktsituation von Frau Pothmer, zunächst einmal hat es sich so ange- langzeitarbeitslosen Menschen zu entnehmen ist . Das ist hört, als ob Sie Ihre Aussage auf den gesamten Instru- aus meiner Sicht einfach zu wenig . mentenkasten bezogen haben .

Die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit – ich sagte es (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schon – sind vielschichtig, und sie lassen sich nicht in- NEN]: Nein, habe ich nicht!) nerhalb kurzer Zeit beseitigen . Unterschiedliche Vermitt- – So hat es sich in Ihrer Rede angehört; insofern mag an lungshemmnisse beeinflussen die Arbeitsvermittlung. dieser Stelle durchaus noch eine Differenz zwischen uns Neben der Frage der Qualifikation sind es unter anderem bestehen . Wie ich höre, ist das aber nicht der Fall . Ich gesundheitliche Einschränkungen, aber auch Suchtpro­ kann das an dieser Stelle nicht endgültig aufklären; wir bleme und die Umstände, dass man älter als 55 Jahre ist sollten das aber machen . Gemeinsam mit dem Bundes- oder in nicht gefestigten Familienstrukturen lebt . All die- ministerium für Arbeit und Soziales sollten wir das, was se Dinge spielen dabei durchaus eine Rolle und führen zu Sie eben gesagt haben, klären . Vermittlungshemmnissen . Trotzdem kann ich Ihre Auffassung nicht verstehen . Wenn Sie diesen Gesetzentwurf hier und heute mögli- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme cherweise ablehnen, was Sie an anderer Stelle ja schon zum Schluss . Unser Ziel bleibt es, den Menschen eine einmal geäußert haben, Perspektive zu geben und ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen . Der beste Schlüssel dafür (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ist der Zugang zu beruflicher Weiterbildung. GRÜNEN]: Nein! Enthaltung!) dann verstehe ich nicht, warum Sie das tun . Wir haben Herzlichen Dank . mit Blick auf das SGB III den Vorrang der Vermittlung vor der Weiterbildung, also den Vermittlungsvorrang, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) aufgehoben . Ich verstehe nicht, warum Sie dem nicht zustimmen wollen . Das ist eine ureigene Forderung von Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ihnen, die Sie in einem Antrag erhoben haben . Auch Sie hätten an dieser Stelle etwas erreicht, wenn Sie heute zu- Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Pothmer zu einer stimmen würden . Ich bitte darum, dass Sie das auch tun . Kurzintervention das Wort . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ (D) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DIE GRÜNEN]: Wir enthalten uns! Hören Sie doch mal richtig zu!) Herr Lagosky, es nützt nichts, meine Frage nicht zuzu- lassen; ich lasse mich nicht mundtot machen . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Na, na! – Frau Kollegin Pothmer, ich kann Ihnen jetzt nicht „Mundtot“?) noch einmal das Wort geben, weil wir hier keine Zwie- gespräche führen . Der einzelne Abgeordnete hat nur die Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, dass Sie mir die- Gelegenheit, kurz etwas zu einem Sachverhalt zu sagen . se Möglichkeit eröffnen, weil meine Aussage, das gelte Als Nächster darf der Kollege Dr . Ernst Dieter für das SGB II nicht, infrage gestanden hat . Ich will hier Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort ergreifen . ausdrücklich betonen, dass diese Aussage richtig ist . Der Vorrang der Weiterbildung vor der Vermittlung gilt nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für das SGB III . Aus diesem Grund hat die Bundesagen- der CDU/CSU) tur für Arbeit in der Anhörung ausdrücklich eine korre- spondierende Regelung für das SGB II gefordert . Auch Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in der Anhörung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stark kritisiert, dass diese Möglichkeit eben nicht im Hin- Wenn meine Fraktion mir die Möglichkeit gibt, hier als blick auf das SGB II gilt . Meine Damen und Herren, ich Bildungspolitiker etwas zu sagen, dann tut sie das, weil habe doch den Eindruck, dass wir bei sehr unterschiedli- drei Zahlen uns ja wohl alle bewegen: Es gibt 7,5 Milli- chen Veranstaltungen waren . onen funktionale Analphabeten in Deutschland und über 5 Millionen Menschen, die sich ohne abgeschlossene Ich danke Ihnen . Berufsausbildung im Erwerbsstatus befinden, von denen über 1 Million unter 30 Jahre alt ist . (Zuruf von der CDU/CSU: Das glaube ich auch, Frau Pothmer!) Wenn man diese Zahlen auf sich wirken lässt, kann man nur für jeden Baustein dankbar sein, den wir einset- zen können, um mehr Chancen für diese verschiedenen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Gruppen von Menschen zu ermöglichen – für jeden ein- zelnen Baustein . Herr Kollege Lagosky, möchten Sie darauf antwor- ten? – Dann haben Sie jetzt das Wort . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17073

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Ich will das jetzt nicht zu emotional machen, es aber Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) auch in Relation dazu setzen, wie diese Koalition hier Herr Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Zwischen- ressortübergreifend arbeitet . Wir haben uns gefreut, dass frage der Kollegin Pothmer? Staatssekretär Rachel für das BMBF sagen konnte: Die Kommunen und die Länder engagieren sich in der Alpha- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): betisierungsdekade, und das BMBF gibt 100 Millionen Euro über zehn Jahre dazu . Das brechen wir jetzt auf . Jetzt kommen in der Solidargemeinschaft der Arbeits- Umgekehrt ist das, was die Arbeitsmarktpolitiker, die losenversicherung noch 230 Millionen Euro für zehn Bildungspolitiker und andere jetzt hier zusammen tun, Jahre obendrauf, um die Grundkompetenzen von Lesen, auch eine Art und Weise, die Gleichwertigkeit von be- Schreiben und Rechnen zu vermitteln und so einen Ein- ruflicher und akademischer Bildung im Grundverständ- stieg in Arbeit zu ermöglichen . Welch ein Erfolg! Welch nis mit umzusetzen . Zwar kann man immer noch mehr ein Schritt, auf dem man aufbauen kann! machen . Das wird auch geschehen, wenn es denn jetzt wirksam wird . Aber man soll die ersten Bausteine nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kleinreden . Das ist ein Wunsch, den wir zusammen ha- ben . Es geht um die Menschen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, bis zum Alter von 30 Jahren Danke schön . oder darüber hinaus . Dort schaffen wir jetzt ein Instru- mentarium, das neu ist und dem manche auch nicht un- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eingeschränkt zugestimmt haben, nämlich die sogenann- te Weiterbildungsprämie . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank .– Als letzte Rednerin zu diesem Ta- Die Weiterbildungsprämie hat ja eine Vorgeschichte . gesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Dr .Astrid Mit ihr hat man unter anderem in England gute Erfahrun- Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort . gen gemacht . Sie hat in Teilen eine positive Evaluation in einem nicht unbedeutenden Land wie Thüringen erfah- (Beifall bei der CDU/CSU) ren . Vielleicht können sich auch die Vertreter der Links- fraktion in Bezug auf Thüringen sachkundig machen und Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): sich einmal anschauen, welche ersten Erfolge sich dort Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- schon abzeichnen . gen! Wir befinden uns im Jahre 2016. Ganz Europa leidet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, (B) der CDU/CSU) der Staatsschulden- und der Bankenkrise . (D) Im Übrigen ist es doch nur gut, wenn Menschen, die (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Staats- mit 25 oder 30 Jahren, also in einem Alter, in dem manche schuldenkrise gibt es nicht! Bankenkrise!) resignieren, ihre zweite Chance ergreifen, in eine Berufs- Ganz Europa? Nein, ein von unbeugsamen Deutschen ausbildung einsteigen und über eine Zwischenprüfung bevölkertes Land stellt sich dieser Krise wacker entge- und eine Abschlussprüfung einen Abschluss bekommen, gen und vermeldet einen Arbeitsmarktrekord nach dem das auch als Erfolg in der Form erleben, dass es für sie anderen . nicht ein Schulterklopfen nach dem Motto „Jetzt hast du es auch geschafft“ oder eine Urkunde in Goldschnitt gibt, (Beifall bei der CDU/CSU) sondern etwas sehr Handfestes, etwas, was sie begreifen, Das Leben ist deshalb tatsächlich nicht leicht für die was ihnen nützt, mit dem sie renommieren können und deutsche Opposition, die offenbar mit ihrer Politik diese aufgrund dessen sie sich etwas leisten können . So ist die Blütezeit beenden will . Weiterbildungsprämie doch gemeint – als Anstoß, als Motivation, als Aufforderung, durchzuhalten . (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- KE]: Jetzt kommt wieder die Schönrederei!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Opposition, Frau Zimmermann, Sie kommen Frau Zimmermann, ich verstehe überhaupt nicht, dass mir wirklich vor wie die Römer bei „Asterix“ . Sie das so abtun, als sei es diskriminierend gemeint . Nein, Diskriminierung findet im deutschen humanis- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) tischen Bildungswesen bisher an einer anderen Stelle Sie versuchen es immer wieder . Aber ich sage Ihnen: So statt . Zum Beispiel diejenigen, die die High Potentials wird das nichts; denn die Zahlen, die nicht nur der Kol- in der Wissenschaft sind, oder diejenigen, die ein ganz lege Schiewerling sehr gut lesen kann, sondern die wir tolles Abitur machen, bekommen selbstverständlich ihre von der Union alle ganz gut lesen können, sprechen eine Prämien, nämlich als spezielles Stipendium oder als be- andere Sprache . sonderen Gutschein oder anderes . Aber denjenigen, die sich verdammt anstrengen, um von ganz unten mit müh- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber samsten Möglichkeiten Schritt für Schritt nach oben zu die Römer hatten ganz Gallien besetzt, bis auf kommen, verwehrt man das . ein Dorf!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Ein schlaues Dorf .– Als 2005 Bun- der CDU/CSU) deskanzlerin wurde, lag die Arbeitslosenquote bei fast 17074 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Astrid Freudenstein (A) 12 Prozent . Erst vorgestern kamen die aktuellen Zahlen einmal in Ordnung so . Danach werden wir uns überlegen (C) heraus . Jetzt liegen wir bei 6 Prozent . Das heißt: Unter müssen, mit welchen dauerhaften und systemkonformen Unionsregierung hat sich die Zahl der Arbeitslosen in- Instrumenten wir den Zugang von Kulturschaffenden zur nerhalb eines Jahrzehnts halbiert . Arbeitslosenversicherung noch weiter verbessern kön- nen . (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- KE]: Weil Sie so viele herausgenommen ha- ben!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi- Dazu gehört natürlich eine gute Konjunktur . Dazu schenfrage der Kollegin Pothmer? gehören natürlich Fleiß und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer . Dazu gehören natürlich die Risikobereit- schaft und die Innovationskraft deutscher Unternehmer . Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Aber natürlich haben wir dafür auch mit unserer Politik Nein, die gestatte ich jetzt nicht mehr . die Weichen richtig gestellt . Die Kosten der Arbeit zum (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beispiel sind ein wichtiger Faktor . Wenn wir es weiterhin schaffen, die Lohnnebenkosten niedrig zu halten, dann Wir bleiben dabei: Wir wollen nur dort Ausnahmen bleibt Deutschland weiter attraktiv, und zwar für Arbeit- machen, wo es strukturelle branchenspezifische Nach- nehmer wie für Arbeitgeber . teile auszugleichen gilt, und nicht generell mit neuen Nicht umsonst hat Rot-Grün damals die Rahmenfrist Pauschalregelungen die Stabilität der Arbeitslosenversi- in der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre gesenkt cherung gefährden . Ihre Vorschläge würden aber genau und die Anwartschaftszeit bei zwölf Monaten belassen . dazu führen . Das mag in guten Zeiten noch recht ordent- Das hat Wirkung gezeigt . Seit fast fünf Jahren ist der lich funktionieren . Aber wir dürfen gerade jetzt, in dieser Beitragssatz stabil . Das hilft den Arbeitnehmern, denen schwierigen Phase, in der wir mit steigender Arbeitslo- damit mehr Netto vom Brutto bleibt . sigkeit rechnen müssen, weil wir sehr viele Flüchtlinge im Land haben, die nicht ausreichend qualifiziert sind, Natürlich hat sich der deutsche Arbeitsmarkt in den nicht an den Säulen des Sozialstaates bohren, meine Da- vergangenen Jahren verändert; Sie haben das in Ihren men und Herren . Anträgen etwas überspitzt beschrieben . Es gibt tatsäch- lich eine Flexibilisierung in den Arbeitsverhältnissen . Es Liebe Opposition, um noch einmal auf das Bild zu Be- gibt mehr Befristungen, mehr Teilzeit, mehr Jobwechsel . ginn meiner Rede zurückzukommen: Sie brauchen, um Aber all das verhindert nicht, dass man innerhalb von unser gallisches Dorf zu besiegen, einen Zaubertrank . 24 Monaten 12 Monate Anwartschaft erwerben kann . Dafür brauchen Sie mindestens drei Zutaten, die ich Ih- (B) Das ist auch möglich, wenn man in Teilzeit arbeitet oder nen verraten kann, nämlich Eigenverantwortung, Reali- (D) wenn man befristet beschäftigt ist . Was im Prinzip ganz tätssinn und Nachhaltigkeit . gut funktioniert, das sollte man nicht einfach über den (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Haben Haufen werfen . Wir sollten Änderungen an den Stellen wir alles!) beschließen, an denen wir das System noch weiter ver- bessern können . Genau das tun wir mit dem vorliegenden Ich danke Ihnen . Gesetzentwurf . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU) ordneten der SPD) Wir wissen, dass Weiterbildung in unserem speziali- sierten Arbeitsleben immer wichtiger wird . Deswegen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wollen wir genau jene unterstützen, die sich weiter qua- Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet . lifizieren. Dazu werden wir beispielsweise die -Weiter Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- bildungsförderung flexibilisieren oder Förderleistungen desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung zum Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen schaf- der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungs- fen . schutzes in der Arbeitslosenversicherung . Zu Tagesord- Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird nungspunkt 8 a liegen drei schriftliche Erklärungen nach immer wichtiger . Wenn wir das Fachkräftepotenzial von § 31 der Geschäftsordnung vor 1). Frauen heben wollen, dann müssen wir zum Beispiel den Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Arbeitslosenversicherungsschutz bei der Kindererzie- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- hung erweitern . che 18/8647, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Auch den speziellen Erwerbsbiografien wird Rech- auf Drucksache 18/8042 in der Ausschussfassung anzu- nung getragen . Die Sonderregelung für überwiegend nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in kurzfristig Beschäftigte zum Beispiel macht genau dort der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Ausnahmen, wo es strukturelle Nachteile auszugleichen zeichen . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der gilt, zum Beispiel bei Kulturschaffenden, die immer Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den wieder kurze Arrangements haben . Sie haben einen An- Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der spruch, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt Opposition angenommen . der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen . Diese Sonderregelung wird jetzt verlängert . Das ist erst 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17075

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Dritte Beratung Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der (C) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– Milchmarkt stabilisieren – Milchkrise beenden Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange- Drucksachen 18/6206, 18/8641 nommen . Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Tagesordnungspunkt 8 b . Wir setzen die Abstimmung die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . und Soziales auf Drucksache 18/8647 fort . Der Ausschuss Wenn Sie die Plätze etwas zügiger einnehmen könn- empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung ten, könnte ich die Aussprache eröffnen . die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7425 mit dem Titel „Schutzfunktion der Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege Arbeitslosenversicherung stärken“ . Wer stimmt für diese Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen . Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen . NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Unter Buchstabe c empfiehltder Ausschuss die Ableh- Kollegen! Bevor ich mit meiner Rede beginne: Herzli- nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen chen Glückwunsch, Frau Staatssekretärin, zu Ihrem Ge- auf Drucksache 18/5386 mit dem Titel „Arbeitslosenver- burtstag heute! sicherung gerechter gestalten und Zugänge verbessern“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (Beifall) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Was für Zeiten haben wir eigentlich? 300 Bauernver- nen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei bandsmitglieder demonstrieren in Schleswig-Holstein Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen . gegen den Bauernverband mit seinem äußerst hilflosen Präsidenten Schwarz . Tagesordnungspunkt 8 c . Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Arbeits- NEN]: Richtig so!) förderung neu ausrichten – Nachhaltige Integration und (B) Sie fordern, dass der Bauernverband sich endlich für eine (D) Teilhabe statt Ausgrenzung“. Der Ausschuss empfiehlt in sofortige europaweite Milchmengenreduzierung einsetzt . seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5119, Meine Damen und Herren, das ist nicht die Position von den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Bauernverband und Union . Das sind grüne Forderungen . Drucksache 18/3918 abzulehnen . Wer stimmt für diese Auch wir Grünen sind dafür, denen zu helfen, die sich Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer verantwortlich verhalten und die Milchmengen nicht enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den steigern . Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Linke angenommen . Bäuerliche Politik wird heute von Grünen formuliert . Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: Ich bin seit 48 Jahren Bauer . 20 Cent, teilweise a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich 15 Cent pro Liter Milch – solch ein Milchpreiszusam- Ostendorff, Dr .Anton Hofreiter, Oliver Krischer, menbruch und so lange, das ist der totale Strukturbruch . weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Das Schlimmste: Es gibt kein Licht am Ende des Tun- NIS 90/DIE GRÜNEN nels . Minister Schmidt erklärt – ehrlich, wie er ist –, Bäuerlicher Milchviehhaltung eine Zukunft 2025 werde der Preis für Milch wieder bei 37 Cent pro geben – Milchmenge jetzt begrenzen Liter liegen . Bekommt der Minister denn überhaupt noch mit, was in den Betrieben los ist? Milchbäuerinnen und Drucksache 18/8618 Milchbauern auf 2025 zu vertrösten, ist ein Schlag ins Überweisungsvorschlag: Gesicht derjenigen, die nicht mehr ein noch aus wissen, Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) die nicht mehr an morgen glauben können, weil sie nicht Ausschuss für Wirtschaft und Energie mehr wissen, wie sie heute die Rechnungen von gestern Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- heit und vorgestern bezahlen sollen, meine Damen und Her- ren . b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landwirtschaft (10 .Ausschuss) zu dem Antrag und bei der LINKEN) der Abgeordneten Dr .Kirsten Tackmann, Karin Ihr Milchgipfel am Montag, was war das denn? Binder, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abge- (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, war der Gipfel!) 17076 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Friedrich Ostendorff (A) Was hat der denn verändert? – Ja, das war der Gipfel . Es Unfallversicherungszuschüsse wollen Sie geben . Unfall- (C) war der Gipfel der Verantwortungs- und Hilflosigkeit. So versicherungszuschüsse helfen allen, aber nicht speziell kann man es zusammenfassen . den Milchbauern . Sie bringen sie im Durchschnitt höchs- tens einen Tag weiter; denn der durchschnittliche Betrieb (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekommt ungefähr 350 Euro Zuschuss, und das ist das, und bei der LINKEN) was er im Moment jeden Tag im Stall verliert . Klasse Milchbäuerinnen und Milchbauern wurden nicht einmal Vorschlag, oder doch nicht? eingeladen . Dann, nach unserem massiven Druck von- Steuererleichterungen und Steuerrückstellungen hel- seiten der Opposition, durften sie letzten Freitag an den fen wieder nur den Betrieben, die eh schon Gewinne ma- Katzentisch von Staatssekretär Bleser rücken . Und die chen, nicht den Betrieben in der Krise, die keine Gewin- Länderagrarminister? Die werden erst eingeladen, dann ne machen; denn es ist bisher nicht bekannt, dass Steuern werden sie wieder ausgeladen . Welche Arroganz! Welche auf Verluste erhoben werden . Toller Vorschlag, oder? Selbstherrlichkeit! Was ist das für eine Kultur, miteinan- der umzugehen! Bürgschaften sind sicherlich gut für Volksbanken und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sparkassen, die den Wahnsinn gefördert haben . Das ist sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nichts als weiße Salbe . Minister Schmidt hat es anscheinend nicht mehr nötig, Aber die Krönung ist der einzig neue Vorschlag, der mit Bäuerinnen und Bauern zu reden . Was ist das für ein am Montag kam, nämlich Flächenverkäufe steuerfrei zu Politikverständnis? Es ist eine Politik über die Köpfe der stellen . Betroffenen hinweg . Rückzug ins dunkle Kämmerlein, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zugbrücke hoch . In der Wagenburg, die der Deutsche NEN]: Ein Skandal!) Bauernverband einrichtet, ist für Sie sicherlich noch ein einsames warmes Plätzchen, Herr Minister Schmidt . Das kann doch wohl nicht wahr sein . Das ist der pure Skandal . (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja pein- lich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Was haben Sie denn mit diesem Gipfel erreicht? An- gekündigt hatten Sie unter anderem den Kampf, einen Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und Minis- Fonds des Handels aufzulegen . 500 Millionen Euro soll- ter Schmidt setzen sich dafür ein, Bauernfamilien schnel- te der Handel in einem Solidaritätsfonds bereitstellen . ler um ihr Eigentum zu bringen . Kalte Enteignung ist Nichts, null, gar nichts ist dabei herausgekommen . Der das, nichts anderes . Wer hätte das für möglich gehalten? (B) (D) Handel hat die kalte Schulter gezeigt – wie nicht anders (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu erwarten –, und das war’s . Nur, die 75 000 Milch- und bei der LINKEN) viehbetriebe haben im letzten Jahr 5 Milliarden Euro Milchgeld verloren . „Schmidt fehlt eine Strategie“, titelt Was wir jetzt endlich brauchen, ist eine Politik für die top agrar, das Leitmagazin der Landwirtschaft . Schmidt Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft . Wir brauchen fehlt eine Strategie – stimmt, das finden wir auch. Wie die Erhaltung der Milcherzeugung in der Fläche . Wir wahr! Wir unterstützen die These „Schmidt fehlt eine brauchen sie besonders mit Weidehaltung . Eine Politik Strategie“ ausdrücklich . für die bäuerliche Landwirtschaft bedeutet für uns Grüne eine Politik für die Umwelt, die Tiere sowie die Bäuerin- (Zuruf von der CDU/CSU: Wie ist denn Ihre nen und Bauern . Das alles wollen wir zusammen denken . Strategie?) Dafür setzen wir uns ein . Es ist aber noch viel schlimmer: Minister Schmidt Was wir endlich brauchen, ist eine wirksame Men- schafft mit seiner Politik die bäuerliche Landwirtschaft genreduzierung . Herr Staatssekretär, Sie müssen den ab . Milchbäuerinnen und -bauern helfen, die Mengen zu re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) duzieren . Alles andere hilft nicht . Setzen Sie endlich die vorgeschlagenen Maßnahmen, den einstimmig gefassten Wer von uns hätte das gedacht, dass ein CSU-Landwirt- Beschluss der Agrarministerkonferenz um . schaftsminister die bäuerliche Landwirtschaft auf dem Altar des liberalen Weltmarktes der Agrarindustrie op- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fert? (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Leider Vizepräsidentin Ulla Schmidt: alle!) Sie kommen bitte zum Schluss . Frau Merkel, Herr Kauder, Herr Seehofer, Sie haben ja schon am Montag Gelegenheit dazu: Stoppen Sie endlich Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesen irrlichternden Totengräber! NEN): Sofort, Frau Präsidentin .– Selbst Bundeskartellamts- Schauen wir uns die Vorschläge, die Sie gemacht ha- präsident Mundt, nicht verdächtig, Grünen-nah zu sein, ben, diese Gießkannenvorschläge, einmal an: bezeichnet das Molkereigeschäft als das risikoloseste . (Dr . [CDU/CSU]: Kommen Nehmen Sie die Molkereien stärker in die Pflicht, wenn Sie doch einmal zu Ihren Vorschlägen!) es darum geht, wirksame Mengenreduzierungen anzu- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17077

Friedrich Ostendorff (A) gehen und ihren Lieferanten zu helfen . Wir Grüne for- Deswegen sage ich hier ganz klar: Die Verantwor- (C) dern Minister Schmidt auf, endlich zu handeln oder sein tung liegt bei den Marktbeteiligten – dorthin gehört sie Scheitern hier zu erklären . auch –, beim Lebensmitteleinzelhandel genauso wie bei den Molkereien . Kollege Ostendorff, an diesem Punkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmen wir überein . Wir haben beim Milchgipfel am vergangenen Montag darüber gesprochen, warum die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Molkereien hinnehmen, dass Milch, die nicht auf den Vielen Dank . – Nun hat für die Bundesregierung der regulären Märkten verkauft und nicht für Produkte ver- Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser das Wort . wendet werden kann, für 17 oder 18 Cent auf dem Spot- markt vertickt wird . Das macht keinen Sinn . Da müssen (Beifall bei der CDU/CSU) wir eingreifen . Wir müssen mit den Erzeugern sprechen; denn so, wie es bisher läuft, wird der Milchpreis der Pro- dukte reduziert, die einen Markt gefunden haben . Peter Bleser, Parl . Staatssekretär beim Bundesminis- ter für Ernährung und Landwirtschaft: (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Herr Kollege Ostendorff, Sie haben den Rückgang der legen! In der Tat liegen die Agrarmärkte am Boden . Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe angesprochen . Zu Getreidepreise sind im Vergleich zu 2008 um ein Drittel Beginn der Milchquote 1983 gab es noch 394 000 milch­ bis zur Hälfte geringer . Die Schweinepreise liegen eben- erzeugende Betriebe . Nun gibt es noch rund 74 000 . Trotz falls am Boden . Der Milchmarkt ist am schlimmsten be- Quote hat der Strukturwandel durchschnittlich 5 Prozent troffen . Dort haben wir Preise zu verzeichnen, die sich der Betriebe jährlich zur Aufgabe bewegt; das muss man in der Nähe von 20 Cent bewegen . Das alles hat seine zur Kenntnis nehmen . Gründe . (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben 10 Prozent! 10 Prozent GRÜNEN]: Zu viel Milch!) ist ein Strukturbruch!) Der Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russland Daran wird sich durch Fortschritt und Effizienzsteige- zeigen Wirkung . Der Markt in China ist aufgrund eines rung auch in Zukunft nichts wesentlich ändern, egal wer Konjunktureinbruchs zurückgegangen . Nordafrika und regiert . Das ist die Realität, und die können Sie nicht aus- der arabische Raum sind durch Terrorismus und Krieg blenden . geprägt . Das Ganze ist auf eine Produktion gestoßen, die aufgrund hoher Preise auf einem hohen Niveau war . Pa- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) rallel ist die Milchquotenregelung, die seit 1983 bestand, Wie ich dargelegt habe, ist die Marktsituation drama- ausgelaufen . Das Problem ist nun, dass die Märkte auf tisch . Weil es außenpolitische Wirkungen gibt und weil diese Veränderungen nicht ausreichend schnell reagieren wir eine Kulturlandschaft und eine sichere Lebensmittel- konnten . produktion in Deutschland haben wollen, haben wir eine Lieber Kollege Ostendorff, wenn man in einer sol- gesellschaftliche Verantwortung . Diese wollen wir auch chen Situation einen befristeten Festpreis für Milch ein- wahrnehmen . Deswegen haben wir am Ende des letz- führt, wie das Ihre Fraktion in ihrem Antrag fordert, dann ten Jahres und zu Beginn dieses Jahres ein Liquiditäts- schimmert das sozialistische Rot in Ihrem grünen Partei- hilfeprogramm aufgelegt . Wir sprechen von 69,2 Mil- buch wieder einmal sehr deutlich durch . lionen Euro; rund 10 000 Betriebe haben die Mittel in Anspruch genommen . Es konnten Liquiditätshilfen von (Beifall bei der CDU/CSU) 100 000 Euro mit einer Verzinsung von 1 Prozent und 10 000 Euro als direkte Hilfe an die Höfe ausgereicht Das funktioniert auf den Märkten nicht . Auch eine Steu- werden . An der Stelle möchte ich einmal ein Lob an erung ist nicht mehr zu etablieren . Wer rückzahlbare So- unser Haus aussprechen . Das BLE hat zwischen Weih- forthilfen fordert, leistet keine Hilfe . Wer dann noch wie nachten und Neujahr durchgearbeitet und die Anträge die Linke einen Festpreis mit einer Abgabenbonus- bzw . beschieden, die in einer ersten Tranche bis Mitte März -malusregelung durchsetzen will, ausgezahlt worden sind . Die letzte ist in diesem Monat (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mit bei den Höfen angekommen . den Grünen gemeinsam!) (Beifall bei der CDU/CSU) dem kann man nur sagen: Das funktioniert ebenfalls Wir haben uns auch sozial engagiert . Wir haben ge- nicht . Das ist vorbei . Es gibt keine Quote mehr . Wir wol- meinsam in der Großen Koalition die Mittel der landwirt- len genauso wie die Bauern keine Quote mehr, weil sie schaftlichen Berufsgenossenschaft mit zusätzlich 78 Mil- nicht funktioniert hat . lionen Euro aufgestockt . Das bringt Beitragssenkungen (Beifall bei der CDU/CSU) von 16 Prozent . Das ist ein Beitrag zur Solidarität . Das muss man einfach sehen . Andere Branchen achten dies- Dass sie nicht funktioniert hat, beweisen die Jahre 2007 bezüglich argwöhnisch auf uns . und 2008 . Damals war der Milchpreis genauso im Keller . Auch die Europäische Union hat reagiert . Wir haben (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE einen Auffangpreis, nämlich den, bei dem die Interventi- GRÜNEN]: Nein!) on bei Magermilchpulver und Butter greift . Die Menge 17078 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Parl. Staatssekretär Peter Bleser (A) wurde jetzt noch einmal auf 350 000 Tonnen aufgestockt, sollte man ihm die Chance geben, diese Gewinne zur (C) um den Druck aus dem Markt zu nehmen . Mehr kann Schuldentilgung steuerfrei zu verwenden . Mehr ist das man nicht tun . nicht . Das ist eine Hilfe, die in Anspruch zu nehmen wir ermöglichen sollten . Heute gegen Abend wird das Agrarmarktstruktur- gesetz beraten . Nach diesem Gesetz werden erstmals, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kartellrechtlich abgedeckt, freiwillige Mengenabspra- chen zwischen Erzeugergemeinschaften und Molkereien Ich will noch einmal sagen: Die Bundesregierung möglich werden . Wir setzen noch eins drauf – ich bin steht hinter den bäuerlichen Familien . Wir sorgen uns um sehr dankbar, dass uns das gelungen ist –, indem wir die deren Zukunft . Ich hätte eine herzliche Bitte an die Grü- Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung nen und auch an die Linken, und auch unser Koalitions- aufnehmen . Das ist etwas ganz Neues, das eine Lang- partner kann da nicht ungeschoren bleiben: fristwirkung hat . Damit beenden wir die Ohnmacht der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Milcherzeuger auf dem Markt; denn wir geben ihnen die NEN]: So eine Unverschämtheit!) Chance, sich zu organisieren und, wenn einige nicht mit- machen wollen, sie mit einer Allgemeinverbindlichkeits- Versuchen wir zumindest in der jetzigen Zeit, unsere erklärung dazu zu bringen . Damit können Marketing- Bauern und unsere bäuerlichen Familien nicht weiter maßnahmen organisiert werden . Herr Minister Schmidt zu belasten, indem wir neue bürokratische Auflagen be- ist in Brüssel vorstellig geworden, um damit unter Um- schließen, die nur zu Kosten und zur Verringerung der ständen auch eine Mengensteuerung zu erreichen . Das ist Motivation der Bauern führen . Das wollen wir nicht . sinnvoll . Ich bin dem Koalitionspartner dankbar, dass wir (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE das zum Schluss doch noch zusammen hinbekommen ha- GRÜNEN]: Sie lenken nur von Ihrem eigenen ben . Versagen ab!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben eine Politik gemacht, die eine Perspektive für Nun zum Milchgipfel . Man kann einen Milchgipfel die Landwirtschaft bedeutet . mit 50 Leuten einberufen . Ich kann Ihnen sagen, wie (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das dann abläuft . Es werden Statements abgegeben; NEN]: Sie sind Verursacher der Krise!) die Pressemeldungen sind schon vorher verschickt . Es kommt nichts dabei heraus . Wir haben die Erzeuger, die Dazu stehen wir, und dabei bleiben wir . Milchindustrie und auch den LEH zusammengeführt und Herzlichen Dank . über drei Stunden sehr intensiv diskutiert . Ich kann nur (B) eines sagen: Nachdem man sich zunächst gegenseitig die (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Schuld zugewiesen hat, ist man dann doch zu der Mei- nung gekommen, man müsse einen Branchendialog be- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ginnen . Den haben wir begonnen . Unter Beachtung der Vielen Dank .– Als Nächstes spricht die Kollegin kartellrechtlichen Bestimmungen kann in Zukunft mit- Dr . Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke . einander besprochen werden, was getan werden kann, um Markteinbrüche wie den, den wir jetzt haben, abzu- (Beifall bei der LINKEN) federn . Ich bin sehr optimistisch, dass das eine Langfrist- wirkung entfaltet . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Wir sind auch staatlicherseits noch nicht am Ende . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hoffen, dass das Parlament bei der nächsten Haus- Liebe Gäste auf den Tribünen! Worum geht es denn ei- haltsberatung wieder eine zusätzliche Hilfe für die Un- gentlich bei der Milchkrise? Es geht darum, dass man fallversicherungsbeiträge gewährleistet . Wir haben dem seit vielen Monaten sehr früh am Morgen aufsteht, und Finanzminister dafür zu danken, dass er uns angeboten zwar auch am Wochenende, um Kühe zu melken, und hat – das alles muss hier noch beschlossen werden –, dass an jedem einzelnen Tag genau weiß, dass der Erlös so wir eine Gewinnglättung von drei Wirtschaftsjahren vor- gering sein wird, dass man eigentlich noch Geld mitbrin- sehen können . Das hört sich banal an; aber damit können gen muss . Warum ist das so? Weil Handels- und Mol- wir erstmals entsprechend der Volatilität der Märkte und kereikonzerne Milch zur Ramschware gemacht haben auch der Witterung landwirtschaftliche Gewinne stre- und weil sie selbst vom Dumpingpreis erst einmal ihre cken, sodass Gewinne, die in einem Jahr, das ein gutes Gewinne abziehen, sodass die Milcherzeuger nur das Wirtschaftsjahr war, anfallen, nicht versteuert werden bekommen, was übrig bleibt . Im Klartext: Almosen statt müssen, wenn im folgenden Jahr, das vielleicht schlecht faire Bezahlung. Ich finde das sittenwidrig. Dass das ge- war, keine Gewinne erzielt worden sind . Das hilft und duldet wird, finde ich nicht akzeptabel. wird schon im laufenden Steuerjahr Wirkung entfalten (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- können . NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) In den Betrieben herrscht Verzweiflung, Frust und Herr Ostendorff, Sie haben die Veräußerungsgewinne blanke Existenzangst, und zwar überall . Ich verstehe das angesprochen . Wir wollen nicht, dass Landwirte Grund sehr gut – erst recht, weil sie in eine Falle gelaufen sind . und Boden verkaufen . Aber wenn der eine oder ande- Was haben EU, Bundesregierung und Bauernverband re die Chance hat, einen Bauplatz zu vermarkten, dann nicht alles für die Zeit nach dem Ausstieg aus der Quote Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17079

Dr. Kirsten Tackmann (A) im April 2015 versprochen? Es wurde ein gelobtes Land ze das einmal: Durch Bundespolitik kommen Betriebe (C) ohne die Fesseln der Mengenbegrenzung mit unerschöpf- in Existenznot, und wenn sie deshalb die Produktions- licher Nachfrage auf dem Weltmarkt gepriesen . Schon grundlage Boden verkaufen müssen, verzichtet der Bund Jahre zuvor durfte pro Jahr 1 Prozent Milch mehr pro- großzügig auf Gewinnbeteiligung . Scheinheilig ist noch duziert werden . In Deutschland wurde sogar noch mehr das netteste Wort, das mir dabei einfällt . gemolken, weil der Markt angeblich auf diese Milch wartete . Die dafür fälligen Strafzahlungen würde man in (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Brüssel schon wegverhandeln, wurde versprochen . Des NIS 90/DIE GRÜNEN) Weiteren gab es Fördermittel für eine Erweiterung der Im Subtext bedeutet das doch eine Ermutigung der Heu- Produktion . „Sanfte Landung“ nach dem Quotenaus- schrecken, die längst unterwegs sind, um die Leichen des stieg hieß der Plan . Daraus geworden ist ein Absturz von Wettbewerbs bzw . die fette Beute einzusammeln . Butterbergen und ein Ertrinken in Milchseen . Dass die- se auch noch selbst erarbeitet wurden, zeigt auf, dass es (Beifall der Abg . Sabine Zimmermann sich um ein perverses System handelt, dessen Fehler auf [Zwickau] [DIE LINKE] – Friedrich Kosten von Natur, Mensch und auch Tieren gehen . Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt es! Das macht CDU/CSU!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch auf diese Gefahr habe ich schon lange hingewie- sen . Auch dazu sage ich: Es ist bitter, dass man manch- Wir haben aber neben der Menge durchaus noch ein mal recht behält . ganz anderes Problem . Das Überangebot macht die Dik- tatur der Handels- und Molkereikonzerne noch mächti- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE ger . Erpresserische Ladenpreise von 47 Cent pro Liter GRÜNEN]: Leider!) sind doch die Folge . Was haben Bundesagrarminister und Koalition in dieser zugespitzten Krise getan? Sie blieben Abschließend noch eines: Dass es noch nicht einmal über ein Jahr lang im Hoffnungsmodus und griffen zu in Genossenschaftsmolkereien gelungen ist, einen so- Krisenzeiten in die Mottenkiste der Interventionen, ge- lidarischen Ausweg aus dieser Krise zu finden, besagt, folgt von Schockstarre, weil das nicht geholfen hatte, und dass eben auch der Genossenschaftsgedanke nicht mehr jetzt kommt der hektische Aktionismus . Verantwortungs- die Solidarität bietet, die er eigentlich ursprünglich ein- volle Krisenpolitik sieht wirklich anders aus . mal beinhaltete . Es bedeutet, dass es – unter dem Druck dieses sogenannten Wettbewerbs – zu einer Vereinzelung (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Entsolidarisierung in der gesamten Branche gekom- NIS 90/DIE GRÜNEN) men ist . Wir Linke sagen schon lange, dass wir über das (B) Genossenschaftsrecht reden und auch hier wieder zu den (D) Dabei gab es frühzeitig Warnungen und Vorschläge, Wurzeln zurück müssen . Deswegen muss ich sagen: Es wie dieser Albtraum verhindert werden kann, zum Bei- geht auf das Versagen der Koalition und der Bundesre- spiel auch im gemeinsamen Antrag der Linken und Grü- gierung zurück, dass das alles nicht passiert ist und die nen, über den heute abgestimmt wird . Dieser Antrag liegt Betriebe jetzt die Zeche zahlen . dem Bundestag bereits seit September 2015 vor und wur- de im Oktober 2015 erstmals beraten . Wir wollten schon (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- damals ernsthaft über Mengenregulierungen diskutieren . NIS 90/DIE GRÜNEN) Aber das war ja Teufelszeug . Wir wollten schon damals über das Vertragsrecht diskutieren, damit die Produkti-

onsrisiken nicht allein bei den Erzeugern hängen bleiben . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir wollten schon damals darüber diskutieren, ob nicht Vielen Dank .– Das Wort hat jetzt der Kollege wenigstens in Krisenzeiten ein Mindestpreis notwen- Dr .Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion . dig ist oder ob überhaupt ein Preis in die Lieferverträge (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehört . Wir wollten schon damals über das Kartellrecht der CDU/CSU) diskutieren, weil Handels- und Molkereikonzerne ihre Marktübermacht missbrauchen; das wissen wir doch . Es ist die Realitätsverweigerung des Bundesministeriums, Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): der Koalition und des Bauernverbands, die den Betrieben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jetzt zum Verhängnis wird . Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist einmal an der Zeit, in der Debatte abzurüsten, auch Recht zu behalten – das sage ich ganz ehrlich –, ist was gegenseitige Schuldzuweisungen angeht . Begrif- manchmal wirklich bitter . Leider wird es nicht besser . fe wie „irrlichternder Totengräber“ oder „kalte Enteig- Zum Beispiel macht ein Branchendialog doch nur Sinn, nung“ mögen zwar die parlamentarische Debatte beflü- wenn man zuvor Milcherzeuger auf Augenhöhe mit Mol- geln, tragen aber in gar keiner Weise zur Lösung des kereien und Handel bringt . Was soll denn sonst daraus wirklich ernsten Problems bei, das wir im Bereich des werden? Milchmarktes haben . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kennzeichnest du das denn, Was soll denn das unmoralische Angebot von Steuerfrei- was da passiert? Hast du da auch eine Kenn- beträgen für Gewinne aus Landverkäufen? Ich überset- zeichnung dafür?) 17080 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) – Friedrich, ich glaube, dass die Provokation allein das dieser Entwicklung denn negativ? Hätten wir denn die- (C) Problem nicht löst . se Entwicklung mit anderen Methoden, anderen Ansät- zen, anderen Möglichkeiten und direkter Förderung aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Haushaltsmitteln und anderen Zusammenhängen aufhal- Das ist, wie ich finde, eine Art von Politik, die unehrlich ten können? Das hätten wir nicht! Da muss man einmal ist gegenüber den Betroffenen . Denn die Lösungsvor- ehrlich sein, was die Möglichkeiten von Politik betrifft, schläge, die von eurer Seite auf den Tisch gelegt werden, und man darf keine Illusionen wecken, wir könnten be- sind nicht ausreichend . stimmte Dinge erreichen . Wir können nicht rückwärts marschieren; wir können nur vorwärts marschieren . Wir (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE können uns nur an die Bedingungen anpassen . GRÜNEN]: Du bist damit einverstanden, dass den Bauern das Eigentum genommen wird?) Aber richtig ist natürlich, dass wir ein Marktversagen in dem gesamten Bereich haben . Das ist so lange nicht Ich erinnere mich noch an die Debatte, die wir 2009 – richtig zum Tragen gekommen, wie wir eine quotierte sie begann ebenfalls im Frühjahr und ging bis zum Som- Menge hatten . Aber jetzt sehen wir, dass wir die recht- mer – geführt haben . Da hatten wir die gleiche Situation . lichen Rahmenbedingungen dringend ändern müssen, Da hatten wir ebenfalls Probleme mit dem Milchmarkt, auch die Rahmenbedingungen und die vertraglichen Vor- allerdings aufgrund anderer Ursachen: wegen der dama- gaben für den Bereich der Lieferbeziehungen zwischen ligen Wirtschafts- und Währungskrise . Aber die Preise Produzenten und verarbeitendem Gewerbe . Es kann waren genauso weit unten wie heute. Damals fing die nicht sein, dass Landwirte Milch produzieren und ohne Diskussion mit der Frage an: Ausstieg aus der Quote oder vertragliche Regelung über Menge, Zeit und Preis blei- nicht? Alles wurde hinterfragt . Der BDM und andere Or- ben . Diese Punkte sind immer der Gegenstand von Ver- ganisationen haben dazu beigetragen, dass Milch auf den trägen . Mit Satzungen allein kann man dieses Problem Acker gefahren und mit dem Güllefass verteilt wurde, nicht lösen . dass Molkereien blockiert wurden . Damals ist die Situ- ation noch viel weiter eskaliert, als es heute der Fall ist . Insofern erwarte ich in diesem Zusammenhang, dass sich vor allen Dingen der größte Bereich der Milchver- (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil arbeitung, die genossenschaftlichen Molkereien, dort die einfach verzweifelt sind!) bewegen . Wie soll man denn Mengenabsprachen oder Auch damals war dieser Weg keine Lösung des Problems­ . Mengenregulierungen vornehmen, wenn ein Landwirt alles vor die Tür stellen kann, wenn die Molkereien alles (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) abholen und irgendwie verarbeiten müssen? Wenn man in diesen Mechanismus nicht eingreift, braucht man sich (B) Es reicht doch weiß Gott nicht aus, die Welt in Gut (D) und Böse zu unterteilen . Wir sollten uns konkret daran- über Mengenregulationen oder Marktanpassungen über- machen, dass wir tragfähige Lösungen für das Problem haupt keine Gedanken zu machen . erarbeiten Das, was wir kennen – Angebot, Nachfrage und (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Preis –, sind die zentralen Elemente des Marktes . Deren GRÜNEN]: Dafür wird es langsam Zeit!) Zusammenspiel funktioniert in diesem Bereich nicht . Dieses Zusammenspiel müssen wir wiederherstellen . Wir und auch den gesetzlichen Rahmen dafür schaffen . müssen zumindest dafür sorgen, dass die entsprechenden (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Voraussetzungen geschaffen werden können . Das soll GRÜNEN]: Sag doch mal eine Lösung!) nicht durch staatliche Eingriffe passieren, sondern indem wir den Beteiligten ein Instrument an die Hand geben, Nationale Politik kann nun einmal nicht den interna- um vorübergehend entsprechende Absprachen zu tref- tionalen Markt lenken . Das ist die Erkenntnis aus den fen, damit das ganze System wieder ins Gleichgewicht vielen Jahren Quotierung . Wir hatten auch vorher schon kommt . Das soll genutzt werden . Das werden wir heute einmal einen Mindestpreis . Er hieß Interventionspreis; Abend beschließen . Aber es ist illusorisch, zu glauben, das war lange vor der Quote . Er hat bei der damaligen wir könnten mit Steuermitteln, so wie in Ihrem Antrag Ausrichtung von Produktion dazu beigetragen, dass wir vorgeschlagen, mit verlorenen Zuschüssen oder mit an- Anfang der 80er-Jahre Mengen hatten, die wir nicht deren Instrumenten wie beispielsweise Bonuszahlungen mehr in den Griff bekommen haben, was hinterher das letztendlich Mengen in entscheidender Weise beeinflus- staatlich zwangsverwaltete Quotensystem hervorgerufen sen . Das geht nicht; denn wir haben ja erlebt, wie büro- hat – mit allen seinen Folgewirkungen, etwa der Bindung kratisch die Umsetzung in diesem System war und wie an die Fläche und dem, was wir beide kennen . wir versucht haben, das immer weiter anzupassen . Aber letztendlich hat es nicht funktioniert . Mich hat diese Thematik „Strukturwandel des Milchmarkts“ mein ganzes Berufsleben begleitet . Ich Ich glaube, es ist vernünftig, wenn wir gemeinsam mit habe 1982 eine Tierarztpraxis übernommen, also vor den Landwirten und der Branche nicht nur zu Einschät- Einführung der Quote . Ich habe den gesamten Struktur- zungen, sondern auch zur Umsetzung von Konzepten wandel erlebt . Ich habe erlebt, dass in dieser ganzen Zeit kommen . Kurzfristige Liquiditätshilfen sind nach meiner in Dörfern, wo früher noch viel Vieh war, hinterher kein Einschätzung vollkommen akzeptabel . Man sollte sich einziger Betrieb mehr war und dass Betriebe immer grö- darauf konzentrieren, den Betrieben, die in Schwierig- ßer geworden sind: Ein Betrieb, der mit 25 Kühen an- keiten sind, zumindest für den Zeitraum, in dem die Kri- gefangen hat, hat heute 350 Kühe . So what? Was ist an se anhält, so viel Liquidität zukommen zu lassen, dass Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17081

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) sie nicht allein aus dem Grund, weil sie Kredite zu tilgen Ausrichtung nicht teilen können . Aber, lieber Friedrich (C) haben, die Hoftür abschließen müssen . Aber auf die ei- Ostendorff, Beschimpfungen helfen uns hier gar nicht . gentlichen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die zu treffen sind, können wir mit politischen Entscheidun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen keinen Einfluss nehmen; das sollte uns klar sein. Wir sollten gemeinsam nach einem Weg suchen, um (Beifall bei der CDU/CSU) den Bauern zu helfen, damit die Bauern Vertrauen in die Politik haben und wissen, dass sie sich auf uns verlas- Wir brauchen strukturelle Veränderungen im Markt- sen können . Alle Ebenen müssen jetzt zusammenhalten, sektor; das ist jedem klar . Wir müssen uns auch Gedan- alle müssen sich bewegen, alle können etwas dafür tun . ken machen, wie wir bestimmte Bereiche der Produk- Ich bin dem Minister dankbar, dass er den Milchgipfel tion fördern wollen . Ein Beispiel ist das Unternehmen einberufen hat, und ich bin ihm dankbar dafür, dass er Hemme Milch, das regionale Märkte bedient und dort europa- und weltweit um Freunde wirbt, die mit ihm ge- natürlich eine höhere Wertschöpfung erzielt . Die Wert- meinsam an dem Problem der globalen Überproduktion schöpfung ist das zentrale Element, auch in der Milch- von Milch arbeiten . Was können wir machen? 32 Jahre produktion . In Deutschland haben wir eine Wertschöp- lang hat die EU-Milchquote nicht dazu gedient, dass wir fung von 85 Cent, in Frankreich von über 1,10 Euro und eine ordentliche Marktregel bei der Milchmenge hinbe- in Italien von 1,50 Euro . Warum ist das so? Das ist die kommen haben . Das hat die melkenden Bauern sehr viel Folge der Strukturen, die sich entwickelt haben, weil bei Geld gekostet und Preistiefs nicht verhindert . Es hat aber Interventionspreisen über viele Jahre für die Intervention sehr viel Bürokratie geschaffen . Das hat uns auch nicht produziert wurde und die Unternehmen nicht gezwun- geholfen . gen waren, sich auf die Marktnachfrage einzustellen und Markenprodukte zu produzieren . Die Privaten haben das Das erste Liquiditätshilfeprogramm war kein Allheil- anders angefangen . Deshalb haben sie natürlich auch mittel, aber es hat geholfen; ein weiteres wird folgen . Da eine größere Gewinnspanne . Aber die Genossenschafts- geht es um Zuschüsse für die landwirtschaftliche Un- molkereien bestimmen mit der Menge, die sie für den fallversicherung, um Bürgschaften, um Kredite und um Markt verarbeiten, den Preis, und die privaten Molkerei- Steuerglättung, wie es der Herr Staatssekretär gesagt hat . en orientieren sich daran . Mit der Novelle des Agrarmarktstrukturgesetzes, die wir heute später debattieren, sorgen wir dafür, dass die Rah- Der Landwirt ist letztendlich derjenige, der betriebs- menbedingungen für die Marktpartner verändert werden wirtschaftliche und sonstige Fehlentscheidungen sowie können . Darin liegt für mich auch ein Teil der Lösung . Marktentwicklungen zu tragen hat . Der Landwirt trägt Wir dürfen das Problem nicht den Milchbauern alleine zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast das vollständige überlassen . (B) Marktrisiko . Das ist das Problem . Ich habe noch nicht (D) gehört, dass irgendeine Molkerei davor steht, Insolvenz Ich kann mir vorstellen, dass man mit Lieferverein- anzumelden . Das heißt also: In diesem Bereich wird im- barungen, zum Beispiel mit Zu- und Abschlägen bei den mer noch verdient . Solange aber in diesem Bereich kein Branchenquoten, bei den Milchbauern eine Motivation unternehmerisches Risiko getragen wird, so lange kann schaffen kann, die Überproduktion von Milch zu been- dieser Markt auch nicht funktionieren . Dafür, dass das den . Dadurch könnte eine Win-win-Situation entstehen . nicht mehr so ist, wollen wir sorgen . Handel und Verarbeiter haben keinen Grund, den aktu- Vielen Dank . ellen Milchmarkt auszunutzen . Es braucht aktuell am deutschen Markt doch auch keine ausländische Milch . Es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) braucht kein Preisdumping, das überwiegend durch die Eigenmarken des Lebensmitteleinzelhandels verursacht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wird . Vielen Dank .– Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Im Übrigen können die Verbraucher jetzt schon mit jetzt der Kollege Alois Gerig . dem richtigen Griff ins Regal dafür Sorge tragen, dass (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Wertschöpfung bei den Milchbauern ankommt . Das muss man auch immer wieder in der Öffentlichkeit sa- gen . Ich spüre eine große Solidarität . Aber die Menschen (CDU/CSU): Alois Gerig müssen da auch mitgehen; sie müssen etwas machen . Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir hier heute zu einer guten Debattenzeit eine Plenarde- batte zur Milchkrise führen . Ja, die Politik muss den Milchbauern helfen . Es geht hier um keine Branche wie die übrige Wirtschaft . Die (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Bauern produzieren keine Waschmaschinen . GRÜNEN]: Das haben Sie den Grünen zu verdanken! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Kön- DIE GRÜNEN]: Vielen Dank!) nen auch keine Kurzarbeit machen!) Ich freue mich, dass wir alle ein Ziel haben: Wir wollen Die Bauern produzieren Lebensmittel von allerhöchster der Landwirtschaft, insbesondere den Milchviehhaltern, Qualität . Die Lebensmittel, die in Deutschland produ- zu Hilfe kommen . Und: Ja, wir haben zwei Anträge, die ziert werden, erfüllen die höchsten Standards . Unsere wir als Koalitionsfraktionen wegen des Inhalts und der Bauern erhalten die geliebte vielfältige Kulturlandschaft . 17082 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Alois Gerig (A) Da ist mir wichtig, dass wir weiterhin flächendeckend in Ich sage gleichwohl – wir waren vorgestern Abend (C) ganz Deutschland Milchkühe und Milchbauern haben . beim Sozialverband Deutschland, SoVD –: Es ist eine erstaunliche Leistung – ich finde, da kann sich die bäu- (Beifall bei der CDU/CSU) erliche Gemeinschaft auch glücklich schätzen –, dass Unsere Bauern sind das Rückgrat in den Dörfern, das die Bundesrepublik Deutschland in diesen Sozialver- Rückgrat in den ländlichen Regionen . Klar, es hat schon band 4 Milliarden Euro, das entspricht 50 Prozent aller immer den Strukturwandel gegeben, aber im Moment Leistungen, hineingibt . Ich kenne keinen Sozialversiche- geht es wie im freien Fall . Auch die der Landwirtschaft rungszweig in Deutschland, in den so viele Bundesmittel vor- und nachgelagerten Gewerke und Branchen sind ak- fließen. Ich finde, das ist wirklich eine richtige Hilfe für tuell schon betroffen; auch sie leiden . die Landwirtschaft, und das ist auch in Ordnung . Deswegen: Lassen Sie uns die Leistungen der Bauern (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) in den Fokus nehmen . Lassen Sie uns mit den Bürgern Wenn wir uns jetzt aber mit den Strukturen auseinan- und den Verantwortlichen einen Dialog führen . Es geht dersetzen wollen und wenn wir wirklich helfen wollen, um Wertschöpfung; das ist richtig . Es geht aber auch dann hilft es uns übrigens nicht, wenn wir uns nur auf die um Wertschätzung der Lebensmittel und einer ganzen Milchpreiskrise konzentrieren . Branche . Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam daran arbeiten, die schwierige Situation unserer Bauern zu ent- ( [CDU/CSU]: Richtig!) schärfen . Lassen Sie uns dafür Sorge tragen, dass unse- Vielmehr hat sich etwas verändert . Unser Land hat sich re Bauern Freude an der Arbeit und eine wirtschaftliche auf den Weg gemacht, eine Exportnation in der Land- Perspektive haben . Dann haben die ländlichen Regionen wirtschaft zu sein . Das birgt große Risiken, sehr große eine Chance . Risiken . Vielen Dank . (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Aber auch (Beifall bei der CDU/CSU) Chancen!) Jetzt kann man überlegen, wie man dort mit nationalen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Mitteln etwas ändern kann . Vielen Dank .– Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Mir stellt sich die Frage – und ich bitte, dass der Bun- Kollege Rainer Spiering . desminister sie beantwortet –: Wie kommt es eigent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich zu dem Unterschied bei der Entlohnung bayrischer der CDU/CSU) Landwirte gegenüber niedersächsischen Landwirten? Es (B) gibt fast kontinuierlich 5 Cent Ertragsunterschied zwi- (D) schen Milchbauern in Niedersachsen und in Bayern . Ich Rainer Spiering (SPD): möchte gerne einmal wissen: Woran liegt das? Hat das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- mit Strukturen zu tun, die dort entstanden sind? Ist das legen! Sehr geehrte Gäste! Ich möchte mich dem an- Zufall? Das möchte ich wissen; denn ich halte es für aus- schließen, was Wilhelm Priesmeier gesagt hat: Es wäre gesprochen ungewöhnlich, dass das so ist . ganz gut, wenn wir verbal ein bisschen abrüsteten . Zur nächsten Frage, die mir zu beantworten ist . In Die Frage der Milchpreisentwicklung ist nicht erst vielen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktion heute entstanden . Ich habe mir die Zahlen kommen las- gibt es durchaus Wertschöpfung . Das betrifft aber Pro- sen . Deutschland hat gemäß den Zahlen, die ich habe, dukte, die aus Milch hergestellt werden . Angesichts der seit 2007 einen sehr hohen Überschuss an Milch im Au- Milchmengen, die wir produzieren, würde mich interes- ßenhandel . Ist das mit oder ohne Quote passiert? Es ist sieren: Wie stark sind wir eigentlich bei der Produktion mit Quote passiert . neuwertiger Produkte? Wie viel lassen wir uns das kos- (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist ten, neue Produkte zu entwickeln? Kann es nicht sein, der Ausstiegspfad aus der Quote!) dass wir in einem Bereich, in dem wir deutlich höhere Wertschöpfung erzielen können, viel zu schwach sind? Das haben wir gewähren lassen, und wir hatten durch die Diese Frage müssen wir uns auch einmal stellen . Wir Quote einen Effekt, von dem wir alle wissen, dass wir ihn müssen in Forschung und Entwicklung gehen und sagen: auch nicht wollten . Ich würde den Fokus darauf legen: So, Landwirte, das ist ein Angebot, das wir euch machen Wie gehen wir mit den Landwirten um, was können wir können . Wir offerieren euch ein Produkt, mit dem ihr tun? Geld verdienen könnt .– Es kann übrigens sein, dass das Ich sage ganz deutlich: Die 100 Millionen Euro, die mehr als 100 Millionen Euro kostet . Aber das ist eine In- wir jetzt geben, werden keinen großen Effekt erzielen, vestition in die Zukunft, die helfen kann . und das wissen wir alle . Der nächste Punkt . Da vorne sitzt mein Freund Johann (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Saathoff . Er ist einer der am stärksten Betroffenen hier, NEN]: Das ist wenigstens ehrlich!) weil er in einer reinen Milchviehwirtschaft lebt und ar- beitet. Ich finde, viel zu dünn kommt die Argumentation Da müssen wir uns ehrlich genug machen . Das wird die von „Grünland als CO2-Senke“ daher . Wir alle wissen um Strukturveränderung in der Landwirtschaft nicht aufhal- die segensreiche Wirkung von Grünland, und zwar ge- ten . wachsenem Grünland, nicht umgebrochenem Grünland . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17083

Rainer Spiering (A) Ich finde, es ist den Schweiß der Edlen wert, darüber Artur Auernhammer (CDU/CSU): (C) nachzudenken, ob ich diese natürliche CO2-Senke nicht Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten schütze . Das bedeutet aber auch, dass ich Umbruchmög- Damen und Herren! Wenn bei einer Milchdebatte ein lichkeiten reduziere oder abschaffe . Das bedeutet auch, Glas Milch hier stehen würde, würden wir der deutschen dass ich mich als Staat dazu bekennen muss, in Grünland Landwirtschaft mehr dienen als mit dem vorliegenden richtig Geld zu investieren, und zwar so, dass es für den Antrag . Milchbauern attraktiv wird, von einer intensiven auf eine extensive Landwirtschaft umzusteigen . Wenn ich höre, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der dass die heutige Milchkuh, wenn ich ihr das Kraftfutter CDU/CSU) entziehe, gar nicht mehr lebensfähig ist, dann muss ich mit Verlaub sagen: So ganz richtig kann das auch nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sein . Wir können das mit in den Haushaltsausschuss neh- men . (Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Nein, nein, nein!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ich finde, hier sollten wir ansetzen und umsteuern. Wir sollten Bundesmittel in die Hand nehmen und nachhaltig Artur Auernhammer (CDU/CSU): Ist der da zuständig? – Die Debatte der letzten Tage in die CO2-Senke investieren; ob wir das über Umschich- tung der Säulen machen oder auf anderen Wegen, das sei und Wochen hat wieder einmal die Landwirtschaft in einmal dahingestellt . Aber das sind Wege, die wir gehen die Mitte der Berichterstattung geholt . Der Milchpreis können . hat die Landwirtschaft wieder in die Schlagzeilen und in die Nachrichtensendungen der großen Medien gebracht, Zur Preisentwicklung . Man muss ganz nüchtern sa- aber ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass gen: Für die Milchviehwirtschaft hat es im Novem- es auch andere landwirtschaftliche Betriebe gibt, die hal- ber 2013 eine sehr ertragreiche Zeit gegeben . Damals ten Schweine oder bauen Getreide an . Wenn ich heute wurden Preise von 42 Cent pro Liter gezahlt . Aber wenn Morgen in der WhatsApp-Gruppe meiner Jungbauern man sich die Kurven genau anschaut, dann stellt man lese, dass der Schlachtschweinepreis in der nächsten fest, dass mit dem Anstieg des Preises die Milchproduk- Woche wieder um 5 Cent sinkt, dann müssen wir grund- tion stieg . sätzlich über die Einkommenslage in der Landwirtschaft diskutieren und nicht nur über die Milcherzeuger . (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war doch politisch gewollt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (D) Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die An dieser Stelle muss ich an alle Beteiligten appellieren, Milch hat eine hohe Bedeutung für unser Land, gerade sich sehr sorgfältig zu überlegen: Auf was für ein Spiel für Süddeutschland, aber auch für andere Regionen . Ich lasse ich mich ein? Jetzt komme ich zu einem zentralen denke hier an Ostfriesland . Lieber Rainer Spiering, wenn Punkt . Es gibt in der Landwirtschaft eine Vereinigung, man einer Kuh das Kraftfutter entzieht, dann verhungert die für die Interessen der Landwirtschaft tätig ist, und sie deswegen nicht . Die Kuh hat einen Wiederkäuerma- das ist der Bauernverband . Ich kann vom Bauernverband gen, und sie ist eine der wenigen lebensfähigen Kreatu- doch erwarten, dass er eine schlüssige Antwort darauf ren in unserem Land, die es schaffen, aus Gras Milch zu gibt . Ich muss mit dieser Antwort nicht einverstanden produzieren . Deshalb ist es wichtig – das hast du voll- sein, aber ich kann eine schlüssige Antwort erwarten, und kommen richtig gesagt –: Zum Grünlanderhalt ist eine die bekomme ich im Moment nicht . leistungsfähige Milchviehhaltung notwendig . Wenn ich mir den Bereich anschaue, aus dem ich Wie sieht die Realität aus? Im November 2007 lag komme – das ist der Zentralverband des Deutschen der Preis meiner Anlieferungsmilch bei der Molkerei bei Handwerks –: Die Vielfältigkeit des deutschen Hand- 44 Cent . Im Juli 2009 lag er bei 22 Cent . In dieser Zeit werks ist mindestens so groß wie die der deutschen hatten wir eine Milchquote . Wir hatten auch die Kosten Landwirtschaft . Aber der Zentralverband des Deutschen für Bodenkauf, für Bodenpacht, für Überlieferung, für Handwerks spricht mit einer Stimme . Das kann ich von Leasing und für die ganzen Finanzmittel zu tragen, die einer Standesorganisation wie dem Bauernverband auch aus der aktiven Landwirtschaft in andere Bereiche abge- erwarten . wandert sind . Die müssen wir hier auch einmal erwäh- nen . Deshalb kann es keine staatliche Mengenregulie- Danke schön fürs Zuhören . rung mehr geben . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr .Wilhelm Priesmeier [SPD]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir wussten alle, die Quote läuft aus . Viele haben sich Vielen Dank .– Zum Abschluss der Debatte erhält jetzt auf das Auslaufen der Quote eingestellt, in erster Linie der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion, die Milchbauern in Europa . In Irland stieg die Milchan- das Wort . lieferung um 18 Prozent, in den Niederlanden um 12 Pro- zent . In Deutschland „nur“ um 3,8 Prozent, aber von der (Beifall bei der CDU/CSU) Menge war dies natürlich wesentlich mehr . Ich möchte 17084 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Artur Auernhammer (A) nicht wissen, wie viel Milch die deutschen Milchbau- fairen Preis verkauft wird? Warum sagen wir nicht: „Wir (C) ern geliefert hätten, wenn wir in unserem Land keine so wollen mehr tiergerechte Haltung“? Man kann sich zwar große Trockenheit gehabt hätten . Aber, wie gesagt, die darüber streiten, aber im Prinzip sind wir uns doch einig, Milchbauern haben sich darauf eingestellt . Sie haben Gas dass da noch viele Zugaben notwendig sind, damit in der gegeben . Region so viel produziert wird, wie gebraucht wird, und die Bäuerinnen und Bauern davon leben können . Wer sich meiner Meinung nach nicht darauf einge- stellt hat, ist die Molkereiwirtschaft . Wir haben hohe (Beifall bei der LINKEN) Defizite in der Vermarktung, und es wurde gerade ange- sprochen, dass wir im Milchpreis einen Unterschied von Artur Auernhammer (CDU/CSU): 5 Cent zwischen Nord- und Süddeutschland haben . Das Verehrte Frau Kollegin! Wenn Sie gerade aufgepasst hat vielleicht damit etwas zu tun, dass wir in Süddeutsch- hätten, wüssten Sie, dass auch ich ein Freund der regio- land innovative Produkte haben . nalen Vermarktung bin . (Dr .Wilhelm Priesmeier [SPD]: So ist es!) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ich Die Frage ist aber, ob diese Produkte auch weltmarktfä- habe aufgepasst!) hig sind . Wir haben in Süddeutschland auch einen besse- Auch ich bin dafür, die regionale Bergbauernmilch so zu ren Zugang zum italienischen Markt, und wir haben – ich vermarkten, dass der Verbraucher nachvollziehen kann, nenne das Stichwort „Bergbauernmilch“ – ein gutes Ab- wo das Produkt herkommt . satzimage beim Verbraucher . (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ge- Zum Thema Absatzimage muss ich aber auch be- nau!) richten, was ich in den letzten Tagen in einem Berliner Discountladen gesehen habe . Dort stand ein Milchre- Aber die Realität sieht doch ganz anders aus: Im Dis- gal für Frischmilch . Der Liter Milch, 1,5 Prozent Fett, counter wird das billigste Produkt genommen und nicht zu einem Verkaufspreis von 42 Cent . Leider konnte ich das regionale . Das ist doch das Problem . Wenn man dem keine Milch mitnehmen, weil das Regal leergefegt war . Verbraucher eine Keule, also ein Mikrofon, vor die Nase Der Verbraucher trifft seine eigenen Entscheidungen . Er hält und ihn fragt, was er alles einkaufen will, sagt er: greift nach den billigen Produkten und will diese nutzen . Regionale Produkte und Bio . – Die Realität sieht aber ganz anders aus: hauptsächlich billige Lebensmittel, da- Frau Präsidentin, die Kollegin Bulling-Schröter will mit noch genügend Geld für den Urlaub übrig bleibt . eine Zwischenfrage stellen . (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil sie Lidl und Aldi nicht noch reicher machen (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (D) wollen!) Das haben wir schon gesehen . Ich wollte Sie nur zu Ende reden lassen . Jetzt frage ich Sie aber . Sie gestatten Ein Hinweis sei mir noch gestattet: Sie kommen aus die Frage der Kollegin Bulling-Schröter? Ingolstadt . In Ingolstadt gibt es eine Autowerkstatt, die Produkte herstellt . Wenn diese Autowerkstatt nicht auf dem Weltmarkt tätig wäre, dann wäre der Arbeitsmarkt Artur Auernhammer (CDU/CSU): in Ihrer Region ganz anders aufgestellt . Von der Kollegin Bulling-Schröter, gerne . (Dr .Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Autos Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und Lebensmittel zu vergleichen, ist ganz schlecht!) Bitte schön . Warum soll die deutsche Land- und Ernährungswirt- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): schaft die Potenziale des Weltmarktes nicht nutzen dür- fen? Darf das nur ein Autohersteller? Darf das nur eine Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Möglich- gewerkschaftlich organisierte Fabrik? keit geben, Ihnen eine Frage zu stellen . Sie sprechen von Wettbewerbsfähigkeit . Das heißt, dass die Milch überall- (Dr .Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Darum hin verkauft wird, auch in die USA und in andere Länder sollten Sie sie auch nicht mit Autoherstellern und umgekehrt . So sollen wir ja jetzt im Rahmen von vergleichen!) TTIP frische Eier aus den USA bekommen . Nein, das müssen auch unsere Bäuerinnen und Bauern (Zurufe von der CDU/CSU: Unsinn!) machen dürfen . – Danke . – Lasst mich doch meine Frage stellen . Warum regt ihr (Beifall bei der CDU/CSU) euch jetzt so auf? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir debat- Jetzt meine Frage an Sie: Wir kommen beide aus Bay- tieren das Thema Milch hier teilweise hochemotional ern, und wir wissen, dass die Bayerinnen und Bayern gern und mit großer Leidenschaft, viele liefern gute Beiträ- regionale Kreisläufe haben . Wir sind gemeinsam in eini- ge, aber es geht auch um die Rahmenbedingungen für gen Gremien, in denen wir auch dafür eintreten, regiona- unsere Landwirtschaft . Wenn ich mit Landwirtinnen und le Produkte vor Ort zu kaufen . Warum organisieren wir Landwirten rede und sie frage: „Was bewegt euch am nicht mehr regionale Kreisläufe, damit das, was bei uns meisten?“, dann werde ich als Erstes gefragt: Wie geht produziert wird, auch vor Ort vermarktet und zu einem es weiter mit der Düngeverordnung? Wann kommt ein Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17085

Artur Auernhammer (A) Düngegesetz? Ich möchte hier alle Akteure, die sich heu- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) te und in den letzten Tagen so hervorragend für die deut- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- sche Landwirtschaft eingesetzt haben, einladen, auch ein nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . vernünftiges, praxisgerechtes Düngegesetz zu machen . Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege (Beifall bei der CDU/CSU) Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion . Das Gleiche gilt, wenn es darum geht, dafür zu sor- (Beifall bei der CDU/CSU) gen, dass unsere Bauern auch in Zukunft noch verant- wortungsbewusst Pflanzenschutzmittel einsetzen dürfen, Axel Knoerig (CDU/CSU): auch wenn es darum geht, einen Ampfer in der Wiese zu bekämpfen. Dafür ist ein bestimmtes Pflanzenschutzmit- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tel notwendig . Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt zwei wesentliche Faktoren bei dem Thema Fach- Noch einen Satz zum Schluss: Im Bundesrat wurde kräftesicherung . Das ist zum einen die Digitalisierung . neulich eine Abstimmung herbeigeführt, in der es darum Sie birgt für die Wirtschaft, für die Arbeit große Wachs- ging, die Anbindehaltung zu verbieten . Meine sehr ver- tumspotenziale . Es reicht aber nicht, nur allein auf Inno- ehrten Damen und Herren, ein Drittel der bayerischen vation und Forschung zu setzen . Im Mittelpunkt unserer Betriebe hat noch eine Anbindehaltung . Wenn Sie diese Unionspolitik steht der Mensch und nicht die Technik . Anbindehaltung verbieten wollen, müssen Sie zu einem Drittel der bayerischen Milchbauern sagen: Sperrt eure (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Höfe zu .– Das will ich vermeiden . Darum stelle ich zum sowie des Abg . Josip Juratovic [SPD]) Schluss – Das Wissen unserer Fachkräfte ist eigentlich der Roh- stoff für Innovationen von morgen . Darauf muss sich die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Personalpolitik der Unternehmen entsprechend einstel- Aber wirklich zum Schluss . len . Wir müssen den Arbeitnehmern Perspektiven geben, die neuen Technologien als Chance zu begreifen .

