<<

Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/198

Deutscher

Stenografischer Bericht

198. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Inhalt:

Wahl des Herrn Andreas Meitzner als stell- Tagesordnungspunkt 5: vertretendes Mitglied in den Stiftungsrat der a) Antrag der Abgeordneten , Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- Dr. , Dr. Hans- nung“ ...... 23807 A Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- der Fraktion der SPD: Jugendliche haben nung ...... 23807 B ein Recht auf Ausbildung (Drucksache 17/10116) ...... 23841 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 37 und 41 d ...... 23809 C b) Antrag der Abgeordneten , , Dr. , wei- Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 23809 C terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss Tagesordnungspunkt 4: schaffen – Ausbildung für alle garantie- Abgabe einer Regierungserklärung durch die ren Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat (Drucksache 17/10856) ...... 23841 B am 18./19. Oktober 2012 in Brüssel ...... 23810 C c) Antrag der Abgeordneten , Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Dr. ,  Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Bundeskanzlerin ...... 23810 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Mit DualPlus Peer Steinbrück (SPD) ...... 23818 A mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen Ausbildung Rainer Brüderle (FDP) ...... 23822 D ermöglichen Dr. (DIE LINKE) ...... 23825 A (Drucksache 17/9586) ...... 23841 B (CDU/CSU) ...... 23828 B d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2012 Renate Künast (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/9700) ...... 23841 C DIE GRÜNEN) ...... 23830 C (CDU/CSU) ...... 23833 B in Verbindung mit (SPD) ...... 23835 A Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 23835 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. (FDP) ...... 23836 A Antrag der Abgeordneten , (Weiden), Michael (CDU/CSU) ...... 23837 B Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 23838 B Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Heiner Kamp, Dr. Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 23840 A (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordne- II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. , Donnerstag, den 18. Oktober 2012 ter und der Fraktion der FDP: Das deutsche e) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf Berufsbildungssystem – Versicherung ge- (Rosenheim), (Schwan- gen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräf- dorf), Frank Hofmann (Volkach), weiterer temangel Abgeordneter und der Fraktion der SPD: (Drucksache 17/10986) ...... 23841 C Konsum kristalliner Methamphetamine durch Prävention eindämmen – Neue Willi Brase (SPD) ...... 23841 D synthetische Drogen europaweit effi- Dr. , Bundesministerin  zienter bekämpfen BMBF ...... 23843 C (Drucksache 17/10646) ...... 23861 B Agnes Alpers (DIE LINKE) ...... 23845 A f) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), , Dorothee Bär, Heiner Kamp (FDP) ...... 23847 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. DIE GRÜNEN) ...... 23849 A Claudia Winterstein, Burkhardt Müller- Sönksen, Reiner Deutschmann, weiterer Uwe Schummer (CDU/CSU) ...... 23850 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (SPD) ...... 23851 D Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für die Nachwelt bewahren und im digi- Patrick Meinhardt (FDP) ...... 23853 B talen Zeitalter zugänglich machen Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/11006) ...... 23861 C DIE GRÜNEN) ...... 23855 A g) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Dr. (CDU/CSU) ...... 23855 D Höll, , Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 23856 B LINKE: Rehabilitierung und Entschädi- (SPD) ...... 23857 B gung der verfolgten Lesben und Schwu- len in beiden deutschen Staaten Dr. (CDU/CSU) ...... 23858 D (Drucksache 17/10841) ...... 23861 C (CDU/CSU) ...... 23859 D h) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger- Schäfer, Jan Korte, , wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Tagesordnungspunkt 40: LINKE: Finanzierung zur Bewahrung a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- des deutschen Filmerbes endlich sicher- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum stellen Schutz des Erbrechts und der Verfah- (Drucksache 17/11007) ...... 23861 D rensbeteiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder im Nach- lassverfahren Zusatztagesordnungspunkt 3: (Drucksache 17/9427) ...... 23861 A a) Antrag der Abgeordneten b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (), Tom Koenigs, Hans-Christian rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ströbele, weiterer Abgeordneter und der zes über die Feststellung des Wirt- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: schaftsplans des ERP-Sondervermögens NS-Vergangenheit von Bundesministe- für das Jahr 2013 (ERP-Wirtschafts- rien und Behörden systematisch aufar- plangesetz 2013) beiten – Bestandsaufnahme zur For- (Drucksache 17/10915) ...... 23861 A schung erstellen – Erinnerungsarbeit koordinieren c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 17/10068) ...... 23861 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Luftverkehrsabkommen b) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, vom 17. Dezember 2009 zwischen Kanada Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, und der Europäischen Gemeinschaft und weiterer Abgeordneter und der Fraktion ihren Mitgliedstaaten (Vertragsgesetz EU- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Kanada-Luftverkehrsabkommen – EU- angemessene Praxis bei Anträgen auf KAN-LuftverkAbkG) Kindergeldabzweigung durch die So- (Drucksache 17/10917) ...... 23861 A zialhilfeträger (Drucksache 17/10863) ...... 23861 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- c) Antrag der Abgeordneten Dr. Günter zes zur Änderung der Gewerbeordnung Krings, , Dr. Hans- und anderer Gesetze Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 17/10961) ...... 23861 D Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 III

ordneten Dr. h. c. , e) Beschlussempfehlung und Bericht des Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Leißner, weiterer Abgeordneter und der Reaktorsicherheit: zu dem Vorschlag für Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten eine Verordnung des Europäischen Par- Dr. , Patrick Kurth (Kyff- laments und des Rates zur Aufstellung häuser), Gisela Piltz, weiterer Abgeordne- des Programms für Umwelt- und Kli- ter und der Fraktion der FDP: Wissen- mapolitik (LIFE) – KOM(2011) 874 schafts- und Forschungsfreiheit stärken, endg.; Ratsdok. 18627/11  Rahmenbedingungen verbessern – Die (Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196) 23863 B Aufarbeitung der Geschichte der wich- f) – l) tigsten staatlichen Institutionen in Be- zug auf die NS-Vergangenheit durch Beratung der Beschlussempfehlungen des besseren Aktenzugang unterstützen und Petitionsausschusses: Sammelübersich- Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung ten 473, 474, 475, 476, 477, 478, 479 zu der frühen Geschichte der Bundesminis- Petitionen terien und -behörden sowie der ver- (Drucksachen 17/10834, 17/10835, gleichbaren DDR-Institutionen beauf- 17/10836, 17/10837, 17/10838, 17/10839, tragen 17/10840) ...... 23863 C (Drucksache 17/11001) ...... 23862 A d) Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Zusatztagesordnungspunkt 4: Volkmer, Dr. , Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Zweite und dritte Beratung des von der der SPD: Patientenrechte wirksam ver- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs bessern eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (Drucksache 17/11008) ...... 23862 B 29. Juni 2012 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und dem Globalen e) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt Strengmann-Kuhn, , Markus über den Sitz des Globalen Treuhand- Kurth, weiterer Abgeordneter und der fonds für Nutzpflanzenvielfalt Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksachen 17/10756, 17/11035) . . . . . 23864 A Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente verbessern, b) Antrag der Fraktionen der SPD und Reha-Budget angemessen ausgestalten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 17/11010) ...... 23862 B unterstützen und Parlamentsrechte wahren – hier: Stellungnahme des Deut- schen Bundestages nach Artikel 23 des Tagesordnungspunkt 41: Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundes- a) Zweite und dritte Beratung des von den regierung und Deutschem Bundestag in Abgeordneten Martin Dörmann, Gerold Angelegenheiten der Europäischen Reichenbach, , weiteren Ab- Union geordneten und der Fraktion der SPD ein- (Drucksache 17/11009) ...... 23864 C gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (TMG)  Zusatztagesordnungspunkt 5: (Drucksachen 17/8454, 17/8814) ...... 23862 C Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion b) Zweite und dritte Beratung des von der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Integrität Bundesregierung eingebrachten Entwurfs parlamentarischer Entscheidungen durch eines Gesetzes zum Vorschlag für einen mehr Transparenz und klare Regeln ge- Beschluss des Rates zur Festlegung ei- währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit nes Mehrjahresrahmens (2013–2017) für für Regierungsmitglieder, Abgeordneten- die Agentur der Europäischen Union für bestechung und Parteiengesetz ...... 23864 C Grundrechte (Drucksachen 17/10760, 17/11062) . . . . . 23862 D (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23864 D c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 23866 B ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Frei- (SPD) ...... 23868 A handelsabkommen vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäischen Union und Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 23869 B ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Raju Sharma (DIE LINKE) ...... 23870 C Republik Korea andererseits (Drucksachen 17/10758, 17/11054) . . . . . 23863 A Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 23871 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Christine Lambrecht (SPD) ...... 23872 D c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Jörg van (FDP) ...... 23873 D Bunge, weiterer Abgeordneter und der Dr. (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE: Rente erst ab 67 DIE GRÜNEN) ...... 23875 A sofort vollständig zurücknehmen (Drucksache 17/10991) ...... 23892 B (CDU/CSU) ...... 23876 B d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 23877 C Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina (CDU/CSU) ...... 23878 D Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kindererziehung in der Rente besser berücksichtigen Tagesordnungspunkt 6: (Drucksache 17/10994) ...... 23892 B Erste Beratung des von der Bundesregierung e) Antrag der Abgeordneten Matthias W. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Umsetzung der Richtlinie 2012/…/EU über Bunge, weiterer Abgeordneter und der den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinsti- Fraktion DIE LINKE: Eine solidarische tuten und die Beaufsichtigung von Kredit- Rentenversicherung für alle Erwerbstä- instituten und Wertpapierfirmen und zur tigen Anpassung des Aufsichtsrechts an die Ver- (Drucksache 17/10997) ...... 23892 C ordnung (EU) Nr. …/2012 über die Auf- f) Antrag der Abgeordneten Matthias W. sichtsanforderungen an Kreditinstitute und Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Wertpapierfirmen (CRD-IV-Umsetzungs- Bunge, weiterer Abgeordneter und der gesetz) Fraktion DIE LINKE: Risiko der Er- (Drucksache 17/10974) ...... 23880 A werbsminderung besser absichern Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  (Drucksache 17/10992) ...... 23892 C BMF ...... 23880 B g) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Manfred Zöllmer (SPD) ...... 23881 C Birkwald, Diana Golze, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Björn Sänger (FDP) ...... 23882 D Fraktion DIE LINKE: Angleichung der Renten in Ostdeutschland auf das West- Dr. (DIE LINKE) ...... 23883 C niveau bis 2016 umsetzen Dr. (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/10996) ...... 23892 D DIE GRÜNEN) ...... 23884 C h) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 23886 A Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Dr. (SPD) ...... 23887 C Fraktion DIE LINKE: Rente nach Min- Dr. (FDP) ...... 23888 D destentgeltpunkten entfristen (Drucksache 17/10995) ...... 23892 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23889 C i) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina (CDU/CSU) ...... 23890 C Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wieder einfüh- Tagesordnungspunkt 7: ren a) Antrag der Abgeordneten Matthias W. (Drucksache 17/10993) ...... 23893 A Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 23893 A Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wiederherstellung Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 23894 B eines Lebensstandard sichernden und (DIE LINKE) ...... 23895 A strukturell armutsfesten Rentenniveaus (Drucksache 17/10990) ...... 23892 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 23895 D b) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Anton Schaaf (SPD) ...... 23897 A Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 23899 A Fraktion DIE LINKE: Altersarmut wirk- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn  sam bekämpfen – Solidarische Min- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 23900 D destrente einführen (Drucksache 17/10998) ...... 23892 A (CDU/CSU) ...... 23901 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 V

Tagesordnungspunkt 8: des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- schränkungen (8. GWB-ÄndG) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Drucksachen 17/9852, 17/11053) ...... 23927 A desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung von haushalts- b) Beschlussempfehlung und Bericht des rechtlichen Rahmenbedingungen außer- Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- universitärer Wissenschaftseinrichtungen gie zu dem Antrag der Abgeordneten (Wissenschaftsfreiheitsgesetz – WissFG) Kerstin Andreae, Dr. , (Drucksachen 17/10037, 17/10123, 17/11046) 23903 A Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und Dr. Annette Schavan, Bundesministerin  der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BMBF ...... 23903 B NEN: Verbraucherschutz und Nachhal- tigkeit im Wettbewerbsrecht verankern René Röspel (SPD) ...... 23904 C (Drucksachen 17/9956, 17/11053) ...... 23927 A Dr. Peter Röhlinger (FDP) ...... 23906 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. (DIE LINKE) ...... 23907 A Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Fraktionen SPD und (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Presse- DIE GRÜNEN) ...... 23908 C Grosso gesetzlich verankern Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 23909 D (Drucksachen 17/8923, 17/9989) ...... 23927 B Klaus Hagemann (SPD) ...... 23911 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) ...... 23912 B trag der Fraktionen SPD und BÜND- (CDU/CSU) ...... 23913 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stellen Tagesordnungspunkt 9: (Drucksachen 17/9155, 17/11058) ...... 23927 B Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, e) Beschlussempfehlung und Bericht des Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Ausschusses für Kultur und Medien zu Abgeordneter und der Fraktion BÜND- dem Antrag der Abgeordneten Martin NIS 90/DIE GRÜNEN: Kosten und Nutzen Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra der fair verteilen Ernstberger, weiterer Abgeordneter und (Drucksache 17/11004) ...... 23914 C der Fraktion der SPD: Freiheit und Un- abhängigkeit der Medien sichern – Viel- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ falt der Medienlandschaft erhalten und DIE GRÜNEN) ...... 23914 D Qualität im Journalismus stärken Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 23916 B (Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082) ...... 23927 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 23917 D Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) ...... 23927 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23918 B Ingo Egloff (SPD) ...... 23928 C Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 23918 D Dr. (CDU/CSU) ...... 23929 C Rolf Hempelmann (SPD) ...... 23919 B (DIE LINKE) ...... 23930 D Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 23920 B Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . 23931 B Horst Meierhofer (FDP) ...... 23920 C Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 23921 B DIE GRÜNEN) ...... 23932 A Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 23923 C Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär  BMWi ...... Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 23924 C 23933 A Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 23925 B Martin Dörmann (SPD) ...... 23934 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 23934 D DIE GRÜNEN) ...... 23926 A Elke Ferner (SPD)  (Erklärung nach § 31 GO) ...... 23936 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Wahl ...... 23935 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung Ergebnis ...... 23936 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Tagesordnungspunkt 11: , Parl. Staatssekretär  BMELV ...... 23947 D a) Antrag der Abgeordneten Michael Groß, Sören Bartol, , weiterer Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 23948 D Abgeordneter und der Fraktion der SPD Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 23950 A sowie der Abgeordneten , , Britta Haßelmann, wei- (DIE LINKE) ...... 23951 A terer Abgeordneter und der Fraktion Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Programm DIE GRÜNEN) ...... 23952 A „Soziale Stadt“ zukunftsfähig weiterent- wickeln – Städtebauförderung sichern  Carola Stauche (CDU/CSU) ...... 23953 B (Drucksache 17/10999) ...... 23939 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 20: Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sören nes … Gesetzes zur Änderung des Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Strafgesetzbuchs – Aufnahme men- Burkert, weiterer Abgeordneter und der schenverachtender Tatmotive als be- Fraktion der SPD sowie der Abgeord- sondere Umstände der Strafzumes- neten Bettina Herlitzius, Daniela sung (… StRÄndG) Wagner, Dr. , weiterer (Drucksachen 17/9345, 17/11061) . . . 23954 D Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: 40 Jahre – Zweite und dritte Beratung des von der Städtebauförderung – Erfolgsmodell Fraktion der SPD eingebrachten Ent- für die Zukunft der Städte und Re- wurfs eines … Gesetzes zur Ände- gionen erhalten und fortentwickeln rung des Strafgesetzbuchs (… Straf- rechtsänderungsgesetz – … – zu dem Antrag der Abgeordneten StRÄndG) , Dr. , (Drucksachen 17/8131, 17/11061) . . . 23954 D Herbert Behrens, weiterer Abgeordne- b) Beschlussempfehlung und Bericht des ter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- Städtebauförderung auf hohem Ni- geordneten Volker Beck (Köln), Ingrid veau verstetigen, Forderungen der Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abge- Bauministerkonferenz umsetzen ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199) . 23940 A DIE GRÜNEN: Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen Michael Groß (SPD) ...... 23940 B (Drucksachen 17/8796, 17/11061) . . . . . 23955 A Peter Götz (CDU/CSU) ...... 23941 C Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 23942 D Tagesordnungspunkt 12: Petra Müller () (FDP) ...... 23943 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ eines Siebten Gesetzes zur Änderung DIE GRÜNEN) ...... 23945 A des Weingesetzes (Drucksachen 17/10042, 17/10124, (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 23946 A 17/11019) ...... 23955 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 10: Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, trag der Abgeordneten Alexander FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Süßmair, Dr. , Dr. Lebensmittelverluste reduzieren Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter (Drucksache 17/10987) ...... 23947 C und der Fraktion DIE LINKE: Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhal- b) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, tungsanbau Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei- (Drucksachen 17/7845, 17/8612) ...... 23955 C terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Ursachen der Vernichtung (CDU/CSU) ...... 23955 D und Verschwendung von Lebensmit- (SPD) ...... 23957 A teln wirksam bekämpfen (Drucksache 17/10989) ...... 23947 C Dr. Erik Schweickert (FDP) ...... 23958 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 VII

Alexander Süßmair (DIE LINKE) ...... 23959 A ten an die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun- Dr. Erik Schweickert (FDP) ...... 23960 A gen für die Vermarktung von Bauproduk- Alexander Süßmair (DIE LINKE) ...... 23960 B ten (Drucksachen 17/10310, 17/10874) ...... 23964 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23960 D Matthias Lietz (CDU/CSU) ...... 23964 C Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 23961 C Michael Groß (SPD) ...... 23964 D Petra Müller (Aachen) (FDP) ...... 23965 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 23966 A Tagesordnungspunkt 15: Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia DIE GRÜNEN) ...... 23966 B Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: , Parl. Staatssekretär  Rechtliche und finanzielle Voraussetzun- BMVBS ...... 23968 B gen für die Zahlung einer Ausstellungsver- gütung für bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen Tagesordnungspunkt 22: (Drucksache 17/8379) ...... 23963 C Antrag der Abgeordneten , Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann (Wa- ckernheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Evaluierung der Auswir- Tagesordnungspunkt 14: kungen des neuen Waffenrechts Erste Beratung des von der Bundesregierung (Drucksache 17/10114) ...... 23969 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Günter Lach (CDU/CSU) ...... 23969 A zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- kel 91 b) Gabriele Fograscher (SPD) ...... 23971 A (Drucksache 17/10956) ...... 23963 C Serkan Tören (FDP) ...... 23972 A Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 23972 D Tagesordnungspunkt 17: Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23973 C Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon- Tagesordnungspunkt 19: Taubadel, Volker Beck (Köln), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- GRÜNEN: Für wirksamen Rechtsschutz im schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- Asylverfahren – Konsequenzen aus den torsicherheit zu der Verordnung der Bundes- Entscheidungen des Gerichtshofs der Eu- regierung: Verordnung über die Höhe der ropäischen Union und des Europäischen Managementprämie für Strom aus Wind- Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen energie und solarer Strahlungsenergie (Ma- (Drucksachen 17/8460, 17/9008) ...... 23963 D nagementprämienverordnung – MaPrV) (Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2, 17/10817) ...... 23974 B Tagesordnungspunkt 16: Dr. (CDU/CSU) ...... 23974 C Erste Beratung des von der Bundesregierung Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 23976 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Dr. (SPD) ...... 23976 D den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internationalen (FDP) ...... 23977 D Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 23978 A (Drucksache 17/10975) ...... 23964 A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23978 C Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 28: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Bauproduk- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- tengesetzes und weiterer Rechtsvorschrif- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 geordneten , , Josip Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Juratovic, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) ...... 23996 B Fraktion der SPD: Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen  Tagesordnungspunkt 23: (Drucksachen 17/9744, 17/11034) ...... 23979 B Erste Beratung des von der Bundesregierung (CDU/CSU) ...... 23979 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 23980 C Nr. 1177/2010 des Europäischen Parla- Dietmar Nietan (SPD) ...... 23981 B ments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 23983 A Binnenschiffsverkehr sowie zur Änderung (DIE LINKE) ...... 23983 D des Luftverkehrsgesetzes (Drucksache 17/10958) ...... 23997 C () (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23984 D Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) ...... 23997 C (SPD) ...... 23998 D Tagesordnungspunkt 21: Torsten Staffeldt (FDP) ...... 23999 D Erste Beratung des von der Bundesregierung (DIE LINKE) ...... 24000 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset- DIE GRÜNEN) ...... zes und anderer umweltrechtlicher Vor- 24000 D schriften Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär  (Drucksache 17/10957) ...... 23985 C BMVBS ...... 24001 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23985 D Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 23986 D Tagesordnungspunkt 26: Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 23987 B Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, weiterer Ab- (FDP) ...... 23988 A geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Sabine Stüber (DIE LINKE) ...... 23989 B DIE GRÜNEN: Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz und Energiewende Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/9583) ...... 24002 A DIE GRÜNEN) ...... 23990 A Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 24002 A Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 24003 A Tagesordnungspunkt 24: Michael Groß (SPD) ...... 24003 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales Petra Müller (Aachen) (FDP) ...... 24004 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 24005 B Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE: Behindern ist heil- DIE GRÜNEN) ...... 24006 A bar – Unser Weg in eine inklusive Ge- sellschaft Tagesordnungspunkt 25: – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, a) Erste Beratung des von der Bundesregie- weiterer Abgeordneter und der Fraktion rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE LINKE: Teilhabesicherungsgesetz zes zur Umsetzung des Seearbeitsüber- vorlegen einkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation (Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008) . 23990 D (Drucksache 17/10959) ...... 24006 D (CDU/CSU) ...... 23991 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 23992 A Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 23992 D Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter Gabriele Molitor (FDP) ...... 23994 A und der Fraktion DIE LINKE: Unverzüg- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 23995 A liche Ratifizierung des Seearbeitsüber- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 IX

einkommens der Internationalen Ar- Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 24019 D beitsorganisation (Drucksachen 17/9066, 17/9614) ...... 24006 D (SPD) ...... 24020 C Dr. (CDU/CSU) ...... 24007 A Dr. Lutz Knopek (FDP) ...... 24021 C (SPD) ...... 24008 A Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 24022 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 24009 A Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24022 C Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 24010 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24010 D Zusatztagesordnungspunkt 7: Dr. , Parl. Staatssekretär  a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, BMAS ...... 24011 B Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Impulse für die Förderung des Tagesordnungspunkt 30: Radverkehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 überarbeiten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksache 17/11000) ...... 24023 C wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die Umsetzung der UN- b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Resolution 1325 mit einem Rechenschafts- Nationaler Radverkehrsplan 2020 – mechanismus fördern Den Radverkehr gemeinsam weiterent- (Drucksachen 17/8777, 17/10904) ...... 24012 D wickeln (Drucksache 17/10681) ...... 24023 C Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) ...... 24013 A Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) ...... 24014 D Tagesordnungspunkt 29: Bijan Djir-Sarai (FDP) ...... 24015 C Erste Beratung des von der Bundesregierung (DIE LINKE) ...... 24016 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen DIE GRÜNEN) ...... 24017 B  (Drucksache 17/10960) ...... 24023 D Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) ...... 24024 A Tagesordnungspunkt 27: Ingo Egloff (SPD) ...... 24025 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- (FDP) ...... 24026 C torsicherheit Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 24027 B – zu der Verordnung der Bundesregierung: (BÜNDNIS 90/ Verordnung zur Umsetzung der Richtli- DIE GRÜNEN) ...... 24028 A nie über Industrieemissionen, zur Ände- rung der Verordnung zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Tagesordnungspunkt 31: Verbindungen beim Umfüllen oder La- gern von Ottokraftstoffen, Kraftstoffge- Antrag der Abgeordneten , mischen oder Rohbenzin sowie zur Än- , Dr. Kirsten Tackmann, wei- derung der Verordnung zur Begrenzung terer Abgeordneter und der Fraktion DIE der Kohlenwasserstoffemissionen bei LINKE: Bürgerbeteiligung stärken – Peti- der Betankung von Kraftfahrzeugen tionsrecht ausbauen (Drucksache 17/10682) ...... – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk 24029 B Becker, , Marco Bülow, Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 24029 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schadstoffbelastung durch (CDU/CSU) ...... 24030 A Abfallmitverbrennung senken – Gleiche (SPD) ...... 24031 B Bedingungen für Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung (FDP) ...... 24031 D (Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3, Ingrid Remmers (DIE LINKE) ...... 24033 A 17/9555, 17/11060) ...... 24018 B Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ Dr. Michael Paul (CDU/CSU) ...... 24018 C DIE GRÜNEN) ...... 24033 D X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Tagesordnungspunkt 32: Dr. Annette Schavan, Bundesministerin  BMBF ...... 24053 D Antrag der Abgeordneten , , Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal Anlage 3 (Drucksache 17/8916) ...... 24034 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) ...... 24034 C des Antrags: Rechtliche und finanzielle Vo- raussetzungen für die Zahlung einer Ausstel- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 24035 D lungsvergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen (Tagesordnungs- (FDP) ...... 24037 B punkt 15) Annette Groth (DIE LINKE) ...... 24038 A Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 24055 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24039 A Christoph Poland (CDU/CSU) ...... 24056 C Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 24057 A Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ...... 24058 A Tagesordnungspunkt 33: Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 24058 D schusses für Menschenrechte und Humanitäre (BÜNDNIS 90/ Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin DIE GRÜNEN) ...... 24059 D Werner, Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern Anlage 4 (Drucksachen 17/7645, 17/8681) ...... 24039 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (CDU/CSU) ...... 24039 D des Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderun- gen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Ullrich Meßmer (SPD) ...... 24040 C Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (FDP) ...... 24041 C vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungspunkt 16) Katrin Werner (DIE LINKE) ...... 24042 B (CDU/CSU) ...... 24060 D Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ Christoph Strässer (SPD) ...... 24062 C DIE GRÜNEN) ...... 24043 C Marina Schuster (FDP) ...... 24064 A Stefan Liebich (DIE LINKE) ...... 24065 C Nächste Sitzung ...... 24045 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24066 B Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 24047 A Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anlage 2 Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für wirksamen Rechtsschutz im Asyl- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung verfahren – Konsequenzen aus den Entschei- des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dungen des Gerichtshofs der Europäischen des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (Tagesord- Union und des Europäischen Gerichtshofs für nungspunkt 14) Menschenrechte ziehen (Tagesordnungs- Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 24047 D punkt 17) (Spandau) (SPD) ...... 24048 D Helmut Brandt (CDU/CSU) ...... 24068 D Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 24049 C Rüdiger Veit (SPD) ...... 24070 A Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) ...... 24050 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 24071 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) ...... 24051 D (DIE LINKE) ...... 24071 D Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24052 D DIE GRÜNEN) ...... 24072 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 XI

Anlage 6 Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Zu Protokoll gegebene Reden: Zur Beratung: Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Antrag: Neue Impulse für die Förderung des Strafgesetzbuchs (… Strafrechtsänderungsge- Radverkehrs setzen – Den Nationalen Rad- setz – … StRÄndG) – Beschlussempfehlung verkehrsplan 2020 überarbeiten – Unterrich- und Bericht zu dem Antrag: – Vorurteilsmoti- tung: Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den vierte Straftaten wirksam verfolgen (Tages- Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln ordnungspunkte 20 a und 20 b) (Zusatztagesordnungspunkt 7) Ansgar Heveling (CDU/CSU) ...... 24073 D Gero Storjohann (CDU/CSU) ...... 24078 D (SPD) ...... 24075 A Ulrike Gottschalck (SPD) ...... 24081 B Sönke Rix (SPD) ...... 24075 C Torsten Staffeldt (FDP) ...... 24082 B Jörg van Essen (FDP) ...... 24076 B (DIE LINKE) ...... 24076 D Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 24083 A (BÜNDNIS 90/ Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24077 D DIE GRÜNEN) ...... 24083 D

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23807

(A) (C)

198. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales  begrüße Sie alle herzlich. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union  Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch Haushaltsausschuss eine Wahl zum Stiftungsrat der Stiftung Flucht, Ver- ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- treibung, Versöhnung durchführen. Der Beauftragte fahren der Bundesregierung für Kultur und Medien hat mitge- teilt, dass das vom Auswärtigen benannte stellver- Ergänzung zu TOP 40 tretende Mitglied Jutta Frasch ausgeschieden ist und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Herr Andreas Meitzner als Nachfolger vorgeschlagen Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian wird. Nach § 19 des entsprechenden Gesetzes müssen Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (B) (D) auch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestä- tigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesem NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten – Be- Vorschlag einverstanden sind. – Das ist offensichtlich standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er- der Fall. Dann ist Herr Meitzner damit als stellvertreten- innerungsarbeit koordinieren des Mitglied gewählt. – Drucksache 17/10068 – Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver- bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) aufgeführten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Kultur und Medien  Rechtsausschuss  ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der CDU/CSU und FDP: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Finanzielle Belastungen der Geringverdiener- Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, haushalte durch die von der rot-grünen Bun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- desregierung beschlossenen Ökostromsubven- NIS 90/DIE GRÜNEN tionen Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf (siehe 197. Sitzung) Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe- träger ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael – Drucksache 17/10863 – Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: tion der CDU/CSU  Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, c) Beratung des Antrags der Abgeordneten weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer, Das deutsche Berufsbildungssytem – Versiche- Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und rung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fach- der Fraktion der CDU/CSU  kräftemangel sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, wei- – Drucksache 17/10986 – terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD  23808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Berichterstattung: (C) Patrick Kurth (Kyffhäuser), Gisela Piltz, weiterer Abgeordnete Peter Beyer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Dr. Rolf Mützenich Marina Schuster Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stär- Wolfgang Gehrcke ken, Rahmenbedingungen verbessern – Die Kerstin Müller (Köln) Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS- b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Vergangenheit durch besseren Aktenzugang und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bun- Portugal unterstützen und Parlamentsrechte desministerien und -behörden sowie der ver- wahren gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- – Drucksache 17/11001 – ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Bundesregierung und Deutschem Bundestag Rechtsausschuss  in Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 17/11009 – Ausschuss für Kultur und Medien ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion d) Beratung des Antrags der Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Integrität parlamentarischer Entscheidungen der SPD durch mehr Transparenz und klare Regeln ge- währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit für Patientenrechte wirksam verbessern Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung und Parteiengesetz – Drucksache 17/11008 – Überweisungsvorschlag: ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Gesundheit (f) regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Rechtsausschuss  Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG) Verbraucherschutz – Drucksache 17/9852 – (B) (D) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der schuss) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/11053 – Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er- werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud- Berichterstattung: get angemessen ausgestalten Abgeordneter Ingo Egloff – Drucksache 17/11010 – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Haushaltsausschuss Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht verankern Ergänzung zu TOP 41 – Drucksachen 17/9956, 17/11053 – a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Berichterstattung: regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Abgeordneter Ingo Egloff zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktio- handfonds für Nutzpflanzenvielfalt nen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/10756 – Presse-Grosso gesetzlich verankern Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- – Drucksachen 17/8923, 17/9989 – gen Ausschusses (3. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 17/11035 – Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23809

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD (C) richts des Ausschusses für Kultur und Medien Gemeinsam die Modernisierung Russlands (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen voranbringen – Rückschläge überwinden – der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Impulse für die Partnerschaft setzen Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt – Drucksache 17/11005 – auf solide Datenbasis stellen Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) – Drucksachen 17/9155, 17/11058 – Innenausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Verteidigungsausschuss Abgeordnete  Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Martin Dörmann Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Burkhardt Müller-Sönksen Technikfolgenabschätzung Kathrin Senger-Schäfer Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Tabea Rößner Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 37 und e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 41 d abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Bera- richts des Ausschusses für Kultur und Medien tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesord- Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak- nung. tion der SPD Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli- Freiheit und Unabhängigkeit der Medien che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz- sichern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal- punktliste aufmerksam: ten und Qualität im Journalismus stärken Der am 28. Juni 2012 (187. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- – Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 – schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- Berichterstattung: sen werden: Abgeordnete Reinhard Grindel Martin Dörmann Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) Burkhardt Müller-Sönksen gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes (D) Kathrin Senger-Schäfer 2013 Tabea Rößner – Drucksache 17/10000 – ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Überweisungsvorschlag: Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei- Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss  terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung  Neue Impulse für die Förderung des Radver- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit  kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs- Ausschuss für Bildung, Forschung und plan 2020 überarbeiten Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien  – Drucksache 17/11000 – Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss  Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Ausschuss für Gesundheit  cherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit  sen werden: Ausschuss für Tourismus  Haushaltsausschuss Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel- regierung lierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen Rechts- Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad- schutzes verkehr gemeinsam weiterentwickeln – Drucksache 17/10308 – – Drucksache 17/10681 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit  Der am 28. September 2012 (196. Sitzung) überwie- Ausschuss für Tourismus sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem 23810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Überweisungsvorschlag: (C) abschätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss  sen werden: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Gesundheit  gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Änderung des Tierschutzgesetzes Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie- – Drucksache 17/10572 – sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsaus- Überweisungsvorschlag: schuss (8. Ausschuss) nun nicht mehr zur Mitberatung, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und jedoch zusätzlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung Verbraucherschutz (f) überwiesen werden: Rechtsausschuss  Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Bildung, Forschung und CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Technikfolgenabschätzung Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie- der Unternehmensbesteuerung und des steuer- sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem lichen Reisekostenrechts Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- – Drucksache 17/10774 – sen werden: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Innenausschuss  gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Rechtsausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vor- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO schriften Einwände höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 17/10754 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Abgabe einer Regierungserklärung durch die Verbraucherschutz Bundeskanzlerin Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung  Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Europäischen Rat am 18./19. Oktober (B) 2012 in Brüssel (D) Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie- sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Frak- Innenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung über- tion vor. wiesen werden: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor- rung Eindreiviertelstunden vorgesehen. – Auch dazu schlag für eine Verordnung des Rates über die darf ich Ihr Einvernehmen feststellen. Dann ist das so Erweiterung des Geltungsbereichs der Verord- beschlossen. nung (EU) Nummer 1214/2011 des Europäi- schen Parlaments und des Rates über den Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra- die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. ßentransport von -Bargeld zwischen Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gliedstaaten des Euro-Raums – Drucksache 17/10759 – Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Überweisungsvorschlag: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Finanzausschuss (f) Meine Damen und Herren! Inmitten der schwersten Innenausschuss  Krise seit Verabschiedung der Römischen Verträge vor Rechtsausschuss  55 Jahren, inmitten der größten Bewährungsprobe, die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wir Europäer seither zu bestehen hatten, genau in dieser Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie- Zeit wird am letzten Freitag in der Hauptstadt eines sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushalts- europäischen Landes, das selbst kein Mitglied der Euro- ausschuss (8. Ausschuss) zusätzlich gemäß § 96 der päischen Union ist, einer der bedeutendsten Preise der Geschäftsordnung überwiesen werden: Welt an die Europäische Union vergeben. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Wenig, wie ich finde, macht die Dramatik der gegen- CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- wärtigen Lage Europas mit einem Schlag so deutlich wie setzes zu Änderungen im Bereich der gering- die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die fügigen Beschäftigung Europäische Union. – Drucksache 17/10773 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23811

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Wenig zwingt uns so sehr, uns die Größe der Aufgabe Manches ist bereits geschafft. In diesen drei Jahren der (C) unserer politischen Generation bewusst zu machen, wie Krise haben wir im Übrigen weit mehr geschafft als in diese Entscheidung in Oslo am letzten Freitag. Ich finde, vielen Jahren vorher in Europa. dies ist eine wunderbare Entscheidung, Wir können die Konturen einer Stabilitätsunion be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reits deutlich erkennen. und zwar deshalb, weil das Nobelpreiskomitee den Frie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) densnobelpreis gerade nicht in den Jahren europäischer Triumphe und Glücksmomente – zum Beispiel 1990 Viele Mitgliedstaaten unterziehen sich harten Reformen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs oder 2004 nach und Anpassungsprogrammen, um ihre spezifischen Pro- der Osterweiterung der Europäischen Union –, sondern bleme – das sind Staats- und Auslandsverschuldung, jetzt verliehen hat. Bankenkrisen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit – in den Griff zu bekommen. In der Zeit der Krise ist diese Entscheidung weit mehr als nur eine Würdigung. Sie ist weit mehr als eine Erin- Dies gilt auch für Griechenland. Davon konnte ich nerung an den Ausgangspunkt der europäischen Eini- mich bei meinem Besuch in Athen in der letzten Woche gungsidee nach Jahrhunderten des Mordens und persönlich überzeugen. Der griechische Ministerpräsi- Sterbens auf europäischen Schlachtfeldern. Diese Ent- dent Samaras wird uns auf dem Rat einen Zwischenbe- scheidung ist so bedeutend, weil sie genau jetzt kommt. richt über den Stand seiner Verhandlungen mit der Denn damit ist sie als Mahnung zu verstehen. Mehr Troika geben. noch, sie ist Ansporn und Verpflichtung, und zwar für uns alle in Europa, das Wichtige vom Unwichtigen zu Es besteht überhaupt kein Zweifel: Die Lage in Grie- trennen und den Kern der Bewährungsprobe, in der wir chenland ist alles andere als einfach. Vieles geht zu lang- uns ja nun sichtbarerweise befinden, immer wieder zu sam. Maßnahmen, die längst hätten umgesetzt werden sehen. müssen, sind immer noch in Arbeit. Die Rezession ist weit stärker als erwartet. Strukturelle Veränderungen Dieser Kern unserer Bewährungsprobe kann in einem werden oftmals nur im Schneckentempo durchgeführt. einfachen Satz ausgedrückt werden: Der Euro, um des- Die Verwaltung arbeitet an vielen Stellen unzureichend, sen Stärke wir mit vielen Instrumenten und Maßnahmen und Betrug und Korruption sind immer noch nicht voll- gerade ringen, ist weit mehr als eine Währung, ständig eingedämmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der LINKEN: Fast wie in der Bun- der Euro steht symbolhaft für die wirtschaftliche, soziale desregierung!) (B) (D) und politische Einigung Europas – mit großer Wirkung Ich kann gut verstehen, warum die große Mehrheit weit über Europa hinaus. der griechischen Bürger wütend darauf reagiert, dass Das ist der Grund, warum die Überwindung der Krise wohlhabende Griechen ihren Beitrag zur Lösung der im Euro-Raum seit nunmehr bald drei Jahren die Agenda Probleme ihres Landes nicht leisten wollen. Angesichts aller G-8-Treffen, aller G-20-Treffen und fast aller Euro- dessen ist es menschlich absolut nachvollziehbar, warum päischen Räte der Staats- und Regierungschefs be- sich so viele Griechen schwer damit tun, einzusehen, stimmt. Wir haben seit Anfang 2010 allein zehn Räte ge- dass die größte Zahl der Probleme zu Hause entstanden habt. Auch heute und morgen, beim elften Europäischen ist und deshalb auch nur zu Hause gelöst werden kann. Rat der Staats- und Regierungschefs, wird das nicht an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ders sein. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Die Pro- Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur die bleme, mit denen wir uns beschäftigen, die Probleme, eine Seite der Medaille. Ich habe bei meinem Besuch mit denen wir zu kämpfen haben, sind nicht über Nacht auch die andere Seite der Medaille gesehen. In Athen, in entstanden. Deshalb können sie auch nicht über Nacht der griechischen Regierung, bei vielen in Wirtschaft und gelöst werden. Sie sind auf eine mangelnde Wettbe- Gesellschaft erlebe ich einen ernsten Willen zur Verän- werbsfähigkeit, sie sind auf die Überschuldung einzelner derung, den Willen, die eigenen Hausaufgaben zu ma- Mitgliedstaaten chen, um so das Land in eine bessere Zukunft zu führen und Mitglied des Euro-Raums bleiben zu können. (Zuruf von der LINKEN: Auf Ihre Politik!) Ich möchte exemplarisch unseren Kollegen Hans- sowie auch auf Gründungsfehler des Euro zurückzufüh- Joachim Fuchtel nennen, der als deutscher Verantwortli- ren. cher für die Deutsch-Griechische Versammlung zusam- Wir begeben uns bei der Lösung dieser Probleme auf men mit vielen Griechen und vielen Deutschen einen un- Neuland. Es gab und es gibt nicht die Lösung, den einen ermüdlichen Beitrag leistet, Befreiungsschlag, womit die Krise auf einen Schlag aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Welt geschafft worden wäre. Auch der Gipfel heute und morgen wird nicht der letzte sein, der sich mit der um das Gemeinwesen auch von unten wieder aufzu- Überwindung der Krise im Euro-Raum befasst. Es wer- bauen. Das ist der Weg, den wir natürlich parallel gehen den weitere folgen; denn die Stärkung des Euro ist ein müssen. Ich möchte deshalb Danke sagen. Er heißt in Prozess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen. Griechenland – das hat er mir gesagt – „Fuchtelos“. 23812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und im Übrigen auch bei allen Ländern an der Industriepro- (C) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei duktion, die zum Teil wieder zu wachsen beginnt. Defi- Abgeordneten der SPD und der LINKEN) zite in den Leistungsbilanzen gehen zurück, auch Defi- zite im Haushalt. Man kann sagen, dass sich diese Ich finde, das ist ein schöner Name für seine Arbeit. Länder in vielen Faktoren in die richtige Richtung bewe- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen. Aber dieser Reformweg ist natürlich noch lange Das ist sehr vertrauenserweckend!) nicht beendet, und er muss weiter gegangen werden. Das heißt, wir können sagen: Es ist ein Anfang gemacht. Wir Meine Damen und Herren, weil es so ist – wir kennen dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Weil die eine Seite der Medaille, und wir kennen die andere nachhaltige Konsolidierung und Wachstum einander be- Seite der Medaille –, kann und werde ich dem Bericht dingen, deshalb muss beides gleichermaßen verfolgt der Troika hier und heute nicht vorgreifen. Aber ich wie- werden. derhole, was ich bereits an anderer Stelle, beim Besuch des griechischen Ministerpräsidenten genauso wie bei An dieser Stelle möchte ich noch einmal sagen: Na- meinem Besuch in Athen, gesagt habe: Ich wünsche mir, türlich wissen wir, dass wieder Wachstum entstehen soll. dass Griechenland im Euro-Raum bleibt. Ich wünsche Natürlich wissen wir, dass Wachstum kein Selbstzweck mir das nicht nur, weil Griechenland unser Freund und ist, sondern dass es um Beschäftigung in diesen Ländern Partner in der Europäischen Union wie auch in der geht. NATO ist, sondern auch, weil dies immer noch, trotz al- ler Schwierigkeiten, im Interesse Griechenlands selbst (Zuruf von der SPD: Ja, klar! Sie auch?) wie auch der Euro-Zone und der Europäischen Union als Natürlich wissen wir, dass rund 50 Prozent der jungen Ganzes ist. Das ist die Haltung, mit der ich, mit der die Menschen in Spanien, in Griechenland und auch in an- Bundesregierung, mit der wir den Bericht der Troika ab- deren Ländern – das ist ein sehr hoher Prozentsatz – warten sollten; wir sollten nicht vorher richten, sondern heute arbeitslos sind. Aber wir wissen doch aus eigener uns die Ergebnisse anschauen. Erfahrung, dass nur durch Reformen am Arbeitsmarkt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – durch Strukturreformen und solide Haushalte überhaupt Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wieder Beschäftigung entstehen kann. Das ist doch kein Aha! Ganz schön offen, Frau Merkel!) Mysterium. Wachstum entsteht aus unternehmerischer Tätigkeit, unternehmerische Tätigkeit entsteht aus der Griechenland muss die verabredeten Maßnahmen, zu notwendigen Flexibilität, und das müssen wir in Europa denen das Land sich verpflichtet hat, einhalten. In mei- wieder schaffen, meine Damen und Herren. Da liegt der nen Gesprächen mit Ministerpräsident Samaras in Athen Schlüssel. (B) und erneut gestern am Rande des EVP-Gipfels in Buka- (D) rest habe ich den ernsthaften Willen gespürt, das zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaffen und damit den Verpflichtungen nachzukom- Deshalb haben wir ja auch, parallel zu all den Pro- men. Sobald der Troika-Bericht vorliegt, werden die grammen, die für die Länder ausgearbeitet wurden, und Entscheidungen über eine Auszahlung der nächsten zu all den Vorschlägen, die die Europäische Kommission Tranche hier im Deutschen Bundestag zu treffen sein, gemacht hat, den Pakt für Wachstum und Beschäftigung nirgendwo anders, und das werden wir gemeinsam dis- in der Europäischen Union erarbeitet. Deshalb haben wir kutieren. uns ja auch in diesem Hause nach langer Diskussion ge- Auf dem Rat wird uns auch der spanische Minister- meinsam darauf geeinigt, dass dieser Pakt für Wachstum präsident Rajoy über die Situation in seinem Land unter- und Beschäftigung neben dem Fiskalpakt ein wichtiger richten. Der Bericht über die Rekapitalisierung der Ban- Schritt ist, um die Probleme der Europäischen Union zu ken – das haben wir verfolgt – liegt inzwischen vor. Ob lösen. und inwieweit Spanien darüber hinaus Hilfe aus dem Ich sage auch: Trotz aller Gegensätze, die wir hier in ESM benötigt, ist allein – ich habe das in allen Gesprä- diesem Hause haben: An den entscheidenden Stellen ha- chen mit dem spanischen Ministerpräsidenten immer ben wir uns immer wieder zusammengerauft. Ich möchte wieder deutlich gemacht – die Entscheidung Spaniens. Danke dafür sagen, dass das möglich ist, Die Bedingungen für Hilfsanträge sind durch die Richtli- nien des ESM völlig klar vorgegeben; sie sind inzwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- schen auch vom Deutschen Bundestag verabschiedet rufe von der SPD) worden. und das nicht, weil die Gegensätze dabei vertuscht wer- Meine Damen und Herren, wir wissen, dass den Men- den sollen – das ist doch gar nicht der Gegenstand –, schen in Spanien, in Griechenland und in den anderen sondern weil die große Mehrheit dieses Hauses glückli- betroffenen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abver- cherweise solche Gegensätze für die Sache Europas zu- langt wird. Die sehr harten Reformmaßnahmen bedeuten rückstellt und sagt: Was für Europa gut ist, das machen natürlich viele Einschnitte für viele Bürgerinnen und wir gemeinsam. Bürger in diesen Ländern. Aber wir sehen auch, dass es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ergebnisse gibt: In Irland, in Portugal, in Spanien, aber eben auch in Griechenland sind die Lohnstückkosten Meine Damen und Herren, die Konturen einer Stabili- deutlich gesunken. Dies ist ein wichtiger Faktor für die tätsunion zeichnen sich aber auch deshalb ab, weil wir Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Wir sehen das inzwischen dauerhafte Instrumente der Krisenbewälti- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23813

