Debattenprotokoll Zwangsverrentung
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2796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (C) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Das gilt für alle Langzeitarbeitslosen, aber ganz besonders für die äl- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Super!) teren Arbeitslosen, die unbedingt arbeiten wollen, denen Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in aber niemand mehr einen Job gibt. Warum? § 12 a im seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1359, Sozialgesetzbuch II verpflichtet die Jobcenter, Hartz-IV- den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Beziehende ab ihrem 63. Geburtstag in eine vorgezo- chen 18/910 und 18/1283 in der Ausschussfassung anzu- gene Altersrente zu schicken, auch wenn diese mit hor- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in renden Abschlägen verbunden ist, und zwar gegen den der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Willen der Betroffenen. Das darf nicht sein. Darum sagt zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – die Linke: Die Zwangsverrentungen müssen abgeschafft Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange- werden. nommen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dritte Beratung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viele Menschen rufen wegen der Zwangsverrentung und Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 des in meinem Büro an. Sie sind wütend, komplett verunsi- Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfes die chert oder einfach nur enttäuscht. Ich schildere Ihnen das absolute Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bun- Beispiel einer Betroffenen, einer Verkäuferin aus Frank- destages – das sind 316 Stimmen – erforderlich. furt. Sie wurde vor drei Jahren entlassen und ist am Ende Wir stimmen nun namentlich über den Gesetzentwurf ihres Erwerbslebens in Hartz IV gerutscht. Im August ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die wird sie 63 Jahre alt, und sie hat stolze 44 Beitragsjahre vorgesehenen Plätze einzunehmen. Kann mir irgendje- vorzuweisen. mand ein Zeichen geben, ob alle Urnen besetzt sind? – Sie sieht im Fernsehen die Berichte über die ab- Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über den schlagsfreie Rente ab 63, und sie hört, wie die CDU/ Gesetzentwurf. CSU und die Arbeitgeber vor Frühverrentungen warnen. Ich frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, Sie will aber arbeiten. Nun hat sie vom Jobcenter einen das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist Brief bekommen. Kein Arbeitsangebot, nein: Sie soll im nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und August die vorgezogene Altersrente mit Abschlägen be- antragen. Wenn sie das nicht tut, dann stellt das Jobcen- (B) bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der (D) Auszählung zu beginnen. Wie immer wird Ihnen das Er- ter den Rentenantrag für sie, auch gegen ihren Willen. gebnis später bekannt gegeben.1) Dem Jobcenter ist es dabei völlig egal, wie hoch oder wie niedrig ihre Rente sein wird. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Debatte teilnehmen wollen, sich entweder zu setzen Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich bitte und zuzuhören oder den Raum zu verlassen. Das gilt für einmal in die Lage der erwerbslosen Verkäuferin aus alle Seiten des Hauses. Frankfurt. Sie versteht die Welt nicht mehr. Sie dachte zu Recht: Ob und wann ich einen Rentenantrag stelle, kann Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: ich doch wohl selbst entscheiden. – Von wegen: Das darf sie seit 2008 nach dem Willen von CDU/CSU und SPD Beratung des Antrags der Abgeordneten nicht. Das ist ein massiver und unverschämter Eingriff in Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann die Freiheitsrechte. Damit muss endlich Schluss sein. (Zwickau), Katja Kipping, weiterer Abgeordne- Die Zwangsverrentung muss unbedingt abgeschafft wer- ter und der Fraktion DIE LINKE den. Abschaffung der Zwangsverrentung von (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten SGB-II-Leistungsberechtigten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Drucksache 18/589 Was heißt die Zwangsrente für die arbeitslose Frank- furterin? Das heißt, dass ihre Rente bis zu ihrem Lebens- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ende um 8,7 Prozent Abschläge gekürzt werden wird. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Bei ihrer Rente von 900 Euro im Monat sind das fast 80 Euro jeden Monat. Sie hofft jetzt darauf, wieder einen Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten Job zu finden. Doch das Jobcenter unterstützt sie dabei vorgesehen. – Es gibt keinen Widerspruch. schon lange nicht mehr und hat sie aus der Arbeitslosen- statistik gestrichen. Das übrigens zum Thema geschönte Ich eröffne die Aussprache. Matthias Birkwald be- Statistik. ginnt für die Linke die Debatte. Das alles ist unerträglich. Es hat nichts, aber auch rein (Beifall bei der LINKEN) gar nichts mit der Lebensleistung dieser Frau zu tun. Deshalb sage ich: Die Zwangsverrentung muss beendet 1) Ergebnis Seite 2797 D werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2014 2797 Matthias W. Birkwald (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten und andererseits verwehren Sie diesen Menschen den (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zugang zu Ihrer neuen abschlagsfreien Rente ab 63 bzw. 65; denn für diese soll ja nur der Bezug von Arbeitslo- Aber es kommt noch schlimmer. Schwarz-Rot sind sengeld I bei der Berechnung der 45 Jahre zählen, nämlich 8,7 Prozent Abschläge noch nicht genug. Im Hartz-IV-Zeiten aber nicht. Das ist ungerecht. Wenn Gesetz ist nämlich eingebaut, dass die Kürzungen von Hartz-IV-Zeiten mitzählten, dann könnte unsere Frank- Jahrgang zu Jahrgang drastischer werden. Wer das Pech furterin im August abschlagsfrei in Rente gehen. Ich hat, 1964 oder später geboren worden zu sein, bekommt frage noch einmal hier im Plenum: Was unterscheidet dann ab 2027 die Rente um sage und schreibe 14,4 Pro- eine Verkäuferin, die einmal vier Jahre am Stück arbeits- zent gekürzt. Das wären bei 900 Euro Rentenanspruch los war, von einem Gerüstbauer, der viermal ein Jahr ar- 130 Euro. beitslos war? Ich sage: Die haben doch dieselbe Lebens- Am allerschlimmsten trifft es jene Hartz-IV-Betroffe- leistung, oder etwa nicht? nen, die durch die Abschläge nur auf eine Minirente kommen. Sie werden nämlich bis zu ihrem offiziellen (Beifall bei der LINKEN) Renteneintrittsalter auf Sozialhilfe angewiesen sein. Erst danach können sie die Grundsicherung im Alter beantra- Vizepräsidentin Claudia Roth: gen. Sozialhilfe bedeutet im Unterschied zur Grund- Denken Sie an Ihre Redezeit. sicherung: Es gibt keinen Cent, bis der Spargroschen bis auf 2 600 Euro aufgebraucht ist. Dann gibt es ein biss- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): chen Geld, und dieses bisschen Geld holt sich der Staat Also, liebe Bundesregierung, schaffen Sie die bei den Kindern wieder. Zwangsverrentung sofort ab, und zwar ein für alle Mal! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko- Das fordern alle Erwerbsloseninitiativen. Das fordert die alition, ich bin sehr gespannt, wie Sie das alles gleich in Linke. Das fordern auch der DGB, die Sozialverbände, Ihren Reden rechtfertigen werden. der Deutsche Städte- und Gemeindetag sowie der Deut- sche Landkreistag. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben die entwürdigende Zwangsverrentung im Jahr Vizepräsidentin Claudia Roth: 2008 eingeführt. Wir Linken haben Sie gefragt, wie viele Und ich fordere Sie auf, zum Ende Ihrer Rede zu Menschen davon aktuell betroffen sind. Die Bundesre- kommen. gierung hat uns geantwortet. Was hat sie gesagt? Sie hat geantwortet: Wir wissen es nicht. (B) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (D) Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen Ja, Frau Präsidentin, ich komme sofort zum letzten lassen. Sie schicken die Menschen in die Zwangsrente Satz. – Hören Sie im Interesse der Betroffenen auf die- und wissen nicht einmal, wie viele Horrorbriefe die Job- sen guten Ratschlag! center jeden Tag verschicken. Danke schön. Das darf doch alles nicht wahr sein! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nach unseren Schätzungen sind in diesem Jahr circa Vizepräsidentin Claudia Roth: 65 000 ältere Hartz-IV-Betroffene von der Zwangsver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passiert nicht so rentung bedroht. Wir empfehlen allen Betroffenen: Le- oft, ist aber, glaube ich, ein gutes Signal. Ich gebe das gen Sie Widerspruch ein, und beantragen Sie gleichzei- von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte tig beim Sozialgericht die aufschiebende Wirkung für Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Ihren Widerspruch; denn je länger Sie das Verfahren ver- Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeit- zögern, desto geringer sind später Ihre Abschläge. nehmer-Entsendegesetzes bekannt: abgegebene Stim- Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, men 577. Mit Ja haben gestimmt 577 Kolleginnen und einerseits schicken Sie Erwerbslose in die Zwangsrente, Kollegen. Endgültiges Ergebnis Ja Norbert Barthle Ute Bertram Abgegebene Stimmen: 577; Julia Bartz Steffen Bilger davon CDU/CSU Günter Baumann Clemens Binninger ja: 577 Stephan Albani Maik Beermann Peter Bleser Katrin Albsteiger Manfred Behrens (Börde) Dr. Maria Böhmer Peter Altmaier Veronika Bellmann Wolfgang Bosbach Artur Auernhammer Sybille Benning Norbert Brackmann