Artur Auernhammer (CDU/CSU): Der zweite wichtige Faktor in diesem Zusammenhang ist der demografische Wandel. Schon in den nächsten – die gleiche Frage, die Fritz Ostendorff eingangs ge- 15 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen um 5 bis stellt hat: In welchen Zeiten leben wir eigentlich? 6 Millionen Menschen sinken . Das Institut für Arbeits- Vielen Dank . markt- und Berufsforschung sieht sogar einen Rück- (B) gang um eine halbe Million pro Jahr bis 2035 . Das sind (D) (Beifall bei der CDU/CSU) alarmierende Zahlen . Der vorliegende Antrag macht deutlich, dass das Bun-

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: desministerium für Wirtschaft und Energie eigene Instru- Vielen Dank .– Zwischen den Fraktionen wurde ver- mente zur Fachkräftesicherung entwickelt hat . Deswe- einbart, dass die Vorlage auf Drucksache 18/8618 an die gen ist dieser Antrag hier gerechtfertigt . Das grenzt ihn in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie- auch von den sozial-, bildungs- und familienpolitischen sen wird .– Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann Zielsetzungen ab . ist das so der Fall . Die Überweisung ist beschlossen . Über die Mitberatung dieser Ressorts sind alle Quer- Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des schnittsaufgaben zur Fachkräfterekrutierung enthalten . Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Ich möchte meinen Dank für die konstruktive Zusam- Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die menarbeit in den Arbeitsgruppen von SPD und CDU/ Grünen mit dem Titel „Milchmarkt stabilisieren – Milch- CSU hier noch einmal deutlich formulieren . Insbesonde- krise beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- re gilt der Dank meiner Kollegin Lena Strothmann und schlussempfehlung auf Drucksache 18/8641, den Antrag meinem Kollegen Herrn Dr .Hans-Joachim Schabedoth der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen von der SPD . auf Drucksache 18/6206 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den ordneten der SPD) Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Wir haben zurzeit noch keinen flächendeckenden der Opposition angenommen . Fachkräftemangel, aber es gibt sehr wohl regionale Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Engpässe . Diese sind vor allem im Süden und im Os- ten unseres Landes erkennbar . Dazu haben wir mit dem Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag ge- CSU und SPD geben . Diese wurde vom Kompetenzzentrum für Fach- Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zu- kräftesicherung konzipiert . Zum Jahresanfang 2016 sind kunftschancen der deutschen Wirtschaft si- 685 Berufe untersucht worden . Es gibt bereits in 148 Be- chern rufen Engpässe . Dazu zählen der Maschinenbau, die Me- tall- und Elektronikbranche, Sanitär, Heizungs- und Kli- Drucksache 18/8614 matechnik sowie die Gesundheits- und die Pflegeberufe. 17086 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Axel Knoerig (A) Sowohl der demografische als auch der digitale Wan- werden . Man muss den Arbeitnehmer im Rahmen einer (C) del fordern ein Umdenken bei der Fachkräfterekrutie- vernünftigen Personalpolitik ganzheitlich betrachten . rung . Wir müssen uns fragen: Was kann ein Unterneh- men tun, um einen Arbeitnehmer über Jahre, Jahrzehnte Danke schön . oder gar bis zur Rente an sich zu binden? Auch dazu hat (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) das Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag gegeben . Diese wurde vom Institut der deutschen Wirt- schaft in Köln in 2015 durchgeführt und trägt den Titel Vizepräsidentin Ulla Schmidt: „Lebensphasenorientierte Personalpolitik“ . Das ist eine Vielen Dank .– Das Wort hat jetzt Sabine Zimmermann, ganzheitlich ausgerichtete Personalpolitik . Sie reicht von Fraktion Die Linke . der Anwerbung über Weiterbildungsangebote bis hin zu Strategien zur langfristigen Bindung von Beschäftigten . (Beifall bei der LINKEN) Da diese Personalpolitik demografiefester ist, können Fachkräfte erfolgreich im Unternehmen gebunden wer- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): den . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Um das zu erreichen, sind die betrieblichen Anfor- Kollegen! Wie immer, wenn es sich um dieses Thema derungen mit den Bedürfnissen der Beschäftigten in dreht, haben Forschung und Wissenschaft – zumindest Einklang zu bringen . Hier sind vor allen Dingen die Le- außerhalb der arbeitgebernahen Institute – eine ziemlich bensphasen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einheitliche Meinung . Ich zitiere einmal aus dem aktuel- wie Elternschaft, Ehrenamt, Familienpflegezeit oder len Bericht der Bundesagentur für Arbeit: auch Krankheit und deren Folgen hinzuzunehmen . Ana- Aktuell zeigt sich nach der Analyse der Bundes- log dazu gibt es die Berufsphasen wie Einstieg, Orientie- agentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräf- rung, Reife, Führung und Ausstieg aus dem Beruf . Diese temangel in Deutschland . kreuzen sich miteinander und stellen auch unterschied- liche Ansprüche an die Arbeitszeiten . Unternehmen Dass überhaupt über einen Fachkräftemangel gespro- sollten flexibler Angebote wie Teilzeit und Heimarbeit chen wird, führt die Bundesagentur für Arbeit auf den ermöglichen. Auch finanzielle Anreize wie betriebliche Beschäftigungszuwachs zurück . So ist das eben: Wenn Altersvorsorge oder variable Gehaltsbestandteile sind in die Beschäftigung zunimmt, heißt das, dass die Nachfra- eine solche Personalpolitik einzubeziehen . ge nach Arbeitskräften steigt . Da fühlt sich die Bundesre- gierung anscheinend berufen, die Unternehmen vor den Wenn man diese Ansätze zusammenführt, dann kann Gesetzen des freien Marktes zu schützen . Denn bekann- (B) man sehr wohl von einer lebensphasenorientierten Perso- termaßen steigt mit der Nachfrage auch der Preis für die (D) nalpolitik sprechen . Doch wenn wir in die Betriebe hin- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Die Linke sagt: einschauen, dann stellen wir fest, dass diese Politik erst Das ist gut so . von 8 Prozent der Unternehmen praktiziert wird . Meine Damen und Herren, man kann schlichtweg sagen: Hier (Beifall bei der LINKEN) besteht dringender Aufholbedarf . Obwohl ich einen sehr ländlichen, kleinstädtisch strukturierten Wahlkreis mit Nach Untersuchungen der Bundesagentur für Arbeit sehr vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen gibt es einen Fachkräftemangel im Wesentlichen in ein- mit 20 bis 50 Arbeitnehmern habe, höre ich von immer zelnen technischen Berufsfeldern sowie im Pflege- und mehr Unternehmern: „Ich brauche einen Personaler, der Gesundheitsbereich. Der Pflege- und Gesundheitsbereich sich um die Arbeitnehmer kümmert“, sodass man wirk- ist ein Musterbeispiel dafür, warum die Mitarbeiterinnen lich von einer lebensphasenorientierten Personalpolitik und Mitarbeiter dort ständig wechseln . Die Arbeitsbelas- sprechen darf . tung ist enorm, die Arbeitszeiten sind familienfeindlich und gesundheitsschädigend, und die Entlohnung ist völ- Geschäftsführungen und Personalabteilungen müssen lig unangemessen niedrig . also viel weiter denken und sich darüber im Klaren sein, (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Arbeit ist dass die Bindung von Fachkräften langfristig zu einem sowieso ganz schlimm!) Wettbewerbs-, wenn nicht sogar zu einem Standortfak- tor für das Unternehmen wird . Der wirtschaftliche Er- Der Pflegenotstand ist hausgemacht. Vor allen Dingen folg baut also immer mehr auf den Mitarbeiterinnen und aufgrund der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems, Mitarbeitern auf . Deswegen habe ich hier und heute die die Sie verschärft haben, wird er sich für die Beschäftig- lebensphasenorientierte Personalpolitik als solche in den ten in Zukunft verschärfen . Das, meine Damen und Her- Mittelpunkt meiner Rede gestellt . ren, war bis jetzt Ihre Politik . Es ist gut, sich um die Arbeitnehmer nicht nur im Hin- In den technischen Berufen – im Maschinenbau und blick auf Technologie, Innovation und Lerninhalte zu bei den Metall-, Sanitär- und Klempnerberufen – haben kümmern . Vielmehr sollte man auch in den Blick neh- wir einen sogenannten Fachkräfteengpass; das sind die men, wie sich ein Arbeitnehmer in der Bildungsphase klassischen Ausbildungsbranchen . Aber der Anteil der entwickelt, also von der Ausbildung bis hin zum Studi- Betriebe, der ausbildet, liegt bei gerade mal 20 Prozent . um, und was er in den einzelnen Lebensphasen – auch in Nur jeder fünfte Betrieb bildet den Nachwuchs aus . Den der Elternzeit und selbst dann, wenn er ehrenamtlich tätig Unternehmen, die nun einen Fachkräftemangel fürchten, ist – leistet . Dies muss dann vernünftig zusammengefügt kann man da eigentlich nur raten: Wer Fachkräfte will, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17087

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) muss Fachkräfte ausbilden und sie ordentlich bezahlen . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) So einfach ist das . Vielen Dank .– Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr . Hans-Joachim Schabedoth . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dabei könnten wir sie politisch unterstützen, zum Beispiel durch eine Ausbildungsplatzumlage . Wer nicht Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): ausbildet, zahlt ein; wer ausbildet, bekommt Unterstüt- zung . Gerade kleineren Betrieben würden wir helfen, Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wenn wir die Ausbildungsverbünde, die ja lange Zeit ge- Kollegen! Der deutschen Wirtschaft geht es doch eigent- fördert worden sind, wieder stärker fördern würden . Über lich gut . Das BIP wächst, die Arbeitslosigkeit wird wei- die Ausbildungsplatzumlage reden wir in diesem Haus ter sinken, die Einkommen steigen . Das ist allerdings nur eigentlich schon seit Jahrzehnten . möglich, weil es in Deutschland ein wunderbar funktio- nierendes System der Fachkräfteausbildung gibt . Dafür Einmal abgesehen davon, dass die Lobesarien, die im bewundert man uns weltweit – mit Recht . Antrag für Maßnahmen der Wirtschaft gesungen werden, Aber auch was schon gut ist, muss ständig an neue die in deren ureigenem Interesse liegen, in unseren Au- Herausforderungen angepasst werden – nicht zuletzt in gen ebenso überflüssig sind wie Ihr fast schon peinliches unserer Gesellschaft des demografischen Wandels. Wir Selbstlob, könnten wir Linke viele Punkte unterschrei- haben das im vorliegenden Antrag ausführlich darge- ben . Um hier nur einmal einige zu nennen: die Anreize stellt . Ich will deshalb nur einzelne Aspekte hervorheben . für die Erwerbstätigkeit von Frauen, die bessere Ver- einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, die Nutzung Zum Beispiel muss die Facharbeiterausbildung in der Potenziale von Migrantinnen und Migranten und die Konkurrenz mit der akademischen Bildung immer wie- Integrations- und Qualifizierungsinitiative für Langzei- der neu profiliert werden. Es gibt in Deutschland rund terwerbslose . Was die Linke natürlich besonders freut, 2,8 Millionen Studierende, Tendenz steigend, während ist die Integration von Menschen mit Behinderung auf die Zahl der Auszubildenden stetig sinkt . Derzeit sind dem ersten Arbeitsmarkt . Ja, das alles könnten wir un- 1,4 Millionen junge Menschen in Ausbildung . Es müss- terschreiben . ten erheblich mehr sein . Etwa 50 000 Stellen sind derzeit unbesetzt . Viele wis- Leider stützen Sie aber seit Jahren eine Politik, die auf sen gar nicht, dass man unter 330 Ausbildungsberufen das Gegenteil Ihrer Forderungen hinausläuft . Das wissen wählen könnte . So verwundert es uns nicht, dass viele die Antragsteller natürlich nur zu genau; denn sie fordern (B) Ausbildungsgänge unbekannt bleiben . (D) in ihrem Antrag selbst, dass diese Forderungen im Rah- men der verfügbaren Haushaltsmittel umgesetzt werden Zudem weichen viele Menschen lieber auf eine akade- sollen . Es soll also nicht mehr Geld geben . Schwupp! mische Ausbildung aus . Es gibt über 18 000 Studiengän- Und schon sind die ganzen Träume in Bezug auf die ge . Wir freuen uns über jeden Studienabschluss; verste- 32 Punkte in Ihrem Antrag ausgeträumt . hen Sie mich bitte nicht falsch . Aber ohne die Basis von Facharbeit würden wir als Industrieland an Bedeutung Schauen wir uns einmal die Forderungen für die Lang- verlieren . zeiterwerbslosen an . Zum Beispiel wollen Sie die Wei- terbildung für Langzeiterwerbslose stärken . Ja, klar; da (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) machen wir mit . Aber was haben Sie denn in den letz- Viele Menschen, die das berühmte IMM studiert ha- ten Jahren getan? Sie haben doch die Mittel in diesem ben, also „Irgendwas mit Medien“, wären vielleicht als Bereich massiv gekürzt . Jetzt wollen Sie die Aktivitäten Mechatroniker oder als Schreinerin glücklicher . Mehr wieder ausweiten – im Rahmen der verfügbaren Haus- Geld verdienen könnten sie damit, glaube ich, allemal . haltsmittel . Wie soll das denn gehen? Viel zu sorglos sind wir lange davon ausgegangen, in der Berufswelt stünden Nachwuchskräfte immer ausrei- Zusammengefasst: Die Worte hör ich wohl, die Worte chend zur Verfügung . Doch sie sind nie auf den Bäumen hör ich auch gern, allein mir fehlt der Glaube . gewachsen . Jetzt mehren sich die Engpassfälle, wo der (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Die Linke hat Nachwuchs mit der Lupe gesucht wird . mit dem Glauben immer Schwierigkeiten ge- Wir können heute eine ganze Menge dafür tun – das habt!) haben wir ja aufgeschrieben –, damit die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage geschlossen oder zumindest Die Linke wird natürlich weiterhin kritisch hinterfragen, nicht größer wird . Vielleicht ist es schlichtweg auch nicht wie Sie Ihre 32 Forderungen in Ihrem schönen Antrag lukrativ genug, zum Beispiel als Metzger oder als Bäcker denn umsetzen wollen . zu arbeiten . Aber da stellt sich doch die Frage: Müsste Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Für einen solchen unattraktivere Arbeit nicht deutlich besser bezahlt wer- Schaufensterantrag steht die Linke nicht zur Verfügung . den, auch schon während der Ausbildung? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Danke schön . Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass Frauen (Beifall bei der LINKEN) nach wie vor erheblich weniger verdienen als Männer . 17088 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Hans-Joachim Schabedoth (A) Die bestausgebildeten Frauen aller Zeiten und auch viele Fachkräften ist eine Dauerbaustelle . Was wir jetzt ange- (C) Männer fehlen dem Arbeitsmarkt, weil wir ihre Probleme hen wollen und müssen, um unser Fachkräftepotenzial zu mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch nicht mehren und besser auszuschöpfen, haben wir in vielen lösen konnten . Gesprächen ermittelt und aufgezeigt . (Beifall bei der SPD) Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, vor allen Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ha- Dingen auch an Sie, Herr Knoerig, aber auch an viele ben alle Frauen einen legitimen Anspruch, auch an den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Arbeitskrei- von Männern präferierten Segmenten der Arbeitswelt sen . Jetzt muss es getan werden . Danke an alle, die dabei teilzuhaben . mithelfen . Frauen sind nicht der Rest, sondern leider vielfach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegen ihren eigenen Wunsch die noch unterbeschäftig- der CDU/CSU) te Hälfte der Gesellschaft . Das kann man ändern . Auf Arbeitsfeldern, in denen heute überwiegend Frauen be-

schäftigt sind, wird im Übrigen am schlechtesten ent- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: lohnt . Auch das ist kein Naturgesetz, sondern das hat Vielen Dank .– Als Nächster spricht der Kollege schon etwas Männerbündisches . Das darf so nicht blei- Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen . ben . (Beifall des Abg . Dr .Wolfgang Strengmann- Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Es ist doch irre, dass der Dienst am Menschen schlechter Knoerig! Herr Schabedoth, es ist löblich, dass Sie die bezahlt wird als der Dienst am Auto . 32 Maßnahmen, die wir derzeit haben, in Ihrem Antrag auflisten und damit etwas beschreiben, das bereits statt- Auch junge Menschen, die sich vielleicht nur für die findet. Das kann man nicht kritisieren. Es ist sinnvoll, Dauer ihres Flüchtlingsstatus bei uns aufhalten, müs- aber das ergibt noch keine Gesamtstrategie . sen wir jetzt ausbilden, und zwar so gut und so schnell es geht. Davon profitieren wir alle; mein Kollege Josip Sie haben zum Beispiel das Thema Integration und Juratovic wird Ihnen das noch ausführlicher erklären . Einwanderungsgesetz angesprochen . Wir haben das Heutige Versäumnisse bei der Ausbildung von Flüchtlin- Jahr 2016 . Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass wir uns gen würden sich bitter rächen . Das ist die eine Seite . Die gezielt um Einwanderung und um die Integration von (B) andere Seite ist es, im Ausland gezielt um Fachkräfte zu Ausländern in den Arbeitsmarkt kümmern müssen, und (D) werben . Kluges Einwanderungsmanagement gehört des- jetzt diskutieren wir erst darüber, ob wir vielleicht im halb zur Palette aller Maßnahmen, mit denen wir dem nächsten Jahr ein Einwanderungsgesetz bekommen . Das Fachkräftemangel vorbeugen . Das wäre moderne Politik . zeigt doch die ganze Misere, dass wir bei den Grundlini- en eben nicht vorankommen, was die Fachkräfte angeht; Während viele Industrieländer eine Einladung an die dort sind wir im Hintertreffen . Fähigsten aussprechen, machen wir was genau? Das morgen zu diskutierende Integrationsgesetz ist ein erster (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schritt; denn es nutzt die Potenziale derer, die schon da sind und die wir glücklicherweise schon haben . Es gibt Wir können das fortsetzen, zum Beispiel beim Thema viele Menschen mit einer Behinderung, die nur durch ge- Frauenförderung . Sie haben in Ihrem Antrag die vorhan- zielte und begleitete Maßnahmen einen willkommenen denen Maßnahmen genannt . Auch die Linke hat es ange- Platz in der Berufswelt finden können. Das sollten wir sprochen. Wir haben an dieser Stelle ein Defizit, aber die fortan systematischer berücksichtigen . Bundesregierung gibt auch die falschen Signale . Wir brauchen auch eine Perspektive für Studienabbre- Sie haben das Betreuungsgeld ermöglicht . Gestern hat cher und die Unterstützung für die allzu vielen, die ihre die Bayerische Staatsregierung das erneut beschlossen . Ausbildung ohne Abschluss beenden . Es ist und bleibt Das Geld dafür fließt aus dem Bundeshaushalt. Das sind eine Lüge, Kolleginnen und Kollegen, dass Hans nicht doch keine Signale, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt mehr lernen könnte, was Hänschen versäumt hat . Auch in zu bringen . Das sind Signale dafür, dass Frauen zu Hause der beruflichen Ausbildung darf es nie ein Zu-spät geben. bleiben sollen . Also auch das ist von der großen Linie her Lassen Sie uns jetzt die vielen, die heute resigniert haben nicht der richtige Ansatz . oder sich als Langzeitarbeitslose ausgegrenzt fühlen, er- mutigen, die Fachkräfte von morgen zu werden . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Eine solide Ausbildung ist niemals eine Sackgasse, son- Der nächste Punkt: Sie schreiben in Ihrem Antrag: Äl- dern die Startrampe für ein gelingendes Leben . tere Erwerbspersonen müssen länger in das Arbeitsleben eingebunden werden . Auch das begrüßen wir . Die skan- Unser Antrag zeigt auf, was bereits passiert, aber dinavischen Modelle zeigen, was damit möglich ist . es muss auch noch viel getan werden . Haben wir viel- leicht etwas vergessen? Frau Kollegin, reichen Ihnen die Aber was haben Sie gemacht? Sie haben die Rente mit 32 Punkte nicht? Das mag sein, ja. Das Qualifizieren von 63 eingeführt . Auch das ist ein Signal, zu dem ich nicht Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17089

Dieter Janecek (A) sagen kann: Das ist konsistent . Sie haben 32 Einzelmaß- beitsmarkt wie unserem mit einer Rekordbeschäftigung (C) nahmen, aber die großen Linien funktionieren eben nicht . von 43,4 Millionen sozialversicherungspflichtig -Be schäftigten gibt es die Chancen . (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Wir können das schaffen . Lassen Sie uns in die Zu- kunft denken und vielleicht einmal den Blick darauf Ich habe als bayerischer Abgeordneter der Grünen, richten, wie andere Länder, beispielsweise die USA, ihr auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, alle Wahlkrei- Wachstum über die Jahrzehnte geschaffen haben . Durch- se in Bayern zu erobern, die Ehre, nicht nur München aus auch mit Einwanderung und Zuwanderung, leider als dynamische bayerische Hochleistungsregion zu ver- aber in dem Fall – damit sind wir wieder bei sozialen treten, sondern auch die ländliche Oberpfalz und Unter- Gesichtspunkten – wieder nur in den unteren Lohnberei- franken . Die Frage, ob es einen Fachkräftemangel gibt, chen . Das ist nämlich genau der Punkt . ist sehr unterschiedlich zu beantworten . Per se kann man nicht sagen, dass es einen Fachkräftemangel gibt, schon Wir brauchen stabile Löhne, ein gutes Umfeld für die gar nicht in Bayern, aber vielleicht in Teilen Ostdeutsch- Wirtschaft und eine offene Volkswirtschaft statt der Si- lands . gnale, die in den letzten Wochen und Monaten gegeben wurden: geschlossene Grenzen bis hin zu den wirklich Aber es gibt natürlich Herausforderungen . Die He- schlimmen Beleidigungen eines Nationalspielers . Das rausforderung, eine Erzieherin in München zu halten, ist schafft ein Klima im Land, das uns allen nicht dienen bei den Mietpreisen, die man dort zu bezahlen hat, eine wird . andere Herausforderung, als sich in der Oberpfalz um eine Industrieregion zu kümmern, die dringend Ansied- Deswegen bitte ich Sie einfach, eine offene, vielfältige lungen sucht, oder in Unterfranken die Weiterentwick- Volkswirtschaft zu schaffen – das ist auch eine Voraus- lung der Industrie vor Ort zum Beispiel mit erneuerbaren setzung dafür, dass wir gute Fachkräfte haben werden –, Energien zu gewährleisten . Frauenförderung zu machen, die Flüchtlinge zu integrie- ren und einfach darauf zu schauen, dass wir bei den Löh- Um diese Rahmenbedingungen muss man sich küm- nen auch stabil sind, damit die Menschen ein Auskom- mern . Denn wenn man zum Beispiel beim DIHK nach- men haben . Dann kommt das alles zusammen, und dann fragt, dann erfährt man, dass Unternehmer sagen – das werden wir das auch schaffen . zeigt sich auch immer wieder, wenn man Unternehmen vor Ort besucht –: Wir können freie Stellen nicht beset- Vielen Dank . zen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das wird sich bei Nachfragen bestätigen . Auch das (B) (D) Mittelstandsbarometer zeigt das: 62 Prozent der Betriebe Vizepräsidentin Ulla Schmidt: können freie Stellen nicht besetzen . Man muss hinter- Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Jana Schimke, fragen, woran genau das liegt . Liegt es daran, dass kein CDU/CSU-Fraktion . qualifiziertes Personal vorhanden ist, oder liegt es viel- leicht auch daran – Sie sagen es –, dass die Bezahlung (Beifall bei der CDU/CSU) zum Teil nicht stimmt? Vielleicht liegt es daran, dass wir im Bereich der Löhne das Problem haben, dass sich die Jana Schimke (CDU/CSU): Menschen in die Zentren orientieren, wo entsprechen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Indus- de Löhne gezahlt werden, und wenn zu wenig gezahlt trie 4 0,. Arbeit 4 0. oder die Digitalisierung der Arbeits- wird und der Wettbewerb so hart ist, dass die Löhne nicht welt, der digitale Wandel der Arbeitswelt, das alles ist hoch genug sind, dann gehen sie nicht dorthin . Auch das nicht nur politisch, sondern auch öffentlich in aller Mun- gehört zur Situation: Wenn man den Fachkräftemangel de . Sowohl die Tages- als auch die Fachpresse widmen beseitigen will, dann muss man gerechte Löhne in einer sich regelmäßig diesen Themen . Studien und Untersu- gerechten Industrie und einem gerechten Mittelstand chungen werden bemüht, um den technischen Wandel schaffen . und dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu prog- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nostizieren . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bei den Experten aber ist man sich uneinig darüber, Dann komme ich zu dem Thema, das uns sehr lange was das für einzelne Berufsfelder bedeutet . Weitestge- bewegt hat, nämlich die Integration der Flüchtlinge . Ich hend einig ist man sich in der Wissenschaft nur darüber, gehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, dass der dass die Digitalisierung ganz neue Anforderungen an Ar- Zuzug von Flüchtlingen – der ja nicht erfolgt ist, weil beitnehmer stellen wird und Qualifikation immer wich- diese Menschen aus wirtschaftlichen Gründen kommen tiger wird . wollten, sondern weil sie aufgrund von Krieg und Ver- Fachkräfte sind also ein entscheidender Fakt, wenn es treibung kommen mussten – die wirtschaftliche Chance um die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung in der per se ist . Das halte ich für überhöht . Aber Sie müssen Arbeitswelt geht . Deshalb kann es uns auch nicht egal darüber nachdenken, dass wir heute mit Sprachkursen sein, wie sich die Fachkräftesituation in den Betrieben und Angeboten in diese Menschen investieren müssen, darstellt . Unser wirtschaftlicher Erfolg basiert auf guten damit sich morgen etwas daraus ergibt . Das geht; denn Ideen und klugen Köpfen . die Menschen, die hierhergekommen sind, wollen etwas tun . Denen müssen wir etwas geben, und auf einem Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 17090 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Jana Schimke (A) Zwar ist der Fachkräftemangel noch keine flächen- Weiterhin ist es richtig, dass wir bereits frühzeitig auf (C) deckende Erscheinung, doch er tritt schon seit längerer digitale Bildungsangebote setzen . Dafür braucht es einen Zeit in bestimmten Branchen und Berufen, aber auch in ganzheitlichen Ansatz: von der Kita bis zur beruflichen Regionen auf . Beispielsweise bei den MINT-Berufen lag Bildung. Das setzt entsprechende Qualifikationsangebote die Arbeitskräftelücke im April dieses Jahres schon bei für die Lehrenden sowie natürlich auch eine gute techni- knapp unter 172 000 Personen . Wenn ich eben gesagt sche Ausstattung voraus . Schaffen wir das, wird uns der habe, dass sich das inzwischen auch in verschiedenen digitale Wandel in der Arbeitswelt gut gelingen . Hierbei Regionen abbildet, so muss man leider sagen, dass es kann man an bereits bestehende Initiativen – zum Bei- Unternehmen in Deutschland gibt – mitunter auch sehr spiel an die Initiative „erlebe IT“ – anknüpfen, die sich große Unternehmen –, die sehr, sehr große Schwierigkei- insbesondere mit der Stärkung der Medienkompetenz ten haben, qualifizierte Fachkräfte zu ihrem Stammsitz der Schülerinnen und Schüler, aber auch mit Themen zu bekommen und für eine Beschäftigung im Unterneh- wie „Sicherheit im Internet“ und „Datenschutz“ befas- men zu gewinnen . sen . Der Bundesverband BITKOM bietet diese Initiative an . Sie ist kostenfrei . Es wurde allen Abgeordneten an- Diese Regionen sind nicht nur in weit entfernten länd- geboten, an den Schulen im Wahlkreis mit dieser Initia- lichen Räumen zu finden oder in Ostdeutschland ganz tive zu werben . Ich habe das gemacht . Ich war erstaunt . allgemein, sondern das fängt manchmal schon hinter Ich wurde von der Nachfrage und der großen Resonanz der Berliner Stadtgrenze an . Mein Wahlkreis reicht vom in meinem Wahlkreis förmlich überrannt . Viele Schulen Spreewald bis an die Berliner Stadtgrenze, und mir be- haben sich daran beteiligt, und ich weiß auch, dass diese richten mitunter sogar Unternehmen, die in relativ Ber- Initiative deutschlandweit großen Anklang gefunden hat . lin-nahen Regionen ihren Sitz haben, wie schwierig es ist, mit den Konzernen, die auf Berliner Stadtgebiet ihren Nicht nur Schüler werden durch diese Initiative so- Sitz haben, zu konkurrieren . zusagen fortgebildet, sondern auch Lehrer und Eltern . Wir alle wissen, dass wir auf die Bildungspolitik der Fest steht, dass wir es den Unternehmen aber auch Länder nur wenig Einfluss haben; denn wir sitzen ja hier nicht abnehmen können, attraktiv für Fachkräfte zu sein . im Deutschen Bundestag . Aber ich bin sehr dankbar für Hier ist die Eigeninitiative der Betriebe gefragt . Fest solche Initiativen vonseiten der Wirtschaft und der Ver- steht aber auch, dass größere Unternehmen bei der Fach- bände, weil sie uns die Möglichkeit geben, ein Stück weit kräftegewinnung mitunter andere Möglichkeiten haben Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik auf Landese- als kleine und mittelständische Betriebe . Unsere Aufgabe bene zu korrigieren und auch ein Stück weit auf die Lan- ist es deshalb, dieses Engagement mit klugen Initiativen, desbildungspolitik einzuwirken . Gesetzen und Fördermöglichkeiten zu unterstützen . Die- (B) sem Ziel, meine Damen und Herren, tragen wir mit dem (Beifall bei der CDU/CSU) (D) vorliegenden Antrag Rechnung . Schließlich liegt mir auch die Stärkung der Berufsori- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) entierung am Herzen . Zu oft sitzen mir Schüler im Alter In diesem Antrag wird deutlich, wie viele Politikfelder von 14 bis 18 Jahren gegenüber ohne jedwede Vorstel- von der klassischen Wirtschaftspolitik über die Sozialpo- lung über ihre berufliche Zukunft. Zu oft habe -ich ge litik bis hin zur Bildungspolitik und sogar zur Asylpolitik hört, dass beispielsweise eine Friseurin lieber Tischlerin inzwischen in diesem Themengebiet involviert sind . Ein geworden wäre, wenn der Vater es erlaubt hätte, oder ganz entscheidendes Ziel dieses Antrags ist die Stärkung eine junge Frau, die ihren Alltag mit Gelegenheitsjobs der dualen Berufsausbildung . Wir müssen deshalb alles bestreitet, lieber Kfz-Mechatronikerin geworden wäre, daransetzen, der dualen Berufsausbildung dieselbe Wert- ihr dafür aber der Mut fehlte . Ähnliche Beispiele gibt es schätzung zukommen zu lassen wie anderen Bildungs- selbstverständlich auch bei den Männern . wegen . Es kommt also darauf an, gerade im Bereich der Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rufsorientierung über den Tellerrand hinauszuschauen der SPD) und den jungen Menschen in unserem Land angesichts der Vielzahl der Möglichkeiten, die das Leben heutzuta- Ich erlebe in meinem Wahlkreis tagtäglich, wie Hand- ge bietet, ein Stück weit einen Leitfaden an die Hand zu werksbetriebe um ihre Existenz kämpfen, weil der Nach- geben . Ich bin sehr dankbar für die gute Arbeit, die die wuchs und mitunter auch die Unternehmensnachfolge Bundesagentur für Arbeit in diesem Bereich leistet, aber fehlen . Stattdessen gibt es einen Run der jungen Men- vor allen Dingen auch unsere Wirtschaftsverbände, die schen auf die Universitäten . Dabei werden wir weltweit dabei mit interessanten und spritzigen Initiativen auf sich um unsere gute berufliche Ausbildung beneidet. Auch die aufmerksam machen . mehr als 350 Ausbildungsberufe, die es in Deutschland gibt, haben sich verändert . Auch dank der Digitalisierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) haben sie sich mitunter zu hochkomplexen technologi- schen und perspektivenreichen Aufgabengebieten ent- Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es, wickelt . Das müssen wir den Schülerinnen und Schülern beim jährlich stattfindenden Girls’ Day und Boys’ Day verdeutlichen, meine Damen und Herren . bzw . beim Zukunftstag, wie auch immer man ihn nennen mag, mitzuhelfen, mitzuwirken und für das zu werben, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und worum es uns in der Bildungs- und insbesondere in der der SPD) Ausbildungspolitik im weitesten Sinne geht . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17091

Jana Schimke (A) Das sind nur wenige Punkte aus unserem sehr umfas- Deshalb ist es uns wichtig, dass wir Qualifikation fördern, (C) senden Antrag, die ich soeben nannte . Sie zeigen aber, zum Beispiel ganz aktuell durch Rechtssicherheit wäh- dass Bildung, Ausbildung, Weiterbildung und Integration rend der Ausbildung oder durch die Bereitstellung von zentrale Zukunftsaufgaben für uns sind, um im globalen 100 000 Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete. Gleich- Wettbewerb Schritt halten zu können . zeitig vereinfachen wir die Anerkennungsverfahren zum Beispiel mit dem deutschen IQ-Netzwerk . Kolleginnen Vielen Dank . und Kollegen, es wird sich lohnen, Neuankömmlingen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine Chance auf Arbeit zu geben; denn der Arbeitsplatz ist der beste Ort zur Integration .

Vizepräsidentin : (Beifall des Abg . Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Josip Juratovic von der SPD-Fraktion das Wort . Drittens . Trotzdem wird die bisherige Zuwanderung nicht reichen, um den Fachkräftebedarf langfristig opti- (Beifall bei der SPD) mal zu decken . Wir brauchen Einwanderung, wenn wir unsere alternde Gesellschaft für die Zukunft absichern Josip Juratovic (SPD): wollen . Doch Wirtschaft und Gesellschaft verlangen für die Einwanderung Planbarkeit . Um diesen gesellschaft- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lichen Prozess planen und steuern zu können, brauchen Kollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn, zu betonen: Ers- wir ein Einwanderungsgesetz . Dazu gehört auch, im tens . Es ist ein Fakt: Zur Fachkräftesicherung in unse- Ausland für den deutschen Arbeitsmarkt zu werben, vor rem Land gehört Einwanderung . Zweitens . Dabei dürfen allem in Ländern mit besonders hohem Migrationsdruck . Menschen nicht gegeneinander ausgespielt werden . Ein gutes Beispiel ist der Westbalkan . Seit Novem- Ich bin Integrationsbeauftragter meiner Fraktion . Für ber 2015 dürfen Menschen aus dem Westbalkan in uns ist es wichtig, in unserem Handeln die gesamte Ge- Deutschland arbeiten, wenn sie einen Vertrag über ei- sellschaft zu berücksichtigen . Deswegen heißt es bei uns nen Arbeitsplatz mit fairer Bezahlung nachweisen und nicht: „Frau gegen Mann“, „Alt gegen Jung“, „Gesund die Vorrangprüfung bestehen . Seitdem gewinnen wir gegen Beeinträchtigt“, und eben auch nicht: „Migrant Menschen, die der deutsche Arbeitsmarkt offensichtlich gegen Deutschstämmig“ . Unsere Politik ist für alle Men- braucht; gleichzeitig sinkt die Zahl von Asylbewerbern schen da . Nur so kann der Zusammenhalt in unserer Ge- aus diesen Ländern . sellschaft gesichert werden . Kolleginnen und Kollegen, in letzter Zeit ist die Fach- (B) Ich freue mich darüber, dass es uns gelungen ist, in un- kraftgewinnung auf dem europäischen Binnenmarkt lei- (D) serem Antrag die Vielschichtigkeit der Fachkräftesiche- der aus dem Blickwinkel geraten . Europas Arbeiter sind rung darzulegen . Er zeigt auf, welche Bedarfe es gibt und mobil . Sie sollen es zu fairen Bedingungen sein . Die Pro- welche Angebote unsere Politik macht . Mit der Vielfalt jekte MobiPro und „Faire Mobilität“ gehen zum Beispiel der Programme zur Fachkräftesicherung zeigen wir, dass Hand in Hand, wenn es darum geht, dass EU-Bürger in wir bedarfsgerecht zuschneiden können . Und warum? Deutschland lernen und arbeiten können . Ausbildung in Jeder in unserem Land soll so gefördert und gefordert Deutschland ist ein wichtiger Aspekt . Wenn wir Men- werden, dass er seine Chancen optimal nutzen kann . Kol- schen schon zur Ausbildung nach Deutschland locken leginnen und Kollegen, was brauchen wir dazu? können, werden sie unserem Land für lange Zeit als gute Facharbeiter zur Verfügung stehen . Erstens . Wir müssen die Potenziale im Inland optimal nutzen . Wir wollen alle unterstützen, die Vermittlungs- Als Fließbandarbeiter und Gewerkschafter appelliere hindernisse haben . Wir wollen uns um sie kümmern, ob ich aber auch an die Redlichkeit unserer Unternehmen . deutschstämmig oder Migrant, ob ein Langzeitarbeitslo- Mischkalkulationen, in denen Menschen gegeneinander ser gut Deutsch spricht oder nicht . Jedes Programm zur ausgespielt werden, dürfen nicht Bestandteil von Ge- Heranführung an den Arbeitsmarkt ist gut für diese Men- schäftsmodellen sein . Sie sind Betrug an der gesamtge- schen und für unser Land . sellschaftlichen Verantwortung . Es darf nicht sein, dass Ältere nicht beschäftigt werden, weil man den Jüngeren Zweitens . Viele Menschen sind aus humanitären Grün- weniger bezahlen muss und sie obendrein noch leich- den nach Deutschland gekommen . Wir müssen möglichst ter mit Befristung knechten kann . Genauso wenig darf viele für unseren Arbeitsmarkt gewinnen . Gerade den es sein, dass Ausländer angeworben werden, weil sie in Geflüchteten stehen viele Hürden im Weg. Dabei ist es ihrer Not bereit sind, an der unteren Grenze, die das Ar- mir wichtig: Wir brauchen keine Angst vor Niedrigqua- beitsrecht noch erlaubt, zu arbeiten, und somit Deutsche lifikation zu haben. Ich als ehemaliger Fließbandarbeiter gegen Ausländer ausgespielt werden . und nun als Abgeordneter im Deutschen Bundestag bin nicht als Fachkraft in unser Land gekommen . Ich bin hier Kolleginnen und Kollegen, Wettbewerb hat Grenzen, zur Fachkraft geworden, nicht zuletzt dank der optimalen (Beifall der Abg . Kathrin Vogler [DIE LIN- Bedingungen, die mir unser Land geboten hat . KE]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nicht nur entlang der Gesetze, sondern vor allem entlang des Abg . Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE des Anstands und der Redlichkeit . Nur wenn es uns ge- GRÜNEN]) lingt, dass jeder und jede sein bzw . ihr Bestes gibt, nicht 17092 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Josip Juratovic (A) nur für den eigenen Profit, sondern auch für das Gemein- Hochschule verlässt, eigentlich eine Employability, also (C) wohl, dann sind Frieden und gesellschaftlicher Zusam- eine Einstellungsfähigkeit, die sich zwar nicht gerade bei menhalt gesichert . Die Wirtschaft muss hier mit gutem null befindet, aber vergleichsweise gering ist. Beispiel vorangehen . Wichtig ist es deswegen, dass wir in einem zweiten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Schritt zwischen der akademischen und der beruflichen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bildung Übergänge schaffen, sodass gesagt wird: Eine berufliche Bildung ist ein guter Anfang. Dann kann man auch denjenigen, die das Abitur haben, aber merken, dass Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ihnen eine berufliche Bildung eigentlich viel besser liegt, Vielen Dank . – Als letzter Redner hat Dr .Thomas zeigen: Es geht nicht nur darum, einen guten Gesellenab- Feist von der CDU/CSU-Fraktion in dieser Debatte das schluss zu machen, sondern auch darum, dass man sich Wort . spezialisiert und vielleicht ein Meisterstudium aufnimmt . (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben in dieser Legislaturperiode ja dafür gesorgt, dass die Förderbedingungen – ich will das jetzt hier nicht noch einmal wiederholen – für das Meister-BAföG we- Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): sentlich besser geworden sind . Genau das sind die richti- Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Meine lieben Kolle- gen Signale, die wir aussenden . Und es ist wichtig, dass ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! wir diese Punkte – es gab ja Kritik daran – auch einmal Ich freue mich, dass ich als Bildungspolitiker zu dieser zusammenführen . Debatte auch noch etwas beitragen darf; denn ohne Bil- dung keine Fachkräfte . Darin sind wir uns ja einig . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie des Abg . Dr . Hans-Joachim Schabedoth Ich möchte auf der einen Seite etwas dazu sagen, was [SPD]) wir tun müssen, um Fachkräften Qualifizierung, Per- spektiven und Karrierechancen zu ermöglichen . Auf der Dass wir das im Bereich des Wirtschaftsministeriums anderen Seite möchte ich etwas dazu sagen, wie wir den- zusammenführen, hängt auch damit zusammen, dass die jenigen, die bisher keinen Berufs- oder Schulabschluss Allianz für Aus- und Weiterbildung auch im Wirtschafts- haben, etwas an die Hand geben können; denn es geht ministerium angesiedelt ist . Natürlich kann es nicht ge- nicht nur darum, dass wir Fachkräfte brauchen, sondern lingen, Aus- und Weiterbildung allein im Wirtschaftsmi- wir müssen auch Möglichkeiten eröffnen, damit sich nisterium zu organisieren, sondern wir brauchen dabei Leute in diesem Land für dieses Land engagieren und auch die Bereiche Arbeit und Soziales sowie natürlich das Gefühl bekommen, gebraucht zu werden . Auch das Bildung . (B) (D) ist eine wichtige Botschaft . Ich möchte auch noch einmal kurz darstellen, warum Ich möchte mit einem Punkt anfangen, der auch im das so wichtig für diejenigen ist, die bisher keinen Be- Antrag erwähnt worden ist und den ich für ganz zen­ rufs- oder Schulabschluss haben . Es geht darum, dass tral halte . Es geht um Berufsorientierung, und zwar an wir Netzwerke schaffen, in denen aus den verschiede- allen Schulformen für alle Schüler . Es ist schon gesagt nen Rechtskreisen – zum Beispiel des Sozialgesetzbu- worden: Wir haben 330 Ausbildungsberufe . Einige da- ches – Leistungen zusammengeführt werden . Ein ganz von kennt man, zum Beispiel den Klempner oder den wichtiges Mittel dafür ist zum Beispiel die Jugendbe- Zimmermann . Aber wenn ein junger Mensch – und da rufsagentur, die den jungen Leuten, die die Schule ver- schaue ich die jungen Leute an, die hier oben auf der lassen, passgenaue Angebote macht und dafür sorgt, dass Zuschauertribüne sitzen – nach Hause kommt und sei- man sie nicht aus dem Blick verliert . Denn je länger man nen Eltern sagt, er bzw . sie würde gerne Verfahrenstech- mit einer Ausbildung wartet, umso schwerer wird es . Sie niker werden, dann werden einen die Eltern erst einmal haben gesagt, auch Hans kann das noch lernen; das ist komisch anschauen; denn es gibt einfach zu wenige In- richtig . Aber es fällt ihm natürlich wesentlich schwerer . formationen darüber, welche Berufe es gibt und welche Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir möglichst Möglichkeiten es auch gibt, sich im Beruf fort- und wei- gute Übergänge von der Schule in den Beruf schaffen . terzubilden . 330 Ausbildungsberufe sind also schon eine Es gehört auch dazu, dass wir denjenigen, die im über- ganze Menge . Weiterhin gibt es – das haben wir auch betrieblichen Bereich Bildungsangebote bereitstellen, schon gehört – 18 000 grundständige Bachelorstudien- sagen: Wir brauchen Kriterien, die sich auf die Beruf- gänge . lichkeit – das heißt auf die Anschlussfähigkeit von Be- Mir geht es nun um Folgendes: Weil natürlich auch die rufen – fokussieren . In den Arbeitsagenturen haben wir Eltern in die Entscheidung wesentlich mit eingebunden jetzt natürlich Kriterien eingeführt, nach denen man die sind, brauchen wir eine Berufs- und Studienorientierung Qualität und die Qualifikation derer, die solche Lehrgän- für alle Schüler . Dabei hat allerdings die akademische ge anbieten, besser beurteilen kann . Wenn man sich aber Bildung in diesem Bereich einfach wegen des besseren einmal die Ausschreibungspraxis anschaut, stellt man Marketings einen Vorteil; denn bei 18 000 Studiengängen fest, dass es sich so verhält: Wenn jemand ein beson- wird nicht gefragt: „Was studiert denn deine Tochter oder ders günstiges Angebot macht, wird man dieses nehmen dein Sohn?“, sondern da sagt man: „Die oder der macht müssen . Deswegen habe ich gestern auch in meinem Ge- einen Bachelor “. Das ist natürlich eine tolle Sache, aber spräch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische darunter kann sich überhaupt niemand etwas vorstellen . Jugendsozialarbeit – sie hat im Verbund jahrzehntelang Außerdem hat man, wenn man mit einem Bachelor eine viel gute Arbeit gemacht – gesagt: Wir sollten vor allem Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17093

Dr. Thomas Feist (A) gemeinsam Verbünde mit den Unternehmen vor Ort – das an der Befreiung Europas vom Joch des Hakenkreuzes (C) heißt auch mit den Kammern vor Ort – schaffen; denn je geleistet haben . praxisnäher solch eine Ausbildung für diejenigen von- stattengeht, die eine zweite oder dritte Chance brauchen, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . umso besser ist das für die jungen Menschen in unserem Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Land und damit auch für die Fachkräfte . GRÜNEN]) Der Krieg gegen die Sowjetunion war halt nicht ir- Vielen Dank . gendein Krieg, sondern es war ein Krieg, der alle bis da- hin von der Menschheit entwickelten Rechts- und Zivi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lisationsregeln außer Kraft setzte . Jan Philipp Reemtsma ordneten der SPD) sagte zur Eröffnung der ersten Wehrmachtsausstellung 1995 in München – ich darf ihn zitieren –:

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Der Krieg der deutschen Wehrmacht im – pauschal Ganz herzlichen Dank .– Damit schließe ich die De- gesprochen – „Osten“ ist kein Krieg einer Armee batte über diesen Tagesordnungspunkt, und wir kommen gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8614 mit dem Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert Titel „Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zukunfts- und versklavt werden sollte . Kriegsverbrechen wa- chancen der deutschen Wirtschaft sichern“ . Wer stimmt ren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen, für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Ko- dieses Krieges selbst . Der Terminus „Kriegsver- alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen brechen“ ist aus einer Ordnung entliehen, die von worden . Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als dieser Krieg begann . Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt, zu TOP 11: Heute geht es nun darum, endlich einer der größten Opfergruppen Nazideutschlands würdig zu gedenken . Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee sind damals Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weite- in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten . Von diesen rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 5,7 Millionen starben 3,3 Millionen an Hunger, Kälte, Krankheiten und massenhaften Hinrichtungen . Das ist Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefan- (B) übersetzt eine Sterblichkeitsquote von 60 Prozent . Im (D) genen als NS-Opfer Vergleich – um ein wenig einzuordnen, worum es hier geht –: Die Sterblichkeitsquote bei anderen alliierten Drucksache 18/8422 Kriegsgefangenen lag bei 3,5 Prozent . Ich denke, das Überweisungsvorschlag: macht die Systematik des Mordens unter der Regie der Haushaltsausschuss (f) deutschen Wehrmacht deutlich . Deswegen, liebe Kolle- Auswärtiger Ausschuss ginnen und Kollegen, hat Bundespräsident Gauck natür- Innenausschuss lich recht mit seiner Aufforderung an die Politik, endlich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Opfergruppe aus dem Erinnerungsschatten heraus- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu zuholen, wie er es treffend formuliert hat . keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen zügig auf ihre Plätze begeben würden, könnten wir auch mit der Man muss logischerweise darüber nachdenken, wa- Debatte beginnen . rum diese Opfergruppe so lange keinen adäquaten Wert in unserer Erinnerungskultur hatte . Ich will einige Stich- Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der worte nennen . Debatte hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das Wort . Das hatte natürlich etwas mit dem schier wahnwitzi- gen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun, (Beifall bei der LINKEN) in dessen Gesamtklima der Krieg gegen die Sowjetunion als fast legitim galt .

Jan Korte (DIE LINKE): Es hatte etwas mit der verheerenden Lüge von der sau- beren Wehrmacht zu tun, die noch bis Mitte der 90er-Jah- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! re die Debatte dominierte . Fast genau vor 75 Jahren begann der Angriffs- und Ver- nichtungskrieg Nazideutschlands gegen die damalige Zum Dritten hatte es natürlich etwas mit der „Unfähig- Sowjetunion . Die Folge waren 27 Millionen tote Sow- keit zu trauern“ zu tun, wie es Alexander und Margarete jetbürger . Heute, einige Tage vor diesem bewegenden Mitscherlich richtigerweise gesagt haben: Die Gesell- Jahrestag, gilt unser Dank selbstverständlich denjenigen schaft war geprägt vom Verschweigen, Verdrängen und Menschen in der Sowjetunion, die mit oder ohne Uni- davon, sich zu dem eigentlichen Opfer zu machen und form durchgehalten haben und den wesentlichen Anteil keinerlei Empathie mit den wirklichen Opfern zu haben . 17094 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Jan Korte (A) Natürlich hatte es etwas – das wollen wir bei so einem dass alle Fraktionen offen für die Schaffung solch eines (C) Thema auch nicht verschweigen – mit der Rückkehr der Gedenkortes gewesen sind . alten Eliten in Bundeswehr, Justiz, Wirtschaft und letzt- Langer Rede kurzer Sinn: Wann, wenn nicht im endlich Politik zu tun . 75 . Jahr des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjet- Ein weiterer Grund, warum diese Opfergruppe so union, wäre es an der Zeit, diese Leerstelle zu füllen? vergessen worden ist, hatte etwas mit der Politik der Ich lade Sie herzlich ein, dass wir gemeinsam, gegebe- ­Stalin’schen Sowjetunion zu tun; denn auch dort gab es nenfalls auch interfraktionell – unsere Fraktion ist dazu kein adäquates Gedenken an die Kriegsgefangenen . Sie bereit –, einen Antrag einbringen, der die politische Ges- galten bis in die 90er-Jahre als Verräter . Auch das ist ein te der Entschuldigung beinhaltet und mit dem wir ein Punkt, der erwähnt werden muss, wenn wir über dieses Mahnmal bzw . einen Erinnerungsort hier in Berlin auf Thema sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen . den Weg bringen . Es ist an der Zeit . Es leben nur noch ganz wenige . Deswegen müssen wir uns beeilen . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank . Mein Dank gilt heute natürlich auch den vielen Wis- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- senschaftlern, kritischen Journalisten und vor allem den neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vielen lokalen Geschichts- und Gedenkinitiativen, die immer wieder auf dieses Schicksal aufmerksam gemacht Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: haben . Deswegen war es eine gute, überfällige Entschei- Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Dr .André dung, dass der Haushaltsausschuss im Mai 2015 endlich, Berghegger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . zumindest symbolisch, 10 Millionen Euro zur Entschä- digung der noch wenigen überlebenden sowjetischen (Beifall bei der CDU/CSU) Kriegsgefangenen bereitgestellt hat . Dr. André Berghegger (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Ich freue mich ausdrücklich – wir haben das überprüft nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir bera- und entsprechende Auskunft erhalten –, dass bereits da- ten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke . Ich würde mit begonnen wurde, pauschal 2 500 Euro an diese Men- aus meiner Sicht gerne zwei Kernpunkte dieses Antra- schen – die sind Mitte 90 – auszuzahlen . Das ist richtig ges herausgreifen . Der erste Kernpunkt ist die Frage, ob und gut so, aber es ist zu spät . die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen als nationalsozialistisches Unrecht und die Betroffenen als (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NS-Opfer anerkannt werden können . Der zweite Kern- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) punkt ist der Wunsch, dass der Deutsche Bundestag, so wie es Herr Korte gerade gesagt hat, die Überlebenden Heute geht es aber um eine mindestens genauso wich- um Verzeihung bittet . Ich würde sagen: Gerade vor dem tige Frage, nämlich die, ob der Deutsche Bundestag ne- Hintergrund unserer Geschichte ist das ein Thema von ben der finanziellen Anerkennung des Leids dieser Opfer großer Tragweite und Bedeutung . Wir sollten damit an- in der Lage und willens ist, anlässlich des 75 . Jahrestages gemessen und sensibel umgehen, ohne zu polarisieren . des Überfalls auf die Sowjetunion endlich ein politisches Ich glaube, das werden wir auch hinbekommen . Zeichen zu senden . Deswegen formulieren wir in unse- rem Antrag: Allein in der laufenden Legislaturperiode haben wir uns mit dem Thema „Würdigung des Schicksals sowje- Der Deutsche Bundestag bittet die Überlebenden tischer Kriegsgefangener in der NS-Zeit“ mehrfach be- um Verzeihung für das, was ihnen durch das NS-Re- schäftigt . Dieses Thema war Gegenstand von Beratungen gime angetan wurde, und dafür, dass Deutschland und Debatten im Plenum und im Ausschuss . Zur Chro- so lange brauchte, dieses Unrecht beim Namen zu nologie noch einmal einige Stichworte: Ende 2014 gab nennen . es hierzu Anträge der Linken und der Grünen . Wir haben Darum geht es heute . Ich würde mich freuen, wenn wir über beide Anträge verbunden im Frühjahr 2015 hier im dies konsensual und interfraktionell hier so beschließen Plenum debattiert . Nach der Überweisung in den Haus- könnten, um dieses wichtige Zeichen auszusenden, liebe haltsausschuss haben wir im Mai 2015 eine öffentliche Kolleginnen und Kollegen . Anhörung durchgeführt und viele der dort gestellten Fra- gen intensiv erörtert . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Insbesondere spielte die Fragestellung eine Rolle: Wurden sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zu Neben dieser politischen Geste sollte es natürlich auch anderen Betroffenen, zu anderen Personengruppen au- darum gehen, dass wir uns aus der Mitte des Bundesta- ßerordentlich menschenunwürdig und unbarmherzig be- ges daranmachen, endlich ein adäquates Mahnmal oder handelt? Nachdem diese Frage bejaht wurde, haben wir einen Gedenkort, wie man heute sagt, in der Mitte Ber- auf Initiative der Koalition im Nachtragshaushalt 2015 lins für diese riesige Opfergruppe zu schaffen . Ich danke einen Beschluss gefasst . Wir haben unter der Titelgruppe insbesondere der Initiative „Gedenkort für die Opfer der „Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen“ die NS‑Lebensraumpolitik“, die ja bereits mit allen Frakti- erwähnten 10 Millionen Euro als symbolische Anerken- onen Gespräche geführt hat . Mir wurde heute berichtet, nung in Würdigung des Schicksals als ehemalige sowje- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17095

Dr. André Berghegger (A) tische Kriegsgefangene bereitgestellt . Dann hat das Bun- führt hat . Für diese Situation gilt das allgemeine Kriegs- (C) desfinanzministerium hierzu Richtlinien ausgearbeitet, folgenrecht . der Haushaltsausschuss hat die Mittel freigegeben . Mit der Durchführung der Aufgabe der Auszahlung wurde (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermö- GRÜNEN]: Diese Unterscheidung zwischen gensfragen, das BADV, beauftragt . Im Kern geht es da- AKG und BEG ist historisch noch nie gelun- rum, dass auf Antrag hin 2 500 Euro pro Fall ausgezahlt gen!) werden . Die Anträge können bis Ende September des Deshalb ist die entsprechende Darstellung in der Titel- kommenden Jahres gestellt werden . gruppe „Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfol- Um den vorhin angesprochenen angemessenen und gen“ im Nachtragshaushalt nachzuvollziehen . Es fällt würdigen Umgang darzustellen, wurde vieles Weitere eben nicht in den Bereich NS-Unrecht . initiiert, um pragmatisch und unbürokratisch Wege auf- Der zweite Kernpunkt ist der Wunsch, dass der Deut- zuzeigen . Formulare und Unterlagen wurden online ge- sche Bundestag die Überlebenden um Verzeihung bitten stellt . Die Verbreitung der Informationen über Massen- möge . Aus meiner Sicht bedeutet „jemanden um Verzei- medien wurde angestrebt . Es gab Hinweise im In- und hung bitten“, dass man jemanden von etwas freispricht, Ausland auf dieses Thema, auch über die deutschen Bot- jemandem vergibt . Man kann auch synonym sagen: sich schaften und andere Netzwerke . Die Dokumente wurden entschuldigen . Gemeinsam ist diesen Begriffen jedoch, mehrsprachig erstellt . Zusammenfassend wurde viel un- dass auf einen persönlichen Schuldvorwurf verzichtet ternommen, um die Informationen wirksam an die Be- werden soll . Vergeben, verzeihen, entschuldigen kann troffenen herausgeben zu können . man aber nur den Tätern bzw . die Täter, nicht aber die Aktuell liegen rund 1 200 Anträge auf Auszahlung die- Taten . Es trifft die Mitglieder des Parlaments und den ser Mittel vor, aus 16 verschiedenen Ländern . 50 Prozent Deutschen Bundestag kein persönlicher Schuldvorwurf . der Anträge kommen aus Russland, und in der Reihen- Wir haben aber eine große moralische und ethische Ver- folge der Anzahl der Anträge folgen die Staaten Ukraine, antwortung . Wir müssen dafür sorgen, dass so grausames Armenien, Belarus und Georgien . Angesichts der damals Unrecht nie wieder passieren kann . Aber die Unterschei- angenommenen noch rund 4 000 lebenden Betroffenen dung zwischen Schuld und Verantwortung ist aus meiner halte ich die Zahl der eingegangenen Anträge für beacht- Sicht sehr wichtig . Deswegen könnte ich nachvollziehen, lich . Ungefähr ein Drittel der eingegangenen Anträge wenn der Deutsche Bundestag diesem Antrag nicht statt- wurde bearbeitet, und die Mittel sind ausgezahlt worden . geben würde . Ich denke, das ist schon eine intensive Abarbeitung . Ich Ich möchte noch einige Anmerkungen in moralischer, (B) hoffe, dass noch viele Anträge folgen werden . ethischer und politischer Hinsicht machen . Wir werden (D) Der vorliegende Antrag der Linken ist aus meiner natürlich nie vergessen oder nachsichtig sein, also die Sicht allerdings so formuliert, dass die Grenzen zwischen Verantwortung relativieren . Wir werden nie dieses Un- moralischen, historischen und juristischen Aussagen ver- recht akzeptieren oder billigen . Wir werden dieses Un- schwinden . Ob das bewusst oder unbewusst geschehen recht nie leugnen oder gar rechtfertigen . Wir müssen und ist, sei dahingestellt; aber ich glaube, dass diese Aussa- werden dauerhaft eine angemessene Erinnerungskultur gen sauber getrennt werden sollten . pflegen. Ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag mit dem Zum ersten Kernpunkt dieses Antrages, zur Frage der Beschluss, einen symbolischen Anerkennungsbetrag an Anerkennung der Behandlung der sowjetischen Kriegs- sowjetische Kriegsgefangene auszuzahlen, den wir im gefangenen als nationalsozialistisches Unrecht bzw . die Haushaltsausschuss vorbereitet haben, einen wichtigen Anerkennung der Betroffenen als NS-Opfer: Nach stän- Schritt gemacht haben und ein deutliches Zeichen im diger Rechtsprechung in diesem Land werden Angehöri- Lichte unserer Verantwortung gesetzt haben . Der Voll- ge der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten ständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle noch er- Staaten und damit insbesondere auch Kriegsgefangene wähnen, dass wir, im Haushaltsjahr 2016 startend, einen nicht als Verfolgte im Sinne der Entschädigungsgesetze weiteren symbolischen Anerkennungsbetrag bewilligt angesehen . Damit sind Kriegsopfer nicht Opfer national- haben . Es werden 50 Millionen Euro symbolische An- sozialistischen Unrechts im Sinne der Entschädigungs- erkennung für ehemalige deutsche zivile Zwangsarbei- gesetze – mit den entsprechenden rechtlichen Folgen . So ter bewilligt . Auch das ist in diesem Zusammenhang ein ist es eben auch hier: Im Sinne der Wiedergutmachungs- wichtiges Signal . gesetze sind sowjetische Kriegsgefangene nicht NS-Op- fer und ihre Behandlung nicht nationalsozialistisches In diesem Sinne schließe ich mit folgendem Gedan- Unrecht. Ich denke, es ist wichtig, die Begrifflichkeiten ken: Wo es keine Erinnerung gibt, gewinnt das Boshafte, auseinanderzuhalten, und das ist in diesem Antrag nicht das schreckliche Unrecht die Oberhand . Aus dieser not- deutlich herausgearbeitet worden . Wir müssen die Be- wendigen Erinnerung heraus wächst unsere Verantwor- grifflichkeiten unterscheiden. tung, dafür zu sorgen, dass derartiges Unrecht nie wieder geschehen kann . Die unstreitig grausame Behandlung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen stellt rechtlich gesehen Vielen Dank fürs freundliche Zuhören . sonstiges Staatsunrecht dar, das zur Verletzung des Le- bens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 17096 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Unrecht . Das hat der Deutsche Bundestag in mehreren (C) Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Volker Resolutionen eindeutig festgestellt . Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Trotzdem bekommen die Betroffenen Leistungen aus dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen der fal- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will schen Entscheidung des historischen Gesetzgebers . ausdrücklich würdigen, dass wir uns im Haushaltsaus- schuss zusammengefunden haben, um gemeinsam eine Man sollte an falschen Entscheidungen nicht fest- Lösung für die Entschädigung der sowjetischen Kriegs- halten und versuchen, ein System darin zu erkennen, gefangenen hinzubekommen . Das ist ein wichtiger und sondern man sollte den Mut haben, bei der historischen nicht gering zu schätzender Schritt der moralischen An- Würdigung die historische Wahrheit zugrunde zu legen, erkennung des Unrechts, das von Deutschen gegenüber und die historische Wahrheit ist – das haben wir uns in sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurde . Bitter der Anhörung, die wir im Haushaltsausschuss hatten, von bleibt, dass es Jahrzehnte zu spät kam und viele der Be- den Fachleuten, von den Historikern sagen lassen –: Der troffenen das nicht mehr erlebt haben . Mord und das Verhungernlassen von 3 Millionen sow- jetischen Kriegsgefangenen in Russenlagern hatte nichts Ich finde, wir als Bundestag sollten zu diesem The- mit Staatsunrecht und mit überbordender Gewalt im Rah- ma nicht schweigen; denn: „Nur durch die Erinnerung an men von Kriegshandlungen zu tun, sondern es war der ein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich die- erklärte Wille des nationalsozialistischen Regimes, auf- ses nicht wiederholt, in welcher Form und auf welchem grund seiner Rasseideologie die Völker der Sowjetuni- Erdteil auch immer .“ „Der Deutsche Bundestag darf dazu on zu dezimieren . Dazu gehörte das kriegssinnwidrige nicht schweigen .“ Aushungernlassen der Kriegsgefangenen in den Lagern, die eigentlich dafür bestimmt waren, in der deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsindustrie die deutschen Soldaten zu ersetzen . und bei der LINKEN) Aber man hat sie lieber sterben lassen, als ihre Arbeits- Die Ereignisse mögen lange zurückliegen . Die kraft auszubeuten, weil man der Ansicht war, dass die Wunden Völker der Sowjetunion rassisch minderwertig sind . Das war nationalsozialistische Ideologie, und das war natio- – der Opfer und – nalsozialistisches Unrecht . Wir sollten die Kraft haben, das auch zu sagen . (B) bei den Nachfahren der Opfer sind aber geblieben, Daraus folgt entschädigungsrechtlich überhaupt (D) und daher ist es an der Zeit, dass auch das deutsche nichts . Das Bundesentschädigungsgesetz hat sein Parlament dazu klar Stellung nimmt . Schlussgesetz 1969 gehabt . Seitdem sind keine Neuan- Das sind Worte des Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder träge mehr möglich . Es geht um die historische Wahrhaf- aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bedeu- tigkeit, um nicht mehr und nicht weniger . tenden Entscheidung des heutigen Tages: Wir haben den Ich weiß, dass die Koalition am Ende keinem Antrag Völkermord an den Armeniern anerkannt . Wir sagen zu der Linken zustimmen wird, schon aus Prinzip nicht . Wir Recht dem türkischen Volk, dass die Grundlage für Ver- haben einen Antrag eingebracht . Er liegt im Haushalts- söhnung und die Grundlage für eine gemeinsame gute ausschuss, und er ist noch nicht beschieden . Er ist be- Zukunft unter den Völkern die Anerkennung der histo- wusst noch nicht beschieden, weil wir mit Ihnen zusam- rischen Wahrheit ist . Das, was wir gegenüber der Türkei menkommen wollen . Lassen Sie uns mit allen Fraktionen richtigerweise sagen, das sollten wir auch uns selbst bei einen gemeinsamen Text finden, den wir fraktionsüber- der Aufarbeitung unserer Geschichte in diesem Fall zu greifend hier im Hohen Hause tragen . Herzen nehmen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Lassen Sie uns die Rede des Bundespräsidenten Gauck vom 8 . Mai letzten Jahres zugrunde legen, der dafür Wenn Sie, Herr Berghegger, darauf rekurrieren, es würdige Worte gefunden hat, und lassen Sie uns mit den gebe im Entschädigungsrecht eine Unterscheidung zwi- klaren Worten schließen: Die Verbrechen, die an den so- schen dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dem wjetischen Kriegsgefangenen begangen wurden, waren Bundesentschädigungsgesetz, dann will ich Ihnen sagen, nationalsozialistisches Unrecht . – Punkt . Dann ist Frie- weil ich dieses Thema jetzt schon mehr als 20 Jahre im den in dieser Frage . Parlament betreue und vorher auch daran gearbeitet habe: Wir haben uns in den 80er- und 90er-Jahren entschieden, Ich finde, gerade angesichts der schwierigen außenpo- die historisch falsche Entscheidung nicht wieder aufzu- litischen Situation, die wir mit der Ukraine und Russland machen und mit den zu diesen beiden Gesetzen einge- haben, wäre es ein gutes Signal der Versöhnung, dass richteten Härtefonds weiter zu verfahren . Aber selbst- wir zu unserer historischen Verantwortung stehen und verständlich war die Verfolgung der Homosexuellen, der trotz aller Differenzen mit der russischen Staatsführung Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten und Freunde des russischen, des ukrainischen, des weißrus- der Wehrmachtsdeserteure auch nationalsozialistisches sischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17097

Volker Beck (Köln) (A) Sowjetunion sind und hier keine Abstriche machen, auch wurde unsere Absicht von den Oppositionsfraktionen in (C) wenn wir politische Auseinandersetzungen haben . Inso- zwei Anträgen mit unterschiedlichen Entschädigungs- fern könnte das außenpolitisch noch eine gute Geste der summen erneut aufgegriffen . Wir haben darüber hier im Entspannung sein, bei der wir uns nichts vergeben, außer Februar 2015 diskutiert . Ich kann mich noch sehr lebhaft dass wir unsere Geschichte mit klarerem Blick und mit an die Debatte erinnern . größerer Wahrhaftigkeit betrachten . Nach dieser Debatte gelang es uns, mit der Union eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einigung herbeizuführen . 10 Millionen Euro wurden im und bei der LINKEN) Haushalt eingestellt, um den wenigen Überlebenden we- nigstens eine symbolische Anerkennung zukommen zu Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lassen . Sie beträgt 2 500 Euro . Auch das Antragsverfah- Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Matthias ren ist hinsichtlich der Fragen noch einmal überarbeitet Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort . worden, was ich sehr begrüße . (Beifall bei der SPD) Kollege Beck, ich kann Ihre Aussage, dass der Bun- destag geschwiegen hätte, nicht bestätigen. Ich finde sogar, er hat an dieser Stelle sehr intensiv und würdig Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): diskutiert und auch ebenso entschieden . Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie- (Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] be Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 70 Jahre nach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber er hat Ende des Zweiten Weltkriegs leben in Deutschland ganz noch nicht beschlossen!) überwiegend Menschen, die diesen Krieg nur aus Erzäh- Nun komme ich zum heutigen Antrag . Ich muss sagen, lungen kennen . Sie tragen an den in deutschem Namen dass mich der Antrag ein kleines bisschen ärgert; denn verübten Gräueln keine persönliche Schuld . Aber die Sie schieben jetzt einen Antrag hinterher, der hinsicht- Nachkriegsgenerationen, wir alle, haben die Pflicht, die lich seiner Sinnhaftigkeit zumindest Fragen aufwirft . Sie Erinnerung zu bewahren . Das ist unsere Verantwortung, fordern, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages und diese Forderung ist leider aktueller denn je . in einer Feststellung den sowjetischen Kriegsgefange- Hierzu leistet der Antrag der Linken einen Beitrag, nen, ihren Angehörigen und Nachkommen Achtung und wofür ich Ihnen danken möchte . Weiterhin möchte ich Mitgefühl bezeugen . Ja, aber das ist doch mit Blick auf mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns die Gele- die Geschichte selbstverständlich . Das wurde in jeder genheit geben, die Leistungen der Koalition und der sie Debatte hier im Bundestag hervorgehoben . Es gab in der Vergangenheit diverse Gründe, warum die Anträge dazu (B) tragenden Fraktionen zu würdigen . Bereits im letzten (D) Jahr hat die Koalition einen namhaften und zugleich abgelehnt wurden, auch unser eigener Antrag . Doch nie- doch nur symbolischen Betrag für die ehemaligen sow- mals war mangelnde Achtung oder mangelndes Mitge- jetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung gestellt . Wir fühl der Grund . Es wäre ja geradezu unmenschlich, das taten dies nicht mit stolzgeschwellter Brust, sondern mit zu verweigern . demütiger Geste und Dankbarkeit, dass wir das nun end- Dann fordern Sie, dass es der Deutsche Bundestag in lich auf den Weg bringen konnten . Anerkennung des Unrechts begrüßt, dass ein finanzieller Die Linke will im Vorfeld des 75 .Jahrestages des Anerkennungsbetrag aus dem Bundeshaushalt bereitge- Überfalls auf die Sowjetunion am 22 .Juni 1941 durch stellt wurde . Dies hat der Deutsche Bundestag bereits die deutsche Wehrmacht erneut auf die Opfergruppe der dadurch getan, dass er die Bereitstellung der Mittel be- sowjetischen Kriegsgefangenen hinweisen . Ja, dieser schlossen hat – im Haushaltsausschuss und im Plenum, historische Tag gibt uns natürlich allen Anlass, der vielen und zwar im Mai 2015 . Zuvor hat der Haushaltsaus- Opfer, die dieser Angriffskrieg gefordert hat, zu geden- schuss eine Anhörung dazu durchgeführt, die letztendlich ken . Dieser Krieg hat 60 bis 70 Millionen Menschen das mit dazu geführt hat, dass wir diesen Beschluss fassen Leben gekostet, und noch viel mehr haben gelitten . konnten . Ja, die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören dazu . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Rund 5,7 Millionen waren es, die unter unmenschlichen Bedingungen interniert wurden und Zwangsarbeit leis- Herr Kollege Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage ten mussten . An die 3 Millionen von ihnen – die Zah- von Herrn Korte zu? len gehen bei Historikern etwas auseinander – wurden direkt oder indirekt ermordet durch Hunger, Krankheit, Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Erschöpfung oder auch durch direkte Gewalt und Peini- Aber gerne . gung durch die Nationalsozialisten . Ihr Leid und ihr Op- fer sind unbestritten . Jan Korte (DIE LINKE): 2013, am Ende der letzten Legislaturperiode, gab es Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen .– Sie einen gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/ haben eben gesagt, dass das eine Selbstverständlich- Die Grünen, der eine Entschädigung für diese Opfer- keit sei . Wenn wir uns die Geschichte der Bundesrepu- gruppe forderte . Dieser wurde von den damaligen Ko- blik anschauen, stellen wir fest, dass zum Beispiel das alitionsfraktionen [CDU/CSU] und FDP abgelehnt . Nur Gedenken an die Schoah in den 50er- und 60er-Jahren ein Jahr später, also schon in dieser Legislaturperiode, mitnichten eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, son- 17098 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Jan Korte (A) dern das musste erkämpft werden, übrigens insbesondere In Berlin gibt es zahlreiche Orte, wo Zivilisten und (C) von denjenigen, die selber Opfer waren . Denken Sie an Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten musste . Einer die Rehabilitierung der Deserteure, die erst im Jahr 2002 dieser Orte befindet sich in meinem Wahlkreis. Das Do- erfolgte – das war eben keine Selbstverständlichkeit . kumentationszentrum NS-Zwangsarbeit erinnert am au- Denken wir an die Rehabilitierung der sogenannten thentischen Ort in Berlin-Schöneweide an die Geschich- Kriegsverräter im Jahr 2009 – das war ebenfalls keine te und das Leid der vielen Zwangsarbeiterinnen und Selbstverständlichkeit . Ich würde gerne Ihre Einschät- Zwangsarbeiter . Das ist so eine Stätte, wo mit großem zung dazu hören . persönlichem Einsatz Erinnerungskultur gepflegt wird. Im letzten Haushalt ist es gelungen, diesen Lern-, Erin- Im Rahmen der Erinnerungskultur war die Erinnerung nerungs- und Begegnungsort mit Bundesmitteln stärker an die Opfer des NS‑Regimes und der damit verbunde- zu fördern, worüber ich mich sehr freue . Ich kann Ih- ne Blick auf die Täter eben keine Selbstverständlichkeit, nen allen einen Besuch des Dokumentationszentrums in sondern das musste bitter erkämpft werden, übrigens ins- Schöneweide mit Ihren Besuchergruppen nur empfehlen . besondere auch von Sozialdemokraten wie Fritz Bauer, Es ist nicht weit vom Bundestag entfernt . Willy Brandt und anderen . Im Falle der sowjetischen Kriegsgefangenen ist das historisch erklärbar, aber den- Für uns ist es wichtig, dass wir die Erinnerung an die noch inakzeptabel . Deswegen kann man nicht von einer Verbrechen und an die Opfer des Nationalsozialismus Selbstverständlichkeit reden . wachhalten . Das schließt die sowjetischen Kriegsgefan- genen ausdrücklich mit ein . Ich bin vollkommen damit Mein zweiter Punkt . Wenn Sie mit Vertretern der Op- einverstanden, dass diese in Zukunft eine stärkere Be- ferverbände reden, zum Beispiel von Kontakte-Kontakty rücksichtigung finden sollen. e .V ,. dann haben Sie natürlich vernommen, dass diese Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro mit großer Ge- Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs- nugtuung und Freude begrüßt wurde . Alle haben aber ge- sen . Wir bleiben sicher gesprächsbereit . Wir werden uns sagt, dass ein politisches Zeichen für sie genauso wichtig keinesfalls eines überfraktionellen Antrags verschließen . ist, weil das eben keine Selbstverständlichkeit ist . Das Da müsste dann aber das eine oder andere in den Aus- müssten Sie als Sozialdemokrat doch nachvollziehen schüssen noch geklärt und besprochen werden . können . Vielen herzlichen Dank . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD)

Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (B) Herr Kollege Korte, historisch gesehen haben Sie völ- (D) Als nächste Rednerin spricht Barbara Woltmann für lig recht . Die Beispiele, die Sie angeführt haben, zeigen, die CDU/CSU-Fraktion . dass das über einen langen Zeitraum erkämpft werden musste . Die besondere Situation der sowjetischen Kriegs- (Beifall bei der CDU/CSU) gefangenen haben Sie in Ihrer Rede sehr gut beschrieben . Ich beziehe mich mit meinen Aussagen auf diese Le- Barbara Woltmann (CDU/CSU): gislaturperiode, in der wir schon mehrfach über dieses Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Thema gesprochen haben. Dabei ist es, wie ich finde, Herren! eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Leid der Opfer anerkennen . Wir als Bundestag haben das getan . Wir ha- Wir werden nicht durch die Erinnerung an unsere ben in würdigen Debatten darauf hingewiesen, und wir Vergangenheit weise, sondern durch die Verantwor- haben im Nachgang zu der Debatte, wie schon mehrfach tung für unsere Zukunft . erwähnt wurde, gemeinsam mit der Union dafür gesorgt, Das stellte schon der irische Schriftsteller, Politiker und dass die finanzielle Anerkennungsleistung geregelt wer- Pazifist George Bernard Shaw fest. den konnte . Die Vertreter des Vereins Kontakte-Kontakty haben unseren finanziellen Beitrag als unsere Anerken- Die unfassbaren Verbrechen Hitlers haben sich un- nung des Leids gewürdigt . löschbar in die deutsche Geschichte eingebrannt . Es ist und muss uns Erinnerung und Mahnung für die Zu- (Jan Korte [DIE LINKE]: Finanziell!) kunft sein . Viele Menschen leiden noch immer unter den – Finanziell, und damit natürlich auch darüber hinaus . schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges . Die- Das finde ich eindeutig. ser Krieg hat Elend und Verderben über Millionen von Menschen in Europa und darüber hinaus gebracht . (Beifall bei der SPD) Das Gedenken an Verdun, an den Ersten Weltkrieg Herr Kollege Korte, der Punkt, den ich inhaltlich 100 Jahre zurück, oder auch an den Völkermord an den mit Ihnen teilen kann, verfolgt das Ziel, den Opfern ein Armeniern – heute Morgen hier in diesem Hause bera- ehrendes Andenken zu bewahren und sie stärker in der ten – erinnert uns daran, mahnend wachsam zu sein ge- deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Ja, ich finde, gen jeden Aggressor gegen die Menschlichkeit . Die sow- das ist ein guter Ansatz . Hier gibt es viele Möglichkei- jetischen Truppen und die anderen Siegermächte waren ten, diese Leerstelle, wie sie die Wissenschaftlerin Beate es, die ein Deutschland befreiten, in dem Menschen plan- ­Fieseler nannte, zu schließen . mäßig und in nie dagewesenem Umfang vernichtet und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17099

Barbara Woltmann (A) Andersdenkende gnadenlos verfolgt wurden . Der Zweite damals, man wolle keine neuen Reparationszahlungen (C) Weltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet . zum Ausgleich von Kriegsschäden ehemaliger Kriegsge- fangener justiziabel machen . Die Stiftung wurde bereits Auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefange- 2000 gegründet, um vor allen Dingen Zahlungen an ehe- nen in der NS‑Zeit war ein menschenverachtendes Kapi- malige Zwangsarbeiter zu leisten . tel der Naziherrschaft . Das wissen wir alle und bestreitet niemand . Sämtliche Regierungen der Bundesrepublik Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland haben der moralischen und finanziellen Deutschland hat auf dem Gebiet der Entschädigung für Wiedergutmachung des vom NS-Regime verübten Un- NS‑Unrecht bis heute rund 70 Milliarden Euro erbracht . rechts stets eine besondere Priorität eingeräumt . Dieser Deutschland war dabei immer darauf bedacht, dass die Aufgabe stellt sie sich, wie wir sehen, noch heute . Entschädigungsleistungen nicht einseitig – das heißt nur Ihre Forderung, liebe Kollegen und Kolleginnen von für eine Gruppierung – gewährt werden, sondern dass den Linken, der Deutsche Bundestag solle die Überleben- alle Betroffenen und alle Verfolgten zumindest eine spä- den um Verzeihung bitten und ihren Angehörigen Ach- te Wiedergutmachung bekommen . Allerdings muss auch tung und Mitgefühl bezeugen, finde ich allerdings – wie ich sagen: Mit Geld allein kann man das, was dort pas- schon teilweise meine Vorredner – sehr missverständlich . siert ist, nie wiedergutmachen . Das klingt nämlich so, als wenn Sie der deutschen Be- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE völkerung damit jedwedes Mitgefühl absprechen – in der GRÜNEN]: Deshalb sollten wir eine Resolu- Vergangenheit und in der Gegenwart . Das können Sie tion verabschieden!) nicht wirklich ernsthaft meinen . Da stehen wir zu unserer historischen Verantwortung . Was hat Sie im Grunde dazu bewogen, nach der Dis- kussion um die Anerkennungsleistung an ehemalige Festzuhalten bleibt: Krieg ist immer eine furchtbare sowjetische Kriegsgefangene im Jahre 2015 – meine Geißel für alle davon Betroffenen, insbesondere dann, Vorredner haben schon darauf hingewiesen – und den da- wenn man es mit solch menschenverachtenden Regimen raus erfolgten Regelungen jetzt wieder diese Diskussion wie dem Naziregime zu tun hat . Wir sollten und müssen auf die Tagesordnung zu heben und Ihren Antrag vorzu- uns daher – auch im Interesse unserer Kinder und der legen? nachfolgenden Generationen – immer unserer Geschich- (Zuruf des Abg . Jan Korte [DIE LINKE]) te bewusst sein, damit ein solches Verbrechen niemals wieder geschieht . Aber man sollte niemandem, der den Mir erschließt sich das nicht wirklich . Krieg nicht erlebt hat, Schuldgefühle einreden . Die meis- ten von uns sind nach Kriegsende geboren . (B) Letztes Jahr ist auf Antrag der Grünen sowie der (D) Linken über eine finanzielle Anerkennung von NS-Un- Ich möchte ganz ausdrücklich betonen: Wir haben recht für sowjetische Kriegsgefangene im Plenum ein- die Schuld unserer Vorfahren von Beginn an auf unsere gehend diskutiert und eine entsprechende Vorlage an Schultern genommen und die Verantwortung übernom- den Haushaltsausschuss überwiesen worden . Nach einer men . Wenn wir es aber nach über 70 Jahren nicht lang- Sachverständigenanhörung hat der Haushaltsausschuss sam schaffen, uns von dem Gedanken zu emanzipieren, im Mai 2015 einen Beschluss zum Nachtragshaushalt dass das alles immer noch nicht reicht und wir nicht ge- gefasst und einen symbolischen finanziellen Anerken- nug tun, habe ich die Sorge, dass sich dieses Pflichtgefühl nungsbetrag von 10 Millionen Euro bereitgestellt; denn irgendwann ins Gegenteil verkehren wird . das Bundesentschädigungsgesetz greift für Kriegsgefan- gene nicht . Wir sehen uns heute von kriegerischen Auseinander- setzungen umgeben, die entsetzliche Gräueltaten, die wir (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE in unserem friedlich vereinten Europa seit über 70 Jahren GRÜNEN]: Es greift überhaupt nicht mehr durch unsere gemeinsame Politik erfolgreich abgewen- für Neuanträge!) det haben, zutage bringen . Der Bundestag hat den Nachtragshaushalt dann auch beschlossen . Das heißt, das Leid dieser Menschen ist – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auch darüber ist hier damals diskutiert worden – durch diesen Betrag zumindest symbolisch anerkannt worden . Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Beck zu? Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene erhalten demnach eine Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro . Wir gehen von bis zu 4 000 noch lebenden Berechtigten Barbara Woltmann (CDU/CSU): aus . Bisher sind 1 233 Anträge eingegangen . In 391 Fäl- Diesmal nicht, nein .– Ich trete dafür ein, dass wir un- len wurden Leistungen ausgezahlt, etwas mehr sind er- seren Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten, ledigt, und nicht alle konnten anerkannt werden . Diese ohne die Vergangenheit zu vergessen . Wir sollten dafür Regelung halte ich ausdrücklich für richtig; denn eine Sorge tragen, dass unser Friedensmodell für andere Regi- Entschädigung von Kriegsgefangenen durch die Stiftung onen in der Welt beispielhaft sein kann . Wir sollten daher „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist auch aus- voller Zuversicht in die Zukunft schauen . Es sind 70 Jah- geschlossen . Bei den internationalen Verhandlungen, die re Frieden, die uns das europäische Haus beschert hat . der Errichtung dieser Stiftung vorausgegangen sind, wur- Das müssen wir heute mehr denn je vermitteln . Da halte de dies einvernehmlich so geregelt . Die Begründung war ich Ihren Antrag für nicht zielführend . 17100 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Barbara Woltmann (A) Vielen Dank . nicht ein Mangel an Ressourcen zur Versorgung der (C) Kriegsgefangenen war, sondern der Wille, sie aus rasse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- biologischen Gründen umzubringen? Das Unrecht, das ordneten der SPD) auf rassebiologischen Gründen fußt, ist klassischerweise nationalsozialistisches Unrecht . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank . – Jetzt erhält der Kollege Beck das Wort Lassen Sie uns diese Frage noch einmal ohne Schärfe für eine Kurzintervention . und jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen bespre- chen, damit wir hier als Hohes Haus gemeinsam zur his- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Betonung torischen Wahrheit finden. Ich bitte Sie: Gewähren Sie liegt auf „kurz“!) uns diese Diskussion .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, Ihre Ausführungen haben mich an zwei Frau Woltmann, Sie haben das Wort zur Erwiderung . Punkten etwas erstaunt . Zu Beginn Ihrer Rede haben Sie gesagt, dass die Erinnerung nicht so wichtig ist wie das In-die-Zukunft-Schauen . Das hat mich insbesondere des- Barbara Woltmann (CDU/CSU): halb gewundert, weil ich vorhin in meiner Rede Ihren Kollege Beck, ich glaube, Sie wollen mich missver- Fraktionsvorsitzenden zitiert habe, der am 2 . Juni dieses stehen; denn ich weiß nicht, warum auch immer Sie die- Jahres in der FAZ geschrieben hat: sen Beitrag jetzt gemacht haben . Nur durch die Erinnerung an ein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wieder- Ich habe in keiner Weise gesagt, dass die Vergan- holt – in welcher Form und auf welchem Erdteil genheit und die Erinnerung an die Vergangenheit nicht auch immer . wichtig sind . Ganz im Gegenteil: Die Erinnerung an die Vergangenheit – ich habe das in meiner Rede mehrfach Was bei der Anerkennung des Völkermords an den gesagt – ist zwingend notwendig; denn sonst kann ein Armeniern richtig ist, kann bei der Anerkennung des Volk keine Zukunft haben . Das steht für mich überhaupt NS‑Unrechts gegenüber den sowjetischen Kriegsgefan- nicht zur Disposition . Ich muss die Vergangenheit ken- genen nicht falsch sein . nen, um dann auch in die Zukunft schauen zu können . Beides gehört zusammen . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg . Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE Ich habe an George Bernard Shaw erinnert, der ge- (B) (D) GRÜNEN]) sagt hat, dass wir uns auch der Verantwortung für unsere Aus der Erinnerung, aus der Vergangenheit, wächst die Zukunft stellen müssen . Das heißt, beides gehört zusam- Zukunft in Verantwortung, weil man daraus die Lehren men . zieht . In keiner Weise habe ich an irgendeiner Stelle das Noch mehr berührt und auch ein bisschen erschüttert Unrecht, das den russischen Soldaten damals widerfah- hat mich, dass Sie darüber gesprochen haben, dass im ren ist, kleinreden wollen . Ganz im Gegenteil: Es gab Krieg eben schlimme Dinge passieren . Die Kriegsgefan- ein großes Unrecht gegenüber dieser Gruppe . Insofern genen wurden aber in zwei Klassen eingeteilt . Für die verstehe ich Ihre jetzigen Bemerkungen nicht . Ich glau- westalliierten Kriegsgefangenen galt auch im National- be, dass ich in meiner Rede ausdrücklich angesprochen sozialismus die Genfer Konvention, und sie wurde bei habe, dass es ein furchtbares, schreckliches, menschen- allem Elend, das es auch dort gab, grundsätzlich auch verachtendes Regime war – nicht nur russischen Solda- respektiert und angewandt . Für die sowjetischen Kriegs- ten, sondern auch vielen anderen Gruppen gegenüber, gefangenen wurde sie dagegen durch Führerbefehl aus- wie zum Beispiel den Juden . drücklich außer Kraft gesetzt . Deshalb hat man sie sys- tematisch ausgehungert . Ich habe den Eindruck, dass Sie Ich habe mir heute Morgen auch noch einmal ganz das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl wir das in ausführlich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus zum Di- der Anhörung diskutiert haben . alog zwischen Deutschland und Polen angeschaut . Auch in Polen sind sehr viele Menschen durch das Unrechtsre- Ich möchte hier wirklich keine Schärfe in die Debatte gime umgekommen . bringen, sondern ich möchte im Sinne der Würdigung der Geschichte und auch mit Blick auf die Menschen, die un- Insofern sage ich: Die Vergangenheit gehört dazu, sere Debatte in den Gebieten der ehemaligen Sowjetuni- aber auch die Zukunft, und ich glaube, das ist in meiner on – in Russland, in der Ukraine, in Belarus – verfolgen, Rede mehr als deutlich geworden . einfach versuchen, zu erreichen, dass wir uns in einem Berichterstattergespräch noch einmal gemeinsam der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frage annehmen, wo die entscheidende Differenz war . Vielen Dank . – Jetzt hat Dennis Rohde von der War es nicht so, wie uns alle Historiker in der Anhö- SPD-Fraktion das Wort . rung gesagt haben, dass die entscheidende Differenz da- rin bestand, dass es nicht um ein Kriegsziel ging, und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass der Grund, weshalb man die Leute verhungern ließ, der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17101