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) gung haben. Schon vor gut zwei Jahren hat sich die derjenige, der diesen Fiskalvertrag ratifiziert hat, auch (C) christlich-liberale Koalition dafür eingesetzt, Hilfen aus dem ESM bekommen kann. Da zeigt sich die Verbindung dieser beiden Maßnahmen. (Zurufe von der SPD: Oh) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus zu schaffen. Wir haben gewusst, dass 2013 die EFSF aus- Wir haben also Instrumente zur Krisenbewältigung. läuft, und wir haben uns deshalb rechtzeitig – denn wir Wir haben Reformen in den einzelnen Mitgliedstaaten. wussten, dass dabei schwierige rechtliche Fragen zu klä- Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt. ren sind – für einen solchen dauerhaften Rettungsschirm Aber, meine Damen und Herren, damit sind die Konstruk- eingesetzt. tionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion insge- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE samt noch längst nicht beseitigt. Wir brauchen mehr. Des- GRÜNEN]: Eingesetzt?) halb haben uns auf dem letzten Rat im Juni die Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen Jetzt kann ich sagen: Wir haben ihn heute. Er ist ver- Kommission, der Euro-Gruppe und der Europäischen abschiedet. Er ist ein dauerhaftes Instrument zur Bewäl- Zentralbank Vorschläge für die Fortentwicklung der tigung der Krise. Ich möchte einmal zwei Jahre zurück- Wirtschafts-und Währungsunion vorgelegt, und inzwi- denken. Wenn wir damals gefragt hätten: „Wer in schen haben genau dazu mit den Mitgliedstaaten Konsul- Europa ist denn jetzt dafür?“, dann hätte man gesagt: tationen stattgefunden. Das ist nie zu schaffen. Uns leitet dabei ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen be- Nur weil Deutschland an vielen Stellen vorangegan- schließen – und das im Dezember –, wie wir die Wäh- gen ist, rungsunion weiterentwickeln wollen. Ich sage: Diese (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiterentwicklung ist unverzichtbar, und sie ist Voraus- Wo sind wir denn vorangegangen?) setzung dafür, Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Zu- sammenhang mit der Währungsunion zurückzugewin- sind wir heute in Europa dort, wo wir sind, nämlich dass nen. Ich sage: Nur so können wir die Vertrauenskrise wir zum Beispiel ein dauerhaftes Krisenbewältigungsin- überwinden. strument haben. Heute und morgen, beim Europäischen Rat, wird es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht darum gehen, konkrete Entscheidungen zu treffen, sondern es muss darum gehen, die Weichen für Dezem- Wir haben noch etwas von Anfang an gesagt – und ber zu stellen, Grundlagen für die Entscheidungen zu das ist der Maßstab unseres Handelns –: Solidarität auf schaffen, die richtigen Fragen zu stellen und Arbeitsauf- (B) der einen Seite im Rahmen des ESM geht Hand in Hand (D) träge zu verteilen, wie wir diese Fragen bis zum Dezem- mit Bedingungen und Auflagen für die jeweiligen Mit- ber lösen können. gliedstaaten. Unter dieser Voraussetzung haben wir stets solidarisch gehandelt und werden das auch in Zukunft Dabei ist für mich klar: Die erneuerte Wirtschafts- und tun. Währungsunion soll von vier starken Säulen getragen Von besonderer Bedeutung für eine zukünftige Stabi- werden: erstens von mehr gemeinsamer Finanzmarkt- litätsunion ist jedoch ohne Zweifel die Stärkung des Sta- politik, zweitens von mehr gemeinsamer Fiskalpolitik, bilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben ihn im ver- drittens von mehr gemeinsamer Wirtschaftspolitik und gangenen Jahr so ausgestattet, dass Fehlentwicklungen viertens von einer gestärkten demokratischen Legitima- in einzelnen Mitgliedstaaten in Zukunft nicht mehr die tion und Kontrolle. Stabilität des Euro als Ganzes gefährden werden. Sie Zum ersten Punkt: mehr gemeinsame Finanzmarkt- kennen das – in Anführungsstrichen, sehr volksnah aus- politik. Die weltweite Finanzkrise hat uns dramatisch gedrückt – als „Six-Pack“. vor Augen geführt, dass ein unzureichend regulierter Aber das reicht natürlich noch nicht, um die notwen- Bankenmarkt ganze Staaten an den Rand des Abgrunds dige Verbindlichkeit und damit auch neue Glaubwürdig- führen kann. Um so etwas für die Zukunft zu verhindern, keit zu schaffen. Meine Damen und Herren, es geht ja im ist eine starke Finanzmarktregulierung sowohl bei uns zu Kern immer wieder um Verbindlichkeit und Glaubwür- Hause als auch in Europa als auch weltweit notwendig. digkeit. Denn im Kern ist die europäische Staatsschul- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: denkrise eine Vertrauenskrise, eine Vertrauenskrise des Warum blockieren Sie denn dann?) Euro. Wir sind in Europa hier schon Schritt für Schritt voran- Deshalb haben wir neben dem ESM auch den Fiskal- gekommen, um die notwendigen Regelungen zu finden. vertrag beschlossen. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat, Dies ist für mich heute nicht der Ort, um darüber zu eine Schuldenbremse einzuführen, und die Einführung sprechen. Aber außerordentlich erfreulich ist – das ist dieser Schuldenbremse kann dann vom Europäischen Ge- ein Fortschritt gegenüber Juni –, dass sich endlich elf richtshof überprüft werden. Zehn Mitgliedstaaten haben Staaten bereit erklärt haben, die Finanzmarkttransaktion- diesen Fiskalvertrag bereits ratifiziert – vor wenigen Ta- steuer einzuführen, gen auch Frankreich –, und ich bin deshalb sehr zuver- sichtlich, dass Anfang 2013 dieser Fiskalvertrag in Kraft (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: treten kann. Im Übrigen wird es dann so sein, dass nur Ich denke, Sie blockieren das jetzt!) 23814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) und das ist eine gute Nachricht, meine Damen und Her- und wozu wir Beschlüsse fassen müssen. Das ist der (C) ren; denn viele hier in diesem Hause haben ja dafür ge- Punkt. Deshalb ist das eine komplizierte, aber leistbare kämpft. Aufgabe, der wir uns mit ganzem Elan verschreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, damit kommen wir zur neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- zweiten Säule einer erneuerten Wirtschafts- und Wäh- SES 90/DIE GRÜNEN) rungsunion: Das ist mehr gemeinsame Fiskalpolitik. Bei der Stärkung der Haushaltsdisziplin sind wir zuletzt mit Für mehr gemeinsame Finanzmarktpolitik brauchen dem Fiskalvertrag durchaus ein gutes Stück vorange- wir allerdings auch eine gemeinsame Bankenaufsicht, kommen. Aber wir sind der Meinung – das sage ich für die effizient und unabhängiger von den nationalen Ein- die ganze Bundesregierung –: Wir könnten hier sehr gut flüssen ist. Dabei soll die Europäische Zentralbank eine ein Stück weiter gehen, indem wir der europäischen zentrale Rolle spielen. Die Europäische Kommission hat Ebene echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalen uns zu dieser Bankenaufsicht im September einen Vor- Haushalten gewähren, dort, wo die vereinbarten Grenz- schlag vorgelegt. Er wird nun beraten. Wir setzen uns werte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht einge- dafür ein, die Arbeiten auf dieser Grundlage zügig vo- halten werden. Ich weiß: Die Bereitschaft hierzu zeigen ranzutreiben. Das ist vor allen Dingen auch eine Auf- viele Mitgliedstaaten noch nicht. Aber ich sage auch: lei- gabe der Finanzminister. Allerdings sage ich an dieser der. Stelle: Qualität muss vor Schnelligkeit gehen; denn wenn wir zum Schluss etwas haben, das wieder nicht Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns weiter besser ist als alle schon bestehenden Aufsichtsgremien, dafür starkmachen werden. Genau in dem Moment, in dann können wir uns die Arbeit sparen. Darauf werden dem wir einen solchen Mechanismus hätten, dass ein wir in den Beratungen dringen. Haushalt für ungültig erklärt werden könnte und dies auch vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) könnte, wären wir an dem Punkt, dass wir natürlich in der Kommission jemanden brauchen, der dazu die Auto- Wir haben vereinbart, dass die Vorschläge der Kom- rität hat und dies tun kann. Das wäre in diesem Fall der mission bis Ende des Jahres geprüft werden sollen. Die Währungskommissar. Ich bin schon verwundert: Kaum Finanzminister arbeiten, wie ich schon sagte, mit Hoch- hat jemand einen fortschrittlichen Vorschlag gemacht, druck. Dann muss sich das Europäische Parlament mit eine Idee gegeben, wie wir mehr Verbindlichkeit, mehr dem Entwurf befassen. Der Präsident des Europäischen Glaubwürdigkeit bekommen können, kommt sofort das Parlaments hat selbst gesagt: Das Europäische Parlament Geschrei: Das geht nicht, Deutschland ist isoliert, wir wird es in diesem Jahr nicht mehr schaffen, dazu ab- (B) werden das nie schaffen. So bauen wir kein glaubwürdi- (D) schließende Beschlüsse zu fassen. ges Europa. Wir sollten nicht alle Vorschläge sofort vom Ich sage Ihnen nur: Es gibt eine Vielzahl komplizier- Tisch wischen. ter rechtlicher Fragen. Damit mache ich das Thema nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schwieriger, als es ist. Fragen Sie einmal Länder, die nicht zur Euro-Zone gehören, die aber gemeinsam mit Statt dass wir uns überlegen, wie wir mehr Verbind- Ländern, die zur Euro-Zone gehören, Banken haben, wie lichkeit und mehr Glaubwürdigkeit bekommen können, bei einer Verantwortlichkeit der EZB die Bankenaufsicht erleben wir eine permanente Diskussion, wie wir mehr geregelt werden soll. Fragen Sie bitte, wie man die geld- gemeinsame Haftung für Staatsschulden bekommen politische Verantwortung der EZB genau trennt von der können. Auch der Zwischenbericht der vier Präsidenten Aufsichtsverantwortung. Diese Fragen müssen gut ge- enthält diese Elemente wieder. Ich sage: Ich halte das für löst werden. Deutschland wird sich dort mit allem Elan einen ökonomischen Irrweg. einbringen; das ist nicht unser Problem. Aber das Ergeb- nis muss so sein, dass die Glaubwürdigkeit dadurch ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bessert wird und wir hinterher nicht noch schlechter da- der FDP) stehen als heute. Denn wir setzen so nicht die richtigen Anreize, um uns in die richtige Richtung zu entwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt überlegen wir einfach einmal: Wo läge eigent- Die Einrichtung eines wirksamen Aufsichtsmechanis- lich die demokratische Legitimation, wenn wir uns für mus ist dann die Voraussetzung für eine spätere Ent- eine gemeinsame Haftung in Europa entscheiden wür- scheidung über eine direkte Bankenrekapitalisierung den? Der wesentliche Kern der Haushaltsverantwortung durch den ESM. Ich will es hier ganz deutlich sagen: Der – das wird auf lange Zeit so bleiben – sind die Budgets bloße Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für eine der nationalen Staaten. Bankenaufsicht reicht nicht aus, sondern diese Banken- aufsicht muss arbeitsfähig sein, sie muss effektiv han- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) deln können. Denn hier reden wir darüber, dass der ESM eines Tages Banken rekapitalisiert in Ländern, in die wir Solange das so ist, müsste beispielsweise die französi- dann eingreifen müssen sche Nationalversammlung über die deutsche Staatsver- schuldung mitbestimmen, ebenso wie der Bundestag ( [Erfurt] [SPD]: Sie wollen über die französische, die italienische oder die spani- das! Wir wollen das nicht!) sche. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23815

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die zu verbindlichen und durchsetzbaren Reformver- (C) NEN]: Nein, nein!) pflichtungen der Mitgliedstaaten führen, ohne dass na- tionale Kompetenzen, das Subsidiaritätsprinzip oder de- Schon dieses Beispiel zeigt doch, dass es faktisch un- mokratische Verfahren untergraben werden. möglich ist, in diesem Bereich als Erstes die Haftung zu vergemeinschaften und weiter nationale Budgets zu ha- Deshalb stellen wir uns vor, dass die Mitgliedstaaten ben. Das wird nicht funktionieren. Das ist nicht die Sta- zu diesem Zweck verbindliche Reformvereinbarungen tik, die wir brauchen. Deshalb lehnen wir das ab. mit der europäischen Ebene schließen, denen dann die jeweiligen nationalen Parlamente zustimmen. Dann ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sozusagen die demokratische Legitimierung gegeben, Wir brauchen aber – das ist die dritte Säule – mehr ge- dass ein Nationalstaat sich verpflichtet, bestimmte Dinge meinsame Wirtschaftspolitik. Der frühere Kommissions- umzusetzen. Um dann allen Mitgliedstaaten auch die präsident hat bereits 1989, als es um die Möglichkeit zu geben, zur Verbesserung ihrer Wettbe- Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion ging, werbsfähigkeit wirklich in der Lage zu sein, diese Ver- einen Bericht vorgelegt. Darin heißt es sehr weitsichtig pflichtungen umzusetzen, schlage ich vor, dass wir ein – ich zitiere –: neues Element der Solidarität einführen, einen Fonds, aus dem zeitlich befristet projektbezogen, also nicht un- Eine gemeinsame Währung erfordert ein hohes bestimmt, sondern ganz projektbezogen Gelder in An- Maß an Übereinstimmung in den Wirtschaftspoliti- spruch genommen werden können. ken sowie einer Reihe anderer Politikfelder, vor al- lem in der Fiskalpolitik. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch auch gemeinsame Haf- Die europäische Staatsschuldenkrise um den Euro zeigt, tung, Frau Bundeskanzlerin!) wie scharfsichtig und richtig die Analyse Jacques Delors’ war. Denn nicht alle Länder werden gleichzeitig ihre Haus- haltskonsolidierung und die notwendigen Investitionen Die Krise zeigt uns, dass Fehlentwicklungen in ein- in Zukunftsaufgaben schaffen. zelnen Mitgliedstaaten tatsächlich den gesamten Euro in Bedrängnis bringen können. Deshalb müssen wir uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ganz im Sinne von Jacques Delors jetzt um die Politik- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: felder kümmern, in denen wir ein hohes Maß an Über- Das sind Euro-Bonds durch die Hintertür!) einstimmung brauchen. Diese Felder sollten wir bis zum Ich sage: Ja, wir brauchen Solidarität. Aber wir brau- Dezember identifizieren, um dann zu sagen: Wenn wir chen eine Form der Solidarität, die uns auch wirklich zu hier nicht mehr Übereinstimmung bekommen, dann wer- (B) dem führt, was wir brauchen, nämlich mehr Wettbe- (D) den wir auch in Zukunft ein Problem haben. werbsfähigkeit, mehr Angleichung der Wettbewerbsfä- Wo wird denn eine stärkere wirtschaftspolitische Ko- higkeit der Mitgliedstaaten. ordinierung notwendig sein? Sie wird ganz wesentlich dort notwendig sein, wo Kernbereiche nationaler Souve- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ränität berührt sind: in der Arbeitsmarktpolitik, in der NEN]: Aha!) Steuerpolitik, also in vielen Fragen, die in der nationalen Meine Damen und Herren, wir haben doch gesehen, Diskussion hochsensibel sind. Zu glauben, die einzige dass nicht konditionierte Finanzzahlungen, wie sie bei Antwort darauf sei, alle diese Politikfelder jetzt verge- den Strukturfonds, wie sie bei den Kohäsionsfonds viel meinschaften zu müssen – das wäre die klassische euro- zu sehr vorgekommen sind, nicht nur nicht geholfen ha- päische Integrationslogik –, das, glaube ich, führt uns in ben, sondern in den Ländern zum Teil Fehlentwicklun- die Irre. gen weiter unterstützt haben. Daraus müssen wir die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und richtigen Lehren ziehen. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich können wir über Mindeststandards bei Steu- Deshalb ist gemeinsame Haftung die falsche Antwort. ern reden; wir reden darüber seit 10, 15 Jahren. Dazu Wir brauchen vielmehr eine dezidierte Solidarität. kann ich nur sagen: Wenn wir so vorgehen, dann werden wir nicht den Euro retten, dann werden wir nicht die Sta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bilität unserer gesamten Kooperation verbessern, son- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dern dann werden wir mit einigen Ländern noch in Jah- Wer haftet denn für den Fonds?) ren und Jahrzehnten darüber reden, wie wir es denn nun Ich will ganz deutlich sagen, dass ein solcher Fonds halten. zum Beispiel gespeist werden könnte von den Einnah- Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor. Wir men aus der Finanztransaktionsteuer. brauchen Lösungen, die einen sinnvollen Ausgleich her- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellen zwischen notwendigen Eingriffsrechten der euro- NEN]: Oi!) päischen Ebene, um Fehlverhalten und Regelverstöße immer wieder zu korrigieren, und dem Selbstbestim- – Natürlich! – Das würde vielleicht sogar dazu führen, mungsrecht und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaa- dass noch mehr Euro-Mitgliedstaaten eine Finanztrans- ten und ihrer Parlamente. Wir brauchen auch Lösungen, aktionsteuer einführen. 23816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Euro-Raum betreffen. Darüber müssen wir diskutieren. (C) DIE GRÜNEN]) Da kann man doch nicht immer von Anfang an sagen: Das geht nicht. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft. Meine Damen und Herren, darüber, wie die Gelder – So kommt Europa nicht weiter. Wir werden uns dieser ausgegeben werden, wird natürlich auf der Grundlage Diskussion stellen, meine Damen und Herren. der mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Verträge die Kommission zusammen mit dem Rat und dem Europäi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Parlament – das ist doch ganz klar – wachen, wie Ziel des heute beginnenden Europäischen Rates ist es das auch bei anderen Zahlungen im europäischen Rah- also, den weiteren Prozess so zu strukturieren, dass wir men der Fall ist. im Dezember dieses Jahres ein Gesamtpaket zur Weiter- Dies soll kein Closed Shop sein – das haben wir entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion be- schon nicht beim Fiskalvertrag gemacht –, sondern wir schließen können, inklusive eines klaren Zeitplans. Das sagen ausdrücklich: Alle Länder, die vielleicht morgen gilt für die Euro-Zone; aber selbstverständlich sind, wie oder übermorgen im Euro sein wollen, können sich an beim Fiskalvertrag, alle eingeladen. Beim Fiskalvertrag diesem Fonds beteiligen, wenn sie gleichzeitig bereit machen 25 Mitgliedstaaten mit, obwohl nur 17 im Euro sind, mit der Kommission bindende Vereinbarungen ab- sind. zuschließen über die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfä- Die nachhaltige Stabilisierung und Fortentwicklung higkeit. der Wirtschafts- und Währungsunion ist die zentrale Des Weiteren geht es viertens um die Frage der demo- politische Herausforderung unserer Zeit, und sie ist ent- kratischen Legitimation, die von allergrößer Bedeutung scheidend für die Zukunft der Europäischen Union ins- ist. Ich habe mehrmals gesagt, dass wir zur Bewältigung gesamt. Deshalb möchte ich allen, die mit dazu beitragen dieser Krise mehr Zusammenarbeit in Europa brauchen, und Vorschläge machen, die uns voranbringen, ganz also mehr statt weniger Europa. Aus meiner Sicht führt herzlich danken: neben Wolfgang Schäuble ganz beson- der Weg zu einer erneuerten Wirtschafts- und Währungs- ders , union, einer Stabilitätsunion, die diesen Namen auch (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verdient, in einigen Bereichen ganz eindeutig zu einer NEN]: Oh! Guido!) Stärkung der Rolle der Kommission, des Rates und des Europäischen Parlaments und auch des Europäischen der sich mit einer Reihe von Außenministern über genau Gerichtshofs. diese Fragen Gedanken gemacht hat. Dies ist im Übrigen auch sehr wichtig für den Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: In einer Rede mit (B) menhalt der Europäischen Union; denn von den 27 Mit- (D) gliedstaaten sind 17 im Euro. Immer wieder kommt die Herrn Fuchtel! Schön, Westerwelle! – Weitere Frage: Wollt ihr einen Teil ausschließen? Wollt ihr eine Zurufe von der SPD: Oh! Oh!) Zweiklassengesellschaft? Ich sage: Nein, das wollen wir – Sie murren, weil Ihnen das alles nicht passt. Ich sage nicht. Aber wenn ein Teil in der verstärkten Zusammen- Ihnen nur: Mit dem Hinweis darauf, was alles nicht geht, arbeit – und so etwas ist ja der Euro – spezielle Probleme und mit den falschen Methoden der Vergangenheit wer- hat, dann können wir doch nicht sagen: Diese Probleme den wir Europa nicht voranbringen. Wir bringen Europa lösen wir nicht, weil noch nicht alle dabei sind. – Aus nur voran, indem wir aus den Fehlern, die wir in der Ver- diesem Grund muss es also mehr demokratische Legiti- gangenheit gemacht haben, lernen. Nur so bringen wir mation und Kontrolle geben, und dieses muss Hand in Europa nach vorne. Hand mit mehr Integration gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jede Entscheidung – das ist das Prinzip – muss auf der Ebene legitimiert und kontrolliert werden, auf der sie Ohne Zweifel: Die Schritte, die wir jetzt gehen müs- getroffen wird. Das heißt, dort, wo die europäische sen, um dieses Ziel zu erreichen, werden zu einer neuen Ebene gestärkt wird, muss auch das Europäische Parla- Qualität in der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in ment gestärkt werden. Wo im Kern nationale Kompeten- der Euro-Zone und darüber hinaus führen. Diese neue zen betroffen werden, kann die demokratische Legitima- Qualität ist nach unserer Auffassung zwingend notwen- tion nur über die Parlamente der nationalen Staaten dig. Allerdings – auch das will ich hier ganz offen an- gehen, das heißt, dann müssen wir dort entscheiden. sprechen – wäre es ganz fatal – das spüre ich an einigen Stellen schon –, wenn die von mir grundsätzlich be- Jetzt noch ein Wort zu der Frage: Wie ist das denn, grüßte Ankündigung der Europäischen Zentralbank, bei wenn Entscheidungen auf europäischer Ebene zu treffen klaren Konditionen unbegrenzt am Sekundärmarkt zu in- sind, die nur den Euro-Raum betreffen? Da habe ich in tervenieren, jetzt dazu führen würde, dass die politischen vielen Gesprächen mit Parlamentariern des Europaparla- Anstrengungen in Richtung einer stärkeren Wirtschafts- ments nicht gehört: Man darf nicht darüber nachdenken, und Währungsunion aus genau diesen Gründen nachlas- ob dann vielleicht nur die Parlamentarier aus den Euro- sen. Das wäre genau die falsche Antwort. Ländern abstimmen. – Es gibt eine ganze Menge von in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und teressanten Ideen, wie man Ausschüsse gründen oder be- der FDP) stimmte Sitzungen durchführen kann, um zu gewährleis- ten, dass nicht diejenigen, die gar nicht Mitglieder des Es darf bei allen Instrumenten, die wir zur Eindäm- Euro-Raums sind, über Dinge entscheiden, die nur den mung der Krise brauchen und die uns zur Verfügung ste- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23817

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) hen, niemals übersehen werden, dass am Ende nicht die Faktoren zusammenkommen: Technologie, Talente und (C) Krisenmaßnahmen die Lösung bringen, sondern nur eine Toleranz. – Ich glaube, genau diese drei Dinge machen verbindliche politische Architektur. Nur so werden wir die europäische Stärke aus: Talente, Technologie und einen dauerhaft stabilen Euro bekommen. Dies muss Toleranz. Denn es sind natürlich immer die Menschen, über den Weg der Erneuerung der Wirtschafts- und Wäh- die wissenschaftlich-technischen Fortschritt möglich rungsunion erzielt werden. Nur dann kann das gelingen, machen. was seit Beginn der Krise unser Ziel ist: (Zuruf von der SPD: Ach!) ( [DIE LINKE]: ist abgelaufen!) Es ist die Innovation, von der Europa lebt. Anders werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Es Dann kann Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als sind der wirtschaftliche und soziale Fortschritt und der es in die Krise hineingegangen ist, und dann wird Eu- soziale Ausgleich, für den Europa wie keine andere Re- ropa auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb be- gion auf dieser Erde steht. Das ist das, was wir das Prin- stehen können. zip der sozialen Marktwirtschaft nennen. Es sind die Worum geht es bei dieser europäischen Vertrau- Kraft der Toleranz, die Kraft der Rechtsstaatlichkeit, die enskrise denn eigentlich? Es geht darum, eine stabile, Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen zu ertragen und zukunftsfähige Architektur zu bauen. Aber eigentlich Widersprüche auszugleichen, und der Wille, Pressefrei- geht es um die Frage, ob sich Europa mit seinen Werten heit und Religionsfreiheit zu ermöglichen, in einem und Interessen im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhun- Wort: „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“, die derts behaupten kann; das heißt auch, ob Europa seinen Europa seit mehr als sechs Jahrzehnten tragen. Wohlstand, seinen Lebensstandard und seine Art, zu le- Die Toleranz – davon bin ich ganz überzeugt – befä- ben, erhalten kann. higt uns, aus Europas unveränderter Vielfalt von Spra- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen und Kulturen, aber mit heute ganz gemeinsamen Werten, das Beste zu machen. Diesen Werten und Zielen Meine Damen und Herren, dies führt mich zum Aus- zu dienen und sie im Alltag zu leben, uns also in diesem gangspunkt meiner Überlegungen zurück: zu der überra- Sinne des Preises von Alfred Nobel würdig zu erweisen, genden Bedeutung, die die Verleihung des Friedensno- ist jede Mühe und Anstrengung wert. belpreises an die Europäische Union für uns in Europa hat. Ja, es geht immer auch darum, niemals zu vergessen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedens- Das wird auch der Geist sein, in dem wir heute und idee war, die Idee, dass die Völker Europas nie wieder morgen in Brüssel beraten werden, wo doch jeder vorher (B) Krieg gegeneinander führen, was sie über Jahrhunderte sagt: Die Vielfalt ist so groß, Europa ist zerstritten, die (D) getan haben, mit unglaublichem Blutvergießen und dem werden keinen Millimeter vorankommen. Ich sage Ih- Opfer vieler Menschenleben. Aber für die heute Jungen, nen: Wir werden vorankommen, und zwar genau in dem die Europa nur als Hort des Friedens kennen und glückli- von mir beschriebenen Sinn, weil die Werte, die uns ei- cherweise noch nie einen Krieg erlebt haben, geht es da- nen, Werte und Ziele sind, mit denen Europa auch im rum, ob wir in der Lage sind, den Nachweis zu erbrin- weltweiten Wettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehen gen, dass wir aufbauend auf dem, was wir geerbt haben, kann, weil wir uns alle, alle Staats- und Regierungschefs eine gute Zukunft gestalten können. Die gute Zukunft ist der Europäischen Union, aller 27 Mitgliedstaaten, dem doch ganz konkret: Können wir für die jungen Menschen Geist verpflichtet fühlen und weil wir die gemeinsamen in Europa wieder Arbeitsplätze schaffen? Können wir si- Werte auch wirklich teilen. cherstellen, dass der Wohlstand auch für die Zukunft ge- sichert ist? Können wir sicherstellen, dass Menschen auf Wir wissen, dass wir in Europa in Freiheit leben. Wir ein gutes Gesundheitssystem und auf eine gute Alterssi- wissen, dass wir in Europa Demokratie haben. Wir wis- cherung vertrauen können? Das alles sind doch die sen, dass man in Europa auch demonstrieren kann, wenn Dinge, die Europa auszeichnen. einer den anderen besucht. Wir wissen aber auch: Dafür geht keiner ins Gefängnis, wenn er nicht gerade gewalt- In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung der Rö- tätig geworden ist. Das eint uns; dafür werden wir arbei- mischen Verträge – ich habe es am Anfang schon gesagt – ten. Menschlich und erfolgreich wollen wir sein, in Frie- zum 55. Mal. Als wir den 50. Jahrestag der Unterzeich- den und Freiheit. nung der Römischen Verträge hier in Berlin gefeiert haben, haben wir an diese Anfangszeiten zurückgedacht. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das war das Jahr, in dem Deutschland die europäische (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU Präsidentschaft innehatte. und der FDP) Zu Beginn dieser Präsidentschaft 2007 habe ich im Europäischen Parlament in Straßburg gesprochen. Da- Präsident Dr. Norbert Lammert: mals habe ich in meiner Rede im Europäischen Parla- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ment in Straßburg schon einmal die Frage gestellt: Wie ner dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion werden denn eigentlich Regionen weltweit erfolgreich? das Wort. Ich habe mich damals auf den amerikanischen Wissen- schaftler Richard Florida bezogen, der sagt: Am erfolg- (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Die reichsten entwickeln sich Regionen dann, wenn drei Rede ist kostenlos?) 23818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Peer Steinbrück (SPD): nur auf eine intergouvernementale Veranstaltung von (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 25 Männern und zwei Frauen zu reduzieren. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ebenso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, freuen wir So- DIE GRÜNEN) zialdemokraten uns über die Verleihung des Friedens- nobelpreises an die Europäische Union. In einer Zeit, in Es geht in der Tat um die Behauptung des Zivilisa- der viele Europäer in der Tat an Europa zweifeln, in tionsprojektes „Europa“. Der Historiker Heinrich August einer Zeit, in der viele den Wert Europas nur noch an den Winkler redet über das normative Projekt des Westens Zinssätzen an den internationalen Finanzmärkten bemes- unter Einschluss Nordamerikas in einer Welt dynami- sen, erinnert uns das Nobelpreiskomitee in Oslo daran, scher Veränderungen mit neu aufstrebenden Ländern und dass Europa weit mehr ist als ein Wechselbalg der Kontinenten. Verliert Europa aber seine Wirkungsmacht Ratingagenturen. durch Uneinigkeit und Renationalisierung – und sei es auch noch so fahrlässig –, werden wir auch die Attrakti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vität dieses Zivilisationsprojektes nicht behaupten kön- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen. Wir müssen dem Nobelpreiskomitee, wie ich glaube, Ja, Frau Bundeskanzlerin, was Europa zu bieten hat, dankbar sein, dass es uns und auch der Welt einen Fin- ist einmalig in der Welt: Gewaltenteilung, Achtung der gerzeig darauf gegeben hat, warum Europa nach dem Menschenrechte, Minderheitenschutz, Sozialstaatlich- dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 Erbfeindschaf- keit, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit, Presse- ten und einen mörderischen Nationalismus überwand, freiheit, Demonstrationsfreiheit, die Trennung von Staat aber auch, wofür es in Zukunft immer gebraucht wird. und Kirche – das Erbe der Aufklärung. Aber diese Rede und diese Beschreibung Europas, die hätten Sie schon Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirt- vor zwei Jahren geben müssen. schaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigens einen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ außerordentliche Mitverantwortung für das Wohlergehen DIE GRÜNEN) Europas. Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehr einer Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Bei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trägen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert. Denn es waren unsere westlichen Nachbarn und sehr Kein Rettungsschirm und keine gemeinschaftliche An- (B) weitsichtige Staatsmänner, die uns schon wenige Jahre strengung sind deshalb zu groß, um dieses Europa für (D) nach dem Krieg trotz schrecklicher Erfahrungen, trotz 500 Millionen Menschen, ihre Kinder und ihre Kindes- unsäglicher Verbrechen einluden, an dieser europäischen kinder zu bewahren. Kleinmut würde dem nicht gerecht. Einigung teilzuhaben. Es waren übrigens auch unsere (Beifall bei der SPD) europäischen Nachbarn, die sich über die deutsche Wie- dervereinigung freuten, obwohl sie mit einem starken Deutschlands Zukunft ist Europa. In diese Zukunft Deutschland in der zentraleuropäischen Geografie über werden wir investieren müssen, genauso wie wir in die Jahrhunderte sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat- deutsche Wiedervereinigung investiert haben. Das end- ten. Sie hatten uns von den Montan-Verträgen zu Beginn lich den Bürgern unseres Landes zu sagen, Frau Bundes- der 50er-Jahre über die EWG, Römische Verträge 1957, kanzlerin, und zu erklären, das ist Ihre Pflicht. die EG bis zur Europäischen Union inzwischen als gute, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verlässliche und vor allen Dingen hilfsbereite Europäer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kennengelernt. Und dabei sollte es bleiben. Deutschland wird mit Blick auf Griechenland im Kon- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zert weiterer europäischer Länder weitere Verpflichtun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen übernehmen müssen. Sagen Sie das endlich den Menschen! Neben allem, worüber wir heute diskutieren und sicherlich auch streiten werden, dürfen wir nicht verges- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen, worum es in Wahrheit bei diesem einmaligen Pro- DIE GRÜNEN) jekt Europa geht: um dauerhaften Frieden, um dauer- In der Welt des 21. Jahrhunderts braucht Europa eine hafte Freiheit, um dauerhafte Demokratie für alle gemeinsame Stimme; denn es wird so sein, dass weder Menschen auf unserem Kontinent. Gerade weil – wie der der chinesische noch der indische Staatspräsident und französische Philosoph André Glucksmann sagt – De- nicht einmal der US-amerikanische Präsident 27 euro- mokratien dazu neigen, die tragische Dimension ihrer päische Staats- und Regierungschefs anrufen wird, um Geschichte gelegentlich zu ignorieren oder zu vergessen, sich bei Ihnen nach der europäischen Auffassung in zen- und gerade weil sich die Bürger in der anhaltenden Kri- tralen Fragen wie Krieg und Frieden, Finanzarchitektur, sendebatte mit all ihren Fachbegriffen, in all ihrer Kom- Weltklima, Menschenrechte zu erkundigen. Will sagen: plexität zunehmend orientierungslos und überfordert Entweder wir haben eine Stimme, oder wir haben keine fühlen, dürfen wir Politiker den Fehler nicht fortsetzen, Stimme. dieses Europa nur auf eine Währungsunion, nur auf ein Zentralbanksystem, nur auf einen gemeinsamen Markt, (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23819

Peer Steinbrück (A) Genau diese Gemeinsamkeit steht aber auf dem Spiel; Euro-Skeptiker in Ihrer eigenen Koalition und in Ihrem (C) denn es ist offensichtlich, dass Europa an einer Weg- politischen Anhang nicht verprellen. Sie wollen einer- gabelung steht. Für die Europäische Währungsunion seits auf einer Stimmungswoge surfen, die sich maßgeb- drückt sich das in einem nach wie vor pendelnden Kon- lich aus dem Ressentiment gegen eine deutsche Zahl- flikt zwischen einer gemeinsamen Währung einerseits meisterrolle speist. Aber Sie wollen andererseits und nationalen souveränen Rechten und Parlamentarisie- natürlich niemals in diese Woge eintauchen, weil Sie rung auf der anderen Seite aus. Diesen Konflikt haben darüber Ihre Stimme und Ihre Reputation in Brüssel ein- wir bisher nicht aufgelöst. Entweder wir gehen den Weg büßen würden. zurück in einen losen Staatenverbund mit einem gemein- samen Markt, in dem jeder für sich selbst verantwortlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist, gegebenenfalls auch abstürzt, oder wir gehen den Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem so Weg einer weiteren europäischen Einigung und der Par- lange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitäten lamentarisierung. Das ist exakt die Grundsatzfrage, die so stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen. Das wir zu erörtern haben. galt für den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mai 2010. Das galt für den permanenten Rettungsschirm des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ESM, den es nach einer Wette von Herrn Schäuble eigentlich nie hätte geben sollen. Das galt für das So schwer es auch sein wird: Wir dürfen nicht zulas- Draghi-Konzept des notfalls ungebremsten Aufkaufs sen, dass aus diesem in 60 Jahren gebauten europäischen von Staatsanleihen. Das gilt für die Direktkapitalisierung Haus einzelne Steine wieder herausgebrochen werden. von Banken durch den ESM unter der Voraussetzung Dies gilt auch dann, wenn einzelne Staaten Fehler und einer Bankenunion, mit der Sie entgegen einem Be- Versäumnisse zu verantworten haben wie Griechenland schluss des deutschen Haushaltsausschusses einen mas- und wenn sie mit die Ursache für eine Krise ihrer eige- siven Systemwechsel vornehmen. Das gilt demnächst nen Volkswirtschaft sind. Ist erst einmal der erste Stein wahrscheinlich auch für eine Fristverlängerung zur Er- aus diesem Gebäude herausgebrochen, dann werden füllung der Sparauflagen für Griechenland, die Christine weitere folgen. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war es Lagarde, Managing Director des IMF, gefordert hat. ein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben, Dies würde aber konsequenterweise zu einem dritten dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monate- Hilfspaket für Griechenland oder einer Aufstockung des lang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Grie- zweiten Hilfspaketes führen – und damit zu einer Befas- chenland in der Europäischen Währungsunion betrieben sung des Deutschen Bundestages. hat. (Beifall bei der SPD) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Aber nun auf einmal – sehr genau registriert in der LINKEN) letzten Woche; o Wunder! – gibt es eine 180-Grad-Wen- Sie haben nicht eingegriffen. Sie haben sich nicht be- dung: Kein Wort mehr von dem Rauswurf Griechen- kannt. Sie haben laviert. Sie haben Herrn Dobrindt ge- lands aus der Euro-Zone. Stattdessen erklärt Bundes- währen lassen, der gesagt hat: „Ich sehe Griechenland finanzminister Schäuble in Singapur zur Frage eines 2013 außerhalb der Euro-Zone.“ Sie haben Herrn Söder möglichen Austritts aus der Euro-Zone: „There will be gewähren lassen, der an Griechenland sogar ein Exem- no Staatsbankrott“. pel statuieren wollte. Sie haben Herrn Rösler gewähren (Lachen bei der SPD) lassen, der darauf hinwies, dass für ihn ein Austritt Grie- chenlands längst seinen Schrecken verloren habe. Sie Selbst Herr Brüderle säuselt, dass er eine zeitliche Ent- haben Herrn Brüderle gewähren lassen, der einer Zei- koppelung für Athen zur Erfüllung der Reformauflagen tung wörtlich gesagt hat, dass der Bitte Griechenlands, nicht mehr ausschließt. In einem luziden Anfall räumt er noch einmal zwei Jahre Zeit zu erhalten, nachdem es ein, dass ein Aufschub auch Geld kostet. seine Verträge nicht erfüllt hat, nicht stattgegeben wer- den sollte. Sie haben auch dem FDP-Generalsekretär (Heiterkeit bei der SPD) Döring nicht widersprochen, der die Folgen einer mögli- Alle Achtung! Ja, aber um Himmels Willen, Frau Bun- chen griechischen Staatspleite für beherrschbar hielt. deskanzlerin, warum haben Sie denn ein solches Be- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zwei Wochen kenntnis zum Verbleib von Griechenland nicht im den früheren CDU-Vorsitzenden und ehemaligen Bun- Sommer 2010 abgegeben? deskanzler geehrt. Ehre, wem Ehre ge- bührt. Ich sage Ihnen: Weder Helmut Kohl noch einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihrer Vorgänger hätte zugelassen, einen europäischen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Nachbarn derart für innenpolitische Händel zu missbrau- LINKEN) chen. Wo war Ihr zweites Fukushima, das Sie zu einer solchen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 180-Grad-Wende in Europa und unter den Baum der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erkenntnis von Herrn Schäuble gebracht hat? Dieses Doppelspiel haben Sie uns und der deutschen (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ Öffentlichkeit sehr lange vorgespielt. Sie wollen die CSU) 23820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Peer Steinbrück (A) Das Phänomen der Verspätung ist auch in Ihrem heu- werden in einer Rezession landen, und auch in Deutsch- (C) tigen Beitrag deutlich geworden. Sie reden hier plötzlich land hat die goldene Zeit von 2010, 2011, 2012 erkennbar von einem zweiten Jacques-Delors-Plan – so als ob das und absehbar ein Ende. Es wird die Frage auftauchen, ob besonders originell ist. Sie sind nicht originell, Sie hin- Sie nicht gegebenenfalls auch die Kurzarbeitergeld-Re- ken hinterher. Meine Fraktion hat von einem solchen gelung wieder reaktivieren müssen, wie das die Gewerk- Plan schon vor zwei Jahren von diesem Pult aus gespro- schaften längst fordern, mit Blick darauf, dass insbeson- chen. dere Maschinenbau und Automobilbau wieder eine Situation erleben, die dies erfordert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Das Porzellan, meine Damen und Herren, das inzwi- schen zerschlagen wurde, bleibt zerschlagen, und dieses Es bleibt die Erkenntnis, Frau Bundeskanzlerin, dass zerbrochene Porzellan in Europa ist gestörtes Vertrauen. ohne Wachstum kein dauerhafter Schuldenabbau mög- Sie haben übrigens auch zu häufig mit der ökonomi- lich ist. schen Macht Deutschlands gedroht oder zumindest dro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hen lassen. Nur an Ihnen ist diese Erkenntnis lange vorbeigegangen. (Dr. [CDU/CSU]: Ich sehe eine erste Revision, auch nachdem ich Ihre Kavallerie!) Rede beim Deutschen Arbeitgebertag vor zwei Tagen In Frankreich fallen deshalb Worte vom industriellen gelesen habe. Aber wir sind inzwischen weiter. Selbst Imperialismus der Deutschen. Manche Stimme erhebt der IMF, der nicht im Verdacht orthodoxer sozialdemo- sich, die fragt, ob wir wieder einen neuen Sonderweg ge- kratischer Wirtschaftspolitik steht, hat in seinem Wirt- hen. Selten war Deutschland in Europa so isoliert wie schaftsausblick festgestellt, dass die Sparprogramme heute. inzwischen negative Auswirkungen auf die Wirtschafts- leistungen der Länder haben. (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Dann hören Sie sich genau um in den Hauptstädten Das Ergebnis dieser Politik ist, dass die Krise über die Europas. Wir werden jedenfalls noch lange nach Ihrer Währungsfrage hinaus in den letzten Jahren keineswegs Amtszeit spüren, Frau Bundeskanzlerin, welches Porzel- kleiner geworden ist; sie ist größer geworden. Ihre Stabi- lan dort zerschlagen worden ist. litätsunion ist letztendlich nichts anderes als eine Fata Morgana, die Luftspiegelung einer Scheinstabilität. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Mit dem (B) Thema haben Sie ordentlich abkassiert!) Allein Deutschland haftet inzwischen summa summa- (D) rum für 100 Milliarden Euro über die Rettungsschirme. – Werden Sie nicht nervös. Das war auch von Ihnen eine Wenn ich die möglichen Belastungen der Deutschen ganz luzide Einlassung, ein Hinweis auf meine Honorar- Bundesbank hinzuzähle, ist das noch sehr viel mehr. verträge. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit – ich (Heiterkeit bei der SPD) bin mir nicht sicher, ob Sie noch zu Korrekturen bereit Und was höre ich aus den Beratungen heute beim Präsi- sind – eine große Fehleinschätzung zugrunde. Diese denten mit Blick auf Ihr Zustimmungsverhalten zu einer Fehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zu Verschärfung der Transparenzrichtlinie? halten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war, nämlich eine Verschuldungskrise. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Zuruf von der SPD: Ja!) LINKEN) Der ursächliche Einfluss der Finanz- und Bankenkrise Vor allem, meine Damen und Herren, sind die Ergeb- – übrigens mit der Folge von Verschuldungen von Staa- nisse Ihrer Politik völlig anders als von der Bundesregie- ten, weil sie zur Stabilisierung der Banken und für Kon- rung vorhergesagt. Sie sagen tagaus, tagein und landauf, junkturprogramme Geld aufnehmen mussten – und vor landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führen allen Dingen auch die wirtschaftlichen Ungleichge- wollen. Schauen wir uns die Realität an: Die wichte, die strukturellen Disparitäten innerhalb der Eu- Jugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländern ropäischen Währungsunion und Europäischen Union ist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größer kamen in Ihrer Analyse nicht vor. Sie wurden ausgeblen- als 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als det. 50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europa und Demokratie, wenn sie sich so von der weite- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren Entwicklung ausgeschlossen fühlen? Aus einer einseitigen Krisenanalyse folgt dann auch lo- (Beifall bei der SPD) gischerweise eine einseitige Therapie: Sparen, Sparen, Sparen. Die Krise in den Südländern der Europäischen Union bewegt zunehmend Menschen, ihr Land zu verlassen. Um zu ermessen, wie groß die ökonomische Torheit Die ökonomischen Perspektiven für die Euro-Zone sind ist, die in der simplen Gleichung „Stabilität durch Spa- für das nächste Jahr alles andere als gut. Viele Länder ren“ liegt, sollten wir gemeinsam einen Ausflug in die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23821