(A) Dennis Rohde (SPD): Unsere Geschichte gibt uns eine Verantwortung für (C) Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen unser heutiges Handeln, eine Verantwortung, wie ich fin- und Kollegen! Am 3 . Mai dieses Jahres durfte ich, übri- de, im doppelten Sinne . Zum einen tragen wir als Mit- gens gemeinsam mit meiner Vorrednerin, in meiner Hei- glieder des Deutschen Bundestages, aber viel mehr noch mat in Oldenburg der Kranzniederlegung zum Gedenken als Mitglieder unserer Gesellschaft die Verantwortung an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar- dafür, dass sich das dunkelste Kapitel der europäischen beiter der NS-Zeit beiwohnen . Ich kann heute sagen, dass Geschichte niemals wiederholt . es ein Ereignis war, das mich sehr berührt hat, viel mehr, als ich es im Vorfeld erwartet hatte . Ich war zum ersten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mal an diesem Mahnmal in meiner Stadt . Das, was mich Wir wollen gute Nachbarn sein . Und wir werden uns je- so sehr berührt hat, waren die Schicksale, die auf einmal dem standhaft und entschieden entgegenstellen, der Frie- transparent wurden . Es waren die Namen und insbeson- den, Freiheit und Demokratie in diesem Land bedroht, dere die Geburts- und Todesdaten, die auf dem Mahnmal ganz egal, wie er sich nennt, ganz egal, wie er sich tarnt . vermerkt sind . Nie wieder Faschismus – dieser Aufgabe haben wir uns Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich tagtäglich zu stellen . nie Angst vor Krieg oder Angst um mein Leben haben musste . Ich weiß, dass das ein großes Glück ist . Viel (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- mehr noch: Ich darf heute mit 29 Jahren meine Heimat wie bei Abgeordneten der LINKEN und des im Deutschen Bundestag vertreten . Aber viele der Men- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schen, derer an diesem Mahnmal gedacht wird, hätten sich gefreut, das 29 .Lebensjahr überhaupt erreichen zu Zum anderen haben wir als Parlamentarier auch dürfen . Es sind die Schicksale wie das von Jakow Suscht- eine politische Verantwortung, die wir Sozialdemokra- schenko, der im Alter von 25 Jahren zu Tode kam, oder ten wahrgenommen haben und wahrnehmen . Es war das von Anna Bogutschenko, die lediglich 18 Jahre alt die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard werden durfte . Beide fanden ihre letzte Ruhestätte in ei- Schröder, die im Jahr 2000, 55 Jahre nach Ende des nem Massengrab in Oldenburg, mit ihnen übrigens auch Zweiten Weltkrieges, mit dem Gesetz zur Errichtung ei- 111 Kinder, zu großen Teilen Kleinkinder . ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ dafür gesorgt hat, dass NS-Zwangsarbeiter Entschädi- Noch bedrückender wird das Gefühl, wenn man sich gungszahlungen erhielten . mit dem Leid der – zum großen Teil sowjetischen – Kriegsgefangenen in der eigenen Heimat intensiver be- (Beifall des Abg . Gerold Reichenbach [SPD]) (B) schäftigt . So wurden diese damals zum Bau der Umge- (D) hungsstraße eingesetzt, die wir auch heute noch nutzen Hierfür stellten der Bund und die Wirtschaft damals im- und tagtäglich befahren . Nicht nur das: Die Gefangenen merhin 5,2 Milliarden Euro zur Verfügung . haben auch den Sand hierfür abtragen müssen . Aus die- sem Abtrag ist, wie vielerorts auch, ein Baggersee ent- Doch eine Lücke gab es auch in diesem Gesetz noch: standen . Er ist heute ein beliebter Rückzugsort in unserer Sowjetische Kriegsgefangene blieben unberücksichtigt; Stadt . denn Tatbestandsvoraussetzung war die Zwangsarbeit . In der letzten Legislaturperiode wurden die Anträge zur Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es uns Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten lei- wahrscheinlich nicht jeden Tag vor Augen und machen der noch regelmäßig abgelehnt . Aber im Nachtragshaus- es uns auch nicht jeden Tag aufs Neue bewusst: Aber die halt 2015 haben wir endlich das durchgesetzt, was wir Spuren der NS-Zeit, die Spuren des Leidens der Gefan- bereits zuvor gefordert hatten: Nunmehr 70 Jahre nach genen sind nach wie vor Bestandteil unseres täglichen Ende des Zweiten Weltkrieges haben auch die noch le- Lebens . Wir wissen, dass die sowjetischen Kriegsgefan- benden sowjetischen Kriegsgefangenen einen Entschä- genen hierbei in unserer Region wie in ganz Deutschland digungsanspruch bekommen, zwar spät, aber wir sind zu den größten Opfergruppen nationalsozialistischer Ver- unserer historischen Verantwortung in diesem Punkt ge- brechen im Zweiten Weltkrieg zählen . recht geworden . Bis 1945 starben in deutschem Gewahrsam mehr als (Beifall bei der SPD) 60 Prozent – die Zahl ist bereits gefallen – der insgesamt bis zu 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen . Die Egal ob im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter oder im Ursachen für den Tod so vieler Menschen waren nicht al- letzten Jahr für die sowjetischen Kriegsgefangenen, ich lein die allgemeinen Kriegsumstände oder die mangelnde sage ganz klar: Kein Geld der Welt kann die Taten und Versorgung . Tod und Vernichtung in den Lagern wurden Grausamkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsre- vom NS-Regime mehr als billigend in Kauf genommen . gimes ungeschehen machen . Die Entschädigungsleis- Sie waren Folge der nationalsozialistischen, der men- tungen sind Symbol unserer Verantwortung und unseres schenverachtenden Ideologie . Wir wissen auch: Diejeni- Willens, diejenigen niemals zu vergessen, denen in den gen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben, Zeiten des Zweiten Weltkrieges die Freiheit geraubt und wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion oftmals das Leben genommen wurde . Sie sind Symbol für unsere der Kollaboration verdächtigt . Nicht selten kamen sie in Verantwortung und unseren entschlossenen Willen, nicht Lagerhaft . Sie wurden gesellschaftlich diskriminiert und zu vergessen . Nie wieder Faschismus – das ist und bleibt staatlicherseits erst 1995 vollständig rehabilitiert . unsere wichtigste Aufgabe . 17102 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dennis Rohde (A) Vielen Dank . ter denen wir damit unseren Beitrag zur Stabilisierung (C) und zum Beenden des Mordens geleistet haben . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Auf dem Balkan haben die Bemühungen der interna- GRÜNEN und des Abg . Wolfgang Gehrcke tionalen Gemeinschaft Früchte getragen . Auch das letzte [DIE LINKE]) Jahr hat durchaus positive Entwicklungen im Kosovo so- wohl für die allgemeine Sicherheitslage als auch für den Weg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Konfliktparteien Serbien und Kosovo gezeigt. Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache . Ich finde es wichtig, nicht nur auf die Fortschritte die- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ses letzten Jahres zu blicken, sondern uns, wenn wir über Drucksache 18/8422 an die in der Tagesordnung aufge- das Kosovo reden, immer wieder vor Augen zu führen, führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- wie dramatisch die Lage damals war, als wir angefangen rung beim Haushaltsausschuss liegen soll . Sind Sie damit haben, uns dort zu engagieren . Natürlich sind 17 Jahre einverstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überwei- eine lange Zeit, aber wir sind aus einer ganz grausamen sung so beschlossen . Situation gekommen, von der unbestreitbar ist, dass er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- hebliche humanitäre Fortschritte für die Menschen er- ordnungspunkt 12 auf: zielt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen . Das hat etwas mit diesem Mandat zu tun . Beratung des Antrags der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der ordneten der SPD) internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo Im Jahr 2013 wurde ein Normalisierungsabkommen auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) vereinbart, das auf die Eingliederung der kosovo-serbi- des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen schen Parallelstrukturen abzielt und somit nicht nur eine vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech- einheitliche staatliche Struktur schafft, sondern auch zu nischen Abkommens zwischen der internati- einer Annäherung zwischen Kosovo-Serben und Koso- onalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den vo-Albanern beiträgt . Hier konnten bereits umfassende Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien Fortschritte erreicht werden, zum Beispiel im Polizei- (jetzt: Republik Serbien) und der Republik bereich oder bei der Einbindung der kosovarisch-serbi- Serbien vom 9. Juni 1999 schen Bevölkerungsteile in die politische Repräsentanz . (B) Drucksache 18/8623 Es konnten auch erste Annäherungen bei der Überfüh- (D) Überweisungsvorschlag: rung der Justiz- und Kommunalverwaltungsstrukturen in Auswärtiger Ausschuss (f) einheitliche kosovarische Strukturen erwirkt werden . Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Diese positiven Entwicklungen gilt es nun zu stärken Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und weiter zu begleiten, liebe Kolleginnen und Kollegen . Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung Die erreichten Fortschritte sind maßgeblich dem profes- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO sionellen Engagement aller beteiligten Kräfte und Ak- teure zuzuschreiben . Daher gilt ihnen und insbesondere Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für allen im Rahmen von KFOR agierenden Soldatinnen und die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu Soldaten an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank . keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr .Ralf GRÜNEN) Brauksiepe das Wort . Trotz der positiven Entwicklungen gibt es auch wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- terhin Herausforderungen und Mängel, deren Lösung wir ordneten der SPD) künftig verstärkt angehen müssen . Wir wissen auch alle, dass ein rein militärisches Begleiten nicht die Lösung ist . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl . Staatssekretär bei der Daher wird Deutschland auch weiterhin umfassend die Bundesministerin der Verteidigung: zivile Mission EULEX unterstützen, um die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit im Kosovo zu stärken . Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Die Bundeswehr leistet nicht nur Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben das im Kosovo, sondern in der Region insgesamt seit dem Auswärtige Amt, das Bundesministerium des Innern und Beginn der NATO-Mission KFOR im Jahr 1999 einen das Bundesministerium der Verteidigung zum vierten wichtigen Beitrag zu deren Stabilisierung . Wir haben Mal den Tag des Peacekeepers begangen. Ich finde, es ist unter dramatischen Umständen begonnen, um ein grau- eine sehr wichtige Einrichtung, dass die Ministerien, die sames Abschlachten und Morden dort in der Region zu den Einsatz von Polizeibeamtinnen und -beamten, von beenden, wie wir es in Europa seit Ende des Zweiten zivilen Helfern und auch von Soldatinnen und Soldaten Weltkrieges nicht mehr erlebt haben und uns auch nicht verantworten, gemeinsam den Einsatz dieser Menschen, vorstellen konnten . Es waren dramatische Umstände, un- dieser Peacekeeper, würdigen . Das war gestern, was das Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17103

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe (A) Kosovo angeht, geradezu symbolhaft . Es wurde ein Sol- Fortsetzung einer Lüge und westliche Doppelstandards (C) dat für seinen Einsatz bei KFOR geehrt, und es wurde produziert werden müssen . ein ziviler Peacekeeper für seinen Einsatz geehrt . Beides gehört eben zusammen, und wir tun gut daran, dieses En- Welches sind die wesentlichsten Lügen, die diesen gagement unserer Peacekeeper im Allgemeinen und auch Krieg begleitet haben? Einmal der angebliche Genozid, im Kosovo stärker zu würdigen, als das bisher der Fall der Völkermord, der gegen die Albaner stattfindet. Als war, liebe Kolleginnen und Kollegen . das nicht mehr beweisbar war, sprach man von einem drohenden Genozid . Spätestens seit heute Morgen sollten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir mit Blick auf die Armenien-Debatte eines begriffen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE haben: Dort, wo Völkermord stattfindet, muss er benannt GRÜNEN) werden und müssen Konsequenzen gezogen werden . Dort, wo er nicht stattfindet, darf er auch nicht herbeifa- Ein Ziel der KFOR-Mission konnte bereits durch den buliert werden, um politische Gegner zu dämonisieren . deutlich zu verzeichnenden Anstieg der Fähigkeiten der begleiteten lokalen Sicherheitskräfte umgesetzt werden . (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn Die kosovarische Polizei ist mittlerweile imstande, die [CDU/CSU]: Und dort, wo er droht, muss er Lage im Land zu kontrollieren . Nun gilt es, nach und verhindert werden!) nach alle Kompetenzen an solche lokalen Kräfte abzuge- Die tatsächliche Motivation war nämlich, letztendlich ben und KFOR als einen stillen Begleiter und Vermittler Rest-Jugoslawien komplett zu zerschlagen . Das hat man mehr und mehr in den Hintergrund treten zu lassen . bis heute geschafft . Der KFOR-Einsatz selbst basiert auf Der NATO-Rat hat Anfang Januar der Umsetzung ei- Lügen und Rechtsbrüchen – bis heute . nes Konzepts zur flexibleren Anpassung der Truppenstär- Die Lüge ist, KFOR sei eine neutrale Friedenstrup- ke in Abhängigkeit von der Sicherheitslage zugestimmt, pe . Tatsache ist doch, dass die NATO, die den Kern von und der NATO-Oberbefehlshaber hat im April die fort- KFOR ausmacht, Kriegspartei aufseiten der terroristi- schreitende Stabilisierung der Sicherheitslage bestätigt . schen UCK gegen Serbien war; sie war sozusagen die Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kol- Luftwaffe der Albaner . Über Nacht, vom 10 . auf den legen, ist es konsequent und gut vertretbar, die Man- 11 .Juni 1999, wurde dann die NATO-Kriegspartei zur datsobergrenze auch für uns von 1 850 auf 1 350 Sol- KFOR-Friedenstruppe . datinnen und Soldaten herabzusetzen . Dies erlaubt uns Eine weitere wesentliche Lüge: Wir, KFOR, stabi- weiterhin, alle übertragenen Aufgaben vollständig zu er- lisieren das Kosovo als ein multiethnisches Gebiet . So füllen, auf Lageänderungen – wenn nötig – angemessen wurde es auch in der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 zu reagieren und gleichzeitig den Handlungsspielraum (B) festgehalten: Aufrechterhaltung der Souveränität Serbi- (D) für lokale Sicherheitskräfte nach und nach zu erweitern . ens etc . Aber diese Resolution wurde von Anfang an von Das deutsche Engagement bei KFOR, liebe Kolle- den NATO-Staaten, die in KFOR organisiert waren, nicht ginnen und Kollegen, ist weiterhin der richtige Weg . eingehalten . Im Gegenteil: Die Resolution 1244 wurde Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung selektiv interpretiert und missbraucht . um Unterstützung für diesen Weg . Die Bekämpfung von Statt Sicherheit für die Menschen und eine multiethni- Korruption, organisierter Kriminalität und die Unterbin- sche Gesellschaft zu schaffen, flohen über 230 000 Men- dung des Zulaufs zu radikalen Kräften müssen Hand in schen oder wurden vertrieben, zumeist Serben und an- Hand gehen mit der Stärkung der Zivilgesellschaft und dere Nicht-Albaner . Bis heute konnten diese Menschen der Schaffung einer ökonomischen Perspektive . Dazu nicht zurückkehren, und das zumindest unter Duldung zählt unser Engagement bei KFOR als ein wichtiger Bei- der NATO . Statt Wahrung der Souveränität und territo- trag . Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, rialen Integrität Serbiens, die Sie nun für die Ukraine dieses reduzierte militärische Engagement um ein Jahr einfordern, hat die NATO die territoriale Abspaltung des zu verlängern . Kosovo im Jahre 2008 militärisch abgesichert . Hierzu Herzlichen Dank . zählen auch die Androhung und Anwendung militäri- scher Gewalt gegen die Serben, die den Verfassungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bruch der albanischen Minderheit und den Völkerrechts- bruch der NATO nicht akzeptieren wollen . Das heißt in Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ihrer Sprache etwa Aufrechterhaltung des sicheren und Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Herr Dr .Neu stabilen Umfeldes insbesondere im Norden, also dort, wo von der Linken das Wort . Serben noch konzentriert leben . (Beifall bei der LINKEN) Fazit: Jede Mandatsverlängerung setzt die Lügen fort . Jede Mandatsverlängerung dient einer fortgesetzten mi- litärischen Absicherung eines massiven Völkerrechts- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): bruchs. Aber bis heute ist nicht wirklich reflektiert wor- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen den, wen man unterstützt hat und noch immer unterstützt . und Herren! Im Februar 2001 hatte die ARD eine Do- Ich habe kürzlich einen Bericht gelesen, in dem es darum kumentation mit dem Titel veröffentlicht: Es begann mit geht, wen man unterstützt . Die Essenz des Berichts ist: einer Lüge – Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg. Ei- Man unterstützt ein Mafiagebilde. Der Westen und die gentlich hätte ein zweiter Teil mit dem Titel Kosovo – die Bundesregierung unterstützen seit 1989/99 militärisch, 17104 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Alexander S. Neu (A) finanziell und anderweitig ein Mafiagebilde. Der Steu- in Pristina über Monate die Frage war, wann die Oppo- (C) erzahler bezahlt das . Was war das für ein Bericht? Es sition den nächsten Tränengasangriff startet, dann ist war – dank WikiLeaks – ein Bericht des Bundesnach- das kaum als Indiz für einen schnellen demokratischen richtendienstes aus dem Jahre 2005 . Er ist heute genauso Reifeprozess zu werten, ebenso wenig übrigens wie die aktuell wie damals . Aber ähnlich wie bei dem kürzlich rechtsstaatlich fragwürdige Inhaftierung mehrerer Oppo- erschienenen Bericht über den Verteidigungsminister sitionspolitiker . von Saudi-Arabien wollen Sie das nicht wahrhaben . Sie halten weiterhin an den sogenannten Alliierten fest . Die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben sind seit der Un- Die meisten MdBs, die heute hier sitzen, waren abhängigkeitserklärung seltener geworden . Dennoch gab 1998/99 noch nicht Mitglied des Bundestages . Sie haben es auch 2015 über 250 gewalttätige Übergriffe, vor allem also nicht diesen Vorratsbeschluss zum Krieg im Okto- gegen Angehörige der serbischen Minderheit und serbi- ber 1998 mitgetragen . Deshalb: Machen Sie jetzt Schluss sche Rückkehrer . mit den Lügen, und beenden Sie KFOR . Machen Sie Schluss mit Doppelstandards . Sorgen Sie dafür, dass die Der „Islamische Staat“ hat seine Rekrutierungsbemü- völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo seitens hungen unter radikalisierten Muslimen im Kosovo deut- der Bundesregierung zurückgezogen wird . lich verstärkt . Sorgen bereiten nach wie vor die vielen ( [CDU/CSU]: Sicher nicht!) Spielarten der organisierten Kriminalität . Darüber hinaus drohen die innenpolitischen Konflikte in Mazedonien Sorgen Sie dafür, dass Deutschland wieder zum Völ- und Bosnien-Herzegowina die Region weiter zu desta- kerrecht zurückkehrt; denn nur dann haben wir auch die bilisieren . moralische Autorität, andere Staaten, die das Völkerrecht brechen, zu kritisieren . In der aufgepeitschten See politischer Auseinander- (Beifall bei der LINKEN) setzungen auf dem Westbalkan dient die KFOR-Missi- on als wichtiger Stabilisierungsanker, notfalls auch, um Lügen und Doppelstandards haben eines gemeinsam: die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der UNO und der kurze Beine . EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX militärisch zu Ich danke Ihnen . unterstützen . Deshalb möchte ich um Ihre Unterstützung für eine Verlängerung des Mandats werben . (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CSU/CSU: Die haben Sie auch!) Der vorliegende Antrag der Bundesregierung be- schränkt sich nicht auf die zeitliche Fortschreibung des (B) (D) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: bestehenden Mandats, er markiert vielmehr eine Zwi- Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Vöpel von schenetappe im Auslaufprozess der bisher längsten Aus- der SPD-Fraktion das Wort . landsmission der Bundeswehr . Es ist auch dem Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren deutlich ten der CDU/CSU – Ingo Gädechens [CDU/ verbessert hat . Aufgrund der Abnahme interethnischer CSU]: Der Kollege hat lange Beine!) Konflikte erscheint es deshalb vertretbar, den deutschen Beitrag zu KFOR im neuen Mandat kleiner anzusetzen . Dirk Vöpel (SPD): Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Proble- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen me des Kosovo als schwierig zu bezeichnen, wäre eine und Kollegen! Wenn der Bundestag dieser Mandatsver- Untertreibung . Korruption und Energienotstand – so längerung zustimmt, geht der Kosovo-Einsatz der Bun- heißen die beiden ökonomischen Vogelscheuchen, die deswehr bereits in das achtzehnte Jahr . Leider müssen wir auch heute, fast zwei Jahrzehnte nach der Beendi- ausländische Investoren nachhaltig abschrecken, obwohl gung des Kosovo-Krieges, nüchtern feststellen: Noch ist sie angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage im die Zeit für einen endgültigen Abzug der KFOR-Trup- Kosovo dringend gebraucht würden . Mit dem geringsten pen nicht reif . Eine direkte Einsatzunterstützung durch Pro-Kopf-Einkommen, der höchsten Armutsquote, einer ­NATO-Verbände wurde im derzeitigen Mandatszeitraum Gesamtarbeitslosigkeit zwischen 35 und 45 Prozent und nicht angefordert . Der Aufbau selbsttragender kosovari- einer der weltweit höchsten Quoten im Bereich der Ju- scher Sicherheitsstrukturen schreitet erkennbar gut vo­ gendarbeitslosigkeit ist das Kosovo das Armenhaus Eu- ran . Aber als alleinige Ordnungsmacht wären sie zurzeit ropas . noch überfordert . (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Daraus kön- Außerdem steht der für die zukünftige Entwicklung so nen Sie kein militärisches Mandat ableiten!) wichtige Normalisierungsprozess zwischen dem Kosovo und Serbien vor einer entscheidenden Phase . Die dies- Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt . Aber was ge- bezüglichen Verhandlungen sind mit ihren unvermeidli- schieht, wenn der letzte Hoffnungsfunken verglüht ist, chen Kompromissen und Zugeständnissen innenpolitisch haben wir in den ersten Monaten des letzten Jahres er- heftig umstritten und treffen auf den teilweise gewaltsa- lebt . Zehntausende überwiegend junge Leute kehrten ih- men Widerstand einer kleinen, aber aggressiven Opposi- rer Heimat den Rücken und eröffneten mit dieser ersten tion . Wenn das Spannendste in den Parlamentssitzungen großen Wanderungsbewegung in den Schengen-Raum Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17105

Dirk Vöpel (A) letztlich den Flüchtlingskorridor der Balkanroute . Viele Dabei müssen wir uns – ich bin dem Staatssekretär (C) von ihnen sind mittlerweile wieder zurückgekehrt, durchaus dankbar, dass er das angesprochen hat – immer wieder klarmachen: Das Militär, liebe Kolleginnen und ( [DIE LINKE]: Mit toller Kollegen, kann diesen Konflikt nicht lösen. Es kann aber Perspektive!) einen Rahmen bieten, in dem zivile Instrumente bzw . po- nach wie vor ohne ausreichende Erwerbs- und Lebens- litische Lösungen dabei helfen können, Entwicklungen perspektive im eigenen Land, dafür oft reicher nur an im Kosovo anzustoßen, welche die Probleme, die in die- Schleuserschulden und der frustrierenden Erfahrung des ser Debatte schon angesprochen worden sind, lösen oder Scheiterns . zumindest abmildern können . Deswegen, meine sehr ge- ehrten Damen und Herren, wird meine Fraktion auch in Vor diesem Hintergrund kann es, glaube ich, keinen die Beratungen über dieses Mandat mit der Einstellung passenderen Zeitpunkt und kein stärkeres Signal der hineingehen, es wohlwollend zu unterstützen . Hoffnung geben als den von der EU-Kommission am Wir müssen uns, wenn wir uns zivil und politisch en- 4 . Mai auf den Weg gebrachten Vorschlag der Visalibe- gagieren wollen, vor allem aber auch klarmachen: Eine ralisierung für Staatsangehörige des Kosovo . Der Vor- Lösung für den Konflikt im Kosovo wird es nur geben schlag der Kommission sieht vor, dass Kosovaren für können, wenn der Westbalkan insgesamt eine politische Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen endlich visumfrei in fast Perspektive erhält . alle EU-Mitgliedstaaten reisen können . Ich begrüße die- sen Schritt ganz ausdrücklich, nicht nur weil er eine von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Kosovaren seit Jahren zu Recht kritisierte Diskrimi- nierung im Vergleich zur Behandlung anderer Balkan- Es braucht ein außerordentliches Engagement dieser staaten beseitigt, sondern vor allem, weil er vielen Men- Bundesregierung vor dem Hintergrund dessen, dass es schen im Kosovo das oft beklagte Gefühl der Isolation in Mazedonien gerade eine Vertrauenskrise gibt, dass nehmen wird . in Bosnien-Herzegowina nationalistische Kräfte mit der Abspaltung der Republika Srpska liebäugeln und dass in Es gibt keine echte Freiheit ohne Reisefreiheit . Wir Montenegro die Zivilgesellschaft und die Presse unter er- in Deutschland haben damit unsere eigenen Erfahrun- heblichem Druck stehen . Wir brauchen zur Lösung die- gen gemacht . Jetzt liegt es an den Kosovaren, zügig die ser Probleme eine Lösung für den gesamten Westbalkan, letzten Hausaufgaben zu erledigen und vor allem den liebe Kolleginnen und Kollegen . Grenzvertrag mit Montenegro zu ratifizieren, damit Rat und Europäisches Parlament dem Vorschlag der Kom- Herr Kollege Vöpel, Sie haben es dankenswerterweise mission endgültig zustimmen können . Die Visaliberali- angesprochen: Es geht um den Weg in das Haus Euro- (B) sierung wird die Menschen im Kosovo näher an Europa pa und um ein näheres Heranrücken an Europa . Ich bin (D) heranrücken . Das ist ein kräftiger Hoffnungsfunken . Sie fest davon überzeugt – das gilt auch für meine Frakti- belegt, dass die europäische Perspektive real und kein on –, dass es für Serbien und das Kosovo am Ende des leeres Versprechen ist . Tages nur einen gemeinsamen Weg in das Haus Europa wird geben können . Es braucht eine Aussöhnung, und Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit . es braucht eine Verständigung zwischen beiden Staaten, wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht noch in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 17 Jahren hier stehen wollen, um über dieses Mandat zu beraten . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Tobias sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Lindner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . der SPD) 1999 hat die damalige Bundesregierung – auch das Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wurde schon erwähnt, und auch das sollten wir uns in der Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und jetzigen Debatte vergegenwärtigen – eine Mandatsober- Kollegen! Als dieses Hohe Haus zum ersten Mal ein grenze von 8 500 Soldatinnen und Soldaten beantragt . Mandat für KFOR erteilt hat – das war 1999 –, war ich – Seitdem hat die Präsenz des Militärs stetig abgenom- das ist mir vorhin erst wieder aufgefallen – 17 Jahre alt . men . Das ist ein guter und wichtiger Schritt . Deswegen Das ist normalerweise das Alter, in dem viele junge Men- begrüßen wir es auch, dass mit dem neuen Mandat die schen richtig politisch aktiv werden . Heute bin ich 34 . Mandatsobergrenze weiter gesenkt werden soll . Das ist ein Weg dahin, dass man dieses Mandat hoffentlich in (Dr .Alexander S . Neu [DIE LINKE]: Siehst wenigen Jahren wird beenden können, liebe Kolleginnen aber älter aus! – [CDU/CSU]: und Kollegen . Ich dachte älter!) Die 17 Jahre, die dieser Einsatz andauert, sollten uns Mich hat dieses Mandat also quasi über die Hälfte meines bei allem Streit darüber – der Kollege Neu hat es ja ge- Lebens hinweg begleitet. Es zeigt: Krisen und Konflikte rade vorgeführt –, ob Mandate sinnvoll oder weniger können plötzlich und für viele von uns unvorhergesehen sinnvoll sind bzw . ob wir dafür oder dagegen sein soll- kommen . Aber wenn sie einmal da sind, braucht es ei- ten, alle gemeinsam dazu mahnen oder motivieren, bei nen ziemlich langen Atem, um sie wirklich dauerhaft und Mandaten frühzeitig zu fragen, wie man da auch wieder nachhaltig zu lösen . So ist es auch bei diesem Mandat . herauskommt . Sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben, 17106 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Tobias Lindner (A) erreicht worden? Was läuft sinnvoll? Und wo gibt es Neuwahlen zu erringen . Diese scharfen innenpolitischen (C) Rückschläge? Auseinandersetzungen sind besorgniserregend . Wir sollten uns gemeinsam darüber im Klaren sein, Ich betone dies, um uns eine Wahrheit noch einmal vor was wir in den kommenden Monaten bzw . noch in dieser Augen zu führen: So viel wir auch im Kosovo erreicht Legislaturperiode in den Ausschussberatungen werden haben, noch immer ist der Staat, der mittlerweile von leisten müssen, damit es uns gelingen kann, die Mandats- 111 Ländern weltweit völkerrechtlich anerkannt wird, grenze weiter abzuschmelzen und KFOR vorerst auf eine ein fragiles Gebilde . Obwohl die kosovarische Polizei Rolle zu reduzieren, bei der sie quasi nur noch als letzte bei den Großdemonstrationen Anfang des Jahres keine Versicherung vor Ort steht, damit wir dann – hoffentlich Unterstützung benötigte – dies zeugt im Übrigen von in wenigen Jahren und nicht erst nach weiteren 17 Jah- der guten Ausbildung der Polizei und der kosovarischen ren – auch dieses Mandat beenden und damit in eine Zu- Sicherheitskräfte durch KFOR –, bleibt die internationa- kunft blicken können, in der das Kosovo insgesamt einen le Präsenz als Garant für eine Grundsicherheit notwen- Weg in das Haus Europa und in eine gute Zukunft finden dig . Auch wenn KFOR nicht eingreifen musste, wurde kann . doch alles für einen möglichen Einsatz des deutschen Sicherungszuges vorbereitet . Während Demonstranten Ich danke Ihnen . den Niedergang der Regierung skandierten, blieben die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Soldatinnen und Soldaten in Bereitschaft . So richtig die sowie des Abg . Peter Beyer [CDU/CSU]) Absenkung der Personalobergrenze ist, so wichtig bleibt die Möglichkeit, auf Krisensituationen zu reagieren . Um es nochmals mit den Worten von Oberst von Keyserlingk Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: zu sagen: Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Florian Hahn Gut, dass nichts passiert ist, und gut, dass wir hätten von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . eingreifen können . (Beifall bei der CDU/CSU) Trotz der zum Teil gewaltsamen innenpolitischen Auseinandersetzungen, die sich vor allem gegen den Florian Hahn (CDU/CSU): Status der serbischen Gemeinden im Kosovo richten, hat Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Normalisierungsprozess zwischen den beiden Akteu- Der KFOR-Einsatz im Kosovo steht beispielhaft für den ren, Pristina und Belgrad, einen großen Sprung gemacht . langen Atem, den man für eine erfolgreiche Stabilisie- Das im vergangenen August beschlossene Abkommen rungsmission benötigt . Er besteht seit 1999 und ist damit zwischen Ministerpräsident Aleksandar Vucic und dem (B) der längste und weiterhin zweitgrößte Auslandseinsatz kosovarischen Regierungschef Isa Mustafa wurde zu (D) der Bundeswehr . Wenn wir mittlerweile verstärkt auf Recht als historischer Meilenstein bezeichnet . Der vorge- andere Krisenregionen blicken, dann liegt das vor allem sehene Rückzug serbischer Institutionen aus dem Nord- daran, wie effektiv die bei KFOR eingesetzten Soldatin- kosovo könnte dazu dienen, die ethnischen Spannungen nen und Soldaten zur Normalisierung und Stabilität im im Norden langfristig zu mindern . Im Gegenzug sollten Kosovo beitragen . den serbischen Gemeinden weitgehende Selbstbestim- mungsrechte gewährt werden . Oberst von Keyserlingk, der 2004 das erste Mal Kom- mandeur des deutschen Einsatzkontingents im Kosovo Es ist jetzt wichtig, zu verhindern, dass die Annähe- war und am 26 . dieses Monats nach rund zwei Jahren rung Opfer politischer Instrumentalisierung wird . Die die Truppenfahne im Feldlager Prizren zum zweiten Mal Integration und der Schutz der serbischen Minderheit – wieder abgab, hat die Fortschritte in einem Interview rund 50 000 Serben leben noch im Norden Kosovos –, ganz plastisch beschrieben . Den Soldaten sei es anfangs die Toleranz und Aussöhnung innerhalb der Gemeinden nicht möglich gewesen, das Lager ohne Waffen zu ver- und der Schutz von Minderheiten bleiben wichtige Bau- lassen . Mittlerweile brauche man den Gefechtshelm und steine in diesem Prozess . Es gilt daher, Präsident Thaci die Weste nur noch bei sich in der Nähe zu haben; man und Ministerpräsident Vucic bei ihrer mutigen Stabilisie- müsse sie nicht mehr tragen .– Das Resümee des letzten rungspolitik zu unterstützen . Mandatszeitraums unterstreicht sein Urteil: Es war kein Für die Entwicklung des Kosovos bleibt der Eingreifen seitens KFOR notwendig . KFOR-Einsatz, flankiert durch unser entwicklungspo- litisches Engagement, weiterhin wichtig . Er schafft ein Auch die Zahlen spiegeln die positive Entwicklung wi- stabiles Umfeld, das für die Entwicklung des Landes und der . 1999 waren noch 50 000 KFOR-Soldaten im Land; den Weg in die Europäische Union notwendig ist . Unser heute sind es rund 5 000 . Am 20 .April bestätigte der Einsatz wird daher auch in Zukunft nicht zeitgebunden ­NATO-Oberbefehlshaber in Europa zudem die geplante sein, sondern immer ergebnisorientiert die Kräftekontin- Reduzierung der Einsatzkompagnien von 14 auf 12 . Noch gente an die Lage im Land anpassen . Anfang des Jahres allerdings spielten sich im Kosovo Szenen ab, die für alles andere als für eine Stabilisierung Noch eine Bemerkung zum Kollegen Neu: Es ist rich- sprachen: Tränengasschwaden im Parlament, Abgeord- tig, man muss Völkermord Völkermord nennen, wenn er nete mit Gasmasken, Angriffe militanter Demonstranten Völkermord ist . Genauso richtig ist es aber auch, drohen- im Zentrum der Hauptstadt, Polizisten, die Abgeordne- den Völkermord zu verhindern . Mit Blick auf die Diskus- te der Opposition gewaltsam aus dem Saal entfernten . sion, die wir heute in diesem Plenum geführt haben, mit Die Opposition versuchte, durch gewaltsame Störungen Blick auf die Rolle des Kaiserreichs beim Völkermord an Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17107

Florian Hahn (A) den Armeniern ist es gerade für uns Auftrag, drohenden ethnischen Gruppe der Albaner aus dem Kosovo (C) Völkermord zu verhindern . oder einem Teilgebiet desselben . Danke schön . Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, 11 . März 1999: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo wa- ren und sind in der Bundesrepublik Jugoslawien Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: keiner regionalen oder landesweiten Gruppenver- Der Kollege Neu erhält die Möglichkeit zu einer folgung ausgesetzt . Kurzintervention . Stoppen Sie also das Märchen von einem drohenden Genozid . Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Sehr geehrter Kollege, es gab keinen drohenden Völ- Danke . kermord . Ich beziehe mich damit auf Aussagen des Aus- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wärtigen Amts aus dem Jahre 1998 bis in den März 1999 neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hinein . Entsprechende Informationen zur Abschiebung von Kosovo-Albanern kurz vor Beginn des Krieges durch die NATO wurden von den verschiedenen Verwal- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: tungsgerichten angefragt . Ich kann Ihnen gerne vier Fälle Herr Hahn, Sie haben die Möglichkeit zur Erwide- vorlesen, um das einmal zu verdeutlichen . rung . Auskunft des Auswärtigen Amts, 12 .Januar 1999, an das Verwaltungsgericht Trier: Florian Hahn (CDU/CSU): Herr Kollege Neu, Sie haben unter anderem Doku- Eine explizit an die albanische Volkszugehörig- mente des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit zitiert, die keit anknüpfende politische Verfolgung ist auch im ich jetzt nicht nachvollziehen kann . Kosovo nicht festzustellen . Der Osten des Kosovo ist von den bewaffneten Konflikten bislang nicht er- (Dr .Alexander S . Neu [DIE LINKE]: Ich faßt, das öffentliche Leben in Städten wie Pristina, schicke Ihnen die per E-Mail zu!) Urosevac, Gnjilan usw . verlief im gesamten Kon- Ich habe leider keine Aussagen der Führung des Auswär- fliktzeitraum in relativ normalen Bahnen. tigen Amts aus dieser Zeit zur Hand; aber das können Das Vorgehen der Sicherheitskräfte war wir gerne beim nächsten Mal nachholen . Ich könnte mir (B) vorstellen, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer (D) … nicht gegen die Kosovo-Albaner als ethnisch de- die Lage damals deutlich anders eingeschätzt hat . finierte Gruppe gerichtet, sondern gegen den militä- rischen Gegner und dessen tatsächliche oder vermu- (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tete Unterstützer . NEN]: Das können Sie ja heute ein bisschen objektiver beurteilen! – Niema Movassat Sprich: die UCK . [DIE LINKE]: Politisch anders motiviert ein- geschätzt hat! – Dr .Franz Josef Jung [CDU/ Auskunft des Auswärtigen Amts, 15 . März 1999, an CSU]: „Nie wieder Auschwitz“ hat er gesagt!) das Verwaltungsgericht Mainz:

Wie im Lagebericht vom 18 11. 1998. ausgeführt, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: hat die UCK seit dem Teilabzug der … Sicher- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte ist da- heitskräfte im Oktober 1998 ihre Stellungen wieder mit beendet . eingenommen, so daß sie wieder weite Gebiete im Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstö- Drucksache 18/8623 an die in der Tagesordnung aufge- ßen … führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – das auch so beschlossen . dürfte Sie jetzt interessieren – aus dem Oktober 1998: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Die den Klägern in der Ladung zur mündlichen Ver- handlung angegebenen Lageberichte des Auswärti- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja gen Amts vom 6 .Mai, 8 .Juni und 13 .Juli 1998 las- Keul, Katja Dörner, Luise Amtsberg, weiterer sen einen Rückschluß auf eine Gruppenverfolgung Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ethnischer Albaner aus dem Kosovo nicht zu . Nicht DIE GRÜNEN einmal eine regionale Gruppenverfolgung, die allen Elternschaftsvereinbarung bei Samenspende ethnischen Albanern aus einem bestimmten Teilge- und das Recht auf Kenntnis eigener Abstam- biet des Kosovo gilt, läßt sich mit hinreichender Si- mung cherheit feststellen . Das gewaltsame Vorgehen des jugoslawischen Militärs und der Polizei seit Febru- Drucksache 18/7655 ar 1998 bezog sich auf separatistische Aktivitäten Überweisungsvorschlag: und ist kein Beleg für eine Verfolgung der gesamten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) 17108 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Was also tun? Wie können wir gleichzeitig Rechtssi- (C) Ausschuss für Gesundheit cherheit für die Spenderkinder, Wunscheltern und Spen- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für der schaffen? Unser Vorschlag: die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu Als Allererstes sollte der bislang verfassungsrechtlich keinen Widerspruch . Dann ist das auch so beschlossen . unbestrittene Auskunftsanspruch der Kinder gesetzlich verankert werden, auch gegenüber den Samenbanken . Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein- genommen haben – ich bitte darum, dass das zügig ge- Als Zweites sollte es schon vor der Zeugung möglich schieht –, dann kann ich die Debatte auch eröffnen . werden, in einer Elternschaftsvereinbarung die rechtli- che Elternschaft des Wunschvaters vertraglich und ver- Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin erhält bindlich zu regeln . Das schafft nicht nur Sicherheit bei Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Spenden über Samenbanken, sondern gerade auch bei Wort . sogenannten vertraulichen Spenden im privaten Umfeld, vor allen Dingen, wenn die Eltern nicht verheiratet sind . Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Diese Vereinbarung sollte beim Jugendamt protokolliert Kollegen! Die Samenspende ist ein seit über vier Jahr- und mit einer entsprechenden Belehrung über den zu- zehnten praktiziertes Verfahren . Tausende von Familien künftigen Umgang mit dem Auskunftsrecht gegenüber sind auf diesem Wege gegründet worden . Dennoch fehlt dem Kinde zu dessen Wohl verbunden sein . es bis heute an einer gesetzlichen Regelung und damit an einer rechtlichen Absicherung aller Beteiligten . Mit Drittens müssen wir künftig dem Kind einen gesetz- unserem heutigen Antrag machen wir konkrete Vorschlä- lichen Weg verschaffen, die biologische Vaterschaft des ge für eine solche gesetzliche Regelung . Im Zentrum Spenders feststellen zu lassen, ohne dabei die rechtliche unserer Überlegungen stehen zunächst einmal die Inte- Vaterschaft infrage zu stellen . ressen des durch die Samenspende entstandenen Kindes, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das aufgrund der Rechtsunsicherheit noch immer vor der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Schwierigkeit steht, die erforderlichen Informationen über seine Abstammung zu erhalten . Seit Jahren ist un- Eine solche gerichtlich festgestellte biologische Vater- bestritten, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung schaft ohne Statusänderung haben wir bereits vor einigen zentral bei der eigenen Identitätsfindung sein kann und Jahren ins Gesetz eingeführt, als es um die Durchsetzung die Unkenntnis zu gravierenden psychologischen Be- von Umgangsrechten des biologischen Vaters ging . Es (B) lastungen führen kann . Deswegen ist eine anonyme Sa- handelt sich also nicht um eine völlig neue Konstrukti- (D) menspende auch nicht zulässig . Klar ist auch, dass nicht on . Nur wenn dem Kind ein solcher Weg zur Verfügung jede oder jeder diese Kenntnis haben will oder haben steht, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, im Gegen- muss . Aber denjenigen, für die es wichtig ist, müssen wir zug das Anfechtungsrecht des Kindes gegenüber dem zur Durchsetzung ihres Anspruches verhelfen . rechtlichen Vater mittels einer Elternschaftsvereinbarung auszuschließen . Im Ergebnis wirkt die Elternschaftsver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einbarung wie eine Adoption, bei der das Kind ebenfalls sowie bei Abgeordneten der LINKEN) kein Anfechtungsrecht erhält . Das Verfassungsgericht hat seit den 80er-Jahren Nach diversen Gesprächen im Vorfeld mit den Ver- mehrfach klargestellt, dass die Kinder einen verfassungs- bänden sowohl der Eltern als auch der Kinder kann ich rechtlich geschützten Anspruch auf Auskunft gegenüber Ihnen sagen, dass der Ausgleich der durchaus gegen- ihren Eltern haben . Was sie bisher nicht haben, ist ein läufigen Interessen alles andere als banal ist. Die Eltern Anspruch gegen einen Dritten auf Durchführung eines wünschen keinen zusätzlichen Druck hinsichtlich der Vaterschaftsfeststellungsverfahrens . Der einzige rechtli- Aufklärung ihrer Kinder durch einen Eintrag im Gebur- che Weg liegt bislang in der Anfechtung ihres rechtlichen tenregister, während die Spenderkinder ins Feld führen, Vaters und der Geltendmachung von Ansprüchen gegen dass die Aufklärungsrate mit geschätzten 10 Prozent den vermutlichen biologischen Vater, soweit bekannt . nach wie vor viel zu niedrig sei . Auf der anderen Seite Genau dort liegt das Problem . wollen die Spenderkinder gern an ihrem Anfechtungs- recht gegenüber dem rechtlichen Vater festhalten, was Das Recht der Kinder auf Anfechtung der Vaterschaft aber die Rechtsunsicherheit aufseiten der Spender nicht kontrahiert deren Anspruch auf Auskunft über ihre Ab- aufheben würde . stammung . So müssen die Samenbanken zwar gewisse Daten vorhalten; in der Praxis machen sie aber alles, Ich glaube, dass unser Vorschlag das ausgewogene Er- um aus ihrer Sicht ihre Kunden zu schützen und ihr gebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Auskunfts- Geschäftsmodell zu erhalten . Es gibt daher einen sehr anspruch auf der einen Seite und Anfechtungsrecht auf unterschiedlichen Umgang mit den Auskunftspflichten der anderen Seite ist . Ich bin gespannt auf die weiteren gegenüber den Kindern, bis hin zur gezielten praktischen Beratungen und die entsprechenden Vorschläge der Re- Verhinderung . Dabei geht es den Kindern so gut wie nie gierungsseite . um die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen oder Erb­ Vielen Dank . ansprüchen gegen den Samenspender, sondern schlicht um die Kenntnis ihrer Abstammung . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17109

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ters eine schlechte Idee ist; sie ist sogar eine sehr gute, (C) Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr .Sabine wenn sie richtig umgesetzt wird . Um eine entsprechende Sütterlin-Waack das Wort . Umsetzung kümmert sich derzeit das in diesem Bereich federführende Bundesgesundheitsministerium in enger (Beifall bei der CDU/CSU) Abstimmung mit den Ressorts Justiz und Familie . Dabei muss nochmals genauer geprüft werden – der Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Antrag der Grünen ist hier nicht klar genug –, ob Kindern Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- nicht auch ein Recht auf Nichtwissen eingeräumt werden gen! Wo komme ich her? Von wem stamme ich ab? Für soll . alle Kinder gilt das Recht auf Herkunft . Darüber herrscht Einigkeit . Konkrete, einfachgesetzliche Regelungen gibt (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es zu diesem Anspruch allerdings bislang nicht . Vielmehr Natürlich! Haben sie doch!) leitet sich der Anspruch der Kinder, wie höchstrichterlich Gemäß des Regelungsvorschlags der Grünen, also einer festgestellt, aus den Artikeln 2 und 1 des Grundgesetzes, Eintragung eines entsprechenden Vermerks in das Ge- dem Persönlichkeitsrecht, ab . burtenregister, Ich stimme mit den Antragstellern überein, dass Re- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gelungsbedarf besteht . Auch ist es richtig, dass sich die Ohne Namen!) Durchsetzung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung in der Realität oft als schwierig erweist . Kinder haben wird das Kind quasi zwangsweise über seine Entste- aus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten, Kon- hung aufgeklärt . Sollte es nicht der Initiative des Kindes takt zum Samenspender, zum biologischen Vater aufzu- überlassen werden, herauszufinden, ob es durch eine Sa- nehmen . Die Väter sind oftmals in Sorge, dass sie nach menspende gezeugt wurde? Anfechtung zum rechtlichen Vater gemacht werden und Als zu weitgehend sehen wir außerdem die Idee an, sich damit Erb- und Unterhaltsansprüchen aussetzen . Es das Kind solle gegenüber dem Vater feststellen lassen ist zudem keine Seltenheit, dass Kliniken und Samen- können, ob der von der Klinik bzw . Samenbank benann- banken wenig Ehrgeiz an den Tag legen, Kindern bei der te Spender tatsächlich sein biologischer Vater ist . Die Durchsetzung ihrer Rechte hilfreich zur Seite zu stehen . jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat Zu groß ist die Angst, eines Tages keine Samenspender deutlich gemacht, dass ein Auskunftsanspruch nicht ab- mehr zu finden. solut ist, also auch durch die Persönlichkeitsrechte des Der vorliegende Antrag geht grundsätzlich in die rich- mutmaßlichen Vaters eingeschränkt ist . Es ist zum Bei- tige Richtung, spiel die Frage zu klären, ob ein Klärungsanspruch des (B) Kindes auch bei natürlicher Zeugung gegenüber jedem (D) (Beifall der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/ mutmaßlichen biologischen Vater bestehen soll . Auch DIE GRÜNEN]) hier halte ich eine Einbettung dieser und anderer Fragen in einigen Punkten schießt er aber über das Ziel hinaus in die Arbeit des Arbeitskreises für sinnvoll . und ist deswegen auch abzulehnen . Größere Probleme haben wir allerdings mit der soge- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nannten Elternschaftsvereinbarung . Auf den ersten Blick Wir haben noch nicht einmal zu diskutieren erscheint diese sinnvoll, weil es Fälle gibt – aber es sind angefangen!) wirklich nur Einzelfälle –, in denen ein nicht verheirate- tes Paar sich für eine Insemination entscheidet und der Er enthält Regelungen, die auch Auswirkungen auf weite Wunschvater im Laufe der Schwangerschaft abspringt Teile des Abstammungsrechts hätten . Hierfür bedarf es oder die Mutter die Zustimmung verweigert . Hier schafft einer gründlicheren Prüfung und eines schlüssigen Ge- zwar eine Elternschaftsvereinbarung auf den ersten Blick samtkonzepts . Ich verweise auf die für Sommer 2017 zu einen Mehrwert an rechtlicher Sicherheit im Sinne des erwartenden Ergebnisse des seit 2015 tagenden Arbeits- Kindes . Bei näherem Hinsehen schleicht sich aber der kreises „Abstammungsrecht“ des Bundesministeriums bittere Beigeschmack ein, dass hier eher auf die Interes- der Justiz und für Verbraucherschutz . Dort wird unter sen und die Wünsche der Eltern abgestellt wird . Beteiligung von führenden Familienrechtlern, Verfas- sungsjuristen, Psychologen und Medizinethikern der Die Antragsteller konnten es nicht lassen, einen wei- Frage nachgegangen, inwieweit unsere abstammungs- teren Versuch zu starten, Gesellschaftspolitik durch die rechtlichen Regelungen überhaupt noch passen . Fakt Hintertür zu betreiben . ist, dass die modernen Technologien, die im Bereich der (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fortpflanzungsmedizin zur Verfügung stehen, zu Famili- Mensch, jetzt aber nicht übertreiben!) enformen führen, die noch vor kurzem auch für den Ge- setzgeber unvorstellbar waren . Sie stellen das deutsche Co-Mutterschaft und Co-Parenting sind Konzepte, die Familienrecht vor neue Herausforderungen . sich, wie Sie wissen, nur schwer mit der Linie der Gro- ßen Koalition vereinbaren lassen . ( [SPD]: Das stimmt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vor diesem Hintergrund finde ich es wenig hilfreich, nur in einem Teilbereich des Abstammungsrechts vor- Zusammengefasst: Es gibt durchaus Schnittmengen, schnell isolierte Regelungen zu schaffen . Damit meine wie die Errichtung eines Registers oder den Vorschlag ich nicht, dass die Schaffung eines Samenspenderegis- zur Einrichtung einer Höchstgrenze von Samenspenden 17110 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Sabine Sütterlin-Waack (A) eines einzelnen Spenders; auch der Verbesserung von nur der Weg über die Vaterschaftsanfechtung bleibt, mit (C) Beratungsangeboten stehen wir offen gegenüber . Aber allen rechtlichen Konsequenzen . unter dem Strich trennt uns dann doch zu viel von dem (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) vorliegenden Antrag . Bei adoptierten Kindern ist ein entsprechender Ver- Danke schön . merk im Geburtenregister vorhanden und bleibt lebens- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lang zugänglich . Warum sollte dies nicht ebenso bei ordneten der SPD) Spenderkindern erfolgen, um ihnen diese Möglichkeiten letztlich zu eröffnen? Anonymität bei Samenspende gibt es nicht . Schon vor fast 50 Jahren, als die Samenspende Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nicht mehr geächtet wurde, hatte die Bundesärztekam- Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Jörn mer darauf hingewiesen, dass anonyme Spenden eben Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort . nicht möglich sind . Die meisten Samenbanken weisen deshalb auf die rechtlichen Folgen einer möglichen Va- (Beifall bei der LINKEN) terschaftsfeststellung mit allen unterhaltsrechtlichen und erbschaftsrechtlichen Folgen etc . hin . Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Die Frage ist nach wie vor, wie sich die rechtlichen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beziehungen zwischen Spender und Kind möglicherwei- Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner Abstam- se entwickeln können . Im Moment ist dies nur auf dem mung; wir haben es mehrfach gehört . In Deutschland Weg der Vaterschaftsfeststellung mit allen rechtlichen ist dieses Recht sogar verfassungsrechtlich geschützt; Konsequenzen möglich, auch wenn sie weder vom Kind das haben wir auch schon gehört . 1989 hat das Bundes- noch von den Eltern noch vom Spender gewollt sind . verfassungsgericht entschieden, dass dieses Recht vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht – Sie haben es gesagt, Hier setzt der Antrag der Grünen an, um ein Verfah- Frau Kollegin Sütterlin-Waack – aus Artikel 2 und Arti- ren zu schaffen, das es Spenderkindern, ähnlich wie 2008 kel 1 Grundgesetz umfasst wird . Das war 1989, also vor hier in diesem Haus beschlossen, ermöglicht, festzustel- 27 Jahren . Das entspricht genau der Altersgrenze für die len, ob der angegebene Vater, nämlich der Spender, auch noch das KJHG gilt . Ich denke, es wird langsam Zeit, dass der biologische Vater ist – deshalb der anonyme Rand- sich etwas tut . Das geschieht auch nicht, wie die Kollegin vermerk im Geburtenregister – man hat auch ein Recht Sütterlin-Waack behauptet, übereilt oder vorschnell . Ich auf Nichtwissen – und die Forderung nach einem Mel- meine, Zeit genug war . Im Koalitionsvertrag haben die de- und Auskunftssystem, welches es ermöglicht, auf die entsprechenden Spenderdaten zurückzugreifen . Gleich- (B) beiden Koalitionspartner vereinbart, dies rechtlich zu re- (D) geln, aber davon ist bislang noch nichts zu sehen . zeitig wird durch ein solches System gewährleistet, dass die obligatorische Zahl von maximal zehn Kindern pro (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Spender auch sichergestellt ist . Es wird zwar darauf hin- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gewiesen, dass das nicht passieren soll, aber keine Sa- Selbst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom menbank kontrolliert, ob jemand nicht in der Samenbank 28 .Januar 2015 – das ist auch schon knapp eineinhalb Berlin, in der Samenbank und in der Samen- Jahre her –, das besagt, dass durch Samenspende gezeug- bank Hintertupfing spendet. Das würde durch ein solches te Kinder unabhängig vom Alter ein Recht auf Kenntnis System gewährleistet . ihrer Abstammung haben, hat sich diesbezüglich nichts Ob das von den Grünen geforderte Instrument der El- getan . Um dieses Grundrecht grundsätzlich zu wahren, ternschaftsvereinbarung die Wirkungen zeigt, die sich hat der Bundestag im Jahr 2008 § 1598a BGB – er ist die Grünen erhoffen, werden die Beratungen zeigen . auch schon erwähnt worden –, eingeführt, um eine Vater- Ich freue mich jedenfalls darauf und auch auf die Ände- schaftsfeststellung oder eine Abstammung unabhängig rungsanträge der Koalition . von der Vaterschaftsanfechtung zu ermöglichen, um eben nicht in dieses Rechtskonstrukt oder in diese rechtlichen Danke schön . Beziehungen einzudringen oder sie zu ändern . Dies ge- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schieht aber nur, um festzustellen, ob der rechtliche Vater NIS 90/DIE GRÜNEN) auch der leibliche Vater ist . Gegen den Samenspender besteht ein solcher An- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: spruch auf Klärung nicht . Das haben wir damals leider Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sonja Steffen übersehen . Ich war damals auch Berichterstatter, wobei von der SPD-Fraktion das Wort . ich aber auch nicht glaube, dass so ein Einwand, wenn er von der Linken gekommen wäre, Gehör gefunden hätte . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die übrigen Einwände fanden ja auch kein Gehör . Umso der CDU/CSU) mehr begrüßt die Linke jetzt den vorliegenden Antrag der Grünen; denn schließlich ist nicht einzusehen, wa- Sonja Steffen (SPD): rum adoptierten Kindern die Möglichkeit eröffnet wird, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die Identität ihrer leiblichen Eltern zu erfahren und diese Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! Die kennenzulernen, ohne dass Rechtsbeziehungen zu ihnen Idee, dass ein Kind stets nur zwei Elternteile hat, ist in entstehen, durch Samenspende gezeugten Kindern aber der heutigen Zeit überholt . Es gibt Regenbogenfamilien, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17111

Sonja Steffen (A) es gibt Patchworkfamilien, es gibt rechtliche Eltern, es Wunscheltern und der Verein Spenderkinder an diesem (C) gibt soziale Eltern, es gibt biologische Eltern . Genauso Prozess beteiligt, und wenn nein, warum nicht? überholt ist es, dass Kinder nur dann entstehen, wenn die Eltern miteinander schlafen . Die moderne Reproduk- Sonja Steffen (SPD): tionsmedizin macht es möglich, dass Kinder auch ohne Die Kommission ist ja mitten in der Arbeit . Ursprüng- Sex entstehen können . lich sollte das Ergebnis im Sommer 2017 feststehen . Das Seit langer Zeit nun sind bei uns schon anonyme Sa- ist noch eine lange Zeit. Ich finde, das ist fast ein biss- menspenden erlaubt, chen zu lange, weil wir wissen, dass diese Legislaturpe- riode 2017 zu Ende sein wird . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Anonym nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und sie verhelfen unfruchtbaren Männern und Frauen, Daher hoffe ich, dass wir früher zu Ergebnissen kommen . aber auch lesbischen Paaren und Singles zu einem Kind . Übrigens hoffe ich – damit nehme ich das Ende meiner Inzwischen gibt es rund 100 000 sogenannte Spender- Rede vorweg –, dass wir im Gesetzgebungsverfahren kinder, und in Deutschland kommen jährlich 1 500 Kin- wirklich überfraktionell arbeiten können . der hinzu . Ich glaube, eines ist für uns alle klar: Kind ist In dem Zusammenhang werden auch Verbände be- Kind, und es ist völlig egal, auf welchem Weg die Zeu- teiligt werden . Ich weiß, dass ein großes Forum geplant gung erfolgt ist . ist, dass auch entsprechende Anhörungen durchgeführt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden sollen . Ich bin mir sicher, sehr sicher, dass daran der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- auch Verbände beteiligt werden . NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber jeder Mensch, jedes Kind sollte auch die Möglich- Die Hoffnung stirbt zuletzt!) keit haben, zu erfahren, wer seine Eltern sind; denn die Der BGH hat 2015 ausdrücklich den Auskunftsan- Frage nach der Herkunft quält . Bei der Vorbereitung zu spruch des Kindes gegen den Arzt, also gegen den Re- dieser Rede habe ich mich auch mit Gedanken und Bei- produktionsmediziner, hinsichtlich des Samenspenders trägen von betroffenen Personen beschäftigt . Ein Zitat anerkannt . Allerdings – darauf hat Frau Sütterlin-Waack lautete beispielsweise: Es ist so, als würde mir ein Kör- schon hingewiesen – gab es im April 2016 eine Entschei- perteil fehlen. – Das kann man gut nachempfinden. Auch dung des Bundesverfassungsgerichts, in der es zwar nicht wenn es keine verbindlichen Zahlenwerte dazu gibt, ist um Samenspender ging, die aber dennoch bedeutsam ist . davon auszugehen, dass die Unwissenheit über die eige- (B) Es ging – die Juristen werden sich erinnern – um eine (D) ne Herkunft zu schweren psychischen Problemen führen 66-jährige Frau, die festgestellt wissen wollte oder zu- kann . mindest einen Auskunftsanspruch hinsichtlich des mut- Wir haben es schon gehört: Es gehört zu den Per- maßlichen Vaters geltend machen wollte . Das war ein sönlichkeitsrechten eines Menschen, seine genetische hochbetagter Herr von 92 Jahren . Der Vater hat gesagt: Herkunft zu erfahren . Das Bundesverfassungsgericht ist „Das will ich nicht“, und das Bundesverfassungsgericht schon zitiert worden . Das steht auch in der UN-Menschen- hat gesagt: Das darf er, weil er das Recht hat, seine au- rechtskonvention . Auch der Europäische Gerichtshof für ßereheliche Beziehung zu verheimlichen .– Das Urteil ist Menschenrechte hat das so entschieden . Allerdings hat nun einmal da . Im Gegensatz zu Frau Sütterlin-Waack unser Recht bislang eine Lücke . Deshalb begrüßen wir halte ich es, ehrlich gesagt, für nicht zufriedenstellend grundsätzlich den Vorstoß der Grünen, den sie mit ihrem und vielleicht ein bisschen männerlastig, Antrag unternehmen . Allerdings sind wir bereits dabei – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der darauf hat Frau Sütterlin-Waack schon hingewiesen –, LINKEN sowie der Abg . Ulle Schauws diese Lücke zu schließen . Das Bundesjustizministerium [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) hat 2015 eine Kommission eingerichtet, die aus vielen Experten besteht . Nicht nur Juristen, sondern auch Medi- weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ziner sind dabei . Es geht auch um ethische Fragen . Man hier höher bewertet wurde als das Recht auf Auskunft . kümmert sich also bereits um diese Angelegenheit . Ich hoffe, dass wir da zu guten Ergebnissen kommen . Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag selbst . Zur Aufbewahrungsdauer von medizinischen Daten haben Ich will noch ein paar Gedanken loswerden . Sie gesagt: Das sollen 100 Jahre sein . In der Kommission müssen wir darüber reden, ob man tatsächlich eine Frist Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: von 100 Jahren benötigt . Im Moment sind es, glaube ich, nur 30 Jahre . Das ist mit Sicherheit zu wenig . Bevor Sie fortfahren, Frau Steffen, möchte ich Sie fra- gen: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu? – Bitte . Dann stellt sich folgende Frage: Sollen wir die Zahl der Spenden limitieren? Es gibt ja Feststellungen, nach Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): denen 100 Kinder von einem Samenspender gezeugt worden sind . Das ist, denke ich, nicht das, was man sich Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen- wünscht . Da sollte es eine Reduzierung geben . frage zulassen . Es ist erfreulich, dass es eine Kommis- sion aus Juristen und Medizinern gibt, die sich damit Zuletzt will ich noch Folgendes sagen: Die Zeiten ha- beschäftigt . Ich frage Sie: Sind denn die Vereine der ben sich geändert . Wir müssen und sollten den Kindern 17112 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Sonja Steffen (A) zuliebe Regelungen schaffen, die es wirklich jedem und Zeit nehmen, alle miteinander verwandten Themenfelder (C) jeder ermöglichen, soweit das möglich ist, zu erfahren, in diesem Bereich gleichzeitig zu regeln . wessen Herkunft er oder sie ist . Ich hoffe, dass wir zu einem überfraktionellen Ergebnis kommen, weil es sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU hier um eine ethische Frage handelt . Da sollten wir, den- und der SPD – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch sonst auch ke ich, alle zusammenarbeiten . nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen verbietet sich meines Erachtens zu diesem der CDU/CSU) Zeitpunkt eine isolierte Vorabregelung . Wenn wir uns jetzt auf den Weg zu dieser Gesamtkonzeption „Abstam- mungsrecht“ – so will ich es einmal nennen – begeben, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dann wird uns da eine Vielzahl sehr diffiziler Rechtsfra- Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/ gen begegnen . Das betrifft zum Beispiel – dies wird auch CSU-Fraktion ist der Kollege Alexander Hoffmann . in Ihrem Antrag formuliert – die Eintragung eines ent- sprechenden Vermerkes im Geburtenregister . Ich glaube, (Beifall bei der CDU/CSU) dass wir das Recht auf Nichtwissen alleine durch die An- onymität, Herr Wunderlich, nicht wahren können . Viel- mehr bräuchten wir so etwas wie einen Blindvermerk, (CDU/CSU): Alexander Hoffmann sodass nur auf ausdrücklichen Wunsch Informationen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolle- herausgegeben werden . ginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland keine Ich kann mich mit Ihren Überlegungen durchaus an- Zahlen oder genauen Erkenntnisse über die Anzahl der freunden, wenn Sie sagen: Das Verfahren zur Aufklärung durch Samenspenden gezeugten Kinder . Nach Experten- der Abstammung lehnen wir an § 1598a BGB an . Nur, da schätzungen dürften es über 100 000 sein . Ebenso wenig müssen wir auch daran denken, dass es eine jüngere Ent- liegen Erkenntnisse dazu vor, wie viele Kinder überhaupt scheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die ge- wissen, dass sie das Produkt einer Samenspende sind . rade bei § 1598a weiteren Klärungsbedarf beim Gesetz- Was wir aber wissen, ist, dass ein solcher Sachverhalt geber sieht . Es muss geklärt werden, ob es nicht einen für alle Beteiligten rein von der menschlichen Seite ein generellen Klärungsanspruch gegenüber jedem mutmaß- unglaublich sensibles Thema ist . Er ist sicherlich persön- lichen biologischen Vater gibt . Das ist in der Norm ak- lich bewegend, und er ist auch voll mit psychologischem tuell nicht so . Es muss vonseiten des Gesetzgebers auch Sprengstoff . die Frage geklärt werden, ob im Rahmen der Norm nicht (B) auch jeder mutmaßliche biologische Vater zum Kreis der (D) Zudem reden wir – ich denke, auch das ist in der De- Klärungsberechtigten gehört . Auch das wird eine Frage- batte schon klar geworden – über eine ungeheuer kom- stellung in diesem Arbeitskreis sein . plexe juristische Materie . Das ist bei der letzten Grund- satzentscheidung des BGH vom 28 . Januar 2015 deutlich Am Ende noch zwei, drei Sätze zur Elternschafts- geworden . Wenn wir bei der juristischen Bewertung sind, vereinbarung . Sie würde nach Ihrer Forderung auch bei dann muss man ganz ehrlich feststellen, dass dieser Be- verheirateten Wunscheltern gelten . Das bedeutet aber in reich in Deutschland bislang gesetzlich nur unzureichend der Konsequenz, dass wir dann zu einem Paradigmen- geregelt ist . wechsel kommen, weil wir von unserem Institut der Va- terschaftsvermutung, so wie § 1592 BGB es kennt, weg- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kommen . Da sage ich: Wir sollten uns die Zeit nehmen, der SPD) uns ausreichend die Frage zu stellen, ob wir das wollen, zumal diese Elternschaftsvereinbarung unanfechtbar sein Deswegen hat die Große Koalition aus CDU, CSU soll; das soll auch für das Kind gelten . Auch da, glau- und SPD – auch das ist schon angeklungen – im Koali- be ich, sollten wir uns die Zeit nehmen, uns das gut zu tionsvertrag das Ziel formuliert, dass wir das Recht des überlegen . Denn Lebenssachverhalte können sich ja im Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft gesetzlich regeln Laufe von 10 oder 20 Jahren ändern, und das Kind kann wollen . Deswegen bin ich sehr dankbar – auch das ist unter Umständen den Wunsch nach einer Vaterschafts- schon angeklungen –, dass im Jahr 2015 im Justizminis- konstellation entwickeln . Ich glaube, dass das Institut, terium eine Kommission eingerichtet wurde, ein Arbeits- das Sie dann anbieten, nämlich die einfache Adoption, kreis „Abstammungsrecht“, dessen Ergebnisse wir im dafür nicht ausreicht . Sommer 2017 erwarten . Meine Damen, meine Herren, ich glaube, all diese Jetzt kann man natürlich sagen: Das dauert zu lan- Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich eine ge . Wir haben so viel Zeit zugebracht .– Aber ich warne isolierte Vorabregelung in diesem Bereich verbietet . Wir vor dieser vorschnellen Beurteilung . Denn dieser Ar- brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept . Das sollten wir beitskreis hat ja noch andere Themenfelder als nur die mit Unterstützung des Arbeitskreises ansteuern . Darauf Samenspende im Blick . So wirft er einen Blick auf die freue ich mich . Frage der Leihmutterschaft und auch auf die verwandten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Fragestellungen der Eizellenspende . Wenn wir den ernst- haften Willen haben, eine schlüssige Gesamtkonzeption (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu entwickeln, dann, glaube ich, sollten wir uns auch die ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17113

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) Vielen Dank .– Nächster Redner ist Matthias Bartke, Vielen Dank .– Das war der letzte Redner zu diesem SPD-Fraktion . Tagesordnungspunkt . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass der CDU/CSU) die Vorlage auf Drucksache 18/7655 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . – Dr. Matthias Bartke (SPD): Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann ist die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Überweisung so beschlossen . möchte Ihnen eingangs von Mia berichten, Mia F ,. die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: mithilfe einer anonymen Samenspende gezeugt wurde . Mit 17 Jahren hat Mia in einem Familienstreit erfahren, Beratung des Antrags der Bundesregierung dass ihr Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist . Als sie das Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- erfahren hat, war sie am Boden zerstört . Sie fand, ihre scher Streitkräfte an der „United Nations Eltern hätten sie jahrelang belogen . Zermürbender ist für Interim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf sie allerdings die nun schon zehnjährige Suche nach ih- Grundlage der Resolution 1701 (2006) und rem biologischen Vater . Sie weiß zwar, dass sie in der nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Berliner Charité gezeugt wurde; das ist aber auch alles . Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu- Wenn Kinder erst spät oder vielleicht sogar nur zufällig letzt Resolution 2236 (2015) vom 21. August davon erfahren, dass sie Samenspenderkinder sind, ist 2015 das für viele traumatisierend . Die Suche nach dem Vater kann dann zur beherrschenden Lebensaufgabe werden . Drucksache 18/8624 Die Spenderkinder wollen wissen, welche Gene sie in Überweisungsvorschlag: sich tragen, welche Charaktereigenschaften sie vielleicht Auswärtiger Ausschuss (f) geerbt haben . Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Das Bundesverfassungsgericht – das wurde gesagt – Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat 1988 das erste Mal das Recht jedes Menschen auf Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Kenntnis seiner genetischen Abstammung bestätigt . lung Spenderkinder rennen jedoch bei ihrer Suche nach dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Erzeuger immer noch regelmäßig gegen Wände . Viele Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Reproduktionsmediziner haben den Samenspendern Ano­ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (B) nymität versprochen und die Spenderdaten vernichtet . die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- (D) Letzten Monat hat das Bundesverfassungsgericht festge- nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . stellt, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstam- mung nicht absolut ist . Stattdessen muss es mit wider- Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bun- streitenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden . desregierung der Staatsminister Michael Roth . Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont . der CDU/CSU) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Er kann den Anspruch auf eine rechtsfolgenlose Abstam- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mungsklärung einführen . Anfang Mai dieses Jahres bin ich in den Libanon gereist . Ich konnte mir vor Ort selbst ein Bild von der aktuel- (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Jörn len Lage machen . Mein ganz persönlicher Eindruck wird Wunderlich [DIE LINKE] und Katja Keul sicherlich von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Land steht vor gewaltigen Bewährungsproben . Die Es war daher richtig und wichtig, dass wir im Koaliti- Gräben zwischen den konfessionellen und politischen onsvertrag vereinbart haben, die Rechte der Spenderkin- Gruppen sind tief . Die Suche nach einem Präsidenten ist der zu stärken . Sinnvoll sind ausdrückliche Regelungen seit nunmehr zwei Jahren erfolglos geblieben . zum Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft – Die Syrien-Krise hat die ohnehin schon schwierige Frau Sütterlin-Waack, ich würde ergänzen: auch des Gemengelage noch weiter verkompliziert: Seit 2012 hat Rechts auf Nichtkenntnis –, die Einrichtung eines zen- der Libanon weltweit pro Kopf die meisten Flüchtlin- tralen Samenspenderregisters und eine Regelung zur ge aufgenommen, nämlich über 1 Million bei 4,5 Mil- Freistellung des Samenspenders von jeder rechtlichen lionen Einwohnern . Schulen und Krankenhäuser sind Inanspruchnahme . dramatisch überlastet, der Wohnraum ist knapp, Mieten Meine Damen und Herren, ich setze darauf, dass wir und Lebenshaltungskosten sind enorm gestiegen . Zwar den entsprechenden Gesetzentwurf noch in dieser Legis- gelangt mittlerweile viel internationale Hilfe ins Land – laturperiode hier beraten können . die Bundesregierung zählt im Übrigen zu den größten Gebern –; doch die sozialen Spannungen zwischen Liba- Ich danke Ihnen . nesen und den syrischen Flüchtlingen können damit nur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) teilweise abgefedert werden . 17114 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Staatsminister Michael Roth (A) Der Syrien-Konflikt wirkt sich eben auch auf die Si- her, die Grenzen des Libanon abzusichern, und meine (C) cherheitslage aus . Im syrisch-libanesischen Grenzgebiet Gesprächspartner, die ich im Libanon getroffen habe, ist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ präsent und bestätigten mir noch einmal, dass diese gemeinsame See- versucht immer wieder, auch in den Libanon vorzudrin- überwachung sehr erfolgreich ist . gen . Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat die libanesische Armee bislang verhindert, dass die Terrororganisation im Darüber hinaus umfasst das Mandat der maritimen Mis- Libanon Fuß fassen konnte . In der Bevölkerung – diesen sion eben auch eine Ausbildungskomponente . Eindruck werden diejenigen bestimmt teilen, die selber einmal im Libanon waren – genießt die Armee enorm Aber – das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- hohes Ansehen und gilt als glaubhaft überkonfessionel- gen – die Bundesregierung leistet eben nicht nur mili- le Institution . Allein schon deshalb ist und bleibt unsere tärische Unterstützung . Vielmehr ist sie in humanitäre Unterstützung für die libanesischen Streitkräfte mit Aus- Hilfe eingebettet und wird durch Entwicklungszusam- bildung und Ausrüstung so wichtig . menarbeit ergänzt . Wir engagieren uns für die Region . Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit seit diesem Aber die Situation im Libanon bleibt eben auch sehr Jahr wieder bilateral ausgerichtet . schwierig: sicherheitspolitisch, humanitär, sozial und wirtschaftlich . Da kann man die stabilisierende Rolle der Wir werden alleine in diesem Jahr 300 Millionen Euro VN-Mission UNIFIL gar nicht hoch genug einschätzen, Hilfen zur Verfügung stellen: im Bereich der humanitä- und dabei geht es mir in erster Linie gar nicht einmal ren Hilfe und im Bereich der Entwicklungszusammen- um deren militärische Bedeutung allein . Die Mission ist arbeit . Wir sind damit der größte bilaterale Geber . Mit ein immens wichtiges politisches Symbol . Sie steht für der libanesischen Regierung sind wir im engen Kontakt die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft . Wir darüber, wofür wir das Geld sinnvoll verwenden können . sind einem stabilen, friedlichen Libanon verpflichtet, und Besonders wichtig ist mir der ganze Bereich der Bildung unsere klare Botschaft lautet: Wir lassen das Land in die- und Ausbildung . Wir möchten die libanesische Regie- ser so schwierigen Lage nicht alleine . rung dabei unterstützen, ab dem kommenden Schuljahr Angesichts der Fliehkräfte, die dort derzeit wirken, jedem Flüchtlingskind und jedem libanesischen Kind ist es wichtiger denn je, UNIFIL als Stabilitätsanker zu den Zugang zu Bildung zu ermöglichen . Darauf haben erhalten; denn es ist für uns von herausragendem sicher- wir uns mit dem Libanon auf der Londoner Geberkon- heits- und außenpolitischem Interesse, dass der Libanon ferenz für Syrien und seine Nachbarländer verständigt . stabil bleibt bzw . stabiler wird . Dies ist angesichts der dramatischen Lage im Nachbarland Syrien und der vie- Ich habe eine von UNICEF und von uns geförderte len Flüchtlinge, die derzeit im Libanon leben, alles ande- Schule in der Bekaa-Ebene besucht . Hier werden auf (B) re als selbstverständlich . ganz eindrucksvolle Weise im Zweischichtbetrieb liba- (D) nesische und syrische Kinder teilweise gemeinsam im Der zentrale Beweggrund für die Mission bleibt ja Unterricht beschult . Das ist wirklich gut angelegtes Geld, bestehen: Der Waffenstillstand zwischen Libanon und liebe Kolleginnen und Kollegen . Israel darf nicht infrage gestellt werden. Derzeit finden einzig und allein unter dem Dach von UNIFIL direkte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Gespräche zwischen Israel und Libanon statt . Diploma- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE tisch erkennen sich die Staaten nach wie vor nicht an; GRÜNEN) aber sie akzeptieren und schätzen UNIFIL als wertvollen Mechanismus zur Streitschlichtung . Wir können dieses Engagement nicht einfach so von der militärischen Komponente abtrennen . Deshalb werbe In den vergangenen Jahren hat auch UNIFIL einige ich für unser Gesamtengagement . Ich kann Ihnen versi- Male eine militärische Eskalation verhindern können . chern: Dieses Engagement wird vor Ort enorm geschätzt, Hierzu zählten beispielsweise der Tod eines israelischen weil wir als ein verlässlicher Partner gelten, der seinen Soldaten durch Schüsse eines libanesischen Soldaten im abstrakten Zusagen auf Geberkonferenzen konkrete Ta- Jahr 2015 oder zuletzt, im Januar 2016, ein Anschlag ten folgen lässt . Entsprechend sollte das Bundestagsman- der Hisbollah gegen eine israelische Grenzpatrouille . In dat, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die deutsche beiden Fällen konnte UNIFIL durch die Einleitung von Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband mit unverän- Untersuchungen und die anschließende Vermittlung zwi- derter Personalobergrenze von 300 Soldatinnen und Sol- schen den Konfliktparteien einen wichtigen Beitrag zur daten um weitere zwölf Monate bis zum 30 .Juni 2017 Deeskalation leisten . verlängert werden . UNIFIL, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat zwei Komponenten . Dies ist einmal die Komponente Damit handeln wir nicht nur gemäß unserem eigenen zu Land . Sie entlastet die libanesische Armee bei ihrem Interesse an Stabilität und Frieden in der Region . Wir Kampf gegen den Terrorismus, insbesondere entlang der entsprechen damit auch dem ausdrücklichen Wunsch Is- syrisch-libanesischen Grenze . Sie sorgt damit indirekt raels, des Libanons und der Vereinten Nationen . Deshalb auch für Stabilität und Sicherheit an der libanesischen-is- bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Un- raelischen Grenze . terstützung . Die zweite Komponente, die auf See – hierbei enga- Vielen Dank . giert sich seit Beginn auch Deutschland –, trägt eben- falls zur Sicherheit bei . UNIFIL hilft von der Seeseite (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17115

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: immer deutsche Großmachtpolitik durchsetzen? Es gibt (C) Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke, sehr viele andere Möglichkeiten . Fraktion Die Linke . (Henning Otte [CDU/CSU]: Akzeptieren Sie doch die Wünsche der Betroffenen! – Florian (Beifall bei der LINKEN) Hahn [CDU/CSU]: Waren Sie schon mal da? Das ist „Großmachtpolitik“? Das ist ja lächer- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): lich!) Danke sehr, Frau Präsidentin . – Ich bitte Sie: Erinnern – Ja, ich war häufiger im Libanon. Sie sich zurück an das Mandat 2006, durch Resolution Sie sehen, dass ein Schritt den anderen nach sich zieht . des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen begründet . In- Mittlerweile sind wir über den Tornado-Einsatz auch in sofern stellt sich nicht die Frage, ob das Mandat völker- Syrien militärisch beteiligt . Wir haben übrigens diese rechtlich begründet ist – das ist es – und erlassen worden Woche beim Verfassungsgericht unsere Klage gegen den ist . Schauen Sie sich ein bisschen selbstkritischer an, was Tornado-Einsatz eingereicht . seitdem passiert oder nicht passiert ist . (Florian Hahn [CDU/CSU]: Gratulation!) Ich war 2006 in Beirut, nachdem der Libanon von Is- rael mit Raketen angegriffen worden ist und ein Teil des Ich bin mir sehr sicher, dass das Verfassungsgericht nicht Libanons von der israelischen Armee abgeriegelt worden die Position der Bundesregierung bestärken wird . ist . In Beirut hat man sehr genau gemerkt, dass die Rake- Wir möchten auch angesichts der deutschen Geschich- ten gezielt auf die schiitischen Stadtviertel abgeschossen te, dass Deutschland sich zumindest im Nahen Osten worden sind und nicht auf die christlichen Stadtviertel . komplett aus Militäraktionen raushält . Mir ist das im Grunde wurscht, weil ich überhaupt nicht möchte, dass Raketen auf Menschen abgeschossen wer- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gabi den . Das ist das Entscheidende . Weber [SPD]: Am besten raus aus der UNO!) Bei dem Mandat selbst lautete die Begründung – die Wenn Sie es wollen, dann gibt es genügend andere Mög- fand ich akzeptabel –, dass wahrscheinlich der Krieg Isra- lichkeiten, den Libanon zu unterstützen, die aber alle els gegen den Libanon und die Abriegelung des Libanons nicht genutzt werden . Man könnte im Libanon sehr viel nur über eine Aktion der Vereinten Nationen zu stoppen mehr machen, um Vermittlungsgespräche zu führen . sind . Das war die Ausgangslage . Bei dieser Ausgangsla- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das machen ge muss man sich natürlich fragen: Warum ist es eigent- wir nebenbei!) (B) lich so zwingend notwendig, dass sich Deutschland auch (D) im Nahen Osten an solchen Aktionen mit militärischen Ich weiß, dass Sie – gerade auch die SPD – in Ihrer Formationen beteiligt? Ich halte das für falsch, ich halte Außenpolitik verdeckt immer mit der Hisbollah reden das für grundfalsch . und verhandeln. Das finde ich eigentlich ganz in Ord- nung, dass Sie das machen . (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von Abge- ordneten der CDU/CSU) (Florian Hahn [CDU/CSU]: Aber nur die SPD!) Ich glaube, dass Deutschland im Nahen Osten sehr – Verdeckt; Sie machen es ja nicht offiziell. viele andere Aufgaben hat statt solcher militärisch be- gründeten Aktionen . Meine Sorge war auch: Wenn man Ich finde es ganz in Ordnung, dass man alle Möglich- das einmal begonnen hat, wird man sich bei anderen keiten nutzt, um von der Gewalt wegzukommen . Konflikten nur schwer raushalten können. (Franz Thönnes [SPD]: Du bist ja ein ver- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das nennt deckter Versprecher, du!) man kompromissfähig!) – Ja, verdeckt machen Sie das . Sie sagen ja nicht: „Wir reden mit der Hisbollah“, sondern „Wir reden mit der – Ja, ich möchte, dass wir uns raushalten . Ich möchte, Regierung“ oder „Wir reden mit dem Parlament“ . Darin dass zu einer Politik der militärischen Zurückhaltung zu- sitzen sie aber mit 40 Prozent der Mandate . rückgekehrt wird . Das ist mir sehr wichtig . (Florian Hahn [CDU/CSU]: Wann saßen die (Beifall bei der LINKEN) denn da?) Deswegen haben wir gesagt: Es gibt eine Begründung Das wissen Sie doch auch . Sie bekennen sich aber nicht der Vereinten Nationen . Aber es gibt keine Begründung zu dem, was man an Politik betreiben muss . dafür, warum Deutschland an diesem Mandat militärisch beteiligt sein muss . Ich bitte Sie sehr, das Mandat nicht zu verlängern und mit Israel deutlicher darüber zu reden, dass Israel aus die- ( [SPD]: Ja, was denn nun? ser Zwangssituation rauskommen muss . Das ist doch das UN-Mandat oder deutsche Beteiligung?) Entscheidende: dass man stärker auf die Politik setzt als auf das Militär . Und zumindest im Nahen Osten sollte – Ja, die UN sind auch ohne Deutschland handlungsfä- sich Deutschland komplett raushalten . Sie kommen sonst hig . Warum wollen Sie auch über die Vereinten Nationen in eine Situation, die auch Sie nicht mehr bewältigen . 17116 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Wolfgang Gehrcke (A) Danke . Deutschland nimmt wie bei allen Auslandseinsätzen (C) den Auftrag, der damit ergangen ist, in besonderer Weise (Beifall bei der LINKEN) ernst . Wir machen eine solide und gute Ausbildung bei libanesischen Marinesoldaten, die zunehmend die Auf- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gaben des Schutzes der Küste selber übernehmen müs- Vielen Dank .– Für die CDU/CSU-Fraktion spricht sen. Zwei libanesische Offiziersanwärter machen ihre jetzt der Kollege Jürgen Hardt . Ausbildung an der Marineschule Mürwik, der schönsten Kaserne Europas, und werden dort nach deutschem Maß- (Beifall bei der CDU/CSU) stab zu Offizieren ausgebildet. Ich kann Ihnen aus der Erfahrung sagen, dass diese Jürgen Hardt (CDU/CSU): Ausbildung an deutschen Offiziersschulen nicht nur be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! deutet, dass dort deutsche Fertigkeiten vermittelt werden, Die Bundesregierung hat uns einen Antrag auf Verlänge- sondern auch, dass ein Stück weit eine deutsche Werte- rung des UNIFIL-Mandats vorgelegt, einen wohlbegrün- haltung vermittelt wird, wie man Soldaten führt, wie man deten und wohldurchdachten Antrag zu einem Einsatz, mit Soldaten umgeht, wie man in modernen Streitkräften der seit vielen Jahren den Frieden in der Region stabi- Menschenführung gestaltet . Von daher, glaube ich, ist lisiert . das nicht zu unterschätzen . Die Bundeswehr mit ihrem modernen Ansatz, Streitkräfte zu führen, ist ein Vorbild . Lieber Herr Gehrcke, der Linkenfraktion ist kein Ar- gument zu dürftig, um fadenscheinige Gründe dafür zu Der Einsatz ist wichtig, er ist natürlich auch nicht ganz finden, sehr vernünftige Dinge wie zum Beispiel dieses billig . Wenn ich es richtig gesehen habe, sind 32,2 Millio- UNIFIL-Mandat abzulehnen . Was die deutsche Betei- nen Euro für die Verlängerung des Mandats bis Juni 2017 ligung angeht, ist allein die Tatsache, dass Israel diese in den Etat eingestellt worden . deutsche Beteiligung zum Schutz dieses Landes außer- Wir als CDU/CSU-Fraktion werden dieses Mandat in ordentlich schätzt, für mich Argument genug dafür, dass den Ausschüssen sorgfältig beraten . Ich habe das sichere wir mit einer deutschen Einheit an diesem Verband be- Gefühl, dass wir dem Antrag der Bundesregierung, lieber teiligt sind . Herr Staatsminister, uneingeschränkt zustimmen können (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und dass wir angesichts der gegenwärtigen Situation die- ordneten der SPD) sem Antrag unsere Zustimmung nicht verweigern wer- den . Gegenwärtig sind 135 Soldaten im Einsatz . Die Kor- (B) vette „Erfurt“ ist seit über fünf Monaten dort unterwegs . Herzlichen Dank . (D) Sie darf am 11 .Juni an die Hohe Düne zurückverlegen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und wird dann durch die Korvette „Braunschweig“ ab- gelöst . Wir sind mit unseren modernsten Einheiten an diesem Einsatz beteiligt und leisten dort einen, wie ich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: finde, sehr wichtigen und verantwortungsvollen Beitrag. Vielen Dank .– Nächste Rednerin ist die Kollegin Denn die Situation im Libanon ist durch den seit Jahren Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- andauernden Bürgerkrieg in Syrien nicht besser gewor- nen . den . Es gibt erstens eine hohe Zahl von Flüchtlingen in Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Land . 30 Prozent der libanesischen Bevölkerung NEN): haben einen Flüchtlingshintergrund . Zweitens hat im Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Grenzgebiet zu Syrien die Gefahr, dass auf illegale Wei- und Kollegen! Es grenzt doch an ein Wunder, dass in der se Waffen den Besitzer wechseln, enorm zugenommen . krisengeplagten und von Gewalt erschütterten Region Es gibt auch von außen weiterhin Einfluss auf Kräfte, die des Nahen und Mittleren Ostens ein kleines Land trotz terroristische Aktivitäten aus dem Libanon heraus zum gewaltiger eigener Probleme, Rückschläge und Heraus- Beispiel gegen Israel vorbereiten könnten . Von daher ist forderungen nicht auch noch in Instabilität und Chaos dieser Einsatz, wie ich finde, nicht nur notwendig, son- abgleitet: der Libanon . dern er ist geradezu wichtiger denn je . Die Menschen dort leiden unter der korrupten und in- Ich möchte den Scheinwerfer auch auf einen ganz effizienten Verwaltung, ob es sich um Wasser, Elektrizi- wesentlichen Aspekt lenken, der eben keine militärische tät oder die Entsorgung von Müll handelt . Die politische Komponente ist, nämlich die vermittelnde Funktion die- Situation ist nach wie vor mehr als schwierig . Seit 2014 ses UNIFIL-Einsatzes . Es gibt Dreiparteiengespräche, konnten sich die zerstrittenen Kräfte im Parlament immer bei denen zwischen Libanon und Israel im Vorfeld Dinge noch nicht auf einen Präsidenten einigen . Es gibt Waffen geklärt und bereinigt werden – vielleicht Kleinigkeiten, in gefährlichem Überfluss und in den falschen Händen die sich aber zu großen Problemen auswachsen kön- sowie zahlreiche politische, aber auch bewaffnete und nen –, ohne dass eine der beiden Seiten das an die große terroristische Gruppierungen, die bewusst ethnische und Glocke hängen muss . Das ist auch ein Mediationsbeitrag konfessionelle Spannungen schüren und versuchen, den zum Frieden in der Region, der meines Erachtens nicht Libanon auch in den Strudel der Gewalt des Syrien-Kon- hoch genug eingeschätzt werden kann . flikts hineinzuziehen. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17117

Agnieszka Brugger (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die größte, immen- darf man die Erfolge von UNIFIL nicht kleinreden . Viel- (C) se Herausforderung für die Menschen im Land, das bei mehr müssen sie bewahrt und fortgeschrieben werden . Weitem politisch nicht so stabil und wirtschaftlich so Es wäre falsch und fatal, die Mission zu beenden . Es ist wohlhabend ist wie viele europäische Länder, ist aber aber auch gefährlich, angesichts der höchst fragilen Lage die hohe Zahl der Flüchtlinge . Wenn Politiker ohne Herz zu glauben, dass sie allein Stabilität und Sicherheit ge- und Hirn in Deutschland über Belastungsgrenzen klagen, währleistet . Ja, die Aufnahmebereitschaft der Menschen dann sollten sie sich vielleicht einmal klarmachen, dass im Libanon ist sehr beeindruckend . Aber ohne weitere im Libanon seit Jahren jeder vierte Mensch ein Flücht- internationale Hilfe – diese darf nicht so halbherzig sein ling ist . wie in den vergangenen Jahren – wird das, was in der Vergangenheit erreicht wurde, fahrlässig aufs Spiel ge- Ich kann es bis heute nicht fassen, dass trotz aller setzt . Daher möchte ich mit dem Appell an die Bundes- Gipfelbilder und schönen Absichtsbekundungen sich die regierung und an die anderen reichen Staaten dieser Welt reichen Staaten dieser Welt weigern, die Menschen im enden, ihre humanitäre Verantwortung für die Menschen Libanon bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen . im Libanon und die Flüchtlinge dort endlich ernst zu Die Programme sind nur zu einem Bruchteil ausfinan- nehmen und ihr gerecht zu werden . ziert – ungefähr ein Viertel –, und, Herr Staatsminister, dann ist es doch mehr als beschönigend, wenn Sie hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) davon sprechen, dass man den Libanon nicht alleinlassen darf . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Florian Hahn . Es ist aber nicht nur herzlos und zynisch, sondern es ist auch sicherheitspolitisch kurzsichtig und brandgefähr- (Beifall bei der CDU/CSU) lich . Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen schlechten, Florian Hahn (CDU/CSU): schrecklichen und deprimierenden Nachrichten aus der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Region muss man aber auch eines feststellen: Die Frie- Das UNIFIL-Mandat gehört nicht zu den großen, me- densmission der Vereinten Nationen UNIFIL ist eine jah- dienwirksamen Einsätzen wie Atalanta, KFOR oder relange Erfolgsgeschichte . Sie hat nicht nur 2006 dazu der Einsatz gegen Daesh . Dennoch ist diese Mission beigetragen, den Krieg zwischen Libanon und Israel zu von großer Bedeutung für die Stabilität in der Region . beenden, sondern sie ist auch heute noch – zehn Jahre 131 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind genauso später – ein unverzichtbarer Beitrag zu Gewaltpräventi- wenig ein Symbol deutscher Großmachtfantasie, wie die (B) on, zu Friedenserhaltung, zu Konfliktlösungen und zum Korvette „Erfurt“ ein Symbol thüringischer Großmacht- (D) Dialog . fantasien ist . Vielmehr ist UNIFIL die Geschichte von engen, freundschaftlichen Beziehungen . UNIFIL setzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ein Zeichen in Düsternis und Zerstörung, in Krieg und bei der CDU/CSU und der SPD) Elend, die den Nahen Osten heute wieder prägen . Die Wir müssen nur den Beginn dieses Jahres anschauen, Mission kann uns ein klein wenig Hoffnung geben, weil als es einen Anschlag der Hisbollah gab, der dann auch sie zeigt, wie durch geduldige, praktische Zusammenar- mit einem israelischen Militärschlag beantwortet wurde . beit über Jahre Kompetenzen und Sicherheit aufgebaut Es braucht doch wirklich nicht viel Fantasie, sich vorzu- werden können und wie damit zugleich Vertrauen und stellen, wie aus einem solchen Vorfall eine neue Eskala- Freundschaft wachsen . tionsdynamik entstehen kann, eine weitere Krise in der Die Operation UNIFIL ist eine erfolgreiche Friedens- Region oder ein Aufflammen alter Konflikte. Das wäre mission . Sie dient der Begleitung der Waffenruhe zwi- doch verheerend . UNIFIL ist im Libanon genau die Mis- schen dem Libanon und Israel, unterstützt die libanesi- sion, die das verhindert . sche Regierung bei der Grenzsicherung und hilft beim Es ist das einzige Forum, das direkte Gespräche zwi- Kampf gegen den Waffenschmuggel . Die Weltgemein- schen den beiden Parteien Israel und Libanon ermöglicht . schaft kann diese Aufgabe aber nicht dauerhaft überneh- Und, Herr Gehrcke, weil Sie die Frage gestellt haben, men . Unser deutscher Beitrag fokussiert sich daher zu warum sich Deutschland daran noch beteiligen muss, Recht auf die Ausbildung . Wir wollen mithelfen, die Fä- sage ich Ihnen: Wir wurden nicht nur damals von beiden higkeiten der libanesischen Marine so auszubauen, dass Staaten darum gebeten, sondern wir werden auch heute sie zukünftig in der Lage sein wird, Küste und Territorial- wiederholt darum gebeten . Sie bitten um den deutschen gewässer selbstständig zu überwachen . Die libanesische Beitrag, und sie honorieren ihn ausdrücklich . Die Mis- Marine wird zunehmend in die Aufgaben des internatio- sion übernimmt aber auch Aufgaben in den Bereichen nalen Flottenverbandes integriert und lernt so praktisch, Grenzsicherung und Unterbindung des Waffenschmug- die Herausforderungen später selbst zu meistern . gels über den Seeweg oder im Rahmen der Ausbildung UNIFIL war durchaus erfolgreich, gerade was den der libanesischen Sicherheitskräfte . Waffenschmuggel angeht . Aber Aufbau und Training der Auch wenn es manchmal schwerfällt, positive Ent- libanesischen Marine verlangen einen längeren Atem . wicklungen auszumachen, und auch wenn klar ist, dass Wir wollen kein Strohfeuer, sondern nachhaltige Erfolge . ein Waffenstillstand und eine Friedensmission nicht au- Mit dem künftigen Eigenschutz der libanesischen Küste tomatisch sicheren und gefestigten Frieden bedeuten, werden die ausgebildeten Soldaten einen Beitrag zur Sta- 17118 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Florian Hahn (A) bilität in der Region und damit auch zu unserer Sicher- Ausschuss für Arbeit und Soziales (C) heit leisten . Die UNIFIL-Präsenz ist weiterhin einer der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Sicherheits- und Stabilitätsfaktoren, der deeskalierend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- wirkt . Auch die Streitkräfte sind ein beruhigendes, die schätzung Nation insgesamt verkörperndes Element . Sie werden in Haushaltsausschuss der Bevölkerung als professionell, integer und überkon- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für fessionell wahrgenommen . Wenn wir ihnen weiter hel- die Debatte 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre keinen fend zur Seite stehen, können sie eine positive Rolle in Widerspruch . Dann ist so beschlossen . einem künftigen Libanon spielen, einem Libanon, der für sich selbst entscheidet, der nicht Spielball rivalisierender Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen . – Ich eröffne Mächte in der Region ist . die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin Karin Binder, Wie helfen wir darüber hinaus? Die Beteiligung am Fraktion Die Linke . Flottenverband ist – genauso wie bei praktisch allen an- (Beifall bei der LINKEN) deren unseren Mandaten – nur Teil eines umfassenden Engagements für den Libanon und die gesamte Region . (DIE LINKE): Deutschland hilft dem Libanon bei der Verbesserung der Karin Binder Flüchtlingssituation, bei der kommunalen Infrastruktur, Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen beim Hariri-Tribunal und bei der Grenzsicherung . und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besu- chertribünen! Kita- und Schulverpflegung ist in Deutsch- Unser deutscher Beitrag im Rahmen von UNIFIL land mangelhaft . Das wissen wir schon lange, aber spä- zeichnet sich durch sein einleuchtendes Konzept aus, das testens seit einer Studie von Professor Arens-Azevedo unmittelbaren Nutzen bringt . Die konsequente, verläss- von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften liche Verfolgung wertvoller Ziele ist in unserer kurzle- Hamburg müssten es auch die Kolleginnen und Kollegen bigen Zeit nichts Selbstverständliches . Wir stehen zum im Hohen Hause wissen . Die Qualität erfüllt ernährungs- Libanon und zu seinen Streitkräften . Das wissen unsere gesundheitliche Anforderungen nicht . Die Mahlzeiten libanesischen Freunde zu schätzen . Lassen Sie mich ab- sind zu fett, zu süß, enthalten zu wenig frisches Obst und schließend aber auf eines hinweisen: Die deutsche Mari- frisches Gemüse, es fehlt an Vitaminen und Ballaststof- ne ist zurzeit in einer ganzen Reihe von Einsätzen gefor- fen, und es fehlt am Geschmack . Es fehlt an Geld, es fehlt dert . Sie operiert an der Belastungsgrenze . Es ist daher an Fachleuten und geeigneten Räumen . All das wissen richtig, dass wir in der Koalition bei Haushalt, Personal wir; aber bisher wird nichts dagegen getan . Nur die Hälf- und auch Investitionen in der Bundeswehr umgesteuert te der Schülerinnen und Schüler in Ganztageseinrichtun- haben . Im Einzelnen müssen wir sehen, ob das perspekti- (B) gen geht überhaupt zum Essen . Auch das war eine Er- (D) visch wirklich ausreicht . Für Deutschland als Handelsna- kenntnis dieser Studie . Ich frage mich: Warum wohl? tion ist klar: Eine schlagkräftige und weltweit einsetzbare Marine bleibt von essenzieller Bedeutung . Kinder aus armen Familien werden, wie wir unter an- derem aus der Bild-Zeitung und anderen Medien wissen, Herzlichen Dank . vom Essen ausgeschlossen, wenn die Eltern nicht bezah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- len . Wo soll das bitte schön hinführen? Es muss uns doch ordneten der SPD) klar sein, dass solche Zustände Folgen für die gesund- heitliche Entwicklung und den Lernerfolg dieser Kinder haben, ganz abgesehen davon, dass das eine Diskrimi- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nierung ist – und das in unserem Schulsystem . Ich denke, Vielen Dank .– Der Kollege Hahn war der letzte Red- dagegen müssen wir etwas tun . ner in dieser Debatte . Damit schließe ich die Aussprache . (Beifall bei der LINKEN) Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass die Vorlage auf Drucksache 18/8624 an die in der Tages- Wer das Problem bisher nicht verstanden hat, der hat ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . – Ich wirklich ein Problem . Der hat nichts dazugelernt, und das sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist die Über- heißt: Die Versetzung ist gefährdet . weisung so beschlossen . Die Linksfraktion hat deshalb bereits Anfang des Jah- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: res eine Fachtagung mit dem Titel „Bausteine für gutes Kita- und Schulessen“ durchgeführt . Es ging uns darum, Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin uns noch einmal mit allen Akteuren, mit Schülerinnen Binder, , Herbert Behrens, weiterer und Schülern, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Men- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE schen aus den Kommunen, mit Menschen aus den Ein- Bundesprogramm Kita- und Schulverpfle- richtungen, aus den Küchen, mit den Trägern und den gung – Für alle Kinder und Jugendlichen eine Schulleitungen, darüber zu verständigen, was wirklich hochwertige und unentgeltliche Essensversor- notwendig ist, um daraus abzuleiten, wie viel uns das gung sicherstellen kosten wird . Drucksache 18/8611 Allen, die dabei waren, ist ganz klar geworden, was Überweisungsvorschlag: gute Kita- und Schulverpflegung auszeichnet. Erstens. Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Es muss schmecken . Dazu gehört, dass wir die Kinder Finanzausschuss und die Jugendlichen beteiligen; denn nur, wenn wir Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17119

Karin Binder (A) sie fragen, was sie mögen, besteht die Option, dass die Ich kann jedoch nicht abstreiten, dass das Grundanlie- (C) Kinder und Jugendlichen das auch essen . Zweitens . Es gen Ihres Antrages für eine bessere Essensversorgung in muss frisch gekocht werden; denn nichts ist schlimmer Kitas und Schulen in Ordnung ist . Da stimme ich Ihnen als Essen, das seit Stunden warm gehalten in der Gegend vom Ansatz her zu . Über den Weg zum Ziel aber müssen herumsteht . Das würden wir Erwachsene nicht zu uns wir streiten . Hochwertig und kostenlos schließen sich nehmen wollen, und die Kinder wissen auch, was gut meines Erachtens aus . Gutes Essen hat seinen Wert . Und und schlecht ist . Also wird es nicht gegessen . Das muss was gut ist, kostet auch etwas . Der Umkehrschluss „Was geändert werden . Es muss frisch gekocht werden . nichts kostet, ist nichts wert“ ist schnell gezogen und lei- der häufig Realität. Da wird schon einmal zu viel auf die (Beifall bei der LINKEN) Teller gepackt, und die Reste werden einfach weggewor- Ein ganz wichtiger Punkt ist: Wir brauchen bundes- fen . Dieses Phänomen kennt wohl jeder von uns bei der weit einheitliche Standards . Wenn wir hier im Bund nicht Selbstbedienung an reichlich gedeckten Büfetts . festlegen, dass eine bestimmte Qualität gewährleistet ist, werden wir immer die Situation haben, dass es Caterer (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein!) bzw . Anbieter gibt, die ein Essen anbieten, das nicht Ich sage nicht, dass Kinder genauso mit dem Essen um- einmal die 1,50 Euro wert ist, die es kostet . Sprich: Wir gehen; aber ich bin der Meinung, dass hochwertige Kita- brauchen Qualitätsstandards, die verbindlich geregelt und Schulverpflegung schon etwas kosten darf, wenn werden müssen . Und ich sage Ihnen eines, liebe Kolle- nicht sogar etwas kosten muss . Es wundert mich ohne- ginnen und Kollegen: Wer bestellt, der zahlt . Wenn also hin, dass Sie mit Ihrem Antrag das kostenlose Schulessen der Bund will, dass die Träger Standards einhalten, dann für alle fordern, also auch für die Familien, die es sich muss er auch klären, wie das finanziert wird. Ich behaup- ohne Weiteres leisten könnten, das Essen für ihre Kinder te eines: Diese Gesellschaft hat sehr viel davon, wenn die zu bezahlen . Ich persönlich würde da schon eine Gren- Kinder anständig versorgt werden . Ich möchte nur daran ze ziehen und das unentgeltliche Essen nur den wirklich erinnern, wie viel Geld die Krankenkassen in die Hand bedürftigen Kindern zukommen lassen . Aber das ist nur nehmen müssen, um ernährungsbedingte Krankheiten zu eine ganz persönliche Bemerkung am Rande . behandeln . Das sind jedes Jahr zig Milliarden Euro . Ich wünsche mir, dass wir diese volkswirtschaftliche Rech- Eine viel wichtigere Frage lautet: Was ist überhaupt nung aufmachen, um dann auch über die Finanzierung hochwertig? Bedeutet es, nur Fleisch und Fisch aus art- einer vernünftigen Verpflegung für alle Kinder und Ju- gerechter Tierhaltung zu verwenden oder nur saisonale gendlichen zu beraten . oder regionale Produkte zu verarbeiten? Oder bedeutet Danke schön . „hochwertig“, nur Lebensmittel aus biologischem Anbau (B) zu beziehen? Und ist dies automatisch gesünder? (D) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Darf ich Sie hier einmal unterbrechen, Frau Kolle- Vielen Dank . – Als Nächste hat Katharina Landgraf, gin? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin CDU/CSU, das Wort . Leidig? (Beifall bei der CDU/CSU) Katharina Landgraf (CDU/CSU): Katharina Landgraf (CDU/CSU): Ja, bitte . Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wunsch der Linken nach einer hochwertigen und gleich- zeitig kostenlosen Essensversorgung an Kitas und Schu- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: len ist nicht mehr als ein frommer Traum . Bitte schön . (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man wird Sabine Leidig (DIE LINKE): doch einmal träumen dürfen!) Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass es Ih- Klar, Wunschzettel schreiben die Linken bekanntlich rer Meinung nach ausgenutzt wird, wenn Dinge kostenlos nicht nur vor dem Weihnachtsfest . Das tun sie eigentlich zur Verfügung gestellt werden, und dass Menschen, die immer . Wer es bezahlt, ist doch egal . Wer in unserer staat- wirklich bedürftig sind, nicht ausreichend berücksichtigt lichen Ordnung eigentlich zuständig ist, ist auch egal . werden, wenn alle etwas kostenlos nutzen können . Nun (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist über- möchte ich Sie einmal fragen: Wie schätzen Sie eigent- haupt nicht egal!) lich den kostenlosen Fahrdienst des Deutschen Bundes- tages ein, der allen Abgeordneten zur Verfügung steht, Hauptsache, der Wunschzettel ist lang und umfassend obwohl niemand von uns auf diese kostenlose Dienstleis- und ignoriert das bereits Erreichte . tung angewiesen ist und obwohl kaum eine andere gro- (Beifall bei der CDU/CSU) ße Stadt ein so toll ausgebautes Nahverkehrssystem wie Berlin hat, das wir selbstverständlich nutzen können? Ich sage nur: Föderalismus! Haben Sie davon schon ein- Fahren Sie denn mit diesem Fahrdienst kreuz und quer mal gehört? durch Berlin, nur weil er kostenlos ist? 17120 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Katharina Landgraf (CDU/CSU): infrage zu stellen; meine Zeit reicht nicht aus, weitere (C) Ich fahre sehr selten damit, nämlich nur, wenn ich mit Details zu nennen . Sie können in den Portalen der Bun- meinem Fahrrad oder der U-Bahn irgendwo nicht hin- desregierung, insbesondere des Bundesministeriums komme . für Ernährung und Landwirtschaft, nachlesen, was zum Thema „gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche“ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon alles gemacht wird und was geplant ist . Ich wün- Außerdem finde ich den Vergleich völlig unpassend. sche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links- fraktion, viel Freude beim Studium dieser Materialien . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vielen Dank . Sie können es ja beobachten: Wenn Sie aus einem Auto der Fahrbereitschaft aussteigen, komme ich vielleicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rade mit dem Fahrrad vorbei . Daran sehen Sie, wie unter- ordneten der SPD) schiedlich man mit diesem Angebot umgehen kann . Es geht hier darum, ob etwas automatisch gesünder Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ist, wenn es bio ist . Das wird pauschal von einem Groß- Vielen Dank .– Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt teil der Bevölkerung so angenommen . Es entspricht aller- der Kollege Özcan Mutlu das Wort . dings nicht der Wahrheit, finde ich. Gerade gestern hatte ich einen Wissenschaftler von der Leibniz-Gemeinschaft Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu Gast . Er bestätigte mir, dass Biolebensmittel nicht per Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! se gesünder sind als herkömmlich erzeugte . Liebe Kollegin Landgraf, eines ist aber sicher – das wer- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den auch Sie nicht bestreiten –: Bio enthält keine Schad- NEN]: Aber auch nicht ungesünder!) stoffe, und damit ist es doch definitiv gesünder. – Das habe ich nicht gesagt. – „Bio“ definiert sich näm- (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Eventuell lich durch eine ökologische und nachhaltige Art des An- auch nicht!) baus; nachhaltig ist ja auch mein Fahrradfahren . Die Le- bensmittel enthalten deswegen aber nicht mehr Vitamine Das sollten Sie endlich einmal akzeptieren . und Nährstoffe . Die große Bedeutung einer gesunden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ernährung für Kinder ist jedoch erwiesen . Ich freue mich sehr, dass wir im Bundestag erneut Als besonders positiv möchte ich das Schulmilch- und über das wichtige Thema der Versorgung unserer Kinder (B) Schulobstprogramm der EU hervorheben . Das Parlament in Kitas und Schulen mit gesundem Mittagessen reden (D) konnte im Frühjahr dieses Jahres eine Zusammenlegung können . Eine gesunde Lebensweise und eine gesunde beider Programme und eine Erhöhung der Finanzmittel Lebenskultur werden nämlich schon im Kindesalter er- um 20 Millionen Euro durchsetzen . Mit dieser Vereinfa- lernt . Wo, wenn nicht in der Kita oder in der Schule, soll- chung und dem gleichzeitigen Wegfall des Eigenanteils te das geschehen? der Länder bietet sich die Chance, dass Kinder in allen Bundesländern von beiden Programmen profitieren. Die (Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Zu Hause!) Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teilnehmen, Daher sehen wir Grüne den Ausbau einer gesunden Ge- verpflichten sich auch zu pädagogischen Maßnahmen. meinschaftsverpflegung als einen wichtigen Baustein, Dabei sollen die Kinder aufgeklärt werden über lokale auch um soziale Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und Lebensmittelketten, ökologischen Landbau, nachhaltige Jugendliche, die viel Zeit in Kita und Schule verbringen, Erzeugung oder die Bekämpfung von Lebensmittelver- brauchen gerade dort hochwertiges und gesundes Essen . schwendung . Sie sollen auch der Landwirtschaft wie- Die Forderungen im Antrag der Linken gehen daher in der nähergebracht werden; ich erinnere nur an den Tag die richtige Richtung und decken sich zum größten Teil des offenen Hofes . Dabei ist das Wissen über gesunde mit unseren Forderungen, allerdings mit einem gewissen Ernährung der zentrale Bestandteil . Dieser wird im We- Unterschied: Wir Grüne meinen, dass sich Eltern, die sentlichen im Kindesalter erlernt und gebildet . Die hier dazu in der Lage sind, einkommensabhängig an der Fi- erworbenen Ernährungsmuster und Geschmacksmuster nanzierung der Schulverpflegung beteiligen sollen. Wir behalten Kinder und Jugendliche häufig ein Leben lang. haben in vielen Bundesländern bereits sogenannte sozial Die Evaluationen des Schulmilch- und Schulobstpro- gestaffelte Systeme, die gut laufen . Es ist eine Binsen- gramms haben eine deutliche Zunahme der Beliebtheit wahrheit und längst durch Studien erwiesen, dass viele und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse ergeben . Eltern bereit sind, mehr zu bezahlen, wenn sichergestellt Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die Wich- wird, dass ihre Kinder gutes und gesundes Mittagessen in tigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil einer den Schulen oder Kitas bekommen . gesunden Ernährung . Ich appelliere also an alle Bundes- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- länder, die sich noch nicht an diesen Programmen betei- SES 90/DIE GRÜNEN) ligen, dies zum Wohle der Kinder schnell nachzuholen .

(Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: An Sie von der Linksfraktion appelliere ich, das Er- Herr Mutlu, die Kollegin Hein möchte Ihnen eine reichte in den Kommunen und auf Bundesebene nicht Zwischenfrage stellen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17121

(A) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unterstützungs- und Infrastrukturmaßnahmen für den (C) Nein, ich habe nur vier Minuten Redezeit . Ausbau einer gesunden Kita- und Schulverpflegung för- dern . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Was war Das ist egal; ich stoppe die Zeit . Aber Sie können auch denn das?) gerne weiterreden . Das haben wir mit dem Ganztagsschulprogramm vorge- macht, und das können wir wiederholen . Dabei helfen Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir Ihnen gerne . Danke sehr, Frau Präsidentin . Ich möchte gerne im Redefluss bleiben und deshalb keine Fragen zulassen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ( [CDU/CSU]: Würde nur Aber Sie bitte nicht mehr, Herr Kollege Mutlu; denn stören!) Sie haben Ihre Redezeit um fast eine Minute überzogen . Was allerdings nicht läuft – das ist eine Tatsache –, Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist die Ernährungspolitik dieser Bundesregierung und Ein letzter Satz noch . des Ministers Schmidt . Immer wieder nur Berichte und Gutachten über den Sachstand der Kita- und Schulver- pflegung in Auftrag zu geben und dann teilweise über die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: schlechte Qualität des Essens zu lamentieren, welche uns Aber ein allerletzter . seit Jahren bekannt ist, reicht uns eben nicht . Es reicht uns auch nicht, dass teure Plakatkampagnen in Auftrag Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gegeben werden, die keiner versteht . Die 2,3 Millionen Danke, Frau Präsidentin .– Gemeinsam mit den Län- Euro Bundesmittel, die Minister Schmidt für seine letzte dern müssen unserer Meinung nach auch die Vernet- Kampagne investiert hat, wären vor Ort viel notwendi- zungsstellen Schulverpflegung gestärkt werden. Diese ger und viel besser investiert . Alle hier im Hause wissen: müssen zu Kompetenzzentren der Gemeinschaftsverpfle- Der Ausbau der Ganztagsschulen, der auch einhergeht gung ausgebaut werden, mit einer Versorgung der Kinder mit gesundem Essen, kommt vielerorts nicht voran . Im Gegenteil: Es wird (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Wird ja noch Jahrzehnte dauern, bis in der Republik ausreichend gemacht!) Ganztagsschulplätze mit Mensen vorhanden sind . Noch damit der Markt nicht irgendwelchen Großanbietern (B) etwas ist eine Binsenwahrheit: Ohne finanzielle Betei- überlassen wird . (D) ligung des Bundes können die Länder den Ausbau der Ganztagsschulen nicht stemmen . Deshalb – das werden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . wir in diesem Hause immer wiederholen – muss das Ko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) operationsverbot endlich auch für den Schulbereich ab- geschafft werden . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank .– Die Kollegin Hein hat um eine Inter- und bei der LINKEN) vention gebeten . Ich erinnere aber daran, dass es sich um Es muss abgeschafft werden, damit Kooperationen zwi- eine Kurzintervention handelt . schen Bund und Ländern im Interesse der Kinder und Ju- gendlichen möglich sind . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Der Minister lobt landauf, landab die gute Idee ei- Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Herr Mutlu, schade, nes Kompetenzzentrums zur Schulverpflegung; aber ein dass Sie meine Frage nicht zugelassen haben . Ich wollte Konzept dazu hat er bisher nicht geliefert . Stattdessen Sie nämlich an unsere gemeinsame Ausschussreise nach berichtete er gestern im Ausschuss für Ernährung und Schweden und Finnland erinnern . In Finnland konnten Landwirtschaft, dass beim Thema „eigenes Schulfach wir an einem kostenlosen Schulessen teilnehmen, das Ernährung“ große Dinge von ihm zu erwarten seien dort allen Kindern zur Verfügung steht . Ich wollte Sie und dass er demnächst bei der KMK dazu vorsprechen fragen, ob Sie mir bestätigen würden, dass wir dort kei- werde . Was glauben Sie wohl, was passiert? Werden die neswegs die Erfahrung gemacht haben, dass Schulkin- Kultusministerinnen und Kultusminister ihren Beschluss der dieses kostenlose Schulessen nicht wertschätzen, von 2013 verwerfen und sich einem Minister mit sponta- sondern dass sie sich dieses vollwertige Schulessen in nen und fixen Ideen anschließen? Wohl nicht! Wir sagen eigener Verantwortung selbst von einem großen Tresen wie die Ernährungsexpertinnen und -experten im ganzen nehmen und damit sehr vernünftig umgehen . Da Sie mei- Land, dass die Forderung nach einem eigenen Schulfach ne Frage nicht zugelassen haben, muss ich das jetzt über Ernährung als kontraproduktiv und eventuell sogar als eine Kurzintervention machen . Ich würde auch gerne der schädlich angesehen werden kann . Kollegin von der CDU/CSU-Fraktion sagen, dass ihre Annahme falsch ist . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen ist es sehr schwierig, in Deutschland Die Bundesregierung muss die ernährungspolitische überhaupt ein kostenloses und gesundes Mittagessen in Dynamik der rot-grünen Koalition wiederbeleben und den Schulen anzubieten – nicht nur in Ganztagsschulen, 17122 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Rosemarie Hein (A) sondern in allen Schulen . Es gibt nur ein einziges Bun- die Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu unterstützen (C) desland, in dem für alle Schulen vorgeschrieben ist, dass und Mindeststandards für Caterer einzuführen, die Essen ein angemessenes, vollwertiges Mittagessen bereitzuhal- an Kitas und Schulen anbieten . Es sollen nur noch die ten ist, und zwar zu sozialverträglichen Preisen . Diese Anbieter einen Zuschlag erhalten, die nach den Quali- Regelung ist seit Mitte der 90er-Jahre im Schulgesetz tätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung von Sachsen-Anhalt enthalten . Das reicht nicht aus, zeigt zertifiziert sind. aber immerhin, dass es geht . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielen Dank . (Beifall bei der LINKEN) So hat beispielsweise das Land Berlin den Wandel vom Preis- zum Qualitätswettbewerb in der Ausschreibungs- praxis bereits eingeleitet . An die Erfahrungen kann dann Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auch das Nationale Qualitätszentrum Schulverpflegung Vielen Dank .– Der Kollege Mutlu verzichtet auf eine gut anknüpfen, wenn es endlich seine Arbeit aufnimmt . Antwort . Im Ernährungspolitischen Bericht habe ich gelesen: Das Dann hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für soll noch in diesem Jahr der Fall sein . die SPD das Wort . Letztendlich kann es nicht die Lösung sein, den Län- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern und Kommunen die DGE-Verpflegungsstandards der CDU/CSU) einfach per Gesetz aufzuzwingen . Daher teile ich die Auffassung, dass sich der Bund an der wichtigen gesamt- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): gesellschaftlichen Aufgabe, eine hochwertige, gesunde Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Schulverpflegung sicherzustellen, finanziell beteiligen Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Eine sollte . Auch der Vorschlag, die Mehrwertsteuersätze für gesunde Ernährung ist die Grundlage für ein gesundes Gemeinschaftsverpflegung zu überdenken, findet meine Leben und die Basis für einen guten Start ins Leben . Sympathie . Es gibt aber immer mehr Kinder, die am verborgenen Die Forderung nach einer grundsätzlich kostenlosen Hunger leiden, dem sogenannten Hidden Hunger . Das Schulverpflegung halte ich hingegen für falsch. Es ist heißt, sie werden jeden Tag satt, aber ihnen fehlen in der durchaus vertretbar, dass sich Eltern an den Essenskos- Nahrung wichtige Nährstoffe, die für eine gesunde Ent- ten angemessen beteiligen . Seit langem diskutieren wir wicklung nötig sind . Die Folgen sind dramatisch: Eine darüber, wie wir die gesellschaftliche Wertschätzung von ungesunde Ernährung erhöht nicht nur das Risiko, an Lebensmitteln wieder stärken können . Wir wissen doch (B) Diabetes oder Adipositas zu erkranken . Eine ungesunde (D) aus eigener Erfahrung nur allzu gut, dass der Preis dabei Ernährung beeinträchtigt auch die Bildungsleistung und eine wichtige Rolle spielt . Wenn wir also wollen, dass hat somit Auswirkungen auf den gesamten späteren Le- Kinder möglichst früh einen verantwortungsvollen Um- bensweg . Für die SPD ist es deshalb ein Gebot sozialer gang mit Nahrungsmitteln lernen, dann sollten sich ihre Gerechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen eine aus- Eltern auch darüber im Klaren sein, dass eine hochwerti- gewogene und hochwertige Ernährung sicherzustellen . ge Schulverpflegung etwas kostet. Unser erstes Ziel muss (Beifall des Abg . Willi Brase [SPD]) es deshalb sein, sicherzustellen, dass das Essensgeld für alle Eltern bezahlbar ist und so alle die Möglichkeit ha- Es steht außer Frage, dass der Schulverpflegung bei der ben, an einem hochwertigen Schulessen teilzunehmen . Erfüllung dieser Aufgabe eine wichtige Funktion zu- kommt . Vielen Dank . Es ist längst überfällig, dass wir eine offene Debatte über eine vernünftige – ich sage: vernünftige – Finanzie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung der Schulverpflegung führen. Daher begrüße ich es der CDU/CSU) sehr, dass wir mit dem heute vorliegenden Antrag dazu einmal Gelegenheit haben . Allerdings möchte ich gleich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: vorwegnehmen, dass uns eine lange Liste mit Wünschen allein – wir haben gerade schon einige gehört – in der Danke schön .– Jetzt spricht die Kollegin Marlene Sache nicht weiterbringen wird . Tatsächlich kann uns die Mortler für die CDU/CSU-Fraktion . heutige Qualität der Schulverpflegung nicht zufrieden- stellen . Hier haben wir schon einen großen Aufholbedarf . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Mahlzeiten an vielen Kitas und Schulen sind weder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ausgewogen noch bei den Schülerinnen und Schülern be- Kochen will gelernt sein, genauso wie Anträge schrei- liebt . Ich spare mir, an dieser Stelle die Mängel aufzuzäh- ben . Gerade in Bezug auf Ihren Antrag möchte ich sagen: len; wir kennen sie . Drücken Sie in Zukunft etwas weniger Copy-and-paste, dann kommt auch etwas Neues heraus . Mit unserem Antrag haben wir im vergangenen Jahr bereits wichtige Vorhaben beschlossen, beispielsweise, (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17123

Marlene Mortler (A) Denn wir reden heute über nichts Neues . Wir reden über rechnet, aber bei Ihrem letzten Antrag – inzwischen ist (C) einen Antrag, der schon mehrfach gestellt worden ist, ge- die Kita dazugekommen – ging es um eine zweistellige fühlt schon viel zu oft . Milliardensumme . (Karin Binder [DIE LINKE]: Weil sich in der (Karin Binder [DIE LINKE]: Nein, um ein- Zwischenzeit nichts getan hat!) stellige!) Ich verstehe Ihren Ausgangspunkt . Wir alle in die- – Nein . Das ist jetzt meine Version . Wenn jeder etwas sem Haus sind uns einig, dass eine gute, eine gesunde bekommen soll, dann geht es um eine zweistellige Mil- Ernährung in jungen Jahren die entscheidende Basis für liardensumme . das spätere Leben legt . Ich glaube, das ist eine Selbst- Ich finde, wir dürfen die Länder nicht aus der Verant- verständlichkeit . Aber wenn ich Sie so reden höre, frage wortung entlassen . Ich will vielmehr wissen: Was ma- ich mich: Wo leben wir eigentlich? Sie reden über Dinge, chen denn Ihre Bundesländer? Welchen Beitrag leisten die in vielen Bundesländern, vor allem in Bayern, längst sie zur Ernährungsbildung, zur Qualität der Schul- oder selbstverständlich sind . Kitaernährung? Das Schulfach Ernährung gibt es in Bayern fächer- übergreifend . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Kollegin . In Bayern ist es auch selbstverständlich, dass Grund- schulkinder regelmäßig auf Bauernhöfe gehen, dass sie Marlene Mortler (CDU/CSU): die Zusammenhänge lernen von Säen, Wachsen, Ernten Welchen Beitrag leisten sie im Zusammenhang mit der und Essen, damit sie wissen, dass das Lebensmittel nicht Finanzierung von Schulvernetzungsstellen, die auch im aus dem Supermarktregal kommt, sondern vom Acker Bund geboren sind? Oder welches Land finanziert zum bzw . aus dem Stall, damit sie wissen, wie ein Lebensmit- Beispiel Lernküchen? Das sind Fragen, über die man re- tel schmeckt, wie es riecht, wie man es genießen kann . den sollte, bevor wir hier leichtfertig einem Antrag unse- All diese Dinge sind selbstverständlich . Aber ich gebe re Zustimmung geben . Wir als CDU/CSU lehnen diesen zu: Man kann immer noch mehr machen . Antrag auf alle Fälle ab . Sie werfen nun dem Bund vor, dass gar nichts passiert (Beifall bei der CDU/CSU) wäre . Dabei ist schon unter jede Menge pas- siert . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) (Beifall bei der CDU/CSU) Darf ich Sie kurz fragen, ob Sie noch eine Frage der (D) Kollegin Binder gestatten? Sie haben nämlich noch et- Beim nationalen Aktionsplan „IN FORM“ geht es bei- was Zeit . spielsweise nicht nur um gesundes Essen, sondern auch um Bewegung, also um einen gesamtheitlichen Ansatz . (CDU/CSU): Die Landfrauen im Deutschen LandFrauenverband ha- Marlene Mortler ben sich dem Projekt „SchmExperten“ gewidmet, in dem Bitte schön . man Schülerinnen und Schülern spielerisch zeigt, wie Essen geht, dass man Essen auch genießen kann und das Karin Binder (DIE LINKE): man Essen vor allem auch wertschätzen kann und muss . Liebe Frau Kollegin Mortler, also: Es geht nicht um Das sind wenige Beispiele, aber ich denke, es sind gute einen zweistelligen Milliardenbetrag, es ging in unserem Beispiele . Antrag aus der letzten Legislaturperiode um 8 Milliarden Euro . Wir haben deshalb extra diese Tagung veranstaltet, Was soll der Bund denn noch machen? Im Grunde ge- bei der wir wirklich versucht haben, im Detail die Kosten nommen hat er die entscheidenden Projekte seit Jahren zu ermitteln . Ich lasse Ihnen das gern im Zusammenhang vorgelegt, den Bundesländern sogar mundgerecht vorge- mit der Ausschussberatung zukommen, dass Sie sehen, legt, sie müssen sie nur abrufen . Damit bin ich bei Ihrer wie sich die einzelnen Kosten zusammensetzen . Da- eigentlichen Forderung . durch sind wir auf die Kosten von 4,50 Euro pro Kind im Sie fordern in Ihrem Antrag, dass ein Kind in Kita oder Durchschnitt gekommen . Das würde einen Betrag von Schule in Zukunft vom Bund mit mindestens 4,50 Euro etwa 6 Milliarden Euro im Jahr ausmachen . unterstützt werden muss . Wenn Sie so weitermachen mit Weitere 2 Milliarden Euro werden durch die Länder Ihren Forderungen, dann brauchen wir die Bundesländer und die Kommunen zu bestreiten sein, weil es Trägerkos- nicht mehr, dann kann der Bund in Zukunft alles selber ten gibt . Allein die Vorhaltung von Räumen etc . kostet bezahlen . Geld, das ist ganz klar . Wenn Sie dem aber gegenüber- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stellen, wie wir Dienstwagen und andere Dinge in diesem Land bezuschussen oder durch Steuererleichterungen be- Aber Bildung ist bis zum heutigen Tag Ländersache . günstigen, dann muss ich Sie ehrlich fragen: Was ist Ih- (Karin Binder [DIE LINKE]: Es geht um nen mehr wert? Die Kinder und deren Zukunft und damit Essen und erst einmal nicht um Bildung!) auch unsere Zukunft oder so etwas? Zur Bezahlung des Essens . Wir müssen uns die Grö- Das ist eine volkswirtschaftliche Rechnung, die man ßenordnung vor Augen halten . Ich habe es nicht ausge- aufstellen kann . Wenn ich weiß, dass allein 20 Milliar- 17124 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Karin Binder (A) den Euro pro Jahr für Diabetes aufgewendet werden müs- wollen . Frau Binder, manchmal habe ich wirklich den (C) sen – andere ernährungsbedingte Krankheiten sind dabei Eindruck, wir leben in verschiedenen Welten . noch gar nicht erfasst –, dann muss ich einfach sagen: Das ist eine gute Investition . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir hier Marlene Mortler (CDU/CSU): im Plenum häufig inhaltlich miteinander streiten, so eint uns doch – das hoffe ich wenigstens – die Auffassung, Ich weiß nicht, ob Sie ernst meinen, was Sie hier sagen dass jedes Kind in Deutschland Zugang zu einer gesun- und fordern . Ich kann mich erinnern, dass eine zusätzli- den und ausgewogenen Ernährung haben muss; denn che Forderung der Einbau von Schulküchen war . Wenn nur so können sich Kinder körperlich und geistig gut wir glauben, dass wir mit dieser Summe auskommen, entwickeln . Das hat meine Kollegin Elvira Drobinski- dann ist das eine vollkommen falsche Rechnung . Weiß gerade schon gesagt . Ich freue mich daher über die Wenn es um unsere Kinder geht, dann dürfen Sie mir Handlungsempfehlungen der Vernetzungsstellen Kita glauben . Ich kann Ihnen als Familienfrau, als dreifache und Schulverpflegung, die besagen, dass allen Kindern Mutter und als fünffache stolze Großmutter sagen: In der unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Teilnahme Familie muss beginnen, was in Staat und Gesellschaft an der Kita- und Schulverpflegung ermöglicht werden blühen soll . muss . (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ich mir wünschen, dass in allen Schulen und Kitas frisch ge- Dazu gehört neben Ihrem Antrag – und das ist für mich kocht wird, natürlich gemeinsam mit den Kindern und persönlich ganz wichtig – das Vermitteln von Ernäh- Jugendlichen . Ich weiß, die Realisierung meines Wun- rungswissen, das Miteinanderkochen, das Miteinander- sches liegt in weiter Ferne, aber wenn wir gemeinsam essen . Das kostet wenig, das bringt viel . Es bringt vor daran arbeiten, dann schaffen wir das eines Tages . Dazu allem für unsere Gesellschaft einen hohen Mehrwert . möchte ich Sie gerne auffordern . Dafür sollten wir kämpfen, dafür kämpfe zumindest ich . Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Kommunalpoli- Vielen Dank . tikerin habe ich mich schon immer darüber geärgert, dass bei der Vergabe der Mittagsverpflegung nicht der Beste zum Zuge gekommen ist, sondern der Preiswerteste . Da- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ran müssen wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen Vielen Dank, Frau Kollegin Mortler .– Dann hat jetzt dringend etwas ändern . als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die (B) Kollegin Ursula Schulte, SPD-Fraktion, das Wort . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der SPD) Durch das Bildungs- und Teilhabepaket ist es ja möglich, einen Zuschuss für das gemeinschaftliche Mittagessen zu bekommen . Der verbleibende Eigenanteil der Eltern Ursula Schulte (SPD): liegt dann bei 1 Euro pro Tag und Essen . Wenn das nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten geleistet werden kann, dann springen bei uns auch noch Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen Fördervereine ein . In Nordrhein-Westfalen ist die Welt und Kollegen! Alle Jahre wieder kommt das Christus- also auch in Ordnung . Ich glaube, da bleibt kein Kind kind, aber auch ein Antrag der Linken zum Thema hoch- ohne Mittagessen . wertige und kostenlose Kita- und Schulverpflegung. (Beifall des Abg . Willi Brase [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ Ich finde, gutes Mittagessen muss wertgeschätzt werden. DIE GRÜNEN]: Das ist wenigstens Kontinu- Was nichts kostet – Frau Landgraf, da haben Sie durch- ität!) aus recht –, ist auch nichts wert . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Anträge aus den vergangenen Jahren unterschei- den sich kaum, geben uns allen aber immer wieder die Deshalb fordern ja auch die Tafeln von ihren Kunden ei- Gelegenheit, über das wichtige Thema „Ernährung von nen kleinen Obolus . Kindern und Jugendlichen“ zu diskutieren . Wir müssen auch darüber sprechen; denn immer mehr Mahlzeiten Die Forderung nach einer unentgeltlichen Verpflegung verlagern sich aus dem familiären Umfeld in Kitas und für alle hat Charme . Sie ist unbürokratisch . Aber ist sie Schulen und damit auch in die Verantwortung von Kom- auch gerecht? Die Linke beklagt immer wieder die Un- munen, Trägern, Land und Bund . gleichheit in unserer Gesellschaft . Nur, warum muten Sie dann zum Beispiel einer Bundestagsabgeordneten nicht Allerdings, und das möchte ich betonen: Eltern geben zu, die Kita- und Schulverpflegung zu bezahlen? Die Ab- die Verantwortung für die Ernährung ihrer Kinder nicht geordnete wird dadurch ja nicht arm; einer Familie aus an der Kita- bzw . der Schultür ab . Sie können und sollen dem Niedriglohnsektor oder aus der sogenannten Mit- sich einmischen, sie können und sollen mitbestimmen . telschicht täte die Ersparnis dagegen richtig gut . Mehr Die Kampagne „Macht Dampf!“ unterstützt die Eltern Gerechtigkeit – das ist meine persönliche Meinung – er- dabei, und das ist gut so . Bei uns im Kreis Borken dür- zielt man nicht dadurch, dass man das Füllhorn über allen fen die Jugendlichen auch mitentscheiden, was sie essen ausgießt. Für mich gilt immer noch – das finde ich über- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17125

Ursula Schulte (A) haupt nicht altmodisch –: Starke Schultern tragen mehr verlängern – freiwillige gemeinsame Vereinbarungen (C) als schwache Schultern . treffen und Beschlüsse fassen kann, die die Planung der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Milchproduktion zum Gegenstand haben . Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele Initi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mit- ativen auf Bundesebene für gesünderes Essen, auch für gliedstaaten haben nun die erforderlichen Maßnahmen mehr Wissensvermittlung über eine gute Ernährung . Die zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarun- Kommunen und die Bundesländer sind auch nicht untä- gen und Beschlüsse die Funktionsfähigkeit des Binnen- tig . Ich will nur ein Beispiel nennen: „Alle Kinder essen marktes nicht untergraben und auf die Stabilisierung des mit“; das ist ein Härtefallfonds aus Nordrhein-Westfalen . Milchmarktes abzielen . Die Umsetzung ist also rechtlich Man kann jetzt klagen: Das sind alles nur Konzepte bzw . zwingend . Mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur kleine Schritte .– Das stimmt, aber sie führen in die rich- Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes der Frak- tige Richtung, und das ist entscheidend . tionen der CDU/CSU und SPD, Bundestagsdrucksa- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . che 18/8235, wird der Branche die Möglichkeit gegeben, auf freiwilliger Basis zur Begrenzung der Milchmenge (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zu kommen . Zusätzlich werden mit dem Änderungsan- trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD Regelungen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: über die Allgemeinverbindlichkeit in den Gesetzentwurf Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache . aufgenommen . Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8611 an die in der Tagesordnung auf- Unter Einbeziehung der im Änderungsantrag enthalte- geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit nen Regelungen eröffnet der Gesetzentwurf die Chance, einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist die dass deutlich weniger Milch produziert wird . Der Ge- Überweisung so beschlossen . setzentwurf ist zielführend, weil wir mit ihm die Voraus- setzungen schaffen, dass für einen begrenzten Zeitraum Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Mengenabsprachen zur Reduzierung der Rohmilchpro- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- duktion innerhalb der Branche getroffen werden können . nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- Damit nutzen wir eine Möglichkeit des europäischen wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Rechts, die allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich für Agrarmarktstrukturgesetzes sechs Monate mit der Option auf weitere sechs Monate, (B) Drucksache 18/8235 zur Verfügung steht . Deshalb ist eine zügige Verabschie- (D) dung dringend geboten, um der betroffenen Milchwirt- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- schaft jetzt die Möglichkeit zu geben, die Rohmilchpro- ses für Ernährung und Landwirtschaft (10 .Aus - duktion auf freiwilliger Basis zu regulieren . schuss) Drucksache 18/8646 Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Oppo- sitionsfraktionen trotz des Wunsches der Bundesländer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nach einer zeitnahen Verabschiedung des Gesetzentwur- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- fes der Abstimmung verweigert haben, ist angesichts der nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . existenziellen Marktkrise einfach verantwortungslos . Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege Kees de Vries von der CDU/CSU-Fraktion . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Nur mit weniger Milch auf dem Markt können die Prei- Kees de Vries (CDU/CSU): se steigen . Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen nachdem sich auch der Sektor für einen Ausstieg aus der und Kollegen! Es ist wohl unbestritten: Der Milchmarkt Quotierung ausgesprochen hat, außer Frage, dass es nicht befindet sich in einer sehr ernsten Marktkrise. Diese – Aufgabe der Politik ist, jetzt den Markt zu regulieren . ich glaube, da sind wir uns auch einig – kann nur ge- Hier sind die Wirtschaftsakteure selbst gefordert, kurz- löst werden, indem weniger Milch produziert wird oder fristig Lösungen zu finden. Mit der Änderung des Agrar- die Nachfrage steigt . Es gibt keine Anzeichen, dass die marktstrukturgesetzes schaffen wir dafür den rechtlichen Nachfrage schnell wieder steigen wird . Also muss es zu Rahmen . Nun ist es an der Branche selbst, ein deutliches einer Verringerung der Produktion kommen . Signal für eine bessere Steuerung des Milchangebots und Nun hat die Europäische Kommission mit Rechtsak- eine eventuelle Flexibilisierung der Marktstrukturen zu ten vom 11 .April 2016 für sowohl anerkannte als auch setzen . nicht anerkannte Erzeugerorganisationen die befristete Möglichkeit geschaffen, die Rohmilchproduktion auf Vielen Dank . freiwilliger Basis zu regulieren . Die Regelungen sehen vor, dass der Milchsektor befristet für eine Zeit von sechs (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Monaten – mit der Option, einmal um sechs Monate zu ordneten der SPD) 17126 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: he mit Molkereien und Handel zu bringen . Wir müssen (C) Vielen Dank . – Als Nächstes erhält die Kollegin Karin die Vertragsbedingungen zwischen den Bauern und den Binder das Wort für die Fraktion Die Linke . Molkereien auf den Prüfstand stellen . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Laufzeit, Abgabepflicht und auch Mindestpreise müssen Karin Binder (DIE LINKE): in diesen Verträgen zugesichert werden, wenn wir wol- Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kol- len, dass unsere heimischen Landwirte überleben . legen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertri- Eine aktuelle Untersuchung von Foodwatch zeigt: bünen! Die Koalition möchte mit den Änderungen zum Auch bei teuren Milchmarken kommt bei den Bäuerin- Agrar­marktstrukturgesetz den notleidenden Bauern in nen und Bauern kaum mehr an als bei den Billigproduk- der derzeitigen Milchkrise zu Hilfe kommen . Ich be- ten . haupte, Sie haben sich auf dem sogenannten Milchgipfel und mit den Änderungen zu diesem Gesetz für den fal- (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Un- schen Behandlungsweg entschieden . glaublich!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Für eine „Bärenmarke“-Milch, die im Laden 1,15 Euro neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kostet, erhält der Bauer genauso wenig wie für die billi- ge „ja!“-Milch, die für 46 Cent verkauft wird . Nur noch Sie hängen die Patienten, die Bauern, auf der Intensivsta- zwischen 23 und 27 Cent bekommt ein Bauer derzeit für tion an den Tropf . Das ist aber nicht mehr als eine le- einen Liter Milch . Verbraucherinnen und Verbraucher bensverlängernde Maßnahme und leider kein Heilmittel . sind gerne bereit, mehr zu bezahlen . Aber sie müssen Es ist sicher gut gemeint, aber wenn der Tropf abgehängt dann auch sicher sein können, dass das Geld bei den Er- wird, geht das Sterben weiter . zeugern ankommt und nicht in den Taschen der großen Wenn auch Sie im Sinne der Verbraucherinnen und Handelskonzerne landet . Verbraucher unsere heimische Landwirtschaft retten (Beifall bei der LINKEN) wollen, sollten Sie auf die Linke hören . Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, die (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Ab- heimische Landwirtschaft vor Ort zu stärken und zu un- geordneten der CDU/CSU – Dr .Wilhelm terstützen . Sie wollen regionale Kreisläufe . Sie sind sich Priesmeier [SPD]: Oh!) im Klaren über den hohen Wert der Lebensmittelerzeu- Wenn nicht, dann – das garantiere ich Ihnen – zahlen gung vor Ort in ihrer Region . Aber leider wird diese Re- (B) die Zeche die Bauern und die Verbraucherinnen und gionalität, die sich der Verbraucher wünscht, vom Handel (D) Verbraucher, und die vier großen Handelsunternehmen, oft nur vorgetäuscht und für Werbezwecke missbraucht . Handelsketten füllen sich die Taschen . Die Linke fordert Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden . deshalb eine nachfrageorientierte flexible Mengensteue- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . rung gegen Milchseen und Butterberge . Das könnte mög- Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE licherweise auch bei anderen Erzeugnissen wie Schwei- GRÜNEN]) nefleisch helfen. (Beifall bei der LINKEN) Es braucht ein verbindliches gesetzliches Siegel, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nicht an der Nase he- Sonst produzieren einige wenige Große immer mehr und rumgeführt werden können . Sonst ist alles schlicht Ver- drücken damit die Preise immer weiter in den Keller . Um braucherbetrug . das zu verhindern, sollten wir regionale Kreisläufe unter- stützen und fördern . Ich denke, hier brauchen wir die Verbraucherinnen und Verbraucher an der Seite der Landwirte und Land- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wirtinnen, damit die Lebensmittelsicherheit weiterhin hochgehalten wird und damit sich nicht einige wenige Deshalb fordern wir hier: Regionale Molkereien und zulasten der Verbraucher die Taschen füllen . regionale Erzeugnisse im Handel brauchen ein gesetzlich geschütztes glaubwürdiges Regionalsiegel . Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen faire Preise für heimische Lebensmittel, damit Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, dass Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ihr Geld tatsächlich beim Erzeuger landet . Dumpingprei- Vielen Dank .– Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der se und Lockvogelangebote bei Lebensmitteln gehören Kollege Dr .Wilhelm Priesmeier . ebenso verboten wie Spekulationsgeschäfte mit Lebens- mitteln auf internationalen Märkten . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

(Beifall bei der LINKEN) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Wir müssen das Kartellrecht stärken . Wir hatten Herrn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mundt, den Präsidenten des Kartellamtes, im Ausschuss . Sie haben eine etwas verquaste Vorstellung von Ökono- Es geht darum, Bauern und Landwirtschaft auf Augenhö- mie; aber das schadet vielleicht nicht . Bei Dosen- und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17127

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Kondensmilch haben wir einen Selbstversorgungsgrad bloße Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist nämlich (C) von 580 Prozent . noch lange kein Vertrag . Zwar gibt es Regelungen, die so ähnlich behandelt worden sind; aber davon wollen wir (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es weg . geht um reine Frischmilch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn man sich die Produktion anschaut, stellt man fest: Wir produzieren im Augenblick 32,4 Millionen Tonnen . Darüber hinaus wollen wir in diesem Zusammenhang Davon exportieren wir 50 Prozent . 37 Prozent gehen in mehr Wettbewerb, auch hinterher um das Produkt . Wir den Lebensmitteleinzelhandel, der Rest in andere Berei- müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass che . Dann erzählen Sie mir mal, warum ausschließlich später, wenn der Markt wieder funktioniert, jeder für das dieser Bereich dafür verantwortlich sein soll, dass das Produkt, das er erzeugt, ein gerechtes Entgelt bekommt . Preisniveau so weit unten ist . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Dinge, die Sie angesprochen haben, sind an sich gar nicht so schlecht, beispielsweise die Regionalisie- Wir haben gesagt, dass wir uns dieses Themas anneh- rung von Produkten; damit bin ich auch einverstanden . men werden . Das haben wir getan . Wir haben nach einem Aber so etwas kann nur wachsen, wenn regional auch intensiven Diskussionsprozess innerhalb der Koalition Mengen frei werden, nicht aber, wenn große Molkereien zumindest einen Konsens darüber erzielt, wie wir vorge- alle Mengen mitnehmen und irgendwo anders verarbei- hen wollen . Aus der ursprünglichen Vorlage, die in den tet wird . Auch dafür, dass das umgesetzt werden kann, Bundestag gekommen ist, haben wir etwas Ordentliches schaffen wir die Voraussetzungen . gemacht. Wir haben nämlich die Allgemeinverpflich- tung drangehängt und – mit einem Dank vor allen Din- Ich hoffe, dass wir den Weg, den wir jetzt beschreiten, gen nach Mecklenburg-Vorpommern, was die Abläufe nicht so schnell wieder beschreiten müssen . Die ganze betrifft – eine Fristverkürzung beim Bundesrat erreicht . Regelung wird nur für zwölf Monate wirksam sein, be- Der Agrarausschuss wird sich nächste Woche Dienstag ginnend mit dem 12 .April dieses Jahres, also bis zum mit dem Gesetzentwurf und mit der Verordnung beschäf- 12 .April nächsten Jahres . Darüber hinaus wäre dann zu- tigen . Ich gehe davon aus, dass wir am 17 . Juni dieses mindest auch noch die Kommission bzw . die Europäische Jahres beides in einem Paket beschließen werden, sodass Union gefragt, diese Regelung entsprechend zwischen- dann die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass zeitlich, nachdem sie geprüft worden ist, zu verlängern . sich die Branche bekennen kann, was sie möchte bzw . ob Ich kann dieses Modell, so wie wir es jetzt hier in sie handeln möchte . (B) Deutschland gemeinsam in dieser Großen Koalition kon- (D) Die Vorgaben zur Allgemeinverbindlichkeit sind na- zipiert haben, auch auf der europäischen Ebene zunächst türlich nicht gesetzlich verbindlich . Vielmehr muss es einmal nur empfehlen, bevor wir zu anderen Maßnahmen schon eine übergreifende Einigung im Sektor geben . Ich greifen . Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, mit dem wir glaube, das ist ein Ansatz, bei dem wir nicht zum Stan- auf europäischer Ebene auch weitermachen können . dardmittel des Wettbewerbsrechts greifen, sondern im Vielen Dank . Prinzip so etwas Ähnliches wie ein staatlich sanktionier- tes Mengenkartell bemühen, die Angebots- und Nach- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fragemenge zumindest in ein Gleichgewicht zu bringen, damit die Preismechanismen wieder funktionieren kön- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nen . Vielen Dank .– Nächster Redner ist der Kollege In diesem Zusammenhang freue ich mich auch darü- Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen . ber, dass Minister Backhaus aus Mecklenburg-Vorpom- mern, der Vorsitzende der Agrarministerkonferenz, in der Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entsprechenden Vorlage vorgesehen hat, dass die Andie- NEN): nungspflicht gestrichen wird. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD – Marlene Mortler Kollegen! Noch im März 2015 haben Sie von CDU/CSU [CDU/CSU]: Nicht zu Ende gedacht!) nicht aufgehört, die Zukunft der Milchbetriebe rosarot zu malen . Denen, die Gas geben, gehöre die Zukunft; das Ich glaube, das ist ein vernünftiger Ansatz . Wir müssen waren die Reden. Am 1. April fiel dann nach 32 Jahren nämlich auch den gesamten Rechtsbereich darüber hinaus die Quote . Bereits am 7 .April war Ihr Traum ausge- im Blick haben, etwa Artikel 168 GMO – Gemeinsame träumt; denn der Lebensmitteleinzelhandel reagierte mit Marktordnung – und Artikel 148 GMO . Ich freue mich 51 Cent für den Liter Milch, und jeder wusste, jetzt wird auch, dass mir die Bundesregierung signalisiert hat, dass es ernst, der Traum ist beendet . sie bereit ist, die Genossenschaften in Artikel 148 GMO einzubeziehen und sich dafür in Brüssel einzusetzen . Das Heute bekommen die Bauern 20 Cent und weniger ist der zweite Schritt, den wir gehen müssen, wenn wir von der Molkerei, und dies bei Kosten von über 40 Cent vertraglich vereinbarte Bedingungen haben wollen, dass pro Liter Milch . Das führt gerade die großen Wachstums- jedem Landwirt, auch wenn er in einer Genossenschaft betriebe, aber leider auch die bäuerlichen Betriebe in den ist, ein entsprechender Vertrag angeboten wird, in dem Ruin . Die Milchanlieferung wird höher und höher und Menge, Preis und Vertragslaufzeit geregelt werden . Die höher; dies führt immer weiter in die Krise . 3,8 Prozent 17128 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Friedrich Ostendorff (A) mehr wurden in Europa im letzten Milchjahr erzeugt; möchte ich es bezeichnen –, dieses Gebaren macht die (C) das sind 6,1 Millionen Tonnen . Dazu hat Deutschland als Opposition in der Tat nicht mit . größter Milcherzeuger in Europa mit 10 Prozent beige- tragen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wohin führt uns das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die Preise gehen runter, runter, runter . 3 200 Milchhöfe Da verweigern wir uns; denn das ist nicht sachgerecht . haben in 2015 aufgeben müssen . Dieses Jahr werden es Das geht auf gar keinen Fall . wahrscheinlich noch mehr sein, bald 10 Prozent im Mo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ment in Schleswig-Holstein . Der LEH nutzt gnadenlos und bei der LINKEN) das Überangebot aus und treibt die Preise tiefer und tie- fer . Der Liter Milch ist bei einem Preis von knapp über Wir sind stolz darauf, dass wir in den vergangenen 40 Cent im LEH billiger als Mineralwasser . Jahrzehnten den notleidenden Menschen auf dem Lan- de mit den Genossenschaften helfen konnten . Das war Bauernverbandsgeschäftsführer Krüsken hat dies als eine große Errungenschaft . Diese in einer Nacht-und-Ne- Bankrotterklärung des Lebensmitteleinzelhandels und bel-Aktion niederzumachen, auch noch mit Scheinge- der Molkereien bezeichnet . Recht hat er . Aber ganz si- fechten, wir ihr das macht, geht so nicht . Damit wird nur cher ist es auch eine Bankrotterklärung von Minister von der Krise abgelenkt . Das hilft niemandem: keinem Schmidt . Betrieb und auch sonst keinem . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr .Kirsten Tackmann [DIE und bei der LINKEN) LINKE] – Marlene Mortler [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Es geht doch heute nur um eine Sache: Wie können wir die Menge verringern? Mengenreduzierung ist das Die Bündelung der Erzeuger zu stärken, was wir heute Thema, egal wie; nichts anderes . Damit müssen wir an- tun, ist dringend notwendig . Wir würden, wenn es nur al- fangen . Wir müssen die Realitäten ins Auge fassen . Des- leine darum ginge, diesem Gesetz auch vonseiten der Op- halb fordern wir den Minister auf: Koppeln Sie jetzt die position zustimmen . Das brauchen wir . Wir können das von Ihnen angekündigten Mittel endlich an die Mengen- Verfahren gern noch einmal wiederholen, Kees de Vries; reduzierung . Geben Sie Hilfen nur gegen eine Mengen- es ist auch protokolliert . Vielleicht liest du es einmal; senkung . Das ist das Gebot der Stunde . Tun Sie endlich dann kannst du noch einmal erfahren, wie es gewesen ist . etwas! Lösen Sie endlich die Probleme, statt weiter auf der Bremse zu stehen . (B) Das Pilotverfahren des Kartellamtes zur Überprüfung (D) der Lieferbeziehungen, das im Moment läuft, begrüßen Schönen Dank . wir auch . Wir warnen aber davor, in zu großer Zuversicht zu schwelgen, und mahnen zu Vorsicht . Wenn aber die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderungen der Andienungspflicht, die ihr heute voll- und bei der LINKEN) zieht, nur darauf abzielen, die Flexibilität auf dem Markt zu erhöhen, führt das eben nicht zu einer Stärkung und Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bündelung der Milcherzeuger, sondern wird genau das Vielen Dank .– Als Nächster spricht der Kollege Gegenteil bewirken . Wir brauchen eine andere Markt- Waldemar Westermayer, CDU/CSU-Fraktion . struktur mit mehr und kleineren Molkereien und einer deutlichen Stärkung der Erzeuger . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr .Kirsten Tackmann [DIE Waldemar Westermayer (CDU/CSU): LINKE]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute die Darum geht es heute . Wir sollten auch frank und frei er- Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes . Ich möchte klären, worum es eigentlich geht . gleich zu Anfang deutlich machen, dass der vorliegende Zum jetzigen Zeitpunkt aber einmal holterdiepolter die Gesetzentwurf ein wichtiger Baustein für den Einstieg in Andienungspflicht – am Ende wird es die Abnahmever- die Marktwirtschaft für die Milcherzeuger in Deutsch- pflichtung sein – gleich mit zu kippen, das ist deutlich zu land und Europa leistet . schnell geschossen, lieber Kollege Wilhelm Priesmeier . Wenn sich der Erzeugerpreis dauerhaft bei unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30 Cent einpendelt, ist die Zukunft der Milcherzeuger sowie bei Abgeordneten der LINKEN) massiv bedroht . Es gibt auch gute Beispiele, etwa im Berchtesgadener Land, wo 34 Cent für 1 Liter Milch Dies ist – das sage ich dir als leidenschaftlicher Ge- bezahlt werden, oder bei uns von der OMIRA, die jetzt nossenschaftler – Grundlage des genossenschaftlichen Verträge über einen Milchpreis von 32,5 Cent über Handelns . Das zu machen, indem du morgens einmal 100 000 Tonnen Milch für ein Jahr geschlossen hat . Da- aufwachst und etwas zu laut vor dich hin gedacht hast, rauf komme ich noch zurück . Bestimmte Molkereien die Abschaffung jetzt so einfach übers Knie brichst und zahlen teilweise nur noch einen Preis von unter 20 Cent, es so schnell tust – als handstreichartig, als überfallartig vor allem in Norddeutschland . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17129