Peer Steinbrück (A) deutsche Geschichte machen. Denn die Brüning‘sche fonds zur Rekapitalisierung von Banken gehört, der (C) Sparpolitik Anfang der 1930er-Jahre, nicht von den Steuerzahlern finanziert wird, sondern von den Banken. (Zurufe von der FDP: Oh!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die genau dieser Logik folgte, hat eines garantiert nicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gebracht, nämlich Stabilität und Prosperität. LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens gehört dazu ein echter Wachstums- und Be- schäftigungspakt für Europa. Hier darf man daran erin- Not zerstört Demokratie. Hunger frisst gesellschaftli- nern, dass es zwei Jahre und 25 Gipfel gebraucht hat, um che Stabilität, meine Damen und Herren. Das gilt auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, und konservativ-liberale heute in den Ländern, die davon betroffen sind. Kräfte in Europa davon zu überzeugen, dass ein solcher Wachstums- und Beschäftigungspakt benötigt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frie- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar den. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhän- Bartsch [DIE LINKE]) gig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängig Der Punkt ist, dass nach dem Beschluss vom Juni von der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Sta- 2012 wenig getan worden ist. Das denke ich mir nicht bilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Län- aus, sondern, wie der Brief des Ratspräsidenten Van dern inzwischen längst in einer Unwucht. Rompuy vom 8. Oktober über die konkrete Einlösung Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meine der Ankündigungen dieses Beschäftigungs- und Wachs- Damen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einer tumspaktes ausweist, ist bisher sehr wenig – um nicht zu gesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das Land sagen: gar nichts – geschehen. Wir erwarten, dass der und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich Europäische Rat dies jetzt korrigiert und die Dinge auch dem Wohl des Gemeinwesens und dem „Wohlstand für mit Blick auf die Tätigkeit der Europäischen Investi- Alle“ verpflichtet fühlt. Lautete so nicht ein Bestseller tionsbank ans Laufen bringt. Ihres Ahnherrn und wichtigen Impulsgebers für das Sys- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tem der sozialen Marktwirtschaft? Wir wollen darüber DIE GRÜNEN) reden, wie wir das wiederherstellen können. Wir haben das in Deutschland schon einmal geschafft, und darum Besonders gern schaut die Bundesregierung weg, (B) geht es auch jetzt. wenn es um die eigenen Hausarbeiten der Bundesrepu- (D) blik Deutschland geht. Vorsichtig formuliert: Es gibt von Es gilt für Deutschland wie für Europa: Wir müssen dieser Bundesregierung keine Vorreiterrolle beim Schul- in unserem Land und auf unserem Kontinent wieder eine denabbau in Europa. neue soziale Balance schaffen. Solange wir in Europa nicht in der Lage sind, den Menschen wieder Hoffnung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu geben, dass Anstrengungen und Fleiß sich lohnen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass es gerecht zugeht, dass niemand aus der Verantwor- tung für das Gemeinwohl entlassen wird, dass all denje- Bei null Zinsen für deutsche Staatsanleihen, bei spru- nigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen, delnden Steuerquellen, bei entlastenden Effekten auf und ihnen die Würde des Lebens durch Solidarleistun- dem Arbeitsmarkt müsste es doch möglich sein, die gen gewährleistet wird, so lange kommt Europa nicht Schuldenbremse des Grundgesetzes deutlich vor 2016 wieder auf die Beine. einzuhalten und diese Vorreiterrolle in Europa zu doku- mentieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen: Wenn wir davon reden, dass die länder- spezifischen Empfehlungen, die von der Kommission Im Kern geht es darum, die bewährten Mechanismen gegeben werden, umgesetzt werden sollen, dann sehen und den bewährten Ausgleich der sozialen Marktwirt- wir: Es ist Deutschland auch hier nicht der Vorreiter und schaft, die Deutschland stark gemacht hat, auf Europa zu das Vorbild; denn in diesen länderspezifischen Empfeh- übertragen. Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar: lungen steht zum Beispiel drin: kein Betreuungsgeld. Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja, dazu sind auch Sparanstrengungen, Konsolidierung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Strukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dass DIE GRÜNEN) dies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulse Da steht explizit drin: Verzicht auf das unsägliche Be- für Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es in treuungsgeld. Es steht explizit drin: keine Steuersenkun- Europa gerecht zugeht. gen. Und es steht explizit drin: die Einführung eines (Beifall bei der SPD) Mindestlohns in Deutschland. Vordringlich ist zweierlei: eine wirksame Banken- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Finanzmarktregulierung und, ja, in der Tat auch eine DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Gregor Bankenunion, zu der dann allerdings auch ein Banken- Gysi [DIE LINKE]) 23822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Peer Steinbrück (A) Die Frage ist: Wie wollen Sie denn andere Länder zur tes Ganzes nach dem Wunder von 1989/90 gemeistert (C) Befolgung der länderspezifischen Empfehlungen veran- wurde. lassen, wenn Sie selber die auf uns bezogenen länderspe- Die aktuelle Herausforderung ist die anhaltende zifischen Empfehlungen gar nicht umsetzen und ignorie- Krise, die eben nicht nur eine Krise unserer Währung ist. ren? Das stärkt ja nicht gerade die Glaubwürdigkeit, und Wir merken, dass diese Krise mehr als Geld kosten das stärkt auch nicht Ihre Reputation und die Stimme, könnte, nämlich Legitimation durch die Bürgerinnen die Sie in diesem europäischen Konzert haben. und Bürger. Wer die Einigung unseres Kontinentes in die Für mich ist der Maßstab, wie wir als Sozialdemokra- Zukunft fortentwickeln will, der braucht eine neue Be- ten jetzt und im Weiteren die Vorschläge der Van- gründung, und diese Begründung kann, wie Sie richtig Rompuy-Gruppe diskutieren, ziemlich einfach. Es geht sagen – ich stimme dem zu –, nicht mehr allein die Be- um vier Fragen: zugnahme auf den Krieg zwischen 1914 und 1945 sein. Das versteht vielleicht meine Generation, die noch in Erstens: Wer zahlt für das vorgeschlagene Euro-Zo- Trümmergrundstücken großgeworden ist; aber schon un- nen-Budget, wer haftet dafür? sere Kinder verstehen es nicht mehr. Europa muss sich (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!) neu konstituieren und neu erklären. Sind es zusätzliche Mittel, oder sind es Mittel, die ohne- Ob Klimawandel, Migration, Bevölkerungswachs- hin in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen wer- tum, Rohstoffversorgung, Nahrungsmittelversorgung, den? Gibt es, bezogen auf die Verwendung dieser Mittel, demografischer Wandel oder auch soziale Spaltungsten- eine demokratische Kontrolle? denzen – auf all diese globalen Herausforderungen mit ihren teilweise dramatischen Konsequenzen für jede und Zweitens: Führen die Vorschläge nicht einfach nur zu für jeden von uns, genau dafür kann Europa Antworten mehr Europa, sondern auch zu einem besseren Europa, liefern. weil es eine bessere Bankenaufsicht und eine bessere Bankenabsicherung gibt, weil es eine besser verzahnte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, weil es eben auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neue Möglichkeiten für ein antizyklisches Verhalten Dieses Europa, meine Damen und Herren, muss aber gibt? Oder verlieren sich die Vorschläge in der langen ein Europa mit einem inneren Gleichgewicht und damit Reihe von diversen Initiativen wie der Europa-2020- ein sozial gerechtes Europa der Chancen für alle sein. Strategie, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Se- Nur ein solches Europa ist stark und attraktiv genug, alle mester, dem Two-Pack, dem Six-Pack, dem Pakt für Mitgliedstaaten und den dort lebenden und arbeitenden Wachstum und Beschäftigung, dem Fiskalpakt? Ich Menschen Freiheit, Frieden, Schutz, soziale Ordnung, (B) (D) meine: Wer blickt da noch durch, und wer betreibt ei- Sicherheit und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nur gentlich eine Wirkungsanalyse all dieser Initiativen? wenn uns das gelingt, ein solches Europa in den Blick zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen, wird die Erfahrung der Regierenden wieder in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Regierten zu bringen sein. Es ist also an Ihnen zuerst, Frau Bundes- Drittens: Führen diese Vorschläge zu einem Mehr an kanzlerin, und an Ihrer Regierung, aber auch an uns allen Demokratie, weil sie das Europäische Parlament einbin- hier im Hause, dass wir diesen Weg konsequent und den und stärken, oder schreiben sie den Trend zu einer konzentriert fortsetzen. Ihre Politik der letzten zwei „Vergipfelung“ der europäischen Politik fort? Jahre und auch Ihre heutige Rede sind dem nicht gerecht geworden. Viertens: Wird Europa zwischen den 17 Mitgliedstaa- ten der Europäischen Währungsunion und den 10 weite- Vielen Dank. ren Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auseinan- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall dergetrieben, oder schaffen wir eine positive Dynamik beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für ein handlungsfähiges Europa, das trotz gewisser Bin- nendifferenzierung weiterhin zusammensteht und zu- sammenhält? Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Rainer Auf alle diese Fragen habe ich heute von Ihnen noch Brüderle das Wort. keine Antworten bekommen, aber zu diesen Fragen wer- den wir nachhaken und nacharbeiten müssen, Frau Bun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten deskanzlerin, wenn Sie die Zustimmung meiner Fraktion der CDU/CSU) zu wahrscheinlich notwendigen weiteren Rettungspake- ten bekommen wollen. Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den War Europa nach dem verheerenden Zweiten Welt- letzten Wochen wurde viel über Nebentätigkeiten ge- krieg zuallererst eine Friedensgemeinschaft und zugleich sprochen. Ich wollte dazu eigentlich nichts mehr sagen. in den Zeiten des Kalten Krieges vor allen Dingen ein Raum für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, (Lachen des Abg. Jürgen Trittin – Jürgen so sind seit 1989 die Aufgaben noch einmal gewachsen. Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Die Erweiterung der Europäischen Union war die erste Ihnen der Spaß vergangen! – Sigmar Gabriel Herausforderung, die von Europa als neues, als ungeteil- [SPD]: Das glaubt Ihnen kein Mensch!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23823

Rainer Brüderle (A) Es wurde von vielen Seiten vieles erklärt. Nicht alles hat (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) zum Ansehen von uns Parlamentariern beigetragen. NEN]: Zu welchem Thema sind Sie denn an- getreten?) Aber nach Ihrer Rede muss ich doch eines betonen, Herr Kollege Steinbrück: Bundeskanzler ist keine Ne- Die Bundesregierung und die Forschungsinstitute sagen bentätigkeit; das ist die schwierigste Aufgabe, die deut- für 2013 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus. sche Politik zu vergeben hat. Will die SPD, wollen Sie, Herr Steinbrück, die deutsche Wirtschaft in eine Rezession führen? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Darauf einen Schoppen Wein, Herr (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Genau das Brüderle! Hatten Sie schon einen?) machen Sie doch gerade!) Heute sind Sie größtenteils den Beweis schuldig geblie- Herr Trittin hat am Wochenende ein wahres Enteig- ben, sich der Größe der Aufgabe bewusst zu sein. nungsprogramm für breite Teile der Bevölkerung ange- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kündigt. Die Vermögensteuerpläne von Trittin treffen Millionen und nicht Millionäre. Das ist ein Anschlag auf Steinbrück weiß es besser – aber immer erst hinterher; das Eigentum. Er will das auch noch rückwirkend ma- so ist es bei ihm. chen. Da wird der demokratische Rechtsstaat einfach au- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ßer Kraft gesetzt. Hier kommen die alten Reflexe des der CDU/CSU) Kommunistischen Bundes Westdeutschland bei ihm wieder hoch. Die Lehman-Pleite war für Sie ein amerikanisches Pro- blem ohne Auswirkungen auf Deutschland. Kurze Zeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten später haben Sie erklärt: der CDU/CSU) Dass die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich Diese Woche trat Herr Trittin bei der Bundesvereinigung mitgeschüttelt wird, ist kein Wunder. der Deutschen Arbeitgeberverbände in feinem Zwirn auf; aber darunter trägt er immer noch das Mao-Jäck- , IKB, WestLB: Bei jeder großen Ban- chen, das ist einfach seine Einstellung. kenpleite der letzten Jahre hatten Sie irgendwie Ihre Fin- ger drin. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN) CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Was?) Die christlich-liberale Koalition widmet sich den gro- (B) Man ist versucht, zu sagen: Holt bloß nicht den ßen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Eu- (D) Steinbrück rein, sonst geht ihr pleite. ropa stehen; das hat die Bundeskanzlerin heute sehr (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der deutlich gemacht. Die Europäische Union steht mitten in CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der schwersten Bewährungsprobe ihrer Geschichte. der SPD) Ökonomen sagen: Die Euro-Zone ist kein optimaler Währungsraum, zwei Dinge fehlen: die volle Mobilität Kürzlich haben Sie in der Welt am Sonntag vor Inflation auf dem Arbeitsmarkt und die politische Union. Die durch die Anleihenkäufe der EZB gewarnt. Da haben Sie mangelnde Mobilität der Arbeitskräfte ändert sich ge- ökonomisch recht; ich unterstütze das. Aber vor einem rade, wenn auch unter dramatischen Vorzeichen, in Süd- Jahr haben Sie erklärt – ich zitiere wörtlich –: Allerdings europa. Wer Europa als Ganzes sehen will, wird verste- zeigen die Fed der USA und die Bank of England, dass hen, dass Europa einen gemeinsamen Arbeitsmarkt in Krisenzeiten genau dies – gemeint ist die Staatsfinan- braucht. Deshalb ist zu begrüßen, wenn gut ausgebildete zierung mit der Notenpresse – die Rolle von Notenban- Spanier oder Griechen einen Arbeitsplatz in Deutschland ken ist. – Das ist das komplette Gegenteil von dem, was suchen. Das ist ein Schritt der Integration und ein Schritt Sie heute behaupten. zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die größere Herausforderung ist die politische Union. der CDU/CSU) Als der Euro eingeführt wurde, war es vor allem wegen So wollten Sie die Inflationsmaschine anwerfen. der Bedenken Frankreichs nicht möglich, damals eine politische Union zu erreichen. Deshalb haben Helmut Was gilt denn nun? Wollen Sie die Bazooka für die Kohl, Hans-Dietrich Genscher und den Sta- EZB, oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie Zinssozia- bilitätspakt durchgesetzt. Das stabilitätspolitische Erbe, lismus durch Euro-Bonds, oder wollen Sie das nicht? das europapolitische Erbe von Helmut Kohl und Hans- Wo bleibt Ihr Plan für Deutschland, für Europa? Dietrich Genscher wurde von Rot-Grün verspielt. Bei Steuererhöhungen liefern Sie sich einen Wettlauf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit den Grünen. Auch da frage ich Sie: Was wollen Sie der CDU/CSU) denn nun? Wollen Sie wie der sozialistische Präsident in Frankreich den Wachstumseinbruch durch Ihre Steuer- Ich verkenne nicht, was Gerhard Schröder im Inland erhöhungen auch noch verschärfen? 30 Milliarden Euro geleistet hat, die Agenda 2010. Das war eine große Steuererhöhungen will die SPD. Das ist mehr als 1 Pro- Kraftanstrengung. Sie wird von den Liberalen meistens zent des Bruttoinlandsprodukts. mehr gewürdigt als von der Sozialdemokratie. 23824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Rainer Brüderle (A) Aber Gerhard Schröder hat Europa nicht weiterentwi- Aber man darf sich nichts vormachen. Selbst wenn (C) ckelt, sondern zurückentwickelt. Er hat einen Rück- Griechenland freiwillig zur Drachme zurückkehren schritt gemacht. Er hat ein Stück Renationalisierung mit würde, bedeutet das kein Ende der Finanzhilfen. Grie- auf den Weg gebracht. Gerhard Schröder sprach von chenland bleibt Mitglied der EU mit allen Pflichten und dem Euro als der „kränkelnden Frühgeburt“ – wörtlich. Rechten, auch dem Recht auf Solidarität. Vor allem eines Er hat seine Prophezeiung offensichtlich selbst erfüllen weiß keiner: Wie ist es mit der Ansteckungsgefahr Grie- wollen und gemeinsam mit Frankreich den Stabilitäts- chenlands? Es gibt die Kettentheorie, die besagt: Das pakt beerdigt. Er hat Griechenland in die Europäische Auswechseln des schwächsten Glieds stärkt den Rest. Es Union aufgenommen, obwohl es nicht die Voraussetzun- gibt die Dominotheorie: Wenn der Schwächste fällt, fal- gen für den Euro hatte. Ihre eklatanten Fehler, Ihre len die anderen hinterher. Beide Szenarien sind denkbar. Scherben, die Sie hinterlassen haben, müssen wir heute Beides sind Theorien, aber wir müssen in der Praxis Ent- wegräumen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. scheidungen treffen. Dabei helfen uns die Theorien nicht. Sie nehmen uns die Entscheidung nicht ab. Für die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – FDP ist der Weg der Entscheidung klar: Zuerst muss Axel Schäfer [] [SPD]: Das ist alles Griechenland seine Hausaufgaben machen, dann muss falsch! – Weitere Zurufe von der SPD) Griechenland die Klassenarbeit, sprich die Bewertung Ratspräsident Van Rompuy hat mit anderen Vor- durch die Troika, bestehen. Danach wird über die Verset- schläge für eine politische Union gemacht. Es ist ein mu- zung entschieden. Ein Fass ohne Boden darf es nicht ge- tiger Entwurf, auch wenn wir Liberale nicht alles teilen, ben. was dort aufgeschrieben wurde. Den Ansatz eines Eu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ropa der mehreren Geschwindigkeiten finde ich aber gut. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Herr Oberleh- Alle sind eingeladen, mitzugehen. Wer aber nicht mitge- rer!) hen will, soll diejenigen, die vorangehen wollen, nicht aufhalten dürfen. Darum geht es. „A plusieurs vitesses“ Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat fordert jetzt der französische Präsident. Europapolitisch – darauf sind wir alle ein Stück weit stolz – den Frie- ist er in der Realität angekommen. Ich bin optimistisch, densnobelpreis bekommen. Das ist das erfolgreichste dass er das finanzpolitisch auch noch hinbekommt. Friedensprojekt der Geschichte. Jetzt geht aber die Dis- kussion los: Wer holt den Preis ab? Wir wollen, dass Europa erfolgreich ist. Dazu kann ein Euro-Zonen-Budget sinnvoll sein. Exogene Schocks (Elke Ferner [SPD]: Sie schon mal nicht! – können einzelne Länder der Währungsunion treffen. Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir machen Zum Auffangen solcher Schocks haben wir kein Instru- es! Gysi holt ihn ab!) (B) (D) ment. Aber man muss die Bedingungen eines solchen In- Das zeigt: Europa hat noch immer nicht die eine Tele- struments auch klar definieren. Erstens. Es darf keine fonnummer, wie es Kissinger einmal ausgedrückt hat. Steighilfe für einen europäischen Finanzminister sein. Aber wir machen gerade Fortschritte. Wir brauchen Zweitens. Es darf nicht der Einstieg in Euro-Bonds sein. klare Strukturen. Europa muss von den Bürgern getragen Und drittens. Es darf nicht der Anlass zur Einführung ei- werden. Es braucht verständiges Recht. Das Recht muss ner EU-Steuer sein. eingehalten werden, das in Europa geschaffen und ver- Die Idee von Europa darf nicht darauf reduziert wer- einbart wird. Wir haben Defizite. Ich nenne als Beispiel den, lediglich immer mehr Geld nach Brüssel zu über- die Stimmenverhältnisse bei der Europäischen Zentral- weisen. Wenn überhaupt, kann es dabei nur um eine Um- bank. Dort ist Malta formal genauso stark wie Deutsch- schichtung bestehender Mittel gehen. land. Das bildet weder die Wirtschaftskraft noch die Be- völkerungszahl noch das Risiko ab, das Deutschland Nach der Präsidentschaftswahl in den USA erscheint gegebenenfalls zu tragen hätte. Auch bei den Wahlen der nächste Troika-Bericht. Er muss ernst genommen zum Europaparlament zählt eine deutsche Stimme weni- werden. Ich bin sehr gespannt, was der Kollege ger als andere. Ein bürokratischer Superstaat ohne de- Steinbrück dazu erklären wird; denn auch zum Thema mokratische Kontrolle ist falsch. Europa muss das Prin- Griechenland hat er alles im Angebot: Früher hat er eine zip „One , one vote – one man, one vote“ Insolvenz gefordert. Dann hat er vor diesem Schritt ge- erfüllen. Das ist Demokratie, die ihren Namen voll ver- warnt. Vor der Sommerpause war er gegen ein drittes dient. Wir brauchen diese weitere Demokratisierung Eu- Griechenland-Paket. Heute ist er dafür. ropas. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist er halt!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was soll denn das heißen?) Wie bei allen Reformen und großen Veränderungen wird man meines Erachtens allenfalls in der Zeitachse über Europa muss von einem Gefühl getragen werden. Eu- kleine Zugeständnisse an die griechische Regierung re- ropa muss erlebt und gelebt werden. Europa muss ein den können. Zeit kostet Geld. Das ist richtig. Eine Finan- Stück Faszination bieten. Mit immer mehr Zentralisie- zierung von Reformpausen wird es nicht geben dürfen. rung und größerer Bürokratie erreichen wir das nicht. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist eine klare Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen, sonst Linie dieser Koalition. bleibt Europa ein Projekt der Eliten. Europa muss in sei- nen Möglichkeiten erweitert werden, das aber solide und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stabil. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23825

Rainer Brüderle (A) Da darf man nicht mit Illusionen oder kurzfristigen (Beifall bei der LINKEN) (C) Effekten operieren. Ebenso verfehlt ist die Vorstellung der SPD, die die deutschen Exporte wieder drosseln will. Zweitens sind die EU-Länder einschließlich Deutsch- 50 Prozent unserer Exporte gehen an unsere europäi- land an einer Vielzahl von Kriegen beteiligt. Die EU- schen Nachbarn. Weshalb wollen die Sozialdemokraten Länder sind äußerst hoch aufgerüstet und besonders den Arbeitnehmern die Aufträge für Exporte in die euro- stark beim Export von Kriegswaffen, auch Deutschland. Die EU strebt ferner ein eigenes Militär an, um endlich päischen Nachbarländer nehmen? Sie sollten einmal die Realität anpacken, und Herr Steinbrück sollte sich da- auch an Kriegen außerhalb der EU teilnehmen zu kön- rüber klar werden, was er wirklich will, und nicht jedem nen. Dafür verdient man alles Mögliche, aber keinen etwas bieten, wie es gerade passt. Friedensnobelpreis. (Zuruf von der SPD: Das ist eine (Beifall bei der LINKEN) Beleidigung!) Kommen wir nun aber zur Euro-Krise und damit auch Steinbrück kann alles, nur nichts ist klar. zu Griechenland. Ich muss feststellen: Die Bundesregie- rung beginnt, in einigen Fragen zaghaft und vorsichtig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den Linken zu folgen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Präsident Dr. Norbert Lammert: Sigmar Gabriel [SPD]: Bei aller Kritik an der Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die Bundesregierung: Das wollen wir nicht hof- Fraktion Die Linke. fen!) (Beifall bei der LINKEN) – Ja, Moment. Was Sie jetzt zum Teil zu Europa sagen, ist das, was wir schon vor Jahren gesagt haben. Darf ich Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): den Mindestlohn als weiteres Beispiel anführen? Als Sie Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her- noch dagegen waren, haben wir ihn schon längst vorge- ren! Heute hat der Bundestagswahlkampf offiziell hier schlagen. Da waren auch noch die Grünen und die meis- im Bundestag begonnen. Das ist schon ein bisschen ten Gewerkschaften dagegen. Wir waren die Ersten, die merkwürdig; denn es gibt noch gar kein Wahlrecht etc. ihn gefordert haben. Heute klingt es in Deutschland so, als seien alle dafür. (Zuruf von der FDP: Wir sind aber auf einem guten Weg!) (Beifall bei der LINKEN) Aber das lasse ich alles mal dahingestellt sein. Darf ich daran erinnern, dass Sie alle für die Einfüh- (B) rung der Praxisgebühr waren? Die Einzigen, die sich ge- (D) Es wird für Sie schwer werden, Frau Bundeskanzle- gen die Praxisgebühr ausgesprochen haben, waren wir. rin, und auch für Sie, Herr Steinbrück, sich als Alternati- Jetzt reden Sie alle dagegen. ven zu präsentieren. Alle Europabeschlüsse haben Sie zusammen gefasst. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Auch bei der Finanztransaktionsteuer haben wir einiges erlebt; darauf komme ich noch zurück. Die Deregulierung der Finanzmärkte haben Sie unter der Regierung von Frau Merkel gemeinsam betrieben. Die Durch eine falsche Politik der EU und auch der Bun- prekäre Beschäftigung haben Sie in Deutschland in gro- desregierung sind unerträgliche Verhältnisse in Grie- ßem Ausmaß eingeführt. Wo soll sich denn da eine wirk- chenland, Portugal, Italien und Spanien entstanden. Der liche, knallharte Alternative abzeichnen, die wir meines Druck wird immer größer, Griechenland nicht abzu- Erachtens brauchen? bauen, sondern endlich aufzubauen. (Beifall bei der LINKEN) Selbst der Internationale Währungsfonds beginnt jetzt selbstkritisch festzustellen, dass die harten Kürzungs- Viele haben sich hier zum Friedensnobelpreis für die maßnahmen zulasten der Beschäftigten, zulasten des EU geäußert. Lassen Sie mich dazu etwas sagen: Die Mittelstandes und zulasten der kleinen und mittleren Un- Europäische Union hat es tatsächlich erreicht, dass ternehmen sowie der Rentnerinnen und Rentner nicht 60 Jahre lang Frieden zwischen den Mitgliedsländern nur übertrieben waren, sondern die Krise massiv ver- herrschte. Das ist in Anbetracht der europäischen Ge- schärft haben. Der Währungsfonds stellt die Kürzungs- schichte gar nicht hoch genug zu bewerten. Ich stelle programme also generell infrage. Das ist ein miserables fest, dass man in Asien, Afrika und Lateinamerika regio- Zeugnis für die Bundesregierung, die immer darauf be- nale Zusammenschlüsse wie die EU als erstrebenswert standen hat. ansieht. (Beifall bei der LINKEN) Aber es gibt auch eine andere Seite der EU. Die jetzige griechische Regierung macht aber alle Kür- Erstens bin ich sowieso dagegen, dass Institutionen zungen mit. Das Einzige, worum sie bittet, ist, dass sie ausgezeichnet werden. Dahinter stecken immer Men- für die Reformen zwei Jahre mehr Zeit bekommt. schen. Ich bin dafür, dass einzelne Menschen ausge- zeichnet werden, die sich wirklich für den Frieden enga- Herr Brüderle, es bleibt dabei: Es gab ein klares Nein gieren. von Ihnen; es gab ein klares Nein der Bundesregierung. 23826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi (A) Aber jetzt werden Merkel, Schäuble und Brüderle weich. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (C) Warum? Mit dieser Frage hat sich auch Herr Steinbrück Wissen Sie, Frau Bundeskanzlerin, wenn zu Ihrer beschäftigt; aber ich finde, er hat sie nicht vollständig Rede eine Aussprache stattfindet, sollte man ab und zu beantwortet. Ich komme noch darauf zurück. auch einmal hinhören und nicht eine solche Arroganz an den Tag legen. In Griechenland betragen die Kürzungen der Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft und der Renten jetzt (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 20 Prozent. Es gibt 30 Prozent weniger Steuereinnah- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE men. Das ist ein unvorstellbarer Rückgang, und er resul- GRÜNEN) tiert übrigens auch aus der Lohn- und Rentenkürzung. Wenn sich nun aber etwas verändert – ganz vorsichtig –, Deshalb gibt es auch eine höhere Verschuldung. Die dann liegt das in erster Linie an den Protesten in Grie- Wirtschaftsleistung selbst ist um 20 Prozent zurückge- chenland, auch in Spanien und in Portugal. Die Bevölke- gangen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Pro- rungen dort erzwingen eine Änderung der jeweiligen Re- zent. Das europäische Geld einschließlich des deutschen gierungspolitik, niemand anderes. Geldes wird auf diese Art und Weise in den Sand ge- setzt. So kann Griechenland ja gar nicht zurückzahlen. (Beifall bei der LINKEN) Ich behaupte: Das, was Sie hier angerichtet haben, ist Nachdem es so viel Kritik von Ihnen gab, sage ich: Ja, eine schwere Untreue zum Nachteil der Steuerzahlerin- unser Parteivorsitzender hat in Grie- nen und Steuerzahler in Deutschland. chenland für soziale Gerechtigkeit mit demonstriert. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Gegen Deutschland!) Es müssen immer diejenigen die Kosten der Krise tra- gen, die sie nicht verursacht haben. Warum haben die Darüber regen Sie sich auf. Wir wollen doch mehr Eu- Bundesregierung, der Internationale Währungsfonds, die ropa. Sagen Sie einmal: Darf ein Deutscher nicht in EU-Kommission und die Europäische Zentralbank bis- Griechenland demonstrieren? Darf Ihrer Meinung nach her nie gefordert, dass diejenigen, die die Krise verur- ein Grieche nicht in Deutschland demonstrieren? – Wo sacht und an ihr verdient haben, endlich auch die Kosten leben wir hier eigentlich? Das ist doch eine Selbstver- tragen? Nun gibt es einen Zwischenbericht der drei Ein- ständlichkeit. richtungen, und plötzlich werden Forderungen nach der (Beifall bei der LINKEN) Belastung der stärkeren Schultern laut – spät, aber es be- ginnt. Ich sage auch etwas zu den Hakenkreuzen, die dort gezeigt wurden. Wir lehnen das genauso ab wie Sie. (B) (D) Den öffentlichen Schulden – das will ich Ihnen sagen Aber Sie müssen verstehen: Die Griechen verbinden Ha- – stehen immer auch Vermögen gegenüber. Ich nenne Ih- kenkreuze gar nicht mit den KZs und diesen Verbrechen, nen nur drei Beispiele: In Griechenland gibt es 300 Mil- sondern nur mit der Besatzungszeit. Trotzdem ist es völ- liarden Euro Schulden und ein Privatvermögen von lig falsch. 540 Milliarden Euro, und zwar nur bei den 2 000 reichs- ten Familien, nicht etwa in der gesamten Bevölkerung. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gysi recht- In Portugal gibt es 190 Milliarden Euro Schulden und fertigt Hakenkreuze! Sehr interessant!) 553 Milliarden Euro privates Vermögen. Bei uns gibt es Herr Schäuble begeht jetzt den Fehler, zu sagen: Grie- 2,1 Billionen Euro Schulden und 1,9 Billionen Euro Ver- chenland bekommt ein Sperrkonto, damit das Geld ganz mögen nur bei den reichsten 0,6 Prozent der Bevölke- sicher nur an Banken, Versicherungen und Hedgefonds rung, und die FDP schreit immer auf, wenn sie nur einen geht. – Kein einziger Euro soll für Investitionen einge- halben Euro mehr bezahlen sollen. Das ist wirklich nicht setzt werden. Das ist doch eine Bevormundung. Lassen mehr nachvollziehbar. Sie das sein! (Beifall bei der LINKEN) Die Hakenkreuzfahnen sind trotzdem falsch. Deutschland ist nicht faschistisch und die Kanzlerin erst Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine Vermö- recht nicht. Das sehen wir genauso; das sagen wir auch gensteuer. Aber die Devise der Bundesregierung ist und den Griechen. Die Vertreter der mit uns befreundeten bleibt eine Umverteilung von unten nach oben, nie in griechischen Partei tragen diese Fahnen auch nicht. Aber umgekehrter Richtung. das Demonstrieren für soziale Gerechtigkeit in Grie- chenland ist mehr als berechtigt und dringend nötig. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Gysi, einen Augenblick, bitte. – Darf Jetzt nenne ich Ihnen den Grund für Ihre veränderte ich darum bitten, dass wir auf der Regierungsbank Politik; Herr Steinbrück, Sie haben diesen Grund nicht (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem genannt. Frau Merkel war doch in . Ich werde Ih- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen etwas erzählen. Es gibt diese veränderte Haltung nämlich auch wegen China. China möchte nicht nur den zumindest die Sicht auf den Redner wiederherstellen, Dollar als Weltwährung, sondern auch den Euro, damit wenn schon nicht die allgemeine Aufmerksamkeit si- es ein bisschen spielen und anders auf dem Finanzmarkt chergestellt werden kann. eingreifen kann. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23827

Dr. Gregor Gysi (A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben sich schon dumm und dämlich verdient; mehr (C) NEN]: Sie kennen sich ja in China aus!) muss nicht sein. Wir brauchen endlich eine Heranzie- hung der Vermögenden in der EU, auch wenn das Ver- Deshalb hat China europäische Staatsanleihen aufge- mögen im Ausland liegt. kauft. Das Handelsblatt hat geschrieben – nicht ich, liebe Frau Künast –, dass es sich dabei um ein Viertel al- Ich nenne immer drei Stichworte: Steuergerechtigkeit ler Euro-Anleihen handelt, einschließlich der deutschen. brauchen wir. Steuerhinterziehung muss bekämpft wer- den. Steuerflucht muss verhindert werden. – Zur Verhin- Nun waren Sie in China, Frau Bundeskanzlerin. Da derung von Steuerflucht – die Vermögenden ziehen im- hat Ihnen der Ministerpräsident gesagt, dass China nicht mer so gerne auf die Seychellen, nach Liechtenstein und will, dass Griechenland aus dem Euro ausscheidet; denn was weiß ich wohin – gibt es einen einfachen Weg: Wir China geht davon aus, dass das den Euro zerstört. Er hat müssen in Deutschland und in ganz Europa lediglich Sie ein kleines bisschen genötigt und soll Ihnen gesagt US-Recht einführen und die Steuerpflicht an die Staats- haben: Wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet, bürgerschaft binden. wird China alle Euro-Staatsanleihen auf den Markt wer- fen. – Dann hätten wir die nächste Krise. Ich sage Ihnen (Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE auch, warum. Wenn so viele Euro-Staatsanleihen auf den LINKE]) Markt geworfen werden, sind sie natürlich nichts mehr wert. Dann ziehen sich die Investoren zurück, und es Dann können sie wohnen, wo sie wollen, und sie können kommt zu einer schweren Währungskrise. Deshalb fuhr ihr Vermögen hinbringen, wohin sie wollen; aber dann Frau Merkel danach nach Griechenland und sagte: Ihr bleiben die Deutschen hier steuerpflichtig, und die grie- müsst bleiben. – Ich wundere mich, Frau Bundeskanzle- chischen Vermögenden bleiben in Griechenland steuer- rin – ich muss das einmal sagen –: Sie hören viel zu we- pflichtig. Warum führen wir das nicht ein? Ich habe da- nig auf uns, die demokratischen Sozialistinnen und So- rauf noch keine vernünftige Antwort von Ihnen gehört. zialisten. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) CDU/CSU und der FDP) Darüber hinaus muss es in Griechenland zu einer Hal- Aber auf die chinesischen Kommunistinnen und Kom- bierung der Rüstungsausgaben kommen. munisten hören Sie. Das ist schon merkwürdig. Herr (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Brüderle, Sie sollten einmal darüber nachdenken, wer hier das Mao-Jäckchen trägt. Nun komme ich zur Finanztransaktionsteuer. Es gibt jetzt elf Euro-Länder, die sie einführen wollen. Das ist (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) ein Erfolg der Antiglobalisierungsbewegung und auch Auf jeden Fall haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie, ein Erfolg der Linken. Herr Steinbrück, und wir recht: Griechenland darf nicht aus dem Euro gedrängt werden. Die Bertelsmann-Stif- (Beifall bei der LINKEN) tung hat jetzt festgestellt: Wenn das passiert, erleben wir Sie, Herr Steinbrück, haben im Haushaltsausschuss ge- eine Rezession der Weltwirtschaft und anschließend hef- sagt, dass die Finanztransaktionsteuer eine sozialistische tige globale soziale Spannungen. – Wenn Sie nicht dafür Spinnerei sei. sind, dann hören Sie mit diesem Gerede auf. Ich sage deshalb noch einmal: An Griechenland darf kein Exem- (Peer Steinbrück [SPD]: Wann?) pel statuiert werden, wie das der weltberühmte bayeri- – Ja, das liegt schon ein bisschen zurück. – Jetzt gibt es sche Ökonom Markus Söder forderte. Das geht völlig nur zwei Möglichkeiten, Herr Steinbrück: Entweder sind daneben, wenn ich einmal darauf hinweisen darf. auch Sie ein sozialistischer Spinner, oder die Antigloba- (Beifall bei der LINKEN) lisierungsbewegung und die Linken hatten schon damals recht. – Äußern Sie sich doch einmal zu diesen beiden Was braucht Griechenland? Griechenland braucht ei- Varianten! nen Stopp der bisherigen Kürzungspolitik. Das sagt auch die SPD. Aber, liebe SPD, dann können Sie hier nicht je- (Beifall bei der LINKEN) dem Europabeschluss, der genau diese Kürzungspolitik Bei der Umsetzung darf es aber keine Verwässerung unterstreicht, zustimmen. Das ist nicht aufrichtig. geben. Die Bundesregierung hat in ihrem Antrag an die (Beifall bei der LINKEN) EU-Kommission nämlich darauf verzichtet, die Steuer auch beim Devisenhandel anzuwenden. Aber genau das Wir brauchen endlich einen Marshallplan und Investitio- hatten Union, FDP, SPD und Grüne anders vereinbart, nen. Dann – und nur dann – bekommen wir auch unser und ohne den Devisenhandel ist die Steuer natürlich we- Geld zurück. Es müsste direkte Konjunkturkredite und als die Hälfte wert. einen direkten Kauf von Staatsanleihen durch die EZB geben; es darf keinen Umweg über die privaten Banken Auch in Deutschland führt die Krise zu immer mehr geben; die müssen wir dabei nicht reich machen. Das ist Verliererinnen und Verlierern. Dazu zählen Millionen durch die Verträge verboten – ich weiß das –, und des- von Bürgerinnen und Bürgern, die private Lebensversi- halb müssen die Verträge geändert werden. Wir brau- cherungen abgeschlossen haben oder Riester-Verträge chen einen weiteren Schuldenschnitt der Banken. Die besitzen. Auch die betriebliche Altersvorsorge ist be- 23828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi (A) droht; denn sämtliche Renditeversprechungen werden Wir haben einige Fragen und Anmerkungen, aber – Frau (C) Schritt für Schritt hinfällig. Bundeskanzlerin, das sollen Sie auch für die Beratungen heute Abend und morgen wissen – die Richtung stimmt. Es gibt auch eine Krise der Realwirtschaft. Der Inter- Wir stehen hinter Ihrer Politik in Europa. nationale Währungsfonds prognostiziert ein Wirtschafts- wachstum in China von 8,2 Prozent, in den USA von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 2,1 Prozent und in der Euro-Zone von minus 0,4 Pro- Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gut, dass zent. Damit wird die Euro-Krise zur größten Sorgen- das mal einer sagt!) quelle der Weltwirtschaft. Lange Zeit haben viele ge- glaubt: Deutschland trifft das nicht. Aber das ändert sich. Herr Steinbrück, dass Sie das eine oder andere heute Durch die Kürzungsdiktate, durch die Senkung der zum ersten Mal von der Bundeskanzlerin gehört haben, Kaufkraft in den südeuropäischen Ländern gehen jetzt verwundert uns nicht. Seien Sie in Zukunft öfter an ei- auch unsere Exporte zurück, und zwar immer deutlicher. nem Donnerstag im Plenum! Dann wissen Sie, was die Ich nenne nur folgende Beispiele: Die Quote der Exporte Bundesregierung meint und worauf es wirklich an- nach Portugal ist um 14,3 Prozent gesunken; die Quote kommt. der Exporte nach Spanien ist um 9,4 Prozent gesunken; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Quote der Exporte nach Griechenland ist um 9,2 Pro- zent gesunken. Nun schildere ich Ihnen noch den Ab- Ich empfehle Ihnen auch dringend, keine falsche Spur satzeinbruch bei der deutschen Automobilindustrie. zu legen, sondern die Dinge so zu sagen, wie sie wirklich sind. Auf das Wort eines Bundeskanzlers muss Verlass sein. Dahin gehend sind auch die Worte eines Kanzler- Präsident Dr. Norbert Lammert: kandidaten zu überprüfen. Wir wurden gerade informiert Nein, Herr Gysi, das schildern Sie jetzt bitte nicht, je- – wir wussten das aber schon –, dass Ihre Aussagen zu denfalls nicht in dem Umfang, den Sie offenkundig ge- den Empfehlungen der Europäischen Kommission zum plant hatten. Reformprogramm in Deutschland nicht zutreffend sind. Dort steht in keinem einzigen Satz etwas über das Betreu- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): ungsgeld. Darin steht etwas über die Ganztagsbetreuung. Das ist sehr schade. Dann sage ich Ihnen nur: Es wa- Eine solche unzulässige Interpretation von Empfehlun- ren 11 Prozent; damit Sie es wissen, Herr Bundestags- gen, die im Amtsblatt veröffentlicht wurden, ist unzuläs- präsident. sig, Herr Steinbrück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Präsident Dr. Norbert Lammert: rufe von der CDU/CSU, an Abg. Peer (B) Ich hätte das natürlich ohnehin gewusst. Steinbrück [SPD] gewandt: Pfui!) (D) In den Empfehlungen steht etwas, was vermutlich Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): auch Sie, Herr Steinbrück, richtig finden. Sie haben Zum Schluss sage ich Ihnen: Sie müssen Ihre Politik nicht darauf hingewiesen, dass in diesen Empfehlungen in Europa ändern. Wenn Sie wollen, dass es mehr Eu- steht, dass die Abgaben- und Steuerlast für Geringver- ropa gibt, müssen Sie Europa auch für die Jugend attrak- dienende in Deutschland zu hoch ist, und Deutschland tiver machen. Dafür gibt es eine Bedingung: Die Umver- ermahnt wird, genau dies zu ändern. Dazu könnten Sie teilung von unten nach oben muss beendet werden, und beitragen, indem Sie im Bundesrat endlich Ihre Blocka- mit einer gerechten Umverteilung von oben nach unten dehaltung aufgeben. muss begonnen werden. Anders werden Sie diese Krise niemals meistern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Steinbrück, da in den europäischen Emp- fehlungen für Deutschland von einer zu hohen Abgaben- last die Rede ist, wollen wir jetzt die Beiträge zur Ren- Präsident Dr. Norbert Lammert: tenversicherung reduzieren. Aber da machen Sie nicht Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege mit. Dort, wo die Empfehlungen klar aufzeigen, was zu Volker Kauder. tun ist, verweigern Sie sich, weil Sie glauben, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dies den Linken in Ihrer Partei nicht zumuten können. neten der FDP) Das ist die eigentliche Position. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Steinbrück, Sie müssen sich die Frage Die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Präzision gefallen lassen, was noch gilt. Auf das Wort eines Kanz- und Klarheit beschrieben, was im europäischen Reform- lers und auch auf das eines Kanzlerkandidaten muss Ver- prozess auf uns zukommt. lass sein. Sie haben heute hier davon gesprochen, dass wir Wachstum brauchen. Richtig! Wir haben in Europa ( [] [SPD]: Na ja! – ein Wachstumspaket aufgelegt und in diesem Zusam- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: menhang klare Positionen formuliert. Im Übrigen war Wann hat sie das denn gemacht? Wann war schon im Vertrag von Lissabon ein Wachstumspaket vor- das, Herr Kauder?) gesehen. Wenn sich alle an das gehalten hätten, was da- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23829