Waldemar Westermayer (A) Schon im letzten Jahr mussten rund 3 200 Milchvieh- Seite des Handels muss jedoch jetzt endlich etwas entge- (C) betriebe in Deutschland aufgeben . Angesichts der aktuel- gengesetzt werden . Die einseitige Verteilung des Preis- len Situation auf dem Markt braucht die Milchwirtschaft risikos zulasten der Erzeuger darf nicht einfach so wei- mit ihren noch 74 000 Betrieben in der Bundesrepublik tergehen . zweierlei: Zum einen benötigen wir Sofortmaßnahmen . Diese hat Minister Schmidt am Montag auf dem Milch- (Beifall bei der CDU/CSU) gipfel vorgestellt . Vor allem die rückwirkenden steuer- Im jetzigen System werden falsche Anreize gesetzt, lichen Möglichkeiten zur Gewinnglättung ab 2014 sind zum Beispiel durch das Milchgeld . Ein Teil des Problems sehr sinnvoll . Hervorheben möchte ich zum anderen aber ist doch, dass der Lebensmitteleinzelhandel und die Mol- auch den gestiegenen Zuschuss zur Unfallversicherung kereien überhaupt kein Risiko tragen . und die vorgeschlagenen Bürgschaften . Aus meiner Sicht muss die Erteilung von Bürgschaften aber an Bedingun- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE gen geknüpft werden . Das sind wichtige Elemente, um GRÜNEN]: Ja, richtig! Völlig richtig!) die aktuelle Krise zu überbrücken . Die Molkereien setzen die Milch ab und ziehen ihre Die Brücke alleine reicht aber nicht aus . Am Ende der Produktionskosten und ihre Gewinne ab, und der Rest Brücke muss es eine Perspektive geben . Diese Perspekti- verbleibt dann beim Erzeuger . Das ist nicht sach- und ve muss langfristig und nachhaltig sein . Deshalb halte ich interessengerecht . Vielmehr muss jeder Teil der Wert- ausdrücklich nichts von einer Rückkehr zu einer staatlich schöpfungskette auch am Ertrag beteiligt sein . verordneten Quote . Diese hat in den über 30 Jahren ihres Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass Bestehens nicht für einen nachhaltigen Markt gesorgt . wir Politiker die Ursache des Problems nicht allein behe- Vielmehr gab es den jetzt ausgiebig besprochenen Struk- ben können und werden . Wir brauchen hierzu die Bran- turwandel auch schon zu Zeiten der Milchquote . Über che und müssen gesetzliche Vorgaben machen, damit wir 380 000 Betriebe waren es 1983, als man sie eingeführt endlich echte und faire Vertragsbeziehungen etablieren . hat . Jetzt gibt es noch 74 000 Betriebe . Ein einfaches Zu- Das sollte unser gemeinsames Ziel sein . Deshalb gehen rück zum vorherigen System darf es deshalb nicht geben . wir mit dem Agrarmarktstrukturgesetz einen wichtigen (Beifall bei der CDU/CSU) Schritt in Richtung Marktwirtschaft . Ich möchte mich auch bei der SPD bedanken, die hier hervorragend mitge- Als Milchviehhalter, der schon viel für Quotenrechte zogen hat . Ich hoffe, dass es beim Düngegesetz genauso gezahlt hat, weiß ich, wovon ich rede . Wir müssen statt- der Fall sein wird . dessen die Erzeuger stärken . Herzlichen Dank . (Dr .Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) Das beinhaltet für mich zunächst eine grundlegende Ver- ordneten der SPD) änderung der Stellung der Erzeuger am Markt . (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Dr .Wilhelm Priesmeier [SPD]) Vielen Dank . – Als Nächstes spricht für die SPD-Frak- Wir müssen weg vom bloßen Anliefern und hin zu einem tion jetzt der Kollege Johann Saathoff . Verkaufen der Milch . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der CDU/CSU) ordneten der SPD) Erfolgreiches Wirtschaften bemisst sich nämlich nicht Johann Saathoff (SPD): allein danach, volle Tankwagen vom Hof fahren zu las- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen sen . Vielmehr muss der Einstieg in einen bedarfsange- und Kollegen! Zweimal Milchpolitik an einem Tag: Das passten Verkauf erfolgen . Hier ist die Branche gefragt . haben wir selten in diesem Hause. Aber ich finde, dass Sie muss tragfähige Konzepte für die Ausgestaltung der die Bäuerinnen und Bauern es verdient haben, dass wir Vertragsbeziehungen liefern . Diese sind aus meiner Sicht uns mit der Situation auseinandersetzen und miteinander der Schlüssel für eine nachhaltige Aufwertung der Stel- über die beste Lösung streiten . Ich glaube, Streit ist auch lung der Erzeuger . Verträge über den Preis, die Laufzeit etwas, das die Kultur ausmacht und für die Bäuerinnen und die Menge sind die Grundlage für eine erfolgreiche und Bauern auf jeden Fall richtig sein kann . Marktbeteiligung . Halten wir an dieser Stelle fest: Das Problem sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Überkapazitäten im Milchmarkt . Wir haben es schon ge- ordneten der SPD) hört: Das Angebot ist in der EU 2014 um 2,2 Prozent und 2015 um 3,8 Prozent gestiegen . Das heißt, wir haben ein In diesem Zusammenhang brauchen wir eine starke aner- zu großes Angebot im Milchmarkt . kannte Branchenorganisation . Auf der Nachfrageseite haben wir einen deutlichen Wir Politiker können nur das Spielfeld aufbauen und Nachfragerückgang erlebt, insbesondere bei den Expor- regeln . Spielen müssen die Akteure selber . Im Kartell- ten außerhalb der Europäischen Union . recht ermöglichen wir jetzt schon und weiter verstärkt durch den vorliegenden Gesetzentwurf den Erzeugern Aber ich finde, dass es an dieser Stelle auch dazuge- eine Bündelung . Der gebündelten Marktmacht auf der hört, zu betonen, dass es gut ist, dass mittlerweile alle 17130 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Johann Saathoff (A) erkannt haben, dass der Markt insgesamt das Problem ist Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- (C) und nicht nur die Nachfrageseite . tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstrukturge- (Beifall des Abg . Willi Brase [SPD]) setzes . Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ich würde mir wünschen, dass die Bauernverbände in der empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung politischen Debatte irgendwann wieder zusammenfinden auf Drucksache 18/8646, den Gesetzentwurf der Fraktio- und sich miteinander abstimmen, was die beste Lösung nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/8235 ist, damit wir nicht über Monate die Situation haben, dass in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejeni- der eine Hü sagt und der andere Hott . gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen .– Wer stimmt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in der CDU/CSU) zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen bei Enthaltung der Opposition angenommen . Im Agrarmarktstrukturgesetz wird die Möglichkeit der Mengenabsprache zwischen Molkereien und Erzeuger- Dritte Beratung gemeinschaften geregelt . Das hilft sicher, aber ich glaube und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem nicht, dass es das Problem löst . In Ostfriesland würde Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– man sagen: Man hett eerst utleert, wenn all Finger gliek Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- lang sind . Das heißt: Man lernt nicht aus im Leben . entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen- Ich glaube, wir brauchen neue Standards und neue verhältnis angenommen . Rahmenbedingungen, vielleicht für eine zusätzliche und Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf andere Milchwirtschaft . Wir haben viel über Landwirt- Drucksache 18/8646 empfiehlt der Ausschuss, eine schaft 4 0. geredet . Aber haben wir uns eigentlich auch Entschließung anzunehmen . Wer stimmt für diese Be- Gedanken über Landwirtschaft 2 0. und 3 0. gemacht? Zu schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Landwirtschaft 2 0. gehört für mich zum Beispiel, dass hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Verbraucher einfacher in die Lage versetzt werden, wert- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der volle Milch, zum Beispiel Grünlandmilch, zu kaufen . Opposition angenommen . Dazu gehört zwingend, dass diese Milch gekennzeichnet wird . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beratung des Antrags der Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr .Thomas (B) Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (D) Diese Milch muss an bestimmte Voraussetzungen ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bunden werden . Wer macht sich denn heute beim Milch- kauf Gedanken über Zellzahlen, Omega-3-Fettsäure, Für mehr Transparenz und demokratische über Bedingungen, wie Tiere im Stall und auf dem Feld Kontrolle bei der Ministererlaubnis gehalten werden, über gentechnikfreie Fütterung oder Drucksache 18/8078 über die Frage, ob man nicht künftig Zweinutzungsrinder einsetzen kann, statt immer nur auf eine bestimmte Nut- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) zung zu achten? Dass, wenn die Kennzeichnung richtig Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ist, die Verbraucher dies auch annehmen, sieht man wun- derbar am Beispiel der Bodenhaltung von Hühnern im Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Bereich der Eierwirtschaft . die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre hier keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Zu Landwirtschaft 3 0. gehört aus meiner Sicht ein Blick auf die Forschungseinrichtungen im Bereich der Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen oder die Ge- Landwirtschaft . Das Ministerium unterhält sieben For- spräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen – Herr schungseinrichtungen mit einem Etat von mehreren Kollege Spiering auch . 100 Millionen Euro. Ich finde, liebe Kolleginnen und (Rainer Spiering [SPD]: Entschuldigung!) Kollegen, 10 Prozent für alternative Wege der Milchwirt- schaft wären in dieser Krise gut investiertes Geld für Die Herren hier von mir aus gesehen rechts bitte eben- Leuchtturmprojekte der neuen Milchwirtschaft und für falls die Debatten außerhalb des Plenarsaals fortsetzen . Leuchtturmprojekte in der Milchverarbeitung . Wir wis- Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin sen alle: Jeder Euro, der darin investiert würde, würde Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen . fünfmal über Wertschöpfung zurückkommen und kommt den ländlichen Räumen insgesamt zugute . Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen öfter mit- einander über das Thema Ministererlaubnis gesprochen . Wir haben über die aktuelle Ministerentscheidung von Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sigmar Gabriel im Falle der Fusion Edeka/Tengelmann Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet . gesprochen . Wir Grünen haben uns hier klar positio- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17131

Katharina Dröge (A) niert: Wir halten die Entscheidung von Sigmar Gabriel des Bundestages vor, wenn ein Minister, wie es Sigmar (C) für falsch . Genauso wie das Kartellamt, genauso wie die Gabriel gemacht hat, das Bundeskartellamt überstimmt . Monopolkommission, genauso wie Verbraucher- und Er- Wir fordern, dass der Bundeswirtschaftsminister ordent- zeugerverbände halten wir diese Entscheidung für schäd- lich und transparent informiert, welche Beweggründe es lich für den Wettbewerb, schädlich für die Verbraucher für seine Entscheidung gibt . Das hat er im laufenden Ver- und schädlich für die Zulieferer . fahren nicht gemacht . Wir haben zig Fragen gestellt, Fra- gestunden genutzt und Aktuelle Stunden dazu durchge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt und Anfragen an die Bundesregierung gestellt . Aber sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus er musste seine Entscheidung gegenüber dem Parlament Barthel [SPD]: Genauso wie Rewe!) noch nicht einmal begründen . Mehr Hinterzimmer und Die Entscheidung von Sigmar Gabriel bedeutet mehr mehr Intransparenz gehen aus meiner Sicht nicht . Marktmacht für Edeka, weniger Wettbewerb, weniger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Auswahl für die Verbraucher, höhere Preise in den Su- [SPD]: Das Bundeskartellamt permarktregalen und mehr Preisdruck auf die Hersteller, muss seine Entscheidung auch nicht gegen- auf die Bäuerinnen und Bauern . Deswegen ist Ihre Ent- über dem Parlament begründen!) scheidung falsch . Wir wollen, dass dieses durchaus wichtige Instrument Gleichzeitig schafft es Sigmar Gabriel nicht, das ein- demokratisch legitimiert ist, dass es akzeptiert ist, dass zige von ihm angeführte Argument zugunsten dieser Mi- die Menschen verstehen und dass transparent ist, warum nistererlaubnis umzusetzen . Er hat versprochen, er würde eine Entscheidung so getroffen wird . Wir sagen nicht, durch die Fusion 16 000 Arbeitsplätze retten . Doch das dass es keine Allgemeinwohlgründe geben kann, die eine hat er nicht erreicht. Denn die Auflagen, die er für diese solche Fusion letztendlich rechtfertigen . Wenn aber ein Fusion vorgesehen hat, retten eben nicht 16 000 Arbeits- Mensch allein im Hinterzimmer eine solche Entschei- plätze . Sigmar Gabriel hat offengelassen, wie viele Ar- dung treffen kann, ohne sie begründen zu müssen, dann beitsplätze gerettet werden, und er hat offengelassen, für macht es sie massiv missbrauchs- und lobbyanfällig . wen dieser Schutz gilt . Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht, in dem Unsere Nachfragen im Wirtschaftsausschuss, unsere wir ein suspensives Veto fordern . Die Beteiligung des Nachfrage an das Bundeswirtschaftsministerium haben Bundestages stärkt am Ende auch die Ministererlaubnis . ergeben, dass nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Deshalb hoffe ich, dass wir uns heute gemeinsam auf die- von Kaiser’s Tengelmann durch diese Auflagen geschützt sen Weg verständigen . sind, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Edeka nicht . Genau das, was wir nun in der Presse lesen kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) nen, passiert jetzt, nämlich dass der Konzern nach der (D) Fusion eigene Mitarbeiter entlässt, dass diese Personen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nicht geschützt sind und dass die Auflagen von Sigmar Vielen Dank .– Nächster Redner ist der Kollege Gabriel an dieser Stelle nicht funktionieren . Dr . Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Unser Fazit lautet daher: schlechte Entscheidung, schlecht gemacht . Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Wir kritisieren in unserem Antrag des Weiteren die legen! Meine Damen und Herren! Was haben eigentlich Art und Weise, wie Sigmar Gabriel diese Entscheidung die Unternehmen Daimler-Benz, Eon und Edeka gemein- getroffen hat; auch diese ist schlecht . Wenn man sich an- sam? Sie alle sind schon einmal in den Genuss einer Mi- schaut, wie die Ministererlaubnis funktioniert, dann stellt nistererlaubnis gekommen . Daimler-Benz durfte sich im man fest, dass ein einziger Mensch darüber entscheidet, Jahr 1989 mit MBB, einem Luft- und Raumfahrtunterneh- ob zwei so große Unternehmen miteinander fusionieren men, zusammenschließen . Das Unternehmen Eon konnte dürfen . Er entscheidet, ob die Entscheidung des Bundes- im Jahr 2002 mit der Ruhrgas fusionieren . Schließlich kartellamts rückgängig gemacht wird . Er entscheidet, ob hat der Wirtschaftsminister in diesem Jahr entschieden, es überragende Interessen im Sinne des Allgemeinwohls dass der Handelskonzern Edeka das Unternehmen Kai- gibt, die eine solche Entscheidung legitimieren . Ich fra- ser’s Tengelmann übernehmen darf . Über dieses aktuel- ge mich ganz ehrlich: Wieso sollte ein Mensch entschei- le Fusionsverfahren haben wir im Wirtschaftsausschuss den können, ob es überragende Interessen im Sinne des und in mittlerweile einigen Sitzungen hier in diesem Allgemeinwohls gibt? Sind nicht wir, die Mitglieder des Haus gesprochen . Ich habe wiederholt in der Diskussi- Deutschen Bundestages, es, die dafür gewählt sind, zu on auf die Risiken hingewiesen, die mit dieser Entschei- definieren, was ein überragendes Interesse im Sinne des dung einhergehen . Aus meiner Sicht sind noch nicht alle Allgemeinwohls ist? Sind es nicht wir, die die Aufgabe Fragen gelöst . Einige sind gerade angesprochen worden: haben, miteinander abzuwägen, ob es ein solches Inte- Reicht das Arbeitsplatzargument als alleinige Begrün- resse gibt? dung aus, um erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen Wir sind der Meinung, dass solche Entscheidungen aufzuwiegen? Ist es sinnvoll, eine solche Erlaubnis vom aus dem Hinterzimmer heraus müssen . Wir schlagen Wohlwollen Dritter, von den Gewerkschaften, abhängig vor, dass der Deutsche Bundestag über solche Entschei- zu machen? Werden durch die Bedingungen wirklich alle dungen beraten kann . Wir schlagen ein suspensives Veto Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann gesichert, oder 17132 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Matthias Heider (A) wird Edeka eigene Arbeitnehmer bei sich entlassen, um gierung möglich sein . Ich halte den Vorschlag nicht für (C) die Übernahme möglichst effizient zu gestalten? Diese zielführend; denn die Entscheidung über eine Minister- Fragen müssen noch beantwortet werden . Da warten wir erlaubnis bedarf umfangreicher wettbewerbsrechtlicher noch auf die Entwicklung, die sich in diesen Wochen erst Ermittlungen, ausführlicher Informationen, die eingeholt ganz langsam zeigt . werden müssen, und einer zeitaufwendigen Analyse die- ses Sachverhalts . Generell nehme ich jedenfalls aus diesen Verfahren erst einmal mit: Das Instrument der Ministererlaubnis Eine solche Möglichkeit der Ermittlungs- und Ana- scheint reformbedürftig zu sein . Deshalb, liebe Kollegin- lysetätigkeit hat unser Parlament nicht . Bei Ihrer Argu- nen und Kollegen von den Grünen, ist die Aufmerksam- mentation, dass das Parlament die Allgemeinwohlgründe keit, die Sie dieser Regelung zuteilwerden lassen, ver- am besten bestimmen könne, verkennen Sie, dass es ei- dient, auch wenn ich Ihren Lösungsvorschlag nicht teile . gentlich wirtschaftspolitische Gründe sind . Maßgeblich für die Entscheidung über eine Ministererlaubnis ist nicht (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur die Beurteilung der Gemeinwohlargumente, sondern NEN]: Wenn Sie einen anderen haben, disku- vielmehr die Abwägung mit den Wettbewerbswirkungen tieren wir den!) des Zusammenschlusses . Das Ministererlaubnisverfahren ist seit seiner Ein- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führung im Jahr 1973 umstritten . Die Ministererlaubnis NEN]: Was heißt das jetzt? Soll alles so blei- ist im deutschen Kartellrecht ein Ausnahmeinstrument . ben, wie es ist?) Es gibt sie beispielsweise im europäischen Kartellrecht nicht . Der Bundeswirtschaftsminister kann sich durch Dabei sind entsprechende Merkmale der Marktmacht seine Ministererlaubnis über eine ablehnende Entschei- zu untersuchen; sie sind festzustellen, und sie sind hin- dung des Bundeskartellamtes hinwegsetzen und eine Fu- terher wieder zu überprüfen . Daher glaube ich nicht, dass sion zweier Unternehmen aufgrund von Vorteilen für das ein Veto in einem solchen Verfahren die Entscheidung zu Allgemeinwohl erlauben . einer besseren machen würde, auch nicht dadurch, dass der Rest der Bundesregierung darin einbezogen wird . Doch was sind diese Gründe für das Allgemeinwohl? Entscheidungsfindungen in dieser Form halte ich nicht In den 22 Ministererlaubnisverfahren, die seit Einfüh- für sinnvoll . rung des Instruments durchgeführt worden sind, haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet . So hat (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Bundeswirtschaftsminister im Fall von Daimler/ NEN]: Da bin ich jetzt auf Ihren Vorschlag MBB eine Ministererlaubnis zur Verbesserung der Pri- gespannt!) (B) vatisierungsmöglichkeiten und aus Gründen des Subven- Sie würden im Zweifel nur die Entscheidung auf eine an- (D) tionsabbaus erteilt . Außerdem spielte in dem Verfahren dere Ebene heben . die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eine Rolle . Auch das hat im Verfahren Eon und Ruhrgas Wir wollen nicht, dass das Parlament exekutives Han- eine Rolle gespielt . Schließlich war im Verfahren Ede- deln vornimmt . Das ist Aufgabe der Regierung, die hier ka/Kaiser’s Tengelmann der ausschlaggebende Grund zu meiner rechten Seite sitzt, und unsere Verfassung sagt, die Arbeitsplatzsicherung . Neu daran war und ist, dass dass wir das gar nicht dürfen . Aufgabe der Monopolkom- das Argument der Arbeitsplatzsicherung bisher nicht bei mission in einem Ministererlaubnisverfahren ist es, ein einer Entscheidung als einziger Ausnahmegrund angese- Gutachten zu erstellen . Das Gutachten enthält neben hen worden ist . der Würdigung der vom Bundeskartellamt festgestellten Wettbewerbsbeschränkungen und der Gemeinwohlgrün- (Klaus Barthel [SPD]: Das ist doch ein gutes de eine Empfehlung, die an den Minister ausgesprochen Argument!) wird . Das Risiko liegt darin, dass dies eine politische Ent- Bisher haben die Gutachten der Monopolkommis- scheidung ist . sion keine Bindungswirkung . Das verkennt jedoch den (Lachen bei der SPD und der LINKEN – Wert der Arbeit, den diese Kommission leistet . Es sind Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist doch hochkarätige Mitglieder, die volkswirtschaftliche, be- immer eine politische Entscheidung!) triebswirtschaftliche, sozialpolitische, technologische und wirtschaftsrechtliche Kenntnisse und Erfahrungen Das soll heißen: Die Frage, was als Allgemeinwohl an- mitbringen . Sie sind prädestiniert dafür, den Minister zu gesehen wird, haben verschiedene Wirtschaftsminister beraten, und ihrer Arbeit sollte ein höherer Stellenwert in den letzten Jahren natürlich völlig verschieden beant- zukommen . wortet . Das ist das Problem daran . Die Entscheidung des Wirtschaftsministers hat einen zu großen Abstand zu den Ich halte es für sinnvoll, die Arbeit der Kommission wettbewerbsrechtlichen Verbotsmerkmalen im Laufe der weiter zu stärken, indem der Bundeswirtschaftsminister Jahre bekommen . seine Ministererlaubnis nur im Einvernehmen mit der Monopolkommission treffen sollte . So würde sicherge- Sie, liebe Grüne, schlagen jetzt in Ihrem Antrag zur stellt, dass die Expertise der Mitglieder dieses Gremiums Begrenzung dieser Unabhängigkeit ein aufschiebendes auch Gewicht hat . Zudem ersparen wir dem Minister, Veto des Deutschen Bundestages vor . Wenn der Bundes- dass er im Kreuzfeuer der Kritik steht, wenn die Ent- wirtschaftsminister von einem solchen Veto abweichen scheidung nicht so ausgeht, wie sich viele das vielleicht will, dann soll dies nur mit Zustimmung der Bundesre- vorgestellt haben . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17133

Dr. Matthias Heider (A) Der Rücktritt des ehemaligen Vorsitzenden der Mo- meintliche Weisheit einer Monopolkommission am Ende (C) nopolkommission Professor Zimmer spricht Bände . Das einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen sollte . zeigt auch, dass in dem Gremium der Monopolkommis- sion nicht nur Unmut, sondern auch Unverständnis über Man könnte sich sehr wohl vorstellen – dabei gingen diese Entscheidung herrscht . Das ist nachvollziehbar, zu- meine Vorstellungen viel weiter als das, was Sie von den mal es nicht das erste Mal gewesen ist, dass ein Bundes- Grünen in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben –, dass wirtschaftsminister so entschieden hat . In den neuen Ver- sich ein Minister, wenn er die Empfehlung der Mono- fahren, in denen der jeweilige Wirtschaftsminister eine polkommission nicht teilt und abweichend davon eine Ministererlaubnis erteilt hat, ist er nur in drei Fällen den Fusion zulassen will, noch die Zustimmung aus dem Par- Empfehlungen der Monopolkommission gefolgt . lament holen muss . Aber ich sage es einmal so: Das geht jetzt noch in die Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir kön- Ausschüsse . Wir können ja im Ausschuss darüber disku- nen heute eines feststellen: Die Reform der Ministerer- tieren, wie man sich so etwas vorstellen kann . Das müs- laubnis steht nach vielen Jahrzehnten an . Lassen Sie uns sen wir jetzt hier – ich habe ja auch nur eine relativ kurze die Diskussion darüber in den Beratungen über die anste- Redezeit – nicht bis ins Kleinste durchdiskutieren . Ich hende neunte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbs- sage aber noch einmal: Man muss dann auch, finde ich, beschränkungen führen . die Weisheit einer Monopolkommission infrage stellen . Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Herr Heider, Sie haben ja eben auch so getan, als wenn die Monopolkommission die Weisheit mit Löffeln ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae fressen hätte . Da hätte ich wirklich größte Zweifel . Da [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Frage!) das am Ende – Sie haben das selbst betont – eine politi- sche Entscheidung ist, sollte man es, finde ich, dann auch Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dem Parlament vorbehalten . Er war schon fertig .– Danke schön .– Der nächste Vielleicht noch ein paar Sätze zu Edeka und Tengel- Redner ist der Kollege Michael Schlecht, Fraktion Die mann . Mich wundert in der Tat, dass Sie vonseiten der Linke . Grünen – Frau Dröge, ich schätze Sie sonst sehr – nach (Beifall bei der LINKEN) wie vor so verbiestert dagegen anrennen . (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Michael Schlecht (DIE LINKE): NEN]: Nein, nein!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Anscheinend ist es Ihnen wirklich nicht zugänglich zu (B) und Herren! machen, was für einen Wert es hat, wenn dort einer großen (D) (Abg . Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE Zahl von Beschäftigten – seien es 16 000 oder auch etwas GRÜNEN] spricht mit Abg . Dr .Matthias weniger, je nachdem wie es läuft – die Existenz gerettet Heider [CDU/CSU]) wird . Als jemand, der so etwas als Gewerkschaftssekre- tär jahrzehntelang erlebt hat, weiß ich, was es bedeutet, – Wollen Sie mir zuhören? – Nein? wenn Leute in den Betrieben zum Teil unter schwierigs- ten Bedingungen ihre Arbeitsplätze verlieren . Von daher (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- empfinde ich es erstens als wichtig, dass solch ein Impuls NEN]: Doch, doch!) gesetzt wird bzw . dass dort Menschen geholfen wird . Ich – Gut! Ich würde Ihnen ja auch gerne etwas sagen . lobe Minister Gabriel in diesem Fall ausdrücklich . Das ist mir ja auch ein bisschen befremdlich; aber ich tue es, Als dieser Antrag von Ihnen kam, habe ich zum Teil weil es, wie ich finde, der Sache angemessen ist. gedacht, dass da etwas ganz Sinnvolles kommt, wobei ich mich auch schon wieder gefragt habe, ob der Antrag (Beifall bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: nur vorgelegt wurde, um noch einmal eine vermeintliche Was sein muss, muss sein!) Abrechnung mit dem Wirtschaftsminister in der Frage Zweitens treibt mich auch die Frage um: Rennen Sie Edeka und Tengelmann vorzunehmen . Momentan habe so gegen diese Entscheidung an, weil hier zum ersten ich – nachdem ich mir Ihren Vortrag angehört habe – das Mal ein Minister den Gewerkschaften eine ganz starke Gefühl, dass dies eher das Motiv ist . Also, ich hätte, so- Stellung verschafft und ihnen, wie wir als Gewerkschaf- sehr ich jetzt für diese Ministererlaubnis bin, persönlich ter sagen würden, Korsettstangen eingezogen hat? in der Tat ein Interesse, das Verfahren der Ministererlaub- nis zu verändern, und zwar allein schon deshalb, weil ich (Beifall bei der SPD) sehe, was in der Vergangenheit passiert ist . Das frage ich mich auch: In der Vergangenheit hat man sich – wenn man sah, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was da lief – schon gefragt, ob nicht irgendwelche Lob- NEN]: So fragen wir uns alle!) byisten das Ministeramt okkupiert und ihren alten Freun- den eine Fusionserlaubnis erteilt haben . Das letzte Mal Stört Sie das? Das wäre auch die Frage – sie treibt mich hat mich zum Beispiel im Jahr 2002 in Bezug auf Minis- manchmal um –, die ich in Richtung CDU/CSU stellen ter Werner Müller dieses Gefühl beschlichen . Vor diesem könnte . Denn diese Entscheidung beinhaltet wirklich ein Hintergrund finde ich schon, dass man die Weisheit eines positives Element: dass dort nämlich die Interessenver- Ministers, aber auch die – ich sage das einmal so – ver- tretung Gewerkschaft die Möglichkeit hat, diesen Pro- 17134 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Michael Schlecht (A) zess ganz anders zu gestalten, als wenn diese Ministerer- erhalten blieben . Ich möchte Sie jetzt einfach einmal (C) laubnis mit dieser Auflage nicht gekommen wäre. fragen, weil ich, obwohl das immer unsere Argumen- tation zum Thema Arbeitsplätze war, von Ihnen darauf Danke schön . noch keine Antwort bekommen habe: Was ist denn mit (Beifall bei der LINKEN und der SPD – Abg . den Arbeitsplätzen bei den Zulieferern? Was ist mit den Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeitsplätzen bei den Herstellern? Was ist mit den Ar- NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) beitsplätzen bei den Konkurrenten, die durch die Fusion von Edeka und Tengelmann unter Druck geraten? Was ist Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mit den Arbeitsplätzen bei Edeka selbst? Auch das haben wir ja im Wirtschaftsausschuss diskutiert . Danke schön .– Frau Kollegin Dröge, die Zeit war abgelaufen .– Nächster Redner ist der Kollege Marcus Herr Gabriel hat mir mittlerweile schriftlich geantwor- Held, SPD-Fraktion . tet, dass es keine Beschäftigungssicherung für die Mitar- beiter von Edeka gibt . Wir haben jetzt Medienberichte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dazu bekommen, dass Edeka plant, bei eigenen Unter- der CDU/CSU) nehmen Arbeitsplätze abzubauen . Gleichzeitig hat Herr Gabriel die Beschäftigungssicherung bei Edeka nicht zur Marcus Held (SPD): Voraussetzung für die Ministererlaubnis gemacht . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde diese Debatte schon bemerkenswert, Was wir immer kritisiert haben, war: Diese Fusion wenn ich sie so verfolge, insbesondere weil doch eini- führt zu einer Verstärkung von Marktmacht, führt zu ge Kolleginnen und Kollegen und ganze Fraktionen hier einem Kostendruck, und dieser Kostendruck wird sich im Parlament ihr wahres Gesicht zeigen . Wenn ich höre, negativ auf die Arbeitsplätze auswirken . Deswegen ist dass plötzlich der Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mehr es eine Illusion und ein Trugschluss von Sigmar Gabriel im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen stehen gewesen, durch diese Ministererlaubnis – – darf, dann bin ich – das sage ich an die Adresse der Grü- nen und auch der CDU/CSU – doch einigermaßen über- Präsident Dr. Norbert Lammert: rascht . Frau Kollegin Dröge, Sie sollen keine zweite Rede (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe halten, sondern den aufgerufenen Redner mit einer knap- vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pen Zwischenbemerkung zu einer zusätzlichen Aussage veranlassen . Das Arbeitsplatzargument muss das zentrale Argument (B) sein, auch bei dieser Debatte um die Ministererlaubnis . (D) Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das möchte ich Ihnen an dieser Stelle eingangs ganz aus- drücklich sagen . Können Sie mir das erklären? (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Darf ich fragen?) der CDU/CSU) – Der Präsident ist noch nicht am Platz . Marcus Held (SPD): Nach den vielen Debatten im Ausschuss glaube ich Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht, dass man Ihnen das wirklich nahebringen kann, Ganz offenkundig möchte nicht nur die Kollegin weil Sie es ja nicht verstehen wollen . Dröge eine Zwischenfrage stellen, ganz offenkundig ist auch der Redner begeistert über die Möglichkeit, auf die- Wir werden es natürlich nicht so erleben, dass, wie se Weise seine Redezeit zu verlängern . Sie es über Wochen, über Monate hinweg bösartig zu unterstellen versuchen, automatisch die Zahl der Be- schäftigungsverhältnisse, die bei Kaiser’s Tengelmann (SPD): Marcus Held erhalten bleiben sollen – darauf werde ich gleich noch Richtig . einmal eingehen –, bei Edeka einfach wegfällt . Warten Sie doch einmal die Verhandlungen zwischen Edeka und Präsident Dr. Norbert Lammert: den Tarifparteien ab. Die Auflage ist ganz klar, dass ein Bitte schön, Frau Dröge . Vertrag geschlossen werden muss . Dieser Vertrag kann doch nicht bedingen, dass bei Edeka automatisch ein Teil der Arbeitsplätze wegfällt . Warten Sie doch einmal das Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ergebnis ab . Wir werden sehen: Es werden nicht einfach Es freut mich sehr, dass Sie so begeistert sind . Auch Edeka-Märkte geschlossen, nur weil Märkte von Kai- ich bin ganz begeistert, dass ich diese Frage jetzt stellen ser’s Tengelmann zum Unternehmen dazukommen . In- darf, nachdem ich bereits den zweiten Anlauf unternom- sofern bin ich optimistisch . men habe, eine Zwischenfrage zu stellen . (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es geht im Zusammenhang mit der Ministererlaubnis NEN]: Und was, wenn nicht?) um die Arbeitsplätze; diesen Punkt haben Sie ja gerade angesprochen . Sie haben da suggeriert, uns Grünen sei Sie nehmen hier ständig Unterstellungen vor . Sie ver- es egal, ob durch eine Ministererlaubnis Arbeitsplätze breiten letztendlich Angst unter den Beschäftigten und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17135

Marcus Held (A) auch Angst in der Bevölkerung . Lassen Sie es doch end- Ja, meine Damen und Herren, die Tatsache, dass Herr (C) lich! Sie kommen doch so nicht weiter . Gabriel sich diese Zeit genommen hat, dass er mit allen Interessengruppen ausführlich gesprochen hat – mit den (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer Gewerkschaften, mit den Arbeitnehmervertretungen, mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder keine Kaiser’s Tengelmann, mit Edeka, mit denen, die tatsäch- Erklärung!) lich dort das Sagen haben –, belegt doch gerade eindeu- – Ja, gut . Die Erklärung wird es dann geben, wenn es zu tig, dass er sich klar und intensiv mit der Frage befasst dem Erhalt der Arbeitsplätze kommt, Herr Kollege . hat und dass er es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht hat . Ihr Antrag führt ja den Titel „Für mehr Transparenz und demokratische Kontrolle bei der Ministererlaubnis“ . (Beifall bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Da geht es letztendlich abstrakt um das Thema Minister- Und dass es vor allen Dingen nicht kürzer erlaubnis . Sie versuchen die ganze Zeit, Ihr Anliegen an wird, wenn das Parlament auch noch besucht der jüngsten Ministererlaubnis und an der Person Sigmar wird!) Gabriel aufzuhängen . Dazu muss ich sagen – das wurde auch schon während der Reden deutlich –: Auch das Kar- Hinsichtlich einer Diskussion über die Abwägung, die tellamt hat keine Begründung für seine Entscheidung zu Sie auch auf der letzten Seite Ihrer Drucksache in der liefern . Insofern glaube ich, hat es schon seinen Grund, Begründung fordern, liegen die Argumente doch auf der dass wir nicht öffentlich in Parlamenten über Unterneh- Hand . Ich möchte sie hier auch noch einmal für die All- men, über mögliche Insolvenzen, über mögliche Proble- gemeinheit wiederholen und betonen, worum es bei der me, die in Unternehmen bestehen, debattieren . Vielmehr Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka geht . müssen Entscheidungen, auch Ausnahmeentscheidun- Der Minister hat das erste Mal in der Geschichte gen – mehr ist ja die Ministererlaubnis letztendlich der Bundesrepublik entsprechende Auflagen erteilt und nicht –, intern, etwa im Kartellamt, gefällt werden . Dem Bedingungen gestellt, nämlich dass 16 000 Beschäfti- darf eine demokratische Debatte hier im Parlament nicht gungsverhältnisse erhalten bleiben müssen . Nur dann zuwiderlaufen . darf fusioniert werden . Sie müssen aber nicht einfach nur Ich möchte aber auch ein Argument entkräften, mit erhalten bleiben, sondern müssen durch rechtssichere dem in der heutigen Debatte wieder ein völlig falscher Tarifverträge und eine Kontrolle des Arbeitsplatzerhalts Eindruck erweckt wurde; dabei ging es um die Frage der durch Gewerkschaften, wie es eben Herr Schlecht schon marktbeherrschenden Stellung . Es kommt durch die Fu- angesprochen hat, garantiert werden . Tarifvertragliche sion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka eben nicht zu Regelungen müssen also zwischen Edeka und Verdi ge- einer marktbeherrschenden Stellung . Ganz im Gegenteil, troffen werden; diese müssen fünf Jahre gelten, und die (B) meine Damen und Herren: Edeka hat derzeit bundesweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen eine zu- (D) einen Martkanteil von 25,2 Prozent . Kaiser’s Tengel- sätzliche Zusage erhalten, dass nach diesen fünf Jahren mann hat nur noch einen Marktanteil von 0,6 Prozent noch einmal zwei Jahre lang keine betriebsbedingten Kündigungen ergehen dürfen . Das heißt sieben Jahre (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rechtssicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- NEN]: Das ist doch regional spezifisch!) ter von Kaiser’s Tengelmann . Ich glaube, dass es rich- und ist deshalb in Diagrammen noch nicht einmal mehr tig und wichtig war, dass erstmals in der Geschichte ein mit einem Balken aufgeführt . Wer bei der Fusion in Sum- Wirtschaftsminister diese sozialpolitischen Bedingungen me von einer marktbeherrschenden Stellung redet, in eine Ministererlaubnis mit aufgenommen hat . (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: Das ist doch regional spezifisch!) Wenn das für Sie kein Gemeinwohlargument ist und für der hat wohl in der Grundschule in Mathe nicht aufge- Sie nicht höher wiegt als das Wettbewerbsrecht, passt und dem kann man es letztendlich dann auch nicht näherbringen . Insofern sollten Sie auch hier Ihre falschen (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unterstellungen wirklich unterlassen . NEN]: Das ist jetzt wieder eine Unterstel- lung!) Ich komme aber gern noch auf weitere Punkte in Ih- rem Antrag zu sprechen . Darin steht unter anderem: dann, muss ich sagen, kann ich Ihnen an dieser Stelle auch nicht helfen . Der Entscheidungsprozess des Bundesministers für Wirtschaft und Energie zog sich über Monate und Ich frage mich: Wo waren die Grünen als Antragstel- erzeugte erhebliche Unsicherheit für Unternehmen ler, als es um die Frage ging, bei Kaiser’s Tengelmann und Beschäftigte . Arbeitsplätze zu sichern? Die Diskussion läuft ja nicht erst ein halbes Jahr . Die gibt es ja schon einige Jahre . (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Da hätte ich erwartet, dass Sie Vorschläge unterbreiten NEN]: In der Tat!) und nicht hinterher kommen und nörgeln, so wie Sie es Gleichzeitig sagen Sie auf Seite 2 in der Begründung Ih- auch 2006/2007 gemacht haben, als die letzten Minister­ res Antrages, es sei „eine politische Abwägung, ob Ge- erlaubnisse ergangen sind . Damals – daran möchte ich meinwohlgründe im Einzelfall die wettbewerbsverzer- auch Herrn Heider noch einmal erinnern – war es der renden Folgen einer Fusion aufwiegen“, und die müsse Wirtschaftsminister der CDU/CSU, nämlich Michael ausführlich geprüft werden . Glos, der hier entsprechende Ministererlaubnisse erteilt 17136 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Marcus Held (A) hat . Auch das möchte ich an dieser Stelle der Vollständig- Die Redezeit wird dadurch auch nicht kürzer . (C) keit halber noch einmal sagen . Der Erste, dem ich das Wort erteile, ist der Kollege Nein, meine Damen und Herren, wir als SPD sind Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion . froh und zufrieden mit der Entscheidung unseres Mi- (Beifall bei der CDU/CSU) nisters Sigmar Gabriel, dass hier 16 000 Menschen und ihre Angehörigen bzw . Familien weiterhin in sozial ver- Er hat fünf Minuten Redezeit, was man im Augenblick antwortlichen, gut bezahlten und tariflich gebundenen wegen eines Ausfalls der Technik nicht sehen kann . Er Arbeitsverhältnissen bleiben . Dass Sie den Erhalt von weiß es, die anderen wissen es jetzt auch . – Bitte schön . Arbeitsplätzen falsch finden, das finden wir sehr traurig. Vielen Dank . Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren! Herr Präsident, es würde mich überfordern, mich der CDU/CSU) jetzt so schnell umzustellen und vom Platz aus zu reden . Deswegen bleibe ich am Anfang hier vorne stehen . Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache . (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – [CDU/CSU]: Schade!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 18/8078 an die in der Tagesordnung Meine Damen und Herren, es ist inzwischen Allge- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit meingut: Der Sport hat herausragende Bedeutung in un- einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall . Dann ist serer Gesellschaft . Er begeistert, er weckt Emotionen, die Überweisung so beschlossen . er verbindet Menschen über Grenzen hinweg und leistet einen Beitrag zur Integration . Sportlerinnen und Sportler Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs- sind Vorbilder. Viele Kinder finden nur wegen bekannter punkt, dem Tagesordnungspunkt 18: und berühmter Sportlerinnen und Sportler den Zugang – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- zum Sport . Weil das so ist, ist die Bedeutung eines ehr- desregierung eingebrachten Entwurfs eines lichen Sports umso höher . Im vergangenen Jahr haben Zweiten Gesetzes über eine finanzielle Hilfe wir deshalb das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet, um für Dopingopfer der DDR (Zweites Doping­ gegen die vorzugehen, die dopen . Dieses Gesetz ist ein opfer-Hilfegesetz) echter Meilenstein in der Sportpolitik und in der Doping- bekämpfung . Wie nötig das ist, zeigen die aktuellen Bei- Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461 spiele in der russischen Leichtathletik . (B) Nr. 1.4 (D) Doping schadet nicht nur dem Ansehen und der Inte- Beschlussempfehlung und Bericht des Sport­ grität des Sports, sondern vor allem auch der Gesundheit ausschusses (5 .Ausschuss) der Athletinnen und Athleten . Damit komme ich zum Drucksache 18/8515 Kern dieser Debatte über den vorliegenden Gesetzent- wurf . Auf der Grundlage des sogenannten Staatsplanthe- – Bericht des Haushaltsausschusses (8 .Aus - mas 14 25. wurden in der ehemaligen DDR Kinder und schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Jugendliche sowie erwachsene Athletinnen und Athleten im staatlichen Auftrag gezielt gedopt, um Leistungen im Drucksache 18/8528 Spitzensport zu steigern . Dabei war das DDR-Doping ein Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag perfides System: Kindern und Jugendlichen wurden vom der Fraktion Die Linke vor . staatlich geleiteten Sportmedizinischen Dienst der DDR unter Mitwirkung von Trainern, Betreuern und auch Ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für einsärzten Dopingpräparate ohne deren Wissen verab- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Auch dazu reicht . Diese jungen Sportler wurden bewusst getäuscht sehe ich keinen wirklichen Proteststurm . Also können und zielgerichtet körperlich geschädigt . wir so verfahren . Die circa 10 000 zwangsgedopten Athleten waren Dann will ich mal einen Verfahrensvorschlag machen . weder über die Medikamente noch über die Folgen der Bei gelegentlichen Überlegungen, die wir im Ältestenrat Einnahme dieser informiert . Was damals geschah, war angestellt haben, was man vielleicht zur Verlebendigung unverantwortlich und erfolgte ohne jegliche Rücksicht der Debatten tun könnte, ist uns nämlich in den Sinn ge- auf die Gesundheit . Die überwiegend verabreichten an- kommen, ob wir nicht gelegentlich, vor allen Dingen bei abolen Steroide haben zum Teil massive gesundheitliche den ohnehin kurzen Beiträgen vom Platz aus miteinan- Schädigungen bei den Betroffenen verursacht: Krebs- der reden sollten, statt hier feierliche Reden vom Pult aus erkrankungen, Organschäden, chronische Schäden am zu halten . Jeder kann das also so machen, wie es ihm Bewegungsapparat, am Gelenkapparat, psychische Be- am wohlsten ist . Aber diejenigen, die meinen, ihre Rede lastungen oder auch massive Hormonstörungen . Dabei würde auch vom Platz aus nichts an Wirkung verlieren, handelte es sich schlicht um Zwangsdoping und – das möchte ich hiermit ausdrücklich ermutigen, davon gege- kann man wirklich nicht oft genug hervorheben – um benenfalls Gebrauch zu machen . Doping im Auftrag des Staates, wobei das DDR-Regi- ( [CDU/CSU]: Das ist ja eine me – das kam noch erschwerend hinzu – kollusiv und Revolution hier!) kriminell mit dem DDR-Sport zusammenwirkte . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17137

Ingo Wellenreuther (A) Meine Damen und Herren, bereits das erste Dopin- bedürftig erklärt hat sowie eine Fristverkürzung erreicht (C) gopfer-Hilfegesetz aus dem Jahre 2002 war ein Zei- hat, damit das Gesetz noch vor der Sommerpause verab- chen dafür, dass die Bundesregierung die Schicksale der schiedet werden kann . Angesichts der schweren Schick- DDR-Dopingopfer anerkennt, indem sie einen gewissen sale vieler DDR-Dopingopfer und vor allem auch im Ausgleich geschafft hat . Das Gesetz verhalf damals aner- Hinblick auf ihren mitunter sehr schlechten Gesundheits- kannten DDR-Dopingopfern wenigstens zu einer finanzi- zustand war nämlich Eile geboten . ellen Unterstützung mittels eines Hilfsfonds . Der DOSB und auch das Nachfolgeunternehmen von VEB Jena- Das kann jetzt auch schnell gehen . pharm, dessen Erzeugnisse damals die DDR-Sportler verabreicht bekamen, erklärten sich damals ebenfalls zu Präsident Dr. Norbert Lammert: Entschädigungszahlungen bereit . Es muss jetzt auch schnell gehen . Im Jahre 2007 war dann der Hilfsfonds des ers- ten Doping­opfer-Hilfegesetzes erschöpft . 194 DDR- Doping­opfer hatten eine finanzielle Unterstützung des Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Bundes in Höhe von jeweils 10 500 Euro erhalten . Aller- Es muss auch schnell gehen . Herr Präsident, Sie haben dings wurden damals nicht alle Dopingopfer erfasst . Das vollkommen recht, ich beeile mich .– Die Anträge kön- lag erstens daran, dass ein Zusammenhang zwischen ge- nen schon jetzt an das Bundesverwaltungsamt gerichtet sundheitlichen Schäden und Doping vielfach erst später werden . Sie müssen bis spätestens Juni 2017 eingereicht erkennbar war, zweitens daran, dass einige von diesem sein . Ziel ist es, bereits in der zweiten Jahreshälfte 2016 Fonds schlichtweg nichts gewusst haben, und drittens da- mit der Auszahlung an Anspruchsberechtigte zu begin- ran, dass Dopingspätfolgen erst wesentlich später zutage nen . traten . Zum Schluss darf ich noch etwas aufgreifen, was ei- Inzwischen ist es anders . Es sind viele Opfer bekannt ner unserer Kollegen bereits in der ersten Debatte formu- geworden, die nach den damaligen Kriterien einen An- liert hat und was ich sehr wichtig finde: Der vorliegende spruch auf eine entsprechende finanzielle Hilfe ge- Gesetzentwurf und unsere heutige Diskussion darüber habt hätten. Deshalb war die Neuauflage eines solchen müssen ein Signal an Sportlerinnen und Sportler sein, die Hilfsfonds notwendig . Dem kommen wir heute mit dem sich auf dem Holzweg befinden und meinen, ihre sport- Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz nach . lichen Leistungen mit Doping steigern zu müssen . Denn Um den DDR-Dopingopfern schnell und unbürokra- Doping lohnt sich nicht und ist gefährlich . Auf der einen tisch zu helfen, hat das Innenministerium einen neuen Seite sind die Gesundheitsrisiken und die Langzeitfolgen (B) Fonds aufgelegt . Es stehen jetzt weitere 10,5 Millionen sehr gravierend, auf der anderen Seite wird die Integrität (D) Euro bereit . Anspruchsberechtigt sind die DDR-Doping­ des Sports dadurch nachhaltig beschädigt . opfer, die nach dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz kei- ne finanziellen Hilfen erhalten hatten. Die Zahlungen lin- Die Botschaft des heutigen Tages muss lauten: Wir dern das Leid der Betroffenen natürlich nicht, sie können unterstützen die Opfer des Zwangsdopings der DDR und es auch nicht wiedergutmachen, aber wir als Gesetzgeber sagen Nein zu Doping . werden einer moralischen Verpflichtung gerecht und set- Herzlichen Dank . zen damit ein weiteres Zeichen . Ich muss allerdings sagen: Ich halte es für sehr be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dauerlich, dass sich bisher weder der DOSB noch das ordneten der SPD) genannte Nachfolgeunternehmen aus der Pharmabranche an der Neuauflage des Fonds beteiligt haben. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion und der SPD sowie der Abg . Monika Lazar Die Linke . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN) Aber was nicht ist, kann ja nach dem Gesetz noch wer- den; die Möglichkeit besteht . Dr. André Hahn (DIE LINKE): Nach § 2 des Gesetzes haben jetzt Personen Anspruch auf Entschädigung, die erhebliche Gesundheitsschäden Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allem erlitten haben, weil ihnen als Hochleistungssportlern der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition DDR oder ihrer Mutter während der Schwangerschaft, und von den Grünen, haben noch die Chance, im Sin- übrigens ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen, Do- ne des Struck’schen Gesetzes dafür zu sorgen, dass der pingsubstanzen verabreicht worden sind . Wir gehen da- Gesetzentwurf das Parlament nicht so verlässt, wie er hi- von aus, dass noch circa 1 000 weitere DDR-Dopingopfer neingekommen ist, zumal der Gesetzentwurf einen gra- nach den damaligen Kriterien anspruchsberechtigt sind . vierenden Mangel aufweist . Dazu liegt der Änderungsan- Wir stellen mit dem neuen Gesetz also Gleichbehandlung trag der Linken vor . mit bereits Entschädigten her . Allerdings haben die bisherigen Debatten, vor allem Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass jene im Ausschuss, nur zu wenig Hoffnung Anlass gege- sie diesen Gesetzentwurf sehr beschleunigt und für eil- ben, dass es noch ein Einlenken gibt . Sie wollen den of- 17138 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. André Hahn (A) fenkundigen Mangel aus rein politischen Gründen nicht Bundesrepublik Sportler geben kann, die gegen ihren (C) beheben . Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden . (Dagmar Freitag [SPD]: Das erklären Sie (Michaela Engelmeier [SPD]: Aber kein sys- doch einmal!) tematisches Staatsdoping!) Einige wollen das deshalb nicht, weil Ihnen die ideo- Auch deshalb ist die bislang artikulierte Ablehnung unse- logisch geprägte Abrechnung und Diskreditierung des res Änderungsantrags unverständlich . DDR-Sports anscheinend wichtiger ist als die wirksame Unterstützung von Leistungssportlern, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dagmar Freitag [SPD]: Ich erkläre es Ihnen!) (Dagmar Freitag [SPD]: Das darf doch nicht Entweder es gab keine derartigen Opfer im Westen – dann wahr sein!) werden eben auch keine Anträge gestellt –, oder aber es die gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen gedopt wor- gibt tatsächlich auch im Westen Betroffene – dann haben den sind und dadurch bis heute andauernde erhebliche die natürlich auch ein Recht auf Entschädigung . gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten haben . Gestatten Sie mir den Verweis auf ein anderes un- (Michaela Engelmeier [SPD]: Ja, Staatsdo- rühmliches Kapitel deutscher Geschichte . Der Conter- ping hat man das genannt!) ganskandal ist leider bis heute ein hochaktuelles Thema . Hier taten Bundestag und Bundesregierung gemeinsam Wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel- mit der Justiz alles, um die Opfer und ihre Angehöri- punkt stehen würde, würden Sie nicht nur eine Einmal- gen – leider sehr spät und dann noch unzureichend – zu zahlung von 10 500 Euro gewähren, sondern darüber entschädigen . Inzwischen musste durch den Druck der hinaus die unzweifelhaft erforderlichen passgenauen Conterganopfer und ihrer Angehörigen sowie vieler Un- Hilfsleistungen für die Betroffenen . Davon ist im vorlie- terstützer – die Linke eingeschlossen – das Contergan- genden Gesetzentwurf aber keine Rede . stiftungsgesetz mehrfach geändert werden; und trotzdem gibt es im Interesse der Opfer noch immer viel zu tun . (Dagmar Freitag [SPD]: In Ihrem Antrag Die historische Aufarbeitung stößt weiterhin auf Wider- auch nicht!) stand, und den größten Teil der Kosten müssen die Steu- Und wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel- erzahler tragen – auffällige Parallelen . punkt stehen würde, würden Sie auch im Sinne des ver- Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum fassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatzes die Verein Doping-Opfer-Hilfe machen, den wir um eine (B) deutschen Dopingopfer in Ost und West endlich in glei- Stellungnahme zu unserem Änderungsantrag gebeten (D) cher Art und Weise unterstützen . haben . Mit den Positionen dieses Vereins stimmen wir (Beifall bei der LINKEN) wahrlich nicht immer überein, aber Ines Geipel und ihre Mitstreiter leisten seit vielen Jahren unter schwierigen Reflexartig – Frau Freitag hat es wieder gezeigt – Bedingungen eine Arbeit, vor der ich großen Respekt kommt immer wieder der Verweis, dass es sich beim habe . Ohne dieses hartnäckige Engagement hätte die DDR-Sport um Staatsdoping auf der Grundlage des Bundesregierung ihren Gesetzentwurf wohl nicht vorge- Staatsplanes gehandelt hat, was im Westen nicht der Fall legt . Frau Geipel hat mir Folgendes geschrieben – Zitat –: gewesen sei . Es ist in unseren Augen keine Frage, dass ein Ath- (Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]: Stimmt ja let, der als Minderjähriger von einem westdeutschen auch! – Michaela Engelmeier [SPD]: So war Trainer oder auch von einem Trainer nach 1989 ge- es ja auch! – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gen Wissen und Wollen gedopt wurde und heute mit richtig!) physischen und psychischen Schäden zu kämpfen hat, entschädigt werden muss . Dazu möchte ich gerne zwei Dinge anmerken . Und ihr Fazit ist: Erstens steht selbst in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf nicht, dass Betroffene nur Politik, zuallererst aber der Sport werden hier nach- dann antragsberechtigt sind, wenn sie Dopingopfer im legen müssen . Rahmen eines Staatsplanes waren, sondern Anspruchs- Auch deshalb fordern wir, dass sich endlich auch der voraussetzung ist einzig und allein, dass die Sportler ge- DOSB an der Finanzierung beteiligt . gen ihren Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden . Das aber kann es sowohl in Ost wie West gegeben ha- (Beifall bei der LINKEN) ben . Und wenn man sieht, wie die Aufklärungsarbeit der unabhängigen Evaluierungskommission Sportmedizin Herr Präsident, ich komme zum Schluss: Die Linke zur Dopingvergangenheit an der Universität Freiburg be- wird dem Dopingopfer-Hilfegesetz trotz der geäußerten hindert oder sogar boykottiert wird, ahnt man, was dort Bedenken zustimmen, weil wir eine Entschädigung der vertuscht werden soll . Betroffenen aus der ehemaligen DDR natürlich unterstüt- zen . Ich kann den Dopingopfern in Ost und West aber Zweitens bestreitet inzwischen nicht einmal mehr die zugleich versichern, dass dies kein Schlussgesetz ist . Das Bundesregierung, dass es auch in der alten und heutigen Thema wird uns leider weiter beschäftigen müssen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17139

Dr. André Hahn (A) Herzlichen Dank . tion, der Deutsche Sportbund, hatte sich nämlich nicht, (C) wie gelegentlich fälschlicher Weise dargestellt wurde, im (Beifall bei der LINKEN) Jahr 2002 an dem Fonds beteiligt, obwohl ausdrücklich, wie auch jetzt, geregelt war, dass Zuwendungen von drit- Präsident Dr. Norbert Lammert: ter Seite zulässig sind, und insbesondere der autonome Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag für Sport aufgerufen war, seinen Beitrag zu leisten . die SPD-Fraktion . Das Gegenteil war der Fall: Der autonome Sport – da- (Beifall bei der SPD) mals der Deutsche Sportbund – hatte zunächst jegliche Beteiligung abgelehnt . Erst durch einen Rechtsstreit mit Dagmar Freitag (SPD): einer ehemaligen DDR-Schwimmerin, die Schadenser- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- satz vom DOSB als Rechtsnachfolger des Nationalen ber Herr Kollege Hahn, Sie mögen die Schlachten der Olympischen Komitees forderte, kam dann Bewegung in Vergangenheit immer wieder schlagen wollen: Ich werde die Sache . Das Landgericht Frankfurt bestätigte nämlich, Ihnen auf diesem Weg nicht folgen, und ich erkläre Ihnen dass der Deutsche Olympische Sportbund Rechtsnach- auch gleich, warum Ihr Antrag heute ohnehin im Prinzip folger des NOK sei und damit grundsätzlich in Anspruch gegenstandslos ist . genommen werden könne . Daraufhin hatten die Betrof- fenen Entschädigungsansprüche gegenüber dem DOSB Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es gehört, geltend gemacht, und es kam zu einer außergerichtlichen der Bundestag beschäftigt sich heute zum zweiten Mal Einigung . Das war allerdings im Jahr 2006, vier Jahre mit einem der dunkelsten Kapitel in der deutschen Sport- nach Inkrafttreten unseres Gesetzes . Alle anerkannten geschichte: mit Doping und seinen Folgen . Ich spreche Dopingopfer des DDR-Sports erhielten somit eine wei- jetzt ausnahmsweise nicht von den vielen vergifteten Sie- tere Einmalzahlung von 9 250 Euro . gen und Medaillen . Nein, ich spreche von den Folgen, die von gewissenlosen Funktionären, Trainern, Ärzten Es scheint aber völlig in Vergessenheit geraten zu sein, und Helfershelfern auf Druck staatlicher Stellen in der dass auch dieser außergerichtliche Vergleich nur deshalb DDR in Kauf genommen wurden . Die Athletinnen und zustande gekommen ist, weil das Bundesinnenministe- Athleten waren teilweise nichts anderes als Versuchska- rium eine finanzielle Unterstützung des DOSB in Höhe ninchen in einem skrupellosen System . Ich zitiere: Die von 1 Million Euro vorgenommen hatte . Der Löwenan- Vergabe der Präparate an die Athleten hat entweder in teil kam auch hier, wie so oft, vom Bund . Ich denke, das Fremdpackungen bzw . ohne Packung zu erfolgen . Kei- sollte an dieser Stelle wirklich noch einmal erwähnt wer- nesfalls dürfen die Athleten in den Besitz der Original- den . Der DOSB hat sich dann mit 500 000 Euro beteiligt . Die Opfer mussten flugs schriftlich erklären, auf jegliche (B) packungen gelangen .– So lautete die Anweisung des (D) Sportmedizinischen Dienstes der DDR . weiteren Ansprüche gegenüber dem DOSB zu verzich- ten . Deckel zu, Fall erledigt – zumindest aus Sicht des Es ist schlichtweg erschütternd, was die Sportlerin- Sports . nen und Sportler teilweise schon im Kindesalter an so- genannten unterstützenden Mitteln schlucken mussten . Eine finanzielle Beteiligung – wen wundert es? – ist Dies alles, ob Sie das mögen oder nicht, Herr Kollege, ist auch beim Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz trotz ein- von staatlicher Seite akribisch erfasst und notiert worden . deutiger Aufforderung, beispielsweise seitens des Sport- ministers, nicht in Sicht . Stattdessen hat die Führungs- (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Das hat nie- spitze des DOSB anlässlich des kürzlich begangenen mand bestritten!) zehnjährigen Jubiläums vor einigen Tagen tatsächlich verlauten lassen – ich zitiere –: Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie eben gesagt ha- ben . Die Schäden der Opfer offenbaren die gesundheitli- Jetzt sind wir froh, dass Bundesregierung und Bun- chen, aber auch die seelischen Qualen . An diesen Schä- destag eine weitere Entschädigungswelle durchfüh- den werden sie im Übrigen bis an ihr Lebensende leiden . ren wollen . Der DOSB hat diese Aktivitäten vom Daher wollen wir die Betroffenen, die keine Hilfen aus ersten Tag bis heute stets aktiv unterstützt . dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz bekommen haben, Ich war ein bisschen fassungslos, aber wahrscheinlich mit diesem zweiten Gesetz unterstützen . nicht nur ich . Dieses Muster, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen, kommt wohl nicht nur mir bekannt vor . Die der CDU/CSU) Haltung des Dachverbands im deutschen Sport bleibt, wie sie schon im Jahr 2002 war: ein Armutszeugnis an- Die Bundesregierung und das Parlament bzw . die gesichts dessen, was eben auch im Namen des Sports Koalitionsfraktionen stellen sich dieser Verantwortung . jungen Menschen angetan worden ist . Deshalb wird es Aber – da teile ich die Meinung meiner Vorredner – es Sie nicht überraschen, dass auch ich an dieser Stelle den sollten wahrlich auch andere Akteure in die Pflicht ge- DOSB wirklich noch einmal auffordere, seine Haltung nommen werden . Wenn ich kurz einen Blick zurück wer- zu überdenken und seinen Teil der Verantwortung anzu- fen darf: Die Auflage des ersten Dopingopfer-Hilfsfonds erkennen . ist jetzt 14 Jahre her . Durch diese etwas längere Zeitspan- ne ist offensichtlich auch die Chronologie der Vorgänge Nun zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Hahn . Sie for- im Gedächtnis vieler etwas verblasst . Daher muss ich die dern eine Einbeziehung von West-Dopingopfern . Darü- Rolle des organisierten Sports an dieser Stelle noch ein- ber kann man reden, aber nicht heute . Wer das nämlich mal ins Gedächtnis rufen: Die damalige Dachorganisa- heute fordert, lieber Herr Kollege, macht das im Wissen, 17140 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dagmar Freitag (A) dass er damit dieses Zweite Gesetz über eine finanzielle pingopfer entschädigen können . Jetzt sind wir froh, (C) Hilfe für Dopingopfer der DDR komplett infrage stellt; dass Bundesregierung und Bundestag eine weite- denn es gibt einen Beschluss des Haushaltsausschusses re Entschädigungswelle durchführen wollen . Der vom April 2016, mit dem der Haushaltsausschuss dem DOSB hat diese Bemühungen auf politischer Ebene Gesetzentwurf der Bundesregierung unter dem ausdrück- stets aktiv unterstützt . lichen Vorbehalt zugestimmt hat, dass der federführende Sportausschuss – Sie waren dabei – keine Änderungen Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde am Gesetzentwurf mit erheblichen finanziellen Auswir- diese Aussage einfach nur dreist . kungen empfiehlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Das Plenum und bei der SPD) entscheidet, nicht der Haushaltsausschuss!) Nachdem sich die Politik zu einer Neuauflage ent- Dieser Beschluss des Haushaltsausschusses, Herr Kolle- schieden hat, steht der DOSB immer noch auf der Brem- ge, erfolgte einstimmig, also auch mit den Stimmen der se . Der Verein Doping-Opfer-Hilfe bezeichnet die Aus- Fraktion Die Linke . Vielleicht reden Sie einmal mit Ihren sagen Hörmanns auch als „Offensivlügen“ . Ganz falsch eigenen Leuten . Dann würden solche Dinge wie heute ist das leider nicht . Aber es ist für den DOSB noch nicht nicht passieren . Ich denke, Herr Hahn, Sie wissen das zu spät . Vielleicht sollte man das zehnjährige Jubiläum, ganz genau . auch wenn es ein paar Tage oder Wochen her ist, noch Daher stellt sich aus meiner Sicht wirklich die Frage: nutzen, um die Dopingopfer nicht im Regen stehen zu Wollen Sie etwa mit dem heutigen Antrag das ganze Ge- lassen . setz zu Fall bringen? Schon allein deshalb, dass das nicht Aber auch wir sollten uns nicht zurücklehnen . Denn, passiert, werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen . so schön wie die Zahlungen sind, es sind Einmalzahlun- Vielen Dank . gen . Viele Opfer können jetzt erst daran teilhaben, weil sie bei der ersten Auflage 2003 nicht erfasst waren. Diese (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Entschädigungen sind für einige auch eine moralische Anerkennung des Unrechts, das ihnen in der DDR wi- Präsident Dr. Norbert Lammert: derfahren ist . Deshalb bleibt für uns Grüne klar: Blei- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- bende Schäden benötigen auch bleibende Hilfen . Wir legin Monika Lazar das Wort . bleiben daher dabei, dass wir uns eine Rentenzahlung für Schwerstfälle im DDR-Doping wünschen . (B) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Dazu müssten die DDR-Dopingopfer nur mit ins auch mir persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen wer- Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz . Für uns Grüne ist es den . Vielleicht lässt sich die Koalition ja noch zu diesem ein wichtiges Ergebnis, über das wir wirklich sehr froh Schritt bewegen . sind . Selbstverständlich hätten wir uns dieses Gesetz schon sehr viel früher gewünscht, aber manchmal muss Zum Schluss möchte auch ich noch etwas zum Än- man eben etwas länger Überzeugungsarbeit leisten und derungsantrag der Linksfraktion sagen . Auf den ersten die Koalition zu ihrem Glück zwingen . Blick klingt es nachvollziehbar . Allerdings können wir diesem Antrag nicht zustimmen . Natürlich gab es auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Westdeutschland Doping, und das gibt es in ganz Deutschland heute noch . Dennoch ist es eine besondere Aber besser spät als nie . Wir werden diesem Gesetzent- Sache, wenn ein Staat Doping von oben verordnet . Der wurf selbstverständlich zustimmen . Staatsplan 14 25. des ZK der SED vom Oktober 1974 ist Die Politik hat also ihre Hausaufgaben gemacht . An- schon angesprochen worden . Für Westdeutschland wis- ders sieht es leider beim organisierten Sport aus . Es ist sen wir bisher noch nichts von einer flächendeckenden ja von allen anderen Rednerinnen und Rednern schon Dopinganordnung durch Politik oder Sport . angesprochen worden: Wir würden uns eine konkrete finanzielle Beteiligung des DOSB durchaus wünschen. In den letzten Jahren wurde von Historikern der Be- Doch bis jetzt gibt es leider nur Sonntagsreden . Die Rede griff des systemischen Dopings in der Bundesrepublik von DOSB-Präsident Alfons Hörmann beim Festakt am bis 1990 verwendet . Das bedeutet Doping im kleinen 20 .Mai ist von Frau Freitag schon zitiert worden . Auch Kreis und mit großen individuellen Varianten des Do- ich zitiere daraus, weil der vorherige Satz ebenfalls inte- pingmissbrauchs durch Sportler, Trainer und Mediziner . ressant ist: Noch gibt es keinen Beweis für ein staatlich verordnetes Doping . Aber glauben Sie uns: Wenn sich herausstellen Wir . . sollte, dass es auch in Westdeutschland eine Dopingan- – sprich: der DOSB – ordnung von oben gegeben haben könnte, wären wir sicherlich die Letzten, die sich von einem weiteren Ent- haben schon vor zehn Jahren die Initiative ergriffen schädigungsfonds, dann für West-Dopingopfer bis 1990, und mit Hilfe des Bundes und unter Einbeziehung nicht überzeugen lassen würden . Das müsste dann neu des Herstellerunternehmens Jenapharm viele Do- beraten werden . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17141

Monika Lazar (A) Vielen Dank . reichen Opfern jetzt zügig unter die Arme greifen . Dies (C) wollen wir mit der heutigen Verabschiedung des Zweiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dopingopfer-Hilfegesetzes auf den Weg bringen . sowie des Abg . [Heidelberg] [SPD]) Wenn wir heute von Staatsdoping sprechen, dachten wir, zumindest bis vor Kurzem, dieses Vorgehen sei ein Präsident Dr. Norbert Lammert: Relikt aus vergangenen Zeiten . Doch erst jüngst wurden Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist wir bedauerlicherweise eines Besseren belehrt . die Kollegin Karin Strenz für die CDU/CSU-Fraktion . (Dagmar Freitag [SPD]: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) Während wir uns mit der Aufarbeitung und Anerkennung befassen, stehen andere erst vor der Realisierung eines Karin Strenz (CDU/CSU): noch nicht abzusehenden Scherbenhaufens . Ein Beispiel: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Russland hat zwar erste Konsequenzen gezogen; doch ganz persönlicher Blick zurück in meine eigene Vergan- noch kennen wir die Tragweite des Ausmaßes nicht . Das genheit: Aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR . ist zweifellos ein schmerzhafter Paukenschlag für den in- Ich war neun oder vielleicht zehn Jahre alt, als sich in ternationalen Sport, der, sollten sich die Vorwürfe so be- meinem Zuhause die Sportlehrer an meiner Schule die wahrheiten, noch lange und vor allem im wahrsten Sinne Klinke in die Hand gaben . Da saßen sie nun und redeten des Wortes tief in den Knochen stecken wird . auf meine Eltern ein . Ja, ich war – die Betonung liegt natürlich auf „war“ – eine echte Sportskanone . Selbst Die Verantwortlichen richten einen unermesslichen die Jungs zwei Klassenstufen höher konnten mich beim Schaden für diesen unseren internationalen Sport an, Laufen nicht einholen; sie waren chancenlos . Dafür stieg den wir lieben und der uns schon über Generationen hin- allerdings die Chance, als junger Kader für die KJS – das weg begeistert hat . Das ist nicht hinnehmbar, und das ist Zauberwort für „Kinder- und Jugendsportschule“ – ak- schändlich, vor allem gegenüber den fairen und sauberen quiriert zu werden . Sportlern . Mein Vater – stolz wie Bolle auf seine Lütte, gebauch- Wir sollten uns die Frage stellen, was die Teilnahme pinselt durch Vater Staat – war begeistert . Meine Mut- an Olympischen Spielen für einen Sportler, der ehrlich ter – immer darauf bedacht, ihr Kind zu behüten und zu und fair mit seinen Mitstreitern um den Sieg ringen will, beschützen, es nicht zu früh aus der Familie zu geben und überhaupt bedeutet . Ich denke, für viele ist es das Ereig- zu entlassen – hat den familieninternen Machtkampf ge- nis schlechthin; das ist eine wahrhafte Lebensleistung . (B) wonnen . Die kleine Karin – ohne Ahnung – ging weiter Die emotionale Bedeutung sollte in keinem Fall unter- (D) an drei Nachmittagen die Woche in ihre Sport‑AG und schätzt werden . Denn bis ein Sportler die einzigartige lief weiter fröhlich und unbeschwert anderen davon . Chance erhält, an so einem Event teilzunehmen, muss er Wovor ich in Wahrheit bewahrt blieb, ist mir seiner- einen steinigen Weg beschreiten und einen langen, an- zeit natürlich komplett verborgen geblieben . Heute bin strengenden Kampf führen . ich unendlich dankbar, dass mir das Schicksal der Do- Nur die Besten der Besten werden sich hier miteinan- pingopfer aus dem DDR-Staatsplan 14 25. erspart blieb . der messen . Wer das geschafft hat, kämpft schließlich Unfassbar, dass dieses Regime noch nicht einmal vor um das ganz, ganz große Los: um einen Platz auf dem Kindern und Jugendlichen haltgemacht hat und lebens- Siegertreppchen, darum, in einer feierlichen Zeremonie bedrohliche und lebensvernichtende Maßnahmen ergriff, einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und für mit dem Wissen, dass sie die Menschen und die Seelen seine außerordentlich besondere Leistung vor den Augen zerstören, nur um bei Spielen in Gold zu glänzen . von Millionen Fans daheim geehrt zu werden . Was muss Was passiert wäre, wenn bei mir die Entscheidung das für ein besonderes und verdientes Gefühl für denje- ein anderes Ende gefunden hätte, ist uns durch die vie- nigen sein! len, vielen überaus schweren Schicksale von Sportlern, Leider reicht es nicht immer für Platz eins, den Platz die in der Vergangenheit systematisch auf Befehl der ganz oben . Wer knapp daneben liegt, muss es auch ver- DDR-Führung gedopt wurden, nun glasklar geworden . kraften . Aber umso gewaltiger muss doch die Enttäu- Wir haben eine schreckliche Bilanz zu verzeichnen, die schung für ebendiesen ehrlichen Athleten sein, wenn er in unseren Augen erneut dringenden Handlungsbedarf dann im Nachhinein erfährt, dass er diese Würdigung erfordert . doch verdient hätte, da der vermeintliche Sieger des Do- Wenn nicht gleich und unmittelbar, dann wurden die pings überführt wurde . Schlimmstenfalls liegen dann ir- vielen gesundheitlichen Folgen erst später – oder auch gendwann die Medaille und ein nettes Schreiben mit den erst sehr viel später – ersichtlich . Das Gravierende, gar Worten „Herzlichen Glückwunsch“ und „mit tiefem Be- Menschenverachtende daran: Die gefährlichen Doping- dauern“ lieblos im Briefkasten . Doch das unglaubliche mittel, die zu enormer Leistungssteigerung führen soll- Feeling einer Siegesfeier bei Olympia, das, wofür man ten, wurden den Athleten nichtwissentlich verabreicht . so lange gekämpft hat und den Menschen in Erinnerung Sie hatten schlicht und ergreifend keinen blassen Schim- bleibt, ist vergangen und unwiederbringlich . Für solche mer davon, welche qualvollen Konsequenzen ihre große Fälle müssen wir alle zusammen ein angemessenes Ze- Freude am Sport für ihr Leben noch haben sollte . Das ist remoniell erfinden, es kreieren, um die Würdigung der zutiefst bitter . Umso wichtiger ist es, dass wir den zahl- Leistung noch einmal in den Mittelpunkt zu stellen . 17142 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Karin Strenz (A) In neun Wochen ist es wieder so weit . Am 5 .August be- Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum (C) ginnen die Olympischen Spiele in Rio, und ich hoffe, dass Schutz von Verbraucherinteressen stärken bis dahin die Verantwortlichen der jüngsten Vorfälle ange- messen sanktioniert werden . Viel zu oft fehlt genau hier Drucksache 18/8609 die Durchschlagskraft für eine angemessene Bestrafung . Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Wer hingegen in Deutschland betrügt, indem er verbo- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz tene Substanzen zur Leistungssteigerung zu sich nimmt, muss durch die Verabschiedung des Anti-Doping-Ge- Auch hier soll nach einer interfraktionellen Verein- setzes, das wir Ende vergangenen Jahres hier beschlos- barung die Aussprache 25 Minuten dauern .– Auch hier sen haben, mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen . sehe ich dazu keine Einwände . Also verfahren wir so . Deutschland nimmt seine Aufgabe ernst, Manipulation und Betrügerei im Sport zu bekämpfen . Ich erteile das Wort zunächst der Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion Die Linke . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Frau Kollegin . Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Karin Strenz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sofort .– In diesem Zusammenhang gehört auch eine Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es zu so ehrliche und konsequente Aufarbeitung dazu . Wir wollen später Stunde? Es geht um Augenhöhe . Wir Linke haben unseren Beitrag für die Integrität des Sports, vor allem einen Antrag vorgelegt, der mehr Augenhöhe zwischen für einen sauberen Sport leisten . Wir müssen im Übrigen Ihnen als Kleinanleger und den großen Unternehmen der alle unsere Höchstleistungen erbringen, im Job wie im Finanzbranche schaffen soll . Alltag, und Doping gehört nicht dazu . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Uns ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Verbrauche- der Abg . Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE rinnen und Verbraucher vor finanziellen Verlusten bei GRÜNEN]) ihrer Geldanlage insbesondere dann geschützt werden, wenn Anbieter unseriös oder gar betrügerisch handeln . Gerade im Bereich des Grauen Kapitalmarkts – das ist Präsident Dr. Norbert Lammert: immer noch ein weitestgehend unregulierter Markt – gibt Ich schließe die Aussprache . es einen unübersichtlichen Wust von Anlegermodellen, (B) Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der die stetig erweitert werden . Für die Verbraucherinnen (D) Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten und Verbraucher, die ihr Geld anlegen, nicht zuletzt, um Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der beispielsweise etwas für die Altersvorsorge zu tun, und DDR. Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- die dann auch manchmal in risikoreiche Anlageformen empfehlung auf Drucksache 18/8515, den Gesetzentwurf getrieben werden, führen illusorische Gewinnverspre- der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/8040 und chen oder Schneeballsysteme jährlich zu hohen finanzi- 18/8261 anzunehmen . Hierzu liegt der vorhin ange- ellen Verlusten . sprochene Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Nun wurde in dieser Wahlperiode – das müssen wir Drucksache 18/8622 vor, über den wir zuerst abstimmen . auch anerkennen – bereits mit dem Kleinanlegerschutz- Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt gesetz versucht, Anleger in diesem ungleichen Spiel bes- dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Änderungs- ser zu schützen. Prospektpflichten wurden verschärft. antrag abgelehnt . Es gibt Werbebeschränkungen . Die Finanzaufsicht Ba- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Fin kann mittels einer sogenannten Produktintervention stimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt da- sogar Finanzpraktiken und -instrumente verbieten . Das gegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist der Gesetzent- sind alles Fortschritte, die sich allerdings auf die Phase wurf in zweiter Beratung angenommen . der Ausgabe von Wertpapieren beziehen, also auf den Vertrieb und den laufenden Handel der Finanzinstrumen- Wir kommen zur te . dritten Beratung Wir möchten mit unserem Antrag den kollektiven Ver- und Schlussabstimmung . Ich darf diejenigen, die dem braucherschutz stärken . Dazu bedarf es nur einer ganz Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich von den kleinen Erweiterung in den entsprechenden Gesetzen, Plätzen zu erheben .– Möchte jemand gegen den Gesetz- um die genannte Finanzaufsicht, die BaFin, in die Lage entwurf stimmen? – Möchte sich jemand der Stimme ent- zu versetzen, die Anleger zu schützen, nachdem eine An- halten? – Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig lagepleite passiert ist . Damit hier keine Missverständnis- angenommen . se aufkommen: Die BaFin soll eben nicht einzelne Ver- braucherinteressen schützen, sondern die Verbraucher Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19: in der Gesamtheit unterstützen . Das soll sie nach einer Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna Anlagepleite tun können und müssen . Damit wird sie ei- Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, wei- nen zusätzlichen Auftrag zur kollektiven Sicherung der terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rechtsverfolgung bekommen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17143