Volker Kauder (A) mals in Lissabon vereinbart worden ist – wir haben uns Ich rate Ihnen, nicht mit einer solchen Arroganz aufzu- (C) daran gehalten –, wären wir schon ein gewaltiges Stück treten. weiter. (Peer Steinbrück [SPD]: Nein! Nein! Ihre Lei- Jetzt komme ich zum Thema. Wer wirklich Wachstum setreterei hat gar nichts gebracht! Ihre Leise- will, Herr Kollege Steinbrück, der kann doch nicht in treterei ist mit verantwortlich für die Entwick- Deutschland das Wachstum abwürgen. Genau das würde lung!) geschehen, wenn Ihre Vermögensabgabe oder Vermö- gensteuer eingeführt würde. Genau dadurch würde das – Herr Steinbrück, ich kenne Sie aus den Zeiten der Gro- Wachstum gebremst. Jetzt sage ich Ihnen einmal, was ßen Koalition gut. Da habe ich vieles an Ihnen geschätzt. Kollege Steinbrück hier vor einiger Zeit richtigerweise Aber Sie zeigen jetzt wieder etwas, das ich damals schon gesagt hat. Er hat gesagt, eine Vermögensteuer sei des- erlebt habe: eine persönliche Dünnhäutigkeit. Sie sind halb falsch, weil sie im Ertrag zu wenig bringe und weil sehr gut im Austeilen; aber Sie müssen auch im Einste- die Probleme in der Abgrenzung zu unseren Familienbe- cken gut werden. Herr Kollege, merken Sie sich das. trieben zu groß seien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir stehen vor entscheidenden Veränderungen in Eu- der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Das ropa. Wir wissen, dass wir mehr Europa brauchen. Wir stimmt!) wissen, dass eine intensive Diskussion darüber stattfin- – Er sagt jetzt auch noch, dass das stimmt. – Wenn Sie det. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Dis- bestätigen, dass es stimmt, dass eine Vermögensteuer für kussionen als Vielstimmigkeit zu beklagen, kann als Er- unsere Betriebe schädlich ist: Wie können Sie sich dann gebnis nur haben, dass wir gar nicht mehr darüber reden, hier hinstellen und erzählen, dass Sie eine Vermögensab- wie es weitergehen soll. Wenn wir als nationales Parla- gabe, eine Vermögensteuer wollen? ment die Aufgabe haben, die Entwicklung Europas mit- zugestalten, dann muss auch darüber diskutiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich kann nur sagen: Ich habe mich heute Morgen sehr Ich habe weder vom Kollegen Trittin noch von Ihnen gewundert. Zu keinem einzigen wesentlichen Punkt kam bisher eine verfassungsgemäße Lösung für dieses Pro- eine Antwort auf die Fragen, die sich gerade in der Dis- blem gesehen. kussion befinden; wohl aber gab es einen geradezu fle- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- henden Ruf von Ihnen, Herr Kollege Steinbrück, man NEN]: Doch! Die liegt vor! Sie müssen sie nur möge möglichst viel Geld nach Griechenland schicken. (B) lesen! Lesen bildet, Herr Kauder!) Sie hätten sagen müssen: Wir müssen in Griechenland (D) dafür werben, dass die notwendigen Reformen durchge- – Nein, nein, Herr Trittin. – Ich kann nur sagen: Wer führt werden. – Nur das hilft dem Land, nicht aber sol- Wachstum will, darf nicht denjenigen Geld wegnehmen, che Sprüche, wir müssten auf jeden Fall mehr Geld ge- die es brauchen, um zu investieren, damit Wachstum in ben. unserem Land entsteht. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- er doch gar nicht gesagt!) chen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Wir sind uns der Solidarität bewusst. Aber ohne Gegen- leistung kann es keine Leistung geben. Diesen Satz habe Deshalb sind Sie auf der völlig falschen Fährte. ich von Ihnen nicht gehört. Ich halte fest: Wenn Sie die Empfehlungen für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland wirklich umsetzen wollen, dann müssen Sie jetzt im Bundesrat ganz schnell den Steuervorhaben zu- Deswegen glaube ich, dass Sie kein guter Vertreter deut- stimmen und zustimmen, dass wir die Beiträge zur Ren- scher und europäischer Interessen sein können. tenversicherung senken. An diesen beiden Punkten wer- Wenn wir Europa wettbewerbsfähig machen wollen, den wir Sie messen. Daran werden wir sehen, ob Sie müssen alle mitmachen. Das gilt für alle in Europa. tatsächlich bereit sind, in Europa das Notwendige zu tun. Auch wir haben, wie ich vorhin an zwei Beispielen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zeigt habe, Bedarf, noch etwas zu verändern. Aber wir müssen klar und deutlich im Interesse vor allem der jun- Herr Kollege Steinbrück, wir brauchen gerade von Ih- gen Generation sagen: Es müssen Strukturen geschaffen nen keine Belehrungen werden, die Arbeitsplätze ermöglichen. – Spanien ist (Peer Steinbrück [SPD]: Doch!) beispielsweise auf einem guten Weg, ein duales Ausbil- dungssystem auf den Weg zu bringen. Portugal ist bei- zum Umgang in Europa. Wie Sie sich hinsichtlich der spielsweise dabei, entsprechende Strukturveränderungen Schweiz verhalten haben, das ist kein Beispiel für den vorzunehmen. Wer glaubt, den Menschen immer nur mit Umgang in Europa. Herr Kollege Steinbrück, das ist mehr Geld helfen zu können, wahrhaftig kein Beispiel. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer sagt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn das?) 23830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Volker Kauder (A) der wird merken, dass genau das Gegenteil eintritt; denn (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (C) an Geld hat es in Griechenland bisher nicht gemangelt, der FDP) sondern an dem Willen, etwas zu verändern. Das muss nun vorangebracht werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. Frau Bundeskanzlerin, ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie das Augenmerk auch auf ein Thema gelenkt ha- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben, das für uns im Parlament von besonderer Wichtig- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber keit ist; ich habe das schon das letzte Mal angesprochen. Herr Kollege Kauder, lassen Sie mich am Anfang eine Ein Mehr an Europa kann nicht ein Mehr an Europa von halbe Minute dafür verwenden, Sie darauf hinzuweisen, Bürokratie, Kommissionen und vielem anderem bedeu- wie die europäischen Empfehlungen zur deutschen ten, sondern ein Mehr an Europa muss ein Mehr an de- Haushaltspolitik lauteten. Ja, das Wort Betreuungsgeld mokratischer Legitimation bedeuten. wird nicht ausdrücklich erwähnt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aha! – Weitere Zu- neten der FDP) rufe von der CDU/CSU: So, so! – Na also!) Deswegen werden wir in der Koalition einer Übertra- vielleicht deshalb nicht, weil man auf europäischer gung von neuen Kompetenzen nur nachgeben können, Ebene gar nicht so schlecht und so kurios denken kann, wenn wir wissen, welche Kompetenzen, die aus der na- tionalen parlamentarischen Kontrolle übertragen wer- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja! – Stefan den, in eine neue parlamentarische Kontrolle hineinkom- Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Versuch ge- men. scheitert!) dass man wirklich glaubt, in Deutschland würde so et- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) was eingeführt. Mehr Räten ohne parlamentarische Legitimation werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wir nicht zustimmen können. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hören (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie doch auf! Ihr Versuch ist schon geschei- tert!) Dies ist ein zentraler Punkt für uns; darüber müssen wir als Parlament intensiv diskutieren. Aber, meine Damen und Herren, in den Empfehlungen (B) steht, dass Deutschland aufgefordert ist, eine Ganztags- (D) Ich bin auch ganz klar der Meinung, dass wir für eine betreuung einzurichten bzw. Ganztagsschulen für die dauerhafte Lösung in Europa – und damit, Herr Trittin, Kinder des Landes zu bauen; zu Ihrem Zwischenruf von vorhin – nicht das als Maß- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ma- stab nehmen können, was in einer Krise notwendig ist. chen wir doch!) Deswegen kann nicht eine Schuldenunion, eine Alt- schuldenunion und die Einführung von Euro-Bonds das hält man auf europäischer Ebene in wirtschaftlicher Maßstab sein. und sozialer Hinsicht nämlich für richtig. Sie können Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen gerne als abso- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lutes Gegenstück zum Betreuungsgeld verstehen. NEN]: Machen Sie doch gerade!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielmehr muss klar und deutlich sein, dass jeder so und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor lange Verantwortung für seine nationale Politik trägt, bis Gysi [DIE LINKE]) wir eine gemeinsame Aufsicht, eine Bankenaufsicht, eine Haushaltsaufsicht haben. Sie reden einer Verge- Was Sie nicht erwähnt haben, Herr Kauder – daran meinschaftung von Schulden und Geldanleihen das Wort zeigt sich Ihr Hang zur Vollständigkeit –: In den Emp- und nehmen damit den Druck heraus, die notwendigen fehlungen steht auch, dass das Ehegattensplitting abge- Regelungen zu treffen, die Voraussetzung dafür sein schmolzen werden muss, um die Kinder in diesem Land könnten, über so etwas überhaupt erst nachzudenken. zu finanzieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte Quatsch! Das ist primitiv, weil es falsch ist!) [DIE LINKE]) Herr Kollege Steinbrück, das hatten Sie ganz vergessen, Ich kann nur sagen, Herr Kollege Steinbrück, nicht zu erwähnen. Woran lag das? Wir werden es sehen. weil ich der Koalition angehöre, der auch die Bundes- kanzlerin und der Vizekanzler angehören, sondern weil Nun zur Regierungserklärung der Kanzlerin. Frau es sich heute Morgen wieder einmal gezeigt hat: Wir Merkel, es hat mir nicht gereicht, dass Sie hier und heute können froh und dankbar sein, dass diese Koalition in den Friedensnobelpreis für die EU erwähnt und lediglich dieser schwierigen Zeit unser Land regiert und Angela gesagt haben, wie schön dieser Schatz in unserer Hand Merkel die Interessen unseres Landes in Europa vertritt. ist. Eine Bemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23831

Renate Künast (A) verkneifen: Auf der einen Seite erleben wir, dass die Eu- An dieser Stelle müssen wir kurz über Griechenland (C) ropäische Union den Friedensnobelpreis bekommt, und reden. Schäuble hat ja am Sonntag letzter Woche in wir sehen, welchen Schatz wir in der Hand halten. In der Singapur gesagt: „… there will be no Staatsbankrott in gleichen Woche werden auf der anderen Seite Sinti und “. Das kommt auch zweieinhalb Jahre zu spät. Roma, die in Serbien und Mazedonien in Bretterbuden gehaust haben und den Winter fürchteten, als sie nach (Volker Kauder [CDU/CSU]: Er hat deutsch Deutschland kommen, bezichtigt, Asylmissbrauch zu gesprochen, der Schäuble!) betreiben. Meine Damen und Herren, das ist eines Frie- Was kommt jetzt? Jetzt kommt die Idee eines Sperr- densnobelpreisträgers nicht würdig. Das hat mir nicht kontos, auf das die Gelder für die Griechen eingezahlt gereicht. werden sollen. Was ist das nun wieder, Frau Merkel? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist eine Art Alibi dafür, dass erst die Schulden ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) tilgt werden. Dahinter steckt, dass in Griechenland die Notenpresse angeworfen wird, um seine Probleme vor Mir hat auch nicht gereicht, was Sie aus der gegen- Ort zu lösen. Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Merkel: Sa- wärtigen Verschnaufpause, bedingt durch den Anleihen- gen Sie doch die ganze Wahrheit! Das ist wieder eine kauf der EZB, gemacht haben. Sie haben lange zugelas- krude Idee, weil Sie sich nicht trauen, zu sagen: „Es wird sen, Frau Merkel – auch wenn Sie gerade etwas anderes in diesem Hause ein drittes Griechenland-Paket geben“; gesagt haben –, dass es in der Europapolitik und in der denn Sie trauen sich nie, die ganze Wahrheit zu sagen. Griechenland-Politik Deutschlands zu einer Art Söderi- sierung kam. Das ist, glaube ich, so ziemlich das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schlimmste, was man erleben kann: sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- Herrn Kauder möchte ich bezüglich Griechenland sa- NIS 90/DIE GRÜNEN]) gen: Es tut mir wirklich weh, dass Sie an dieser Stelle Richtung Griechenland schlicht und einfach rufen: Es die Stammtischadler, die in Kneipen über den Stamm- mangelt am Willen, zu verändern. Damit stehen Sie übri- tischen im Luftraum kreisen und nicht daran denken, gens im Dissens zu Ihrer Kanzlerin, die ja gerade gesagt was für Deutschland und Europa gut ist. Auch an dieser hat, sie habe erfahren, in Griechenland wolle man doch Stelle kamen Sie zu spät, Frau Merkel. etwas ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Richtig! – Volker Kauder sowie bei Abgeordneten der SPD) [CDU/CSU]: Ich habe von Lissabon gespro- Sie kamen zu spät – das kann ich Ihnen nicht ersparen –, chen!) (B) (D) obwohl Sie hier und heute gesagt haben, Deutschland sei Herr Kauder, was mich daran ärgert, ist, dass Sie hier in vielen Bereichen vorangegangen. Sie redeten über den als konservativer Europäer stehen, der von der Ehe ja Delors-Plan. Ja, über den hätten wir vor zweieinhalb vielleicht etwas verstehen sollte. Oder? Zu der Ehe heißt Jahren reden können. Wo ist Deutschland da vorange- es: in guten wie in schlechten Zeiten. gangen? Sie redeten über den Europäischen Stabilitäts- mechanismus. Wir hätten ihn gerne schon im letzten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen wir Herbst verabschiedet. Aber Sie haben sich nicht dürfen ja auch!) getraut, weil Ihre Truppe offensichtlich nicht mitge- macht hätte. Ich kann nur sagen: Das heißt es auch in der Europäi- schen Union. In guten wie in schlechten Zeiten! Wenn wir über Euro-Bonds und eine wirklich ge- meinschaftliche Haftung reden, sagen Sie: „Das wollen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen wir wir nicht“, um am Ende, wenn auch immer spät, doch ja auch!) umzufallen. Ein Beispiel dafür sind die EZB-Anleihen. Deshalb darf man heute nicht einfach nur kritisieren, In welchem Umfang haftet Deutschland? Wir haften für sondern muss in diesen Zeiten den 50 Prozent arbeitslo- 27 Prozent. Was ist denn das? Ein anderes Beispiel ist sen Jugendlichen in Griechenland sagen: Ja, wir küm- die Diskussion über eine extra Finanzkapazität für den mern uns darum, dass ihr eine Perspektive bekommt. – Euro-Raum. Das alles sind Themen, bei denen wir ers- Darüber habe ich nur wenig gehört. tens sehen, dass Sie wieder zu spät dran sind, und bei de- nen wir zweitens sehen, dass Sie am Ende doch umfal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len. und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Da braucht man sich nicht zu fragen, Es war mir auch zu wenig, dass es in Ihrer heutigen warum Sie in Berlin nicht gewonnen haben!) Rede nur um das Paket ging. Ich habe eigentlich nichts über das europäische Inves- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) titionsprogramm gehört, das wir hier im Juli verabschie- Sie haben heute keine wirkliche Perspektive aufgezeigt det haben, als wir uns wegen Spanien getroffen haben. und keine Reformen vorgeschlagen. Ich muss Ihnen Wo ist denn dieses europäische Investitionsprogramm? auch sagen: Sie haben heute nicht die ganze Wahrheit Wo wird es denn eigentlich umgesetzt? Wo ist das Geld? gesagt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: In dieser (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na!) Woche!) 23832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Renate Künast (A) Sie reden hier über Wachstum. Wir haben zu dem ent- Gegen die Jugendarbeitslosigkeit – ich habe es schon ge- (C) sprechenden Zeitpunkt doch gesagt, wofür wir Gelder sagt – haben Sie auch kein konkretes Programm. Das investieren wollen, damit sich zum Beispiel Griechen- sind Sie heute schuldig geblieben. land, aber nicht nur Griechenland, modernisieren und wirtschaftlich entwickeln kann: den Schienenverkehr, Am Ende wollen Sie sogar eher noch den europäi- den öffentlichen Verkehr, die Energie. Wo ist dieses Pro- schen Haushalt kürzen, aus dem man solche Programme gramm? Sie sagen: Deutschland geht voran. Ich sage finanzieren könnte. An dieser Stelle, Frau Merkel, sind Ihnen: Deutschland hat nicht einmal die Hausaufgaben Sie nicht glaubwürdig. Sie reden zwar immer für das gemacht, die wir hier im Deutschen Bundestag verein- Soziale, aber trotzdem wollen Sie den europäischen bart haben. Haushalt kürzen, sodass Sie das Soziale dann eben nicht mehr finanzieren können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU]: Jawohl, Frau Lehrerin!) und bei der SPD) – So ist es. Zu dem vierten Aspekt, der stärkeren demokratischen Legitimation, die Van Rompuy und andere vorschlagen, Nun zu den Vorschlägen, die im Detail gemacht wor- kann man ja sagen: Deutschland steht dafür – im wahrs- den sind. Schauen wir uns einmal die Vorschläge von ten Sinne des Wortes –, die europäischen Institutionen zu Van Rompuy bzw. der vier Präsidenten an. Sie sind ja schwächen. auch im Auftrag der Bundeskanzlerin auf den Weg ge- bracht worden. Was wollen wir denn jetzt eigentlich? Nun zu einigen Ihrer Detailvorschläge, die wilden Van Rompuy oder Schäuble? Es ist schon eine gewisse und unabgestimmten Vorschläge von Herrn Schäuble, Chuzpe, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Be- die Sie heute auch wieder benannt haben. Gucken wir richts der vier Präsidenten zu sagen: Nun schlagen wir uns das einmal an. Da soll jetzt ein Mann in Brüssel den wieder einmal das Gegenteil vor. – Das ist das typische Daumen heben oder senken von Merkel und Schwarz-Gelb in Europa angerichtete (Lachen des Abg. Peer Steinbrück [SPD]) Chaos. über den Haushaltsplan eines demokratisch gewählten Im Bericht von Van Rompuy bzw. der vier Präsiden- Parlaments. Meine Damen und Herren, wir wollen mehr ten werden einige Punkte angesprochen: der Schuldentil- Haushaltsdisziplin und durchaus ein Stück Aufsicht an gungsfonds, die Bankenaufsicht, eine bessere Überwa- dieser Stelle. Aber was schlagen Sie faktisch vor, weil chung der nationalen Haushalte usw. Sie sind am Ende Sie eben nicht weitergehen? Sie schlagen doch faktisch aber doch wieder nur Skeptiker. Ich will das einmal an (B) einen Supermann, einen Superkommissar vor: Der ist (D) den vier Punkten deutlich machen, die ja nicht Sie erfun- dann sozusagen Erster in einer Kommission. Das spaltet den haben, sondern im Bericht der Präsidenten stehen: die Europäische Kommission, weil es Kommissare un- Erstens. Die gemeinsame Finanzmarktpolitik. Sie terschiedlichster – – wollen jetzt auch eine Finanzmarktaufsicht bis Ende des (Gisela Piltz [FDP]: Können Sie sich auch vor- Jahres. Ich kann das ja nur begrüßen, weil Sie bisher alle stellen, dass es eine Frau wird?) immer nur mit Samthandschuhen angefasst haben. – Bei Ihnen kann ich mir sofort vorstellen, dass es eine Eine effiziente Regulierung wollen wir jetzt aber auch Frau wird, Frau Piltz. Machen Sie erst einmal die Quote sehen. Das heißt, wir brauchen eine europäische Ab- in Aufsichtsräten, bevor Sie einen solchen Zwischenruf wicklungseinheit oder eine europäische Einlagensiche- machen! rung. Sie, Frau Merkel, haben an dieser Stelle am Ende aber doch wieder nur Andeutungen gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Die gemeinsame Fiskalpolitik. Wir spre- chen uns für mehr Haushaltsdisziplin aus. Ja, aber die Ihr Vorschlag ist ein Superkommissar als Erster unter vier Präsidenten – darauf gehen Sie am Ende nicht ein – Gleichen in einer Kommission. Und wer sucht den dann reden über die mögliche Einführung eines Altschulden- aus, meine Damen und Herren? tilgungsfonds. Schon wieder verweisen sie darauf, dass (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie!) ein Altschuldentilgungsfonds nötig ist, allein schon, um den Zinsdruck für die betroffenen Mitgliedstaaten zu Im Gemauschel, im Hinterzimmer die Regierungen wie- verringern. Das würde der Fonds ermöglichen. Was ha- der, meine Damen und Herren. Dann hätten Sie doch ben Sie zur Zinsdrucksenkung angeboten, Frau Merkel? mindestens an dieser Stelle sagen müssen, wie Sie sich Bis zum Augenblick eigentlich gar nichts! das vorstellen. Ein ausgemauschelter Kommissar, bei dem das Parlament den Gesamtblock wählt, ist doch Drittens. Die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Ihren nicht demokratischer. Dann hätten Sie an dieser Stelle Reden, Frau Merkel, folgen nie Taten. Bislang hat sich sagen müssen: Diese Person wird durch das Europäische die Bundesregierung eben nicht wirklich für eine Har- Parlament eigenständig gewählt und könnte auch abge- monisierung der Steuerpolitik oder gegen Steuerdum- wählt werden. Das wäre das Mindeste; aber das trauen ping eingesetzt. Sie sich wieder nicht, weil es dann aus dem Hinterzim- Wo ist Ihre Arbeitsmarktpolitik? Deutschland war mer raus und rein ins Europäische Parlament geht, meine bisher kein Vorkämpfer für eine europäische Regelung. Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23833

Renate Künast (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wenn jemand das noch nicht verstanden hat und nicht (C) Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Künast, wir gehört hat, wie der Herr Steinbrück das vorhin zum Aus- machen eine Mitgliederbefragung!) druck gebracht hat, dann, finde ich, muss die Frage schon erlaubt sein: Wo war er denn dann, Alle Ihre Vorschläge sind meines Erachtens viel zu eng geworden. Am Ende muss ich sagen: Was ich mir ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wünscht hätte neten der FDP – Gisela Piltz [FDP]: Wo ist der eigentlich! – Rainer Brüderle [FDP]: Und wo (Volker Kauder [CDU/CSU]: Eine Mitglieder- ist er jetzt? Wo ist er denn jetzt?) befragung machen wir!) als dies immer wieder zum Ausdruck gebracht und dis- – ich komme gleich zur Mitgliederbefragung, Herr kutiert wurde? Kauder –, wäre, bei Ihren Worten am Ende über die Kraft Europas, darüber, dass Europa mehr als Wäh- (Rainer Brüderle [FDP]: Vorträge halten!) rungs-, Geld- und Haushaltspolitik ist, wenn wirklich Trotzdem, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, klar gesagt würde: Wir wollen ein ökologisches und sollten wir uns heute schon auch noch einmal mit der soziales Europa. Frage befassen: Wo stehen wir bei der Debatte über die Sie haben über Talente und Technologien geredet. Vertiefung bei der Wirtschafts- und Währungsunion? Dann sagen Sie es doch wirklich: Ein Europa, das mit Was haben wir erreicht? Haben wir etwas erreicht? seinen Nachbarn gut zusammenlebt, das nicht auf Kos- Da können wir mit Fug und Recht heute sagen: Wir ten anderer Menschen irgendwo auf der Welt lebt, das sind in den letzten Monaten ein großes Stück vorange- nicht auf Kosten der Jugend lebt, meine Damen und Her- kommen! ren. Dieses Europa – das haben Sie verpasst, Frau Merkel – braucht jetzt dringend jenseits des Dickichts (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der aktuellen Verhandlungen einen europäischen Kon - Der Europäische Stabilitätsmechanismus arbeitet be- vent unter Beteiligung – reits, der Fiskalvertrag kann in Kraft treten, er wurde von uns beschlossen. Die Finanzmarktsteuer wird kommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Auch das haben wir in den letzten Monaten erreicht, Frau Kollegin. nicht wegen des Geschreis der Opposition, sondern we- gen der Hartnäckigkeit und des hohen und großen Ver- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): handlungsgeschicks unseres Finanzministers. Dafür danke ich ihm herzlich. (B) – mein letzter Satz – der Sozialpartner, unter Beteili- (D) gung der Zivilgesellschaft, und dann kommen wir raus (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aus den internen Zirkeln und machen einen Volksent- neten der FDP) scheid, an dem die gesamte europäische – Auch die Situation in den Krisenländern ist besser ge- worden. Wir sehen dort rückläufige Handelsbilanzdefi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zite. Wir sehen, dass dort die Lohnstückkosten sinken, Frau Kollegin. und damit sind diese Länder auf dem Weg zu mehr Wett- bewerbsfähigkeit. Einige Krisenländer haben sich in den Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vergangenen Wochen zu erträglichen Konditionen am – Bevölkerung beteiligt wird. Das hätte eine Perspek- Kapitalmarkt refinanzieren können. tive heute sein können. Bei all den noch vorhandenen Problemen, die norma- lerweise mit jeder Umstrukturierung einer Wirtschaft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verbunden sind, sind dies Erfolge, die man nicht einfach sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker auf die Seite schieben soll, sondern diese Erfolge ma- Kauder [CDU/CSU]: Bravo!) chen deutlich: Der Weg ist richtig. Der Stabilitätskurs ist richtig. Vor allem Auflagen in Verbindung mit den Hil- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fen sind richtig, aber eben Auflagen und Hilfen gemein- Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/ sam. CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) In einem schwierigen internationalen Umfeld ist auch Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Deutschland auf einem guten wirtschaftlichen Weg. Wir Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- haben eine weiterhin stabile positive wirtschaftliche Ent- legen! Ja, es ist richtig, ich bin auch der Meinung, wicklung. Wenn wir das machen würden, was uns von- Europa ist mehr als der Euro. Das haben wir nicht nur seiten der Sozialdemokraten immer wieder empfohlen heute mehrfach betont, sondern das wird in jeder dieser wird, nämlich Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Vermö- Debatten, in denen wir über den Euro und über Europa gensteuer, der Einkommensteuer, dann hätten wir diese reden, von uns immer wieder betont – und nicht nur in Chance verspielt, dann wären wir nicht mehr Wachs- diesem Hause. tumslokomotive in Europa, wie wir es jetzt sind. 23834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Gerda Hasselfeldt (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keinen Blankoscheck geben. Darauf muss geachtet wer- (C) neten der FDP) den. Herr Steinbrück hat vorhin gesagt: Wir haben euch Eine ganz zentrale Frage ist: Wie schaffen wir es gezeigt, wie es geht. Schauen wir doch einmal: Was ha- denn, dass wir wirklich die vereinbarten Stabilitätskrite- ben Sie uns denn gezeigt? Sie haben uns gezeigt, wie rien einhalten? Es war in den vergangenen Jahren ein Fehler gemacht werden. Sie haben uns durch das Auf- ganz großes Defizit, dass von den vereinbarten Kriterien weichen der Stabilitätskriterien in Ihrer Regierungszeit abgewichen wurde. Da muss man sich fragen: Ist das al- gezeigt, wohin das führen kann: dass sich nämlich nie- les wirklich abgesichert? Reichen die jetzigen Instru- mand mehr in Europa an die Stabilitätskriterien gehalten mente? Reichen die jetzigen Kompetenzen? Diese Frage hat, weil Sie das Signal dazu gegeben haben, sich nicht ist, finde ich, durchaus berechtigt. Bei der Beantwortung daran zu halten. müssen wir sehr darauf achten, hier die richtigen Ant- worten zu geben und nicht über das Ziel hinauszuschie- Was haben Sie uns denn noch gezeigt? Sie haben uns ßen. gezeigt, wie man nach seiner Regierungszeit 5 Millionen Arbeitslose hinterlässt. 5 Millionen Menschen ohne Be- Sinn und Zweck kann nur die wirklich verbindliche schäftigung in einer Zeit, in der es keine Krise gegeben Einhaltung der Stabilitätskriterien sein. Der Stabilitäts- hat! Auf solche Rezepte können wir verzichten. rahmen muss die Grenzen dafür setzen; aber die Maß- nahmen müssen auch wirklich dazu geeignet sein, Stabi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lität zu erreichen. Da kann es sein, dass Kompetenzen Nun gibt es eine aktuelle Diskussion über die Weiter- auf eine andere Ebene übertragen werden. Sie dürfen entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich aber nur dann übertragen werden, wenn wirklich sicher- finde das richtig. Es ist notwendig, die Lehren aus der gestellt ist, dass die Stabilitätskriterien damit besser und Krise zu ziehen, die Defizite, deren Folgen wir in den verbindlicher eingehalten werden, als das bisher der Fall vergangenen Jahren erleben mussten, zu beseitigen. Da war. Vor diesem Hintergrund ist das alles zu prüfen. gibt es meines Erachtens zwei Ziele, die bei all den Maß- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nahmen, die zurzeit diskutiert werden, immer im Blick der FDP) behalten werden müssen. ist das Ziel einer Stabilitätsunion in Europa. Das Zweite ist das Ziel der Es gibt natürlich – das ist mir ein ganz besonders Wettbewerbsunion in Europa. Beide Ziele müssen glei- wichtiges Anliegen – noch eine Frage. Ich dachte eigent- chermaßen verfolgt werden. lich, diese sei mittlerweile durch die vielen Diskussionen bei uns und auch in Europa auf die Seite gelegt. In dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Bericht aber, der heute diskutiert wird, ist wieder die (B) (D) der FDP) Rede von gemeinschaftlicher Haftung. Meine Damen Diesen Zielen müssen die entsprechenden Maßnahmen, und Herren, das war und ist auch heute noch nicht das die heute diskutiert werden, die im Rat diskutiert werden richtige Mittel, um die Probleme zu lösen, und zwar des- und die in den nächsten Monaten in ganz Europa disku- halb nicht, weil dann jeder Druck von den Krisenlän- tiert werden, gerecht werden. dern, die die Hilfen nur mit Bedingungen und Auflagen bekommen, weggenommen wird. Es wird dann von den Ein Vorschlag ist die Einrichtung einer europäischen Ländern, die ihre Reformen durchführen müssen, um Bankenaufsicht. Sie ist notwendig. Sie ist richtig. Aber wettbewerbsfähig zu werden, jeder Druck genommen. bei dem Punkt einer gemeinsamen europäischen Ban- Weiter wird damit Druck von den Krisenländern genom- kenaufsicht sind noch viele Fragen zu klären: Wie viele men, ihre Haushalte zu konsolidieren. Es muss das we- Banken sollen beaufsichtigt werden? Auch hier, finde sentliche Ziel unserer Arbeit sein, für Stabilität und für ich, gilt das Subsidiaritätsprinzip. Es brauchen nicht Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen. Das kann nur in den Tausende von Banken durch die europäische Bankenauf- einzelnen Ländern geschehen. Diesen Druck wegzuneh- sicht beaufsichtigt zu werden, sondern nur die system- men, wäre fatal und würde dem Ziel widersprechen. relevanten, die grenzüberschreitenden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eine anderer Punkt ist: Wenn diese Aufsicht bei der EZB angesiedelt sein soll, muss es eine strikte Trennung Meine Damen und Herren, ich begrüße, dass die Dis- zwischen Geldpolitik und Aufsichtstätigkeit geben. kussion intensiv geführt wird. Ich weiß auch die Anliegen Nicht zuletzt muss auch klar sein: Eine direkte Banken- Deutschlands bei der Bundeskanzlerin in guten Händen. rekapitalisierung durch den ESM kann es nur dann ge- Frau Bundeskanzlerin, ich möchte mich ausdrücklich für ben, wenn diese europäische Bankenaufsicht nicht nur Ihre Standfestigkeit bei der Verhinderung von gemein- etabliert ist, nicht nur auf dem Papier steht, nicht nur schaftlicher Haftung bedanken, für die immer wiederkeh- vertraglich abgesichert ist, sondern wenn sie wirklich rende Mahnung nach Stabilität in jedem europäischen arbeitsfähig ist, wenn sie handlungsfähig ist, wenn sie Land, aber auch für die Mahnung in Richtung Wettbe- effektiv arbeiten kann. Erst dann kann es diese direkte werbsfähigkeit in jedem europäischen Land; denn davon Rekapitalisierung geben, leben wir insgesamt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europa ist mehr als derEuro, aber der Euro ist ein wichtiger Teil dieses Europas. In den letzten Monaten und auch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer haben wir gesehen, dass wir gerade in dieser Krise auch nur mit Auflagen und Bedingungen. Es darf auch hier ein Stück mehr zusammengewachsen sind. Das, was Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23835

Gerda Hasselfeldt (A) noch vor einigen Jahren nicht so selbstverständlich war, Das hat die Europäische Union kritisiert. Auf diesen Be- (C) nämlich ein Stabilitätsbewusstsein – schluss vom 6. Juli 2012 hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dr. h. c. [CDU/CSU]: Jeder Frau Kollegin! blamiert sich so, wie er kann!) Ihre Unterstellung, er habe hier die Unwahrheit gesagt, Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): ist falsch. – ich bin gleich fertig –, ist in allen Herzen der euro- papolitisch Verantwortlichen spürbar geworden. Darauf Ich finde die Tatsache, dass die Frau Bundeskanzlerin müssen wir aufbauen. in der Empfehlung dem Rat zugestimmt hat, in Ordnung. Sie hat offensichtlich dieser Empfehlung der Kommis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sion zugestimmt. Ich finde, es gibt ausreichend Gründe, die auch in Ihrer eigenen Fraktion vorgetragen werden, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: von diesem Unfug die Finger zu lassen. Warum ausge- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem rechnet Sie das noch öffentlich verteidigen, ist mir, ehr- Kollegen Sigmar Gabriel. lich gesagt, schleierhaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sigmar Gabriel (SPD): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kauder hat vorhin meinem Kollegen Steinbrück Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vorgeworfen, er habe bei dem Hinweis darauf, dass die Der Kollege Kauder zu einer Kurzintervention. Europäische Kommission Deutschland kritisiert und auf- gefordert habe, die Finger vom Betreuungsgeld zu las- Volker Kauder (CDU/CSU): sen, die Europäische Kommission falsch zitiert, und ihm Herr Kollege Gabriel, zunächst einmal finde ich es vorgeworfen, hier nicht die Wahrheit gesagt zu haben. bemerkenswert gerade aus Ihrem Munde und aus Rich- Ich will das gerne klarstellen, weil Herr Kauder unrecht tung der SPD, dass der sogenannte Zweitverdiener im- hat. Ich weiß nicht, Herr Kauder, ob es an der Überset- mer automatisch eine Frau sein soll, wie Sie es gesagt zung liegt oder woran auch immer. Ich lese es Ihnen ein- haben. fach vor, und ich finde, damit sollten wir dann diese Auseinandersetzung beenden. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (Lachen bei der CDU/CSU – Volker Kauder (D) [CDU/CSU]: Das denken Sie sich! – Gegenruf Das finde ich ausgesprochen bemerkenswert. des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: (Sigmar Gabriel [SPD]: Das sagt die Kommis- Sie können sich auch entschuldigen!) sion! Sie haben es wieder nicht gelesen! Ich – Ja, gut. – Ich unterstelle jetzt einmal, dass Sie Englisch habe es zitiert! Sie können kein Englisch!) verstehen. Deswegen lese ich es einfach vor. Die Kom- Jetzt zum Text. Wir sind uns einig, dass hier im Deut- mission hat in ihren länderspezifischen Empfehlungen schen Bundestag bei der Beratung von Vorlagen der zu Deutschland in der vom Rat gebilligten Version vom deutsche Text verwendet wird. 6. Juli 2012 ausgeführt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) The low full-time participation of women in the la- Denn noch immer ist die Sprache im deutschen Parla- bour force is a concern. ment Deutsch. Dann heißt es dort wörtlich: Jetzt will ich Ihnen vorlesen, was dort steht, damit das Fiscal disincentives for second earners and the lack klar ist: of full-time childcare facilities and all-day schools … die fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdiener hinder female labour market participation. abschafft und die Zahl der Ganztagskindertagesstät- „Fiscal disincentives for second earners“ heißt: finan- ten und -schulen erhöht. zielle Fehlanreize für Zweitverdiener. In Deutschland (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie machen das Ge- gibt es nur einen finanziellen Fehlanreiz für Zweitver- genteil!) diener, den wir aktuell debattieren, Jetzt kann ich nur sagen: Wenn ein Kanzlerkandidat unter (Widerspruch bei der CDU/CSU – Renate Künast fiskalischen Fehlanreizen für Zweitverdiener ausschließ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei!) lich das Betreuungsgeld versteht, dann ist er sowieso fehl und das ist Ihre wirklich schwierige Idee, ein Betreu- am Platz. Das ist eine unglaubliche Interpretation. ungsgeld einzuführen, um Leute bzw. Frauen daran zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hindern, arbeiten zu gehen. Herr Steinbrück hat gesagt, dass das Betreuungsgeld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kritisiert wird. Das steht nicht drin. Ich rate dringend für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Zukunft, sich präzise an das zu halten, was kommt. 23836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Volker Kauder (A) Zitate müssen stimmen. Bei Ihnen haben sie nicht ge- dass das Prinzip der Subsidiarität endlich auch stärker (C) stimmt, Herr Kollege. berücksichtigt werden muss, dass Hilfen gewährt wer- den, die aber strikt an Konditionen gebunden sind. Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss bei dieser Konditionalität bleiben. neten der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Stimmt nicht!) In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass auch die FDP niemals den Austritt von Griechen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: land gefordert hat. Der Kollege Hermann Otto Solms hat das Wort für ( [Peine] [SPD]: Niemand hat die FDP-Fraktion. die Absicht, eine Mauer zu bauen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was wir gefordert haben, ist, dass Griechenland die von der CDU/CSU) ihm selbst zugesagten Bedingungen auch erfüllt; denn wenn es das nicht tut, geraten wir selbst in Glaubwürdig- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): keitskonflikte gegenüber unseren Steuerzahlern in Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Deutschland. und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, wir sind Ihnen ( [SPD]: Dafür brauchen Sie sehr dankbar, dass Sie die Weiterentwicklung von Eu- Griechenland nicht, das schaffen Sie gut ganz ropa heute in so klarer und präziser Form geschildert und alleine!) an die Grundprinzipien erinnert haben, auf deren Basis wir Europa weiterentwickeln wollen. Wir stellen Milliarden für Griechenland zur Verfügung; aber wir wollen, dass das Geld auch vernünftig einge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten setzt wird und dazu führt, dass die Wirtschafts- und Leis- der CDU/CSU) tungskraft von Griechenland in Zukunft gestärkt wird, Dazu gehört insbesondere die demokratische Legitima- und dass das Geld nicht zweckentfremdet eingesetzt tion der zuständigen Institutionen und Körperschaften. wird. In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern, Schließlich gilt das Prinzip des Verbots der Haftungs- dass das Bundesverfassungsgericht uns erst vor kurzem vermischung. Es muss das Grundprinzip unserer Rechts- daran erinnert und angemahnt hat, dass über die Haus- ordnung gelten, dass jeder für sein Handeln verantwort- haltsmittel bzw. die Steuermittel in Deutschland der lich ist und zur Verantwortung gezogen werden kann. Bundestag alleine zu entscheiden hat. Dies gilt für den einzelnen Bürger genauso wie für den (B) Staat und die Staaten. Deswegen kann es keine Euro- (D) (Beifall bei der FDP) Bonds oder andere Formen der Haftungsvermischung Wenn jetzt die Finanztransaktionsteuer in die Diskus- geben. sion eingeführt wird, mit der ein europäischer Fonds (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) möglicherweise finanziert werden soll, dann will ich da- ran erinnern, dass dies aus unserer Sicht auf keinen Fall Herr Kollege Steinbrück, Sie haben ja neulich in einer ein Einstieg in eine Europasteuer ist. Das kommt über- Pressekonferenz einen großen Aufschlag zur Regulie- haupt nicht infrage. rung der Finanzmärkte gemacht. Die Zielsetzung ist in Ordnung; damit sind wir völlig einverstanden. Ich habe (Beifall bei der FDP) mir die einzelnen Vorschläge angeschaut und habe fest- Das Geld der Finanztransaktionsteuer steht dem Haus- gestellt, dass etwa 80 Prozent dieser Vorschläge bereits halt zur Verfügung, und der Deutsche Bundestag ent- realisiert sind scheidet darüber, wie dieses Geld eingesetzt wird. Wenn (Peer Steinbrück [SPD]: Unsinn! Stimmt nicht! – die Mittel des Strukturfonds und Kohäsionsfonds in Eu- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wunschdenken!) ropa, die teilweise nicht sehr gut eingesetzt worden sind, neu ausgerichtet werden und in vernünftige Projekte ein- oder sich auf dem Weg der Realisierung befinden und geführt werden, dann ist das eine gute Idee. dass dann als origineller Vorschlag nur noch die Frage des Trennbankensystems übrig bleibt. Dies ist, wie Sie ja Die Finanztransaktionsteuer im Übrigen – daran will auch selbst wissen, in der Fachwelt höchst umstritten. ich auch erinnern – ist an bestimmte Bedingungen gebun- Ich will gar kein Urteil darüber fällen; aber das ist jeden- den, denen wir, die Fraktionen, alle zugestimmt haben. falls ein sehr umstrittener Vorschlag. Damit werden Sie Sie soll nämlich nicht die Kleinsparer und die Altersver- keine großen Punkte machen können. Für uns ist jeden- sorgung der Riester-Rentner belasten, sie soll auch nicht falls wichtig, dass es auch in Deutschland handlungsfä- die Finanzierung des deutschen Mittelstandes belasten, hige, funktionsfähige Banken geben muss, die den deut- und sie soll den deutschen Finanzplatz im Wettbewerb schen bei einer Internationalisierung auch im mit internationalen Finanzplätzen nicht zurücksetzen. Ausland begleiten können. Dann bin ich gespannt, wie der Inhalt dieser Steuer aus- sehen wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Übrigen haben Sie daran erinnert, dass die Prinzi- pien der sozialen Marktwirtschaft gelten sollen, dass Das ist die Aufgabe der Banken, und diese Zielsetzung mehr Wettbewerb in Europa organisiert werden muss, darf in keinem Fall eingeschränkt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23837

Dr. Hermann Otto Solms (A) Die Bankenunion und die Aufsicht der Banken in Eu- das macht, schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern (C) ropa sind richtig. Aber sie muss so organisiert werden, auch dem europäischen Gedanken. dass sie auch funktioniert. Jeder in diesem Hause weiß: (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Eine neue Bankenaufsicht aufzubauen, geht nicht von heute auf morgen. Da brauchen Sie viel Sachverstand Die Politik hat mit dem ESM und mit dem Fiskalver- und qualifizierte Menschen; das dauert Jahre. Deswegen, trag grundsätzliche Bausteine für die Stabilitätsarchitek- meine ich, sollte die Aufsicht so organisiert werden, dass tur in Europa geschaffen. Wir sind mit der Finanzmarkt- sie mit den nationalen Aufsichten eng zusammenarbeitet regulierung schon ein ganzes Stück vorangekommen. und dass die europäische Bankenaufsicht im Zweifelsfall Deshalb kann man feststellen, dass diese Koalition, die eben den einzelnen Konfliktfall an sich ziehen kann, Koalition aus CDU, CSU und FDP, der Motor für die aber nicht generell für alle Banken zuständig ist. Das Stabilisierung Europas ist. Daran soll auch künftig nicht kann man auch nicht daran bemessen, ob eine Bank sys- gerüttelt werden, dabei soll es auch bleiben. Das hat uns, temrelevant ist oder nicht. Wenn Sie an die spanischen nebenbei gesagt, auch der Weltwährungsfonds in Tokio Sparkassen denken, werden Sie feststellen, dass sie ge- bestätigt, der von „significant progress“, nauso Gegenstand der Überprüfung der europäischen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja Eng- Bankenaufsicht sein können wie eben Großbanken, die lisch!) tatsächlich systemrelevant sind. Das muss man dann im Einzelfall entscheiden können. von signifikanten Fortschritten in Europa – ich habe wörtlich zitiert –, gesprochen hat. Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion setzt sich entschieden dafür ein, in Europa voranzukommen Signifikante Fortschritte sind erzielt worden, und das und ein gemeinschaftliches Europa weiterzuentwickeln, war das Ergebnis der Arbeit dieser Koalition, meine Da- aber grundsätzlich auf der Basis der demokratischen Le- men und Herren. Da brauchen wir auch keine Ratschläge gitimation. Da gibt es noch erhebliche Defizite, die zu von der Opposition, die hier mit der Attitüde – Herr Kol- beseitigen sind. lege Steinbrück, erlauben Sie mir diese Anmerkung – ei- nes etwas arrogant wirkenden Besserwissers vorgetragen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. werden; (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das tut weh!) denn wer nur darstellt, was man in der Vergangenheit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vielleicht hätte besser machen können, anstatt zu sagen, Der Kollege Norbert Barthle hat das Wort für die wohin man in Zukunft gehen muss, der verfehlt eigent- lich sein Ziel. (B) CDU/CSU-Fraktion. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Wenn Sie sich als ehemaliger Finanzminister hier hin- stellen und sagen, eigentlich müssten wir doch unsere Norbert Barthle (CDU/CSU): Ziele, was die Konsolidierung anbelangt, viel schneller erreichen, dann rate ich Ihnen: Wenden Sie sich an Ihre Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! eigenen Haushälter. Ich bin gespannt auf die Einsparvor- Wir befinden uns jetzt im Vorfeld des Europäischen Ra- schläge. Bei der Infrastruktur und den Investitionen kön- tes wieder in der Situation, uns ernsthaft mit dem Thema nen wir nicht weiter sparen. Wo es noch Spielräume Europa auseinandersetzen zu müssen. Nach wie vor gäbe, das wäre im sozialen Bereich. Da bin ich einmal müssen wir einerseits kurzfristige Stabilisierungsmaß- gespannt auf Ihre Vorschläge. nahmen ergreifen – ich denke an Griechenland, ich denke an Spanien –, andererseits aber auch grundsätzli- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie wäre es che, weitreichende Weichenstellungen für die Zukunft denn mit dem Betreuungsgeld? – Swen Schulz der Europäischen Union und der Euro-Zone vornehmen. [Spandau] [SPD]: Haben Sie schon mal was Lassen Sie mich deshalb drei kurze Anmerkungen ma- von höheren Einnahmen gehört? – Gegenruf chen. des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Steuer- erhöhung ist immer eure Lösung! Sagen Sie es Erstens. Es ist gerade in diesen aufgeregten Zeiten doch!) immer gut, sich zu vergewissern, was unsere Grundposi- tionen sind. Sie lauten für mich eindeutig: Alle Mitglied- Zweitens. Wir brauchen für die Zukunft Europas wei- staaten sind aufgefordert, solide zu wirtschaften und ihre tere Korrekturen an den Fundamenten unserer Wäh- Volkswirtschaft wettbewerbsfähig aufzustellen. rungsunion. Dazu trägt der jetzige Rat mit Sicherheit bei, vor allem dann bis Ende des Jahres. Unsere Positionen Wir brauchen ein vernünftig reguliertes Finanzsys- sind ganz klipp und klar: keine systematische Verge- tem, um Exzesse in jede Richtung vermeiden zu können. meinschaftung von Schulden, keine Euro-Bonds, keine Unsere Banken sind Voraussetzung für funktionsfähige Altschuldentilgungsfonds. Märkte, sind der Schmierstoff für eine wachsende Wirt- SPD und Grüne klatschen immer Beifall, wenn sie schaft, für wettbewerbsfähige Staaten. Daran darf man den Begriff Altschuldentilgungsfonds hören. nicht rütteln. Deshalb appelliere ich vor allem an die Op- position, von eventuellen Überlegungen, einen Anti- (Beifall des Abg. Swen Schulz [Spandau] Banken-Wahlkampf zu führen, Abstand zu nehmen. Wer [SPD]) 23838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Norbert Barthle (A) Die Position muss klar sein: Ein Altschuldentilgungs- strukturierungsmöglichkeit, um bei Fehlentwicklungen (C) fonds darf niemals dazu führen, dass man den Ländern, eingreifen zu können, vor allem bei den großen, system- die ohnehin über eine überhöhte Verschuldung klagen, relevanten Banken. die Möglichkeit eröffnet, erneut Schulden aufzunehmen. Wir wollen allerdings nicht, dass national, regional Das wäre der falsche Weg; er führt in die Irre. Deshalb oder gar lokal tätige Institute in diese Haftung einbezo- sind wir an dieser Stelle sehr zurückhaltend. gen werden. Uns geht es um grenzüberschreitend tätige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Großbanken, um systemrelevante Banken. „Too big to der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ha- fail“ muss der Vergangenheit angehören. Dazu braucht ben Sie schon mal den Sachverständigenrat es entsprechende Vorkehrungen. gehört?) Ich freue mich, dass unsere Bundesregierung, allen Wir sind der Meinung: Die Euro-Zone muss hand- voran unsere Bundeskanzlerin, in der Vergangenheit in lungsfähig bleiben. Deshalb darf es auch nicht sein, dass all diesen Fragen immer mit großer Standhaftigkeit und einige wenige Staaten dauerhaft wichtige Projekte, die mit großer Beharrlichkeit verhandelt hat. Das war er- zur Stabilität beitragen, blockieren können. Deswegen folgreich, und das wird auch in Zukunft erfolgreich blei- braucht es neue Regelungen. Man hat immer wieder den ben. Ich wünsche unserer Bundeskanzlerin für die anste- Eindruck: Auf den Gipfeln vereinbart man donnerstags henden Verhandlungen dieselbe Standhaftigkeit und und freitags gute Beschlüsse, schließt man gute Verträge, Beharrlichkeit. aber kaum ist der eine oder andere montags zu Hause, Herzlichen Dank. dann überlegt er, wie er um die Regeln herumkommt. Das ist in der Vergangenheit unter Rot-Grün mit den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Maastricht-Kriterien passiert. So etwas darf es in Zu- neten der FDP) kunft nicht mehr geben. Auch dafür müssen wir Vorkeh- rungen treffen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es dann noch gelingt, für entsprechende Kon- Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort trollmechanismen eine stärkere demokratische Legitima- für die CDU/CSU-Fraktion. tion einzubauen, dann kommen wir tatsächlich weiter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dabei kommen wir sehr schnell zur Frage der nationalen der FDP) Haushalte und zum Budgetrecht des Bundestages. Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Euro- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): päischen Semester beschlossen, dass Haushalte bereits (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) im Entwurfsstadium nach Brüssel gemeldet werden. Das Wir haben in den letzten fünf Jahren drei Krisen erlebt: ist gut und richtig, und das haben wir alle beklatscht. Es erst die Bankenkrise 2007, die Finanzkrise, 2009 die entsteht jedoch die Frage: Was geschieht dann? Werden Wirtschaftskrise und Anfang 2010 den Beginn der die Haushalte nur zur Kenntnis genommen, oder gibt es Staatsschuldenkrise. Die meisten wissen gar nicht, dass tatsächlich jemanden, der die Gelbe oder die Rote Karte wir, diese Koalition, erst seit drei Jahren an der Regie- ziehen kann, wenn ein nationaler Haushalt aus dem Ru- rung sind. Wir hätten diese Probleme heute nicht, wenn der läuft und Korrekturnotwendigkeiten entdeckt wer- nicht des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends die den? Eine solche Person müssen wir auf europäischer rot-grüne Koalition den Stabilitätspakt gebrochen hätte. Ebene demokratisch legitimieren, damit sie die Gelbe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der oder die Rote Karte ziehen und sagen kann: Freunde, ihr FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!) müsst noch einmal darüber nachdenken, ob ihr auf dem richtigen Weg seid. Herr Steinbrück hat in seiner Rede intensiv über Fi- nanzmarktregulierung gesprochen. Wir haben in diesen (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wie wollen drei Jahren über zwanzig Maßnahmen der Finanzmarkt- wir dann unsere Budgethoheit aufrechterhal- regulierung durchgeführt. Das Wichtigste war: mehr Ei- ten?) genkapital, insbesondere bei großen Banken. Heute Mehr Europa heißt an mancher Stelle auch: mehr Kon- Nachmittag diskutieren wir über die Widerstandskraft trolle, aber eben demokratisch legitimierte Kontrolle. der Banken in Deutschland und in Europa, insbesondere über die Themen Eigenkapital und Liquidität. Parallel Drittens. Lassen Sie mich ein kurzes Wort zur Ban- dazu diskutieren wir über die Regulierung von Hedge- kenunion sagen. Unsere Bundeskanzlerin hat recht, fonds. Parallel dazu diskutieren wir über eine Regulie- wenn sie sagt: Zuerst braucht es eine funktionierende rung außerbörslich gehandelter Derivate. Aufsicht; dann kann man über alles Weitere reden. Eine Übernahme von Haftung kann nicht zuvor erfolgen, son- Wir in Deutschland sind die Ersten, die ein Restruktu- dern erst dann, wenn es eine funktionierende Aufsicht rierungsgesetz verabschiedet haben – mit einer Banken- gibt. Deshalb genügt es nicht, sozusagen auf der Über- abgabe. holspur irgendwelche Strukturen aufs Papier zu schrei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ben. Aufsichtsstrukturen müssen auch installiert werden, der FDP) damit man entsprechende Vorkehrungen treffen kann. Bei Fehlentwicklungen muss eingegriffen werden kön- Wir sind die Ersten mit einer Regulierung des Hochge- nen. Wir brauchen europaweit so etwas wie eine Re- schwindigkeitshandels. Wir sind die Ersten mit dem Ver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23839

Klaus-Peter Flosbach (A) bot der sogenannten ungedeckten Leerverkäufe, der Spe- Aufsicht angeht, eine demokratische Kontrolle gewähr- (C) kulationsgeschäfte. Wir sind auch die Ersten mit einer leistet ist. neuen Regelung der Honorarberatung. Wir haben den Anlegerschutz verbessert. Es wird viel davon gesprochen, dass schon zum 1. Ja- nuar die Bankenunion realisiert werden sollte. Nicht nur Wir diskutieren auch über die europäische Aufsicht wir, sondern auch die Wissenschaft haben größte Zwei- über Banken, Versicherungen und Wertpapiere, die wir fel daran. Wer marktunabhängig ist, weiß, dass das im auch inzwischen umgesetzt haben. Auch das Thema Grunde nicht umsetzbar ist; denn es sind nur noch zwei Schattenbanken ist aktuell in der Beratung. Ebenso ist Monate bis zum Jahresende. Wir können eine gemein- der Vorschlag von Liikanen – Stichwort: Eigenhandel same Bankenaufsicht nur dann akzeptieren, wenn eine der Banken bzw. Trennbanken – in der Debatte. Herr spürbare Verbesserung gewährleistet ist, wenn die Zu- Steinbrück, Sie haben über dieses Thema gesprochen. ständigkeiten geklärt sind und auch das Verhältnis von Ich mache Ihnen keinen Vorwurf; denn Sie haben nicht Europäischer Zentralbank zu den nationalen Aufsichts- mit uns über diese Themen diskutiert. Ich habe von Ih- behörden und den europäischen Behörden geklärt ist. nen mehrere Reden aus dem Jahr 2009 nachgelesen. Sie haben immer über Ihre Bemühungen gesprochen, erst Es gibt den Vorwurf, dass viele dies schnell umsetzen auf der internationalen und der europäischen Ebene und wollen, um möglicherweise ohne Konditionen an Gelder erst dann auf deutscher Ebene etwas umzusetzen. Herr aus dem ESM zu kommen. Deswegen fordere ich die Steinbrück, wir haben uns nicht bemüht, wir haben um- Bundeskanzlerin auf, bei den Verhandlungen mit den gesetzt. Diese Regierung mit Kanzlerin Merkel und mit Präsidenten der verschiedenen europäischen Institutio- Finanzminister Schäuble hat in den letzten drei Jahren nen deutlich zu machen, dass wir erst dann eine Abgabe Maßnahmen umgesetzt. von Souveränitätsrechten akzeptieren werden, wenn die Funktionsfähigkeit der europäischen Aufsicht gegeben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist. Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem Euro- Auf europäischer Ebene wird bei dem Thema Ban- päischen Rat. Es wird über eine einheitliche Bankenauf- kenunion auch über das Restrukturierungsgesetz gespro- sicht diskutiert. Wir sprechen von der Bankenunion. chen. Wir halten das für den richtigen Weg. Banken, die Kann die Aufsicht verbessert werden? Ich bin der Mei- in eine Schieflage geraten, müssen saniert werden, sie nung: Ja, die Bankenaufsicht kann verbessert werden. müssen aber auch gegebenenfalls restrukturiert oder Das bisherige System der Regulierungsbehörde, der auch abgewickelt werden können. Wir müssen in dieser EBA – so heißt sie –, in Verbindung mit den nationalen Phase aufpassen, dass wir nicht Entscheidungen auf die Behörden ist meines Erachtens nicht ausreichend. Ich europäische Ebene verlagern, ohne dass vorher die na- (B) denke, eine europäische Aufsicht einzurichten, die bei tionale Verantwortung dafür geprüft wurde. Wir erwar- (D) systemrelevanten Banken durchgreift, die international ten, dass jede Bank, die in Zukunft auf europäischer tätig sind, ist genau der richtige Weg. In der Startphase Ebene geprüft wird, zunächst einen Stresstest durchläuft. sind hier natürlich die nationalen Aufsichtsbehörden ge- Es muss deutlich gemacht werden, dass die Verantwor- fordert. Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz. tung für die Banken zuerst auf nationaler Ebene wahrge- Es kann aber nicht sein, dass alle Banken einer euro- nommen werden muss, damit nicht einige Länder ihre päischen Aufsicht unterstehen. Es gibt das Prinzip der Verantwortung auf Europa abschieben, um von Zahlun- Subsidiarität – Frau Hasselfeldt hat es gerade noch ein- gen befreit zu sein. mal deutlich dargestellt –, das besagt: Was vor Ort gere- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. gelt werden kann, muss auch vor Ort geregelt werden. Wir akzeptieren keine gemeinsame Einlagensicherung. Deswegen kann ich nicht akzeptieren, dass zum Beispiel Wir haben in Deutschland ein bewährtes System mit den Volksbanken, die vor Ort tätig sind, der Aufsicht von Eu- verschiedenen Säulen. Das hat sich bewährt. Wir sollten ropa unterstehen. nicht zerstören, was sich bisher bewährt hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kauder [CDU/CSU]: Sparkassen!) neten der FDP) Nein, überall dort, wo es systemische Risiken gibt, Ich kann nur sagen: Diese Regierung steht für Stabili- muss es selbstverständlich eine europäische Aufsicht ge- tät. Diese Regierung steht zu Europa. Deswegen wün- ben, ansonsten ist die Aufsicht vor Ort zu regeln. sche ich unserer Kanzlerin viel Erfolg beim anstehenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gipfel. Die Rolle der europäischen Aufsicht soll die Europäi- Vielen Dank. sche Zentralbank übernehmen. Das ist natürlich eine neue Rolle für die Europäische Zentralbank; denn sie ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bisher ausschließlich für die Finanzmarktstabilität zu- ständig. In Zukunft soll sie auch eine Aufsichtsrolle Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: übernehmen, und zwar neben der Geldversorgung. Nach Michael Stübgen hat jetzt das Wort für die CDU/ wie vor ist sie für die Banken zuständig. Hier gibt es na- CSU-Fraktion. türlich einen Konflikt. Deswegen erwarten wir, dass eine klare Trennung vorgenommen wird und dass, was die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 23840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Michael Stübgen (CDU/CSU): nachlesen –, als welches Instrument die Europäische (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Kommission die gemeinsame Bankenaufsicht sieht. Sie Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit bald drei sieht diese gemeinsame Bankenaufsicht eben nicht als Jahren beschäftigen wir uns in diesem Bundestag regel- eine langfristige, nachhaltige Orientierung zu mehr Kon- mäßig mit der Euro-Finanzierungskrise; ich glaube, so trolle der Bankenpolitiken in der Europäischen Union, formuliert man es am besten. Von Anfang an haben nicht sondern als kurzfristiges zusätzliches Kriseninstrument. nur die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, Das erkennt man auch, wenn man sich den Verord- sondern im Wesentlichen vier Fraktionen in diesem nungsvorschlag anschaut. Dieser ist sehr kurz und knapp Haus immer einen doppelten Ansatz versucht. gefasst, geht in keinem einzigen Punkt ins Detail, soll Zunächst war und ist es notwendig, dass wir direkt am besten ganz schnell verabschiedet werden und am mit den entsprechenden Rettungsschirmen auf die Krise 1. Januar 2013 in Kraft treten. Wenn wir einmal anneh- reagieren und Hilfsprogramme durchführen. Daran ar- men, das würde funktionieren, dann wären wir spätes- beiten wir seit zweieinhalb Jahren. Wir haben mit In- tens Mitte 2013 in der Lage, durch den ESM – kleine krafttreten des Europäischen Stabilitätsmechanismus Änderungen sind notwendig, so die Vorstellung der jetzt auch ein effizientes, effektives System geschaffen. Kommission –, eine direkte Bankenrekapitalisierung vorzunehmen. Nach meiner Einschätzung sind die flankierenden Maßnahmen, die die Europäische Zentralbank unabhän- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser von gig, von sich aus für bestimmte Instrumente vorsieht, der der Europäischen Kommission vorgestellte Weg ist ein richtige Ansatz, um jetzt in der Krise schnell auf Holzweg. Ich kann zwar verstehen, dass krisengeschüt- schlechte Entwicklungen an den Finanzmärkten und auf telte Euro-Länder natürlich überlegen, möglicherweise Entwicklungen im Zusammenhang mit der Euro-Staa- über diesen Umweg Rettungsmittel zu erhalten, wenn sie tenfinanzierung reagieren zu können. notleidend sind, ohne sich mit der lästigen Troika aus- Allerdings haben wir uns auch von Anfang an mit einandersetzen zu müssen. Verstehen kann ich das, es dem Thema beschäftigt, dass die Ursache dieser Krise, wäre aber trotzdem der falsche Weg. in der wir versuchen, kurzfristig das Schlimmste zu ver- Wenn wir auf diese Weise in die Situation kommen hindern, auch in Fehlkonstruktionen der Europäischen würden, die Kontrolle und die Konditionalität der euro- Union und der europäischen Strukturen liegt. päischen Hilfen aufzugeben, dann beraubten wir uns der Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns damit beschäf- Sicherheit, dass die Gelder, die wir als Bürgschaften zur tigen. Schon vor anderthalb Jahren haben wir mit dem Verfügung stellen, auch zurückgezahlt werden. Das wäre Euro-Plus-Pakt auf Fehlkonstruktionen der Europäi- ein falscher Weg. (B) schen Union reagieren wollen. Das sogenannte Six-Pack (Beifall bei der CDU/CSU) (D) – die Kanzlerin hat darauf hingewiesen –, die Schärfung der Kontrolle der Fiskalpolitik, aber auch der Wirt- Kollege Flosbach hat es angesprochen: Der Ansatz schaftspolitik der Euro-Länder, ist ein wichtiger Be- der Europäischen Kommission ist ein sehr zentraler, man standteil für einen langfristigen Umbau. kann auch sagen: zentralistischer. Nach Vorstellung der Europäischen Kommission soll die EZB in Kombination Wir alle wissen, dass die Europäische Union an ver- mit der EBA alle europäischen Banken am besten auf schiedenen Punkten noch weiter umstrukturiert werden Anhieb kontrollieren, weit über 6 000. Abgesehen da- muss. Hierüber wird der Europäische Rat heute Abend von, wieweit das überhaupt möglich ist, was für ein Heer und morgen in einer Art Zwischenetappe diskutieren, je- von Kontrolleuren man brauchte, um das umzusetzen, doch noch nicht zu Endergebnissen kommen. und wie lange es dauern würde, bis es effizient funktio- Nach meiner Einschätzung ist das angestrebte Ziel nieren kann, ist hier über eine wichtige Frage zu der vier Präsidenten, die sogenannte Vier-Säulen-Struk- entscheiden. Nach unseren Erfahrungen mit der europäi- tur, der richtige Ansatz. Die vier Präsidenten haben fest- schen Finanzierungskrise wissen wir, dass die systemi- gestellt: Wir brauchen eine gemeinsame europäische schen Banken starke Auslöser großer Krisen sind. Syste- Bankenkontrolle, wir brauchen eine europäische Fiskal- mische Banken – das wissen wir – sind durch nationale kontrolle, wir brauchen eine stärkere Verzahnung der Kontrollbehörden nicht ausreichend zu kontrollieren. europäischen Wirtschaftspolitik für mehr Wettbewerb Also ist es wichtig, dass wir zu einer europäischen Kon- und Wachstum, und wir brauchen für die neuen Instru- trolle kommen, wobei sich aber die Europäische Zentral- mente und Kompetenzübertragungen an die Europäische bank in erster Linie auf die systemischen Banken kon- Union eine ausreichende demokratische Kontrolle und zentriert. Legitimierung. Allerdings muss ich einen Zusatz machen: Die Euro- Zu einem dieser Punkte liegen uns mittlerweile kon- päische Kommission liegt in einem Punkt richtig. Wir krete Vorschläge der Europäischen Kommission, und wissen aus der europäischen Verschuldungskrise und aus zwar zur sogenannten europäischen Bankenkontrolle, den Erfahrungen gerade mit der Immobilienblase in Spa- sowie zwei Verordnungsvorschläge, einer zum Kontroll- nien, dass es nicht nur die systemischen Banken sein gremium und einer zur Umstrukturierung der EBA, vor. müssen, die eine falsche Politik, eine geradezu abenteu- Hierzu will ich einige Punkte nennen. erliche Kreditvergabepolitik betreiben, sondern es kön- nen – wie in Spanien über viele Jahre – auch andere sein. Ein grundsätzliches Problem besteht darin – das kann Insofern wissen wir: Es wird nicht ausreichen, dass eine man in dem vorgeschlagenen Text leider nicht genau europäische Kontrolle vor kleinen und Regionalbanken Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23841

Michael Stübgen (A) absolut haltmacht. Deswegen unterstütze ich den Vor- Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrie- (C) schlag der Bundesregierung, in einem solchen Fall zu ei- ben die Teilnahme an der dualen Ausbildung nem Einstiegsrecht der oberen Behörde zu kommen, ermöglichen welches klar definiert ist und nur dann wahrgenommen werden kann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, – Drucksache 17/9586 – dass die nationalen Kontrollen versagen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte Technikfolgenabschätzung (f) diesen Kommissionsvorschlag für eine gute Arbeits- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie grundlage. Ich denke aber, dass wir noch sehr intensiv an Ausschuss für Arbeit und Soziales  den Detailfragen arbeiten müssen. Wenn wir dies hin- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bekommen, dann werden wir zu einer funktionierenden d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- europäischen Bankenkontrolle kommen. Das wird nach gierung meiner Einschätzung aber frühestens übernächstes Jahr sein und nicht schon Anfang nächsten Jahres. Berufsbildungsbericht 2012 Ich danke für die Aufmerksamkeit. – Drucksache 17/9700 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Bildung, Forschung und neten der FDP) Technikfolgenabschätzung (f) Sportausschuss  Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales  Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Ausschuss für Gesundheit  Ausschuss für Tourismus  ßungsantrag der Fraktion der SPD, den Sie auf Druck- Haushaltsausschuss sache 17/11003 finden. Wer stimmt für den Entschlie- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Zuge- Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael stimmt hat die einbringende Fraktion. Abgelehnt wurde Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- er von CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Linke tion der CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen. sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abge- Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d so- ordneter und der Fraktion der FDP wie den Zusatzpunkt 2 auf: (B) (D) 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Das deutsche Berufsbildungssystem – Versi- Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- cherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fachkräftemangel Fraktion der SPD – Drucksache 17/10986 – Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 17/10116 – Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Arbeit und Soziales  Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales  Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debat- Haushaltsausschuss tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, wei- Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Willi Brase terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men- (Beifall bei der SPD) schen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbil- dung für alle garantieren Willi Brase (SPD): – Drucksache 17/10856 – Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnen Überweisungsvorschlag: und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir dis- Ausschuss für Bildung, Forschung und kutieren heute über die Ausbildungspolitik in der Bun- Technikfolgenabschätzung (f) desrepublik Deutschland. Wir haben wie immer einen Ausschuss für Arbeit und Soziales  gelungenen und guten Berufsbildungsbericht, der die Haushaltsausschuss Situation anhand von Zahlen verdeutlicht. Wenn wir c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai gleich hören werden, dass alles wunderbar ist, dass wir Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weite- sehr viele Ausbildungsplätze haben, aber angeblich nicht rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- genügend Auszubildende, nicht genügend Jugendliche, NIS 90/DIE GRÜNEN die ausbildungsreif sind, so verweise ich auf die BIBB- 23842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Willi Brase (A) Studie, die feststellt: Das, was wir derzeit zahlenmäßig alle farbenmäßig völlig unterschiedlich regiert – auf den (C) am Ausbildungsmarkt erleben, ist auch ein Produkt der Weg bringen wollen. Wir wollen, dass das duale System demografischen Entwicklung und weniger ein Produkt weiter ausgebaut wird. Ich sagte eingangs, dass sich der Regierungspolitik von Rot-Grün. 50 Prozent der Auszubildenden im dualen System befin- den. Dieser Anteil müsste gesteigert werden. Schließlich (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai gibt es immer noch genügend Betriebe, die zwar die Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ausbildungsfähigkeit besitzen, aber nicht ausbilden. In- Lachen des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]) sofern erwarten wir auch vom Nationalen Pakt Initiati- Wir haben derzeit 50 Prozent der jungen Leute in ven, damit mehr Betriebe dazu gebracht werden, sich an dualer Ausbildung, 20 Prozent in schulisch-beruflicher der dualen Ausbildung zu beteiligen. Das geht nicht mit Ausbildung nach Landesrecht und 30 Prozent im Über- Schönwetterreden. Da muss man teilweise auch Druck gangssystem. Wir von der SPD sind der Meinung, dass machen. das, was derzeitig im Übergangssystem abläuft, nicht (Beifall bei der SPD) mehr ertragbar ist und die Aktivitäten, die im Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Also, diese Ausbildungsgarantie ist machbar. Wenn Deutschland beschlossen wurden, ungenügend, teilweise diese im dualen System allerdings nicht unterzubringen sogar gar nicht umgesetzt wurden. Es ist zu kritisieren, ist, dann sind wir für eine staatlich finanzierte Ausbil- dass sich die Bundesregierung im Pakt zwar verpflichtet dungsunterstützung. Das kann im vollzeitschulischen hat, ihren Wust an Maßnahmen im Übergangssystem ein Bereich sein. Das kann bei den ÜBSen sein. Das kann Stück weit zu durchforsten, dass aber als Ergebnis he- bei den Berufsbildungszentren sein, und das kann auf rausgekommen ist: Wir können nichts ändern, aber wir der Grundlage BBiG, Handwerksordnung oder mögli- wollen das zukünftig bei neuen Maßnahmen ein biss- cherweise auch Landesrecht geschehen. Das ist für die chen berücksichtigen. – Das ist absolut mangelhaft. Wir jungen Menschen allemal besser, als ein, zwei oder drei wissen, dass die Vielfalt der Maßnahmen im Übergangs- Jahre im Übergangssystem zu verweilen. system zu groß und daher nicht hilfreich ist. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn das nicht reicht, sehr geehrte Kolleginnen und DIE GRÜNEN) Kollegen, dann müssen wir uns um die kümmern, die Da verweise ich doch gerne auf neun Bundesländer, tatsächlich Probleme haben und möglicherweise noch die 2009 die Initiative „Übergang mit System“ gestartet nicht die nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen besit- zen, um in Ausbildung zu gehen. Da erachte ich die Ein- haben. Die Bertelsmann-Stiftung – keine Kaderschmiede führung einer „Einstiegsqualifizierung Plus“ als weiteres der SPD – hat diesen Prozess begleitet und festgestellt: (B) Segment der Abqualifizierung oder der weiteren Austa- (D) Wenn wir dieses Übergangssystem mit der Vielfalt an rierung als völlig falsch. Es reicht völlig aus, die Ein- Aktivitäten auf kommunaler, auf Landes- und auf Bun- stiegsqualifizierung zu nehmen und diese Einstiegsquali- desebene und teilweise EU-finanziert weiterführen, wer- fizierung nur bei den Jugendlichen, die diese benötigen, den wir auch noch 2025 230 000 junge Leute mehrjährig und nicht bei den sogenannten Marktbenachteiligten vo- in diesem Übergangssystem vorfinden. Das ist verkehrt rauszusetzen. Das ist der falsche Weg. und falsch. Wir müssen schauen, dass wir von diesem System wegkommen. Wenn die Wirtschaft wirklich im Sinne von Fachkräf- teentwicklung Leute braucht, dann muss man den Weg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gehen, dass man auch den Marktbenachteiligten hilft. DIE GRÜNEN) Zur Not müssen wir auch die Hürden der Einstiegsquali- Sie, die Vertreter der Bertelsmann-Stiftung, haben wei- fizierung erhöhen, aber wir sollten nicht „Einstiegsquali- ter überlegt: Wie können wir unsere Forderung „Kein Ab- fizierung Plus“ einführen. Das ist der falsche Weg. schluss ohne Anschluss“ auf den Weg bringen? – Sie sa- (Beifall bei der SPD) gen: Würden wir sozusagen eine Ausbildungsgarantie für die jungen Leute aussprechen, dann könnten wir nicht nur Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, weil dieser real Geld sparen – das Übergangssystem kostet mittler- zunehmend eine Rolle spielt. Das ist die Qualität und die weile 6 Milliarden Euro jährlich und ist insofern höchst Qualitätsentwicklung in der beruflichen Bildung. Wenn ineffizient –, sondern langfristig auch 150 000 oder es richtig ist, Frau Ministerin, dass der Nationale Pakt 160 000 junge Menschen direkt und besser qualifizieren für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs diesen Punkt und in Ausbildung bringen. als wesentlichen Aspekt enthält, dann darf man auch ein- mal nachfragen, was wir mit den 1,5 Millionen Men- Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auf- schen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss fordern, diesen Prozess zu unterstützen, damit die Viel- machen. Ich meine diejenigen, die weder eine duale Be- falt der Maßnahmen in diesem System endlich verringert rufsausbildung noch eine Ausbildung nach Landesrecht wird. Es ist völlig falsch, meine Damen und Herren. noch eine Assistentenausbildung oder einen Hochschul- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ abschluss haben. Was machen wir mit denen? Wie pa- DIE GRÜNEN) cken wir die an? Das sind 1,5 Millionen. In der Alters- gruppe der 25- bis 35-Jährigen sind es sogar 2 Millionen. Wenn wir von Ausbildungsgarantie sprechen, dann Das heißt, wir haben eine Menge Leute, die nicht qualifi- sagen wir als SPD: Ja, wir wollen das machen, was diese ziert sind. Wir brauchen endlich konzeptionelle Vor- neun Bundesländer ein Stück weit – übrigens werden schläge, wie wir diesen Menschen über das SGB III oder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23843

Willi Brase (A) das SGB II – eventuell benötigen wir dafür Steuermittel – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) eine Chance geben können. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette Schavan. Wir wissen alle: Wer nicht qualifiziert ist, geht in den Niedriglohnbereich. Ich spare mir jetzt einen Debatten- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitrag dazu. Im Niedriglohnbereich verdient er aber nicht viel, und im Alter muss er Grundsicherung bekom- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- men. Das ist doch „linke Tasche – rechte Tasche“. Das dung und Forschung: bringt doch nichts. Legen Sie ein gutes Konzept vor, wie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir diese hohe Zahl von 1,5 Millionen Menschen ein Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die berufliche Stück weit verringern können. Bildung, die duale Ausbildung erfahren international (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derzeit eine Zustimmung und Akzeptanz wie nie zuvor. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Das hat zwei Gründe: Der eine ist die hohe Arbeitslosig- GRÜNEN) keit unter jungen Leuten, und zwar nicht nur in europäi- schen Ländern. In vielen Regionen der Welt besteht die Die DGB-Jugend befragt alljährlich – auch dieses Gefahr, dass ein akademisches Proletariat entsteht. Der Jahr wieder – die an der dualen Ausbildung Beteiligten, zweite Grund hängt mit der Frage zusammen, wie es an- vor allen Dingen die Auszubildenden, wie sie die Quali- gesichts des raschen technologischen Wandels und der tät ihrer Ausbildung einschätzen. Es verwundert die raschen Entwicklung des Selbstverständnisses und der Fachleute nicht, dass dabei herauskam, dass der Bereich Anforderungen der Unternehmen gelingen kann, die Hotel und Gaststätten allergrößte Probleme hat. Gleich- richtigen Fachkräfte zu bekommen. zeitig diskutieren wir – ich bin auch Mitglied im Aus- schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- Angesichts dessen sagen Kollegen aus Europa, aus schutz – über die Weiterentwicklung des Tourismus. Südamerika, aus Indien, aus China und vielen anderen Dazu sage ich: In diesem Bereich müssen schnell Maß- Ländern: Wir wollen diese starke Seite des Bildungssys- nahmen ergriffen werden. Die Abbrecherquote ist hoch. tems in den deutschsprachigen Ländern einführen. Des- Zwischen 40 und 50 Prozent der Ausbildungsverträge halb werden wir eine europäische Berufsbildungskonfe- werden aufgelöst. Zwischen 20 und 25 Prozent der Aus- renz in Berlin durchführen. Wir wollen uns nicht nur mit bildungsplätze sind unbesetzt. der Frage beschäftigen, wer aus anderen Ländern kurz- fristig nach Deutschland kommen kann, um hier ausge- Ich will darauf hinweisen – damit will ich nicht Wer- bildet zu werden, sondern wir wollen uns auch mit der bung machen, sondern verdeutlichen, dass manches, was Frage beschäftigen, wie die Bildungssysteme und Lern- wir hier beschlossen haben, durchaus Sinn hatte –, dass (B) kulturen in anderen Ländern durch die Zusammenarbeit (D) sich im Kammerbezirk meines Wahlkreises -Witt- verschiedener Akteure und mithilfe eines großen Einsat- genstein Vertreter der Gewerkschaften, der Kammer und zes der Unternehmen weiterentwickelt werden können. der Betriebe zusammengesetzt haben, um die Frage zu klären, wie man diese schwierige Situation verändern Es stimmt, was im BIBB-Bericht steht, also im Be- kann. Ich sage nichts zu dem Prüfungsergebnis; denn das richt des Bundesinstituts für Berufsbildung: Die jetzige wäre schon fast peinlich. Entwicklung hat mit der demografischen Veränderung zu tun. Die Frage ist: Wie können wir diese Situation ändern? Im Jahr 2005 haben wir mit der Reform des BBiG den Lieber Herr Brase, Sie haben recht, wenn Sie sagen, örtlichen Berufsbildungsausschüssen mehr Aufgaben dass die guten Zahlen nicht nur das Ergebnis rot-grüner gegeben und sie beauftragt, sich um die Qualität zu küm- Regierungspolitik sind; da stimme ich Ihnen sofort zu. mern. Ich kann nur jeder und jedem empfehlen, vor Ort Das Ergebnis nur unserer Regierungspolitik sind sie aber zu schauen, wie es um die Qualität bestellt ist. Ausbil- auch nicht. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün ist aus- dungsmärkte sind regionale Märkte. Manchmal müssen schlaggebend. Aber unterschätzen wir nicht das, was sich auch die Kammern bewegen. Manchmal müssen sie diese Bundesregierung seit 2005 gerade im Blick auf auf Unternehmen zugehen und Druck machen, damit die benachteiligte Jugendliche, gerade im Blick auf die Wei- Ausbildung besser wird. Schauen Sie sich den Ausbil- terentwicklung der beruflichen Bildung auf den Weg ge- dungsreport 2012 der DGB-Jugend an. Darin steckt eine bracht hat. Ohne kluge Politik entwickelt sich Berufsbil- Aufforderung, darüber zu diskutieren, wie wir die Quali- dungspolitik nicht weiter. tät im Bereich der beruflichen Bildung verbessern kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen. Wenn die Fachkräftediskussion einen Sinn haben soll, dann müssen wir bei der Qualität ansetzen. Dann Damit komme ich zu den Fakten. Die Zahl der Ausbil- dürfen Überstunden, schlechte Bezahlung, schlechte Ar- dungsverträge hat sich bundesweit um 10 000 erhöht. beitsbedingungen usw. usf. nicht auf der Tagesordnung Entsprechend ist die Zahl derer, die unversorgt sind, deut- stehen. Dann muss die duale Ausbildung auch ein hohes lich zurückgegangen. Verglichen mit 2010 gibt es einen Maß an Qualität aufweisen. Dann ist sie vertretbar, und Rückgang um 10 000 bzw. 5,7 Prozent. In dieser Gruppe dann lässt sie sich auch im Ausland gut verkaufen. sind jetzt noch rund 174 000. Das ist die Gruppe, die Sie unter anderem angesprochen haben, um die wir uns be- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sonders kümmern. Man muss allerdings auch sagen: Al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lein in den letzten vier Jahren ist diese Gruppe um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 100 000 zurückgegangen. Der Rückgang um 100 000 im 23844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Übergangssystem ist nicht Konsequenz der demografi- che Schulen und Ausbildungsbetriebe besucht, der weiß, (C) schen Entwicklung, sondern Konsequenz zahlreicher dass es für die Ausbildungsbetriebe wichtig ist, dass die Maßnahmen mit vielen Akteuren. Dazu gehört unter an- Ausbildung in der Nähe des Betriebes stattfindet. Aber derem der Ausbildungspakt der Bundesregierung. bei immer mehr klassischen Berufsbildern müssen die jungen Leute viele Kilometer fahren, um überhaupt noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beschult zu werden. Deshalb werden wir den Prozess der Die Zahl der Eintritte in das Übergangssystem ist um Bildung von Berufsgruppen im Zuge der Neuordnung 8 Prozent gesunken. Auch das ist interessant, Herr von Berufsbildern deutlich voranbringen. Wir werden Brase: Die Zahl derer, die in das Übergangssystem ge- Sorge dafür tragen, dass attraktive Bildungs- und Be- kommen sind, ist seit 2005 um knapp 30 Prozent gesun- rufsperspektiven damit verbunden sind. ken. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich. Wir haben eine Berufsfamilie oder Berufsgruppe – wie man es nennt, Verbindung von richtigen Maßnahmen. ist mir egal – heißt auch: Jetzt haben wir die Chance, Dies gilt übrigens auch beim Einstieg. Ich halte die dass bei Neuordnungen, bei Weiterentwicklungen noch Initiative „EQ Plus“, die im Rahmen des Paktes verein- stärker definiert wird: Welchen Grundbestand an Kom- bart worden ist, für nicht so schlecht. Wir müssen immer petenzen haben wie viele Berufe? Nehmen Sie etwa den wieder über Maßnahmen nachdenken, mit deren Hilfe Bäcker, den Konditor oder den Speiseeismeister. Was ist die, die sich schwertun, den Einstieg schaffen, nicht, um das gemeinsame Fundament? Wie kann eine Berufsfa- dann niedriger qualifiziert zu werden, sondern um er- milie aussehen? Was sind Module für Spezialisierung? folgreich den Einstieg zu schaffen und über die zweijäh- Das beinhaltet auch neue, zusätzliche Perspektiven, rige in die dreijährige Ausbildung zu kommen. Ich bin weil der, der das eine Modul belegt hat, in der Lage ist sehr zuversichtlich, dass die richtigen Maßnahmen, die und die Möglichkeit hat, im Laufe seines Berufslebens richtigen Weichenstellungen und die demografische Ent- weitere Module hinzuzunehmen. Die Debatte über Mo- wicklung zu einem deutlichen Abbau des Übergangsbe- dularisierung werden wir also ganz anders führen als vor reichs in den nächsten Jahren führen können. einigen Jahren. Da bestand die Gefahr, dass junge Leute (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei Modularisierung zu früh abspringen und nicht eine wirklich qualifizierende Ausbildung erhalten. Heute ist Schließlich noch etwas zur Gruppe der Ungelernten; der Begriff „Modularisierung“ auch bei den Sozialpart- auch diese hat Herr Brase angesprochen. Ich nenne jetzt nern sehr viel mehr mit Weiterentwicklungsperspektiven einmal die Altersgruppe 20 bis 24 als Beispiel. verbunden. Damit müssen wir zügig vorangehen. (Katja Mast [SPD]: Bis 29!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) Man kann nicht einfach warten, bis sie irgendwo eine Schließlich war ein ganz wichtiger Punkt – das merke Chance bekommen. Deshalb erinnere ich an die Förder- ich überall, vor allem im Handwerk, aber auch bei den initiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifi- Industrie- und Handelskammern –: Die Gleichsetzung zierung“. Da wird übrigens deutlich, dass gerade im Be- des Technikers und des Meisters mit dem Bachelor ist im reich der Nachqualifizierung die Möglichkeiten, Module deutschen Qualifikationsrahmen ein unglaublich wichti- anzubieten, eine hohe Bedeutung haben. Das gilt für den ges Symbol gewesen. Die symbolische Wirkung ist noch Weiterbildungsbereich, aber auch für den Nachqualifi- viel höher als das, was damit an Philosophie der Berufs- zierungsbereich. Das Programm „Perspektive Berufsab- bildungspolitik tatsächlich verbunden ist. schluss“ des BMBF zeigt gute Quoten; auch in dieser Gruppe gibt es einen Rückgang. Das Gleiche gilt für das Anerkennungsgesetz. Auch hier gibt es viele positive Nachrichten darüber, wie sich Die Bundesagentur für Arbeit rechnet bis zum Jahr die Kammern vor Ort darum kümmern, dass die Aner- 2025 mit einem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen kennungsverfahren sowie die konkreten Prozesse positiv um 6,5 Millionen. Natürlich sind diese Prognosen über ablaufen. Angesichts dessen sage ich: unsere Bevölkerungsentwicklung ein ganz wesentlicher Grund dafür, dass wir sagen: Wir müssen erreichen, dass Erstens. Die Demografie wird uns vor weiteren Re- die Unternehmen in unserem Land Fachkräfte bekom- formbedarf stellen. Ob man sie jetzt positiv oder negativ men. Aber ich füge hinzu: Für mich sind die Zukunfts- empfindet, ist ganz egal. Tatsache ist: Unsere Unterneh- chancen der jungen Generation nach wie vor die aller- men bieten mittlerweile Ausbildungsstellen an, die nicht erste Motivation in der Berufsbildungspolitik. Das muss besetzt werden. Das macht ihnen Sorge, weil sie früher Markenzeichen unserer Politik sein, und das ist Marken- ihre Auszubildenden übernommen haben. Nun fragen zeichen unserer Politik. Wir müssen Sorge dafür tragen, sie uns, wie es noch besser gelingen kann, dass sie genü- dass junge Leute in Deutschland Zukunftsperspektiven gend Fachkräfte bekommen. haben. Die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, müs- sen auch in einen Prozess der internationalen Weiterent- Zweitens. Diejenigen, die im Übergangssystem sind, wicklung der Bildungssysteme einfließen. brauchen viele verschiedene Wege, um die Kompeten- zen zu erhalten, die ihnen einen guten Einstieg in die be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rufliche Bildung ermöglichen. Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es Drittens. Wir werden bei der Neuordnung nicht mehr zusätzlichen Reformbedarf. Die Stichworte hier sind: immer mehr Spezialisierung zulassen dürfen. 360 Aus- Ausbildung in der Fläche, Berufsgruppen. Wer berufli- bildungsberufe sind – dies kann man sagen – ein Zeichen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23845

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) für unsere sehr ausdifferenzierte Landschaft. Aber es haben keine Ausbildung. Rechnen wir die Menschen bis (C) dürfen nicht mehr werden, und es muss in der großen 34 Jahre hinzu, sind es sogar 2,2 Millionen. Die Linke, Gruppe der 360 Ausbildungsberufe Strukturen geben, Frau Schavan, bleibt dabei: Setzen Sie das Recht auf die zu deutlich mehr Berufsgruppen oder Berufsfamilien Ausbildung um und führen Sie endlich die Ausbildungs- führen. umlage ein!