Susanna Karawanskij (A) Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber im Grun- salbungsvollen Worten konkret vorgeschlagen haben . (C) de sehr einfach . Die BaFin muss dafür sorgen, dass sich Dankenswerterweise haben Sie allerdings nicht nur eben, die Anbieter nach einer Anlagepleite eben nicht aus dem sondern auch in Ihrem Antrag darauf hingewiesen, dass Staub machen, ihre Tat verdecken oder in eine Insolvenz die Regierungskoalition den Verbraucherschutz in den gehen können . Die Praxis zeigt, dass Anbieter oftmals letzten Jahren so massiv gestärkt hat wie noch keine Re- eine Pleite aussitzen, wohl wissend, dass ihnen im Falle gierung und keine Koalition vorher . eines Scheiterns eines solchen Geldanlagemodells nichts passiert, unter anderem auch deswegen, weil viele Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . braucherinnen und Verbraucher schlicht und ergreifend Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) nicht die finanziellen Mittel haben, um einen Fachanwalt Insofern können wir heute erst einmal zur Beruhigung all zurate zu ziehen . Manche Anbieter setzen auf Verjährung jener, die Sie eben versucht haben, zu verunsichern, oder darauf, das Ganze zu vertuschen . Danach haben die Kleinanleger nicht die Möglichkeit, Ansprüche geltend (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Sie ha- zu machen . ben den Antrag nicht gelesen! Dabei ist er so kurz!) Kurzum: Pleitemacher haben so gut wie nichts zu be- fürchten, während die Verbraucher auf den Kosten, ver- darauf hinweisen, dass der Verbraucherschutz, gerade ursacht durch die finanziellen Schäden, sitzen bleiben. bei den Finanzprodukten, noch nie eine größere Rolle als Das muss sich dringend ändern . Meine Damen und Her- heute gespielt hat und dass wir heute das höchste Schutz- ren, wir können das ändern . niveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- land haben . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wie ich gerade dargestellt habe: Es geht nur um eine klei- ne Ergänzung, für die ich ausdrücklich werben will . Die Im vergangenen Jahr – ich will uns allen das verge- BaFin kann es so ermöglichen, dass Verbraucherinnen genwärtigen – haben wir die Aufgaben der Bundesanstalt und Verbraucher überhaupt erst einmal die Gelegenheit für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Aufsichtsbehör- zur Rechtsdurchsetzung haben . Das sollte unser aller An- de über Banken, Finanzdienstleister, den Aktienhandel liegen sein . und Versicherungen, deutlich – man kann sogar sagen: drastisch – erweitert . Zusätzlich ist sie nun dem Schutz Die von uns vorgeschlagene Formulierung im Antrag kollektiver Verbraucherinteressen verpflichtet. Das ha- wäre ein großer Schritt für den finanziellen Verbraucher- ben Sie eben etwas anders dargestellt . Deswegen will ich schutz . Wir haben in unseren Antrag ganz bewusst keine es noch einmal ausdrücklich betonen . Es ist gesetzlich weiteren Schritte aufgenommen, zum Beispiel die Mög- (B) verankert, dass die BaFin auch dem Schutz kollektiver (D) lichkeit der Gruppenklage, die Einführung einer Prü- Verbraucherinteressen verpflichtet ist, und diese Rol- fung für Geldanlagen aller Art, also so etwas wie einen le füllt sie nach allem, was wir sehen und hören, auch Finanz-TÜV . Es wird weiter Anlageskandale geben, die außergewöhnlich kraftvoll aus . Nahezu wöchentlich un- meist Kleinanlegerinnen und Kleinanleger treffen . Diese tersagt aufgrund dieser neuen Gesetzesmöglichkeit die brauchen von uns mehr Rückendeckung . BaFin Angebote von Produkten, ordnet die Abwicklung Weil das eine kleine Gesetzesänderung ist, weil wir unerlaubter Geschäfte an und warnt vor riskanten Anla- schon viel für den Verbraucherschutz getan haben und geprodukten . Das ist auch in diesem Bereich der beste weil Sie beim letzten Finanzmarktnovellierungsgesetz Verbraucherschutz, den wir jemals hatten . die Gelegenheit verpasst haben, diese kleine Änderung Zur Unterstützung hat die Koalition übrigens bei den vorzunehmen, die aber für die vielen Kleinanlegerinnen Verbraucherzentralen den Finanzmarktwächter neu ge- und Kleinanleger, die mit den Maßnahmen aus unserem schaffen . Ich will auch das noch einmal ausdrücklich Antrag weniger auf sich allein gestellt wären, sehr wich- unterstreichen . Dort sitzen Experten, die unmittelbar auf tig wäre, könnten Sie sich einen Ruck geben und einfach Hinweise eingehen und unmittelbar für Verbraucher mit zustimmen . dem Ohr am Bürger sind und die Produkte thematisieren Vielen Dank . und kritisieren, vor denen wir zu Recht gemeinsam war- nen wollen . (Beifall bei der LINKEN) Sie erfahren aus erster Hand, wo Missstände sind . Wird ein Risiko identifiziert, kann die BaFin den Verkauf Präsident Dr. Norbert Lammert: problematischer Produkte an Kleinanleger untersagen Der Kollege Frank Steffel erklärt jetzt für die CDU/ und in letzter Konsequenz – was ein sehr weit gehender CSU-Fraktion, ob es diesen Ruck geben wird . Schritt ist, den es in fast keinem anderen Marktsegment (Beifall bei der CDU/CSU) gibt – die Produkte sogar komplett verbieten . Man über- trage das einmal auf andere Teile unserer Wirtschaft . Da würde es zu Recht einen erheblichen Aufschrei von Kon- Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): sumenten und Verbrauchern geben . Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Frank Steffel würde sehr gerne Obwohl das Kleinanlegerschutzgesetz noch keine erklären, ob wir zustimmen oder nicht zustimmen . Wir zwölf Monate in Kraft ist, haben wir es bereits sinnvoll haben nur alle gar nicht genau verstanden, was Sie wol- geändert . Ich will auch darauf hinweisen; denn es ist völ- len . Es ist für uns etwas unklar geblieben, was Sie mit lig klar: Unternehmen sind jetzt zusätzlich gezwungen, 17144 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Dr. Frank Steffel (A) sämtliche von der BaFin angeforderten Unterlagen un- tenzeit, sodass als Nächstes gleich die Kollegin Sarah (C) verzüglich herauszugeben . Die BaFin kann Vermögens- Ryglewski für die SPD-Fraktion das Wort erhält . werte einfrieren oder Anbietern die Zulassung komplett entziehen . Diese Befugnisse sind außergewöhnlich um- Sarah Ryglewski (SPD): fassend . Sie wirken abschreckend, und sie ermöglichen Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie- der Behörde ein sehr gezieltes Durchgreifen im Interesse be Frau Karawanskij, Sie wissen ja, dass mir das Thema der Verbraucher . Verbraucherschutz und insbesondere auch die Belan- Uns allen ist bewusst – das müssen wir nicht immer ge der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger besonders wieder betonen, aber wir tun es gern –: Wir sind keines- wichtig sind . Ich betone das an dieser Stelle auch noch wegs am Ziel . Wir werden auch nie am Ziel sein . Denn es einmal ganz explizit . Ich glaube, das Vertrauen, das in ist wie in allen Bereichen des Lebens: Die Märkte entwi- der Finanzmarktkrise verloren gegangen ist, stellen wir ckeln sich weiter . Den Menschen, ob gut meinenden oder in erster Linie nicht dadurch wieder her, dass wir über böse meinenden, kriminellen oder weniger kriminellen, Trennbanken, über Hochfrequenzhandel und über andere fällt immer wieder etwas Neues ein . Unseriöse Anbieter Dinge diskutieren, sondern das stellen wir im Wesentli- suchen sich neue Wege, um an das Geld von Verbrau- chen dadurch wieder her, dass wir den Leuten das Gefühl chern und Anlegern zu kommen . Daher haben wir ver- geben, dass ihre Geldanlagen bei uns in sicheren Händen einbart, das Gesetz Ende 2016 auf seine Wirksamkeit zu sind, dass wir uns darum kümmern, dass sie da gut ab- überprüfen und damit bereits ein Jahr nach Inkrafttreten gesichert sind und dass sie ihr sauer Erspartes nicht an noch einmal nach Bedarf zu ergänzen . irgendeinen windigen Anlageberater verlieren . Viele Schutzmöglichkeiten für Verbraucher vor Risi- (Beifall bei der SPD) ken im Finanzmarkt ignorieren Sie in Ihrem Antrag völ- In dieser Hinsicht, Frau Karawanskij, sind wir uns lig . Ich will nur auf den Ombudsmann hinweisen, den es einig . Aber wir sind uns leider nicht in der Bewertung schon sehr lange gibt . Das ist eine große Errungenschaft, einig, ob die hier zur Verfügung stehenden Instrumente die übrigens außergewöhnlich intensiv genutzt wird . Die eigentlich ausreichen . Ich glaube, dass wir schon jetzt die Verfahren sind kostenfrei . Sogar die Versicherer bezah- Möglichkeit haben, mit dem, was wir jetzt beschlossen len die Verfahren im Zweifelsfall . Auch die Behauptung, haben, zu einem wirksamen Verbraucherschutz zu kom- es gebe keinen Rechtsschutz, ist falsch . Natürlich sind men . Die verschiedenen Maßnahmen, die wir beschlos- auch diese Verfahren vom Rechtsschutz gedeckt . Wir sen haben – das wurde auch schon ausführlich darge- haben die Haftpflichtversicherung für Finanzvermittler stellt –, sind wichtige Schritte: angefangen bei der BaFin mehrfach ausgeweitet und haben damit auch vielen Ver- als kollektive Verbraucherschutzinstitution bis hin zu brauchern berechtigte Sorgen genommen . (B) Warnhinweisen zu Produkten des Grauen Kapitalmarkts (D) So schutzlos, unwissend und unbeholfen, wie Sie die etc . Ich glaube, das muss ich hier nicht weiter benennen . Bürger darstellen, sind diese in der Regel Gott sei Dank Besonders wichtig ist auch – darauf haben Sie selber nicht . Das zeigen Hunderte, ja Hunderttausende von Ver- hingewiesen –, dass wir eben auch die Möglichkeit ha- fahren, die beispielsweise nach der Pleite von Lehman ben, diese marktschreierischen Werbestrategien endlich Brothers auch zur Entschädigung von Anlegern geführt zu verbieten . haben . Das zeigen auch Kapitalanlegermusterverfah- ren . Denken Sie an die Verfahren gegen die Telekom (Zurufe der Abg . Susanna Karawanskij [DIE und gegen die Daimler AG . Das zeigen hunderttausend LINKE]) Verfahren bei Bankenombudsmännern im Jahr 2014 . Ich – Ja, dazu komme ich gleich auch noch einmal .– Wenn wiederhole: 100 000 Bürgerinnen und Bürger haben von wir jetzt einmal an Prokon denken: Ich erinnere mich diesem Recht Gebrauch gemacht . Sie sind weniger unin- noch gut an diese Aufhänger „20 Prozent risikolos“, die formiert und unbeholfen, als Sie es darstellen . in der Straßenbahn hingen . Alles das – da dürfen wir uns Der informierte Verbraucher hat also unzählige Mög- doch nichts vormachen – hat auch dazu beigetragen, dass lichkeiten, auch nach einem Schaden auf dem Finanz- Menschen überhaupt in diese Situation gekommen sind . markt zu seinem Recht zu kommen . Wer allerdings Wir tun ja nicht nur etwas im Bereich der Informa- überhaupt kein Interesse an Informationen über Finanz- tion . Das, was Sie sagen, ist ja im Grunde genommen produkte hat, dem kann ich nur raten: Lassen Sie die nicht verkehrt, nämlich dass wir einen Schritt weiter- Finger von diesen Produkten . Denn wenn man Produkte gehen . Aber da tun wir doch einiges . Es ist ja nicht so, nicht versteht, dann sollte man sie nicht kaufen und sein als würden wir nur sagen: Wir informieren, sodass sich Geld besser anders einsetzen . der Verbraucher erkundigen kann . Wenn er dann auf ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Produkt hereinfällt, ist er selber schuld .– Wir haben ja ordneten der SPD – Lothar Binding [Heidel- auch in anderen Bereichen etwas gemacht . Die BaFin hat berg] [SPD]: Gesunder Menschenverstand ist die Möglichkeit, Produkte, die sich als schädlich erwei- nicht zu ersetzen!) sen, vom Markt zu nehmen . Das ist – das hat auch Herr Steffel gesagt – eine ganz große Errungenschaft und et- Präsident Dr. Norbert Lammert: was, was in anderen Bereichen undenkbar wäre . Der jetzt eigentlich vorgesehene Kollege Gerhard Wir haben mit dem Finanzmarktwächter eine Mög- Schick gibt seine Rede zu Protokoll . Das macht die De- lichkeit geschaffen, dass man sich den Finanzmarkt aus batte nicht unbedingt lebhafter, verkürzt aber die Debat- der Perspektive der Verbraucherinnen und Verbraucher Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17145

Sarah Ryglewski (A) anguckt, frühzeitig Auffälligkeiten benennt und dann nachsteuern können . Da – das kann ich Ihnen verspre- (C) auch tätig werden kann . chen – haben Sie mich an Ihrer Seite . Die Offenheit, die signalisiert wurde, wenn es darum geht, die entspre- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) chenden Gesetze zu evaluieren und zu schauen, wo wir Ich glaube, dass damit schon ein Großteil der Punkte, die nachsteuern müssen, werden wir uns zu eigen machen . in Ihrem Antrag aufgegriffen werden, geregelt ist . Ich hoffe, dass dann größere Einigkeit als heute Abend herrscht . Ich gehe nun einmal auf die Artikel ein, die Sie in Ih- rem Antrag als Referenz genannt haben, damit Sie auch Vielen Dank . sehen, dass wir uns das doch sehr genau angeguckt haben . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie haben darin einen Artikel der Verbraucherschutzzen- trale Hamburg mit dem Titel „Geschlossene Fonds . Gute Chancen vor Gericht“ zitiert . Verbraucherinnen und Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: braucher haben die Möglichkeit, bei Anlagepleiten vor Der voraussichtlich letzte Redner heute Abend ist der Gericht ihre Rechte geltend zu machen . Das Problem ist Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion . nur, dass viele Leute einfach einen großen Respekt vor (Beifall bei der CDU/CSU) dem haben, was vor Gericht passiert . Natürlich gibt es auch ein gewisses Risiko, aber am Ende bekommen die Leute meistens recht; die müssen das Ganze noch nicht Alexander Radwan (CDU/CSU): einmal letztinstanzlich durchklagen, sondern am Ende Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- knicken die meisten Banken sogar ein, gehen in den Ver- ren! Herr Kollege Steffel und Frau Kollegin Ryglewski gleich, weil sie wissen, dass es ausgeurteilt wird . haben die Diskussion bereits angesprochen . Ich gehe davon aus, dass die Linke in absehbarer Zeit einen ent- Wir haben mit dem Finanzmarktwächter und im Üb- sprechenden Antrag erneut einbringen wird . Vielleicht rigen auch mit den Verbraucherzentralen ganz wertvolle nehmen Sie dann unsere Anregungen auf . Instrumente in der Hand, die den Menschen nicht nur umfassend Informationen über ihre Rechte zukommen (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Immer, lassen, sondern die ihnen auch konkrete Hilfestellungen Herr Radwan!) anbieten, wie sie rechtlich vorgehen können . Es gibt eine Haftung bei Falschberatung . Das haben wir gerade im – Wenn Sie sie immer aufnehmen, dann freue ich mich Rahmen des Finanzmarktregulierungsgesetzes aufgegrif- umso mehr . Dann werde ich demnächst darauf zurück- fen und diskutiert . Ich glaube, da sind wir auf einem ganz kommen . Aber nicht Versprechen geben, die man nicht halten kann! (B) guten Weg . (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Die der CDU/CSU) Frage ist nur, ob wir es so verarbeiten, wie Sie das gerne hätten!) Was die Frage angeht, was passieren soll, wenn am Ende des Tages ein Anbieter in Insolvenz geht, und was Sie haben vorhin in Ihrer Argumentation dargelegt, dann, wenn das Geld weg ist, passieren soll, da habe ich was passiert, wenn der Anleger wegen einer Insolvenz mich hier schon, als wir über das Finanzmarktregulie- sein Geld verliert . Wir sprechen von Verbraucherschutz rungsgesetz diskutiert haben, gefragt, wie Sie das denn und müssen uns die Frage stellen, wie wir dann dafür machen wollen . Darauf wäre ich sehr gespannt gewesen . sorgen können, dass er die Ansprüche, die aus dem ihm Sie sagen, dass Sie das in Ihrem Antrag klar und präzise entstandenen Schaden resultieren, durchsetzen kann; das dargelegt haben . Vielleicht haben wir alle hier das nicht sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe . verstanden, aber, ehrlich gesagt, die konkreten Maßnah- Es wurde schon ausführlich dargelegt, dass der Ver- men, die wirksam werden sollen, wenn auf einmal das braucherschutz eine ganz andere Priorität bekommen Geld weg ist, haben Sie nicht dargelegt . Es hätte mich hat . Ursprünglich war die Finanzaufsicht für die Markt- wirklich gefreut, wenn das geschehen wäre . Da haben stabilität, die Risiken und die makroprudenzielle Auf- wir in der Tat eine Regelungslücke, aber noch keine Lö- sicht zuständig . Diese wurde in Deutschland sukzessive sung . Diese hätte ich gern von Ihnen gehört . ergänzt und immer weiter ausgebaut durch den kollek- (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Dann tiven Verbraucherschutz . Nun werden Produkte und Ge- müssen Sie den Antrag noch einmal lesen!) schäftspraktiken genau überprüft . Das geht bis hin zu Produktverboten . Die BaFin hat also zukünftig die Auf- – Na ja, gut . Das muss ich mir, glaube ich, nicht vorwer- gabe, auf diesem breiten Feld tätig zu werden, und zwar fen lassen . nicht nur, wenn allgemeine Hinweise vorliegen, sondern auch, wenn es Einzelhinweise gibt . Wenn sich jemand Ich komme zum Schluss . Ich glaube, wir haben hier in gegenüber der BaFin entsprechend äußert und wenn die den letzten Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen be- BaFin bestimmte Einzelfälle mitbekommt, kann sie tätig schlossen, die uns wirklich auf einen guten Weg gebracht werden und dafür sorgen, dass der Verbraucherschutz zur haben . Herr Steffel hat es gesagt: Verbraucherschutz ist Geltung kommt . Wir sollten nicht ausblenden, dass hier etwas, bei dem es ständig Veränderungen gibt . Der Fi- eine Weiterentwicklung stattgefunden hat . nanzmarkt ist ein Markt, auf dem ständig neue Produkte angeboten werden . Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel . Da Nun stellt sich für mich die Frage, welche Schritte wir müssen wir immer wieder genau schauen, wie wir da demnächst gehen . Ich ziehe eine Parallele zu anderen Ver- 17146 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

Alexander Radwan (A) braucherschutzbereichen, um darzulegen, was geschieht, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (C) wenn ein entsprechender Schadensfall eingetreten ist . Im wurfs auf Drucksache 18/8558 an die in der Tagesord- Bereich der Hygiene haben die Landratsämter die Zustän- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es digkeit, Maßnahmen zu ergreifen und Betriebe zu kon- andere Vorschläge? – Das ist auch nicht der Fall . Dann trollieren . Ähnliches gilt im Umweltschutz . Nach Ihrem ist die Überweisung so beschlossen . vorgeschlagenen System soll das Landratsamt, das für die Einhaltung der Hygienevorschriften zuständig ist, auch Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: noch dafür sorgen, dass der Betreffende den Schaden, Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der ihm entstanden ist, geltend machen kann . Das ist aber gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse- nicht die Aufgabe hoheitlichen Handelns . Um den Scha- ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be- den zu beziffern und entsprechende Ansprüche durchzu- ruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes setzen, haben wir Gerichte . Frau Karawanskij, darüber bin und Soldatinnen und Soldaten sowie zur Än- ich auch froh; denn die Gerichte sind dazu da, hoheitliches derung weiterer dienstrechtlicher Vorschrif- und zivilrechtliches Handeln neutral und unabhängig zu ten überprüfen . Sollte zum Beispiel die BaFin Hinweisen nicht nachgekommen sein und falsch gehandelt haben, wird das Drucksache 18/8517 Handeln der BaFin gerichtlich überprüft werden . Für mich Überweisungsvorschlag: ist wichtig, dass diese Möglichkeit weiterhin besteht . Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Wir erleben das gerade bei den Bausparkassen . Die Bau- Verteidigungsausschuss sparkassen haben zivilrechtlich relevante Kündigungen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgenommen . Hierzu häufen sich momentan die Gerichts- Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben verfahren . Wir erleben landauf, landab die unterschiedlich- werden . – Auch hier sehe ich keinen Widerspruch 3). sten Gerichtsentscheidungen in diesem Bereich . Das wird letztinstanzlich entschieden . Aber die Menschen kommen Dann gibt es hoffentlich auch keinen Einwand gegen zu ihrem Recht, wenn es einen Schaden gibt . Deshalb bit- die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksa- te ich Sie: Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, dass die che 18/8517 an die in der Tagesordnung aufgeführten Verbraucher letztendlich rechtlos sind . Sie haben die Mög- Ausschüsse .– Das ist so . Damit ist die Überweisung so lichkeit, das entsprechend einzuklagen und durchzusetzen . beschlossen . Deshalb wird meine Fraktion Ihren Antrag ablehnen . Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Besten Dank . Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes (D) ordneten der SPD – Susanna Karawanskij zur Änderung des Vierten Buches Sozialge- [DIE LINKE]: Das ist schade!) setzbuch und anderer Gesetze (6. SGB IV-Än- derungsgesetz – 6. SGB IV-ÄndG) Präsident Dr. Norbert Lammert: Drucksache 18/8487 Nun ist auch das geklärt .– Ich schließe die Ausspra- Überweisungsvorschlag: che 1). Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/8609 an die in der Tagesordnung aufge- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- Die Reden werden zu Protokoll gegeben . Einwän- rung beim Finanzausschuss liegen soll . Gibt es dagegen de? – Keine 4). Einwände? – Das ist nicht der Fall . Dann können wir das offenkundig so beschließen . Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8487 an die in der Tagesordnung auf- Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 20: geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Andere Vorschlä- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ge? – Keine . Dann ist das so beschlossen . gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Tagesordnungspunkt 23: rung bewachungsrechtlicher Vorschriften Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Drucksache 18/8558 gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung des GAK-Gesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss Drucksache 18/8578 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Die dazu vorbereiteten Reden sollen zu Protokoll ge- Innenausschuss geben werden .– Ich sehe niemanden, der etwas dagegen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- hat 2). heit

1) Anlage 5 3) Anlage 7 2) Anlage 6 4) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17147

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Weiß jemand, worum es sich dabei handelt? Überweisungsvorschlag: (C) Ausschuss für Gesundheit (f) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Gemein- Innenausschuss schaftsaufgabe Küstenschutz!) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz – Sehr gut . Dann haben wir das mindestens im Protokoll; b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank denn Reden werden dazu auch nicht gehalten, sondern Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald, zu Protokoll gegeben 1). weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs LINKE auf Drucksache 18/8578 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Einwände? – Kei- Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psy- ne . Dann ist das so vereinbart . choaktive Substanzen Tagesordnungspunkt 24: Drucksache 18/8459

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ausschuss für Gesundheit (f) Änderung des Direktzahlungen-Durchfüh- Innenausschuss rungsgesetzes Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 18/8514 (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Praxis- Überweisungsvorschlag: test! – [DIE LINKE]: Span- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) nendes Thema!) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- heit – Alle Zwischenrufe werden anstelle der Reden zu Pro- Dazu hätte ich mir natürlich jetzt wirklich eine spritzi- tokoll genommen . ge Debatte vorstellen können . (Heiterkeit) (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Spon- tane Rede!) Na, die Reden auch . Gut 3).

Wir lesen die Reden, die zu Protokoll gegeben wer- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den, nach und gewinnen dann sicher eine Vorstellung den Drucksachen 18/8579 und 18/8459 an die in der 2) über die Debatte, die wir verpasst haben . Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . (B) Jedenfalls wird auch hier interfraktionell die Über- Sind Sie damit einverstanden? – Was bleibt Ihnen anders (D) weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8514 an übrig . Auch das haben wir damit so beschlossen . die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen . Alternativen? – Keine . Dann ist das so verein- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- bart . ordnung . Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung tages auf morgen, Freitag, den 3 .Juni 2016, pünktlich eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- um 9 Uhr, ein . kämpfung der Verbreitung neuer psychoakti- Die Sitzung ist geschlossen . Machen Sie etwas aus ver Stoffe dem Rest des Abends . Alles Gute . Drucksache 18/8579 (Schluss: 22 .08 Uhr) 1) Anlage 9 2) Anlage 10 3) Anlage 11

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17149

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den Antrag der Fraktio- entschuldigt bis nen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abgeordnete(r) einschließlich NEN: Erinnerung und Gedenken an den Völker- mord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 (Tages- Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 02 .06 .2016 ordnungspunkt 5 a) DIE GRÜNEN

Beck (), BÜNDNIS 90/ 02 .06 .2016 Michael Brand (CDU/CSU): Es ist keine Schwäche, Marieluise DIE GRÜNEN sondern zeugt von Stärke, sich zur Wahrheit zu beken- nen . Es wäre ein Armutszeugnis, wenn es beim Thema Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 02 .06 .2016 Genozid statt Mut zur Wahrheit etwa Feigheit vor dem Freund gäbe – das widerspricht der Haltung Deutsch- Hänsel, Heike DIE LINKE 02 .06 .2016 lands als Verfechter und Anwalt der Menschenrechte . Es darf bei uns keinen taktischen Umgang mit der Wahrheit geben – wenn wir in den Demokratien Europas nicht Lämmel, Andreas G . CDU/CSU 02 .06 .2016 mehr die Wahrheit sagen, wer dann? Lerchenfeld, Philipp CDU/CSU 02 .06 .2016 Dem heutigen fraktionsübergreifenden Antrag „Er- Graf innerung und Gedenken an den Völkermord an den Ar- meniern und anderen christlichen Minderheiten in den Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 02 .06 .2016 Jahren 1915 und 1916“ stimme ich zu und möchte als DIE GRÜNEN Begründung Argumente benennen, die ich auch bei ei- ner Rede zum diesjährigen „Gedenktag für die Opfer des Marwitz, Hans-Georg CDU/CSU 02 .06 .2016 Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich“ am von der Sonntag, 24 .April 2016, im Schlüterhof des Deutschen (B) Historischen Museums ausgeführt habe: (D) Oßner, Florian CDU/CSU 02 .06 .2016 Der 24 .April 1915 steht für den Beginn eines unfass- baren Verbrechens . Petzold, Ulrich CDU/CSU 02 .06 .2016 Eines Verbrechens, das zu den schlimmsten Verbre- Pflugradt, Jeannine SPD 02 .06 .2016 chen des vergangenen Jahrhunderts zählt – und das mit den beiden Weltkriegen ein wahrlich blutiges Jahrhun- Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 02 .06 .2016 dert war . Claudia DIE GRÜNEN Eines Verbrechens an unschuldigen Menschen, die Schmidt (Fürth), CDU/CSU 02 .06 .2016 Opfer von Verfolgung und entsetzlicher Willkür wur- Christian den – aus politischen, ethischen oder religiösen Gründen . Der 24 .April 1915, heute vor genau 101 Jahren, war Scho-Antwerpes, Elfi SPD 02 .06 .2016 der Tag, an dem der Befehl der jungtürkischen Regierung zur Verhaftung der politischen und kulturellen Elite der Steinmeier, Dr . Frank- SPD 02 .06 .2016 Armenier erlassen wurde . Walter Menschen wurden misshandelt, enteignet, vertrieben, Strothmann, Lena CDU/CSU 02 .06 .2016 mussten hungern, wurden deportiert, verschleppt, auf Todesmärsche geschickt, massakriert, getötet . Ziel war Thews, Michael SPD 02 .06 .2016 die planmäßige Vernichtung der in der Türkei lebenden Armenier . Die Gräueltaten richteten sich aber ebenso ge- Veit, Rüdiger SPD 02 .06 .2016 gen aramäische, chaldäische und assyrische Christen, die Pontos-Griechen . Die Verbrechen erfolgten vor den Au- gen der Weltöffentlichkeit, auch mit dem stillschweigen- Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 02 .06 .2016 den Wissen des damaligen deutschen Bündnispartners . Wawzyniak, Halina DIE LINKE 02 .06 .2016 Die historische Forschung spricht insgesamt von 1,5 Millionen Opfern . Für dieses Verbrechen gibt es nur Wicklein, Andrea SPD 02 .06 .2016 eine unzweifelhafte und angemessene Bezeichnung: Der Völkermord an den Armeniern ist eine historische Tat- Zech, Tobias CDU/CSU 02 .06 .2016 sache . 17150 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Im Ringen um diesen Begriff wurde oft gesagt, dass der . Aber meine Mahnung heute geht auch an die Euro- (C) der Tatbestand des Genozids erst im Zuge der UN‑Völ- päische Union und Deutschland: Sich nicht zu Mittätern kermordkonvention 1948 definiert worden sei. Es war zu machen! Nicht die eigene Seele zu verkaufen! Unter- für mich beschämend und es entspricht auch nicht der würfigkeit hilft nicht, im Gegenteil. Position der Bundesrepublik Deutschland, dass sich das Auswärtige Amt noch im letzten Jahr die Position der Bundespräsident Joachim Gauck – ebenso Bundes- türkischen Regierung zu eigen gemacht und behauptet tagspräsident Norbert Lammert – haben im vergangenen hat, dass der Genozid an den Armeniern deshalb nicht Jahr in beeindruckender Weise den Völkermord an den Völkermord genannt werden dürfe, weil die Völker- Armeniern und anderen ethnischen Minderheiten vor rechtskonvention der Vereinten Nationen erst 1948 be- genau 100 Jahren in sehr grundsätzlichen und zugleich schlossen und 1950 in Kraft getreten sei . auf unsere heutige Zeit gerichteten Ansprachen konkret benannt, ohne dabei die damalige deutsche Mitschuld an Wer so argumentiert, blendet bewusst aus, dass Völ- diesem Jahrhundert-Verbrechen zu leugnen . kermord und Verbrechen an der Menschlichkeit im ver- gangenen Jahrhundert zu Recht ja den Ausgangspunkt Die Türkei und Deutschland sind seit über 100 Jah- für die Erarbeitung der UN‑Konvention bildeten . Mit ren freundschaftlich verbunden . Zu den Grundelementen dieser Konvention hat dann das Unfassbare einen Namen von Freundschaft zählt Offenheit und Respekt, auch vor bekommen und wurde eine moralische Norm geschaffen, der Wahrheit . hinter die heute niemand zurückgehen kann . Es bleibt eine Aufgabe, die heutige Türkei zu einem Die Verbrechen aber nicht beim Namen zu nennen, offenen und ehrlichen Umgang zu ermutigen und diesen hieße, die Opfer nicht anzuerkennen, ihnen die Würde auch einzufordern . Das war einer der Gründe, warum noch einmal zu nehmen, die Verbrechen und das Gesche- eine Delegation des Ausschusses für Menschenrechte hene zu verharmlosen . und humanitäre Hilfe jüngst, Anfang März, zu politi- schen Gesprächen nach Ankara und Istanbul gereist ist . Anlässlich des 100 .Jahrestages des Völkermordes Und es war kein Zufall, dass wir das unmittelbar vor den an den Armeniern haben in einer würdigen Debatte im Verhandlungen der EU mit der Türkei getan haben . Deutschen Bundestag Abgeordnete aus allen Fraktionen den Finger in die Wunde gelegt . Schon damals haben wir Auch gegenüber dem armenischen Volk können wir mit anderen darauf gedrängt, dass der Begriff Völker- Deutsche dazu beitragen, dass die Aussöhnung zwischen mord mit in unseren Antrag aufgenommen werden muss, Armeniern und Türken unter Anerkennung der histori- ohne rhetorische Windungen, denn: ein Völkermord ist schen Tatsachen weitere Fortschritte macht . ein Völkermord bleibt ein Völkermord . Wer das auch 100 Jahre nach dem Völkermord andau- (B) (D) Es ist gut, aber auch überfällig, dass der Deutsche ernde Leid des armenischen Volkes ermessen will, der Bundestag dies im kommenden Juni in einem gemeinsa- kann dies aus dem Text eines Liedes entnehmen, das in men Antrag jetzt tun wird . so beeindruckender Weise beim Ökumenischen Gottes- In Richtung türkischer Regierung möchte ich sagen: dienst 2015 im Berliner Dom gesungen wurde und mich Der Wahrheit ins Auge zu sehen, macht stark und nicht sehr berührt hat und berührt: schwach . Deutschland hat seiner historischen Wahrheit Das Lied von Gabriel Aydin trägt den Titel „The Song ins Auge gesehen und hat sie aufgearbeitet . Das hat of the Syriac People“: Deutschland nicht schwächer gemacht, sondern stärker . Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir sehr gut, dass „Wie viele Kriege müssen wir noch ertragen, wie lan- Aufarbeitung auch der dunklen Kapitel der eigenen Ge- ge werden wir noch unterdrückt, weil dein Name auf un- schichte einer Gesellschaft, einer Nation, sehr hilft und serer Stirn steht? ihr für die Zukunft Selbstvertrauen und Offenheit gibt . Wie die Schafe führen sie uns zur Schlachtbank – Den mutigen Vertretern der türkischen Zivilgesell- Herr, lass uns nicht allein . schaft, die es immer wieder auf sich nehmen, den eige- nen Landsleuten die Augen zu öffnen, gilt gerade heute Sie unterdrücken uns gewaltsam – Herr, komm und mein Respekt. Auch ihretwegen bleibt es eine Verpflich- eile uns zu Hilfe . tung, auf die Wahrheit hinzuweisen und die Dinge klar Unsere Augen sind voller Tränen . beim Namen zu nennen . Unsere Kleidung voller Blut . Denn auch das Verschweigen von Verbrechen ist ein Verbrechen . Wir schreien, aber niemand hört uns . Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit . Herr, nur du kannst uns antworten – Herr, lass uns Ohne Gerechtigkeit und Aufarbeitung gibt es keine nicht allein . Aussöhnung . Komm, eile uns zu Hilfe – Herr, lass uns in unserer Mit der aktuellen Attacke gegen das Kultur-Projekt Not nicht allein . „Aghet“ der Dresdner Sinfoniker und des Musikers Marc Herr, komm sei mit uns und bleib unter uns . Sinan manövriert sich die türkische Regierung weiter in eine Sackgasse . Die massive Einschränkung der Mei- Lass uns deinen Frieden spüren . Herr, sei du unsere nungs- und Pressefreiheit beschleunigen diesen Weg, lei- Heimat .“ Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17151

(A) Es ist ebenso berührend wie erschreckend, wie dieses Wenn wir heute des Völkermords an den Armeniern (C) Lied, das in Aramäisch, der Sprache von Jesus, gesungen gedenken, geht es auch um eine Wiedergewinnung der wurde, nicht nur das historische Schicksal der christli- Erinnerung an die Verschwundenen, eine Erinnerung an chen Minderheit so aufwühlend beschreibt . die Ausgelöschten . Eine Erinnerung an die in der Ke- mah-Schlucht Ermordeten oder in der Wüste des heuti- Erschreckend ist auch, dass es heute, 100 Jahre nach gen Syriens Zu-Tode-Gebrachten . Diese Erinnerung ist den schrecklichen Ereignissen im osmanischen Reich, in so schwer, weil von Beginn an alles getan wurde, um die- der Nachbarschaft, in Syrien und im Irak, schon wieder se unvorstellbare Tat vergessen zu machen . Es sollte eben um die Ausrottung christlicher Minderheiten geht . nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten ausgelöscht Umso mehr sind wir dazu aufgefordert, die Dinge werden, sondern auch, durch eine Beseitigung aller Na- beim Namen zu nennen, den Völkermord auch Völker- men oder kulturellen Erzeugnisse, die sie hinterlassen mord zu nennen, damit wir nicht aus Angst vor der Wahr- hatten, jedes steingewordene Dokument ihrer gewesenen heit und aus Angst vor dem Freund die Geschichte nicht Existenz . So wie ich es aus Erzählungen meines verstor- beim Namen nennen und Gefahr laufen, dass sie sich in benen Vaters erfahren habe, dass im Dorf meiner Eltern, anderer Form an anderer Stelle wiederholt . in der Provinz Erzincan, einst eine armenische Kirche stand . An ihrer Stelle ist heute die Dorfschule . Kein Stein Ich verneige mich vor den Opfern! Und ich danke ih- ist dort mehr zu sehen . Die früher gleich neben dem ale- nen . vitischen Friedhof gelegene armenische Grabstätte gibt es auch nicht mehr . Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Abstimmung im Auch heute wird, wer an den Völkermord auch nur Bundestag zur Anerkennung des Völkermords an den Ar- versucht zu erinnern, als Freund kurdischer oder armeni- meniern ist ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Auf- scher Terroristen diffamiert . Die türkische islamistische klärung . Über 100 Jahre hat es gedauert, bis ein deutsches Regierung, ganz Präsident Erdogan verpflichtet, setzt auf Parlament endlich ohne Wenn und Aber den Völkermord die Mobilisierung und die Entfesselung des Nationalis- an den Armeniern anerkannt hat . Die Abstimmung ist zu- mus . Mit ungeheurem propagandistischem Aufwand soll gleich ein Bruch mit der deutschen Staatsräson des Ver- die Gleichung der Völkermörder, Terrorist gleich Arme- schweigens der Mitschuld des Kaiserreiches an diesem nier, in den Köpfen verankert werden . Und wer diese Ter- furchtbaren Verbrechen . roristen verteidigt und auch noch auf Aufklärung dringt, Vor wenigen Wochen, am 24 .April 2016, jährte sich der muss auch ein Armenier sein und steckt natürlich mit der Völkermord an den Armeniern . 101 Jahre ist es her, allen anderen Armeniern unter einer Decke . Und weiter: dass mit der Deportation armenischer Politiker und In- Die Armenier haben sich ihren Tod selbst zuzuschreiben, (B) tellektueller aus Istanbul, auf Befehl des osmanischen weil sie Terroristen sind . Und es ist diese Gleichung, die (D) Innenministers Mehmet Talat, diese grausame Tat be- das Denken der Affirmierung des Völkermords an den gonnen wurde . Mit der heutigen Abstimmung gedenken Armeniern widerspiegelt . Dieses Völkermorddenken wir heute hier all der 1,5 Millionen Opfer dieses schreck- wird wach gehalten in Teilen der türkischen Gesellschaft lichen Verbrechens und verneigen uns vor ihnen in stiller durch ein ungeheures propagandistisches Trommelfeuer . Trauer . Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevöl- kerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu Über 100 Jahre sind vergangen seit jenem Tag . Kaum erzielen . Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig . einer kennt noch die Namen der Deportierten . Haben Und gerade deshalb habe ich mich entschieden, mich von wir je etwas von dem Schriftsteller Rupen Zartarian aus Drohungen oder zahlreichen üblen Beschimpfungen der Diyarbakir, dem Dichter Yeruhan aus Istanbul oder dem Erdogan-Anhänger von „armenischer Hure“ bis „kurdi- Romanautor Dikran Chökürian aus Gümüşhane gehört. scher Terroristin“ nicht einschüchtern zu lassen . Erdogan Sie alle wurden auf schändliche Art und Weise ermordet . und die Seinen sprechen den Jargon der Völkermörder Ja, man kann sagen, mit ihnen wurde auch ein Teil der von 1915 . Es ist höchste Zeit, diese Leute in die Schran- Kultur des Osmanischen Reiches, ein Teil der Kultur der ken zu weisen und sie nicht weiter zu ermutigen, wie dies Welt ausgelöscht . die Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel durch ihre Abwesenheit bei der Abstimmung über den Wer erinnert sich noch an die 20 zumeist jungen Ak- Völkermord an den Armeniern wieder einmal getan ha- tivisten der Sozialdemokratischen Huntschak-Partei, die ben . im Zuge des Völkermords an den Armeniern am 15 .Juni 1915 im Stadtteil Sultanbeyazid in Istanbul durch Erhän- Über 100 Jahre sind nach den schrecklichen Massakern gen hingerichtet wurden . Wer heute an diesen Auftakt und Verfolgungen vergangen, doch wird der Völkermord des Völkermords erinnert, wird von den Sympathisan- an den Armeniern von der türkischen Regierung immer ten der Völkermörder als Terroristenfreund diffamiert . noch bestritten . Aber auch die Bundesregierung hat stets 100 Jahre sind manchmal wie ein Tag . Diejenigen, die versucht, die deutsche Mitverantwortung für den Völ- auch heute noch den Völkermord in widersprüchlicher kermord zu relativieren . Das eigentliche Ausmaß, nicht Weise leugnen und zugleich rechtfertigen, setzen auf das nur des Völkermords, aber auch der Beihilfe der deut- Vergessen, setzen auf das Verschwinden . Wer weiß heute schen Militärs und Politiker, ist in der deutschen Öffent- noch, dass diese Huntschak-Partei die erste sozialistische lichkeit weithin unbekannt . Der Bundestag hatte sich in Partei im Osmanischen Reich war, dass es ihre Aktivisten seiner Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung waren, die zum ersten Mal das Kommunistische Mani- und Massaker an den Armeniern von 2005 um die ganze fest am Bosporus herausgegeben haben . Wahrheit herumgedrückt . Darin heißt es: „Der Bundes- 17152 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) tag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar (C) Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen des Bundesrats: „Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Um- Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stop- triebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevöl- pen .“ Die historische Wahrheit lässt aber eine Festlegung kerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches der Rolle des Kaiserreiches auf eine unterlassene Hil- ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat . feleistung nicht zu . Mit Blick auf die mörderische Waf- Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen fenbrüderschaft zwischen dem deutschen Kaiserreich findet zwischen der deutschen und der türkischen Regie- und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg hatte rung ein Gedankenaustausch statt . Nähere Einzelheiten denn die deutsche Seite alles getan, um den Völkermord können nicht mitgeteilt werden “. Liebknecht versuchte zu decken . 1915 hatte Reichskanzler ­Bethmann Holl- eine Ergänzungsfrage nachzuschieben: „Ist dem Herrn weg gegenüber österreichischen Bedenken geantwortet: Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des von einer Ausrottung der türkischen Armenier gespro- Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob da- chen . . “ Diese wurde, ohne dass Liebknecht überhaupt zu rüber Armenier zugrunde gehen oder nicht “. Daraus Ende sprechen konnte, unter Beifall des Reichstags vom wird ersichtlich, dass Deutschland bereit war, den Völ- Präsidenten unterbunden . Nicht einmal die Frage sollte kermord zu billigen . Wichtig war allein die Waffenbrü- also gestellt werden können . Zu sehr war man sich einig, derschaft mit dem Osmanischen Reich . Als Beispiel sei diese Verbrechen verschweigen zu müssen . Liebknecht­ nur General Fritz Bronsart von ­Schellendorf, Chef des erklärte im Nachhinein seine Handlungsstrategie wie Generalstabs im Großen Hauptquartier in Istanbul und folgt: „Die türkische Regierung hat ein furchtbares Ge- damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsmi- metzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß nister Enver Pascha, genannt . Bronsart von Schellendorf davon – und in aller Welt macht man Deutschland verant- befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus wortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch die Regierung kommandieren . Nur in Deutschland weiß nach dem Krieg in übelster Form über die armenische man nichts, weil die Presse geknebelt ist .“ Minderheit . In einem Brief von 1921 an das Auswärtige Das Vorgehen des Kaiserreichs war, wie gesagt, symp- Amt schrieb er: „Der Armenier ist nämlich, wie der Jude, tomatisch für spätere Vorgehensweisen, den Völkermord außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von an den Armeniern zu leugnen bzw . zu relativieren . Wie dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen Richard Albrecht recherchierte, gab es im offiziellen Wohnsitz aufschlägt . Alljährlich wandern zahlreiche Ar- „amtlichen Zensurbuch“ des Kaiserreichs die „arme- menier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach nische Frage“ betreffend im Herbst/Winter 1915 zwei kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und (B) zentrale Hinweise . Erstens am 7 .Oktober 1915 zu Arme- (D) sich dienstbar zu machen . Daher der Hass, der sich oft nien mit der Anweisung: „Veröffentlichungen über die in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord miss- armenische Frage unterliegen der Vorzensur“: „Über die liebig gewordener Armenier entladen hat “. Dazu taten Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freund- 800 deutsche Offiziere und 25 000 Soldaten im Osmani- schaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch die- schen Reich Dienst, die sich auch aktiv am Völkermord se innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur an den Armeniern beteiligten . nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden . Deshalb ist es Diese Mitverantwortung Deutschlands zeigt sich auch einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte in der Beantwortung der Kleinen Anfragen des späteren Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld er- KPD-Gründers und damaligen USPD-Abgeordneten Karl folgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht Liebknecht im Januar 1916 im Reichstag . Liebknecht und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, daß hatte als einziger Abgeordneter im Dezember 1914 gegen die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden “. die Kriegskredite gestimmt und trat mit seinen Anfragen, Zweitens am 23 .Dezember 1915 zur Türkei: „Über die dem einzig verbliebenen parlamentarischen Instrument, armenische Frage wird am besten geschwiegen . Beson- das ihm ohne Zustimmung seiner ehemaligen SPD-Frak- ders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber tion möglich war, im Reichstag auf, um die imperialisti- in dieser Frage nicht! [ . . ] Alle Ausführungen, die das An- sche Politik des Kaiserreichs zu beleuchten . Der Anfrage sehen unserer türkischen Bundesgenossen irgendwie her- Liebknechts zu den Massakern an den Armeniern folgte absetzen könnten, müssen vermieden werden [ . . ] Aufsät- denn auch seine Anfrage zu weiteren Kriegsverbrechen, ze über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur .“ zu deutschen Kriegsverbrechen an Zivilisten in den be- Festzuhalten ist, die Waffenbrüderschaft zwischen dem setzten Ländern wie Belgien . Liebknecht fragte: „Ist Kaiserreich und Osmanischen Reich bestand nicht nur im dem Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern, sondern Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armeni- auch im Hinblick auf seine spätere Leugnung und Rela- sche Bevölkerung zu hunderttausenden vertrieben und tivierung . niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung Der vorliegende Resolutionstext spricht jetzt wenigs- unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, tens von dieser Mitschuld des Deutschen Reiches, auch die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der wenn er das wahre Ausmaß der Mithilfe des Kaiserrei- Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederho- ches an dem Völkermord an den Armeniern nicht in den lung ähnlicher Greuel zu verhindern?“ Darauf antworte- Blick nimmt . Auch die Kennzeichnung der Todesmär- te Dr . von Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der sche als „Vertreibung“ im Resolutionstext verfehlt die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17153

(A) historische Realität . Nichtdestotrotz trifft der Text den scher Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches eben- (C) wichtigen Aspekt der Anerkennung wie auch der Mit- falls tief in diese Vorgänge involviert .“ schuld des Kaiserreiches . Konkrete historische Fakten sind nicht benannt . Auch Nur eine aufrichtige Anerkennung und Aufklärung in dem Antrag der Fraktion Die Linke vom März 2015 zu kann den Weg zur Versöhnung und einer gemeinsamen diesem Thema – Drucksache 18/4335 – und in dem An- Zukunft bahnen . Wir hier in Deutschland haben, was den trag der Fraktion Die Grünen vom April 2015 – Druck- Völkermord an den Armeniern angeht und die Aufklä- sache 18/4687 – heißt es, dass die Regierung des Deut- rung und Anerkennung über die deutsche Mitverantwor- schen Reiches jeweils über den Völkermord informiert tung angeht, noch ein Stück des Weges zu gehen . Denn war, aber nicht einschritt . Allein daraus kann meines Er- auch für die konkrete Politik wurden daraus bisher noch achtens nicht zwingend eine deutsche Mitverantwortung keine Folgerungen gezogen . Für mich würde dies auch abgeleitet werden . Auch heute hat die Bundesregierung bedeuten, keine weiteren deutschen Rüstungsexporte und auch der Deutsche Bundestag Kenntnis über Massa- zu tätigen, als eine der Lehren aus diesem imperialisti- ker zum Beispiel an Syrern . Trotz jahrelanger diplomati- schen Verbrechen . Es würde bedeuten, dass wir gerade scher Bemühungen und der Unterstützung von militäri- angesichts des Kriegs des türkischen Staatspräsidenten schen Einsätzen ist es nicht gelungen, diese Massaker in Erdogan gegen die Kurden in der Türkei mit inzwi- Syrien zu verhindern . schen über 500 000 Flüchtlingen und Hunderten zivilen Der vorliegende Antrag wird von mir abgelehnt . Opfern, der Angriffe auf kurdische Enklaven in Syrien durch von Erdogan bewaffnete islamistische Terrorban- den wie auch auf armenische Dörfer wie Kesab in Syrien Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Bei der Abstimmung durch islamistische Milizen, die auch von der Türkei aus über den heutigen Antrag „Erinnerung und Gedenken an angreifen, die Waffenbrüderschaft mit dem Erdogan-Re- den Völkermord an den Armeniern und anderen christli- gime beenden . chen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“, dessen Inhalt ich grundsätzlich mittrage, votiere ich als Bericht- erstatterin für die Türkei im Ausschuss für Angelegen- Bettina Kudla (CDU/CSU): Es ist nicht Aufgabe des heiten der Europäischen Union dennoch mit Enthaltung, Deutschen Bundestages, historische Bewertungen von da ich folgende Aspekte zu bedenken geben will: Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen . Die Aufar- beitung von geschichtlichen Ereignissen obliegt dem be- Das Ziel, von deutscher Seite her zu einer Versöhnung troffenen Staat, in diesem Fall der Republik Türkei . Der zwischen der Türkei und Armenien beizutragen, wird mit vorliegende Antrag enthält keine Angaben von Quellen diesem Antrag meiner Wahrnehmung nach nicht zu errei- (B) wie zum Beispiel Historikern, auf die sich die Beurtei- chen sein . Denn er berücksichtigt in seiner vorliegenden (D) lungen des benannten Völkermordes stützen . Form nicht ausreichend seine direkten und weiteren Fol- gen . Versöhnung kann weder isoliert von aktuellen poli- Die politischen als auch finanziellen Folgen, die sich tischen Ereignissen noch ohne konkrete Angebote oder aus diesem Antrag ergeben, sind nicht kalkulierbar . Un- Symbole stattfinden. Die Aufarbeitung der Vergangen- mittelbare finanzielle Folgen könnten sich durch das heit braucht eine aktiv daran teilhabende und kritische Aufmachen von Wiedergutmachungsforderungen seitens Zivilgesellschaft . Dazu müssen schulische und universi- Armenien ergeben . täre, politische und kulturelle Bildung in und zwischen den Ländern beitragen . Die Beziehungen zur Republik Türkei werden durch diesen Beschluss belastet . Der Vollzug des Flüchtlings- Der vorliegende Antrag, der in seinen wesentlichen abkommens zwischen der Europäischen Union und der Aussagen den Anträgen 15/5689 (2005) und 18/4684 Republik Türkei wird erschwert . Dies ist umso bedauer- (2015) folgt, sollte weder anklagen noch verurteilen oder licher, da es sich um ein europäisches Abkommen han- Reuebekenntnisse erzwingen, sondern Impuls zur wei- delt und bisher europäische Lösungen bezüglich Asyl- teren Aufklärung sein . Er sollte dazu beitragen können, bewerbern und Flüchtlingen nur schwer möglich waren . Empfindlichkeiten auf armenischer und türkischer Seite Sollte das Flüchtlingsabkommen mit der Republik Tür- zu überwinden . Dies ist, und das möchte ich betonen, nur kei scheitern, wird es neben gravierenden humanitären im stetigen und gegenseitigen Dialog möglich . Folgen auch erhebliche finanzielle Mehrbelastungen für Der Versöhnungsprozess zwischen der Türkei und Deutschland geben . Armenien ist in den letzten Jahren ebenso ins Stocken geraten wie das Bemühen auf deutscher Seite, auch hier Allein aus der Kenntnis von Vorgängen kann meines in Deutschland klarere Impulse zum Dialog auf verschie- Erachtens nicht abgeleitet werden, dass das Deutsche densten Ebenen zu geben . Reich eine Mitschuld an den damaligen Ereignissen der Verfolgung der Armenier trägt . Worin diese Verantwor- Geschichte ist immer ein identitätsstiftender Bezugs- tung besteht, ist im Antrag nicht erkennbar . Im Antrag punkt für ein Land und seine Bevölkerung . Daher ist es, heißt es: „Der Deutsche Bundestag stellt fest: . .Das . vor allem, wenn es um unrühmliche Taten und Rollen Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignis- geht, äußerst wichtig, den Versöhnungsgedanken und den sen “. In der Begründung des Antrages heißt es: „Die Prozess der Annäherung, das heißt das Ziel einer friedli- damalige deutsche Reichsregierung, die über die Verfol- chen Koexistenz, höher zu bewerten als möglicherweise gung und Ermordung der Armenier informiert war, blieb die Infragestellung des historisch gewachsenen oder ge- dennoch untätig . . Das Deutsche Reich war als militäri- stalteten Bezugspunkts – und hier beziehe ich ausdrück- 17154 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) lich die Rolle des Deutschen Reiches und die deutsche rung dazu beitragen könnte, dass unter Beteiligung von (C) Verantwortung mit ein . Armenien, Deutschland und der Türkei eine unabhängige Historikerkommission eingesetzt wird, die die damaligen Folgende Aspekte sind mir wichtig: Ereignisse aufarbeitet, Zahlen und Fakten überprüft und Die unrühmliche deutsche Rolle und die deutsche für mehr Transparenz sorgt . Verantwortung werden in den Anträgen kaum beleuchtet und weder offensiv benannt noch kommuniziert . Der da- Was wir auch über den heutigen Tag hinaus verhindern malige deutsche Bündnispartner war seinerzeit über den sollten, ist, all die vielen Brücken, die es in die Zivilge- Verlauf der Massenvertreibungen und Massaker unter- sellschaft hinein zwischen Familien und Organisationen richtet und mit seinen Diplomaten und Militärmissionen gibt, aufs Spiel zu setzen . Fördern wir vielmehr auf allen vor Ort . Die Berichte nach Berlin waren dann aber eher Ebenen den bisher nicht ausreichenden Dialog über die fragmentarisch . Der Völkermord war kein Thema, so der jeweils eigene, aber ebenso die gemeinsame Geschichte Journalist Wolfgang Gust . Denn „Unser einziges Ziel ist von vor über 100 Jahren . es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde Erika Steinbach (CDU/CSU): Ich begrüße nach- gehen oder nicht“, formulierte Reichskanzler Theobald drücklich, dass der Deutsche Bundestags heute das von Bethmann Hollweg die deutsche Linie . Schicksal der autochthonen Christen im Osmanischen Mit Blick in die türkische Geschichte der letzten Jahr- Reich als das bezeichnet was es war: Völkermord! zehnte wird deutlich, dass über die Ereignisse – und hier Versöhnung beginnt immer mit der Aufarbeitung ist jedes Opfer, egal welcher Religions- oder Staatszu- und der Auseinandersetzung über geschehenes Unrecht . gehörigkeit, eines zu viel! – nicht nur ideologisch pola- Das bedeutet weder Anklage noch Diffamierung der da- risiert, sondern auch geschwiegen wurde . Ähnliches gilt für Verantwortlichen oder deren Nachfahren . Es ist ein sicher auch in unterschiedlicher Ausprägung für die Län- wichtiger und unverzichtbarer Schritt, einem überfälli- der Deutschland und Armenien . gen Versöhnungsprozess neue Impulse zu geben und die Es sind immer Ängste, auch kollektive Ängste, die das Aufarbeitung der damaligen Ereignisse im Osmanischen Reden über die Vergangenheit schwer und das Schwei- Reich voranzubringen . gen scheinbar leichter machen . Warum neben den Depor- Gerade als Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschen- tationen und Massakern an anderen christlichen Volks- rechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestags- gruppen die Vernichtung der armenischen Bevölkerung fraktion war es mir seit Jahren ein besonderes Anliegen, im damaligen Osmanischen Reich vonseiten der heuti- die Verbrechen der jungtürkischen Nationalisten im Os- gen Türkei nicht als Genozid benannt wird, kann nur im manischen Reich deutlich zu benennen . (B) Dialog mit der Türkei geklärt werden . Sollte der Begriff (D) Völkermord ein Tabubegriff sein, dann braucht es zu sei- Dabei ist es unverzichtbar, deutlich zu machen, dass ner Aufklärung mehr als eine Resolution, die, so meine sich die Gewalt nicht nur gegen die osmanischen Arme- ich, das Tabuthema eher zementieren wird . Und das wäre nier, sondern letztlich gegen alle autochthonen Christen bedauerlich – gerade für die Menschen, die sich offene des Osmanischen Reiches gerichtet hat: bereits seit 1909 Türen und eine offene Gesellschaft wünschen . gegen die Pontos-Griechen, später gegen die Aramäer, Assyrer und Chaldäer . Das habe ich nicht erst im vergan- Für Deutschland, Armenien und die Türkei umschrei- genen Jahr in meiner Rede zum 100 . Jahrestag des Be- be ich die vor den Ländern und ihrer Bevölkerung lie- ginns des Völkermordes am 24 .April 2015 im Deutschen gende Aufgabe mit den Worten von Hrant Dink: „Man Bundestag betont . braucht für den Umgang mit der Geschichte einen ge- wissen Anstand, eine gewisse Ethik . Wo beides fehlt, Denjenigen, die den Antrag in den vergangenen Wo- nutzen die Dokumente wenig “. Er folgerte daraus: „Die chen und Tagen als falschen Weg und Gefahr für die ethische Haltung, die wir in der Armenien-Frage brau- deutsch-türkische Freundschaft bezeichnet haben und chen, ist Empathie .“ Und nur diese könne zu einem ange- die Zuständigkeit für eine Bewertung der Gräuel eher bei messenen Gedächtnis beider Gesellschaften führen . Dink Historikern oder Gerichten sehen, sage ich: Deutschland wurde am 19 .Januar 2007 erschossen – zu Beginn des hat damals geschwiegen und darf gerade deshalb heute Wahljahrs 2007, in dem über Parlament, Regierung und nicht schweigen . den Präsidenten neu entschieden werden sollte . Es war der Beginn des Konflikts zwischen Beharrungskräften Zudem können wir uns heute nur dann glaubwürdig und Gewinnern des Wandels, zwischen Islamismus und für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und gegen Säkularismus . Diese ethische Haltung, die zum Umgang die Vertreibungen der Christen infolge der Gewalt in Sy- mit der Geschichte notwendig ist, braucht ein Klima der rien und dem Irak einsetzen, wenn wir auch angemessen Begegnung, in dem auch Gemeinsamkeiten entdeckt an den Völkermord an den Christen im damaligen Osma- werden . nischen Reich erinnern . Da der Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung auch Was mit dem Genozid seinerzeit an Gräueln verbun- ein kultureller ist und nicht allein Historikern und Politi- den war, ist für uns unvorstellbar . Es war nicht nur die kern überlassen werden darf, begrüße ich jegliche Förde- Tötung ganzer Gruppen von Menschen, sondern ging mit rung von Initiativen zur Aufarbeitung ebenso wie die be- unglaublicher Brutalität vor sich . Die Vertreibungen ge- reits geschehene Herausgabe der deutschen Dokumente . schahen systematisch zur Vernichtung der Menschen und Zudem halte ich es für sinnvoll, wenn die Bundesregie- trugen eindeutig alle Merkmale von Völkermord . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17155

(A) Ich bin überzeugt, dieses Leid zu teilen, es anzuerken- Anlage 4 (C) nen, es beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Erklärungen nach § 31 GO Opfer, ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und die Zukunft besser zu bewältigen . Man braucht Soli- zu der Abstimmung über den von der Bundesre- darität von anderen, die keine Opfer waren, oder von an- gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des deren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen . Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversi- cherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Deshalb ist es so ein wichtiges Signal, dass wir uns Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) (Tages- heute im Deutschen Bundestag gemeinsam an die Seite ordnungspunkt 8 a) der Nachfahren der Opfer stellen . Burkhard Blienert (SPD): Die Verlängerung der be- Oliver Wittke (CDU/CSU): Die Vertreibung und Er- fristeten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für überwiegend kurz befris- mordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern, Aramäern, tet Beschäftigte (§ 142 SGB III) bis zum 31 . Juli 2018 Assyrern und sogenannten Pontos-Griechen im damali- im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen gen Osmanischen Reich ist eines der großen Verbrechen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar- des 20 .Jahrhunderts . Die Aufarbeitung und Erinnerung beitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial- an diese furchtbaren Ereignisse ist insbesondere Aufgabe als auch in kulturpolitischer Hinsicht ein Fortschritt . Wir der Nachfahren der Tätergeneration . Ziel muss es sein, beenden mit dieser Regelung eine Phase der Unsicherheit derartige Verbrechen nie wieder auch nur im Bereich des und schaffen das nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen Anschlussregelung . Dennoch ist dies Möglichen erscheinen zu lassen . nicht die erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt Daher muss eine umfassende und internationalen An- haben . sprüchen gerecht werdende Aufarbeitung unter Beteili- gung der Nachfahren von Opfern und Tätern erfolgen . Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die Nur so kann Akzeptanz und vor allem Lehre aus dem Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu Geschehenen gezogen werden . Ähnlich wie Deutschland stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich mit seinem Grundgesetz, aber auch den allgemeinen Re- erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger -Be geln des Zusammenlebens Konsequenzen aus seiner Ge- (B) schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah- (D) schichte gezogen hat, muss auch die Türkei für die aktu- ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung elle alltägliche Politik Konsequenzen aus den Verbrechen eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten . vor 100 Jahren ziehen . Dies wird sie aber nicht aufgrund Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und von Resolutionen ausländischer Parlamente, sondern nur -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG‑I‑Sonder- bei aktiver Einbeziehung in die Aufarbeitung der Ge- regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift . schichte tun . Die Verurteilung des Geschehenen in der Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 .April 2014 bis Vergangenheit ist richtig . Wichtiger ist aber das Ziehen 31 .März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu behandeln waren . von Konsequenzen für die Gegenwart . Dies wird nur mit der Türkei und nicht ohne sie erfolgreich sein . Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al- lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze Anlage 3 von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche- rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn Erklärung Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz, dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜND- Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen- geld I erhalten . Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt- schaft und Energie zu der von den Fraktionen der Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/ CDU/CSU und SPD eingebrachten Entschließung CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son- zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die – entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions- rung des Telemediengesetzes (Drucksache 18/8645) vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien (Tagesordnungspunkt 7 a) in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte- Ich erkläre im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen GRÜNEN, dass unser Votum zur Entschließung „Enthal- festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris- tung“ lautet . tungsgrenze der Sonderregelung – zu berücksichtigende 17156 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Beschäftigungsdauer von zehn Wochen; Verdienstober- Daher war im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und (C) grenze von 34 020 Euro im Jahr – der Berufswirklichkeit SPD eine grundlegende Anpassung der Sonderregelung im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar in dieser Legislaturperiode verabredet, die „den Beson- ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi- derheiten von Erwerbsbiografien in der Kultur hinrei- nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen chend Rechnung“ tragen sollte . von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden Es ist klar, dass die rechtssichere Umsetzung dieser der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion Aufgabenstellung schwierig ist, weil die finanziellen der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken . Auswirkungen auf die Versichertengemeinschaft sowie verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten sind . Jede Ich stimme dem Gesetzentwurf zu . Sonderbehandlung muss sachgerecht, verhältnismäßig und gut begründet sein . Hierfür sehe ich noch Spielraum, Martin Dörmann (SPD): Ich stimme der verlängerten der über die bisherige Regelung hinausgeht . Deshalb Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslo- setze ich mich dafür ein, dass die Regierungskoalition sengeld I für überwiegend kurz befristet Beschäftigte im sowohl die Verdienst- als auch die Befristungsgrenze Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Wei- der Sonderregelung daraufhin überprüft, wie sie der Be- terbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeits- rufswirklichkeit im Kulturbereich stärker anpasst werden losenversicherung“ (AWStG) zu und erkläre: kann . Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung zum Um noch in dieser Legislaturperiode die Schutzfunkti- erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für on der Arbeitslosenversicherung für Kulturschaffende zu überwiegend kurz befristet Beschäftigte (§ 142 SGB III) stärken, müssen die bisherigen Gespräche, insbesondere bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Gesetzes zur zwischen dem Bundesarbeitsministerium, dem Bundes- Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des - Ver kanzleramt und den Fraktionen von SPD und CDU/CSU, sicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“ fortgesetzt und weiter intensiviert werden . (AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti- scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser (SPD): Ich stimme der ver- Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das Siegmund Ehrmann längerten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen Arbeitslosengeld I für überwiegend kurz befristet Be- Anschlussregelung . Gleichwohl ist dies noch nicht die schäftigte im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut- ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben . (B) zes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) zu und (D) Ziel der Sonderregelung ist es, die Schutzfunktion der erkläre: Arbeitslosenversicherung für kurz befristet Beschäftig- te – vor allem im Kulturbereich – zu stärken . Während Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung der Anspruch auf ALG I grundsätzlich erst bei zwölf zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) Monaten versicherungspflichtiger Beschäftigung inner- für überwiegend kurz befristete Beschäftigte (§ 142 halb einer Rahmenfrist von zwei Jahren erworben wer- SGB III) bis zum 31 .Juli 2018 im Rahmen des „Geset- den kann, gilt nach der Sonderregelung eine verkürzte zes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Anwartschaft von sechs Monaten . Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti- Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG‑I‑Sonderre- Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das gelung in ihrer bestehenden Form für viele Kulturschaf- nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen fende nur bedingt greift . Im letzten Erhebungszeitraum Anschlussregelung . Dennoch ist dies nicht die erhoffte vom 1 .April 2014 bis 31 . März 2015 wurden lediglich langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem 295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben . behandeln waren . Die Zahl der Kulturschaffenden, die längere Zeit arbeitslos waren, lag jedoch deutlich höher . Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz- Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor allem stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger -Be greift die Sonderregelung nur bis zu einer Verdienstober- schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah- grenze von 34 860 Euro im Jahr . Zum anderen dürfen die ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung versicherungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten . von zehn Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Kon- sequenz, dass gerade im Kulturbereich – zum Beispiel Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und beim Film – oftmals nur kurz befristet Beschäftigte trotz -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG‑I‑Sonder- Zahlung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift . im Falle eines Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 .April 2014 bis Arbeitslosengeld I erhalten . Einzelengagements sind oft 31 .März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt, projektbezogen und damit zeitlich befristet . die nach der Sonderregelung zu behandeln waren . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17157

(A) Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der abzuhaken, als weitere erhebliche Unkosten zu riskieren . (C) Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al- Und falls es doch einmal ein rechtsschutzversicherter lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum Verbraucher wagt, zu klagen, bedienen sich die Beklag- einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze ten nicht selten in rechtsmissbräuchlicher Weise des In- von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche- struments der Kettenstreitverkündung, bis die Gerichts- rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn kosten auf einen prohibitiv hohen Betrag angeschwollen Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz, sind und die Rechtsschutzversicherung die Deckungszu- dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von sage zurücknimmt oder der Verbraucher von selbst – er- Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei- neut ganz rational – die Segel streicht . nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen- geld I erhalten . Es gibt also in der Tat ganz erhebliche Missstände beim Verbraucherschutz nach Anlagepleiten, und wir be- Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/ grüßen jede Sensibilisierung für dieses Thema . Wenn wir CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son- von den Bürgern in einer anhaltenden Niedrigzinsphase derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die – und bei einer kriselnden Lebensversicherungsbranche entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions- eine diversifizierte private Altersvorsorge erwarten, dann vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien gilt es, die Position von Verbrauchern gegenüber Finanz- in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir dienstleistern und -instituten zu stärken . plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte- resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen Der der BaFin auferlegte kollektive Verbraucherschutz festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris- ist aber nicht die Kumulation individueller Schutzgewäh- tungsgrenze der Sonderregelung der Berufswirklichkeit rung; die BaFin kann nicht und soll nicht zur Einzelfall- im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar streithelferin werden. Wir wollen einfachere, effiziente ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi- und effektive Mittel, um die Defizite bei der Rechtsver- nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen folgung zu beheben . von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um Um die rationale Untätigkeit zu beenden, dürfen die noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden drohenden Gerichtskosten die zu erwartende Schadenser- der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion satzzahlung nicht überwiegen . Dafür muss die Informati- der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken . onsasymmetrie überbrückt werden, die Streitverfolgung muss für den Verbraucher einfacher und billiger werden, und rechtsmissbräuchliche Taktiken der Beklagten müs- sen unterbunden werden . (B) Anlage 5 (D) Der Bundesfinanzminister ist gefordert, die BaFin zu Zu Protokoll gegebene Rede einer schlagkräftigen Behörde auszubauen, die Sachver- zur Beratung des Antrags der Abgeordne- halte bei Verdachtsmeldungen schnell und umfassend ten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta ermittelt . Geschädigten Anlegern muss bei den behördli- Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- chen Verfahren ein Akteneinsichtsrecht gewährt werden, tion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach Anlageplei- damit sie auf dieser Grundlage die Erfolgsaussichten ei- ten zum Schutz von Verbraucherinteressen stärken ner zivilrechtlichen Klage mit größerer Sicherheit prog- (Tagesordnungspunkt 19) nostizieren können . Zudem sollte für den eingrenzbaren Bereich der Prospekt- und Emittentenhaftung die Mög- lichkeit einer Sammelklage geschaffen werden, damit (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Gerhard Schick auch weit gestreute Schäden auf eine für alle Beteiligten Die Rechtsverfolgung von Verbrauchern begegnet im Fi- wirtschaftliche Weise gerichtlich geltend gemacht wer- nanzbereich besonderen Herausforderungen . Dem Bür- den können . ger stehen hier regelmäßig übergroße, undurchsichtige Emittenten und Vermittler gegenüber . Diese Beziehung Eine Sammelklage funktioniert allerdings nicht, wenn ist weiterhin geprägt von einer asymmetrischen Infor- die Schäden so weit gestreut sind, dass selbst die Rechts- mationsverteilung zulasten des Verbrauchers, wobei das anwaltsgebühren nach der Gebührenordnung zu rationa- auf Abschlussprovisionen basierende Eigeninteresse der ler Untätigkeit führen . Daher muss für die Fälle der Sam- Berater die Gefahren dieser Asymmetrie noch verschärft . melklage auch die Möglichkeit eines rechtsanwaltlichen Erfolgshonorars in angemessener Höhe erlaubt sein . So Erleidet der Verbraucher einen unrechtmäßigen Scha- wird das Kostenrisiko für die Verbraucher auf null redu- den, steht er allzu oft alleine da . Die Schadensverursa- ziert; der mögliche Fehlanreiz zu einem zu frühen, zu cher können sich darauf verlassen, dass dem Bürger die niedrigen Vergleich steht dahinter zurück . tatsächlichen Ursachen des Schadens nicht oder nur un- zureichend bekannt werden . Dazu kommt, dass die Schä- Um schließlich die missbräuchlichen Kettenstreitver- den regelmäßig unter den Anlegern weit gestreut sind kündungen zu unterbinden, muss das Kostenregime der und ein Rechtsstreit ohne ermittelbare Sachlage stets mit Zivilprozessordnung geändert werden . Der Streitverkün- einem unwägbaren Ausgang und daher einem erhebli- der soll bis zum Urteil den Kostenvorschuss tragen . chen Kostenrisiko verbunden ist . Mit diesen Regelungen wird die Verbraucherposition Im Ergebnis führt diese Situation zu einer Art rationa- spürbar gestärkt werden, ohne dass es zu Mehrkosten ler Untätigkeit der Betroffenen: Es ist besser, die Verluste für rechtschaffende Prospektersteller, Emittenten oder 17158 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Berater käme . Kern dieser Regelungen muss aber eine gehörigen Bewachungsverordnung festgeschrieben . Des- (C) schlagkräftige Finanzaufsicht sein, wofür Herr Minister wegen ist auch der Wirtschaftsausschuss federführend . Schäuble weiterhin in der Verantwortung steht . Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des BMWi hat unter Einbeziehung aller beteiligten Akteure – IHKen, Gewerbeämter, Unternehmen, Verband usw . – Anlage 6 Eckpunkte für eine Novelle ausgearbeitet, die seit Ende des letzten Jahres vorliegen . Das BMWi hat daraus den Zu Protokoll gegebene Reden vorliegenden Gesetzentwurf entwickelt, um die beste- zur Beratung des von der Bundesregierung einge- hende Unterregulierung in der Branche zu beenden . Ziel brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzentwurfs ist es, durch höhere Standards und bewachungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord- durch die Verbesserung des Vollzugs die Bürger zu schüt- nungspunkt 20) zen und das Vertrauen in die Branche aufrechtzuerhalten . Die Anforderungen sind im europäischen Vergleich Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU): mit am niedrigsten: Ich freue mich sehr, dass wir heute den vom Bundeswirt- schaftsministerium vorgelegten Entwurf eines „Geset- Derzeit schreibt die Gewerbeordnung strengere Re- zes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften“ gelungen für die Bewachung von Diskotheken und für in den Bundestag einbringen . Damit starten wir auf die Kaufhausdetektive als für diejenigen vor, die in Flücht- Zielgrade eines Reformprozesses, den wir Wirtschaftspo- lingsunterkünften arbeiten . litiker, aber auch unsere Kollegen aus dem Innenressort Zweitens . Um die Zuverlässigkeit, das heißt die Se- auf Bundes- wie Länderebene schon lange vorantreiben; riosität, der Bewacher zu prüfen, langt es aus, einmalig denn es besteht große Einigkeit darüber, dass wir klarere zu Beginn der Tätigkeit ein einfaches polizeiliches Füh- Regeln für die private Sicherheitswirtschaft brauchen: rungszeugnis abzufragen. Das heißt, später stattfindende Die Branche ist in den vergangenen Jahren ein wich- Verurteilungen und laufende Verfahren fallen unter Um- tiger Pfeiler unserer deutschen Sicherheitsarchitektur ge- ständen nie auf . Auch Abfragen beim Verfassungsschutz worden, und die Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen hat es bislang nur in seltenen Fällen gegeben . ergänzen die Arbeit der Polizei der Länder und des Bun- Drittens . Für das Personal reicht meist eine 40-stün- des in vielen Bereichen . Ohne sie wären Großveranstal- dige Unterrichtung ohne Prüfung bei einer IHK aus, um tungen wie Fußballspiele oder Konzerte, aber auch der eingesetzt werden zu dürfen . Auch um als Unternehmer Schutz kritischer Infrastruktur undenkbar . (B) ein Sicherheitsgewerbe anzumelden, braucht man nur ei- (D) Insofern diskutieren wir heute zwar nicht die Über- nen Sitzschein . tragung von staatlichen Hoheitsrechten an private Un- Viertens . Außerdem lässt die Transparenz in der Bran- ternehmen – das Gewaltmonopol möchte niemand hier che zu wünschen übrig . Es gibt bislang keine einheitli- aufweichen –, es geht jedoch in der Tat um elementare chen Ausweise für Sicherheitspersonal und auch kein sicherheitspolitische Fragestellungen . Dessen sind sich Branchenregister . Insgesamt können sich nach der aktu- alle bewusst, die an der Novelle mitarbeiten, und ich bin ellen Gesetzeslage auch Unternehmen mit sehr niedrigen sehr froh über die sehr konstruktive Zusammenarbeit mit Standards in der Branche halten . den Kollegen aus dem Innenausschuss . Der Gesetzentwurf umfasst daher folgende zentrale Wir stellen also fest: Verbesserungen zur Qualitätssteigerung: Gemessen an der hohen Verantwortung der Branche Wer ein Sicherheitsgewerbe anmelden möchte, muss ist die gesetzliche Regulierung unzureichend . Deswegen zukünftig eine Sachkundeprüfung ablegen . Eine Unter- hat die Koalition von CDU, CSU und SPD in ihrem Koa- richtung reicht nicht mehr aus . Auch für das Personal in litionsvertrag festgelegt, an private Sicherheitsdienstleis- Flüchtlingsunterkünften und bei zugangsbeschränkten ter verbindliche Anforderungen an Seriosität und Zuver- Großveranstaltungen wie Fußballspielen und Konzerten lässigkeit zu stellen . werden die Prüfungsanforderungen erhöht . Die Zuverläs- In Erinnerung ist uns allen noch der Vorfall in einer sigkeitsprüfung für die Unternehmer und das Personal, Flüchtlingsunterkunft in Burbach in Nordrhein-Westfa- die das zuständige Gewerbeamt durchführt, wird erheb- len, als dort 2014 Bewacher Flüchtlinge massiv drang- lich erweitert, sodass Straffälligkeiten und Verbindungen saliert haben, und nach dem wegen einer Terrordrohung zu extremistischen Gruppen zukünftig besser und schnel- abgesagten Länderspiel in Hannover im November 2015 ler erkannt werden können . Die Zuverlässigkeitsprüfung hat sich gar herausgestellt, dass ein mutmaßlicher Isla- muss außerdem alle drei Jahre wiederholt werden . Den mist unter den vom Deutschen Fußballbund beauftrag- schwarzen Schafen unter den Unternehmern sowie den ten Ordnern einer privaten Sicherheitsfirma war. Keiner Angestellten kann so in Zukunft konsequent die Erlaub- möchte, dass sich so etwas wiederholt . Deswegen muss nis der Gewerbebehörde entzogen werden . Ein bundes- der Gesetzgeber jetzt dringend gegensteuern, bevor es zu weites, elektronisch auswertbares Bewacherregister wird noch schwereren Vorfällen kommt . aufgebaut, sodass bei Kontrollen Informationen über die notwendigen Unterrichtungs- und Sachkundenachweise Die Anforderungen und Regeln für das Sicherheitsge- sowie die Zuverlässigkeit schnell beschafft werden kön- werbe sind in der Gewerbeordnung – § 34a – und der zu- nen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17159