Insofern mein Votum: Lassen Sie uns jetzt nicht über (Beifall bei der LINKEN) solch alte Klamotten wie Ausbildungsgarantie oder Um- lagefinanzierung reden. Vielmehr setzen wir auf das frei- Das zweite Problem. Trotz des Ausbildungspakts willige hochverantwortliche Engagement unserer Unter- bilden nur noch 22,5 Prozent der Betriebe aus. Der nehmen. Ich möchte die Unternehmen jetzt dafür Grund – so die Arbeitgeber –: Nur gut die Hälfte der Be- gewinnen, sich eben auch in Spanien, in Portugal, in der triebe darf noch ausbilden, und kleine Betriebe können Slowakei, in Indien, wo Anfang November darüber bera- ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. – 2003, meine ten wird, und anderswo dafür zu engagieren. Das hilft Damen und Herren, wurde die Pflicht, eine Ausbilder- unseren jungen Leuten mehr. Deren Zukunftschancen eignungsprüfung vorzuweisen, aufgehoben, um zu er- müssen das erste Ziel sein, das uns leitet, wenn wir über möglichen, dass auch Betriebe ohne Ausbilderin oder Berufsbildungspolitik sprechen. Ausbilder ausbilden. Es wurden aber fast keine neuen Vielen Dank. Ausbildungsplätze eingerichtet. Sechs Jahre später wurde die Ausbildereignungsprüfung deshalb wieder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eingeführt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Was also hindert die Betriebe tatsächlich daran, aus- Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers für die Frak- zubilden? Arbeitgeber in kleinen Betrieben sagen mir: tion Die Linke. Der Druck ist sehr groß. Jeder Auftrag muss schnell und fachgerecht ausgeführt werden. Es gibt keine Ausbilder, (Beifall bei der LINKEN) oder man hat keine Zeit, um den Lehrlingen alles zu er- klären und die Erklärungen zu wiederholen. Generell Agnes Alpers (DIE LINKE): brächten die Azubis zu wenig Praxiserfahrung mit. – Wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Linke sagen: Kleine Betriebe müssen unterstützt wer- Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Schavan, den, wenn sie eine Ausbildungsbefähigung erwerben über genau diese alten Klamotten wie Ausbildungsga- wollen. Sie sollen gefördert werden, wenn sie erstmals rantie müssen wir in Anbetracht der Probleme heute sehr einen Ausbildungsplatz schaffen oder einen zusätzlichen (B) wohl noch reden. Aber darauf werde ich später noch zu- Ausbildungsplatz einrichten. Auch die Ausbildung im (D) rückkommen. Verbund wollen wir fördern. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dann können Sie ja mal mit den Unsere Regierungsfraktionen sagen immer: Die Aus- Gewerkschaften anfangen!) bildungsplatzchancen steigen. Es gibt mehr unbesetzte Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Das größte Ich selbst bilde im Bundestag eine Auszubildende Problem ist, 30 000 freie Ausbildungsstellen zu beset- aus. Sicher: Man muss sich darauf einstellen, und man zen. – Aber das hat nichts mit der Realität zu tun. muss sich umstellen. Allerdings eröffnet man einem jun- Der Berufsbildungsbericht 2012 besagt, dass von den gen Menschen Zukunftschancen. Deshalb, meine Damen bei der Bundesagentur für Arbeit rund 540 000 gemelde- und Herren, lohnt sich Ausbildung. Als Lehrerin für ten Ausbildungsbewerberinnen und -bewerbern nur gut 23 Ausbildungsberufe weiß ich, wie wichtig eine konti- die Hälfte einen Ausbildungsplatz bekommen hat. Bei nuierliche Anbindung an den Betrieb ist. über 100 000 jungen Menschen weiß diese Agentur, wo sie verblieben sind. Aber sie haben keinen Ausbildungs- An dieser Stelle wende ich mich den Grünen zu: Mit platz erhalten. Von fast 86 000 Bewerberinnen und Be- Ihrem Konzept DualPlus propagieren Sie immer noch werbern weiß man nicht, was aus ihnen geworden ist. die flächendeckende Modularisierung der Ausbildung. Aber auch sie haben keinen Ausbildungsplatz erhalten. Sie sehen den Vorteil darin, dass Betriebe nicht mehr die Wir halten also fest: Sie zählen fast 200 000 junge Men- gesamte Ausbildungsverantwortung übernehmen müs- schen in Ihrer Statistik als „vermittelt“, obwohl sie gar sen, sondern nur noch einzelne Ausbildungsbausteine keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. anbieten. Das ist Unsinn. Denn junge Menschen, ins- besondere Menschen mit Unterstützungsbedarf, brau- ( [CDU/CSU]: Was?) chen kein Modulhopping, sondern einen verlässlichen Betrieb, in dem sie handlungsorientiert lernen und konti- Das ist doch nichts anderes als schnöde Trickserei. So et- nuierlich die Berufsbildungsreife erwerben. was lassen wir Ihnen nicht durchgehen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das heißt also, insgesamt befinden sich weit über Dritter Punkt – nun zu Ihnen, Frau Schavan –: Sie er- 200 000 junge Menschen im Übergangssystem. 1,5 Mil- zählen uns häufig von Bildungsketten, Berufsorientie- lionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren rung und Einstiegsbegleitung. Dann behaupten Sie, dass 23846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Agnes Alpers (A) der demografische Wandel die Ausbildungsprobleme Zum anderen gibt es große Unterschiede zwischen den (C) von ganz allein lösen wird. einzelnen Branchen. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das hat sie nie Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht davon aus, gesagt!) dass für Büroberufe auch noch im Jahre 2030 ein ausrei- Auch das ist Unsinn. chendes Fachkräfteangebot zur Verfügung stehen wird. Ganz anders sieht es im Hotel- und Gaststättenbereich (Heiner Kamp [FDP]: Das sagt sie ja auch aus. So kommen in der Gastronomie heute nur 37 Be- nicht!) werberinnen und Bewerber auf 100 Ausbildungsstellen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt klipp und Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe in klar: Die Beschäftigungschancen von Menschen ohne Bremen haben mir in Gesprächen und bei meiner Befra- Berufsabschluss werden sich durch die demografische gung folgende Gründe genannt: Überstunden, ausbil- Entwicklung nicht verbessern. – Eine der wichtigsten dungsfremde Tätigkeiten, schlechte Vermittlung der Aufgaben ist doch heute, für die 1,5 Millionen jungen Ausbildungsinhalte, regelmäßig Arbeit nach der Berufs- Menschen ohne Berufsabschluss Perspektiven zu schaf- schule, kaum Freizeit, geringe Vergütung und geringe fen. Dies gilt allerdings auch im Hinblick auf die Wertschätzung ihrer Person. Menschen im Übergangssystem und alle Menschen ohne Angesichts dessen fordern wir als Linke: Die duale Berufsabschluss. Ausbildung muss attraktiv bleiben. Eine hohe Qualität, Vierter Punkt – nun zur Einstiegsqualifizierung –: Ge- eine gute Vergütung, Übernahmegarantie mit guten dacht war sie, um jungen Menschen mit eingeschränkten Tarifen und Aufstiegsperspektiven, das schafft klare Per- Vermittlungsperspektiven über die Praxis im Betrieb ei- spektiven für all diese jungen Menschen. nen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Die Arbeitgeber er- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist halten dafür monatlich 216 Euro und einen Zuschuss zur (CDU/CSU): Recht auf Aufstieg, das ist doch Sozialversicherung. Die Praxis zeigt aber, dass nicht nur Planwirtschaft! sogenannte benachteiligte junge Menschen eine Ein- stiegsqualifizierung erhalten haben, sondern zur Hälfte Sechster Punkt. Fachkräftesicherung durch die Inte- auch junge Menschen mit mittlerem Schulabschluss und gration von jungen Menschen ohne Berufsausbildung. . Von all diesen jungen Menschen haben direkt Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schätzt nach der Maßnahme aber nur 44 Prozent einen Ausbil- die Wirksamkeit, unterschiedliche Gruppen als Fach- dungsplatz erhalten. Ich frage Sie: Welche dieser jungen kräfte zu mobilisieren, folgendermaßen ein: Große Menschen – die ohne Schulabschluss oder die mit Chancen werden darin gesehen, die Arbeitszeiten von (B) Hauptschulabschluss oder die mit mittlerer Reife oder erwerbstätigen Frauen auszuweiten und Ältere länger in (D) die mit Abitur? – haben die Ausbildungsstellen wohl be- Arbeit zu halten. Mittel- und langfristig wird es aber setzt? auch sehr wirksam sein, nichterwerbstätige Mütter zu in- Fest steht jedenfalls, dass der begleitende Berufs- tegrieren und die Bildungsangebote sowie die Angebote schulunterricht, der ja keine Pflicht ist, meist nicht in zur Betreuung von Kindern auszubauen. Im Gegensatz Anspruch genommen wird. Es gibt häufig kein Zertifi- dazu stuft das Ministerium die Wirksamkeit der Aner- kat, also keinen Nachweis über die erworbenen Qualifi- kennung von ausländischen Abschlüssen und der Akti- kationen. vierung von Langzeitarbeitslosen dafür, diese Menschen als Fachkräfte zu mobilisieren, als gering ein. Auch Bei all diesen Mängeln verstehe ich nicht, warum die langfristig wird es kaum wirksam sein, Frauen für die SPD die Einstiegsqualifizierung als zentrales Instrument MINT-Berufe zu interessieren. Die geringste Wirksam- im Übergangsbereich festschreiben will. keit hat die Integration von mehr Jugendlichen in die Be- rufsausbildung. Junge Menschen ohne Berufsausbildung Dennoch finde ich: Dieses Instrument kann viele Vor- müssen sich also wieder ganz hinten in der Schlange an- teile bieten, wenn es richtig ausgestaltet wird. Ich sage stellen. Das ist nicht verantwortbar. Ihnen: Wer eine Einstiegsqualifizierung erwirbt, der muss auch einen Ausbildungsplatz bekommen. Die (Beifall bei der LINKEN) Grundregel lautet für uns: Alle Maßnahmen müssen in- dividuell auf die einzelnen Menschen abgestimmt wer- Siebter Punkt. Ganz schlechte Perspektiven haben bei den und verlässlich in Ausbildung führen. Ihrer Politik Menschen mit Migrationshintergrund, Men- schen mit Behinderung und Frauen. Der Anteil aller mit (Beifall bei der LINKEN) Frauen abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt ge- Fünfter Punkt. Warum können bestimmte Ausbil- rade noch bei 40 Prozent. Menschen mit Behinderung dungsplätze nicht besetzt werden? Das liegt zum einen und Menschen mit Migrationshintergrund werden bei an den regionalen Ungleichgewichten. Während bei- der Vergabe von Ausbildungsstellen oft gar nicht be- spielsweise in Bayern und an der Ostseeküste in ver- rücksichtigt. Nur jeder dritte Mensch mit Migrationshin- schiedenen Berufen Auszubildende gesucht werden, gibt tergrund erhält heute einen Ausbildungsplatz – und das es in Herford oder auch in meiner Heimatstadt Bremen bei gleichen Interessen und gleichen Abschlüssen. Das mehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze. ist nicht nur zu verurteilen, sondern das haben Sie auch abzustellen. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Damit ist der Wahlkreis erwähnt!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23847

Agnes Alpers (A) Achter Punkt. Das große Konzept dieser Regierung Ausbildungsplatzabgabe, Ausbildungsplatzgarantie (C) heißt seit 2010: Nationaler Pakt für Ausbildung und und das grüne DualPlus-Murks-Modell interessieren die Fachkräftenachwuchs in Deutschland. Doch hier tut sich Besucher aus Spanien, Italien, China und Südamerika noch immer nichts Wesentliches. Es reicht eben nicht, dagegen nicht im Ansatz. Wen wundert’s! mit den Arbeitgebern Absichtserklärungen auf einem Stück Papier abzugeben, sondern es muss endlich ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bindlich für alle Menschen ohne Berufsausbildung ge- der CDU/CSU) handelt werden. Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2012 anse- hen, so haben wir allen Grund zur Freude. Das haben die (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Planwirt- meisten eingesehen, auch die auf der Oppositionsbank. schaft!) Auch in diesem Berichtsjahr hat sich die Situation am Frau Ministerin Schavan, Sie schwadronieren Ausbildungsmarkt wiederum weiter verbessert. Die (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das macht sie Schulabgängerzahlen gehen zurück. Die Zahl der Be- nun überhaupt nicht!) werber ist um 2,5 Prozent zurückgegangen. Trotzdem ist die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge über das duale System in Europa, in der ganzen Welt. um 1,8 Prozent gestiegen. Garantieren Sie endlich hier allen Menschen eine gute Ausbildung! Dann wird man Ihnen auch wieder glauben. Ganz besonders freue ich mich darüber, dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge um mehr als Vielen Dank. 20 000 angestiegen ist. Denn eine betriebliche Ausbil- dung genießt für uns gegenüber außerbetrieblichen (Beifall bei der LINKEN) Modellen ganz klare Priorität. Über diese Entwicklung können junge Menschen in Deutschland zu Recht jubeln. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heiner Kamp hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Erfreulich ist auch, dass die Anstrengungen zur Sen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kung der Zahl der Altbewerber nach Jahren endlich ge- fruchtet haben. Ihre Zahl ist merklich gesunken. Wir Heiner Kamp (FDP): sind auf dem richtigen Weg. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegin Alpers, Liebe Frau Alpers, der Ausbildungspakt trägt Früchte. Unser Dank gilt neben den Sozialpartnern, ne- (B) ich glaube, Sie haben heute über vieles geredet, aber (D) nicht über die Situation am Ausbildungsmarkt, ben den Kammern, neben den Verbänden auch unserem Bundeswirtschaftsminister Rösler, der die Weichen für (Dr. [DIE LINKE]: Das die Neuausrichtung des Paktes mehr als erfolgreich ge- hat sie sehr wohl!) stellt hat. die sehr erfreulich ist und die in der Tat mit Herausforde- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der FDP: rungen verbunden ist, denen wir auch begegnen werden. Guter Mann! – Willi Brase [SPD]: Brüderle Ich werde Ihnen dies jetzt erläutern. Ich empfehle Ihnen, hat unterschrieben! Das ist doch lächerlich!) gut zuzuhören. Nicht Ausbildungsplätze wie zu Zeiten von Rot-Grün, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sondern junge Auszubildende werden heute gesucht. der CDU/CSU) Wer heute einen Ausbildungsplatz sucht, hat so gute Karten wie schon lange nicht mehr. „Never touch a running system“: Wenn ein Motor rund läuft, empfiehlt es sich eben nicht, an den Kolben Die große Stärke unserer dualen Berufsausbildung ist herumzuwerkeln; sonst entsteht Pfusch. Diesen klugen doch die Nähe zur betrieblichen Praxis. Sie sichert einer- Rat aus Betrieb und Werkstätte sollten sich Pädagogen, seits eine bedarfsgerechte und praxisnahe Ausbildung, Sozialwissenschaftler und Lehrer auf den Oppositions- andererseits gewährleistet sie hohe Quoten der Über- bänken hinter die Ohren schreiben. nahme in Beschäftigung. Eine Ausbildung ist und bleibt die beste Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Integration in den Arbeitsmarkt. Bezwingen Sie doch einmal Ihren Drang, die Finger in Wir, Deutschland, sind in der Krise gerade deswegen das gut geölte Räderwerk unseres Berufsbildungssys- so erfolgreich, weil unser System der beruflichen Aus- tems zu stecken. Sie ersparen dadurch unserem Land den bildung uns innovationsfähiger macht als unsere Nach- erwartbaren Pfusch und Murks und sich einige Tränen barn, denen die Brücke zwischen Berufsschule und der Reue. Betrieb fehlt. Darum ist das Handwerk in Deutschland so stark. Deswegen sind unsere mittelständischen Be- Der deutsche Motor läuft rund. Die internationalen triebe so innovativ. Das ist nichts Neues. Doch da meine Delegationen strömen ins Land, sie wollen „Training Worte die Zweifel im Oppositionslager eventuell nicht made in “ sehen, wollen erfahren, was es heißt, ganz werden ausräumen können, wenn Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe partner- schaftlich kooperieren. (Heiterkeit bei der FDP) 23848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Heiner Kamp (A) möchte ich auf den Innovationsindikator der Deutsche- pekte. Mit ihnen helfen wir leistungsschwächeren Schü- (C) Telekom-Stiftung und des BDI verweisen, der in der lerinnen und Schülern auf die Beine. Wir unterstützen nächsten Woche vorgestellt wird. sie und Betriebe dabei, ein echtes Ausbildungsverhältnis einzugehen. Keine Maßnahme, kein Übergangssystem, (Willi Brase [SPD]: BDI, das sind kein Tun-als-ob: Nichts ist so gut wie echte betriebliche Lobbyisten!) Ausbildung. In der oberen Hälfte des Innovationsrankings finden sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vor allem Länder, die vorwiegend – wen wundert’s! – dual ausbilden. Das ist ein Beleg dafür, dass die Durch- Genau deswegen nehmen wir 75 Millionen Euro in die akademisierung unserer Bevölkerung nicht zwingend Hand, um diese echten Ausbildungsplätze zu unterstüt- zum Glück und zum Wohle der Nation führt. Man blicke zen; Hilfe zur Selbsthilfe und keine Dauerschleifen der nur auf Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von Beschäftigungstherapie. über 20 Prozent. Ganz anders die Opposition. Da will die SPD tatsäch- Mit 8,1 Prozent verzeichnete Deutschland im August lich der unter Volldampf stehenden Maschine Ausbil- 2012 die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. dung die Zahnräder austauschen. Trotz Ausbildungs- platzüberschuss wird nun eine Ausbildungsplatzgarantie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gefordert. Was kommt als Nächstes? Es hat sich ausgezahlt, dass wir nicht, wie von so vie- (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Wo ist denn der len Visionären verlangt, die Axt an unser System der Überschuss, Herr Kamp, bei Millionen von Berufsausbildung gelegt haben. Wir sind gut damit ge- Menschen ohne Berufsausbildung? – Willi fahren, dass wir von den so vollmundig geforderten Ex- Brase [SPD]: Das waren doch Ihre Landesre- perimenten abgesehen haben und die Forderung nach gierungen, die das gemacht haben! Informie- Auflagen, nach Zwangsmaßnahmen für Ausbildungsbe- ren Sie sich mal richtig!) triebe abwehren konnten. Nicht zuletzt deswegen bilden sich vor den Türen des Bundesministeriums für Bildung Strafen für Ausbildungsbetriebe, weil sie keine Auszu- und Forschung und unseres bundeseigenen Berufsbil- bildenden finden? Lässt Herr Steinbrück die Kavallerie dungs-Think-Tanks BIBB lange Schlangen. Das erfolg- schon aufsitzen? reiche deutsche Berufsbildungssystem wird zunehmend Die Grünen üben sich dagegen wieder einmal in ein Exportschlager. Da ist es ein richtiger Schritt, wenn Zwangsbeglückung. Sie präsentieren mit ihrem Wunder- wir beim BIBB eine Zentralstelle für internationale Zu- modell DualPlus die Minusnummer schlechthin. Im Ge- sammenarbeit einrichten. Durch seine bereits bestehen- spräch mit Sozialpartnern und Kammervertretern ernte (D) (B) den internationalen Kooperationen ist es für diese Auf- ich stets Stirnrunzeln, Unverständnis, ja manchmal auch gabe mehr als gut gerüstet. ein Schmunzeln, wenn DualPlus zur Sprache kommt. Auf einem Berufsbildungsgipfel in Berlin werden wir (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bald gemeinsam mit mehreren unserer europäischen NEN]: Waren Sie dabei?) Partner über eine Modernisierung der beruflichen Bil- dung in Europa beraten. Ergebnis soll ein konkreter Bislang ist mir noch nie ein Sachverständiger oder Ex- Fahrplan sein. Es gilt, unseren Nachbarn und Freunden perte untergekommen, der diese windigen Projekte auch zu helfen, die eigenen Bildungssysteme zu impfen und nur im Ansatz für praktikabel und umsetzbar gehalten diese für spätere Krisen weniger anfällig zu machen. Es hätte. Kurzum: Wir brauchen keine Zwangsabgaben, ist doch ein großer Erfolg, wenn zum Beispiel Indien auf keine Strafen für Ausbildungsbetriebe, kein schulisches Anregung aus Deutschland nun die Zusammenarbeit von Ergänzungsmodell. Wir brauchen eine vernünftige be- Berufsschulzentren und Wirtschaft zulässt: ein erster rufliche Bildung. Schritt in Richtung Dualität, ein wichtiger Schritt für das Bildungssystem der größten Demokratie auf unserem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Globus. Kurzum: Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Heiner Kamp (FDP): Bei allem Erfolg der beruflichen Bildung in Deutsch- Lassen Sie mich ganz kurz noch auf unsere Maßnah- land und der weiter verbesserten Lage am Ausbildungs- men und Vorschläge eingehen; dann bin ich auch schon markt dürfen wir aber auch die Augen nicht vor den fertig. Herausforderungen verschließen, die noch vor uns liegen. Zwei sind auch in diesem Berichtsjahr wieder deutlich geworden: Erstens. In einigen Regionen und Branchen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: haben Unternehmen zunehmend Probleme, passende Be- Nein, Herr Kollege. Sie sind jetzt schon über eine werber zu finden. Zweitens. Auch fällt es – natürlich – Minute über Ihre Redezeit. gerade den leistungsschwächeren Jugendlichen nach wie vor noch schwer, einen Einstieg in die Ausbildung zu Heiner Kamp (FDP): finden. Ist es schon eine Minute? Die Initiative „Bildungsketten“ und der Ausbildungs- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der pakt sind die richtigen Antworten auf diese zwei As- CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23849

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: demografisch sinkenden Anteil von Ausbildungsplatzsu- (C) Ja. Das müssen Sie vielleicht in den weiteren Bera- chenden setzt. Das ist kein Konzept für die notwendige tungen ausführen. Modernisierung des Berufsbildungssystems, das ist Aus- sitzen. Heiner Kamp (FDP): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schade. – Sie können das in unserem Antrag gerne und bei der SPD) nachlesen. Für uns als Grüne-Fraktion ist gute Ausbildung der (Willi Brase [SPD]: Der Antrag ist schwach! Schlüssel zu Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Wir Da haben Sie schon bessere gemacht!) wollen die Betriebe mit mehr potenziellen Fachkräften Er ist umfassend, er ist nicht ideologiegeführt. Unsere zusammenbringen, und wir wollen für alle Jugendlichen Vorschläge sind sachgerecht und vor allem praktikabel. das Recht auf eine anerkannte qualifizierende Ausbil- dung verwirklichen, egal ob ohne oder mit Einwande- Herzlichen Dank. rungsgeschichte, ob leistungsstark oder schulmüde, ob (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehandicapt oder nicht. Es kommt darauf an, jeden und jede bis zum Berufsabschluss mitzunehmen. Dafür müs- sen sich alle – Sozialpartner, Gesellschaft und Politik – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: viel stärker ins Zeug legen. Wir dürfen niemanden zu- Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Kai rücklassen. Gehring für Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall der Abg. Katja Mast [SPD]) und bei der SPD) Natürlich stimmt es auch uns sehr optimistisch, dass Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich der Ausbildungsmarkt leicht entspannt. Das ist aber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kein Grund zur Entwarnung und kann nicht darüber hin- Auch der siebte Berufsbildungsbericht unter Ministerin wegtäuschen, dass es rund 175 000 Altbewerber gibt, die Schavan bilanziert, dass Berufsbildung nicht zu den Her- sich seit mehr als einem Jahr um einen Ausbildungsplatz zensanliegen dieser Koalition zählt. bemühen, dass auch 2011 fast 300 000 Neuzugänge in (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) unwirksamen Maßnahmen des Übergangssektors ge- parkt wurden und dass die Chancen auf einen Ausbil- Auf großer Bühne und überall in Europa lobt die dungsplatz ungerecht verteilt sind und viel zu viele Ministerin zwar seit Jahren die duale Ausbildung. Ange- Jugendliche durchs Raster fallen. (B) sichts dramatischer Jugendarbeitslosigkeitsquoten in an- (D) deren Ländern ist das Interesse dort auch groß. Bei der Daher frage ich Sie, Frau Ministerin Schavan: Was konkreten Berufsbildungspolitik hierzulande hakt es tun Sie für die 2,2 Millionen bis 34-Jährigen ohne Be- aber. Noch immer hat die Koalition kein Konzept vor- rufsabschluss, die sich weder in einer Maßnahme noch gelegt, um gemeinsam mit Ländern, Kommunen und der in Ausbildung befinden? Der DGB nennt diese Gruppe Bundesagentur für Arbeit das Dickicht der Über- zu Recht „Generation abgehängt“, da ihr prekäre Ar- gangsangebote zwischen Schule und Ausbildung zu lich- beitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit drohen. Für diese ten. Gruppe stehen viel zu wenig Qualifizierungsangebote bereit. Das muss sich ändern. Die Spaltung des Ausbil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dungsmarktes in Chancenreiche und Chancenarme muss Auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere beendet werden. Kleine Anfrage haben wir vergeblich danach gesucht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und noch immer verweist die Koalition lieber auf immer und bei der SPD) neue Projekte, als das ganze System endlich geschlossen und entschlossen zukunftsfähig zu machen. Angesichts Der Weg der Koalition, sich nur auf die Paktpartner des steigenden Fachkräftemangels ist das zu wenig. zu verlassen, bringt zu wenig; denn sie haben ihr Ziel, die Zahl der Ausbildungsabbrüche zu verringern, klar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfehlt. Die Vertragslösungsquote ist sogar auf 23 Pro- und bei der SPD) zent gestiegen. Ein Teil der Abbrüche ist auf schlechte Bezeichnend ist auch, dass der Berufsbildungsbericht Arbeitsbedingungen zurückzuführen, bis hin zu Fällen erst ein halbes Jahr nach seiner Beratung im Kabinett von Ausnutzung. Das heißt, wir müssen die Qualität der und ein halbes Jahr vor der Vorlage des nächsten Berich- Ausbildung weiter stärken. tes im Parlament beraten wird – und nicht etwa auf Re- gierungsinitiative, sondern weil die Opposition kluge Der übergroßen Mehrheit der Ausbildungsbetriebe in Anträge zur Reform der beruflichen Bildung vorgelegt unserem Land gebührt die Anerkennung des gesamten hat. Hauses. Sie leisten wahnsinnig viel für die Perspektiven der jungen Generation und die Chancen unserer Wirt- Für die Schulabgängerinnen und -abgänger ist es kein schaft. Wir beobachten aber aufmerksam und mit Sorge, gutes Zeichen, dass Schwarz-Gelb auch 2013 weiter dass der Anteil der Ausbildungsbetriebe rückläufig ist. ausschließlich auf eine gute Konjunktur, den eher uner- Hier fordern wir eine Trendumkehr. Wir brauchen wie- giebigen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft und den der mehr Betriebe, die ausbilden, und wir brauchen mehr 23850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Kai Gehring (A) mutige Betriebe, die auch Jugendlichen mit schlechten Papier! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE (C) Zeugnissen eine Chance geben. GRÜNEN]: Wir haben ein gemeinsames Pa- pier mit denen erarbeitet!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir werden das aufmerksam verfolgen. Genau hier setzt unser Konzept DualPlus an. Dual- Interessant war gestern unser gemeinsames Fachge- Plus garantiert individuelle Förderung, bringt Betriebe spräch im Bildungsausschuss über grenzüberschreitende und Bewerber zusammen und fügt sich in die unter- Ausbildungskooperationen. Dabei ist eindeutig festge- schiedlichen Gegebenheiten der Bundesländer ein. Dual- stellt worden, dass die duale Ausbildung in Deutschland, Plus gestaltet diesen ineffizienten Übergangsdschungel Österreich und der Schweiz mittlerweile weltweit Vor- zu einer echten Eingangsphase der beruflichen Ausbil- geworden ist als ein Instrument, mit dem die Krise dung für alle Jugendlichen um; denn alle ausbildungs- überwunden und jungen Menschen Handlungskompe- interessierten Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz tenz vermittelt werden kann. Viele Länder überlegen bekommen haben, erhalten ein Angebot. Nach dem dua- mittlerweile, dieses System zu übernehmen. len Prinzip durchlaufen sie einen Teil ihrer Ausbildung in der Berufsschule und einen Teil im Betrieb. Dabei er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und reichen sie auch Zwischenziele, weil die Ausbildung in der FDP) einzeln zertifizierten und bundesweit anerkannten Aus- Wir Deutschen haben mit 7,9 Prozent die geringste bildungsbausteinen unter Wahrung des Berufsprinzips Jugendarbeitslosigkeit nach der Krise innerhalb der absolvierbar ist. Europäischen Union. Der Durchschnitt der Jugendar- Überbetriebliche Ausbildungsstätten – das ist neu – beitslosigkeit der unter 25-Jährigen in der Europäischen unterstützen Jugendliche zusätzlich. Hier können sie ihre Union liegt bei 22,6 Prozent; die Spitzen der Jugendar- Stärken ausbauen und Schwächen ausbügeln, zum Bei- beitslosigkeit in Griechenland und Spanien liegen bei spiel mit gezielter Sprachförderung. Diese Unterstüt- über 50 Prozent. zungsstruktur entlastet ausbildende Betriebe; auch Lernen in der Praxis für die Praxis hat eine hohe Inte- kleinste und spezialisierte können sich beteiligen. Dual- grationskraft in Bezug auf die Arbeitswelt. Wissen ist Plus ist gut anschlussfähig bei Reformkonzepten von wichtig. Das Wissen auch anwenden zu können – das, Bundesländern, die ihr Übergangssystem längst neu was in der dualen Ausbildung mit der Handlungskompe- strukturieren, sei es in oder Nordrhein-West- tenz vermittelt wird –, ist aber am Ende entscheidend. falen. Deshalb schlagen wir DualPlus zur bundesweiten Umsetzung vor. (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Spanien und Griechenland wollen Formen der dualen Ausbildung entwickeln. Auch Themen wie Solartechnik, Politik und Tarifpartner sind in der Pflicht, gute und effizientes Bauen und deutsche Handwerkskultur sind verlässliche Ausbildung für alle Jugendlichen zu garan- eng mit der dualen Ausbildung verknüpft. Das ist eine tieren. Das gelingt nicht durch Warten auf Konjunktur Voraussetzung, die wir in Deutschland haben und die an- und demografischen Wandel, liebe Koalition. Jugend- dere Volkswirtschaften entwickeln wollen, um wirt- liche brauchen Ausbildung statt Aussitzen. Packen Sie schaftliche Potenziale in ihren Ländern zu schaffen, und es endlich an! damit auch ein Teilelement, um die Überwindung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krise in diesen Staaten voranzutreiben. und bei der SPD) Ein solcher europäischer Bildungsraum braucht auch Mobilität, und Mobilität braucht so etwas wie Angebote Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zum Jugendwohnen. Es war eine ganz wichtige Ent- Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU- scheidung der christlich-liberalen Koalition, dass die Fraktion. 550 Jugendwohnheime für Jugendliche in der Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dung, die wir in Deutschland haben, wieder Investitions- förderung bekommen. Damit bieten wir wieder pädago- gische Begleitung und eine Unterkunftsmöglichkeit, und Uwe Schummer (CDU/CSU): es kann entsprechender Förderunterricht organisiert wer- Meine Damen und Herren! Verehrtes Präsidium! den, wenn Mobilität von Hunderttausenden junger Men- DualPlus wird nach dem, was wir in unseren Gesprächen schen im Rahmen der Ausbildung notwendig und sinn- mit dem Handwerk gehört haben, vom Handwerk mas- voll ist. siv abgelehnt, weil es als Abkehr vom dualen System ge- sehen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Wir sollten dankbar sein, dass bei uns in Deutschland über die duale Ausbildung 30 Milliarden Euro jährlich Aber darüber können Sie mit dem Handwerk gerne wei- von der Wirtschaft für Ausbildungsvergütungen, Ausbil- ter diskutieren. dungswerkstätten und Ausbilder, die freigestellt werden, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, 70 Prozent der Das tun wir auch! Wir haben ein gemeinsames gesamten dualen Ausbildungskosten finanziert bei uns Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23851

Uwe Schummer (A) die Wirtschaft. Es ist kaum denkbar, dass diese Finanzie- gungsquote bei nur 0,9 Prozent. Das ist zu wenig. Ich er- (C) rungslast von den öffentlichen Haushalten alleine getra- lebe in meiner Region am Niederrhein, wie mit einer Ini- gen werden könnte. Das ist der Ansatz, die Wirtschaft tiative der Lebenshilfe oder der Initiative „Kindertraum“ mit ins Boot zu holen – auch bei der Finanzierung, der Behinderte sehr wohl in der Lage sind, beispielsweise Qualitätssicherung und der Bereitstellung entsprechen- Gartenarbeiten durchzuführen, in Jugendzentren im Kü- der Ausbildungsplätze. chendienst zu arbeiten oder auch in einem Museum alte Gebäude zu restaurieren. Das alles dauert länger, man (Beifall bei der CDU/CSU) braucht mehr Zeit. Aber ich denke, bei bestimmten Akti- Ein wichtiger Erfolg der Bundesregierung der letzten vitäten kann man ihnen diese Zeit auch einräumen. Jahre ist, dass die Zahl der sogenannten Altbewerber – das Gemeinsam mit dem Berufsbildungsinstitut wollen heißt derjenigen, die vor mehr als zwölf Monaten aus der wir klären, dass aus den Berufsbildern heraus Bausteine Schule entlassen wurden und einen Ausbildungsplatz su- entwickelt werden, die einfache Arbeiten darstellen, mit chen – von 380 000 auf immerhin 175 000 abgebaut denen Teilqualifikationen vermittelt werden können, so- worden ist. dass man den Behinderten eine Chance gibt, integriert in (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz hervor- Unternehmen und außerhalb der betreuten Werkstätten ragend!) eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Da müssen wir Potenziale nutzen und auch diese Potenziale stärker mit Der Trend, diese Gruppe mit einer Ausbildung zu ver- in die Arbeitswelt hineinbringen. sorgen, geht massiv weiter. Es zeigt sich auch eine Bil- dungsrendite der dualen Ausbildung im Hinblick darauf, (Beifall bei der CDU/CSU) wo die Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Bei den Aka- demikern liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei etwa Eine gute Information: Bei unserer gestrigen Anhö- 3,2 Prozent. In der Gruppe derer, die eine Weiterbil- rung im Ausschuss haben die Kammern zu dem Gesetz dungsqualifikation im dualen System erworben haben zur Anerkennung der Kompetenzen gesagt, dass sich wie Meister und Techniker, liegt die Arbeitslosigkeit von den 300 000 Menschen – diese Zahl hatten wir ge- derzeit bei 2,7 Prozent. Das heißt, die Bildungsrendite schätzt –, die aus dem Ausland nach Deutschland ge- und letztendlich auch der Schutz vor Arbeitslosigkeit kommen sind, die bei uns leben und eine Qualifizierung sind in der dualen Ausbildung in den Weiterbildungs- haben und diese Qualifizierung bei den Kammern aner- möglichkeiten am stärksten, noch stärker als in der aka- kannt bekommen wollen, bereits 170 000 bei den Kam- demischen Qualifizierung. Auch das muss man hier und mern gemeldet hätten, und dies in den wenigen Wochen, heute klar und deutlich sagen. seitdem das Anerkennungsgesetz, das wir verabschiedet haben, in Kraft getreten ist. Auch dies zeigt: Wir nutzen (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und schöpfen Potenziale in unserer Wirtschaft. Das Po- (D) Wir – gerade unsere Ministerin Frau Schavan – haben tenzial unserer Wirtschaft ist der Mensch, und der mit den Bildungsketten einen systematischen Übergang Schlüssel zur Hebung dieses Potenzials ist die Bildung. von der Schule in den Beruf geschaffen. Wir haben da- Da haben wir die beste Bildungsministerin in Deutsch- mit auch erreicht, dass ein Stück weit das Übergangssys- land seit 1949 mit Annette Schavan. tem geglättet und auch besser aufeinander abgestimmt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – worden ist. Wir sagen, dass wir eine frühzeitige Berufs- Zurufe von der SPD: Oh!) orientierung brauchen, beispielsweise nicht erst drei Mo- nate vor der Schulentlassung, sondern drei Jahre vorher Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mit einer Potenzialanalyse. Darauf aufbauend durchlaufen die Jugendlichen dann in überbetrieblichen Werkstätten, Oliver Kaczmarek hat jetzt das Wort für die SPD- beim Handwerk oder in anderen Bereichen verschiedene Fraktion. Berufsfelder wie Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwal- (Beifall bei der SPD) tung, Gartenbau, um dort zu schauen, in welchem Be- rufsfeld sie noch in der Schule betriebliche Praktika ab- Oliver Kaczmarek (SPD): solvieren und ihre Berufsorientierung entsprechend zielgerichtet organisieren können. Auch dies ist ein In- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich strument gewesen, um die Schulabbrecherquote durch möchte zu Beginn eine grundsätzliche Anmerkung ma- mehr Motivation, durch frühzeitige und bessere Berufs- chen und auch auf den Redebeitrag der Ministerin zu- orientierung von fast 10 Prozent auf 5,5 Prozent abzu- rückkommen. Wenn wir über die grundsätzlichen He- senken. rausforderungen reden, dann müssen wir doch zwei Dinge sehen: Das eine ist, dass wir jungen Menschen (Beifall bei der CDU/CSU) durch eine qualifizierte Ausbildung Teilhabe gewähren. Das andere ist, dass wir natürlich der Herausforderung Das bedeutet 30 000 bis 40 000 weniger Schulabbrecher des Fachkräftemangels begegnen müssen. Da geht es aufgrund einer neuen Perspektive durch eine organi- nämlich um nicht weniger als um die wirtschaftliche sierte, vernünftige Berufsorientierung. Es gibt eine Per- Leistungsfähigkeit Deutschlands und um nicht weniger spektive nach dem Abschluss: kein Abschluss in der als den Wohlstand, von dem wir alle leben. Vor diesem Schule ohne weiteren Anschluss. Hintergrund und auch, wenn ich mir die Prognosen im Wir brauchen weiterhin auch Instrumente im Bereich Berufsbildungsbericht zur Entwicklung der Abgänger- der Behinderten. In diesem Bereich liegt die Beschäfti- zahlen ansehe, komme ich zu der Erkenntnis: Wir brau- 23852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Oliver Kaczmarek (A) chen jeden jungen Menschen, der jetzt in der Schule ist, meinsam mit ihnen Wege entwickeln, damit Menschen (C) der jetzt keine Beschäftigung hat, der jetzt keine Ausbil- aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt oder in öf- dung gefunden hat, egal woher er kommt, was seine El- fentliche Beschäftigung hinein vermittelt werden kön- tern verdienen, wo er geboren worden ist. Das ist alles nen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Signal auch egal, wir brauchen jeden. Deswegen ist es kein alter Hut, an die Werkstätten, wenn wir mit ihnen gemeinsam an zu sagen: Das Recht auf Ausbildung ist wichtig. Viel- einer neuen Rolle arbeiten. mehr ist es gesellschaftlich und auch wirtschaftlich, öko- (Beifall bei der SPD) nomisch, dringend geboten, dass wir jedem eine faire Chance auf Ausbildung anbieten. Drittens. Ich bin der Meinung, dass die Bundesagen- tur für Arbeit einen besonderen Auftrag hat – er ist auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des gesetzlich definiert –, nämlich den Auftrag der Berufs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) orientierung und der Berufseinstiegsbegleitung. Dem Weil die grundsätzliche Betrachtungsweise der SPD- muss sie auch nachkommen können. Fraktion durch den Kollegen Brase schon vorgetragen Ich weise darauf hin: Die Bundesregierung hat sich worden ist, möchte ich zwei Anmerkungen zu Themen im Ausbildungspakt zu dem Versprechen verpflichtet, machen, die uns besonders wichtig erscheinen. sich für eine bessere Integration von Jugendlichen mit Wenn ich sage, jeder wird gebraucht, dann meine ich Behinderung in die betriebliche Ausbildung einzusetzen. auch die 65 000 Schülerinnen und Schüler, die in jedem Dazu will sie prüfen – ich lese das einmal vor –, „ob und Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Rund die inwieweit auch in diesem Bereich arbeitsmarktpolitische Hälfte von ihnen kommt von Förderschulen. Wir brau- Instrumente angepasst werden müssen“. chen auch sie. Das ist ja erst einmal gut. Die Wahrheit sieht aber an- Ebenso brauchen wir – Herr Schummer hat das ge- ders aus. Allein im Bundeshaushaltsentwurf für das rade ebenfalls angesprochen – die Menschen mit Behin- nächste Jahr, den wir im Moment noch im Bundestag de- derung, aber auch in einer qualifizierten Ausbildung; battieren, sollen 6,5 Milliarden Euro bei der aktiven Ar- denn nicht alle Behinderten sind nur für Hilfstätigkeiten beitsmarktpolitik eingespart werden. Wer aber benach- geeignet. Vielmehr müssen wir durch unsere Förderung, teiligten jungen Menschen eine Chance geben will, durch unser Schulsystem dafür sorgen, dass sie auch durch eine qualifizierte Berufsausbildung in die Er- werbsarbeit zu finden, der darf die Bundesagentur für Schulabschlüsse machen können. Viel zu viele sind in Arbeit und ihr Instrumentarium, der darf die Arbeits- Förderschulen, machen dort einen Abschluss und sind marktpolitik eben nicht zur Spardose für das Sparpaket dann mit dem Abschluss einer Förderschule stigmati- machen. siert. Schwerbehinderte können eben auch einen Beitrag (B) (D) zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und ebenso einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beitrag zur Bekämpfung des Facharbeitermangels leis- DIE GRÜNEN) ten. Wenn Sie dies machen würden, würden Sie diejeni- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen im Stich lassen, die jetzt noch nicht von der Ent- DIE GRÜNEN) wicklung am Ausbildungsmarkt profitieren konnten und die ohne Hilfe keinen Anschluss am Arbeitsmarkt fin- Deswegen dürfen wir sie eben nicht am Rande stehen den. Wir haben dazu einen Antrag gestellt; das werden lassen, sondern müssen eine auf ihre Bedürfnisse abge- wir an anderer Stelle noch debattieren. stimmte Strategie entwickeln. Das zweite Thema, das ich kurz ansprechen möchte: Ich will dazu nur drei kurze Punkte nennen: Am Ende der Ausbildung – ich habe das im letzten Jahr Erstens. Wir müssen Menschen mit Behinderung bei der Debatte zum Berufsbildungsbericht bereits ange- frühzeitig, intensiv und handlungsorientiert auf ihre spä- sprochen – haben immer mehr junge Menschen keine tere Berufstätigkeit vorbereiten; dazu braucht es eine gesicherte Perspektive auf Übernahme in eine unbefris- konsequente Berufsorientierung. In diesem Zusammen- tete Beschäftigung. Wer den DGB-Ausbildungsreport hang ist das, was die Bundesregierung in der „Initiative liest, stellt fest, dass weniger als die Hälfte der jungen Inklusion“ in diesem einen Punkt vorgelegt hat, voll- Menschen, die sich im letzten Ausbildungsjahr befinden, kommen richtig und durchaus zu begrüßen. eine Perspektive auf Übernahme im Betrieb haben. Von dieser Teilmenge hat wiederum nur gut ein Drittel Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Willi sicht auf eine unbefristete Übernahme. Brase [SPD], an die CDU/CSU und die FDP gewandt: Ihr müsst mal klatschen da drüben!) Wenn aber selbst der Abschluss einer qualifizierten Berufsausbildung für junge Menschen keine gesicherte Das ist sicherlich notwendig. Aber es ist nicht hinrei- Erwerbsperspektive bedeutet, wenn das nicht ausreicht, chend. Es sind natürlich weitere Schritte notwendig, die wie sollen junge Menschen dann die Zuversicht gewin- auch die Situation von Menschen mit Behinderung auf nen, sich für die Gesellschaft einzusetzen, Familie zu dem Arbeitsmarkt substanziell verändern. gründen, am Wohlstand mitzuwirken? Deswegen sagen wir: Zur guten Ausbildung gehört im Regelfall auch die Zweitens. Wir können auf Werkstätten für Menschen Übernahme in eine unbefristete Beschäftigung. mit Behinderung nicht verzichten. Aber wir müssen auf ihre Kompetenz aufbauen, insbesondere im Hinblick auf (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ihre Berufsorientierungskompetenz. Wir müssen ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23853

Oliver Kaczmarek (A) Ich möchte das auch vor dem Hintergrund des Fach- im nationalen und internationalen Zusammenhang ist es (C) gesprächs, das wir gestern im Ausschuss hatten, noch sinnvoll, einmal einen Blick in die internationale Com- einmal kurz spiegeln. Ich halte das nämlich für einen munity zu werfen. Vor nicht einmal 48 Stunden ist der zentralen Punkt, wenn wir über die Attraktivität der Aus- Weltbildungsbericht von der UNESCO vorgestellt wor- bildung im dualen System sprechen. Es werden sich den. Ausdrücklich gelobt wird dabei das deutsche Mo- auch zukünftig nur dann junge Menschen mit guten dell der dualen Ausbildung mit Berufsschule auf der ei- Schulabschlüssen dafür entscheiden, eine duale Ausbil- nen und praktischer Arbeit im Betrieb auf der anderen dung zu beginnen, wenn sie eine gesicherte Perspektive Seite. Diese besondere Form der Berufsvorbereitung ist haben, wenn sie davon ausgehen können, dass es ihnen der Grund für die in der Bundesrepublik Deutschland einen Job bringt, der einigermaßen sicher ist, nicht aber, vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosenquote und wenn sie damit rechnen müssen, dass nach der Ausbil- damit einer der wichtigsten Punkte, dass man hier nicht dung alles wieder vorbei ist. Deswegen ist das ein ganz von einer verlorenen Generation sprechen muss. wichtiger Punkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai (Beifall bei der SPD) Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Es liegt auf der Hand: Wer das Problem in den Griff was ist mit den 2 Millionen ohne Berufsab- bekommen will, der muss die prekäre Beschäftigung in schluss?) den Griff bekommen. Das ist gerade aus Sicht der jun- gen Arbeitnehmer wichtig. Das heißt aus unserer Sicht So weit die UNESCO, so weit der Weltbildungsbericht. erstens, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft Diese Perspektive sollte man im Zusammenhang mit der werden muss. Wer in einem Betrieb gelernt hat, der muss Debatte, die wir hier führen, einmal hervorheben. sich nicht mehr einarbeiten. Deswegen gibt es auch kei- nen Grund, ihn nur befristet einzustellen. Deswegen sind Zum Zweiten. Es ist von mehreren Rednern angespro- wir für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. chen worden; aber es ist wichtig, dies immer wieder deutlich hervorzuheben: Es gibt keine Leistung nur ir- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) gendeiner Bundesregierung, es gibt keine Leistung nur Zweitens geht es darum, die Leih- und Zeitarbeit auf irgendeiner Landesregierung – es gibt eine Leistung, die ihren ursprünglichen Zweck zurückzuführen und insge- von der gesamten Wirtschaft und den Ausbildungsbetrie- samt zu begrenzen. ben erbracht worden ist. Wenn ich sehe, dass gerade in diesen schwierigen Zeiten das Handwerk, der Mittelstand Drittens muss das auch in Bezug auf die Minijobs ge- im Bereich der Ausbildungsangebote so stark engagiert schehen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist, dass am Schluss 10 000 zusätzliche Ausbildungs- hat hierzu eine gute Initiative in den Bundesrat einge- (B) plätze zur Verfügung stehen und 11 000 Jugendlichen, (D) bracht, die einen Ausbildungsplatz suchen, 30 000 offene Aus- (Zuruf von der FDP: Das wäre die erste!) bildungsplätze gegenüberstehen, kann ich nur ganz deut- lich sagen: Gott sei Dank gibt die Wirtschaft in der Bun- bei der es darum geht, eine Höchststundenzahl für Mini- desrepublik Deutschland, gibt der Mittelstand in der jobs einzuführen. Bundesrepublik Deutschland jungen Menschen gerade (Beifall bei der SPD) in der Krise eine Chance. Das ist ein gutes und positives Zeichen. Dabei geht es insgesamt um die Frage: Wie können wir die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass der Weg (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) junger Menschen im Anschluss an ihre Ausbildung vor- geprägt ist und in Richtung prekäre Beschäftigung führt? Flankierende Maßnahmen, die die Bundespolitik ak- tiv einbringen kann, gibt es eine ganze Reihe, und die Damit komme ich zum Schluss. Was wir jetzt bei der Regierung setzt ja auch an vielen Punkten an. Das Pro- Integration junger Menschen in Erwerbsarbeit, in den gramm „Bildungsketten“ ist angesprochen worden. Ich ersten Arbeitsmarkt, verpassen, können wir vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der wirtschaftli- greife bewusst die Maßnahme der Bildungslotsen he- chen Entwicklung womöglich nicht mehr aufholen. Das raus, eine gemeinsame Aktivität von Bundeswirtschafts- würden wir teuer bezahlen müssen. Deshalb sage ich: ministerium, Bundesarbeitsministerium und Bundesbil- Verzichten können wir auf keinen Einzigen. Da sehe ich dungsministerium. Dadurch haben wir in der Summe bei der Arbeit der Regierung noch ein bisschen Nachhol- 2 000 Bildungslotsen gewonnen, die junge Menschen bedarf. beim Übergang von der Schule in den Beruf an die Hand nehmen, ihnen Orientierung geben, ihnen helfen, in eine (Beifall bei der SPD) Ausbildung zu kommen, in einen Beruf zu kommen. Wer vor Ort in den Schulen, in den Betrieben ist, wird Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: feststellen können: Dort, wo Bildungslotsen aktiv sind, Patrick Meinhardt hat das Wort für die FDP-Fraktion. wo Bildungslotsen junge Menschen begleiten, bekom- men die jungen Menschen eine hervorragende Möglich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) keit, ihre eigene Ausbildungsorientierung zu finden. Deswegen ist das Programm „Bildungsketten“ gerade in Patrick Meinhardt (FDP): dieser Krisensituation so wichtig. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Debatte über berufliche Bildung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 23854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Patrick Meinhardt (A) Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir wissen, dass es werberinnen und Altbewerber auf 174 000 reduziert. (C) gerade für kleine und mittlere Unternehmen nicht ganz Das war eine intensive Anstrengung, von der man sagen einfach ist, eigenständig Ausbildungsplätze anzubieten. kann: Es ist gut, wenn diese Akzente gesetzt werden. Umso wichtiger ist es, dass Ausbildungsverbünde, über- Deswegen muss dies an dieser Stelle eine vollumfängli- betriebliche Ausbildungsformen schlagkräftig ausgestat- che Anerkennung finden. Jede Reduzierung bei der An- tet werden. Es ist ein gutes und richtiges Zeichen, dass zahl der Altbewerber ist ein gesellschaftspolitischer sich die Regierungsfraktionen und die Regierung wieder Schritt in die richtige Richtung. dazu durchgerungen haben, die überbetrieblichen Be- rufsbildungsstätten auf dem hohen Niveau von 40 Mil- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lionen Euro weiterhin zu fördern und sogar so viel Flexi- Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle- bilisierung einzubauen, dass wir gerade in diesen Zeiten ginnen und Kollegen, ein letzter Punkt: Im Hinblick auf noch mehr Dynamik herausbekommen. Jede überbe- die Flexibilisierung im Ausbildungsbereich halte ich es triebliche Berufsbildungsstätte, die es in der Bundesre- für ausgesprochen spannend, sich die Situation bei den publik Deutschland gibt, ist eine zusätzliche Chance für zwei- und dreijährigen Ausbildungsberufen anzuschauen. junge Menschen. Wir haben bewusst gesagt: Wir brauchen niedrigschwelli- gere Angebote. Wir haben momentan 560 000 Ausbil- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dungsplätze in der dualen Ausbildung, 50 000 Plätze in Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sa- der zweijährigen Ausbildung. gen – gerade gestern haben wir im Ausschuss darüber (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das ist doch gesprochen –: Das Programm „Maßnahmen zur Verbes- gelogen!) serung der Berufsorientierung“ läuft Gott sei Dank gut, es läuft sogar sehr gut. Es läuft so gut, dass wir jetzt Jetzt wird es spannend: Von den Auszubildenden in einer noch einmal 10 Millionen Euro, das heißt 15 Prozent, zweijährigen Ausbildung haben 60 Prozent einen Haupt- draufsatteln, weil wir bei den jungen Menschen, bei de- schulabschluss. Bei den gesamten dualen Ausbildungs- nen die größte Gefahr besteht, dass sie eine Ausbildung berufen sind es nur 33 Prozent. Wir haben mit den zwei- frühzeitig abbrechen, gegensteuern wollen. Dort wollen jährigen Ausbildungen genau das geschaffen, was wir wir ansetzen. Es ist in diesen Zeiten die richtige Ant- brauchen: ein niedrigschwelliges Angebot für all die jun- wort, die Mittel für das Maßnahmenpaket „Berufsorien- gen Menschen, die einen Hauptschulabschluss haben tierungsprogramm“ zu erhöhen, um den Weg junger und eine Ausbildung machen wollen. Menschen mit vorbereiten zu können. (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das ist Quatsch, (B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Herr Meinhardt! Absoluter Quatsch!) (D) CDU/CSU) Deswegen ist der Weg über die Einstiegsqualifizie- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Ein- rung, die zweijährige Ausbildung, die dreijährige Aus- stiegsqualifizierung ist vielfach angesprochen worden. bildung und die dreieinhalbjährige Ausbildung richtig. Dieses Instrument halten wir als FDP für ein sehr gutes Damit schaffen wir eine Perspektive für junge Menschen Instrument. Wir müssen aber den Rahmen dafür noch aus allen Bereichen des Bildungssystems in der Bundes- weiter verbreitern. Im Bereich der Einstiegsqualifizie- republik Deutschland. rung haben wir 40 000 Plätze in der Bundesrepublik (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutschland. Im Augenblick sind leider nicht all diese 40 000 Plätze besetzt. Da müssen wir ansetzen; denn die Einstiegsqualifizierung führt dazu, dass 70 Prozent der- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: jenigen, die sie durchlaufen und die momentan keine Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom- Chance auf eine Ausbildung hätten, am Ende dieses men. Jahres in eine Ausbildung kommen. Diese Einstiegsqua- lifizierung gibt es seit ungefähr fünf Jahren. Das bedeu- Patrick Meinhardt (FDP): tet, dass über 100 000 Jugendliche in dieser Zeit über die Einstiegsqualifizierung zusätzlich die Chance bekom- Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. – Die men haben, den Weg in die Ausbildung zu schaffen. Debatte macht eines deutlich: Wichtig ist, dass die duale Deswegen müssen wir die Einstiegsqualifizierung Ausbildung ein wirkliches Rückgrat in der Gestaltung stärken und daraus ein weiteres wichtiges Instrument der Bundesrepublik Deutschland ist. Um es anders zu machen. Das ist ein wichtiges politisches Zeichen, das in formulieren: Die Garantieerklärung von Politik und dieser Diskussion zum Ausdruck kommen muss. Wirtschaft für die Perspektiven der Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland ist die duale Ausbildung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielen herzlichen Dank. Ich habe mich gewundert, wie wenige das Thema (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Altbewerber in dieser Debatte angesprochen haben. Ich erinnere mich noch daran, dass vor drei Jahren immer davon gesprochen wurde, dass es ein Skandal sei, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wir 300 000 Altbewerberinnen und Altbewerber haben. Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion Wir haben innerhalb von drei Jahren die Zahl der Altbe- Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23855

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Gleiche gilt vor dem Hintergrund der demografi- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr schen Entwicklung; das will ich an dieser Stelle noch Meinhardt, es ist doch nicht so, dass irgendeine Fraktion einmal sagen. Schon derzeit ist es so, dass eine kleinere in diesem Hause das duale System auch nur ansatzweise Kohorte junger Leute eine große Kohorte älterer Men- infrage stellen würde. Alle hier sind für das duale schen ernähren muss. Wenn dann aber von diesen jungen System. Leuten fast ein Fünftel nicht nur nicht auf dem Erwerbs- arbeitsmarkt aktiv werden kann, sondern auch noch ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Leben lang alimentiert werden muss, dann überfordert bei der SPD und der LINKEN) das jede Volkswirtschaft. Deswegen müssen wir etwas Wir weisen nur darauf hin, Herr Meinhardt, dass es tun. offensichtlich so ist, dass ein nicht unerheblicher Teil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN junger Menschen von diesem dualen System nicht profi- sowie bei Abgeordneten der SPD) tiert. Die Zahlen sind hier schon genannt worden: 2,2 Millionen junge Menschen sind weder in Ausbildung Dass das machbar ist, zeigt das Beispiel der Bertels- noch in Arbeit. Fast 300 000 befinden sich immer noch mann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung ist wahrlich in diesem perspektivlosen Übergangssystem. Anders als keine grüne Kaderschmiede, aber sie hat gemeinsam mit Frau Schavan es heute gesagt hat, gehen die Experten im der Bundesagentur für Arbeit und acht Bundesländern Berufsbildungsbericht davon aus, dass circa 230 000 den Versuch unternommen, diesen Übergangsdschungel junge Leute noch sehr lange in diesem Übergangssystem zu ordnen, und hat daraus, wie sie es nennt, „Übergänge bleiben werden. mit System“ entwickelt. Herr Meinhardt, das ist das Problem, um das wir uns Dieser Vorschlag liegt sehr dicht an unserem Vor- heute kümmern müssen. schlag des DualPlus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus LINKEN) den Reihen der CDU/CSU? Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Pro- gnose, dieses Problem werde durch die Konjunktur, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch den demografischen Wandel oder durch den Fach- Ja, bitte. kräftemangel gelöst, nicht zutrifft. (B) (Zuruf von der FDP: Dieses Problem löst un- Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): (D) sere Politik!) Sehr verehrte Frau Kollegin, ich habe es schon in ei- nigen Redebeiträgen gehört – ob es nun vom Kollegen Deswegen müssen wir etwas tun. Das Problem wird Brase war oder vom Kollegen Gehring –, und auch Sie sich nicht von selber lösen. Es ist unsere Aufgabe, dafür haben es noch einmal erwähnt: die Perspektivlosigkeit zu sorgen, dass wirklich alle jungen Menschen eine be- von jungen Leuten im Übergangssystem und dessen rufliche Perspektive erhalten. Ineffektivität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nicht nur deshalb, weil ich selbst zwei Jahre als Aus- und bei der SPD) bilder für sogenannte lernbehinderte und benachteiligte Sie können nicht darüber hinwegreden, dass insbeson- junge Leute gearbeitet habe, halte ich Ihre Aussage für dere jungen Leuten mit Förderbedarf, den sogenannten eine sehr starke Unterstellung. Wie meinen Sie es, wenn Marktbenachteiligten, der Zugang zum dualen System Sie sagen, dass das Übergangssystem völlig perspektiv- immer noch versperrt ist. los oder ineffektiv sei? Hierzu hätte ich gerne eine Aus- kunft von Ihnen. – Vielen Dank. Ganz besonders skandalös – darüber hat heute über- haupt noch niemand geredet – ist die Ausbildungsquote (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bei den Migrantinnen und Migranten. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das stimmt gar Es gibt inzwischen diverse wissenschaftliche Evaluie- nicht! Hatte ich erwähnt!) rungen über das Übergangssystem, und sie alle kommen Sie liegt bei beschämenden 33,5 Prozent; bei den Deut- zu dem Ergebnis – um es einmal salopp auszudrücken –: schen ist sie mit 65 Prozent etwa doppelt so hoch. Diese Das Übergangssystem ist teuer, es kostet fast 6 Milliar- jungen Leute werden abgehängt, und um sie müssen wir den Euro im Jahr, und es ist schlecht, weil es die Jugend- uns kümmern. lichen nicht stärker an die Ausbildungsreife heranführt, sondern sie im Wesentlichen frustriert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die jungen Leute im Übergangssystem sind nicht sel- ten weniger ausbildungsreif, als sie es zuvor waren. Das haben sie nicht nur verdient und darauf haben sie Deswegen können wir dies nicht länger akzeptieren. Wir nicht nur einen Anspruch, sondern das Ganze ist auch brauchen eine Alternative. Unsere Alternative heißt vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels zu sehen. DualPlus. – Ich danke Ihnen. 23856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Brigitte Pothmer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD, weiß ich nicht, ob Sie die Dimension dieses (C) sowie bei Abgeordneten und des Abg. Swen Themas für unser Land wirklich erkannt haben. Schulz [Spandau] [SPD]) Worum geht es? Die Kommission will, dass Ab- DualPlus ist übrigens keine Erfindung vom grünen schlüsse in Europa leichter anerkannt werden und Aus- Tisch, sondern das gibt es bereits in Österreich – nur mit bildungen europaweit vergleichbar gestaltet werden. Das einem etwas anderen Namen –, und wird es dort sehr er- soll die Mobilität in Europa erhöhen. Ich sage deutlich: folgreich eingesetzt. Das begrüßen wir; das ist ein gutes Ziel. Aber im Richt- linienentwurf der Kommission gibt es auch eine ganze Ich will es noch einmal sagen: Das Ganze rechnet Menge Vorschläge, die alle Alarmglocken zum Läuten sich in dreifacher Hinsicht. Es rechnet sich für die bringen müssen, Vorschläge, die nämlich mit dem deut- Jugendlichen, weil sie einen guten Start in Arbeit und schen System der dualen Ausbildung nicht oder nur Ausbildung bekommen. Es rechnet sich für die Betriebe, schwer vereinbar sind, so etwa die Vorschläge zum par- weil sie gute Fachkräfte erhalten. Und – das ist ebenfalls tiellen Zugang, zu Änderungen bei den Niveaustufen, zu erheblich – es rechnet sich für die öffentliche Hand, weil gemeinsamen Ausbildungsgrundsätzen und zur Einfüh- alle Investitionen in Ausbildung zu 100 Prozent zu einer rung eines europäischen Berufsausweises. All diese Ein- Rendite führen. zelregelungen müssen sehr präzise ausgestaltet werden. Meine Damen und Herren, es ist doch wirklich nicht Wir müssen sehr genau darauf achten, dass sie so ausge- schwer: Ausbildungsgarantie statt Warteschleife – das staltet werden, dass sie die Mobilität erhöhen und Trans- bringt Perspektiven statt Frust. Das erreichen wir mit parenz schaffen, ohne auf der anderen Seite die Qualität DualPlus. zu gefährden. Zurzeit gibt es an diesen Vorschlägen noch viel Kritik. Wir plädieren da entschieden für Verände- Ich danke Ihnen. rungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sowie bei Abgeordneten der SPD) neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auf besonders großes Entsetzen stoßen die Pläne der Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU- Kommission, die Mindestschulzeit für eine Ausbildung Fraktion. in den Pflegeberufen auf zwölf Jahre zu erhöhen. Das würde bedeuten, dass 45 Prozent der Krankenpfleger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Krankenpflegerinnen und 85 Prozent der Altenpfle- gerinnen und Altenpfleger in Deutschland derzeit von (B) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): der Ausbildung ausgeschlossen würden, weil sie nur die (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und mittlere Reife haben und damit keine zwölfjährige Kollegen! Die Botschaft durchzieht die Debatte wie ein Schulzeit vorweisen können. roter Faden: Die duale Ausbildung in Deutschland ist ein (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Erfolgsmodell. Dank der dualen Ausbildung haben wir Vollkommen unvorstellbar!) die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sie ist der Grund dafür, dass im vergangenen Jahr über Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein Desaster 570 000 Jugendliche eine Berufsausbildung beginnen für die deutsche Pflegelandschaft. Dadurch würde die konnten, mehr als in den Jahren zuvor. Sie sichert den Qualität keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Die Er- Fachkräftenachwuchs unserer Betriebe, und das auf ho- schwerung des Zugangs würde den Fachkräftemangel im hem Niveau. Unsere dual ausgebildeten Fachkräfte sind Pflegebereich und damit die Arbeitsbelastung der Mitar- international anerkannt und können mit so manchem beiterinnen und Mitarbeiter deutlich erhöhen. Wir haben akademischen Abschluss konkurrieren. im Pflegebereich eine hohe Fachkraftquote. Wir haben hervorragend ausgebildetes Fachpersonal. Deshalb wen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den wir uns entschieden gegen die Pläne der Kommis- Sie ist das Modell, für das sich viele andere europäi- sion, die Zugangsvoraussetzungen zu erhöhen und eine schen Länder interessieren. Darauf können wir zu Recht Schulausbildung von zwölf Jahren vorauszusetzen. stolz sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Liebe Kollegen, wir sind da in guter Gesellschaft: Die wie des Abg. Heiner Kamp [FDP]) Mehrheit der betroffenen Verbände – die Allianz reicht Gerade weil wir von diesem Modell so begeistert sind von der Deutschen Krankenhausgesellschaft über die und zu Recht so stolz darauf sind, möchte ich heute ei- IHK bis hin zu Verdi und Caritas – wendet sich gegen nen kritischen Punkt ansprechen. In den vergangenen die Pläne der Kommission. Wir kämpfen gemeinsam da- Monaten treibt die Mitglieder meiner Fraktion ein für, dass es die Voraussetzung einer zwölfjährigen Thema um, das uns sehr große Sorgen macht und das in Schulzeit nicht geben wird. Ich bin froh, dass auch in meinen Augen in eine solche Debatte gehört; ich wun- diesem Haus eigentlich Einigkeit darüber besteht. Wir dere mich, dass es bisher noch niemand angesprochen hatten dazu vor drei Wochen vonseiten des Wirtschafts- hat. Es geht um die Änderungsvorschläge der Europäi- ausschusses einen Entschließungsantrag eingebracht, schen Kommission zur Berufsanerkennungsrichtlinie. und alle Kollegen von SPD und Grünen haben die deut- Da Sie schon jetzt genervt gucken, liebe Kollegen der sche Position unterstützt und ebenfalls gesagt, die Vo- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23857

Nadine Schön (St. Wendel) (A) raussetzung einer Schulbildung von zwölf Jahren sei in der heutigen Debatte von der Regierungskoalition (C) eine Katastrophe. noch nichts gehört. Deswegen hat es mich überrascht und entsetzt, liebe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen der SPD – da komme ich wieder zu Ihnen –, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers dass es in den Reihen der SPD auf EU-Ebene Parlamen- [DIE LINKE] – Uwe Schummer [CDU/CSU]: tarier gibt, die diese deutsche Position nicht vertreten. Wo waren Sie?) Offensichtlich werben SPD-Parlamentarier in Brüssel Zweitens freuen wir uns alle darüber, dass Deutsch- für die Vorschläge der Kommission land die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Euro- (Zurufe von der SPD: Wer denn?) päischen Union hat. 8 Prozent sind ein tolles Ergebnis. und schwächen damit deutlich die Verhandlungsposition (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie unseres Landes. bei Abgeordneten der SPD) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Nennen Sie – Ja, da können Sie ruhig applaudieren; aber ich weiß Ross und Reiter!) nicht, ob Ihnen mein nächster Satz genauso gut gefällt. – Ich kann Ihnen gerne die Namen nennen. Ich wollte es (Zuruf von der FDP: Mit Sicherheit nicht!) an dieser Stelle vermeiden, aber sprechen Sie einmal mit Leider hat es nichts mit Ihrer Politik zu tun, Ihren Kolleginnen Weiler, Gebhardt und Sippel, die sich nämlich ganz anders äußern, als Sie das tun. (Zurufe von der FDP: Oh!) (Uwe Schummer [CDU/CSU], an die SPD ge- dass wir bei 8 Prozent liegen. wandt: Da müsst ihr euch mal unterhalten!) (Beifall bei der SPD) Sie kämpfen hier im Deutschen Bundestag entschie- Dass es nichts mit Ihrer Politik zu tun hat, liegt daran, den für die duale Ausbildung, aber Ihre Kolleginnen in dass Sie sich zurücklehnen. Sie lehnen sich in einer Zeit, Brüssel tun das Gegenteil. Deshalb will ich an Sie appel- in der wir gute Arbeitsmarktzahlen haben, zurück und lieren: Werben Sie auch bei Ihren Parteifreunden auf eu- sagen: Na ja, was wollen wir da denn tun? Die Zahlen ropäischer Ebene für die duale Ausbildung. Wir müssen sehen doch ganz gut aus. hier an einem Strang ziehen. Wir müssen hier mit einer Stimme sprechen. (Heiner Kamp [FDP]: Wo leben Sie denn? Das stimmt doch nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mir geht es aber darum, dass in Deutschland kein ein- (B) (D) Wir wollen unser duales System erhalten, und dafür ziger Jugendlicher verloren gehen darf. müssen wir gemeinsam kämpfen, damit wir auch in den nächsten Jahren die Fortschritte unseres dualen Systems (Zuruf von der CDU/CSU: Zustimmung!) anhand des Berufsbildungsberichtes und anhand dieser In Deutschland müssen wir uns Sorgen machen um die Debatten verfolgen können. 77 000 Jugendlichen, die letztes Jahr keinen Ausbil- Vielen Dank. dungsvertrag bekommen haben, (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das bestreitet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doch niemand!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und um die 86 000 Jugendlichen, die sich gar nicht mehr Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion. bewerben, weil sie aufgrund der Verfahren frustriert sind. Insgesamt hat letztes Jahr fast jeder dritte Jugendli- (Beifall bei der SPD) che keinen Ausbildungsvertrag bekommen, obwohl er einen wollte. Katja Mast (SPD): (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie müssen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen die Studenten mitrechnen! Die haben auch kei- und Kollegen! Ich will zwei Dinge vorweg klarstellen: nen Ausbildungsplatz!) Erstens. Niemand greift das duale System in Deutsch- land an. Das sind die Zahlen, die mich beunruhigen. (Beifall der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Deshalb geht es darum, dass keiner von ihnen verloren Doch! – Das ist so!) gehen darf. Wir wollen das duale System in Deutschland bewahren. Wir finden in Deutschland die Situation vor – auch (Zuruf von der CDU/CSU: Schauen Sie sich das ist heute noch nicht klar geworden –, dass der Aus- die Anträge der Grünen und Linken an! Das ist bildungsmarkt gespalten ist. Der Ausbildungsmarkt ist Angriff!) gespalten, weil es in den Betrieben einen Wettbewerb um die besten Köpfe gibt. Jeder kann dazu Geschichten Uns geht es aber um die Menschen, die im dualen Sys- aus seinem Wahlkreis erzählen. Ich kann gerne die Situa- tem nicht unterkommen. Zu diesen Menschen habe ich tion in und im Enzkreis darstellen, woher ich 23858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Katja Mast (A) komme. Da haben alle Jugendlichen, die ein gutes Zeug- Häuser, in denen Jugendlichen geholfen wird, in Ausbil- (C) nis, einen guten Abschluss haben, überhaupt kein Pro- dung zu kommen. In diesen Häusern wird die gesamte blem, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aber viele Arbeit mit jungen Menschen koordiniert, und zwar nicht Schülerinnen und Schüler beispielsweise der Bohrain- nur die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit, nicht nur schule in Pforzheim, einer Förderschule, erlangen nicht die Arbeit der Jobcenter, sondern auch die der Jugend- einmal den Hauptschulabschluss und bekommen diesen hilfe, also der kommunalen Hilfe. Das ist ein vielver- auch nicht nach einem BVJ oder dem Besuch einer sprechender Ansatz, weil dadurch die Angebote, die die BVE. Angesichts dessen kann ich mich doch nicht hier jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den hinstellen und sagen: In Deutschland ist alles in Ord- Beruf brauchen, gebündelt werden. Gab es entspre- nung. chende Initiativen Ihrer Regierung? Fehlanzeige! Sie ha- ben drei Ministerien – Bildung, Arbeit und Familie –, (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Für einen die die Programme, die sie auflegen, überhaupt nicht ko- Hauptschulabschluss muss man auch etwas ordinieren. Sie sorgen dadurch zusätzlich für Unüber- tun! Den kriegt man auch nicht geschenkt! Au- sichtlichkeit. ßerdem besteht die Möglichkeit, den Haupt- schulabschluss nachzumachen! Zweite Chance Zum Schluss kommend will ich noch einmal betonen, nennt man das!) was uns die Bertelsmann-Stiftung mit auf den Weg gege- Denn diese Jugendlichen haben ein Recht auf eine Aus- ben hat: Eine Ausbildungsgarantie ist in der Bundesre- bildung in dieser Republik, und nichts anderes sagt unser publik Deutschland solide zu finanzieren. Jeder Jugend- Antrag. liche soll eine Ausbildungsgarantie bekommen. Wir wollen darüber hinaus, dass es in Deutschland ein So- (Beifall bei der SPD) fortprogramm für die 1,5 Millionen jungen Menschen gibt, die zwischen 20 und 29 Jahre alt sind, keine Aus- Ich habe gesagt, Sie lehnen sich zurück und denken bildung haben, aber im Berufsleben stehen. Diesbezüg- gar nicht darüber nach, was mit den anderen 8 Prozent lich werden wir Sie mit unseren Vorschlägen konfrontie- der Jugendlichen los ist. ren; denn von Ihnen kommt dazu nichts. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, was Sie hier sagen!) Es geht darum, auch in Zukunft den Fachkräftebedarf decken zu können. Es geht darum, dass der Mittelstand – Jetzt lassen Sie mich doch ausreden. ausbildet; das ist auch für den Mittelstand in Baden- (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Lohnt sich das Württemberg wichtig. Keiner darf verloren gehen. Jeder denn?) hat das Recht auf Ausbildung. (B) (D) Sie reden hier die ganze Zeit von Programmen und (Beifall bei der SPD) Progrämmchen, die Sie neu aufgelegt haben. Ich gestehe Ihnen sogar zu, dass Sie das gemacht haben; ich bin Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schließlich Arbeits- und Sozialpolitikerin. Gleichzeitig Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSU- kürzen Sie jedoch während Ihrer Regierungszeit 7,5 Mil - Fraktion. liarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Weil die Ar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beitslosigkeit halbiert wurde durch unsere neten der FDP) Politik und weil es fast zwei Millionen weni- ger Arbeitslose gibt!) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Das ist das Geld, das für eine aktive Arbeitsförderung Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! der Jugendlichen nicht zur Verfügung steht. Deshalb Vor kurzem habe ich einen schönen Begriff gehört: Bil- können sie keine Ausbildung machen. dung à la Merkel. So nennen die Spanier das deutsche System der beruflichen Bildung. Nicht nur dort, sondern (Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/ in ganz Europa wird unser System bewundert. CSU]: Das sind die Zahlen, die Sie nicht ken- nen!) (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Aber nicht wegen Merkel!) – Herr Schummer, da können Sie so laut schreien, wie Sie wollen. Das stimmt einfach. Lassen Sie sich an Ihren Das hat einen ganz speziellen Grund: Bei der Jugend- Zahlen messen und nicht an Ihrer Lautstärke, liebe Kol- arbeitslosigkeit lagen wir im August in Deutschland bei legen von der CDU/CSU. 8,1 Prozent. Das ist spitze in Europa. Der Durchschnitt liegt bei 22,7 Prozent. Spanien erreichte traurige Es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren, wie wir den Jugendlichen, die heute durch das Netz fallen, 52,9 Prozent. Dass wir bei diesem Wert, der wie kaum helfen können, einen Ausbildungsplatz zu finden. Auf ein anderer die Zukunftsperspektiven junger Menschen ausdrückt, so gut sind, hat seinen Grund auch im System diese Frage habe ich von Ihnen keine Antwort gehört. der beruflichen Bildung. Das liegt natürlich auch an der Ich will an dieser Stelle ausdrücklich eine Initiative wirtschaftlichen Lage und an der demografischen Ent- aus dem Bundesland Hamburg positiv hervorheben. In wicklung, aber eben auch an dem System der berufli- Hamburg wurden Jugendberufsagenturen gegründet, chen Bildung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23859

Dr. Reinhard Brandl (A) In Madrid gibt es eine Modellschule, in der nach deut- Starken der beruflichen Bildung nicht den Rücken keh- (C) schem Vorbild ausgebildet wird. Rund 1 400 Absolven- ren. Wenn 55 Prozent eines Altersjahrgangs mit einem ten haben diese Schule bisher durchlaufen. Der Schullei- Hochschulstudium beginnen, ist das erfreulich. Aber das ter wird auf Spiegel Online mit den Worten zitiert: Mir darf nicht zu einer Überakademisierung führen. In Spa- ist kein einziger arbeitsloser Schüler bekannt. nien nennt man das Titulitis. In keinem anderen Land ar- beiten so viele Universitätsabsolventen in einem Job, für Ich weiß, dass keiner von Ihnen das System der beruf- den sie überqualifiziert sind. lichen Bildung, das System der dualen Ausbildung in- frage stellt. Das heißt aber nicht, dass wir unser System Wir dürfen jetzt aber nicht den Fehler machen, beruf- nicht noch weiter verbessern können. Dabei dürfen wir liche Ausbildung und akademische Ausbildung gegenei- aber nicht den Fehler machen, unsere Stärken zu schwä- nander auszuspielen. Beides ist gleichwertig. Das zeigt chen. auch die Einstufung im Qualifikationsrahmen. Bildung à la Merkel ist, wenn beides verbunden wird. Ich nenne als (Willi Brase [SPD]: Wer macht das?) Beispiel die dualen Studiengänge. Das sind Studien- Die zentrale Stärke unseres Systems ist, dass die Be- gänge, die eine Lehre mit einem Bachelorstudium ver- triebe in genau den Bereichen ausbilden, in denen sie zu- binden. Ich komme aus einer Familie, die seit Jahrzehn- künftig einen Fachkräftebedarf erwarten. ten im Handwerk ausbildet. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen, die Lehre und Studium (Willi Brase [SPD]: Und was machen wir mit verbinden, die besonders Leistungsfähigen und die be- dem Rest?) sonders Leistungswilligen sind. Das sind die Fachkräfte, Es wird nicht am Markt vorbei ausgebildet. Deswegen die wir in unserer Wirtschaft auch in Zukunft brauchen erteilen wir Ansätzen, bei denen die Entscheidung, in können und brauchen werden. welchen Berufen in welcher Zahl ausgebildet wird, auf Trotz der steigenden Zahl der dualen Ausbildungs- den Staat oder auf Einzelne übertragen wird, eine Ab- gänge sind diese immer noch zu wenig bekannt bzw. sage. Wir wollen nicht, dass der Staat oder Einzelne das werden zu wenig geschätzt, zum Teil auch bei den Un- entscheiden. Wir wollen, dass das weiterhin auf dem ternehmen. Genauso zu wenig bekannt, insbesondere bei Markt entschieden wird; denn das hat bisher sehr gut den Eltern, ist die Möglichkeit, mit einem beruflichen funktioniert. Bildungsabschluss, zum Beispiel einem Meister, auf (Beifall bei der CDU/CSU) eine Fachhochschule und von dort aus mit einem Bache- lor zur Universität zu gehen. Der Staat muss die jungen Menschen dabei unterstüt- zen, aus dem bestehenden Angebot am Markt den für sie (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das (B) richtigen Ausbildungsplatz zu finden. Da müssen wir ist nicht so einfach!) (D) besser werden. Es ist heute schon mehrmals gesagt wor- In Bayern ist das Motto im Bildungswesen: Kein Ab- den: Eine Abbrecherquote von 23 Prozent ist nicht ak- schluss ohne Anschluss. zeptabel, auch wenn viele von diesen 23 Prozent nahtlos eine andere Beschäftigung finden. Dass sie ihren Ausbil- (Katja Mast [SPD]: Kein Abschluss ohne dungsvertrag auflösen, kostet auf allen Seiten unnötig Ausbildung!) Zeit und Energie. Wenn das gelebt und von allen Seiten akzeptiert wird, Die Bundesregierung hat sich dieses Themas im Rah- dann ist mir um die Zukunft unseres beruflichen Bil- men des Ausbildungspakts angenommen. Die Verbesse- dungswesens nicht bange. rung der Berufsorientierung ist Teil unseres Antrags. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ebenso fordern wir in unserem Antrag eine bessere Vor- bereitung von Jugendlichen, die sich – warum auch im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mer – schwertun, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ich neten der FDP) kann Ihnen nur zustimmen: Keiner darf verloren gehen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es gibt eine ganze Reihe von Programmen – sie sind heute schon mehrfach genannt worden, beispielsweise Letzter Redner in dieser Debatte ist Axel Knoerig für die Einstiegsqualifizierung –, mit denen die Bundesre- die CDU/CSU-Fraktion. gierung im Rahmen des Ausbildungspakts gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit der Wirtschaft versucht und Möglichkeiten bietet, den Jugendlichen im Übergangsbereich zu helfen. Die Axel Knoerig (CDU/CSU): Einstiegsqualifizierung ist eine Art gefördertes Prakti- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! kum von mindestens sechs bis maximal zwölf Monaten. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die duale Be- 44 Prozent der Geförderten werden direkt vom Betrieb rufsausbildung ist seit langem ein einzigartiges Aushän- übernommen. Immerhin 69 Prozent der Geförderten ha- geschild für unser Land. ben innerhalb eines halben Jahres nach der Förderung ei- nen Ausbildungsplatz. (Beifall der Abg. Katja Mast [SPD]) Es geht bei der Zukunft des dualen Ausbildungssys- Dieses erfolgreiche Modell betrieblicher und schulischer tems aber nicht nur darum, die Schwachen zu integrie- Ausbildung genießt einen hohen Stellenwert, nicht nur ren, sondern wir müssen auch darauf achten, dass die im Inland, sondern auch im Ausland. Das Interesse unse- 23860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Axel Knoerig (A) rer Nachbarländer an der dualen Berufsausbildung hat gen wird. Wir als Union sagen ganz klar: Das ist wirt- (C) zugenommen. Darauf hat das Bundesministerium für schaftsfern. Wir halten an dem Erfolgsmodell der dualen Bildung und Forschung reagiert. So wurde im Septem- Berufsausbildung fest. ber dieses Jahres eine zentrale Anlaufstelle für interna- tionale Bildungskooperationen eingerichtet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In dem dualen Ausbildungssystem sehen viele euro- Ihr System DualPlus, auch wenn es ein Evergreen ist, päische Nachbarstaaten ein gutes Vorbild, um die Ju- steht lediglich für mehr Bürokratie sowie für eine stär- gendarbeitslosigkeit im eigenen Land zu reduzieren. kere Regulierung unserer Wirtschaft. Das wollen wir un- Zwischen Deutschland und Spanien wurde im Juli 2012 seren Betrieben in Deutschland nicht zumuten. Wir set- eine Kooperation im Bereich der Berufsausbildung be- zen auf Freiwilligkeit; denn Freiwilligkeit ist der schlossen. Zur Information: In Spanien ist – die Quote Schlüssel zum wahren Erfolg. beträgt 46 Prozent; das ist eine traurige Zahl – fast die Deswegen konzentrieren wir uns vielmehr auf den Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos. Deutschland hat da- Übergang von der Schule zur Ausbildung. Wir haben in- gegen mit 7,9 Prozent die niedrigste Quote in ganz soweit heute bereits mehrmals zwei Lösungen vorgetra- Europa. gen. Doch diese sind so gut, dass ich sie gerne noch ein- An dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und mal an zwei Beispielen erwähnen möchte: Herren, lassen Sie uns in die Vergangenheit schauen. Im Erstens. Wir haben den Nationalen Pakt für Ausbil- Jahre 2005, nach sieben Jahren Rot-Grün, betrug die dung und Fachkräftenachwuchs verlängert. Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland beträchtliche 15 Prozent, Frau Mast. (Willi Brase [SPD]: Wer hat den entwickelt?) (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Jugendliche, die schwer vermittelbar sind, können so leichter in die betriebliche Ausbildung einsteigen. Ich denke, dieser Zahlenvergleich bedarf keiner weiteren Kommentierung, Herr Brase. Diese Zahlen sprechen Zweitens. Um die Zahl der Schulabbrecher zu redu- deutlich für den Erfolg von Schwarz-Gelb. zieren, gibt es das Programm – Sie, Herr Kollege Kamp, haben es hervorragend dargestellt – „Bildungsketten bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Ausbildungsabschluss“. Das Bildungs- und For- Dieser Erfolg der dualen Berufsausbildung in schungsministerium hat hierfür rund 360 Millionen Euro Deutschland basiert auf mehreren Vorteilen: zur Verfügung gestellt. Erstens. Die Ausbildung ist praxisnah. Zu diesem Programm gehören auch die sogenannten (B) Ausbildungslotsen. Das sind Mentoren, die praxisnah (D) Zweitens. Vor allem die mittelständischen Betriebe aus ihrem Beruf und mit ihrer Ausbildungserfahrung die bilden branchennah und mit Heimatbezug aus. Jugendlichen bei ihrer Berufsorientierung unterstützen. Drittens. Das Ausbildungssystem entspricht dem Be- Ich habe das auch in meinem Wahlkreis Diepholz/Nien- darf an Fachkräften. burg in Niedersachsen erlebt. Dort wurde das Projekt „Ausbildungslotsen“ erfolgreich an zwei Schulen gestar- Viertens. Die Berufsprofile bei den einzelnen Bran- tet. An einer Oberschule in Sulingen und an der Koope- chen werden immer aktuell dem Arbeitsmarkt angepasst. rativen Gesamtschule Stuhr-Brinkum wird es für Schüler Das ist ganz wichtig. ab der 8. Klasse angeboten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte garantiert dieses Modell und sichert es für die Zukunft. fest: Wir als christlich-liberale Koalition garantieren das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – duale Ausbildungssystem zum Wohle aller Jugendli- Willi Brase [SPD]: Oh! Vorsichtig!) chen, die einen Ausbildungsplatz anstreben, sowie für alle Betriebe, die den Fachkräftenachwuchs in unserem Die Entwicklung – und das sehen wir auf dem Arbeits- Land sichern. markt – hat dazu geführt, dass sich die Ausbildungssi- tuation für junge Menschen weiter verbessert hat. Bun- Hierfür danken wir besonders unseren mittelständi- desweit sind 2011 rund 570 000 Ausbildungsverträge schen Betrieben, den Handwerksmeistern, den Innungen geschlossen worden. Das sind 1,8 Prozent mehr als sowie den Berufsschulen. Ich halte zum Schluss fest: 2010. Wir haben hierzulande ein vorbildliches Ausbildungs- system, auf das wir stolz sein können. (Willi Brase [SPD]: Weniger als 2007!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Nun haben die Grünen wieder einmal ihren Evergreen aufgelegt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Na, na, na!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. und das System DualPlus in die Beratung eingebracht. Sie wollen ja neben Berufsschule und Betrieb eine dritte Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Säule in der Ausbildung etablieren. Sie fordern einen zu- den Drucksachen 17/10116, 17/10856, 17/9586, 17/9700 sätzlichen Ausbildungsteil, der von den Betrieben getra- und 17/10986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23861