(A) Insbesondere für die Aufnahme des Registers – mit Stellen nicht mehr wegzudenken . Daher hatte sich die (C) festem Stichtag für die Inbetriebnahme – haben mein Frage gestellt, ob die derzeitigen Anforderungen an die Kollege Marcus Held, Berichterstatter der SPD, und ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im privaten Sicher- uns bereits im Vorfeld intensiv eingesetzt . Wir danken heitsgewerbe noch dieser gestiegenen Bedeutung ent- dem BMWi, dass dieser Punkt bereits vor Kabinettsbe- sprechen . Damit werden wir uns intensiv auseinanderzu- schluss in den Regierungsentwurf aufgenommen wurde . setzen haben . Einige weitere Punkte werden wir uns jetzt im parla- Auf dem Tisch liegt nun ein Gesetzentwurf aus dem mentarischen Verfahren vornehmen: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, zu dem Wir können uns vorstellen, die Möglichkeiten zur Ver- es auch schon eine Stellungnahme des Bundesrates und fassungsschutzabfrage noch auszuweiten . Diese Ansicht die entsprechende Gegenäußerung der Bundesregierung unterstützt übrigens auch der Bundesrat in seiner Stel- gibt . lungnahme . Dass ein den Behörden bekannter Islamist Wichtig ist dabei vor allem, das Wesentliche im Blick als Ordner bei einem Fußballspiel zum Einsatz kommt zu halten, nämlich, die schwarzen Schafe, die es im pri- oder dass ein Rechtsextremer eine Flüchtlingsunterkunft vaten Sicherheitsgewerbe gibt, einzudämmen und die bewacht, möchten wir auf jeden Fall vermeiden . Welche bisher seriösen privaten Sicherheitsdienste, die sich bis- Maßnahmen hier sinnvoll sind, werden wir noch prüfen . her nichts haben zu Schulden kommen lassen und gut Auch beim Bewacherausweis können wir uns noch qualifiziertes Personal beschäftigen, zu stärken. mehr vorstellen . Für Kontrollen und die Erkennbarkeit für den Bürger wäre ein bundesweit einheitlicher Aus- Einige Worte zu dem vorliegenden Gesetzentwurf: weis von Vorteil, der auch offen getragen werden muss . In Bezug auf die Sachkunde des Bewachungsunter- Außerdem wollen wir eine Regelung für Gewerbe- nehmers und -personals sieht der Gesetzentwurf laut treibende und Bewacher ergänzen, die sich in den ver- § 34a Absatz 1 Satz 3 Nummer 3 Gewerbeordnung eine gangenen fünf Jahren vor der Zuverlässigkeitsprüfung Sachkundeprüfung als Erlaubnisvoraussetzung für die nicht dauerhaft in Deutschland oder der EU aufgehalten Bewachungsunternehmer vor . Ebenso soll es für das Be- haben . In diesen Fällen ist es oft nicht möglich, die er- wachungspersonal in leitender Funktion nun auch eine forderlichen Auskünfte für die Zuverlässigkeitsprüfung Sachkundeprüfung in Flüchtlingsunterkünften und bei einzuholen, und wir wollen, dass dann die Erlaubnis ver- zugangsgeschützten Großveranstaltungen geben, wie es sagt werden kann; denn es macht keinen Sinn, insgesamt in § 34a Absatz 1a Satz 2 Nummern 4 und 5 Gewerbe- die Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Mitarbei- ordnung steht . ter dieser Branche zu erhöhen, aber bei neuen Bürgern (B) In Bezug auf die Zuverlässigkeit soll es im Gesetz- (D) auf jede Überprüfung der Zuverlässigkeit zu verzichten . entwurf für den Bewachungsunternehmer nun neben der Nach fünf Jahren kann davon ausgegangen werden, dass Auskunft aus dem Gewerbezentralregister und der un- den inländischen Behörden ausreichend Anhaltspunkte beschränkten Auskunft aus dem Bundeszentralregister vorliegen . auch die Möglichkeit einer Auskunft der Polizeibehörde Diese Aufgaben nehmen wir uns für die kommenden und einer Abfrage beim zuständigen Landesverfassungs- Wochen vor . Es wird eine Neuregelung mit Augenmaß schutz geben . Für das Wachpersonal kann diese Abfrage geben, die innenpolitische und wirtschaftspolitische Er- beim Landesverfassungsschutz erfolgen, wenn es, wie wägungen berücksichtigt und nur dort regulierend ein- bei der Sachkunde, in leitender Funktion Flüchtlingsun- greift, wo wir uns begründet einen Mehrwert verspre- terkünfte oder zugangsgeschützte Großveranstaltungen chen . bewacht . Schließlich gilt es auch, die Gewerbe- und Betäti- Weiterhin werden wir im parlamentarischen Verfahren gungsfreiheit zu berücksichtigen und unnötige Büro- auch die Vorschläge des Bundesrates prüfen . Die Bun- kratie für die Unternehmen und die Verwaltung zu ver- desländer fordern in ihrer Stellungnahme, dass eine Ab- meiden . Das klare Ziel ist es, das Gesetz zur Änderung frage bei der Verfassungsschutzbehörde nicht nur mög- bewachungsrechtlicher Vorschriften noch vor der Som- lich ist, sondern gleich gesetzlich vorgeschrieben wird . merpause zu verabschieden . Ebenso fordert der Bundesrat eine Überprüfung von Gewerbetreibenden, die sich nicht dauerhaft im Inland Marcus Held (SPD): Heute beraten wir in erster Le- oder in einem EU/EWR-Staat aufgehalten haben, nach sung den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung bewa- fünf Jahren . chungsrechtlicher Vorschriften“ . Der Gesetzentwurf ist Daneben werden wir uns mit den Themen „Einheit- das Ergebnis eines Eckpunktepapiers einer Bund-Län- licher Bewacherausweis“ und „Errichtung eines Bewa- der-Arbeitsgruppe zu dem Thema . Diese hatte sich nach cherregisters“ auseinanderzusetzen haben, zu denen uns verschiedenen Vorfällen und Übergriffen in Flüchtlings- vonseiten des Ministeriums und des Bundesrates Vor- heimen formiert, um Vorschläge zur Verschärfung des schläge gemacht wurden . Wir werden die Zeit im par- gewerblichen Bewachungsrechts und zur Verbesserung lamentarischen Verfahren, auf welche ich mich freue, des Vollzugs in diesem Bereich zu machen . nutzen, um uns intensiv damit zu befassen . Mit meiner Private Sicherheitsdienste sind, wie ich damals in mei- Kollegin aus der Union, Frau Dr . Schröder, stehe ich ner Rede hier betont habe, ein wichtiger Bestandteil in hierzu in gutem Kontakt . Der Gesetzentwurf bildet eine der Sicherheitsarchitektur Deutschlands und an vielen gute Diskussionsgrundlage . 17160 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Ich hoffe, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion nach sultat des massiven Stellenabbaus bei Polizeibeamten (C) Ende des Gesetzgebungsverfahrens ein ordentliches Ge- im Streifen- und Schutzdienst . In vielen Bundesländern setz auf den Weg gebracht haben, welches seriöse private sinkt die Zahl weiter oder stagniert trotz steigenden Be- Sicherheitsunternehmen mit gut ausgebildetem Personal darfs . Wir haben es hier mit einem Ausverkauf der öf- stärkt und wodurch Vorfälle, wie wir sie in der Vergan- fentlichen Sicherheit zu tun . Zwar wird durch Kontrolle genheit erleben mussten, eingedämmt werden . und Transparenz privater Sicherheitsunternehmen auf die katastrophale Situation reagiert, jedoch ändert das nichts Thomas Lutze (DIE LINKE): Die sogenannte daran, dass die gegenwärtige Entwicklung hinsichtlich Flüchtlingskrise hat der Sicherheitsbranche einen Boom der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben grundsätzlich beschert: Rund 10 000 der rund 219 000 Beschäftigten bedenklich ist . Hier muss dringend umgedacht werden! im Bewachungsgewerbe sind in Flüchtlingsheimen tätig . Und lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Die Aus- Gab es im Jahr 2000 noch 2 570 Wach- und Sicherheits- bildung sogenannter Hilfspolizisten im Schnellverfahren dienste, sind jetzt rund 4 000 Firmen auf dem Markt . Die ist sicherlich nicht der richtige Weg . Nach maximal drei Zahl der Mitarbeiter ist von rund 171 000 im Jahr 2010 Monaten Ausbildung bereits mit Schusswaffe in Flücht- auf nun rund 219 000 Mitarbeiter angestiegen . lingsunterkünften eingesetzt zu werden, wo schnell eine Die Mitarbeiter in privaten Sicherheitsdiensten, die Situation entstehen kann, unter großem Stress eine Ent- zuständig für die Bewachung von Flüchtlingsunterkünf- scheidung zu treffen, kann verheerende Folgen haben . ten sind, sind oft bewaffnet, obwohl sie im Durchschnitt Hierzu braucht es vielmehr eine intensive Polizeiausbil- nur etwa zwei Wochen geschult werden . Die Liste der dung und umfassende Rechtskenntnisse . Vorfälle, in denen es in den letzten Jahren zu Fehlver- Halten wir fest: Die geplanten Änderungen führen halten und Straftaten durch Sicherheitspersonal kam, ist zwar zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation, lang: Die grausamen Misshandlungen von Asylbewer- das Grundproblem der Erosion des staatlichen Gewalt- bern in Burbach im Siegerland sind nicht der einzige monopols bleibt jedoch bestehen . Die Linke wird ihre erschreckende Vorfall . Hinzu kommen mehrere Berichte Verbesserungsvorschläge in die Ausschussberatung ein- von gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsperso- bringen . nal, ein Granatwurf auf ein von der Konkurrenz bewach- tes Asylbewerberheim sowie Schikanen und Gewaltan- drohungen . Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Eckpunktepapier des Bund-Länder-Ausschusses „Ge- Die Linksfraktion begrüßt daher, dass die Bundesre- werberecht“ zur Überarbeitung des Bewachungsrechts gierung nun angesichts der weiter steigenden Zahl von hatte die Hoffnung geweckt, die Zeit für eine wirkliche (B) Bewachungsunternehmen erhöhte Standards einführen Reform des privaten Sicherheitsgewerbes wäre endlich (D) möchte, ebenso die regelmäßige Überprüfung von Unter- gekommen . Aber leider löst der vorliegende Gesetzent- nehmen und Personal . Es muss gesetzlich sichergestellt wurf dieses Versprechen nicht ein . Zu viele wichtige werden, dass die Gewerbetreibenden und das Personal Punkte wurden nicht aufgegriffen oder sind zwischen- Standards der persönlichen Eignung, Zuverlässigkeit zeitlich unter den Tisch gefallen . und Sachkunde erfüllen . Obwohl wir einzelne Maßnah- men begrüßen und glauben, dass sie eine Verbesserung Eine Sachkundeprüfung sollte in weiteren Bereichen darstellen, sehen wir den Gesetzentwurf der Bundesre- eine selbstverständliche Voraussetzung für die Aufnah- gierung dennoch kritisch . me einer Tätigkeit sein, die den Schutz von Menschen und kritischer Infrastruktur – gerade auch in Ausnahme- Insbesondere zu kritisieren ist die vorgesehene Mög- situationen – zum Gegenstand hat . Dabei reicht es nicht, lichkeit des Datenabgleichs mit den Landesämtern für wenn nun die Geschäftsleitung entsprechend geschult Verfassungsschutz . Es ist nicht geregelt, ob die Landes- wird . Die Kompetenzen und Fähigkeiten müssen vor Ort ämter lediglich melden, ob es einen Treffer im nachrich- vorhanden sein, damit sie abrufbar sind, wenn sie be- tendienstlichen Informationssystem gibt oder nicht oder nötigt werden . Und die Anforderungen der praktischen ob die Landesämter im eigenen Ermessen eine Zuverläs- Arbeit sind vielfältig und hoch . Daher braucht es auch sigkeitsprognose abgeben sollen . Es ist nicht einmal ein- entsprechende Qualitätsstandards für die Ausbildung der deutig festgelegt, dass sie sich überhaupt oder jedenfalls Sicherheitskräfte . wahrheitsgemäß äußern müssen . Ebenso fehlen jegliche datenschutzrechtliche Regelungen zum Umgang mit den Der vorliegende Gesetzentwurf kann das aber in kei- an die Landesämter übermittelten Daten, was beispiels- ner Weise garantieren . Es fehlen entsprechende konkrete weise Speicherung und Löschung betrifft . Vorgaben in Bezug auf Inhalt und Qualität der Ausbil- dung, und die Einhaltung entsprechender gesetzlicher Unverständlich ist am Gesetzentwurf auch, dass die Vorgaben muss notwendigerweise auch vor Ort überprüf- Regelungen zum Fachkundenachweis nur bei bestimm- bar sein . Hier liegt eine weitere große Schwäche des vor- ten Tätigkeiten, nicht aber im gesamten Wachschutzge- liegenden Gesetzentwurfs; denn das noch im Eckpunkte- werbe gelten sollen . Wir müssen auch feststellen, dass papier diskutierte bundesweite Register wurde ersatzlos der Gesetzentwurf der Bundesregierung den gefährlichen gestrichen . So sind Kontrollen vor Ort praktisch nicht Trend des Abbaus des staatlichen Gewaltmonopols fort- sinnvoll möglich . setzt . Dies alles trägt nicht dazu bei, den dringend notwen- Denn die vermeintliche Notwendigkeit des Einsatzes digen Qualitätswettbewerb im Sicherheitsgewerbe zu privater Bewachungsunternehmen ist insbesondere Re- fördern . Ich bin daher wenig optimistisch, dass die Serie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17161

(A) schwerster Übergriffe durch Beschäftigte von Sicher- Ihnen die Eckpunkte dieses Gesetzentwurfs zunächst (C) heitsdiensten, wie wir sie in Flüchtlingsunterkünften er- kurz vorzustellen: leben mussten, nicht wieder aufflammen wird. Es sollte Angesichts der kontinuierlich zunehmenden Zahl der uns sehr zu denken geben, wenn betroffene Wirtschafts- Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft stehen auch verbände mehr Regulierung in ihrem Bereich fordern . immer mehr Beamtinnen, Beamte, Soldatinnen und Sol- Auch finde ich nicht, dass der Gesetzentwurf die daten vor der Aufgabe, sich innerhalb der Familie aktiv schrecklichen Vorfälle des letzten Jahres angemessen be- in die Pflege einzubringen. Tritt ein akuter Pflegefall rücksichtigt . Wir müssen davon ausgehen, dass überhaupt ein, müssen die Pflegenden ihren Alltag oft grundlegend nur die Spitze des Eisberges öffentlich bekannt geworden verändern; sie müssen kurzfristig eine professionelle ist . Doch schon die bekannten Fälle lassen strukturelle Unterstützung organisieren oder auch selbst für länge- Defizite erkennen, die ein entschiedenes Eingreifen des re Zeit die häusliche Pflege übernehmen. Dies stellt sie Gesetzgebers geboten erscheinen lassen . besonders dann vor große Herausforderungen, wenn sie berufstätig sind . Wir unterstützen mit diesem Gesetzent- Wir brauchen im Sicherheitsgewerbe einen Berufs- wurf unsere pflegenden Beschäftigten, ihren Beruf und stand, der sich höheren Zielen verpflichtet sieht. Es kann die Pflege besser in Einklang zu bringen. nicht sein, dass der Staat den Schutz von geflüchteten Menschen in die Hände von Personen legt, die selbst Die neuen Regelungen erleichtern es einerseits Fa- Protagonistinnen oder Protagonisten einer rechten Be- milien, Pflege und berufliche Verpflichtungen besser zu wegung sind . Entsprechende Informationen des Verfas- vereinbaren, andererseits leisten sie auch einen wichtigen sungsschutzes sollten daher regelmäßig und nicht nur, Beitrag zur Fachkräftesicherung und dienen so den Inte- wie im Gesetzentwurf vorgesehen, in Ausnahmefällen ressen der Arbeitgeber . Der Bedarf jedenfalls ist da: berücksichtigt werden . Bereits seit Juli 2013 können Beamte des Bundes ei- Die Polizei ist den Grundrechten, der Demokratie und nen Antrag auf Familienpflegezeit stellen. Allerdings dem Rechtsstaat verpflichtet. Der Anspruch an private liegt die Bewilligung noch im Ermessen des Dienstherrn . Sicherheitsdienste im Sinne dieser verfassungsrechtli- Im vergangenen Jahr hat das Bundesministerium des chen Werteordnung kann nicht geringer sein . Das sind Innern eine Ressortabfrage bei den obersten Bundesbe- allgemeine Grundsätze, die allgemeine Geltung haben hörden durchgeführt, um einen Überblick zu erhalten, müssen . Sie gelten aber in besonderer Weise, wenn Si- in welchem Umfang Familienpflegezeit in Anspruch cherheitsdienste die Polizei unterstützen sollen . Der vor- genommen wurde . Diese Abfrage ergab, dass im Zeit- liegende Gesetzentwurf greift berechtigte Bedenken in raum von Juli 2013 bis einschließlich Februar 2015 von diesem Bereich nicht auf . insgesamt 15 gestellten Anträgen auf Familienpflegezeit (B) (D) Dass Zuverlässigkeitsprüfungen nun wenigstens häu- 14 Anträge bewilligt wurden . figer und unter Einbeziehung einer unbeschränkten Aus- Wer den demografischen Wandel in den Blick nimmt, kunft aus dem Bundeszentralregister erfolgen sollen, ist der weiß, dass der Pflegebedarf in den nächsten Jahren aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung . Auch zunehmen wird . Diesen Entwicklungen muss sich auch die Verbesserungen, die für den Bereich der Unterbrin- der Staat als Arbeitgeber stellen . Wir müssen bereits heu- gung geflüchteter Menschen gelten werden, sind zu be- te darauf reagieren und die entsprechenden Weichen für grüßen . einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst stellen . Dies Mit unserem Antrag „Private Sicherheitsfirmen um- wird nur dann gelingen, wenn er seine Verantwortung für fassend regulieren und zertifizieren“ haben wir, die ein flexibles, familienorientiertes und gesundes Arbeiten Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bereits vor eineinhalb wahrnimmt und als Arbeitgeber für seine Mitarbeiter so- Jahren mehr gefordert . Diesen Weg wollten Sie damals wie für Nachwuchskräfte attraktiv bleibt . nicht mitgehen . Der Gesetzentwurf heute ist daher nur Dabei müssen wir die Zeitsouveränität für die Be- ein erster Schritt in die richtige Richtung . schäftigten auch im öffentlichen Dienst zukunftsfest gestalten . Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Sorge für die Familie, insbesondere die Pflege von Älteren, zukünftig mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, Anlage 7 müssen Berufs- und Familienleben flexibler gehandhabt Zu Protokoll gegebene Reden werden können . Dies ist auch ein Ausdruck von Wert- schätzung den eigenen engagierten Mitarbeitern gegen- zur Beratung des von der Bundesregierung ein- über . gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Angesichts der hohen Bereitschaft, Familienangehö- Beamtinnen und Beamte des Bundes und Solda- rige zu pflegen, ist es eine wichtige gesellschaftspoliti- tinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer sche Aufgabe, die Rahmenbedingungen zur Vereinbar- dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungs- keit von Pflege und Erwerbstätigkeit für Beschäftigte zu punkt 21) verbessern . Mit dem Gesetzentwurf soll deshalb nun ein Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit für Beamte und Soldaten eingeführt werden . Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Zur ersten Beratung des Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Die Beschäftigten sollen zudem einen Vorschuss in Pflege und Beruf für Beamte und Soldaten möchte ich Anspruch nehmen können, um während der – teilwei- 17162 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) sen – Freistellung, die mit einer Gehaltsreduzierung Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus noch weite- (C) verbunden ist, ihren Lebensunterhalt weiter sichern zu re Änderungen, die der redaktionellen Bereinigung sowie können . Hierzu werden das Bundesbeamtengesetz, das der Klarstellung dienen . Bundesbesoldungsgesetz und das Soldatengesetz ent- sprechend angepasst . Damit wird das für die Privatwirt- Insgesamt haben wir hier aus meiner Sicht ein gutes schaft und für Tarifbeschäftigte bereits seit dem 1 . Januar und ausgewogenes Paket vorgelegt . Ich möchte an dieser 2015 geltende Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa- Stelle einen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitar- milie, Pflege und Beruf im Wesentlichen wirkungsgleich beiter des öffentlichen Dienstes aussprechen, die täglich im Beamten- und Soldatenbereich nachvollzogen . Großartiges leisten .

Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt des Gesetz- Oswin Veith (CDU/CSU): In dieser Legislaturperio- entwurfs zu sprechen kommen: de stellt das Thema Pflege für die Union einen Schwer- Ich will über Gewalt gegen Beschäftigte im öffent- punkt dar . Unsere älter werdende Gesellschaft stellt uns lichen Dienst sprechen . Leider ist dies mittlerweile ein vor eine Reihe von schwierigen Fragen . Werden Men- allgegenwärtiges Problem . Um diese zu bekämpfen, ha- schen pflegebedürftig, sind in der Regel die Angehörigen ben wir bereits eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen . gefragt, sich um jene zu kümmern, die sich nicht mehr So wurde die Ausrüstung von Polizisten verbessert, es selbst versorgen können . Viele Menschen entscheiden wurden Notrufknöpfe in Jobcentern installiert und Fort- sich in dieser Situation dafür, die Angehörigen selbst zu bildungen durchgeführt, die Personalausstattung wurde pflegen und über einen gewissen Zeitraum die eigenen erhöht, und Gesetzesänderungen im Strafgesetzbuch beruflichen Ambitionen hintanzustellen. Folgen einer wurden vorgenommen . solchen Entscheidung sind neben der Doppelbelastung auch finanzielle Einbußen. Jetzt gehen wir einen weiteren richtigen Schritt: Be- amte, die Opfer von Gewalt werden, sollen aus Fürsor- Die Koalition hat sich von Anfang an dieses Themas gegründen leichter Schmerzensgeld erlangen können . angenommen und sichtbare Fortschritte gemacht . Ange- Aus Gewalttaten folgen zwar in der Regel Schmerzens- fangen mit dem Gesetz zur Vereinbarkeit von Familie, geldansprüche der Beschäftigten gegen die Täter, die Pflege und Beruf, haben wir vor über einem Jahr für Vollstreckung des Anspruchs scheitert aber mitunter an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Rechts- der fehlenden Leistungsfähigkeit des Schädigers . Beam- anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld geschaffen. In te, aber auch Soldaten, die Opfer von Gewalt werden, einem akuten Fall können die Arbeitnehmerinnen und sollen mit der Durchsetzung derartiger Ansprüche nicht Arbeitnehmer ohne Krankschreibung eine zehntägige alleingelassen werden . Pflegeauszeit nehmen und erhalten einen Lohnersatz. Mit (B) der Möglichkeit, die Arbeitszeit vorübergehend zu redu- (D) Mit der Änderung des Bundesbeamtengesetzes sor- zieren, müssen Arbeitnehmer nicht ihre Erwerbstätigkeit gen wir jetzt dafür, dass in solchen Fällen zunächst der aufgeben, und den Arbeitgebern bleiben die Arbeitskräf- Dienst­herr zur Zahlung des Schmerzensgelds verpflichtet te so erhalten . Menschen, die Verantwortung für ihre Fa- wird . Dieser muss sich dann beim Täter schadlos halten . milien übernehmen wollen, wird so erheblich geholfen . Ein weiterer Punkt: Die Beihilferegelung in § 80 des Nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ken- Bundesbeamtengesetzes wird neu gefasst . Zum einen nen familiäre Notsituationen bzw. familiären Pflegebe- wird der Wortlaut an neue Formen der Leistungserbrin- darf, auch eine Vielzahl unserer Bundesbeamtinnen und gung angepasst, zum anderen wird die Ermächtigungs- Bundesbeamten wollen und müssen Verantwortung für grundlage für den Erlass der Rechtsverordnung prä- ihre Angehörigen übernehmen können, wenn diese ihre zisiert . Eingefügt werden soll zudem ein gesetzlicher Hilfe benötigen . Daher hat sich die Union bereits nach Forderungsübergang von Erstattungs- und Schadens- Verabschiedung des Gesetzes zur Pflegezeit für Ange- ersatzansprüchen von beihilfeberechtigten und berück- stellte für die Übertragung auch auf die Bundesbeamten sichtigungsfähigen Personen auf den Dienstherrn bei zu ausgesprochen . Die Lebenslagen von Beamten und An- Unrecht erbrachten Beihilfeleistungen . gestellten sind in diesem Fall vergleichbar, und ähnlich wie bei den Arbeitnehmern sollten auch Beamte An- Des Weiteren sollen Regelungen, die neu in die Richt- spruch auf eine Auszeit erhalten, wenn Angehörige zu linie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen – pflegen sind. Richtlinie 2005/36/EG – aufgenommen worden sind, im Dienstrecht des Bundes umgesetzt werden . Die Richtli- Somit begrüße ich es für die CDU/CSU-Bundestags- nie sieht vor, dass sich die Mitgliedstaaten der Europä- fraktion, dass wir mit dem heute zur Debatte stehenden ischen Union über Berufsangehörige unterrichten müs- Gesetz Möglichkeiten für die Familienpflege für die sen, denen die Ausübung unter anderem einer ärztlichen Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten schaffen . Damit Tätigkeit untersagt worden ist . Ferner müssen sich die tragen wir nicht nur den Veränderungen in unserer Ge- Mitgliedstaaten über Personen unterrichten, die für den sellschaft Rechnung, sondern beseitigen zudem die Un- Antrag auf Anerkennung der Berufsqualifikation ge- gleichbehandlung von Angestellten und Beamten . Denn fälschte Nachweise benutzt haben; dies ist der sogenann- auch Beamte sollen bei familiären Notlagen flexibel ein- te Vorwarnmechanismus . springen können . Diese europarechtlichen Vorgaben werden durch neue Für die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten, Regelungen im Bundesbeamtengesetz und im Bundes- Richterinnen und Richter sowie Soldatinnen und Sol- disziplinargesetz umgesetzt . daten wird es ebenfalls einen Rechtsanspruch auf Fami- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17163

(A) lien- und Pflegezeit geben. Dazu tritt ein Anspruch auf Augen, was Angehörige alles zu leisten haben, wenn (C) Vorschuss, um die Gehaltseinbußen aufgrund verkürzter ein geliebter Mensch plötzlich gepflegt werden muss. Arbeitszeit abfedern zu können. Der Familienpflege- Das wirft den gesamten Alltag durcheinander, und viele zeitanspruch wird als eine Teilzeitbeschäftigung von ma- Fragen strömen auf die Betroffenen ein: „Wie soll der ximal 24 Monaten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit Angehörige gepflegt werden, zu Hause oder in einer Ein- von mindestens 15 Stunden ausgestaltet . Der Vorschuss richtung?“, „Wer soll nun pflegen, eine Fachkraft oder soll während der Pflegezeit gezahlt und anschließend mit jemand aus der Familie?“, „Was kostet das, und wie soll den Bezügen verrechnet werden . das bezahlt werden?“, „Erhalte ich hier Unterstützung, und welche?“ usw . Gleichzeitig enthält der Gesetzentwurf einen Anspruch gegen den Dienstherren auf Schmerzensgeld im Falle ei- Jeden Tag stehen Familien vor dieser Situation, und ner Verletzung durch Dritte während des Dienstes . Diese die Pflegebedürftigkeit, das wissen wir alle, wird deut- neue Regelung halte ich für ein wichtiges und richtiges lich zunehmen, wenn die Babyboomer, nämlich meine Signal für unsere Beamten, die sich tagtäglich für unsere Generation, in das fortgeschrittene Alter kommen . Nach Bürger einsetzen . Viele vergessen, dass die Beamtinnen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird sich und Beamten sich um die Sicherheit unserer Bürger küm- die Anzahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 15 Jah- mern und dabei täglichen Gefahren ausgesetzt sind . Im- ren auf rund 3,5 Millionen belaufen. Sehr häufig sind es mer wieder kommt es vor, dass vor allem Polizeibeamte Frauen, die diese überaus wichtige und notwendige Ar- während des Dienstes Opfer von Gewalttaten werden . beit leisten . Auch Soldaten werden angegriffen, wenn sie im Wege Schauen wir uns die aktuelle Situation an: Rund der Amtshilfe eingesetzt werden . Aus solchen Angriffen 2,6 Millionen Menschen waren Ende 2013 pflegebedürf- resultieren in der Regel Schmerzensgeldansprüche gegen tig, und rund 1,8 Millionen, das heißt mehr als zwei Drit- den Schädiger . tel davon, wurden zu Hause versorgt . Bei 1,25 Millionen Betrachtet man die Gewalttaten gegen Polizeibeamte waren es Angehörige, die die Pflege übernahmen. Das ist in den letzten Jahren, ist – das muss ich an dieser Stelle eine enorme Zahl und zeigt, welche Leistung in den Fa- leider sagen – eine negative Entwicklung klar erkennbar . milien erbracht wird . Das verdient unsere Anerkennung, 2014 wurden 700 Mitarbeiter von Rettungsdiensten so- und das darf in diesem Haus auch deutlich gesagt wer- wie 60 000 Polizisten und Vollzugsbeamte angegriffen . den . Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Gewerk- Diese Situation betrifft natürlich auch viele Arbeitneh- schaft der Polizei 62 000 Beamte angegriffen . Ein Trend merinnen und Arbeitnehmer . Wir wissen, dass die Anzahl zu mehr Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Beam- der Erwerbstätigen unter den Pflegenden ansteigt und ten des Bundes und der Länder ist klar erkennbar, und (B) weiter ansteigen wird, und wir müssen dem Rechnung (D) wir als Bund sehen uns deshalb verpflichtet, hier zu han- tragen, indem wir die Rahmenbedingungen dafür ver- deln . Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Bund für bessern . Wer seine Arbeitszeit reduziert oder sogar un- angegriffene Beschäftigte die Schmerzensgeldansprüche terbricht, um einen Angehörigen zu pflegen, soll soweit regelt, wenn der Täter zahlungsunfähig ist . Mit dieser es geht Unterstützung erhalten . Hier sind wir als Gesetz- Regelung zeigen wir als Bund, dass wir Respektlosigkeit geber gefragt, und wir haben in dieser Legislaturperiode und Gewalt gegen unsere Beamten nicht dulden, und las- schon einige Anstrengungen unternommen, um die Situ- sen Betroffene nicht alleine mit ihren Ansprüchen gegen ation für erwerbstätige Pflegende zu verbessern. oftmals mittellose Angreifer . Es kann nicht sein, dass die- jenigen, die sich tagtäglich für die Belange des Gemein- So haben wir mit dem Pflegezeitgesetz und dem Fa- wohls und die Sicherheit der Bürger einsetzen, zuneh- milienpflegezeitgesetz die Freistellungsmöglichkeiten mend von Gewalt bedroht sind . Gesetzliche Lösungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert, bei werden hier nicht ausreichen; wir benötigen ebenso ein denen plötzlich eine Pflegesituation eintritt. Sie haben Umdenken in der Bevölkerung, hin zu mehr Respekt im seit dem 1 . Januar 2015 einen Anspruch auf vollständige Umgang miteinander . Mit diesem ersten Schritt stellen oder teilweise Freistellung und auf finanzielle Förderung. wir uns eindeutig hinter unsere Beamtinnen und Beamte . Mithilfe des Pflegeunterstützungsgeldes können durch die Pflegesituation entstandene finanzielle Engpässe re- Abschließend betone ich, dass wir mit diesem Gesetz- duziert werden . Das ist gut so und hat seit 2015 die Situ- entwurf unser Ziel weiter fortschreiben, den öffentlichen ation für die Menschen verbessert . Dienst attraktiver zu gestalten . Attraktiv ist ein Arbeitge- ber, wenn er im Falle von Notsituationen Verständnis für Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Bedürfnisse der Arbeitnehmer hat . Wie auch schon wir diese Verbesserungen auf Beamtinnen und Beamte beim ersten Familienpflegegesetz, welches wir auch auf und Soldatinnen und Soldaten übertragen . Das ist drin- die Bundesbeamten übertragen haben, übertragen wir gend notwendig; denn natürlich gibt es auch hier viele nun auch den Familienpflegezeitanspruch auf die Bun- Menschen, die parallel zu ihrer Berufstätigkeit Angehö- desbeamten . Ich werbe daher für eine breite Zustimmung rige pflegen und betreuen, und auch hier wird sich die de- zum Gesetzentwurf . mografische Situation niederschlagen und die Erwerbstä- tigen verstärkt vor Herausforderungen stellen . Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Plötzlich wurde Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir auch für diese mein Mann zum Pflegefall: So höre ich es manchmal große und wichtige Beschäftigtengruppe einen Rechtsan- in meiner Sprechstunde, und die dann folgenden Schil- spruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit. Sie haben derungen der Menschen führen mir immer wieder vor künftig einen Anspruch auf Familienpflegezeit von bis 17164 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) zu 24 Monaten bei einer verbleibenden Arbeitszeit von der Beschäftigten aufzuheben wäre . Darüber werden wir (C) 15 Stunden pro Woche. Darüber hinaus können sie Pfle- sicher noch einmal diskutieren; denn auch hier werden gezeit beanspruchen bei bis zu sechs Monaten vollstän- die Maßgaben des Struck’schen Gesetzes greifen . diger oder teilweiser Freistellung . Das schafft bei kurz- fristigem Handlungsbedarf kurzfristige Freiräume . Bei Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs- einer plötzlich eintretenden Pflegesituation wird dadurch sen . die Situation spürbar erleichtert . Auch hier ermöglichen wir eine finanzielle Förderung, um den Lebensunterhalt Frank Tempel (DIE LINKE): Die Bundesregierung für die Betroffenen zu sichern . hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem für die Be- Mit diesen Maßnahmen haben wir die Gruppe der Be- amtinnen und Beamten die Regelungen nach dem Pfle- amtinnen und Beamten sowie Soldatinnen und Soldaten gezeitgesetz bzw. dem Familienpflegezeitgesetz weitge- als wichtige Säulen in unserer Gesellschaft einbezogen, hend übernommen werden sollen . Dieses Anliegen wird und das ist gut so . von der Linken ganz grundsätzlich begrüßt und unter- stützt . Auch Beamtinnen und Beamte müssen die Mög- Wir haben mit dem Gesetzentwurf noch weitere Rege- lichkeit haben, ihre Angehörigen zu pflegen und danach lungen in den Blick genommen, die zu verändern waren . in ihren Beruf zurückzukehren . So wird es künftig möglich sein, vorübergehend zwei Beamtenverhältnisse – das auf Lebenszeit und das auf Leider enthält der Gesetzentwurf an einzelnen Punk- Widerruf oder Probe – nebeneinander zu haben . Damit ten eine Schlechterstellung gegenüber Arbeitnehmerin- tragen wir den beruflichen Veränderungswünschen Rech- nen und Arbeitnehmern, die für uns sachlich nicht nung und erleichtern den Wechsel in eine neue oder hö- nachvollziehbar ist . Noch dazu enthält er sachfremde here Laufbahn . Das ist eine kleine Änderung, die auch Neuregelungen, die gesondert diskutiert werden müssen . die Bürokratie entlastet und den öffentlichen Dienst fle- xibler macht . Zunächst zu den eigentlichen Regelungen zur Famili- enpflegezeit: Darüber hinaus reagieren wir mit dem Gesetzentwurf auf eine Entwicklung, die leider auch zu den Realitäten Während Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen von immer mehr Beamtinnen und Beamten gehört: Ge- klaren Rechtsanspruch auf Beurlaubung zur Pflege ihrer walt im Dienst . Besonders gefährdet sind hier Polizistin- Angehörigen haben, kann dies den Beamtinnen und Be- nen und Polizisten und Soldatinnen und Soldaten . Doch amten mit Verweis auf „zwingende dienstliche Gründe“ auch Verwaltungsbeamtinnen und -beamte sind schon verweigert werden. Diese Abweichung vom Pflegezeit- bedroht und verletzt worden . gesetz ist für uns nicht nachvollziehbar; die Koalition (B) muss hier dringend nachbessern . (D) War es bislang so, dass die Opfer von Gewalt bei Schadensersatzansprüchen häufig leer ausgingen, weil Eine Ungleichbehandlung sehen wir außerdem bei die Schädiger nicht zahlen konnten, wird im Falle ei- den Regelungen zum Ausgleich des Verdienstausfalls . ner erfolglosen Vollstreckung künftig der Dienstherr die Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist die Schadensersatzzahlung übernehmen . Ziel der Angriffe ist Sache klar: Sie erhalten ein Darlehen des Bundesamts nämlich stets die Instanz des öffentlichen Dienstes und für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben . Bei nicht etwa der Beschäftigte als Privatperson . Damit wird Beschäftigten mit geringem Verdienst gibt es Härtefall- sichergestellt, dass die Opfer von Gewalt in jedem Fall regelungen für die Stundung des Darlehens oder sogar ihre rechtlich erstrittenen Ansprüche auch durchsetzen einen teilweisen Verzicht auf Rückzahlung . Beamtinnen können . Das ist auch moralisch von Bedeutung und soll und Beamte müssen die während der Pflegezeit erhal- einen Beitrag zur Anerkennung der Beschäftigten leisten . tenen Bezüge über Abzüge von ihrem Sold zurückzah- len, wenn die Pflegezeit vorbei ist. Für sie gibt es keine Des Weiteren werden wir die Beihilfeverordnung Möglichkeit eines Teilerlasses dieser Rückzahlung . Auch konkretisieren . Dazu gehört die Einführung eines Forde- für die Stundung im Falle der weiteren Pflege über die rungsübergangs von Schadensersatz- oder Erstattungs- 24-monatige Pflegezeit hinaus ist es in das Ermessen der ansprüchen auf den Dienstherrn . Auch das kommt den Dienststelle gestellt, ob sie niedrigere Raten für die Ab- Beschäftigten zugute und hat unsere Zustimmung . geltung des Darlehens genehmigt . Weitere Bestandteile des Gesetzentwurfs sind auch Anpassungen an EU-Normen . So werden Unterrichtungs- Ich weise gerade auch für die Öffentlichkeit darauf hin, pflichten bei Berufsverboten und Disziplinarverfahren in dass nicht alle Beamtinnen und Beamten wie die Made den Bereichen Medizin, Gesundheitsversorgung und der im Speck leben, sondern gerade für die unteren Besol- Erziehung Minderjähriger nachvollzogen . Es ist somit dungsgruppen Soldabzüge über einen längeren Zeitraum ein Gesetzentwurf, der verschiedene Aspekte aufgreift existenziell bedrohlich sein können. Dort finden sich und dabei vor allen Dingen die Verbesserung der Situa- überproportional viele Frauen, die zugleich in vier von tion von Beamtinnen und Beamten und Soldatinnen und fünf Fällen die Pflegearbeit in der Familie übernehmen. Soldaten im Blick hat . Das begrüßen wir ausdrücklich . Der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird hier also ein Bärendienst erwiesen . Hier müssen klare Regelungen Dennoch gibt es hier und da noch Punkte, die im wei- analog zu den Regelungen des Familienpflegezeit- und teren Verfahren zu diskutieren sind . So stellt sich zum des Pflegezeitgesetzes geschaffen werden, und zwar im Beispiel die Frage, ob bei den Schadensersatzansprüchen Gesetz selbst und nicht, wie hier vorgesehen, auf dem die geplante Bagatellgrenze von 500 Euro nicht im Sinne Verordnungswege . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17165

(A) Lassen sie mich noch einen letzten Punkt in Bezug auf Verdienstausfall teilweise kompensiert . Leider hat das (C) die Pflegezeit ansprechen: Für die Arbeitnehmerinnen ursprüngliche Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa- und Arbeitnehmer gelten die Regelungen ausdrücklich milie, Pflege und Beruf zahlreiche Schwächen, und die auch für die Begleitung ihrer sterbenden Angehörigen . werden durch eine Ausweitung des Geltungsbereichs na- Dem Wortlaut nach geht es für die Beamtinnen und Be- türlich nicht behoben . amten nur um die Pflege und Betreuung. Das kann auch Die Darlehenslösung, die bei den Beamten durch ei- die Sterbebegleitung meinen, muss es aber nicht . Auch nen Vorschuss, der später verrechnet wird, erreicht wird, hier fordern wir eine Klarstellung im Gesetzgebungsver- bedeutet unter dem Strich eine Einkommensreduzierung . fahren . Die ausgefallenen Bezüge werden nur zum Teil kompen- Darüber hinaus bleibt es bei unserer Kritik am Pfle- siert, und nach der Pflegezeit muss die Kompensation zu- gezeitgesetz und am Familienpflegezeitgesetz, dass die rückgezahlt werden . Die Einkommensreduzierung kann geforderte Rückzahlung des Darlehens für die Pflege – bis zu vier Jahre dauern, wenn man die 24 Monate für im Falle der Beamten: die Verrechnung mit späteren Be- die Familienpflegezeit voll in Anspruch nimmt und an- zügen – gerade für Bezieherinnen und Bezieher geringer schließend 24 Monate zurückzahlt bzw . eine geringere Einkommen bzw . der untersten Besoldungsstufen ein Vergütung erhält. Pflegezeit muss man sich also leisten Armutsrisiko darstellt und dass die starren Regelungen können . Die Gehaltseinbußen sind besonders für Gering- für die Befristung von Pflegezeit/Pflegeteilzeit keine fle- verdiener – und die gibt es auch unter Beamten und Sol- xible Reaktion auf unterschiedliche Krankheitsverläufe daten – nicht tragbar . zulassen . Für zwei Jahre die Arbeitszeit zu reduzieren, um zu Ich will am Ende noch auf eine Reihe sachfremder Re- pflegen, kommt nur für diejenigen infrage, die inder gelungen des Gesetzentwurfs eingehen: Grundsätzlich zu Nähe des Pflegebedürftigen leben. Die Tochter, die begrüßen ist die Regelung zur Übernahme von tatsäch- 300 Kilometer von der Mutter entfernt lebt, kann nicht lich nicht vollstreckbaren Schmerzensgeldansprüchen jeden Tag ein paar Stunden arbeiten und sich anschlie- durch den Dienstherrn . Sie ist aber leider nur als Ermes- ßend um die Mutter kümmern . Und selbst wenn alles am sens- statt als Ist-Regelung ausgestaltet, und die Mindest- selben Ort stattfindet – die Arbeit, die Pflege, das Leben betragsgrenze von 500 Euro ist zu hoch angesetzt und in der eigenen Wohnung –, ist es nur möglich, das alles wird bei bereits gezahltem Unfallausgleich oder gezahl- zu vereinbaren, wenn der Pflegebedürftige nicht rund um ter Unfallentschädigung nicht gezahlt . Schmerzensgeld die Uhr jemanden braucht, der bei ihm ist . Menschen mit hat aber mit Unfallausgleich nichts zu tun . Demenzerkrankungen kann man nicht stundenlang al- leinlassen . Die Gesundheitsprävention wird aus der Beamten- (B) beihilfe herausgenommen . Das ist ein eklatanter Wider- Unsere letzte Kleine Anfrage zur Inanspruchnahme (D) spruch zum Ziel der Gesunderhaltung der Beamtinnen hat ergeben, dass für Pflegezeit und Familienpflegezeit und Beamten im Rahmen der Demografie-Strategie der im letzten Jahr insgesamt 242 Darlehen vergeben wur- Bundesregierung . Das wird absurderweise dazu führen, den. Angesichts von 2,5 Millionen pflegebedürftigen dass Beamtinnen und Beamte Präventionsangebote der Menschen, von denen zwei Drittel zu Hause gepflegt gesetzlichen Krankenversicherungen annehmen müssen, werden, ist das nichts . wenn es sie in ihrer Dienststelle gibt . Das würde eine un- Wir brauchen etwas anderes: Wir brauchen viel mehr zulässige Kostenverschiebung bedeuten . entlastende Angebote für Menschen, die sich entschei- Ebenfalls zulasten der gesetzlichen Krankenversi- den, sich um ihren pflegebedürftigen Angehörigen, cherungen und der unteren Besoldungsgruppen geht die Nachbarn oder Freund zu kümmern . Darum wollen wir Neuregelung zur Kostenübernahme bei einem Wechsel sowohl Beratungs- und Informationsangebote als auch in die gesetzliche Krankenversicherung . Bislang konnten flexible Tages- und Nachtpflegeangebote inklusive Hol- die Beamtinnen und Beamten mit viel Mühe in die ge- und Bringdiensten flächendeckend ausbauen. Konkret setzliche Krankenversicherung wechseln . Statt Beihilfe heißt das: Wer Verantwortung übernimmt, erhält dauer- zu zahlen, übernimmt der Staat dann den Arbeitgeberan- haft Unterstützung – nicht nur bis zu 24 Monaten . Der teil . Nun wollen Sie diese Regelung einfach streichen . Pflegebedürftige wird nicht alleingelassen. Das ist genau der falsche Weg . Richtig wäre es, viel mehr Die Pflegezeit selbst wollen wir nicht mit einem kni- Beamtinnen und Beamte zum Wechsel in die gesetzliche ckerigen, zurückzahlbaren Darlehen ausstatten, sondern Krankenversicherung zu ermutigen . mit einer Lohnersatzleistung wie das Elterngeld . Diese Es gibt also im weiteren Gesetzgebungsverfahren grüne Pflegezeit ermöglicht es, bis zu drei Monate kom- noch einiges zu tun . Wir werden Sie dabei gerne unter- plett aus dem Beruf auszusteigen, um alles Notwendige stützen . für eine Pflege zu veranlassen: einzuschätzen, was not- wendig sein wird, sich über Angebote und Ansprüche zu informieren, die Leistungen zu beantragen und schließ- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Elisabeth Scharfenberg lich alles zu organisieren . NEN): Mit diesem Gesetz werden die Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf Und das Beste daran: Unsere grüne PflegeZeitPlus – wirkungsgleich auf Beamtinnen und Beamte sowie Sol- die dreimonatige Freistellung mit Lohnersatzleistung datinnen und Soldaten übertragen . Das heißt, auch Be- sowie die ergänzenden Angebote – gilt für alle Erwerbs- amte können sich jetzt für die Pflege bis zu 24 Monate tätigen, kommt allen zugute: Arbeitnehmerinnen und freistellen lassen und erhalten einen Vorschuss, der den Arbeitnehmern – auch in kleinen Betrieben –, Beamten, 17166 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Soldatinnen und Soldaten und Selbstständigen . Selbst- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir nun (C) ständige und Angestellte kleiner Betriebe sind nämlich die übrig gebliebenen Verbesserungsvorschläge aus dem bei den derzeitigen Gesetzen zur Vereinbarkeit von Fa- Projekt um . So wird es pro Jahr weitere 43 Millionen milie, Pflege und Beruf weiterhin außen vor. Euro weniger Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft ge- ben . Aber auch die Bürger sparen Zeit und Mühe . Durch die verstärkte Möglichkeit des elektronischen Abrufs von Bescheinigungen und durch die Reduzierung von Mel- Anlage 8 dungen werden sie spürbar entlastet . Zu Protokoll gegebene Reden Vom französischen Schriftsteller und Philosophen ­Honoré de Balzac stammt aus dem 19 .Jahrhundert der zur Beratung des von der Bundesregierung ein- Satz: gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch Es gibt nur eine einzige von Zwergen bediente Rie- und anderer Gesetze (6. SGB IV-Änderungsge- senmaschinerie, und das ist die Bürokratie . setz – 6. SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 22) Wir wissen heute: Es sind keine Balzac’schen Fabelwe- sen, die hinter der Bürokratiemaschine stecken . Wir sind Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir verab- es selbst, die dafür sorgen können, dass die Riesenma- schieden im Bereich Arbeit und Soziales eine Menge schinerie zurückgebaut und kleiner wird und dass Unter- Gesetzentwürfe, von denen wir denken, dass sie die Welt nehmen sowie Arbeitnehmer mehr Zeit für die wichtigen besser und gerechter machen . Bei vielen dieser Gesetz- Dinge haben . entwürfe müssen wir uns danach allerdings anhören, dass sie nur neue Bürokratie brächten und dass sie unverhält- Dabei dürfen wir uns nicht ausruhen . Auch in Zu- nismäßig viel Aufwand bedeuteten . Manchmal ist daran kunft muss gelten: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand etwas Wahres . Umso schöner ist es, dass wir heute über muss durch einen Euro Entlastung begleitet werden . Das einen Gesetzentwurf sprechen, der genau für das Gegen- fördert unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohl- teil sorgt . stand . Dafür setzen wir uns ein . Es ist natürlich nicht der erste Gesetzentwurf dieser (Ühlingen) (CDU/CSU): Be- Art . Im vergangenen Jahr haben wir es durch kluge Ge- Gabriele Schmidt reits im letzten Jahr haben wir mit der Verabschiedung setzgebung geschafft, die Bürokratie zu bremsen . So ist des 5 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches So- zum ersten Mal der zeitliche und finanzielle Aufwand ge- zialgesetzbuch und anderer Gesetze Rechtsklarheit und (B) sunken, den unsere Gesetze hervorrufen . In erster Linie (D) Rechtssicherheit in den Meldeverfahren gestärkt und da- war dafür das Bürokratieentlastungsgesetz verantwort- durch eine Entlastung der Arbeitgeber durch optimierte lich . Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die vielen und vereinfachte Meldeverfahren erreicht; denn es hatte kleinen Verbesserungen, die wir verabschiedet haben . sich herausgestellt, dass sich die Praxis erheblich weiter Nicht alle haben eine große mediale und öffentliche Auf- entwickelt hat, als sie im Gesetz geregelt ist . Das Gesetz merksamkeit erfahren, aber es sind Gesetzentwürfe wie definiert nunmehr klar wichtige Verfahrensbestandteile der vorliegende, die Schritt für Schritt die Bürokratie in der Meldeverfahren und stärkt damit die Verfahrenssi- Deutschland eindämmen . cherheit . Es geht dabei um die Vereinfachung und Optimierung Mit dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung von Meldeverfahren in der sozialen Sicherung . Das klingt eines 6 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches SGB erst einmal sehr unspektakulär . Es handelt sich bei dem und anderer Gesetze setzen wir den eingeschlagenen Meldeverfahren jedoch um das größte und komplexes- Kurs fort und weitere nunmehr ausgearbeitete Verbesse- te Massenverfahren zur Weitergabe von Informationen rungsvorschläge aus dem seit 2011 vom BMAS durch- von den Arbeitgebern an öffentliche Stellen in Deutsch- geführten OMS-Projekt – Optimiertes Meldeverfahren in land . Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei der sozialen Sicherung – um, an dem unter anderem So- etwa 3,7 Millionen Arbeitgebern müssen weitergegeben zialversicherungsträger, Bundesagentur für Arbeit, Sozi- werden . Insgesamt sind das pro Jahr etwa 400 Millionen alpartner und andere Akteure mitgewirkt haben . Darüber Meldevorgänge . Hier gibt es also eine Menge Raum, um hinaus schließen wir eine bestehende Rechtsschutzlücke Bürokratie einzusparen . im Arbeitsrecht . Dazu gleich mehr . Wir haben bereits im vergangenen Jahr einige Opti- Der vorliegende Gesetzentwurf gilt primär der Ver- mierungen in dem Verfahren auf den Weg gebracht, die besserung und Vereinfachung von technischen und orga- den Erfüllungsaufwand um rund 126 Millionen Euro nisatorischen Abläufen . Wir senken weiter Bürokratie- reduziert haben . Die Vorschläge kamen aus dem Pro- kosten und entlasten die Arbeitgeber spürbar – um rund jekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Siche- 43,5 Millionen Euro . rung“ – kurz: OMS –, in dem sich Fachleute zwei Jahre Gedanken darüber gemacht haben, wie das Verfahren Wir reduzieren den Aufwand der Bürgerinnen und besser, einfach und günstiger gemacht werden kann . Ar- Bürger, unter anderem durch die Möglichkeit des elek- beitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen der tronischen Abrufs von Bescheinigungen direkt vom Ar- Sozialversicherung bewerteten dann die eingereichten beitgeber durch die Träger der Unfallversicherung, um Verbesserungsvorschläge . rund eine Stunde im Einzelfall . Auch die Sozialversiche- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17167

(A) rungsträger werden durch qualitätsverbessernde Maß- Welches Unternehmen wäre nicht froh über eine leis- (C) nahmen um 3,4 Millionen Euro jährlich entlastet . tungsstarke Verwaltung, die einen nicht mit Formularen erschlägt! Eine gute Verwaltung ist also auch ein wichti- Lassen Sie mich Ihnen ein paar Details der im Gesetz- ger Standortfaktor . entwurf enthaltenen Optimierungen vorstellen: Worum geht es in dem Gesetzentwurf? Die elektroni- Betriebsnummer und Zahlstellennummer werden ge- schen Meldeverfahren in der sozialen Sicherung sollen setzlich definiert, es werden maschinenlesbare Codes auf besser und effizienter organisiert und vereinfacht- wer dem Sozialversicherungsausweis und die Möglichkeit den – sowohl für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als zur elektronischen Beantragung und Rückübermittlung auch für die Verwaltung und natürlich für die Bürgerin- der Bescheinigungen über die Fortgeltung des Versi- nen und Bürger . cherungsschutzes im Ausland eingeführt; wir schaffen außerdem eine Grundlage für ein Informationsportal für So führen wir jetzt unter anderem die maschinenles- Arbeitgeber zu Basisfragen zur Sozialversicherung und bare Verschlüsselung der Daten auf dem Sozialversiche- entlasten damit weiter die mittelständische Wirtschaft rungsausweis ein . Das klingt nicht aufregend, spart aber von Bürokratie . Zeit und Geld . Das Qualitätsmanagement wird bei der Massenverar- Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Sozial- beitung von sensiblen Daten immer bedeutender . Auch versicherungsträger werden sich über das beschleunigte hier setzt der Gesetzentwurf an: Wir führen Prüfverfah- Verfahren freuen, weil sie zukünftig automatisch mit der ren für die Teile der Software der Sozialversicherungs- jeweils richtigen Sozialversicherungsnummer arbeiten träger ein . können und sich nicht mehr länger mit Fehlern und ent- sprechenden Korrekturen abmühen müssen . Außerdem Weitere Änderungen betreffen unter anderem die wird die Möglichkeit zur elektronischen Beantragung Alterssicherung der Landwirte . Die rückwirkende Auf- und schnellen elektronischen Zusendung der A1-Be- hebung von Bescheiden über den Zuschuss zu den scheinigungen geschaffen . Diese Bescheinigungen sind Aufwendungen für die freiwillige gesetzliche Kranken- nötig, um den Versicherungsschutz für Arbeitnehmerin- versicherung beugt einer Doppelbelastung der Alterssi- nen und Arbeitnehmer zu sichern, wenn sie vorüberge- cherung vor . hend für Arbeitseinsätze ins Ausland entsandt werden . Nun komme ich auf die oben angesprochene Rechts- Derzeit müssen dafür noch Antragsformulare aus Papier schutzlücke zu sprechen, die wir mit dem Gesetz umständlich und zeitraubend hin- und hergeschickt wer- schließen werden: Durch die neue Möglichkeit, eine den – und die Bescheinigung selbst natürlich auch . (B) Nichtzulassungsbeschwerde gegen berufsverwerfende Kleinere und mittelständische Unternehmen werden (D) Beschlüsse der Landesarbeitsgerichte beim Bundesar- besonders von der Einführung des neuen Informati- beitsgericht einzulegen, anstatt gleich Verfassungsge- onsportals im Internet profitieren. Dort können Unter- richte anzurufen – bislang die einzige Möglichkeit –, nehmerinnen und Unternehmer zukünftig schneller als wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den bisher an die wichtigsten Informationen zu allen sozial- Rechtsstaat gestärkt . versicherungsrechtlichen Fragen herankommen, die die Zusammenfassend sind alle Änderungen notwen- Melde- und Beitragsverfahren ihrer Mitarbeiterinnen und dig und sinnvoll . Sie sind die logische Fortsetzung der Mitarbeiter betreffen . Das wird ihnen viele Nachfragen Umsetzung der gemachten Vorschläge zur qualitativen und dadurch Zeit ersparen – wertvolle Zeit, die sie nun in Verbesserung von Verfahren und ganz im Sinne aller Be- ihren Betrieb investieren können . Auch die Übermittlung teiligten. Von den Verbesserungsmaßnahmen profitieren von Entgeltbescheinigungsdaten wird vereinfacht . Wirtschaft, Verwaltung sowie jede und jeder Einzelne Die Verbesserungen im SGB IV mögen für manche von uns . kleinteilig klingen, das sind sie aber nicht . Im Gegenteil: Die Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger, für Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Mit dem vorliegenden die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und auch für die 6 .SGB IV-Änderungsgesetz treten wir erneut auf die Bü- Sozialversicherungsträger sind enorm . rokratiebremse und vereinfachen umständliche und zeit- Schauen wir uns die Entlastungen einmal genauer an: raubende Verwaltungsvorgänge . Das machen wir jetzt in der Sozialversicherung mit verbesserten elektronischen Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen Zeit, nämlich Meldeverfahren . Ich freue mich, dass unsere Bundesre- etwa 315 000 Stunden pro Jahr; denn die pauschale obli­ gierung den Kampf aufgenommen hat und das Bürokra- gatorische Meldung über Versorgungsbezüge entfällt in tiemonster in seine Schranken weist . Zukunft und muss nur noch von denjenigen abgegeben werden, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen . Bürokratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeit und Nerven, und sie bremst darüber hinaus Für die Unternehmen verringert sich ihr Bürokra- unsere Wirtschaft aus . Besonders betroffen sind die etwa tieaufwand im Umfang von etwa 43,5 Millionen Euro vier Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, un- jährlich . Das geht auf die erwähnte Einführung des Infor- sere Fackelträger für Wachstum und Beschäftigung in mationsportals im Internet zu sozialversicherungsrecht- Deutschland . Weniger Bürokratie zahlt sich für sie in ba- lichen Melde- und Beitragsfragen zurück . Außerdem rer Münze aus und macht sie somit wettbewerbsfähiger, werden die Firmen durch Qualitätsverbesserungen bei kurbelt unsere Wirtschaft an und sichert Arbeitsplätze . den Fehlerrückmeldungen der Krankenkassensoftware 17168 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) erheblich entlastet . In Zukunft werden die Fehler syste- profitieren: Gut so. Wenn als Nebeneffekt auch die Ver- (C) matisch erfasst und bereinigt . sicherten von beschleunigten Abläufen einen Nutzen haben: Umso besser . Und dennoch: Oberste Priorität Auch die Verwaltung spart jährlich etwa 3,4 Millionen müssen die Datensicherheit und der Datenschutz haben . Euro . Durch das Internet-Informationsportal reduziert Werden Verschlüsselungsverfahren genutzt, so ist ins- sich die Anzahl der Anfragen aus den Unternehmen auch besondere beim Sozialdatenschutz sicherzustellen, dass für sie . sensible persönliche Informationen nicht für unbefugte Diese Einsparungen sind beträchtlich, aber auch drin- Personen sichtbar und nutzbar werden . gend notwendig; denn jährlich finden sage und schreibe etwa 400 Millionen Meldevorgänge von den Arbeitge- Gegenüber dem Referentenentwurf wurden aufgrund bern zu den Sozialleistungsträgern und zurück statt, vor der Stellungnahmen der Verbände bzw . Sozialversiche- allem Anmeldungen, Abmeldungen und monatliche Bei- rungsträger bereits einige Maßnahmen im Gesetzentwurf tragsmeldungen von Beschäftigten bei den Kranken- und weiter korrigiert, einige dagegen nicht . Einige wurden Unfallkassen, der Renten- und Arbeitslosenversicherung gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügt, wie und bei der Pflegeversicherung. etwa die Möglichkeit, dass die Krankenkassen nach § 171e SGB V sowie die Unfallkassen nach § 172c SGB Damit das klappt, brauchen wir gute und leistungs- VII die Möglichkeit erhalten sollen, zehn Prozent der fähige Systeme . Daher ist es die fortwährende Aufgabe Altersrückstellungen für die Betriebsrenten ihrer Be- der Bundesregierung sowie der Sozialversicherungs- schäftigten in Aktien anzulegen . So sollen aufgrund der und Sozialleistungsträger, die Funktionsfähigkeit dieses Niedrigzinsphase höhere Zinsen erzielt werden, als durch wichtigen Systems zu erhalten und zu verbessern . Dazu herkömmlichen Anlagen . Als ich das las, musste ich mir gehört, es zeitnah an tatsächliche, rechtliche und tech- nicht nur die Augen reiben, sondern habe ich – mit Ver- nische Veränderungen anzupassen, und dazu gehört, den laub – gedacht: Ich glaube, mein Schwein pfeift . Aufwand für alle Beteiligten, insbesondere auch für die Arbeitgeber, die die Hauptlast der Meldungen tragen, Dass ich mit dieser Einschätzung nicht ganz alleine soweit wie möglich zu beschränken und die Kosten so dastehe, zeigt die Stellungnahme des Bundesrates . Er gering wie möglich zu halten . moniert, dass es sich bei der Altersrückstellung der ge- setzlichen Krankenkassen um Beitragsgelder, also um Durch diese Vereinfachungen, die Teil eines großen unser Geld, und nicht um privat von Arbeitnehmern und Pakets im Rahmen der Meldevereinfachungen sind, ge- Arbeitgebern einvernehmlich angesparte Wertguthaben winnen letztlich alle Bürgerinnen und Bürger, Betriebe handele. Dabei ist gesetzlich klipp und klar definiert, dass und die Verwaltung . Die durch Entbürokratisierung und der Grundsatz der Anlagesicherheit Vorrang gegenüber Entlastung gewonnene Zeit kann nun sinnvoller genutzt (B) der Erzielung eines angemessenen Ertrages hat . Diesen (D) werden, auch, um in Zukunft weiter auf die Bürokra- Grundsatz wollen sie aufgrund der miesen Kapitalrendi- tiebremse treten zu können und über anwenderfreundli- ten mit der geplanten Gesetzesänderung aushebeln . che und datensichere Online-Verfahren zu noch schnel- leren und einfacheren Lösungen zu kommen, nach dem Immerhin hatte der Bundesrat Ihnen eine Brücke ge- Motto: So wenig Verwaltung wie möglich und nur so viel baut und vorgeschlagen, die Änderungen in einer separa- wie nötig . ten Gesetzesänderung zu regeln . Aber nicht einmal die- sen Weg wollen Sie gehen . Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir also, wie man so schön sagt, eine Win-Win-Situation für uns alle, und das Wir haben hier also noch erheblichen Beratungsbe- ist ja nicht immer der Fall . Vielleicht gelingt es uns mit darf, von dem wir im Ausschuss und in der geplanten An- diesem Gesetzentwurf ja auch, ein Stück weit das alte hörung sicherlich ausführlich Gebrauch machen werden . Sprichwort: „Von der Wiege bis zu Bahre: Formulare, Formulare“, aus den Angeln zu heben . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Nach dem 5 .Änderungsgesetz im Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Erneut dürfen vergangenen Jahr kommt jetzt das 6 .Änderungsgesetz wir uns mit der gesetzlichen Umsetzung des Projekts mit im Vierten Sozialgesetzbuch . Hintergrund ist das vom dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in der BMAS beauftragte Projekt „Optimiertes Meldeverfahren sozialen Sicherung“ – kurz: OMS – beschäftigen, und wir in der sozialen Sicherung“ . Jetzt liegt also das zweite Ge- hoffen alle, dass dies zum letzten Mal geschehen werde . setz zur Umsetzung der Vorschläge vor . Erneut handelt es sich um eine Sammlung von überwiegend kleintei- Erste Maßnahmen des Projekts wurden Anfang ver- ligen technischen Änderungen . Was die vielen kleinen gangenen Jahres mit dem sogenannten 5 .SGB IV-Ände- Schritte angeht, zu einer bestmöglichen Optimierung des rungsgesetz umgesetzt . Es hat sich jedoch herausgestellt, Meldeverfahrens im Rahmen der sozialen Sicherung zu dass einige Vorschläge noch nicht zur Umsetzungsreife gelangen, wie auch wieder im vorliegenden Gesetzent- gediehen waren und deshalb nicht alle Vorschläge umge- wurf, so sehen wir die Bestrebungen der Bundesregie- setzt werden konnten . rung und der hier eingebundenen Akteure im Großen und Prinzipiell ist erst einmal nichts dagegen einzuwen- Ganzen durchaus positiv – auch wenn bei manchen die den, das Meldeverfahren in der Sozialversicherung durch Frage gestellt werden könnte, ob wirklich Änderungsbe- den elektronischen Datenaustausch sowie die Datenver- darf besteht, und einzelne Punkte problematisch sind . So arbeitung effektiver zu gestalten . Wenn die Träger der schließen wir uns der Einschätzung des Bundesrats an, Sozialversicherungen und die Unternehmen hiervon dass die Möglichkeit der Krankenversicherung und der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17169

(A) Unfallversicherung, ihre Rücklagen in Aktien anzulegen, Anlage 9 (C) zumindest gründlich zu hinterfragen ist und aus dem Ge- Zu Protokoll gegebene Reden setzentwurf gestrichen werden sollte . zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände- Darüber hinaus sieht zum Beispiel der Deutsche An- rung des GAK-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 23) waltverein „noch erheblichen Nachbesserungsbedarf, um das Ziel der Optimierung der Meldeverfahren in der sozialen Sicherung (OMS) insbesondere in Bezug auf Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung Rechtssicherheit und Verfahrensvereinfachung zu errei- der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ – GAK-Ge- chen.“ Auch wir finden, angesichts der großen Ziele wie setz – haben wir in Deutschland seit dem Inkrafttreten am Bürokratieabbau und Rechtsklarheit ist es kein großer 1 . Januar 1973 ein sehr wichtiges nationales Bund-Län- Wurf . Dazu müsste noch an ganz anderen Stellschrauben der-Förderinstrument . Ziel der GAK ist es, die Leis- gedreht werden . tungsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft zu sichern und auf künftige Anforderungen auszurichten . Ebenso Lassen Sie uns endlich die Bürgerversicherung ange- sollen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen hen. Im Bereich der Pflege-, Kranken- und Rentenver- Markt sowie eine Verbesserung des Küstenschutzes ge- sicherung kann man so eine Harmonisierung innerhalb währleistet werden . Durch die Mittel der GAK werden der Sozialversicherungen herbeiführen . Das würde eine Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft und deutliche Vereinfachung darstellen, Sicherungslücken des ländlichen Raumes gefördert . schließen und zu einer sowohl gerechteren als auch nachhaltigeren Absicherung führen . Das gäbe auch Gele- Neben der GAK bieten Förderprogramme wie genheit, eine Harmonisierung mit dem Steuersystem zu ­LEADER oder die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – GRW – und bekommen . Die unterschiedlichen Regelungen in Steu- auch das Bundesprogramm „Ländliche Entwicklung“ – er- und Sozialrecht über Einkommensbegriffe oder die BULE – die Möglichkeit, Vorhaben in der ländlichen Frage, wer selbstständig ist und wer nicht, führen zu un- Entwicklung mitzugestalten und auszuführen . nötiger Bürokratie und zu Unsicherheit sowohl bei den Betroffenen als auch in der Verwaltung . Im aktuellen Entwurf zur Änderung des GAK-Geset- zes setzen wir uns zum Ziel: Sozialversicherungen können sich schon heute, hin- Zur Verbesserung der Agrarstruktur ist es zuneh- sichtlich der Effizienz ihrer Verwaltung, als recht büro- (B) mend erforderlich, die ländlichen Räume im Rah- (D) kratiearm bezeichnen . Warum das so ist? Im Gegensatz men eines integrierten Ansatzes als Lebens-, Wirt- zu den privaten Versicherungen, und das hören wir ja im- schafts-, Erholungs- und Naturräume zu sichern und mer wieder, und das wird auch immer wieder kritisiert, weiter zu entwickeln . haben wir innerhalb der Sozialversicherungen schon jetzt sehr geringe Verwaltungskosten . Deswegen wollen wir Dieser Ansatz ist richtig und wichtig . Die Landwirt- Grünen ja auch ein öffentlich organisiertes Basisprodukt schaft befindet sich seit geraumer Zeit in einer sehr für die Riester-Rente . prekären Situation . Russland-Embargo und gesättigte Märkte haben schwerwiegende Auswirkungen auf den Neben einer wirklichen Vereinfachung im Sozialver- gesamten Agrarsektor . Der Strukturwandel in landwirt- sicherungssystem brauchen wir eine Veränderung im schaftlich geprägten Regionen wird dadurch weiter be- Grundsicherungsbereich . Die Bundesregierung hat mit feuert . Veränderungen der Eigentumsstrukturen und we- ihrem kürzlich vom Kabinett gebilligten Gesetzesent- niger Landwirtschaftsbetriebe sind die Folge . Zusätzlich wurf zur „Rechtsvereinfachung“ im SGB II erneut unter besteht die Gefahr, dass ganze Landstriche durch den de- mografischen Wandel, Abwanderung, eine niedrige Ge- Beweis gestellt, dass sie kein Interesse an einer wirkli- burtenrate und den Rückgang der Daseinsvorsorge noch chen Vereinfachung und damit Verbesserung in diesem weiter abgehängt werden . Bereich hat . Das vorliegende Gesetz ist im Gegenteil so- gar bürokratischer, es ist restriktiver, und es ist keine Ent- Die Landwirtschaft ist mit ihren vor- und nachgelager- lastung . Weder für die Jobcenter noch für die Menschen, ten Bereichen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im länd- die sich im Grundsicherungsbezug für Arbeitsuchende lichen Raum . Politik und Gesellschaft müssen auch in befinden. Für die Betroffenen ist es an vielen Stellen so- Zukunft ihr Augenmerk darauf richten . Schließlich lebt gar eine Rechtsverschärfung . Die Bundesregierung hätte rund die Hälfte unserer Bevölkerung in ländlichen Regi- die Chance gehabt, ein deutliches Signal in die richtige onen . Die Weiterentwicklung der GAK kann ihren Bei- Richtung zu senden . Bisher hat sie das zu unserem Be- trag dazu leisten . Nur eine zukunftsweisende Förderung dauern leider nicht getan . setzt Signale für die Wirtschaft und Bevölkerung . Heute müssen wir entscheiden, wie wir die Weichen für eine Ich habe Ihnen einige Möglichkeiten genannt, wie wir nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume stellen . zu einer wirklichen Vereinfachung im Bereich der sozi- Wie im Grundgesetz verankert, bleibt das politi- alen Sicherung kommen könnten . Das sind die großen sche Ziel weiterhin, gleichwertige Lebensverhältnisse Schritte, die Sie leider nicht zu gehen wagen . Das ist be- zu schaffen . Ungewiss ist, ob die derzeitige Förderung dauerlich . dafür genügt, dieser Anforderung im ländlichen Raum 17170 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) wirkungsvoll Rechnung zu tragen . Der Agrarmarkt wird cher Raum . Rund die Hälfte aller Menschen leben auf (C) auch in Zukunft auf verlässliche politische Rahmenbe- dem Land . dingungen angewiesen sein . Ländliche Räume sichern die Lebens- und Arbeits- Die Landwirtschaft entwickelt sich weiter . Neue Ver- grundlagen vieler Menschen . Die deutsche Wirtschaft marktungs- und Vertriebsmöglichkeiten sowie Touris- ist mittelständisch sowie dezentral aufgestellt . In zahl- mus zeigen, dass es angesichts von Marktschwäche und reichen Bundesländern haben die ländlichen Regionen Preisvolatilität längst nicht mehr nur um Nahrungsmittel- mittlerweile einen höheren Anteil an Industriebeschäf- produktion geht . Landwirte sind Unternehmern des länd- tigten als die städtischen Ballungszentren . Sie sind ein lichen Raumes . Deshalb ist es von großer Bedeutung, bedeutender Ort der industriellen Wertschöpfung . Länd- einerseits der Landwirtschaft, andererseits aber auch der liche Regionen leisten einen unverzichtbaren Beitrag dort angesiedelten Wirtschaft in Zukunft zusätzliche Ein- zum gesamtwirtschaftlichen Ergebnis der Bundesrepu- kommensmöglichkeiten zu sichern . blik Deutschland . Ländliche Räume sind traditionsreiche Standorte hunderttausender Unternehmen aus allen Ge- Die GAK mit ihrem derzeitigen Agrarbezug sollte werken und Branchen . weiterhin das primäre Förderinstrument für Land- und Forstwirte bleiben . Aufgrund ihrer räumlichen Bindung Darüber hinaus haben diese eine wichtige soziale an Grund und Boden ist es besonders wichtig, das un- Funktion für alle Regionen des Landes . Ihre Freizeit- ternehmerische Engagement in der Landwirtschaft zu und Umweltqualität sowie die landschaftliche Attraktivi- stärken . tät ermöglichen Erholung und Ausgleich . Sie tragen zur Regeneration der Arbeitskraft bei . Gerade mit Blick auf die derzeitig schwierige Lage Ländliche Räume sind Orte bürgerschaftlichen En- wollen wir die Landwirte ermutigen, sich neue unterneh- gagements, der Nachbarschaftshilfe, eines starken Ver- merische Einkommensquellen zu erschließen . Das steht einslebens, der Tradition und des Brauchtums – kurz: für mich an erster Stelle . Gleiches gilt für Handwerk und eines besonderen Gemeinschaftsgefühls und regionaler Gewerbe in unseren Dörfern und Gemeinden . Identität . Besonders positiv bewerten viele Menschen auf Zahlreiche klein- und mittelständische Unternehmen dem Land ihr Wohneigentum und die damit verbundenen tragen bedeutend zur Vitalität unserer Dörfer bei . Sie Möglichkeiten zur Selbstversorgung und Unabhängig- schaffen Arbeitsplätze und stehen ähnlich wie die Land- keit, zum Beispiel durch einen eigenen Garten und die wirtschaft für eine starke regionale Verankerung . Somit Versorgung mit eigenem Gemüse . garantieren diese Betriebe Vielfalt und Stabilität . Gleichzeitig stehen viele ländliche Räume sozialen, ökonomischen und demografischen Herausforderungen (B) Außerdem sollte das Engagement im gemeinnützigen (D) Bereich, wo sich Ehrenamtliche in sozialen, kulturellen gegenüber . Sie kämpfen mit hoher Arbeitslosigkeit, Ab- und kirchlichen Projekten nachhaltig einsetzen, von der wanderung und Überalterung . Die Regionen stellen sich Öffnung der GAK profitieren. Sie leisten einen deutli- diesen Herausforderungen und packen an . chen Anteil am langfristigen Erfolg und haben maßgeb- Die SPD-Bundestagsfraktion steht zum Grundsatz der lichen Einfluss auf die sogenannten weichen Standort- Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen faktoren . Gerade die ehrenamtlich Tätigen sind es, die Deutschlands . Wir wollen die Leistungsfähigkeit der über den Wert und somit die Attraktivität ihrer Heimat ländlichen Räume stärken und die Heimat der Menschen mitbestimmen . lebenswert und attraktiv gestalten . Zusammenfassend soll mit dem aktuellen Gesetz- Auch mit dem Blick auf die Integration von Men- entwurf die Möglichkeit geschaffen werden, dass auch schen, die vor Krieg, Not und Verfolgung fliehen und in Fördermöglichkeiten über die Landwirtschaft hinaus für Deutschland Asyl erhalten, muss die Integrationsfähig- Infrastruktur und Kleinstbetriebe in strukturschwachen keit ländlicher Räume insgesamt noch deutlich intensi- Regionen entstehen . Kurzum: Basisdienstleistungen, die ver unterstützt werden . Ebenso ist die digitale Spaltung Umnutzung von landwirtschaftlichen Gebäuden, Investi- Deutschlands nicht länger hinzunehmen . tionen in den Tourismus und zur Verbesserung des kultu- rellen und natürlichen Erbes von Dörfern . Die nun eingeleitete Verstärkung des Breitbandaus- baus begrüße ich daher ausdrücklich . Ein schneller Breit- Die Erhöhung des Budgets zur Finanzierung der neu- bandanschluss ist heute nicht nur für viele Menschen eine en Förderaufgaben von bisher rund 650 Millionen Euro unabdingbare Voraussetzung für ihre private Kommuni- für das Jahr 2016 um 30 Millionen Euro kann jedoch nur kation, sondern auch ein entscheidender Standortfaktor ein Anfang sein . Wenn wir dem anhaltenden Struktur- für etliche Unternehmen im ländlichen Raum . wandel nachhaltig begegnen wollen, werden wir nicht Die Entwicklung ländlicher Räume verläuft nicht umhinkommen, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen . gleichförmig . Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR, rechnet in seiner „Raumord- Willi Brase (SPD): Die ländlichen Räume in Deutsch- nungsprognose 2025“ für die meisten ländlich gepräg- land haben vieles zu bieten: Sie sind gekennzeichnet ten Regionen Deutschlands bis 2025 mit einem Bevöl- durch eine besondere Dynamik und Vielfalt . Neben kerungsrückgang von mindestens drei bis zehn Prozent Landwirtschaft und Tourismus ist ebenfalls zu erwähnen, gegenüber dem Jahr 2005 . In einigen östlichen Regionen dass es auch starke wirtschaftliche Regionen sind . Etwa sind sogar noch deutlich höhere Bevölkerungsrückgänge 90 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands sind ländli- zu erwarten . Ebenso geht das BBSR vielerorts von einer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17171

(A) Zunahme des Anteils der über 60-Jährigen bis 2025 von In diesem Zusammenhang möchte ich auch nicht verheh- (C) 20 bis 40 Prozent aus . len, dass sich meine Fraktion eine zügigere Erarbeitung durch die Bundesregierung gewünscht hätte . Die zukünftige Förder- und Strukturpolitik für die ländlichen Räume muss sich an diese Voraussetzungen Durch die Änderung des GAK-Gesetzes werden wir anpassen . Die Herausforderungen können nur mit den die Möglichkeiten der Länder erweitern, ihre Maßnah- Menschen vor Ort zu passgenauen Lösungen führen . men zur ländlichen Entwicklung durch Mittel der GAK Dabei sind die Antworten für die Zukunft genauso viel- fördern zu lassen . Dies erreichen wir durch eine umfas- fältig wie die Regionen selbst . Die Wettbewerbsfähigkeit sende Anpassung an das Förderspektrum des Europä- ländlicher Räume muss erhalten bleiben, die bisher unge- ischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des nutzten Potenziale müssen aktiviert werden . Erforderlich ländlichen Raums, ELER . ist eine regional differenzierte Struktur- und Raumord- Ich möchte für uns Sozialdemokraten an dieser Stel- nungspolitik, die auf die jeweiligen Stärken und Schwä- le auch noch einmal eines klarstellen: Das Zwei-Säu- chen der Regionen angemessen reagiert . len-Modell der Europäischen Agrarpolitik muss aufgelöst Die Heimat der Menschen in den ländlichen Räumen werden . Eine pauschale Subvention für bewirtschaftete muss lebenswert und existenzsichernd erhalten werden . Flächen ohne nennenswerte Gegenleistungen ist nicht Deshalb kann der Schwerpunkt einer zukünftigen För- mehr zeitgemäß . Nach unserer Ansicht sollen Landwir- derung der ländlichen Räume nicht allein auf sektorale te zukünftig bei ihren Bemühungen zur Entwicklung der Maßnahmen der Agrarstruktur ausgerichtet sein, sondern ländlichen Räume, zur Umsetzung von Agrarumwelt- muss sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstrecken . maßnahmen und zum Schutze des Klimas sowie der Bio- Kooperative und regional integrierte Handlungsansätze, diversität finanziell unterstützt werden. Es bleibt dabei: die die Wertschöpfung, die Lebensqualität und die In- Öffentliches Geld nur für öffentliche Leistungen! novationskraft fördern, sind das zukünftige Mittel zum Wir sehen an der einen oder anderen Stelle im Ge- Zweck . setzentwurf noch Änderungsbedarf und werden diesen Diese Notwendigkeit untermauern auch die Ergeb- in den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen nisse des kürzlich erschienen Prognos Zukunftsatlasses ansprechen. Die Definition einer neuen Förderkulisse 2016 . Dort heißt es unter anderem – ich zitiere –: mit dem unbestimmten Kriterium der geografischen Ab- gelegenheit halten wir für nicht zielführend . Ebenso sind Innerhalb Deutschlands bleibt die Schere zwischen wir der Meinung, dass die förderfähigen Maßnahmen armen und reichen Regionen weiterhin geöffnet . In zur Entwicklung der ländlichen Räume noch deutlicher der Langfristbetrachtung . . 2004 – 2016 schrumpft im Gesetzestext beschrieben werden sollten, um deren (B) der Anteil der Regionen mit ausgeglichenen Chan- Wichtigkeit herauszustellen . Darüber hinaus braucht es (D) cen und Risiken – und damit „die Mitte“ . 2004 dringend eine Verwaltungsvereinfachung bei der Anmel- waren es noch 206 Regionen und Städte, 2016 nur dung von Maßnahmen durch die Länder, um eine zügige noch 163 . Umsetzung von Projekten zu unterstützen . Weiterhin wird dort ausgeführt: Auch die Bundesländer, welche diesem Gesetz zu- Eine hohe Innovationsfähigkeit, Wirtschaftskraft stimmen müssen, haben am vergangenen Dienstag im und -dynamik sowie ein damit einhergehender at- Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des traktiver Arbeitsmarkt sind entscheidend für den re- Bundesrates diverse Änderungswünsche formuliert . Da- gionalen Wohlstand . her bin ich sehr zuversichtlich, dass uns am Ende ein ordentliches Gesetz gelingt, welches den großen Heraus- Das von der Bundesregierung geplante System der forderungen der ländlichen Regionen gerecht wird und Förderung strukturschwacher Regionen ab dem Jahr die Menschen in den Regionen bei den Entwicklungen 2020 nimmt in diesem Zusammenhang eine entscheiden- vor Ort mitnimmt . de Rolle ein . Dabei müssen die Förderungen noch viel mehr als heute nach Bedarf anstatt nach Himmelsrich- (DIE LINKE): tungen erteilt werden . Darüber hinaus ist eine deutlich Heidrun Bluhm effizientere Verzahnung mit anderen Programmen der Ländliche Regionen prägen mit ihren Siedlungen regionalen Strukturentwicklung notwendig . Dazu zählen und Kulturlandschaften das Bild unserer Heimat . speziell die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re- Hier ist der überwiegende Anteil unserer dezentra- gionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, der Breitbandaus- len mittelständischen Wirtschaft angesiedelt . Das ist bau und die Städtebauförderung . Darauf müssen Bund, eine besondere Stärke Deutschlands . Länder und Kommunen hinarbeiten . Dieses Zitat stammt nicht aus meinem Poesiealbum, Ebenso ist der Küstenschutz eine lebenswichtige sondern es ist die Einleitung zur Selbstdarstellung der Aufgabe . Er muss verstetigt bzw . ausgeweitet werden . Bundesinitiative Ländliche Entwicklung auf der Websei- In dieses neue Fördersystem wird sich auch die weiter- te des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirt- entwickelte GAK einfügen, und sie wird abgestimmt mit schaft . weiteren Programmen von Bundesseite ihre vollständige Wirkung entfalten können . Angesichts dieser verbalen Wertschätzung ländlicher Regionen könnte man zu der Erwartung verleitet werden, Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Weiterent- die Bundesregierung meine es ernst mit ihrer Ankündi- wicklung der GAK gehen wir einen großen Schritt dahin . gung im Koalitionsvertrag: „Die Gemeinschaftsaufgabe 17172 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Agrarstruktur und Küstenschutz wird zu einer Gemein- weder Sie noch wir überhaupt kennen . Die Linke sagt: (C) schaftsaufgabe ländliche Entwicklung weiterentwickelt“, Die ländlichen Räume sind mehr wert . wenn uns diese Bundesregierung nicht schon so oft ei- nes Besseren belehrt hätte und wenn nicht auch dieser Eine ernsthafte Reform der GAK, wie sie etwa der Gesetzentwurf ein weiterer Beleg dafür wäre, dass bei Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche dieser Bundesregierung Ankündigung und realer Gestal- Landkreistag fordern, ist überfällig . tungswille meilenweit auseinanderklaffen . Es ist zu begrüßen, dass Sie den § 1 um die Maßnah- 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlicher men zur Förderung der Infrastruktur in ländlichen Gebie- Raum . Mehr als die Hälfte aller Einwohner Deutschlands ten erweitern . Doch was bedeutet das? Offenbar gibt es leben hier . In Nordrhein-Westfalen sind es circa 43 Pro- darüber selbst innerhalb des Ministeriums gegensätzliche zent, in Thüringen sind es rund 82 Prozent . Allein die- Auffassungen . In der Regierungsbefragung redete der se wenigen Fakten machen deutlich, wie groß und wie Minister noch von der zukünftigen Abdeckung des kom- differenziert die Aufgabe „Ländliche Entwicklung“ im pletten ELER-Bereiches, während das Ministerium auf richtigen Leben ist . eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/die Grünen unlängst antwortete: Hier muss die Frage erlaubt sein: Glauben Sie von den Koalitionsparteien allen Ernstes, dieser hier vorgelegte Maßnahmen, die gar keine Rückbindung auf den Gesetzentwurf wird dieser Aufgabe gerecht? Ich jeden- Agrarbegriff erkennen lassen, sind auch mit der falls glaube das nie und nimmer . neuen GAK nicht förderfähig . Die Menschen, die im ländlichen Raum leben, arbei- Unabhängig von der Widersprüchlichkeit in diesen ten und wohnen, dürfen nicht abgehängt werden, und Aussagen zeigt sich, dass es der entscheidende Fehler ist, sie dürfen sich auch nicht so fühlen . An dem Anspruch die integrierte ländliche Entwicklung als Begrifflichkeit „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ müssen wir fest- bei der Gesetzesnovelle nicht weitergehend zu berück- halten . Dazu könnte eine weiterentwickelte GAK einen sichtigen, um einen weiteren Förderspielraum zu ermög- entscheidenden Beitrag leisten, wenn sie tatsächlich die lichen . Stattdessen bleiben die Adressaten dieser Förde- integrierte ländliche Entwicklung als eine Hauptaufgabe rung im Ungewissen . definiert hätte. Sind alle Infrastrukturmaßnahmen in den ländlichen Hinter diesem Anspruch bleibt der vorliegende Ent- Gemeinden förderfähig? Welche Betriebe können eine wurf aber weit zurück . Damit setzen Sie Ihren eigenen Förderung erhalten? Diese Fragen sind nach wie vor Koalitionsvertrag nicht um . Die Schaffung einer Ge- nicht wirklich geklärt oder werden mit einer schwam- migen Gesetzesbegründung und Auslegung beantwortet, (B) meinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“, wie es (D) dort angekündigt wird, bleiben Sie schuldig . wie das Zitat belegt . Lange wurden der große Wurf und eine Änderung des Eine verlässliche Aussage für Kommunen und Be- Grundgesetzes angekündigt, und diese Änderung wäre triebe – vor allem vor dem Hintergrund der anstehenden nötig . Nun begnügen Sie sich damit, ein paar Schönheits- GAP-Reform – und eine klare und verlässliche Orien- korrekturen am GAK-Gesetz vorzunehmen . Doch diese tierung, was förderfähig sein wird und was nicht, bleibt werden den Bedarfen und Herausforderungen der länd- der Änderungsentwurf schuldig . Das belegt einmal mehr, lichen Räume vor allem in strukturschwachen Regionen dass eine wirkliche Strategie fehlt, die die Entwicklung keineswegs gerecht . der ländlichen Räume in ihrer Gesamtheit erfasst . Wenn dazu eine Änderung des Grundgesetzes nötig Es bedarf klarer Grenzen zu anderen Förderprogram- ist: Bitte! An uns sollte das nicht scheitern . men . Wo endet das GAK-Förderspektrum? Wo beginnt beispielsweise die GRW? Ergänzungsfähigkeit zwischen Die integrierte ländliche Entwicklung hätte in der den einzelnen Programmen muss hergestellt werden . Verfassung als Gemeinschaftsaufgabe definiert werden müssen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt . Stattdes- Auch wenn wir als Linke fordern, dass die integrier- sen baut der Gesetzentwurf Hilfskrücken, um Maßnah- te ländliche Entwicklung eine Aufwertung durch diese men der ländlichen Entwicklung zukünftig stärker über Gesetzesänderung erfahren soll: Eine Gemeinschafts- die GAK fördern zu können und diese irgendwie als Teil aufgabe „Ländliche Entwicklung“ oder eine um diesen der Agrarförderung zu definieren. Bedeutet die ländliche Aspekt mehr oder weniger konsequent erweiterte GAK Entwicklung aber nicht viel mehr? Sind ländliche Räume darf nicht der alleinige Träger der Entwicklung ländli- nur ein weicher Standortfaktor für die Agrarindustrie? cher Räume sein . Andere Ressorts dürfen sich nicht auf einer derartigen Qualifizierung der Gemeinschaftsaufga- Der Entwurf zur Gesetzesänderung geht ja in die rich- be ausruhen und aus der Verantwortung ziehen . tige Richtung . Leider bleibt er aber an den wesentlichen Punkten bisher unklar . Was ist förderfähig und in wel- Auch Mittel der GRW, der Städtebauförderung, Regi- chen Gebietskulissen? Diese sehr entscheidenden Fragen onalisierungsmittel, Mittel für den Breitbandausbau und beantworten Sie nicht oder widersprüchlich . weitere Initiativen des Bundes sind im ländlichen Raum dringend erforderlich . Außerdem dürfen bestehende Be- Sie, Herr Minister, können doch nicht allen Ernstes reiche innerhalb der GAK nicht benachteiligt werden . von Ihren Kollegen aus den Regierungsfraktionen ver- Deshalb fordern wir eine Mittelaufstockung um mindes- langen – von uns schon gar nicht –, dass sie ein Gesetz tens 200 Millionen Euro jährlich, so, wie viele Verbände auf den Weg bringen, dessen konkrete Auswirkungen und im Übrigen ebenso die Bundesländer . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17173

(A) Der Versuch, den Ländern und Kommunen die Fähig- Weg, das nur so tut, als steckte etwas Neues, Wirkungs- (C) keit der Kofinanzierung abzusprechen, lassen wir des- volles dahinter . Damit täuschen Sie nicht nur das Parla- halb nicht gelten; denn natürlich ist die Bundesregierung ment; Sie enttäuschen ein weiteres Mal Millionen Men- dafür zu kritisieren, dass den Ländern und Kommunen schen in den ländlichen Regionen dieses Landes, und Sie durch Ihre Finanzpolitik an vielen Stellen der Geldhahn sollten bedenken, wohin das führt . zugedreht und ihnen damit der Spielraum für dringend notwendige Zukunftsinvestitionen genommen wird . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass der Prozentsatz für Rückzahlung und Verzinsung Vorweg: Nicht alle ländlichen Räume brauchen unsere gegenüber den Ländern vor diesem Hintergrund auch Fördergelder . Manche Regionen boomen geradezu . Hier noch von drei auf fünf Prozent angehoben wird, scheint treffen Arbeitsplätze in Industrie oder Gewerbe auf Fach- mindestens fragwürdig – besonders im Hinblick auf die kräfte, attraktive Landschaften auf Touristen, günstiger aktuelle Niedrigzinsphase . Wohnraum auf junge Familien und regionale Produkte Auch die zusätzliche Einengung auf den ELER und auf Abnehmer . Die Entwicklungsperspektive ist gut . Das das Verstecken hinter der gemeinsamen Agrarpolitik der ist das ideale Bild ländlicher Räume . EU kritisieren wir . Wo ist hier ein eigener Gestaltungsan- Andere ländliche Regionen stehen aber vor großen spruch? Warum dieses künstliche Korsett? Herausforderungen, und um die geht es heute: Regio- Überhaupt erscheint es wenig nachvollziehbar, dass nen, die schlecht angebunden oder weit entfernt von der das Bundesministerium seinen eigenen Gestaltungswil- nächsten Stadt sind, die der demografische Wandel hart len ohne Not von EU-Richtlinien und -Gesetzen abhän- trifft und deren Kommunen kaum finanzielle Gestal- gig macht und seine eigene Ohnmacht darüber definiert; tungsspielräume haben . Diese Regionen schrumpfen: denn hier ist die nationale Gestaltung gar nicht an sie ge- zum einen ihre Bevölkerungszahl und zum anderen auch bunden . Mit dem Verweis auf EU- Bestimmungen soll ökonomisch . Der Strukturwandel in der Landwirtschaft hier augenscheinlich die eigene Gestaltungsunfähigkeit hin zur Agro-Industrie führt dazu, dass hier immer weni- oder Unwilligkeit kaschiert werden . ger Menschen Arbeit finden. Die natürlichen Ressourcen der Regionen werden ausgenutzt, ohne dass die Wert- Die Einführung einer Gebietskulisse lehnen wir nicht schöpfung in der Region stattfindet. So ist die Bedeutung grundsätzlich ab . Sie muss jedoch zu einem fairen und der Landwirtschaft für die regionale Wirtschaft stark zu- bedarfsgerechten Verteilungsschlüssel führen, bei dem rückgegangen . tatsächlich auch jene Regionen von den Mitteln profi- tieren, die am stärksten von den strukturellen Verände- Genauso trifft der Strukturwandel aber auch andere rungen aufgrund des demografischen Wandels betroffen periphere ländliche Regionen besonders hart, beispiels- (B) sind . weise die Kohleregionen oder die großindustriell gepräg- (D) ten Regionen, wie das Saarland . Hier müssen wir den Solange keine konkreten Pläne für die Ausgestaltung Menschen vor Ort neue Perspektiven eröffnen . einer Gebietskulisse und einer räumlichen Schwerpunkt- setzung vorliegen, können wir diesem Vorschlag nicht Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar- zustimmen; denn von einer konkreten Ausgestaltung der struktur und des Küstenschutzes“ ist ein wichtiges För- Gebietskulisse wird zwangsläufig abhängen, wie die Mit- derinstrument, das diesen Aufgaben derzeit nicht gerecht tel der GAK zukünftig verteilt werden . Auch hier fordern werden kann . Darum steht im Koalitionsvertrag von wir die Bundesregierung auf, Klarheit zu schaffen . CDU/CSU und SPD auch die Weiterentwicklung hin zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“, Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Dass der für die eine Grundgesetzänderung nötig wäre . Deutsche Bundestag sich lediglich auf das Abnicken von 650 Millionen Euro versteht, ohne jeden Einfluss auf den Genau hier liegt der Knackpunkt . Leider reden wir Inhalt auszuüben und ohne eine Kontrolle der Mittelver- heute nämlich nicht über eine brandneue Gemeinschafts- wendung vorzunehmen, ist bemerkenswert . Sowohl die aufgabe „Ländliche Entwicklung“, sondern immer noch Länderparlamente als auch wir haben keinerlei Einfluss- über die alte Gemeinschaftsaufgabe . Sie vertut die gro- möglichkeiten auf die interministeriellen Abstimmungen ße Chance, mit der satten Mehrheit hier im Bundestag hinter verschlossener Tür . Die Linke kritisiert das schon die Förderpolitik für ländliche Räume neu aufzustellen . lange . Wir fordern an dieser Stelle deutlich mehr Trans- Mit diesem Reförmchen ist den ländlichen Räumen nicht parenz und die Einbindung des Parlamentes . wirklich geholfen . Trotz dieses großzügigen Freifahrtscheins für das Mi- Das ist Symbolpolitik; denn viele Fragen bleiben nach nisterium braucht dieses viel zu lange, um die Gelder den der Erweiterung der GAK unbeantwortet, beispielswei- Ländern zur Verfügung zu stellen . Angesichts des Zeit- se, wie eigentlich ein förderfähiger ländlicher Raum de- drucks bei Mittelvergabe und Ausschreibung, unter dem finiert ist, inwieweit die GAK mit Instrumenten der re- Kommunen und Länder stehen, ist eine Auszahlung im gionalen Wirtschaftspolitik oder auch den europäischen Mai jedes Jahres viel zu spät . Hier fordern wir ein schnel- Fördertöpfen kombinierbar ist oder wie die Chancen der leres Verfahren, das den Ländern mehr Flexibilität und Digitalisierung genutzt werden sollen . Ebenso unbeant- Planungssicherheit ermöglicht . wortet bleibt die ganz zentrale Frage, welche Fördermaß- nahmen unter die ländliche Entwicklung fallen sollen . Engagement für eine nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raums sieht anders aus . Mit diesem Gesetz- Viele neue Fördermaßnahmen können es nicht sein; entwurf bringen Sie bestenfalls ein Reförmchen auf den denn eines steht für die Bundesregierung fest: Was nicht 17174 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) unter den Agrarbegriff gepackt werden kann, ist auch mit des ländlichen Tourismus, Investitionen zur Umnutzung (C) der erweiterten GAK nicht förderfähig . auch nicht landwirtschaftlicher Bausubstanz sowie In- vestitionen zugunsten des kulturellen und natürlichen Er- Das bedeutet, dass Zukunftsaufgaben, von der Diver- bes von Dörfern und ländlichen Gebieten im Rahmen der sifizierung der Wirtschaft bis zu Fragen der Daseinsvor- neuen GAK gefördert werden . sorge, immer noch nicht angepackt werden können . Jed- wede Förderung bleibt an die Landwirtschaft gekettet . Mit der Bindung an den Förderkatalog der ELER-Ver- Das entspricht nicht den realen Notwendigkeiten vor Ort . ordnung und damit an die EU-Agrarpolitik bleibt der Be- zug auch der neuen Fördermaßnahmen im Bereich der Das Land ist Lebens-, Arbeits- und Naturraum, nicht ländlichen Entwicklung zur Landwirtschaft erhalten . Es nur Arbeitsort für Agro-Großbetriebe . Auch wenn die kann nur gefördert werden, wenn und wo Investitionen Bundesregierung einen weiten Agrar- und Infrastruk- für die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit ländli- turbegriff voraussetzt, ist diese GAK-Erweiterung doch cher Gebiete bedeutsam sind . Zeugnis eines sehr engen Verständnisses von dem, was ländliche Räume heute ausmacht . Zudem sollen die Maßnahmen einer markt- und stand- ortangepassten Landbewirtschaftung um den Aspekt der Der Funktionswandel des Landlebens muss sich end- Umweltgerechtheit ergänzt und aus dem Kontext der lich auch in unseren Förderinstrumenten widerspiegeln . Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen Daher brauchen wir Zweierlei: eine komplette Neuaus- herausgelöst werden . Damit wird auch dieser Förderbe- richtung landwirtschaftlicher Förderung mit dem Fokus reich erweitert und an die ELER-Verordnung angepasst . auf ökologisch-regionale Wertschöpfungsketten und eine davon losgelöste, zukunftsorientierte Förderung struk- Zweitens . Bedeutung des Gesetzentwurfs: turschwacher ländlicher Räume . Der große Wurf ist die Alles in allem ist vor dem Hintergrund der teilwei- vorliegende Erweiterung daher ganz sicher nicht . se stagnierenden Entwicklung im ländlichen Raum die geplante Änderung des GAK-Gesetzes ein wichtiger Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Schritt, mit dem viele Herausforderungen, vor denen nister für Ernährung und Landwirtschaft: Im Koaliti- ländliche Räume stehen, angegangen werden können . onsvertrag wurde vereinbart, die Gemeinschaftsaufgabe Insbesondere ist es das Ziel, unsere Dörfer attraktiver zu „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- machen und jungen Menschen eine Bleibeperspektive zu zes“, GAK, zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche bieten . Entwicklung“ weiterzuentwickeln . Zur Umsetzung die- ses Auftrages haben wir den Entwurf eines Vierten Ge- Ich bin überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf einer- setzes zur Änderung des GAK-Gesetzes vorgelegt . seits der Kern der jetzigen GAK gesichert werden kann (B) und dass andererseits wichtige Infrastrukturmaßnahmen (D) Der Entwurf ist das Ergebnis intensiver Diskussionen in ländlichen Gebieten angestoßen werden können . mit den Bundesressorts . Der zunächst von uns favorisier- te Weg der Erweiterung des Artikel 91a Grundgesetz um Drittens . Praktische Umsetzung: Maßnahmen der ländlichen Entwicklung erwies sich als Parallel zu den Gesetzesberatungen sind wir dabei, nicht gangbar . In der Diskussion mit den Verfassungs- für die neuen Fördermaßnahmen der weiterentwickel- ressorts zeigte sich, dass der Begriff „ländliche Entwick- ten GAK Förderungsgrundsätze zu entwickeln . Erste lung“ zu unbestimmt ist, als dass eine Eingrenzung auf Besprechungen mit den Ländern haben bereits stattge- ein darunter zu subsumierendes Bündel von Maßnahmen funden . Dabei geht es zum einen um ergänzende För- möglich wäre . Das Feld der ländlichen Entwicklung derungsgrundsätze für den laufenden Rahmenplan (RP) ist so umfassend – Verkehrs-, Bildungs-, Gesundheits- 2016, und zum anderen um neue Förderungsgrundsätze und Infrastrukturpolitik, demografischer Wandel, Wirt- für den Rahmenplan 2017 . schaftskraft –, dass weder der Auftrag noch die Finan- zausstattung der GAK es zulassen, die Länder bei der Die Fördermaßnahmen für den Rahmenplan 2016 Wahrnehmung dieser Aufgaben maßgeblich zu unterstüt- sollen schnellstmöglich nach Inkrafttreten des neuen zen . GAK-Gesetzes vom Planungsausschuss der GAK be- schlossen werden . Nur so können wir die Grundlage da- Vor diesem Hintergrund haben wir uns innerhalb der für schaffen, dass die vom Haushaltsausschuss für den Bundesregierung darauf verständigt, mit einer Änderung Rahmenplan 2016 bereitgestellten Mittel in Höhe von des GAK-Gesetzes das Förderspektrum der GAK an das- 30 Millionen Euro zusätzlich für neue Maßnahmen auch jenige der ELER-VO anzupassen . in Anspruch genommen werden können . Erstens . Änderungen im Gesetz: Viertens . Schlusswort: Wichtigste Änderung ist die in § 1 GAKG eingefügte Die Änderung des GAK-Gesetzes bietet uns die Chan- Förderung der Infrastruktur ländlicher Gebiete im Rah- ce, die GAK-Förderung entsprechend den künftigen An- men der Gemeinsamen Agrarpolitik . Damit können zu- forderungen auszugestalten . Der Bund unterstützt die künftig Länder bei deren Aufgabe der ländlichen Entwicklung und der Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Kleinstbe- schutzes in erheblichem Maße . triebe, Investitionen in kleine Infrastrukturen und Ba- sisdienstleistungen – zum Beispiel Nahversorgung mit Ich bin der Meinung, dass dies notwendig und richtig Gütern und Dienstleistungen –, Investitionen zugunsten ist und dass der Bund mit der Novellierung des GAK-Ge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17175

(A) setzes die Grundlage für eine Unterstützung legt, die zur wirte enorm . Deshalb müssen wir die bisherigen nationa- (C) Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität in unseren len Regelungen zum Dauergrünland entsprechend anpas- ländlichen Regionen einen unverzichtbaren Beitrag leis- sen, indem wir Ausnahmereglungen für uns nutzen . Wir tet . wollen damit die geschaffene Flexibilität der Landwirte bei der Flächennutzung erhalten und Anlastungen ver- hindern . Deshalb ist diese Änderung für uns Landwirte wichtig . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden Für mich kann diese Maßnahme aber nur ein Anfang sein, die Landwirte zu entlasten und Flexibilität zu er- zur Beratung des von der Bundesregierung einge- möglichen . Damit sie den steigenden Erwartungen der brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- Gesellschaft und des Marktes und gleichzeitig dem Auf- derung des Direktzahlungen-Durchführungsgeset- trag des Natur- und Umweltschutzes gerecht werden zes (Tagesordnungspunkt 24) können, müssen wir den Landwirten erlauben, betriebli- che Veränderungen noch flexibler vornehmen zu können. Artur Auernhammer (CDU/CSU): Landwirte sind Dazu bedarf es noch mehr Vereinfachungen statt neuer Unternehmer mit einer besonderen Aufgabe: Wahrung Regeln . Lassen Sie uns jetzt mit diesem Gesetz einen ers- und Schutz unserer Natur und Umwelt durch Bewirtschaf- ten Schritt machen . tung von Flächen . Die Europäische Union unterstützt uns Landwirte dabei, dieser Aufgabe nachzukommen, indem Hermann Färber (CDU/CSU): Mit dem vorliegen- sie klima- und umweltbewusste Landbewirtschaftungs- den Gesetzentwurf wollen wir eine Rechtslage wieder- methoden durch Direktzahlungen fördert . Als wir im herstellen, die durch eine Neuinterpretation geltender Juli 2014 das Direktzahlungen-Durchführungsgesetz EU-Richtlinien durch die Kommission geändert worden verabschiedet haben, haben wir dabei auch im Hinter- ist . Es geht um die Umwandlung von Dauergrünland in kopf gehabt, dass sich die Flächennutzung auch bei eine nichtlandwirtschaftliche Fläche, die dann auch kei- geförderten Flächen aus betrieblichen Gründen ändern ner Beihilfe mehr unterliegt . kann. Wir haben den Landwirten eine flexible Nutzung ihrer Flächen ermöglicht, indem wir im Direktzahlun- Wir hatten uns in der Koalition bei der Umsetzung der gen-Durchführungsgesetz die Regelungen zum Erhalt europäischen Agrarreform darauf geeinigt, dass solche von Dauergrünland entsprechend festgelegt haben . Umwandlungen möglich sein sollen . Diese Rechtslage haben wir politisch gewollt und hier im Bundestag so Wir haben uns beim Beschluss des Gesetzes auf der beschlossen . Dabei sind wir davon ausgegangen, dass (B) Basis der bisherigen deutschen Auslegung der EU-Rege- der Begriff „Umwandlung von Dauergrünland“ nur die (D) lung entschieden, den rechtlichen Begriff der „Umwand- Umwandlung in eine andere landwirtschaftliche Fläche lung“ nur für die Nutzungsänderung des durch Direkt- umfasst, nicht aber die Umwandlung in eine nichtland- zahlungen förderfähigen normalen Dauergrünlands in wirtschaftliche Fläche . Die EU-Kommission hat nun in andere förderfähige landwirtschaftliche Nutzungsflächen einem Leitfaden festgelegt, dass auch Letzteres von dem vorzusehen . Eine Nutzungsänderung zu nichtlandwirt- Begriff „Umwandlung“ umfasst wird . Um nun die von schaftlichen Nutzungsflächen war bisher nach unserem uns in der Koalition gewünschte und im Bundestag be- Verständnis nicht unter den Begriff der „Umwandlung“ reits beschlossene Rechtslage wiederherzustellen, benö- gefasst . Damit wurde ermöglicht, dass Landwirte eine tigen wir den vorliegenden Gesetzentwurf . Nutzungsänderung von Dauergrünland und speziell des umweltsensiblen Dauergrünlands in nichtlandwirtschaft- Dieser Gesetzentwurf stellt keinen Landwirt besser liche Nutzungsflächen, für die keine Direktzahlungen als vorher; er enthält auch keinerlei Eingriffe in den Um- gewährt werden, ohne Genehmigungsverfahren, aber in weltschutz . Es wird lediglich die bisherige Rechtslage an engen umwelt- und klimaschutzrechtlichen Grenzen vor- die Neuinterpretation der EU-Kommission so angepasst, nehmen und so die Flächennutzung an ihre betrieblichen dass es für die Landwirte nicht zu erneuter Verschlechte- Erfordernisse anpassen können . rung kommt . Zugleich werden schon erfolgte Umwand- Am 17 .Juli 2015 hat die Europäische Kommission lungen, die ohne eine solche Gesetzesanpassung plötz- den Leitfaden zur Durchführung der Vorschriften über lich im Nachhinein als illegal bewertet werden müssten, Dauergrünland veröffentlicht . Sie hat darin den Begriff legalisiert . der „Umwandlung“ weiter ausgelegt, als es die bisheri- Die bisherige Rechtslage entspricht nur einer grund- ge deutsche Interpretation war . Jede Nutzungsänderung sätzlichen Fairness: Wenn eine Fläche nicht mehr bei- ist gemäß der europäischen Vorgabe eine Umwandlung, hilfefähig ist, dann entspricht es nur dem Schutz des die nach der bisherigen Gesetzgebung genehmigt werden Eigentums, dem Eigentümer keine so weitgehende Nut- muss . Das heißt konkret: Landwirte werden in ihrer Flä- zungsbeschränkung aufzuerlegen, wie es beim Erhalt chennutzung und Flexibilität enorm eingeschränkt . So von Dauergrünland der Fall ist . ist eine Nutzungsänderung von umweltsensiblem Dau- ergrünland in nichtlandwirtschaftliche Nutzungsflächen Deshalb fordere ich alle Mitglieder dieses Hauses aufgrund des Leitfadens jetzt unmöglich, auch weil für nachdrücklich auf, diesen Gesetzentwurf schnell zu ver- dieses ein Umwandlungsverbot besteht . Für normales abschieden . Rechtssicherheit ist ein hohes Gut, und sie Dauergrünland wird dieser Vorgang erheblich erschwert . muss auch für Landwirte gelten . Die Verabschiedung Zudem erhöht sich das Risiko von Anlastungen für Land- dieses Gesetzentwurfes, mit der auch politische Forde- 17176 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) rungen in ganz anderen Bereichen durchgesetzt werden Landwirtschaft eine hauptsächliche Futterbasis für die (C) sollen, darf nicht verzögert werden . Milchviehwirtschaft, da das Raufutter von Wiesen und Weiden als kostengünstiges Futter in der Milchvieh- Dieser Gesetzentwurf ist das absolute Minimum, was haltung gilt . Wiesen und Weiden prägen außerdem die wir den Landwirten in den sowieso schweren Zeiten an vielfältigen Kulturlandschaften in Deutschland . Sie un- Rechtssicherheit liefern müssen . Dringend notwendig terstützen die Naherholungsfunktion ländlicher Gebiete wären eigentlich noch wesentlich weitere Vereinfachun- und sind die Grundlage für einen erfolgreichen ländli- gen bei den Greening-Bestimmungen und den Baga- chen Tourismus . Grünland hat aber auch als Substratlie- tell-Regelungen . ferant für die Erzeugung erneuerbarer Energien an Be- Die letzte Agrarreform hat zu einem erheblichen Bü- deutung gewonnen . Dauergrünland ist zudem eine sehr rokratisierungsaufwand für Landwirte geführt . Wir müs- gewässerschonende Landnutzungsform und bietet einen sen jede Möglichkeit nutzen, diesen Aufwand zu mini- hervorragenden Erosionsschutz . mieren . Alles andere führt nur zu noch mehr Höfesterben Auch die Klimawirkung ist beachtlich: So werden und Abwanderung der Produktion . im Falle des Grünlandumbruches auf Mineralstandorten Wir diskutieren in diesen Wochen intensiv über die eine Tonne CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr zusätzlich extrem schwierige Marktlage in der Agrarwirtschaft, und freigesetzt, auf Niedermooren sind es sogar mindestens 8 wir sind uns alle hier einig, dass Landwirte auskömm- bis 15 Tonnen CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr . liche Gewinne erzielen müssen . Wir müssen dabei aber Grünlandbiotope zählen zu den artenreichsten Biotop- klar sehen, dass das nicht nur eine Frage des Preises ist, typen Mitteleuropas . Auf mitteleuropäischem Grünland sondern ebenso eine Frage des Aufwands: Jede weitere kommen circa 1 100 Pflanzenarten vor, das sind 28 Pro- Bürokratisierung für die Bäuerinnen und Bauern und zent des gesamten Pflanzenartenspektrums in Mitteleu- jede weitere Einschränkung ihrer Eigentumsnutzung be- ropa . deuten einen erhöhten Aufwand, für den eben niemand bereit ist, mehr zu bezahlen . Das wird auf Dauer nicht Dauergrünland ist somit aus mehrerlei Hinsicht funktionieren . von außerordentlicher Bedeutung . Dies hat auch die EU-Kommission erkannt und hat im Laufe der letzten Auch wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf großen Reform der gemeinsamen europäischen Agrar- nur eine ganz winzige Erleichterung von neuen Be- politik das Dauergrünland gegenüber dem Ackerland schwernissen für die Landwirte schaffen, tun wir in der gleichberechtigt, sodass die Flächenprämien nun ein- aktuellen Lage in jedem Fall das Richtige . Deshalb bitte heitlich sind . Zudem ist Grünland auf die sogenannten ich um schnelle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf . Greening-Flächen, die 30 Prozent der Gesamtfläche aus- (B) machen müssen, anrechenbar . Nur dann kann man über- (D) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Bei dem vorliegen- haupt Flächenprämien aus Brüssel erhalten . den Gesetzentwurf geht es um eine Anpassung des na- tionalen Rechts an das EU-Recht . So soll es zukünftig Bei Erlass des Direktzahlungen-Durchführungsgeset- möglich sein, in engen Grenzen eine Umwandlung von zes wurde davon ausgegangen, dass Landwirtschaftsbe- umweltsensiblem Dauergrünland in eine nichtlandwirt- triebe ohne Konsequenzen für die Gewährung der Direkt- schaftliche Fläche über eine Aufhebung der Bestim- zahlungen landwirtschaftliche Flächen, und hier speziell mung einer Dauergrünlandfläche als umweltsensibel Dauergrünland, in nichtlandwirtschaftliche Flächen um- vorzunehmen . Ebenfalls soll eine Genehmigung für eine wandeln können . Die im Gesetz getroffenen Vorschrif- Umwandlung von anderem als umweltsensiblem Dau- ten zur Umwandlung von Dauergrünland sollten sich ergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Fläche ohne nur auf die Umwandlung in andere landwirtschaftliche Verpflichtung zur Neuanlage von Dauergrünland erteilt Nutzungen wie Ackerkulturen oder Dauerkulturen be- werden . Eine Vorschrift zur Heilung bereits erfolgter ent- ziehen . Ohne eine Gesetzesänderung wäre jedoch eine sprechender Umwandlungen ist außerdem erforderlich, Umwandlung von umweltsensiblem Dauergrünland in weil die weite Auslegung des Begriffs „Umwandlung“ eine nichtlandwirtschaftliche Fläche gänzlich unzulässig . für die Betroffenen nicht absehbar war . Eine Genehmigung einer solchen Umwandlung bei ande- rem Dauergrünland würde in der Regel eine Neuanlage Zum Dauergrünland zählen alle Flächen, die fünf von Dauergrünland erfordern . Außerdem würde das An- Jahre oder länger als Wiese oder Weide genutzt wurden . lastungsrisiko bei etwaigen Kontrollen für die Betriebe Typische Nutzungsformen des Grünlandes sind Wiesen weiter wachsen . und Mähweiden, Weiden, Almen sowie ertragarmes Dau- ergrünland, das auch als Hutung bezeichnet wird . Insofern wollen wir nur europäisches und nationales Recht harmonisieren und reduzieren damit gleichzeitig Im Jahr 2015 wurden rund 4,7 Millionen Hektar in den Verwaltungsaufwand für die Betriebe . Etwaige wei- Deutschland als Dauergrünland genutzt . Damit bleibt der tere Anpassungen der gemeinsamen europäischen Agrar- Grünlandanteil an der landwirtschaftlich genutzten Flä- politik werden wir bald auch hier im hohen Haus disku- che mit 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr konstant . tieren müssen . Als zweitgrößte Flächenposition prägt das Grünland In dem von der niederländischen Ratspräsidentschaft maßgeblich die Kulturlandschaft in Deutschland . beim informellen Agrarrat in Amsterdam am Anfang der Die typischen Nutzungsformen des Grünlandes sind Woche vorgelegten Diskussionspapier zur Ausrichtung Wiesen (39 Prozent des Dauergrünlandes) und Weiden der Gemeinsamen Agrarpolitik nach 2020 finden sich (57 Prozent des Dauergrünlandes) . Beide sind in der viele gute Ansätze . Genauso wie die Niederländer wollen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17177

(A) wir als SPD die Bürokratie im Agrarbereich abbauen und keine anderen Rechtsvorschriften entgegenstehen, mög- (C) die Innovationsforschung intensivieren . Außerdem for- lich sind . dern wir, dass die Steuergelder, welche die Landwirte für In Deutschland wurde das Umwandlungsverbot von die Bewirtschaftung ihrer Flächen bekämen, zielgerich- Dauergrünland bisher lediglich auf die Umwandlung teter eingesetzt werden . Schon seit Jahren plädieren wir in andere landwirtschaftliche Nutzungen bezogen . Aus dafür, dass öffentliches Geld für öffentliche Leistungen der Konkretisierung auf EU-Ebene ergibt sich, dass ausgegeben werden soll . Landwirte nun von Sanktionen wegen Verstoßes gegen Subventionen kann es im Agrarbereich nur noch ge- Greening-Maßnahmen betroffen sein können . ben, wenn auch in den Klima-, Umwelt- oder Tierschutz Genau hier setzt der Gesetzentwurf an: bzw . in den Erhalt der ländlichen Räume investiert wird . Die Förderung von Dauergrünland ist vor diesem Hin- Erstens soll eine Umwandlung von umweltsensiblem tergrund ein wichtiges Puzzleteil . Ich bitte daher, dem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Nutzung Gesetzentwurf zuzustimmen . in Ausnahmefällen möglich werden . Zweitens sollen Landwirte bei der Umwandlung von Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Dauergrün- sonstigem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftli- land ist wertvoll . In unserer Agrarlandschaft ist mir eine che Nutzung keinen Grünlandersatz schaffen müssen . saftige, grüne Wiese mit weidenden Mutterkühen und Kälbern das Liebste . Außerdem sind Wiesen und Weiden In beiden Fällen ist einem positiven Bescheid die Prü- gut für das Klima; denn wo Pflanzen permanent nach- fung nach Bundesnaturschutzgesetz und nach Bauord- wachsen, wird der Boden geschützt und gleichzeitig das nungsrecht vorgeschaltet . CO2 aus der Luft in der Pflanze gebunden. Dauergrün- Hier geht es um die Herstellung von Rechtssicherheit land ist Lebens- und Rückzugort, zum Beispiel für Bo- für die Landwirtschaft, und die Linke geht nicht davon denbrüter oder seltene Pflanzengesellschaften. Das alles aus, dass dadurch neue Schlupflöcher für den weiteren sind gute Gründe, mit Wiesen und Weiden besonders re- Flächenfraß geschaffen werden sollen . spektvoll umzugehen . Weil aber Intention und Wirkung so mancher Geset- Wir wissen aber: Gerade die Bestände von Pflanzen ze weit auseinanderklaffen, möchte ich hier zumindest und Tieren der offenen Agrarlandschaft sind am häu- auf die Gefahr weiterer Flächenverluste hinweisen . Die figsten gefährdet. Die Realität ist, dass Dauergrünland immer noch viel zu hohen Flächenverluste, besonders in Deutschland, aber auch in ganz Europa und weltweit bei Grünland, müssen reduziert werden . Die Linke wird Fläche verliert . Eine aktuelle Studie des Umweltbundes- deshalb darauf achten, dass mit dieser Regelung das be- (B) amtes besagt, dass 1991 noch über 5,3 Millionen Hektar stehende Umwandlungsverbot nicht durch die Hintertür (D) oder 31,3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche als unterlaufen wird . Dauergrünland bewirtschaftet wurden, während es 2014 Wie ich vom Wissenschaftlichen Dienst erfuhr, basie- nur noch rund 4,7 Millionen Hektar oder 27,8 Prozent ren die geringen Schätzungen im Gesetzentwurf auf den waren . Viele Flächen mussten dem Straßen- oder Sied- Selbstauskünften der Landwirte und vagen Annahmen . lungsbau weichen, oder sie wurden zeitweise zu Äckern Ob tatsächlich so wenige Anträge eingehen werden und umgewandelt, weil der Anbau von Mais oder anderen die betroffene Umwandlungsfläche bei umweltsensiblem Ackerbaukulturen profitabler ist. Dauergrünland jährlich 100 Hektar betragen wird, wis- Zumindest diesem Treiben hat die EU ein Um- sen wir heute nicht, und ob andere nichtlandwirtschaft- wandlungsverbot entgegengesetzt . Zur Umsetzung der liche Nutzungen aus sozial-ökologischer Perspektive Greening-Maßnahmen hat die EU-Kommission im Som- überhaupt sinnvoll sind, kann ebenfalls – wie im Fall der mer 2015 einen Leitfaden vorgelegt. Darin definiert sie Fotovoltaik – bezweifelt werden; denn diese Anlagen ge- Dauergrünland und legt Möglichkeiten einer Ausnahme hören aus unserer Sicht vor allem auf Dächer oder andere vom Umwandlungsverbot dar . Unter Umwandlung von versiegelte Flächen . Dauergrünland versteht sie nicht nur die Umwandlung Die Linke fordert vor allem, die Attraktivität der Nut- in Ackerland oder Dauerkulturen, sondern auch die Um- zung des Dauergrünlands zu verbessern, insbesondere wandlung in nichtlandwirtschaftliche Nutzungen wie bei Weidenutzung . Eine Weidetierprämie, wie in Frank- Aufforstung, natürliche Sukzession, Bebauung oder reich, wäre hier ein wichtiges Signal der Anerkennung Nutzung als Infrastrukturfläche. Während solche Nut- der Arbeit, die in diesem Teil der Landwirtschaft geleis- zungsänderungen auf umweltsensiblem Dauergrünland tet wird . Er genießt die höchste Akzeptanz in der Gesell- in FFH-Gebieten ausgeschlossen sind, bedürfen sie auf schaft, bekommt aber wenig Geld für seine Leistung . sonstigem Dauergrünland der Genehmigung . Das EU-Recht sieht die Möglichkeit vor, dass die Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitgliedstaaten einzelne Flächen aus der Kulisse des NEN): Die vorliegende Gesetzesänderung ändert beste- umweltsensiblen Dauergrünlandes herausnehmen kön- hendes Recht hinsichtlich der Umwandlung von Dauer- nen . Daraus resultiert zum einen, dass Umwandlungen in grünland in eine nichtlandwirtschaftlich genutzte Fläche . nichtlandwirtschaftliche Nutzungen demselben strengen Durch die Regelung wird die durch die Auslegung der rechtlichen Rahmen unterliegen wie Umwandlungen in Europäischen Kommission im Leitfaden zur Durchfüh- Ackerland und Dauerkulturen . Zum anderen wird be- rung der Vorschriften für Dauergrünland entstandene Re- stimmt, dass nationalstaatliche Ausnahmen, wenn dem gelungslücke geschlossen . 17178 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Wir können der Vorlage zustimmen . Bei aller Wichtig- – des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, (C) keit des Grünlands für die Biodiversität, die Bodenstruk- Kathrin Vogler, Matthias W. Birkwald, weiterer tur und den Erhalt der Schönheit des ländlichen Raums Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: geht es hier doch um Details: kleine bürokratische Um- Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psy- setzungsbausteine, die Minister Schmidt in seiner beam- choaktive Substanzen tenhaften Beflissenheit in seiner „Erledigt“-Mappe able- gen kann . Dazu ist er in der Lage . (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Doch abseits dieser Details geht es doch um mehr . Wie Marlene Mortler (CDU/CSU): Neue psychoaktive können wir den ländlichen Raum mit seinen kleinstruk- Substanzen gibt es nicht nur in Deutschland . Sie sind turierten bäuerlichen Landwirtschaftsbetrieben, mit den weltweit verbreitet, sie sind gefährlich, und sie werden Milchkühen auf der Weide und den bäuerlichen Famili- auf tückische Weise vertrieben . Wer die Gesundheit der en, die von ihrer Arbeit anständig leben können, erhal- Menschen schützen will, der muss etwas gegen diese ten? Das sind die ländlichen Räume, die wir alle wollen, Substanzen tun – wohldurchdacht, fest entschlossen und die attraktiv sind für die dort lebenden Menschen und die mit einem breiten Ansatz aus Prävention, Schadensmini- von Städtern zur Erholung so gerne besucht werden . mierung und – darum geht es heute – dem klaren Signal Doch wenn sich nicht bald etwas verändert, werden des Verbotes . wir sie verlieren . Da hilft es nicht, kleine Gesetzesanpas- NPS sind weltweit verbreitet . Nicht nur in Europa, sungen vorzunehmen; denn in der deutschen Agrarpoli- sondern auch in den USA und in Kanada, Australien, tik hat sich ein erheblicher Problemstau entwickelt: Die China und vielen anderen Staaten werden NPS in erheb- Märkte für tierische Produkte, vor allem für Milch, sind lichem Maße konsumiert . Kaum ein Drogenmarkt ist so praktisch zusammengebrochen, viele bäuerliche Betrie- in Bewegung wie der NPS-Markt . be bangen um ihre Existenz oder haben bereits aufgege- ben, und die gesellschaftliche Akzeptanz der Tierhaltung Vorgestern wurde der „Europäische Drogenbe- schwindet von Tag zu Tag . richt 2016“ veröffentlicht . Nach Aussage der Europä- ischen Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon wurden Das millionenfache Schreddern frisch geschlüpfter in der EU im letzten Jahr nicht nur 560 verschiedene Küken entspricht angeblich dem Tierschutzgesetz, und Substanzen gezählt, die wir als NPS betrachten . Das die Milch ist mittlerweile billiger als Wasser . So steht das Besondere daran ist, dass fast 100 dieser Substanzen im System da . Dorthin hat uns die ewig gestrige Agrarpoli- letzten Jahr zum ersten Mal auf dem europäischen Markt tik von CDU und CSU geführt . auftauchten . Eine kleine molekulare Veränderung – und (B) Aber mit „Wachsen oder Weichen“ ist jetzt Schluss . schon war der Verordnungsgeber bei uns ausgetrickst (D) Wir haben die Pflicht, den Bäuerinnen und Bauern Per- und eine Substanz schon wieder erlaubt statt nach Betäu- spektiven zu bieten . Wie können sie ihre Schweine halten, bungsmittelrecht verboten . dass es Spaß macht, in den Stall zu gehen, und dennoch Das Perfide an NPS ist vor allem die Art ihrer- Ver ein anständiges Einkommen damit erzielen? Was können marktung . NPS gaukeln als „Kräutermischungen“ oder wir den Milchbauern sagen, um sie zum Durchhalten zu „Badesalze“ eine Harmlosigkeit vor, die sie nicht haben . ermutigen? Die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern muss Zudem wirbt der mittlerweile hoch professionalisierte wieder mehr wert sein . Da hilft der Versuch nicht, die Vertrieb gerade mit der vermeintlichen Legalität der Sub- Milcherzeuger mit einer Finanzspritze ruhig zu stellen, stanzen . wie Schmidt sich von der Lebensmittelindustrie und dem Bauernverband beim Milchgipfel hat diktieren lassen . Unter dem Oberbegriff „Legal Highs“, der sich in der Das ist Opium fürs Volk . Szene eingebürgert hat, wird für Substanzen geworben, deren Inhalt kaum ein Konsument kennt . Wie gefährlich Um wirklich etwas für die ländlichen Räume und die der Konsum dieser „Black Boxes“ ist, habe ich schon vor bäuerlichen Betriebe zu tun, braucht man Mut und Ideen . einigen Wochen berichtet . Allein in Deutschland sind im Wir brauchen eine Agrarwende – zum Wohle der Men- vergangenen Jahr 39 Menschen nach dem Konsum von schen, der Tiere und der Umwelt . Doch dafür ist Schmidt neuen psychoaktiven Stoffen ums Leben gekommen . nicht gemacht . Detailregelungen wie die vorliegende Gesetzesänderung traue ich ihm zu, für die wichtigen Man muss sich das wirklich wie Russisches Roulette umfassenden Umstellungen fehlen ihm die Vorstellungs- vorstellen . Man schluckt etwas, ohne jede Vorstellung kraft, der Mut und das Format . über die Inhalte . Und manche gehen noch weiter und schlucken nicht nur . Von einigen Konsumenten werden NPS sogar gespritzt – mit allen damit verbundenen Ge- fahren . Das zeigt auch der Anstieg der HIV-Infektionen Anlage 11 in Irland . Zu Protokoll gegebene Reden Diesem Spiel mit dem Tod machen wir mit dem zur Beratung: Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz ein Ende . Es ist uns gelungen, die juristisch hochkomplexe Materie in Hoch- – des von der Bundesregierung eingebrachten geschwindigkeit in Gesetzesform zu bringen . Ich bin viel Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der international unterwegs und weiß: Wir gehen hier einen Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe Weg, der auch für andere Länder beispielgebend ist . Al- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17179

(A) len Beteiligten in den Ministerien meine Anerkennung die Zahl der Beschlagnahmungen dieser sogenannten (C) und meinen herzlichen Dank! NPS in Europa um das Siebenfache an . Mit dem Verbot ganzer Stoffgruppen sorgen wir dafür, Im Vergleich zu den Drogentoten durch andere dass in Zukunft kein Zweifel mehr daran besteht: Legal Substanzen erscheinen die absoluten Zahlen für die Highs gibt es nicht . Was zu den gefährlichen Stoffgrup- NPS-Konsumenten laut der neuesten Daten für 2015 pen gehört, darf nicht vertrieben werden . Werbung mit zwar gering, schaut man aber auf die Zuwachszahlen, ist der vermeintlichen Legalität ist gesetzwidrig . Dagegen die Entwicklung absolut besorgniserregend . Die Zahlen kann man vorgehen, und dagegen wird die Polizei auch weisen zudem aus, dass mittlerweile über 560 verschie- vorgehen . dene Substanzen bekannt sind . Jedem ist klar, dass wir mit diesem Verbot allein das Wir kennen die Zielgruppen: 90 Prozent der Konsu- Problem NPS natürlich nicht lösen werden . Wir müssen menten sind Männer – sie nehmen die NPS zusätzlich auch über diese Drogen aufklären, müssen vermitteln, zu weiteren illegalen Substanzen –, und es gibt regionale dass auch niemand etwas essen oder trinken würde, ohne Schwerpunkte in Deutschland beim Konsum der NPS . zumindest einen prüfenden Blick darauf zu werfen . Ge- Gerade der rasante Anstieg neuer Substanzen prägt nauso klar ist aber auch, dass wir das NPS-Problem ohne das Bild eines „Hase-und-Igel-Spiels“: Sobald der Ge- dieses Verbot nicht lösen werden . Es ist ein notwendiger setzgeber die eine Substanz verboten hat, wird eine neue Schritt zur Bewältigung dieser Herausforderung . auf dem Markt angeboten . Hier besteht Handlungsbe- Wir bestrafen nicht die Konsumenten, sondern die darf . Es muss daher dringend gelingen, diesen Wettlauf skrupellosen Händler, die Profite machen auf Kosten zu beenden . der Gesundheit der Konsumenten . Wir werden es nicht Hintergrund dieser Entwicklung ist das Urteil des zulassen, dass junge Konsumenten als menschliche Ver- Europäischen Gerichtshofs vom 10 .Juli 2014, nach suchskaninchen für Substanzen herhalten, deren poten- dem alle NPS nicht mehr als Arzneimittel im Sinne des zielle Gesundheitsrisiken weitgehend unbekannt sind . Arzneimittelgesetzes betrachtet werden können . Für alle Deshalb bitte ich um Unterstützung für unseren Ge- NPS, die nun noch nicht in die Anlagen des Betäubungs- setzentwurf . mittelgesetzes aufgenommen worden sind, entsteht da- her eine Gesetzeslücke . Diese Gesetzeslücke gilt es zu schließen . Die Bundesregierung hat hierzu richtigerwei- Burkhard Blienert (SPD): Mit dem heute erstmalig zu beratenden Gesetzentwurf zu den neuen psychoakti- se einen Gesetzentwurf vorgelegt . Er sieht nun den neuen ven Substanzen, NPS, die landläufig als Legal Highs be- Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit vor . (B) kannt sind, nehmen wir uns nunmehr einer immer größer Deutschland würde damit Beispielen anderer europä- (D) werdenden Herausforderung an . ischer Länder, wie Österreich, folgen . Kern des Gesetz- entwurfs ist die Definition der Stoffgruppen. Der Gesetz- Unter Legal Highs werden Substanzen wie beispiels- entwurf sieht hierfür eine Fokussierung auf synthetische weise Badesalze und Kräutermischungen verstanden . Cannabinoide, Phenylethylamine und Cathinone vor . Sie Die Substanzen hören sich harmlos an; ihr Titel Legal machen seit 2005 zwei Drittel aller neuen Stoffe aus . Die Highs bewirkt zudem den Anschein der Legalität . Ihre Variantenfülle dieser Stoffgruppen befördert die explo- Wirkungen sind aber keineswegs harmlos, und legaler sionsartige Vervielfältigung neuer Substanzen auf dem Besitz soll nun verboten werden . Keiner kann nämlich Markt . wissen, welche Zusammensetzung er gerade konsumiert, und so liest man leider viel zu häufig, dass es infolge des Es wird im parlamentarischen Verfahren nun zu erör- Konsums zu Nieren- und Kreislaufversagen kommt, dass tern sein, ob dieser Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit Wahnvorstellungen eintreten – leider vermehrt auch mit zielführend ist, ob es Alternativen gibt, ob er ergänzt und tödlichem Ausgang . ob er modifiziert werden muss. Der Zugang zu den Substanzen ist simpel . Wenige Über allem stehen hierbei auch die Frage der grund- Mausklicks im Internet genügen, und die Ware kommt sätzlichen Strafbarkeit von Suchtmittelbesitz und die per Post nach Hause . Das Bundesministerium hat bereits Wirkungen der Prohibition . Der Antrag der Linken greift 2011 dank einer Studie Überblick über die Motive für genau diesen Aspekt auf und verweist auf sogenannte den Konsum der NPS erhalten . Die leichte Verfügbarkeit Nebenwirkungen der strikten Verbotspolitik bei Drogen . und der legale Besitz waren hierfür ausschlaggebende Wir müssen hier also die fachliche Diskussion führen Beweggründe . Die Kosten für den Konsumenten sind und genau benennen, was wir wie erreichen wollen und eher gering, wenn ein Päckchen von 3 Gramm dieser erreichen können . gefährlichen Stoffe circa 20 bis 35 Euro kostet und je Ich scheue diese Diskussion nicht . Bereits 2012 hatten nach Substanz eine Dosierung zwischen 5 Milligramm wir als SPD-Bundestagsfraktion einen entsprechenden und 200 Milligramm angenommen wird . Das alles sind Antrag zur Herausforderung des Umgangs mit den Legal Aspekte, die das Anwachsen des Marktes fördern . Highs mit einigen wichtigen und richtigen Maßnahmen Der Markt jedenfalls wächst seit 2008 stetig . Ich gehe hier im Bundestag eingebracht . Ich würde mich freuen, davon aus, dass leider auch der nächste Drogenbericht wenn wir in einer fachlich-sachlichen Befassung zu ge- der Bundesregierung, der ja nächste Woche vorgestellt meinsamen Lösungen kämen, um viele Menschen vor werden wird, hier keine Entwarnung geben kann . Inner- den gesundheitlichen Nebenwirkungen dieser alles ande- halb von fünf Jahren – zwischen 2008 und 2013 – stieg re als harmlosen Stoffe wirkungsvoll zu schützen . 17180 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Martina Stamm-Fibich (SPD): Ich bin froh, dass die neue psychoaktive Substanzen konsumiert zu haben . (C) Bundesregierung mit dem 1 . Gesetz zur Bekämpfung der Meiner Meinung nach sind das 8 Prozent zu viel . Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe ein Verbot für künstliche Drogen auf den Weg bringt . Der Konsum von neuen psychoaktiven Substanzen hat sich in den letzten fünf Jahren erschreckend erhöht . Seit einigen Jahren entwickeln sich Kräutermischun- Zwischen 2012 und 2014 wurden 255 neue Substanzen gen, die sogenannten Legal Highs, zu einer Modedro- entdeckt . Das waren 2014 im Schnitt pro Woche zwei ge mit ungeahnten Folgen für Leib und Leben . Neue neue Substanzen . Das Problem ist nur: Drogenbehörden psychoaktive Substanzen – kurz: NPS – sind schnell und der Gesetzgeber hinken weit hinterher . Kaum ist eine zu einem gravierenden Problem geworden . So melden neue Substanz gelistet und damit als illegal gekennzeich- Rettungsdienste und die Polizei eine erhöhte Anzahl an net, verändern die Hersteller die chemische Struktur . Einsätzen mit Personen, die im Rauschzustand teilwei- Eine neue Substanz ist kreiert, und die wird dann wieder se vollkommen orientierungslos umherschwanken, auf nicht vom Betäubungsmittelgesetz und nicht vom Arz- dem Boden liegen und schlafen oder teilweise auch im neimittelgesetz erfasst – so lange, bis sie verboten und komatösen Zustand ins Krankenhaus gebracht werden eine neue Substanz erschaffen wird . müssen . Deshalb ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf zur Be- Auch Lehrer und Suchtberatungsstellen schlagen kämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe Alarm; denn immer mehr Jugendliche bestellen sich im ein wichtiger Schritt; denn erstmals lassen sich ganze Internet synthetisch bedampfte Substanzen, die unter Stoffgruppen listen . Mit diesen Stoffgruppen können wir harmlosen Namen wie Kräutermischungen, Badesalze zwei Drittel aller Substanzen erfassen . Eine Stoffgruppe oder Lufterfrischer gehandelt werden . Diese Mischun- sind zum Beispiel synthetische Cannabinoide . Darunter gen sind aber hochgefährlich; denn keiner weiß genau, fallen viele Arten von Kräutermischungen . Eine weitere was wirklich drin ist . Vielen Jugendlichen ist das nicht Stoffgruppe sind Cathinone, im Volksmund Badesalze bewusst, und sie denken, dass sie harmlose Substanzen genannt . konsumieren . Der Gesetzentwurf liest sich zwar wie ein Chemielehr- Auch in meinem Wahlkreis sind neue psychoaktive buch, aber mit diesem Chemielehrbuch decken wir eine Substanzen leider ein sehr reales Problem . Ganz aktuell: ganze Reihe gefährlicher Substanzen ab, und wir been- Anfang Mai wurden drei Teenager bewusstlos aufgefun- den damit das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Drogen- den und ins Krankenhaus gebracht, die Kräutermischun- herstellern und Drogenbehörden . gen konsumiert hatten . Noch mehr beunruhigt hat mich aber ein Vorfall aus dem vergangenen Jahr . Damals ist Aber Stoffgruppen zu listen, macht wenig Sinn, wenn (B) ein junger Mann unter Drogeneinfluss in eine Grund- dann keine Konsequenzen folgen . Deshalb wird künftig (D) schule gestürmt . Der Konsum von Kräutermischungen auch geregelt, wer mit welchen Strafen rechnen muss . hatte bei ihm starke Psychosen ausgelöst . Ein Sprung aus Verboten werden generell die Herstellung, das Inver- dem Fenster endete für ihn zwar im Krankenhaus, aber kehrbringen, der Handel und die Einführung der Drogen . Gott sei Dank nicht tödlich . Alleine in Deutschland sind Einzeltäter müssen mit einer Geldstrafe und mit bis zu im vergangenen Jahr aber 25 Menschen an Drogen ge- drei Jahren Haft rechnen . Dealer und Banden müssen mit storben . Harmlos ist etwas anderes! Haftstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen . Kräutermischungen, Badesalze oder Lufterfrischer Der Gesetzentwurf ist ein erster und wichtiger Schritt klingen wie Produkte aus dem Drogeriemarkt . Aber das im Kampf gegen neue psychoaktive Substanzen . sind sie nicht . Es sind Drogen, die wissenschaftlich voll- Damit ist das Problem aber noch lange nicht gelöst . kommen unerforscht sind . Experimente mit nicht vorher- Ich arbeite in meinem Wahlkreis eng mit der regionalen sehbaren Risiken machen vor allem die Konsumenten; Drogenhilfe zusammen . Besonders schockiert war ich, denn sie wissen nicht, was sie zu sich nehmen . Die Zu- als mir eine Website gezeigt wurde, auf der man einfach sammensetzung der synthetisch veränderten Pflanzen- und unkompliziert sämtliche Arten von Drogen bestel- teile oder Designerdrogen variiert ständig . Was gestern len kann, und der Postbote bringt das vermeintliche Par- noch „bloß“ einen Rauschzustand verursacht hat, kann ty-Päckchen dann nach Hause . Noch harmloser können heute schlimme Nebenwirkungen hervorrufen . Die syn- gefährliche Substanzen wie Legal Highs kaum daher- thetisch veränderten Drogen sind vielfach stärker als kommen . Hier müssen wir anpacken und die Vertriebs- nicht veränderte Wirkstoffe . wege besser überwachen . Die Geschichte des jungen Mannes hätte auch ganz Ein weiterer wichtiger Schritt ist natürlich die Aufklä- anders ausgehen können; denn die Liste der Nebenwir- rung . Solange neue psychoaktive Substanzen als harmlos kungen ist erschreckend und lang: Panikattacken, Kreis- gelten, wird sich wenig an ihrer Verbreitung ändern . Der laufprobleme, extreme Übelkeit, Orientierungsverlust bis Europäische Drogenbericht 2015 gibt an, dass immer hin zum Herzstillstand können die Folgen des Konsums mehr Drogenkonsumenten auf neue psychoaktive Sub- sein . Keiner weiß, was er da zu sich nimmt . Nicht selten stanzen umsteigen, weil Kokain und MDMA in immer landen Konsumenten in der Psychiatrischen Abteilung schlechterer Qualität verkauft werden . Andere wechseln einer Kinder- und Jugendklinik . die Droge, weil Legal Highs im Blut nicht so leicht nach- Im Flash Eurobarometer, einer Telefonumfrage unter gewiesen werden können . Das müssen wir berücksich- 13 000 jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren, tigen, und wir müssen künftige Kampagnen an diesen gaben 2015 8 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal Problemen ausrichten . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17181

(A) Ich habe in meinem Wahlkreis eine eigene Aufklä- Die Folgen sind verheerend: 39 Menschen starben im (C) rungskampagne gestartet . Gemeinsam mit der örtlichen Jahr 2015 durch den Konsum von neuen psychoaktiven Drogenhilfe mudra und dem größten Tee-Anbieter der Substanzen . Das ist ein Anstieg um 56 Prozent zum Vor- Region gehe ich an Schulen und weise auf die Probleme jahr . Wäre Cannabis mit seinen bekannten Rauschwir- hin . Im Gepäck habe ich die „echte Kräutermischung“, kungen und Gefahren legal und in kontrollierter Qualität also Kräutertee; denn das ist das Einzige, was ich unter erhältlich, würden sich wohl nur wenige Menschen für einer Kräutermischung verstehe . Ich möchte die jungen den erwünschten Rausch unbekannten – ja sogar tödli- Menschen damit zum Nachdenken anregen . Die Mitar- chen – Gesundheitsrisiken aussetzen . beiter der Drogenhilfe klären in der Unterrichtsstunde über die Probleme und Gefahren des Drogenkonsums Diese Drogentoten sind eine direkte Folge der Ver- auf . botspolitik von Cannabis! Das belegen sowohl die Zah- len zur Verbreitung von NPS als auch die Zahlen der Die Aktion kommt sehr gut an . Lehrer zeigen großes Todesfolgen durch NPS: Diese sind in den Regionen Interesse an der Unterstützung im Kampf gegen die ge- Deutschlands besonders hoch, wo die Verbote von Can- fährlichen Drogen, und Schüler gehen meist nachdenk- nabis besonders streng verfolgt werden . Das ist zum lich aus der besonderen Unterrichtsstunde heraus . Beispiel im Bundesland Bayern der Fall, dem Herkunfts- Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, um den land unserer Drogenbeauftragten Marlene Mortler von Gefahren der neuen psychoaktiven Substanzen angemes- der CSU . In Bayern droht Cannabis-Konsumierenden sen begegnen zu können . Der Gesetzentwurf ist ein erster selbst bei minimalen Mengen wie 0,1 Gramm schon die wichtiger Schritt, aber er wird und kann nicht der letzte Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft . Andere sein . Bundesländer mit weniger Verfolgungsdruck auf Can­ nabis-Konsumierende haben deutlich weniger Fälle von NPS-Konsum und Todesfolgen . Das sollte auch Frau Frank Tempel (DIE LINKE): Der am Dienstag vor- Mortler zu denken geben . gestellte EU-Drogenbericht von 2016 spricht es klar aus: 560 sogenannte neue psychoaktive Substanzen – kurz: Anstatt aber die Verbotspolitik zu beenden, weitet die NPS – werden EU-weit beobachtet . NPS haben verschie- Bundesregierung ihre fehlgeleitete Politik noch aus, in- dene Namen . Sie werden oftmals online als „Forschungs- dem sie nun schon ganze Stoffgruppen verbieten will . chemikalien“, „Nahrungsergänzungsmittel“ oder „Legal Ich kann Ihnen aber jetzt schon prognostizieren, dass wir Highs“ verkauft . Allein im Jahr 2015 kamen 100 Stoffe in den nächsten Jahren nicht weniger Legal Highs haben hinzu . Mittlerweile sind es im Schnitt jede Woche zwei werden, sondern noch mehr . Das Katz-und-Maus-Spiel weitere Substanzen . zwischen der Entwicklung neuer Substanzen und dem (B) Verbot von Substanzen wird in eine neue Runde gehen . (D) Das ist eine rasante Entwicklung, und es gibt kein An- Erst wenn Sie diese Spirale durchbrechen, wird auch die zeichen für einen rückläufigen Trend. Deswegen ist es Entwicklung immer neuer Substanzen zurückgehen . richtig, dass auch die Politik über die Verbreitung von psychoaktiven Substanzen debattiert und dann die rich- Die Linke kommt ihrer Verantwortung als Oppositi- tigen Schlüsse zieht . onsführerin nach . Dem Stoffgruppenverbot der Bundes- Doch was ist ein geeignetes Mittel, um die Verbrei- regierung setzen wir unseren Antrag entgegen . Unab- tung von NPS zu stoppen? Hierfür müssen wir uns im hängige Expertinnen und Experten sollen demnach das Klaren sein, weshalb Konsumentinnen und Konsumen- Betäubungsmittelrecht auf seine Geeignetheit überprü- ten auf NPS zurückgreifen . fen, um das Ziel der öffentlichen Gesundheit zu fördern . Hierzu brauchen wir die gesamte Bandbreite an Fach- Schätzungsweise zwei Drittel der NPS sind syntheti- kenntnissen aus Rechtswissenschaft, Suchthilfe, Sozial- sche Cannabinoide . Sie sollen in irgendeiner Form den arbeit, Konsumierendenverbänden, Medizin, Kriminolo- Rausch von Cannabis simulieren . Es sind insbesonde- gie, Public Health, Erziehungswissenschaft und Polizei . re Konsumentinnen und Konsumenten von Cannabis, die auf NPS zurückgreifen, um das Verbot von Canna- Daneben setzt sich die Linke für einen begrenzten und bisprodukten zu umgehen . Sie fürchten die vielen ver- streng regulierten Zugang zu Cannabis für Volljährige schiedenen Formen der Repression, mit denen Canna- ein, damit Cannabis-Konsumierende nicht mehr auf ge- bis-Konsumierende in diesem Land rechnen müssen: fährliche neue psychoaktive Substanzen zurückgreifen . Polizeiermittlungen, Hausdurchsuchungen, Führerschei- nentzug – und das selbst, wenn sie nicht einmal berauscht Die Verbreitung von NPS gibt der Politik aber noch ei- am Steuer sitzen . nige weitere Hausaufgaben auf: Wir müssen endlich auch bei anderen Rauschmitteln Optionen für regulierte und Neue psychoaktive Substanzen werden geschaffen, nichtkommerzielle Abgabemodelle prüfen und erproben . um das Drogenverbot zu umgehen . Dies geschieht schon Dabei müssen wir stets das Ziel im Auge behalten, den durch eine minimale Veränderung der chemischen Struk- organisierten illegalen Drogenhandel auszutrocknen, tur . Für viele Cannabis-Konsumierenden erscheinen NPS die Gesundheitsschäden durch Drogenkonsum so weit daher als Alternative, wenn sie anderenfalls mit Stigma- wie möglich zu minimieren und die Erreichbarkeit von tisierung oder Verfolgung rechnen müssen – sei es, weil Präventions-, Therapie- und Hilfeangeboten für Konsu- sie schon wegen Besitzes von Cannabis vorbestraft sind, mierende zu verbessern . Erst durch ein solches Gesamt- oder sei es, weil sie im Beruf mit Drogenkontrollen rech- konzept kann die Politik der Verbreitung von neuen psy- nen müssen . choaktiven Substanzen begegnen . 17182 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schung Spice illegal . Kurz darauf wurden auf dem Markt (C) Das leitende Motto der Bundesregierung bei der Erarbei- jedoch Nachfolgeprodukte angeboten, die eine ähnliche tung des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der Verbrei- Wirkung und Risiken für die Gesundheit der Konsumen- tung neuer psychoaktiver Stoffe war anscheinend „Au- tinnen und Konsumenten hatten . Die Nachfolgeprodukte ßergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche enthielten andere synthetische Cannabinoide, von denen Maßnahmen“ . Denn die von Ihnen vorgeschlagenen Lö- in den folgenden Jahren ebenfalls zahlreiche dem Betäu- sungen zur Reduzierung des Konsums und der Verbrei- bungsmittelgesetz unterstellt wurden . Auf Verbot folgte tung neuer psychoaktiver Substanzen sind die Krönung Verbot, doch der Markt schuf immer wieder neue legale der gescheiterten Verbotspolitik . Substanzen . Was Ihnen offensichtlich immer noch nicht bewusst Um die Dimensionen des Erfindergeistes der Drogen­ ist: Das Bedürfnis nach Rausch besteht unabhängig vom industrie zu verdeutlichen: Allein im Jahr 2014 wurden Angebot . Dieses Bedürfnis wird von unterschiedlichen von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen Menschen in unterschiedlicher Weise befriedigt . Das und Drogensucht 101 neue psychoaktive Substanzen ge- Verbot und Strafverfolgung sind hier die falschen An- zählt . Seit 2005 wurden insgesamt 400 neue Stoffe ent- sätze . Eine drogenfreie Welt ist eine Illusion und nicht deckt . Das zeigt: Die Hersteller bestimmen den Markt durchsetzbar . und sind dem Gesetzgeber immer einen Schritt voraus . Anstatt die Auswirkungen des Betäubungsmittelge- setzes zu evaluieren, schaffen Sie neue Verbote . Diese Das Stoffgruppenverbot wird diese Entwicklung nicht Verbote tragen jedoch nicht dazu bei, dass die Schäden verhindern . Nur weil ganze Stoffgruppen verboten wer- durch Drogenkonsum reduziert werden – im Gegenteil . den sollen, werden die Drogenköche ihrer Kreativität nicht weniger Lauf lassen . Es werden weiterhin neue Das jetzige Betäubungsmittelrecht ist einer der Gründe Substanzen auftauchen, die von dem Stoffgruppenver- dafür, warum Substanzen wie neue psychoaktive Stoffe, bot nicht erfasst sind und mitunter gefährlicher sind als umgangssprachlich oft als Legal Highs bezeichnet, über- „klassische“ Substanzen . Und das geben Sie sogar selbst haupt auf dem Markt sind: Es ist nicht immer der Kick zu . Denn Ihr Vorschlag sieht vor, dass das Gesundheits- und die Suche nach neuen Erfahrungen, die Konsumen- ministerium bei Bedarf weitere Stoffe oder Stoffgruppen tinnen und Konsumenten zu diesen Mitteln greifen lässt . verbieten darf . Da beißt sich doch die Katze selbst in den Vielmehr handelt es sich oft um ein Ausweichverhalten, Schwanz . das zum Beispiel durch das Cannabisverbot hervorgeru- fen wird . Konsumentinnen und Konsumenten versuchen, Darüber hinaus: Jugend- und Verbraucherschutz so- auf legale Alternativen auszuweichen . In mehreren Be- wie glaubhafte Drogen- und Suchtprävention werden in (B) fragungen von Konsumentinnen und Konsumenten gab diesem Rennen gnadenlos abgehängt . Und damit möchte (D) die Mehrheit der Befragten an, neue psychoaktive Sub- ich an das von Ihnen angestrebte Ziel des Gesetzentwur- stanzen zu konsumieren, weil sie legal sind . Auch andere fes appellieren: den Schutz der Gesundheit der Bevölke- Konsumgründe stehen in unmittelbarem Zusammenhang rung und des Einzelnen . Hier scheitert Ihr Entwurf auf mit dem Cannabisverbot, beispielsweise die Nichtnach- ganzer Linie: weisbarkeit von Legal Highs in Drogentests . Aber auch die Angst vor Verlust des Führerscheins oder ein Zu- Erstens wird das Verbot der neuen psychoaktiven rückscheuen vor der Beschaffung von Cannabis in der Stoffe nicht vom Konsum abhalten . Ihr Grundverständ- Drogenszene sind Gründe für das Ausweichen auf Legal nis, dass das Verbot und die mögliche Konsequenz der Highs . In einer Studie des Kings College London geben Strafverfolgung signifikant vom Konsum abhalten, hat zudem 93 Prozent der Legal-High-Konsumenten an, dass sich, insbesondere bei Jugendlichen, nicht erwiesen . Ihre sie natürliches Cannabis aufgrund der geringeren Neben- autoritäre Masche ist veraltet und zieht schon lange nicht wirkungen eigentlich bevorzugen . mehr . Das Stoffgruppenverbot wird weder die Verbreitung Zweitens ersetzen Sie die konkrete Gefahr für die Ge- von Legal Highs verhindern noch den gesundheitlichen sundheit durch neue psychoaktive Stoffe argumentativ Schutz von Konsumenten stärken . Stattdessen servieren durch die reine Missbrauchsabsicht, das heißt den Kon- Sie der organisierten Kriminalität den Markt für Legal sum zu Rauschzwecken . Dies ist deshalb bedenklich, Highs auf dem Silbertablett . weil damit der Unrechtsgehalt der Vorschrift allein auf die Missbilligung des Sich-Berauschens reduziert wird . Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot Eine solche rein moralische Missbilligung einer be- wird das Katz-und-Maus-Spiel von Anbietern und Ge- stimmten Absicht – ohne konkret dahinterstehende Ge- setzgeber noch verschärfen . Angebot und Konsum neuer fahr – ist nicht zu rechtfertigen . Zudem entsteht dadurch psychoaktiver Substanzen werden durch das Verbot nicht eine klare Ungleichbehandlung mit anderen legalen Sub- verhindert . Auf dem illegalen Drogenmarkt geht es um stanzen wie Alkohol oder Medikamenten, die ebenfalls knallharte wirtschaftliche Interessen, die mit allen erfin- zu Rauschzwecken konsumiert werden und bei denen die derischen Mitteln verfolgt werden . gesundheitliche Gefahr eindeutig nachgewiesen ist . Die- Bestes und wahrscheinlich bekanntestes Beispiel: se Grundlage, die wissenschaftliche Bewertung des Ri- die Räuchermischung Spice . Nach der Bestimmung des sikos einer Substanz, fehlt dem Gesetzentwurf gänzlich . Wirkstoffes in Spice wurden die darin enthaltenen synthe- Die Legalität eines Stoffes hat zukünftig nichts mehr mit tischen Cannabinoide unter das Betäubungsmittelgesetz der Gesundheit der Gesellschaft oder des Einzelnen zu gestellt . Damit wurde zwar der Verkauf der Räuchermi- tun, sondern gründet nur darauf, ob ein Stoff auf einer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17183

(A) Liste steht oder eben nicht und damit verboten ist oder desalze, Dufterfrischer oder Kräutermischungen täuscht (C) erlaubt . Konsumentinnen und Konsumenten die Ungefährlich- keit der Substanzen vor . Das muss sich ändern und kann Drittens werden durch den Schwarzmarkt die gesund- nur in einem regulierten Markt mit strengen Vorschriften heitlichen Risiken – beispielsweise durch Beimischun- für Jugend- und Verbraucherschutz sowie Suchtpräventi- gen oder Wirkstoffschwankungen – bedeutend größer on stattfinden. im Vergleich zu einer Regulierung einer Substanz . Ver- hältnispräventive Maßnahmen wie Jugendschutz und be- Das Verbot und das Strafrecht sind jedoch der falsche grenzte Abgabezeiten und -orte, aber auch verpflichtende Ansatz und tragen nicht dazu bei, dass die Schäden durch Information und Beratung am Abgabeort gibt es auf dem riskanten Drogenkonsum reduziert werden . Der von mir Schwarzmarkt nicht . Eine Regulierung von Substanzen eingangs geschilderte Prozess, dass Konsumentinnen und mit Abhängigkeitspotenzial muss sich an ihrer Gefähr- Konsumenten auf neue psychoaktive Substanzen auswei- lichkeit orientieren . Das gilt für neue psychoaktive Stoffe chen, weil sie leichter zu beschaffen sind, wird von der genauso wie für Alkohol, Cannabis oder Medikamente . Bundesregierung ignoriert . Sie halten stur an dem Ver- Viertens werden die neuen psychoaktiven Stoffe wei- bot fest . Doch wird auch in diesem Fall das Stoffgrup- terhin über den Online-Verkauf aus dem Ausland auf penverbot die Situation nicht im Geringsten verbessern . dem deutschen Markt bereitgestellt werden können . Und Stattdessen werden durch das Verbot die potenzielle gerade der Internethandel mit unkomplizierten Kaufab- gesundheitliche Schädigung von Konsumentinnen und wicklungen floriert. Hier werden der Zoll und die Straf- Konsumenten in Kauf genommen, die Stigmatisierung verfolgungsbehörden, auch wenn eine Substanz illegal von Konsumentinnen und Konsumenten vorangetrieben . ist, maximal einen Bruchteil der eingeführten Substanzen Die organisierte Kriminalität gewinnt an Einfluss und abschöpfen können, die Produzenten und Verkäufer im verkauft Drogen auch an Jugendliche, das heißt diejeni- Ausland jedoch nicht an ihrem Handel hindern können . gen, die wir am meisten schützen müssen . Fünftens fehlen in dem Gesetzentwurf Maßnahmen Neue psychoaktive Substanzen sind als Nebenprodukt zur Suchtprävention . Der illegale Status der Substanzen der gescheiterten Verbotspolitik anzusehen . Deshalb ist erschwert grundsätzlich eine wirksame Prävention . Dro- es umso unverständlicher, wie man immer noch an dem gen- und Suchtprävention sind auch immer eine Frage gescheiterten Cannabisverbot festhalten kann, anstatt der Glaubwürdigkeit . Insbesondere staatlich geförderte einen staatlich regulierten Cannabismarkt zu etablieren, Suchtberatungsstellen werden an Glaubwürdigkeit ver- der endlich Jugend- und Verbraucherschutz ermöglich lieren, denn Jugendliche werden aufgrund des Verbots würde, Konsumentinnen und Konsumenten nicht länger diese staatlichen oder staatlich geförderten Beratungs- kriminalisiert und stigmatisiert, sowie eine legale Mög- (B) stellen als voreingenommen einstufen . Zugleich werden lichkeit des Erwerbs von Cannabis mit geprüften Inhalts- (D) durch das Verbot Möglichkeiten zur Schadensminderung und Wirkstoffen zu ermöglichen . Konsumentinnen und wie beispielsweise das Drug Checking abgewendet . Da- Konsumenten, die derzeit auf neue psychoaktive Sub- bei ist gerade Drug Checking eine wichtige Maßnah- stanzen aufgrund des Cannabisverbots ausweichen, wür- me der Schadensminderung, die Konsumentinnen und den dieses Angebot nutzen . Konsumenten die Möglichkeit gibt, die Substanzen auf Wirkstoffgehalt und Reinheit zu überprüfen . Dies kann Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot Konsumentinnen und Konsumenten auch dazu bewegen, unterstreicht noch einmal die naive Weltvorstellung der sich gegen den Konsum zu entscheiden . Bundesregierung, dass eine drogenfreie Welt mit Verbo- ten durchzusetzen sei . Nicht nur, dass die Verteufelung von Drogen, in die- sem Fall von neuen psychoaktiven Substanzen, dazu führt, dass keine sachlichen, objektiven Informationen Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin beim Bun- über Konsum- und Suchtrisiken für Verbraucherinnen desminister für Gesundheit: Die Bundesregierung will und Verbraucher zur Verfügung gestellt werden, die auch mit einem weitreichenden Verbot neuer psychoaktiver eine Entscheidung gegen den Konsum fördern könnten . Stoffe – kurz: NPS – den Wettlauf zwischen dem Auftre- Das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit ten immer neuer chemischer Varianten bekannter Stoffe Drogen wird für Konsumentinnen und Konsumenten und daran angepassten Verbotsregelungen im Betäu- damit gleichermaßen erschwert wie der barrierefreie Zu- bungsmittelrecht durchbrechen . Deshalb hat die Bundes- gang zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten . Das Verbot regierung den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung ist schlichtweg Antiaufklärung und Antiprävention . der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe in den Bun- destag eingebracht . Neue psychoaktive Stoffe sind im Gegensatz zu tradi- tionellen Drogen in Deutschland eher gering verbreitet . Was sind NPS? NPS sind meist synthetische Substan- Die Gesundheitsrisiken entstehen insbesondere aus der zen, die gelegentlich auch als „Designerdrogen“, „Re- unbekannten Zusammensetzung der Produkte, variieren- search Chemicals“ oder auch „Legal Highs“ bezeichnet den Wirkstoffkonzentrationen und Ungewissheit über werden . In den letzten Jahren ist eine ständig zunehmen- die Dosierung sowie der Neuartigkeit der Stoffe, über de Anzahl derartiger Stoffe aufgetaucht . In der Regel ist die keine bis geringe Erforschung der konkreten Risiken . bei NPS die chemische Struktur von Stoffen, die bereits Daher kann der Konsum neuer psychoaktiver Stoffe mit unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gezielt so ver- hohen Risiken einhergehen . Das Anpreisen von neuen ändert worden, dass der neue Stoff nicht mehr den Ver- psychoaktiven Substanzen als scheinbar harmlose Ba- bots- und Strafvorschriften des BtMG unterliegt . Die für 17184 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016

(A) Missbrauchszwecke geeignete Wirkung auf die Psyche insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, (C) bleibt jedoch erhalten oder verstärkt sich sogar . vor den häufig unkalkulierbaren und schwerwiegenden Gefahren, die mit dem Konsum von NPS verbunden sind, Wöchentlich bringen die Akteure des Drogenmarktes zu schützen . Die Verbreitung dieser Stoffe soll bekämpft, einen neuen dieser Stoffe in Umlauf . Die entsprechenden und ihre Verfügbarkeit soll eingeschränkt werden . betäubungsmittelrechtlichen Verbotsverfahren benötigen längere Zeit . Aus diesen Gründen ist es schwierig gewor- Konkret sieht der Entwurf ein großflächiges Erwerbs-, den, die sogenannten Legal Highs zeitnah dem BtMG zu Besitz- und Handelsverbot vor . Zudem soll die Weiter- unterstellen . gabe von NPS unter Strafe gestellt werden . Erstmals bezieht sich das Verbot auf ganze Stoffgruppen, um der Durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Verbreitung immer neuer Varianten bekannter Betäu- Jahr 2014 lassen sich NPS auch nicht länger als Arz- bungsmittel und psychoaktiver Stoffe entgegenzuwirken . neimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes einordnen . Es wird nicht mehr wie bisher möglich sein, durch kleine Dadurch ist eine Regelungslücke bei diesen Stoffen ent- chemische Veränderungen Verbote zu umgehen und ge- standen . Das fehlende Verbot kann gerade bei jungen fährliche Stoffe auf den Markt zu bringen . Damit wird Konsumenten den falschen Eindruck erwecken, die häu- den von NPS insbesondere für Jugendliche und junge Er- fig professionell aufgemachten und gezielt junge Men- wachsene ausgehenden erheblichen Gesundheitsgefah- schen ansprechenden Produkte seien harmlos . ren vorausschauend und effektiver begegnet . Tatsächlich hat der NPS-Konsum mitunter schwere Mit der Regelung ganzer Stoffgruppen wird der ein- Folgen . Die Symptome reichen von Übelkeit, heftigem zelstoffliche Ansatz des Betäubungsmittelgesetzes- er Erbrechen, Herzrasen und Orientierungsverlust über gänzt . Erfasst sind Phenethylamine, Cathinone – das sind Kreislaufversagen, Ohnmacht, Lähmungserscheinungen mit Amphetamin verwandte Stoffe – und synthetische und Wahnvorstellungen bis hin zum Versagen der Vital- Cannabinoide. Diese Verbindungen treten am häufigsten funktionen . Es sind sogar Todesfälle bekannt, bei denen auf . der Konsum von NPS nachgewiesen wurde . Mit dem NPSG geben wir ein klares Signal an poten- Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs für ein eigen- zielle Händler und Konsumenten: Die sogenannten Legal ständiges Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz – NPSG – ist Highs sind verbotene und hochgradig gesundheitsgefähr- es, die Gesundheit der Bevölkerung und jeden Einzelnen, dende Stoffe .

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