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Johannes Selle, Überweisungen so beschlossen. Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU  Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 h sowie sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein, die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann, 40 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erb- rechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder die Nachwelt bewahren und im digitalen Zeit- im Nachlassverfahren alter zugänglich machen – Drucksache 17/9427 – – Drucksache 17/11006 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rechtsausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Bildung, Forschung und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Technikfolgenabschätzung Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP- Haushaltsausschuss Sondervermögens für das Jahr 2013 (ERP- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wirtschaftsplangesetz 2013) Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, wei- – Drucksache 17/10915 – terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Rehabilitierung und Entschädigung der ver- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss  folgten Lesben und Schwulen in beiden deut- Haushaltsausschuss schen Staaten c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 17/10841 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überweisungsvorschlag: Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember Rechtsausschuss (f) 2009 zwischen Kanada und der Europäischen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Ver- (D) (B) tragsgesetz EU-Kanada-Luftverkehrsabkom- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin men – EU-KAN-LuftverkAbkG) Senger-Schäfer, Jan Korte, Herbert Behrens, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/10917 – Finanzierung zur Bewahrung des deutschen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Filmerbes endlich sicherstellen Ausschuss für Tourismus – Drucksache 17/11007 – d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ausschuss für Kultur und Medien (f) rung der Gewerbeordnung und anderer Ge- Haushaltsausschuss setze ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia – Drucksache 17/10961 – Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian Überweisungsvorschlag: Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Innenausschuss  Rechtsausschuss  NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Finanzausschuss Behörden systematisch aufarbeiten – Be- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er- Angelika Graf (Rosenheim), Marianne Schieder innerungsarbeit koordinieren (Schwandorf), Frank Hofmann (Volkach), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 17/10068 – Überweisungsvorschlag: Konsum kristalliner Methamphetamine durch Innenausschuss (f) Prävention eindämmen – Neue synthetische Ausschuss für Kultur und Medien  Drogen europaweit effizienter bekämpfen Rechtsausschuss  Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Drucksache 17/10646 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Überweisungsvorschlag: Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss  weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union NIS 90/DIE GRÜNEN 23862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- (C) Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe- ten Verfahren ohne Debatte. träger Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an – Drucksache 17/10863 – die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis c, 41 e c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter bis l sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl, sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ keine Aussprache vorgesehen ist. CSU  Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 41 a: sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD  neten Martin Dörmann, Gerold Reichenbach, sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der Patrick Kurth (Kyffhäuser), Gisela Piltz, weiterer Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Abgeordneter und der Fraktion der FDP … Gesetzes zur Änderung des Telemedienge- setzes (TMG) Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stär- ken, Rahmenbedingungen verbessern – Die – Drucksache 17/8454 – Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS- ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Vergangenheit durch besseren Aktenzugang schuss) unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bun- – Drucksache 17/8814 – desministerien und -behörden sowie der ver- Berichterstattung: gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen Abgeordneter Andreas G. Lämmel – Drucksache 17/11001 – Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Überweisungsvorschlag: fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Innenausschuss (f) 17/8814, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf (B) Rechtsausschuss  Drucksache 17/8454 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Ausschuss für Kultur und Medien Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. der SPD Tagesordnungspunkt 41 b: Patientenrechte wirksam verbessern Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 17/11008 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Überweisungsvorschlag: zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates Ausschuss für Gesundheit (f) zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens Rechtsausschuss  (2013-2017) für die Agentur der Europäischen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Union für Grundrechte Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Drucksache 17/10760 – e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, schusses (6. Ausschuss) Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/11062 – Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er- Berichterstattung: werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud- Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff get angemessen ausgestalten Dr. Eva Högl  – Drucksache 17/11010 – Raju Sharma Überweisungsvorschlag: Ingrid Hönlinger Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  empfehlung auf Drucksache 17/11062, den Gesetzent- Haushaltsausschuss wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10760 an- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23863

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (C) zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim- dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in mig angenommen. zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Dritte Beratung Petitionsausschusses. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 41 f: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- wurf ist einstimmig angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 41 c: Sammelübersicht 473 zu Petitionen Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 17/10834 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- eines Gesetzes zu dem Freihandelsabkommen tungen? – Die Sammelübersicht 473 ist einstimmig an- vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäi- genommen. schen Union und ihren Mitgliedstaaten einer- seits und der Republik Korea andererseits Tagesordnungspunkt 41 g: – Drucksache 17/10758 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Sammelübersicht 474 zu Petitionen schuss) – Drucksache 17/10835 – – Drucksache 17/11054 – Wer stimmt dafür? – Enthaltungen? – Gegenstim- Berichterstattung: men? – Auch die Sammelübersicht 474 ist einstimmig Abgeordnete Ulla Lötzer angenommen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Tagesordnungspunkt 41 h: fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 17/11054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf ausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 17/10758 anzunehmen. (B) Sammelübersicht 475 zu Petitionen (D) Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 17/10836 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- tungen? – Die Sammelübersicht 475 ist gegen die Stim- wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio- men der Grünen von den übrigen Fraktionen des Hauses nen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Ent- angenommen. haltung der SPD angenommen. Tagesordnungspunkt 41 i: Tagesordnungspunkt 41 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Sammelübersicht 476 zu Petitionen zu dem Vorschlag für eine Verordnung des – Drucksache 17/10837 – Europäischen Parlaments und des Rates zur Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Aufstellung des Programms für Umwelt- und tungen? – Die Sammelübersicht 476 ist gegen die Stim- Klimapolitik (LIFE) men der Linken von den anderen Fraktionen des Hauses KOM(2011) 874 endg.; Ratsdok. 18627/11 angenommen. – Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196 – Tagesordnungspunkt 41 j: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordnete Josef Göppel ausschusses (2. Ausschuss)  Sammelübersicht 477 zu Petitionen  Sabine Stüber – Drucksache 17/10838 – Undine Kurth (Quedlinburg) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- tungen? – Die Sammelübersicht 477 ist mit den Stimmen lung auf Drucksache 17/10196, in Kenntnis der Unter- von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der richtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Grünen und der Linken angenommen. 23864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Tagesordnungspunkt 41 k: Zusatzpunkt 4 b: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und ausschusses (2. Ausschuss) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sammelübersicht 478 zu Petitionen Portugal unterstützen und Parlamentsrechte wahren – Drucksache 17/10839 – hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m. tungen? – Die Sammelübersicht 478 ist mit den Stimmen § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bundesregierung und Deutschem Bundestag SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenom- in Angelegenheiten der Europäischen Union men. – Drucksache 17/11009 – Tagesordnungspunkt 41 l: Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von ausschusses (2. Ausschuss) SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Sammelübersicht 479 zu Petitionen Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 5 auf: – Drucksache 17/10840 – Aktuelle Stunde Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE tungen? – Die Sammelübersicht 479 ist mit den Stimmen GRÜNEN der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Integrität parlamentarischer Entscheidungen drei Oppositionsfraktionen angenommen. durch mehr Transparenz und klare Regeln ge- Zusatzpunkt 4 a: währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit für Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- und Parteiengesetz regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi- Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das schen der Bundesrepublik Deutschland und Wort. (B) dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan- (D) zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu- handfonds für Nutzpflanzenvielfalt Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nir- – Drucksache 17/10756 – gendwo fallen Reden und Handeln bei dieser Koalition so auseinander wie beim Thema „Nebentätigkeiten und Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Transparenz für Abgeordnete“. gen Ausschusses (3. Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, – Drucksache 17/11035 – bei der SPD und der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das?) Berichterstattung: Abgeordnete Peter Beyer In der letzten Woche haben Sie auf einmal Gefallen an Dr. Rolf Mützenich mehr Transparenz gefunden. Seit heute wissen wir: Das Marina Schuster gilt nur, wenn es um den Kollegen Steinbrück geht. Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) ( [SPD]: Genau!) Wenn es mir keinen Ordnungsruf eintragen würde, Herr Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Präsident, dann würde ich das Verhalten der Koalition schlussempfehlung auf Drucksache 17/11035, den glatt als Heuchelei bezeichnen. Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10756 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – bei der SPD und der LINKEN) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom- den Transparenzrichtlinien des Bundestages gesagt: men. Wähler müssen Dritte Beratung Zugang zu den Informationen haben, die für ihre und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Entscheidung von Bedeutung sein können. … Die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – parlamentarische Demokratie basiert auf dem Ver- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- trauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz … wurf ist einstimmig angenommen. ist nicht möglich … Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23865

Volker Beck (Köln) (A) Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Ab- Die Alternative waren wenigstens zehn zusätzliche (C) hängigkeiten der Abgeordneten sind für die Öffent- Transparenzstufen bei der Veröffentlichung. Im Wider- lichkeit offensichtlich von erheblichem Interesse. spruch zur Geschäftsordnung hat Herr Solms darauf … Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, von bestanden, über die Anträge noch nicht einmal abzustim- wem – und in welcher Größenordnung – seine Ver- men. treter Geld oder geldwerte Leistungen entgegen- Das zeigt doch: Bei Steinbrück fordern Sie die nehmen. brutalstmögliche Transparenz, und in der Rechtsstel- Diese Worte des Verfassungsgerichts sollten Sie sich lungskommission kneifen Sie. Das ist so ein bisschen hinter die Ohren schreiben. Spiel nach „good cop, bad cop“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bei der SPD und der LINKEN) SES 90/DIE GRÜNEN) Es geht nicht um Sozialneid. Ehrlich verdientes Geld Das ist Heuchelei, und das werden wir Ihnen nicht ist ehrlich verdientes Geld. durchgehen lassen. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Ach!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Transparenz schützt aber die Integrität und Legitimität LINKEN) parlamentarischer Entscheidungen. Die Menschen müs- Die Generalsekretäre der Koalition haben Sie letzte sen wissen, dass wir, die wir hier handeln und entschei- Woche von der Kette gelassen. Dobrindt und Döring den, im Sinne unseres Wählerauftrages unterwegs sind haben gegen Steinbrück gehetzt. Was haben sie nicht und unsere Entscheidungen nach bestem Wissen und alles gefordert? „Er täte gut daran, volle Transparenz Gewissen für das Wohl der Bevölkerung treffen und dass walten zu lassen und zu sagen, wie viel Geld er von der diese Entscheidungen nicht nach den subjektiven wirt- Finanzindustrie bekommen habe,“ forderte Herr schaftlichen Interessen der Abgeordneten oder ihrer Dobrindt. Weiter sagt er: „Einfach sagen, in welcher Auftraggeber, mit denen sie wirtschaftliche Verbindun- Höhe“ – hört, hört! – „er in den letzten Jahren aus der gen haben, getroffen werden. Finanzindustrie Gelder erhalten hat.“ Dann kann sich je- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Gedanken darüber machen, ob hier Abhängigkeiten bei der SPD und der LINKEN) entstanden sind. Meine Damen und Herren von der christlich-liberalen (Zuruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD]) (B) Koalition, Sie fürchten mehr Transparenz wie der Teufel Ja, richtig. Dann machen wir das aber für alle und nicht (D) das Weihwasser. nur für den Kollegen Steinbrück. ( [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuruf von der FDP: Quatsch!) und bei der SPD) Das haben Sie am 30. Juni 2005 bewiesen, als wir die Herr Grosse-Brömer, bei Ihnen geht der Riss ja mitten- geltende Transparenzregelung eingeführt haben. Das durch. Auch Sie machen „good cop, bad cop“. Außer- Plenarprotokoll vermerkt dazu: „Die Beschlussempfeh- halb der Rechtsstellungskommission machen Sie den lung ist mit den Stimmen der Koalition“ – das war da- „bösen Polizisten“, und in der Rechtsstellungskommis- mals Rot-Grün – „bei Gegenstimmen der CDU/CSU und sion sagen Sie: Wir müssen alle ein bisschen nachdenk- der FDP angenommen.“ licher werden. Das schadet uns allen. Kein Abgeordneter der Koalition wollte 2005 mehr (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Reden Transparenz bei der Nebenbeschäftigung von Abgeord- Sie von mir?) neten. Heute haben Sie wieder so gehandelt. In der – Ja, ich zitiere Sie, Herr Kollege: Wer als Banken- Rechtsstellungskommission haben Sie bewiesen, dass schreck auftritt, von dem will der Bürger wissen, was er Sie keinen Schritt weiter sind. Sie waren nicht zu einem von den so Kritisierten ganz konkret bekommen hat. Beschluss bereit, obwohl wir Ihnen sogar zwei Alternati- ven angeboten haben, (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, als – Ja, das wollen wir wissen, aber wir wollen es dann Tischvorlage!) auch von allen wissen, auch von Herrn Döring, auch von Herrn Glos. Wir wollen keine Abgeordneten erster oder nämlich einmal Veröffentlichung der Nebentätigkeit auf zweiter Klasse schaffen. Heller und Pfennig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Habt bei der SPD und der LINKEN) ihr doch bekämpft! Ihr Angebot heute Morgen, man könne durchaus über – Sie waren ja auch zu keinem Grundsatzbeschluss in weitere Stufen bei der Transparenz reden, diesem Sinne bereit, Herr Grosse-Brömer. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon mehrere Wochen alt!) 23866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Volker Beck (Köln) (A) ist ja wohl wirklich ein schlechter Witz. Wir reden seit (Beifall bei der CDU/CSU – Michael (C) drei Jahren in der Rechtsstellungskommission bei Kaffee Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Schlechter und Croissant darüber, Versuch!) (Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dabei zeigt gerade die Causa Steinbrück, dass wir Re- Oh!) geln zur Transparenz haben, die funktionieren. wie wir zu weiterer Transparenz kommen. – Ohne (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ergebnis! So auch am heutigen Tag. Bewegt hat sich NEN]: Die Sie auch nicht wollten!) einfach gar nichts. Innerhalb kürzester Zeit waren in sämtlichen Zeitungen Meine Damen und Herren, die Transparenz bei den die zehn besten Nebenverdiener veröffentlicht. – Herr Nebenbeschäftigungen ist eine Sache. Aber bei Transpa- Beck, Sie haben doch gerade Ihren letzten Schwung hier renz geht es natürlich um mehr. Wir Grünen fordern eine am Pult gelassen. Nun bleiben Sie doch ein bisschen umfangreiche Transparenzinitiative, die auch beinhaltet, locker. die Korruption, also Abgeordnetenbestechung, zu be- strafen. Es kann nicht sein, dass Deutschland neben (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Österreich das einzige Land in Europa ist, – GRÜNEN]: Ich habe noch Energie übrig, aber keine Redezeit!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – Ich finde das absolut spannend, aber Sie müssen auch Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. bei diesem Thema lernen, ein bisschen ruhiger zu wer- den. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Und zuzu- – das die UN-Konvention gegen Korruption nicht hören! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aus- verabschiedet hat. gerechnet!) Ein wichtiger Punkt – die anderen wird mein Kollege Die Causa Steinbrück besteht doch auch darin, Konstantin von Notz dann ausführen können – ist die Karenzzeit bei ausgeschiedenen Regierungsmitgliedern. (René Röspel [SPD]: Es gibt keine Causa Steinbrück!) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) dass er sich freundlicherweise freiwillig zur Offenlegung bereit erklärt hat, möglicherweise deshalb, weil er sich (B) Warum ist es in der EU-Kommission selbstverständlich, vom normalen Abgeordneten dadurch unterscheidet, (D) dass ein Kommissar, der ausscheidet, sich seine An- dass er Kanzlerkandidat Ihrer Partei geworden ist. schlussverwendung genehmigen lassen muss – (Christine Lambrecht [SPD]: Das können wir doch alle werden!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege. Er hat sich dazu freiwillig bereit erklärt und gesagt: Ich lege gerne alles auf den Tisch. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE – um es mit den Worten von Herr Rösler zu sagen –, GRÜNEN]: Das haben Sie doch gefordert? und bei uns geht das nicht? Da müssen wir uns an den Haben Sie es gefordert?) europäischen Standard anpassen. – Ich habe das nicht gefordert. Sie haben in der Ihnen ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genen Art, als Sie mich zitierten, die Hälfte weggelas- und bei der SPD) sen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: GRÜNEN]: Das lag an der Redezeit! Geben Das Wort hat nun Michael Grosse-Brömer für die Sie mir mehr Redezeit und ich zitiere länger!) CDU/CSU-Fraktion. Ich habe nämlich gesagt: Wenn denn jemand freiwillig (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas sagt: „Ich offenbare alles“, dann muss er es auch tun. Oppermann [SPD]: Jetzt entschuldige dich Diese Forderung habe ich aufgestellt. Das können Sie mal!) gerne noch einmal nachlesen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): NEN]: Es geht doch gar nicht um Steinbrück! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Es geht um grundsätzliche Regelungen!) Kollegen! Machen wir uns nichts vor, diese Aktuelle Stunde verdanken wir nicht unwirksamen Transparenz- Ich finde, die bisherigen Transparenzregeln geben regeln, sondern der Sorge von Rot-Grün, dass Peer auch die Möglichkeit, nachzufragen. Genau so ist es Steinbrück mit seinen Vortragsreisen weiterhin in der richtig. Ich bin mit Ihnen der Auffassung: Jeder Bürger Diskussion bleibt. muss wissen: „Gibt es irgendwelche wirtschaftlichen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23867

Michael Grosse-Brömer (A) Interessen, die einen Abgeordneten in irgendeinem Zu- Zeit. Ich zitiere einmal, was Sie gesagt haben, als Sie (C) sammenhang in seinem Mandat beeinträchtigen?“ beim letzten Mal den Gesetzentwurf befürwortet haben, der dazu beigetragen hat, diese Transparenzregeln einzu- (Zuruf von der SPD: Ah! Das ist ja etwas führen. Damals waren Sie folgender Auffassung, und Neues!) zwar SPD und Grüne: Nach einem Gutachten für die – Das ist nicht neu. Herr Kollege Lange, und Sie, Herr Rechtsstellungskommission von Professor Hans Meyer Kollege Beck, wissen genau, dass ich das nicht nur tragen wir dem Ausgleich der widerstreitenden Positio- heute, sondern schon in der letzten Woche permanent er- nen der verfassungsrechtlichen Stellung des Abgeordne- zählt habe. ten, auch soweit er Grundrechtsträger ist, Rechnung. – Achtung: (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Seit drei Jahren bekämpfen Sie das! – Volker Beck So sei das vorgeschlagene Stufenmodell bei der [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo Veröffentlichung von Einkünften gerade in der sind Ihre Vorschläge?) Abwägung zwischen den Grundrechten des Abge- ordneten einerseits und dem berechtigten Interesse Deswegen will ich jetzt diese Heuchelei nicht bewerten, der Öffentlichkeit auf Offenlegung von Einkünften die sich darin zeigt, dass heute so getan wird, als würden andererseits gewählt worden. wir hier völlig neue Vorschläge machen, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten heute eines im Ange- GRÜNEN]: Sie machen gar keine Vor - bot! Das wollten Sie auch nicht!) schläge!) Dies gilt gerade deshalb, weil dieses Stufenmodell der die wir im Übrigen schon beim letzten Mal gemacht passende Ausgleich zwischen dem notwendigen freien haben, als wir die Sitzung vertagen mussten, weil die Mandat, verfassungsrechtlich garantiert, und der not- SPD-Kollegen nicht da waren. wendigen Information der Bürger ist, ob es und, wenn ja, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE in welchem Umfang wirtschaftliche Interessen gibt, die GRÜNEN]: Sie spielen auf Zeit und sonst gar offenzulegen sind. nichts!) In diesem Zusammenhang halte ich deshalb auch die Ich finde, die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Inte- Forderung nach Offenlegung auf Heller und Pfennig für resse an der Offenlegung der Einkünfte von Abgeordne- falsch. Wo ist der Mehrwert, wenn alles auf Heller und ten; gar keine Frage. Das ist unstreitig. Das war im Pfennig offenbart werden muss, im Vergleich zu diesem Übrigen auch immer in unserer Fraktion unstreitig. Stufenmodell, bei dem pauschaliert wird? Im Übrigen (B) (D) wird dem Bundestagspräsidenten alles ganz konkret an- (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Renate gezeigt, aber für die Öffentlichkeit wird das pauschaliert Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von dargelegt. Den Mehrwert bei der Transparenz sehe ich welcher reden Sie?) nicht. Den hat mir bislang keiner erklärt, auch heute Es muss erkennbar sein, ob ein Abgeordneter bei der Morgen nicht in der Rechtsstellungskommission. Mandatsausübung wirtschaftlich frei ist und im Auftrag Wenn dieses Instrument der Offenlegung auf Heller seiner Wählerinnen und Wähler handelt. Mögliche Ab- und Pfennig keinen Mehrwert hat, dann muss man sich hängigkeitsverhältnisse müssen klar benannt werden. die Frage stellen: Ist es denn im Vergleich zum Stufen- Die Frage ist nur: Welchen Weg wählen wir, um genau modell geeignet, mehr Transparenz zu schaffen? Wenn dieses Ziel zu erreichen? es nicht geeignet ist, mehr Transparenz zu schaffen, dann Wir unterstützen die Forderung nach mehr Transpa- erlaube ich mir allerdings, an die Auffassung des renz und auch die Verschärfung der bisherigen Regeln. Bundesverfassungsgerichtes zu erinnern, dessen Richter Das haben wir mehrfach gesagt, nicht zuletzt in der damals bei der Bewertung der Transparenzregeln sehr Rechtsstellungskommission. Deswegen wäre es sinn- uneinig, nämlich mit 4 : 4, abgestimmt haben. voll, Herr Kollege Beck, wenn Sie endlich aufhörten, Das Bundesverfassungsgericht hat geschrieben: Der uns Blockade vorzuwerfen. Sie waren jedes Mal dabei, Schutz der Privatsphäre gilt auch für Abgeordnete. wenn wir unsere Angebote gemacht haben. Das bedeutet, dass sich eine Offenlegung nur recht- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE fertigt, soweit es … Informationen sind, die auch GRÜNEN]: Sie wollten einen schmutzigen tatsächlich dazu geeignet sind, auf die Gefahr von Deal! Sie wollten weniger Transparenz!) Interessenverknüpfungen und Abhängigkeiten des Wir haben immer gesagt: Wir sind bereit, mehrere Stu- Abgeordneten hinzuweisen. fen einzurichten. Das hat mit Blockade überhaupt nichts Wir wollen uns an der Verschärfung der Transparenz- zu tun. regeln beteiligen, und wir sind – wie wir jetzt schon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehre Wochen lang betonen – bereit, mehrere Stufen einzurichten. Infolgedessen sind wir auch die Fraktion, Ich will Ihnen Folgendes sagen: Unserer Meinung die dazu beiträgt, dass Abhängigkeitsverhältnisse in der nach hat sich das Stufenmodell bewährt. Einkünfte wer- Öffentlichkeit deutlich werden, den pauschaliert und nach Herkunft angezeigt. Diese Meinung hatten auch SPD und Grüne eine recht lange (Beifall CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD) 23868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Michael Grosse-Brömer (A) nicht nur bei einem Kanzlerkandidaten, sondern bei Mein lieber Herr Döring, wie aber konnten Sie so ver- (C) allen Kolleginnen und Kollegen. gesslich sein? Wie konnten Sie glauben, dass wir den Ball, den Sie uns da zugespielt haben, nicht mit großer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Freude nach vorne spielen – und nicht nur mit Schaden- freude. Wir wären doch schlechte Politiker, wenn wir Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: diese Gelegenheit nicht nutzen würden, jetzt auch in der Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPD- Sache voranzukommen. Und wir müssen in der Sache Fraktion. vorankommen, meine Damen und Herren. Die Zeit ist reif für neue Transparenzvorschriften im Deutschen Bundestag. Thomas Oppermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem wenigen wirklich frustrierenden Erfahrungen als Abge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordneter des Deutschen Bundestages gehört meine Wir wollen die Offenlegung auf Euro und Cent von allen Mitarbeit in der Kommission des Ältestenrates für die Nebeneinkünften. Rechtsstellung der Abgeordneten. Jetzt heißt es natürlich ganz kleinlaut bei meinem (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegen Grosse-Brömer, Kriegst du eine Erschwerniszulage?) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich Seit zwei Jahren debattieren wir jetzt intensiv aufgrund finde, ich war ganz deutlich!) verschiedener Vorlagen und bemühen uns, die Transpa- renzvorschriften für Abgeordnete zu erweitern. Nichts das sei mit dem freien Mandat nicht vereinbar: Wir wol- ist in dieser Zeit passiert. Nichts hat sich bewegt. Es geht len nicht den gläsernen Bürger. – Auch wir wollen nicht immer nach der Methode „Verschleppen, verzögern, ver- den gläsernen Bürger, aber wir wollen den transparenten hindern“. Abgeordneten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie wollen den gläsernen Abge- Das änderte sich aber schlagartig vor zwei Wochen. ordneten!) Als Peer Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, sprangen die drei Generalsekretäre der Koalitionsparteien gleich- Wenn Sie nicht wissen, was der Unterschied ist, kann ich zeitig auf die Bühne und forderten umfassende Transpa- Ihnen das gerne anhand unserer Verfassung erklären. Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, an (B) renz von Steinbrück. Er solle alle Nebeneinkünfte auf (D) Euro und Cent offenlegen. Für einen ganz kurzen Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Moment hatten die Generalsekretäre vergessen, was vor- Gewissen unterworfen. Das ist eine herausgehobene her passiert war, nämlich dass Union und FDP bei allen Stellung der Abgeordneten. Aus der dürfen Sie nicht nur Abstimmungen über die Erweiterung von Transparenz- Rechte, sondern aus der müssen Sie auch Verpflichtun- stufen im Bundestag oder in den Ausschüssen immer gen ableiten, meine Damen und Herren. dagegen gestimmt haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Patrick Döring [FDP]: Sie zitieren falsch!) Sie haben ein sehr gesundes Verhältnis zu den Rechten, Deshalb stelle ich fest: Wer für sich selbst Transparenz aber offenbar ein gestörtes Verhältnis zu den Verpflich- verhindert, aber von anderen Transparenz fordert, der ist tungen. ein Pharisäer und ein scheinheiliger Zeitgenosse, Herr Döring. Wir wollen keine Neiddebatte über Nebeneinkünfte von Abgeordneten, ganz im Gegenteil. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Habe (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Es darf ich nie gefordert! Das wissen Sie auch!) gelacht werden!) Ganz besonders peinlich wird es, wenn einer wie Sie, Ich finde es völlig in Ordnung, wenn einzelne Kollegen der auch noch der Nebentätigkeit als Vorstand einer versuchen, über Nebentätigkeiten ihre berufliche Haustierversicherung nachgeht und selber nicht über Qualifikation zu erhalten oder auch den Kontakt zum seine Einkünfte aus dieser Tätigkeit nach Euro und Cent Wirtschaftsleben darüber aufrechtzuerhalten. Im Mittel- Rechenschaft ablegt, punkt muss aber die Unabhängigkeit des Abgeordneten stehen, meine Damen und Herren. (Patrick Döring [FDP]: Weil ich auch das nie gefordert habe! Nie gefordert!) (Beifall bei der SPD) Peer Steinbrück angeht und sogar sagt, der habe nicht Die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können, das Gen des ehrbaren Kaufmanns. Das war eine massive ob sich Abgeordnete von Dritten abhängig gemacht ha- Beleidigung von Peer Steinbrück. Ich warte immer noch, ben. Mögliche Interessenkollisionen, mögliche dass Sie sich dafür entschuldigen. Interessenverflechtungen müssen erkennbar, müssen kri- tisierbar, müssen diskutierbar werden. Das ist der Sinn (Beifall bei der SPD) der Transparenzvorschriften; das ist der Sinn des Trans- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23869

Thomas Oppermann (A) parenzgebotes. Es geht darum, das Vertrauen der Bürger Wir wollen mal bei den Fakten bleiben: Erstens. Die (C) in die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu stärken. jetzige Regelung mit den drei Stufen ist, wie eben gerade Wenn Sie nicht das Misstrauen, sondern das Vertrauen von Herrn Beck bestätigt wurde, nicht von uns, sondern stärken wollen, dann hilft nur eins: Offenlegung aller von Rot-Grün eingeführt worden. Nebeneinkünfte auf Euro und Cent. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie schon vergessen! – Volker Beck [Köln] der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten gar GRÜNEN) nichts gemacht!) Von der Union sind es über 100 Kollegen und Kolle- Sie wird nun von Ihnen genauso wie von uns als unzu- ginnen und von der FDP über 40, die einer vergüteten reichend angesehen. Nebentätigkeit nachgehen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Selbst- NEN]: Damals war es zu weitgehend!) ständige! Freiberufler!) Aber Sie sollten auch bestätigen, dass Sie Ihre Meinung Ich rufe den Kollegen zu: Stehen Sie zu Ihrer Nebentä- auch erst einmal neu entwickeln mussten. tigkeit! Schämen Sie sich nicht dafür, dass Sie mit ehrli- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE cher Arbeit Geld verdienen! Aber ich finde, was man GRÜNEN]: Nein! Wir waren damals schon für ehrlich verdient hat, das kann man auch sagen. Heller und Pfennig! Die SPD wollte es nicht! – Gegenruf von der FDP: Die Grünen waren es (Beifall bei der SPD) nie!) Deshalb: Gehen Sie mit uns den nächsten Schritt, und – Jetzt bin ich dran. – Zweitens. Wir haben in der verändern Sie mit uns die Nebentätigkeitsvorschriften! Rechtsstellungskommission einen Vorschlag in der Dis- Sorgen Sie mit uns für volle Transparenz! kussion – wenn ich mich recht erinnere, seit über einem Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung ma- Jahr – zu einer Zehn-Stufen-Regelung bis zu chen, Herr Präsident. Ich habe nämlich noch eine weitere 150 000 Euro. Es ist überhaupt nicht wahr, dass nicht da- Bitte an die Koalition: Klären Sie endlich Ihr gestörtes rüber diskutiert worden ist. Verhältnis zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbeste- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE chung! GRÜNEN]: Gleichzeitig nehmen Sie die mo- natliche Anzeigepflicht raus! Das ist ein toller (B) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (D) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Vor schlag !) GRÜNEN) Wir haben auf einer realen Grundlage diskutiert und sind bis jetzt nicht zu einer Einigung gekommen. So sind Wenn Sie das länger hier im Deutschen Bundestag blo- die Fakten. ckieren, blamieren Sie den Deutschen Bundestag bis auf die Knochen. Der Bundestag darf nicht das einzige Par- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE lament und Deutschland nicht die einzige parlamentari- GRÜNEN]: Dann setzen Sie es doch durch! sche Demokratie auf der Welt sein, wo Abgeordnetenbe- Wir haben es auch durchgesetzt!) stechung auch in Zukunft straffrei möglich ist. Bewegen Sie sich bei dem Thema! Kommen Sie endlich in die Vor 14 Tagen, als die Rechtsstellungskommission das Schuhe! erste Mal nach der Sommerpause getagt hat, war die Ko- alitionsseite bereit, über eine weitergehende Stufenrege- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lung zu reden. Leider waren die Kollegen der SPD ver- DIE GRÜNEN) hindert. Ich sage das nicht vorwurfsvoll. Es ist einfach ein Faktum. Deswegen konnten wir nicht darüber spre- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chen. Die Causa Steinbrück ist erst danach hochgekom- men. Bis zu diesem Zeitpunkt war die SPD voll ent- Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDP- schlossen, über eine Stufenregelung zu reden und nicht Fraktion. die Berichterstattung auf Heller und Pfennig einzufor- (Beifall bei der FDP) dern. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Das heißt, der Sachzusammenhang mit der Causa Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Steinbrück ist deutlich erkennbar. Herren! Ich habe als Mitglied des Präsidiums des Bun- destages das Vergnügen oder auch manchmal die Last, (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Reflexhaft!) die Rechtsstellungskommission zu leiten. In dieser Wir sind auch jetzt bereit, über eine weitgehende Stu- Funktion und mit entsprechendem Auftrag versuche ich, fenregelung zu reden. in der Frage der Transparenz der Einkünfte der Abgeord- neten – ob das Nebeneinkünfte sind, ist schon eine Zwei- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- felsfrage – eine Verbesserung zu erzielen. NEN]: Das tun wir ja schon eine Weile!) 23870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Hermann Otto Solms (A) Das geht natürlich nicht mit einem Termin, der nur Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) 40 Minuten dauert wie heute Morgen. Dafür muss man Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die sich etwas mehr Zeit nehmen. Linke. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: (Beifall bei der LINKEN) Wollt ihr, oder wollt ihr nicht?) – Entschuldigung, wenn man eine gemeinsame Lösung Raju Sharma (DIE LINKE): erzielen will, muss man darüber reden. Es geht eben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es nicht so, wie es der Kollege Beck getan hat, indem er Regeln gibt, dann sollte man sie einhalten. Dies gilt ins- eine Tischvorlage einbringt und verlangt, dass wir sofort besondere dann, wenn es Regeln sind, die man selber darüber abstimmen, aufgestellt hat. Darüber sollten wir heute sachlich debat- tieren. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie schon gestern ge- Mit Peer Steinbrück lohnt sich eine politische Aus- habt!) einandersetzung. Dafür gibt es gute Gründe, und diese Auseinandersetzung sollten wir auch führen. An die gel- bevor irgendjemand Gelegenheit hatte, sich diese Tisch- tenden Transparenzregelungen hat er sich aber nach vorlage anzuschauen. Das geht nicht. dem, was wir wissen, offenbar gehalten. Das Problem ist (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE bloß, dass die geltenden Transparenzregelungen nicht GRÜNEN]: In den Ausschüssen legen Sie sol- das halten, was sie dem Namen nach versprechen. che Pakete vor als Koalition, und zwar jeden (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Mittwochmorgen um 9 Uhr!) neten der SPD) – Herr Kollege Beck, das hätte doch die Lösungsfindung Nun regen sich alle über Peer Steinbrücks Nebentätig- nur erschwert und nicht erleichtert. Jetzt sollte man das keiten auf: die Union und die FDP. Den Grünen ist das alles einmal ein bisschen herunterhängen; sogar eine Aktuelle Stunde wert. Was mich wundert, ist, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE dass die Genossinnen und Genossen von der SPD sich GRÜNEN]: Das wird Ihnen nicht gelingen! nicht aufregen; denn da wird jemand als MdB bezahlt, Grund war doch Ihre Zögerlichkeit!) leistet aber nicht. denn diese ganze Diskussion schadet dem ganzen Haus (Christine Lambrecht [SPD]: Wie kommen Sie und allen Fraktionen hier im Hause. denn darauf? – Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie heute Morgen die Rede nicht ge- (B) (Beifall bei der FDP) hört? Waren Sie heute Morgen nicht da?) (D) Ich bin es nun endlich leid. Diese laufenden Schuldzu- Statt den Ruhm der Sozialdemokratie in Facharbeitskrei- weisungen hin und her führen dazu – – sen und in den Ausschüssen zu mehren, mehrt Peer (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Steinbrück seinen eigenen Ruhm und seine eigene Ehre Sagen Sie das zu Herrn Döring!) und bekommt dafür Honorare wie Jerry Lewis zu seinen besten Zeiten in Caesar’s Palace. – Ich nehme niemanden aus. (Beifall bei der LINKEN – Thomas (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Oppermann [SPD]: Da sind Sie richtig nei- Gut! Sie haben es gehört, Herr Döring?) disch, was? – Christine Lambrecht [SPD]: Ihre Ich habe mit dem Kollegen Döring schon unter vier Au- Rede ist das nicht wert!) gen über das Problem gesprochen, Wenn ich Sozialdemokrat wäre und vielleicht in Mett- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mann etwas bewegen wollte, dann würde ich mich wirk- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- lich aufregen. rufe von der SPD: Oh! – Volker Beck [Köln] Aber es regen sich ganz andere auf, zum Beispiel der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der wird Kollege Dobrindt. Der wird immerhin dafür bezahlt, ganz rot, der Kollege Döring!) dass er sich aufregt: und ich hoffe, dass das andere auch getan haben im Hin- (Thomas Oppermann [SPD]: Wo ist er über- blick auf Kollegen in ihren Fraktionen. haupt?) Ich bitte jetzt nur die Kollegen aus der Rechtsstel- von der Allianz, von BMW, von der bayerischen Metall- lungskommission, sich für die nächste Woche etwas industrie, die allesamt kräftig der CSU spenden. mehr Zeit zu nehmen; denn ich bin überzeugt davon, dass wir in der nächsten Woche die Chance haben, zu ei- (Beifall bei der LINKEN) nem Ergebnis zu kommen. Das muss unser Interesse Außerdem meldet sich Patrick Döring zu Wort, aus- sein, damit diese leidige Diskussion endlich beendet gerechnet Patrick Döring, der selber zu den Top Ten der wird. Nebenverdiener gehört. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Thomas Oppermann [SPD]: Aber nur bei den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nebenverdienern!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23871

Raju Sharma (A) – Die Honorare bekommt er allerdings nicht für Vor- linien. Im Prinzip sollte jede Nebentätigkeit angezeigt (C) träge; sie wären vermutlich auch intellektuell wenig werden, und zwar mit Nennung des Auftraggebers und inspirierend. der Höhe des Honorars. Die Linke wird hier mit gutem Beispiel vorangehen. Wir werden, sofern nicht im Aus- (Heiterkeit bei der LINKEN – Volker Beck nahmefall Rechte Dritter dem entgegenstehen, Nebentä- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die tigkeiten und daraus erzielte Einkünfte unter www.links- will keiner hören! – Zuruf von der FDP: Das fraktion.de bzw. auf den Webseiten der Abgeordneten ist ja unterirdisch!) öffentlich machen. – Unterirdisch? (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der (Zuruf von der FDP: Ja, es ist unterirdisch, CDU/CSU: Auch die Einkünfte von den Ge- sich so gegenüber dem Kollegen zu verhalten! – werkschaften?) Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Alles. NEN]: „Unterirdisch“ im Zusammenhang mit Döring ist immer eine richtige Aussage!) Wir wollen keine Neiddebatten führen, und es geht auch nicht um Neid. Ich missgönne Herrn Döring seine Ausgerechnet Union und FDP melden sich zu Wort, Honorare ebenso wenig wie Herrn Steinbrück. Es hat also die Fraktionen, die an anderer Stelle mit fadenschei- aber etwas mit Aufrichtigkeit, mit Offenheit und Ehr- nigen Begründungen verhindern, dass endlich die UN- lichkeit denjenigen gegenüber zu tun, die unsere Diäten Konvention gegen Korruption ratifiziert wird und dass finanzieren. Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen, die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption wer unter Umständen von wem profitiert. umgesetzt werden. Ich finde, das ist selbst für einen vor- gezogenen Wahlkampfstart ziemlich platt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unstreitig!) (Beifall bei der LINKEN – Kathrin Vogler Von mehr Transparenz profitieren wir Abgeordneten [DIE LINKE]: Peinlich ist das, peinlich!) alle; denn das erspart uns, dass wir einem Generalver- Die Rechtslage in diesem Fall ist klar; aber sie ist un- dacht ausgesetzt werden, und es erspart uns auch, dass zureichend. wir wie hier in der Aktuellen Stunde einer Diskussion über die Nebentätigkeiten von Peer Steinbrück ausge- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sie waren doch setzt werden. in der Anhörung!) Vielen Dank. – Natürlich war ich gestern in der Anhörung; ich habe auch einiges gesagt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (B) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (D) (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Da merkt man GRÜNEN) aber nix von!) – Ich kann Ihnen ein bisschen was aus der Anhörung er- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zählen. Die Anhörung, die wir gestern zum Thema Ab- Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/ geordnetenbestechung gehabt haben, hat nämlich erge- CSU-Fraktion. ben, dass man, wenn man es will, entweder über die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorschläge, die die Oppositionsfraktionen, nämlich Linke, SPD und Grüne, zu einer Verschärfung der Abge- ordnetenbestechung gemacht haben, weiterkommt, um Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): die Voraussetzung für die Ratifizierung der UN-Konven- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! tion zu schaffen, Seit der SPD-Kanzlerkandidat wegen seiner Vortragsho- norare in die Schlagzeilen geraten ist, überbieten sich (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das SPD und Grüne geradezu mit Vorstößen zu Neuregelun- findet ja nicht mal der DAV gut!) gen zur Transparenz. oder dass man es anders machen kann. Dazu haben (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE selbst die von Ihnen benannten Sachverständigen Vor- GRÜNEN]: Wir kommen kaum an Herrn schläge gemacht. Letztlich scheitert es nur daran, dass Dobrindt ran!) Sie nicht wollen. Das ist fadenscheinig, und daran müs- sen wir jetzt endlich einmal herangehen. hat dies in seiner gestrigen Ausgabe eine „Verlegenheitsoffensive“ genannt, und genau das ist (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der treffende Ausdruck. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] Bei den Transparenzregelungen ist die Rechtslage [SPD]: Das, was ihr macht, ist eine Verlegen- völlig klar; aber sie ist unzureichend. Formal – das habe heitsoffensive!) ich schon gesagt – hat sich Peer Steinbrück vermutlich richtig verhalten. Dass wir dennoch diese Diskussion Ich meine, wir sollten zu einer vernünftigen und sach- hier haben, zeigt, dass die Regelungen weiterentwickelt lichen Debatte zurückkehren, wie sie dem Thema ange- werden müssen. Wir brauchen neue Transparenzricht- messen ist. 23872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Wolfgang Götzer (A) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Erst auf die Kante Wegen dieses Prinzips sind die Angaben in vielen Fällen (C) hauen und dann sagen: Wie gemein!) nämlich nicht aussagekräftig. Worum geht es denn eigentlich, verehrte Kolleginnen Gleichwohl, ich sage es noch einmal: Die Union bzw. und Kollegen? Sollen Neidgefühle bedient werden, oder die Koalition ist für eine neue Stufenregelung bereit. soll sinnvolle Transparenz geschaffen werden? Transpa- Aber wir sollten uns in diesem Zusammenhang auch Ge- renz, so sagt unser Bundestagspräsident – ich kann ihm danken über eine klare Differenzierung zwischen Ein- da nur beipflichten –, ist kein Selbstzweck, und er weist künften einerseits machen, die aus dem erlernten und in einem Interview vor wenigen Tagen zu Recht auf die meist auch vor der Parlamentszeit bereits ausgeübten Auffälligkeit hin – ich zitiere –, „mit welcher Selbstver- Beruf erzielt werden, und Nebenverdiensten anderer- ständlichkeit man von politischen Mandatsträgern eine seits, die – ich zitiere noch einmal den Tagesspiegel von Transparenz erwartet, die man sich für den Rest der Ge- gestern – „erkennbar nicht ‚berufsspezifisch‘ sind, son- sellschaft ausdrücklich verbittet.“ Bemerkenswert! dern mehr oder weniger offenkundige Folge der politi- schen Tätigkeit“; ich sage es im Klartext: wo es um die Es kann doch nicht angehen, verehrte Kolleginnen Vermarktung von Amt oder Mandat geht. und Kollegen, Abgeordnete zu zwingen, Dinge von sich preiszugeben, die zur Privatsphäre gehören, auf die jeder Leider wird – einer der Grundfehler dieser Regelung Mensch ein Recht hat, auch Abgeordnete. von 2005 – alles pauschal als Nebeneinkünfte bezeichnet und den gleichen Regelungen unterworfen. (Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind eine öffentliche Person!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir könnten auch ein Schiedsge- Worum es gehen muss, ist, Interessenkollisionen auf- richt einrichten!) zuzeigen, Abhängigkeiten offenzulegen und beispiels- weise aufzuzeigen, ob die politische Tätigkeit vermark- Da halte ich es für durchaus verständlich, dass man- tet wird und etwa auch, ob die Mandatsausübung im che Kollegen, die etwa Handwerker, Gewerbetreibende Mittelpunkt steht. Das sind die Fragen, um die es bei der oder Rechtsanwälte sind, sich ungerecht behandelt füh- Forderung nach mehr Transparenz gehen muss. Auf Ant- len und dass viele, die sich eine Kandidatur zum Deut- worten darauf haben die Bürger ein Recht und einen An- schen Bundestag überlegen, dadurch abgeschreckt wer- spruch. den. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE der FDP) GRÜNEN]: Das haben Sie das letzte Mal bei Diesen Zielen, wie ich sie gerade genannt habe, müs- den Rechtsanwälten auch erzählt!) (B) (D) sen Verhaltensregeln dienen. Verhaltensregeln müssen Wir brauchen aber Abgeordnete, verehrter Herr Kollege also danach beurteilt werden, ob sie insoweit aussage- Beck, die noch ihren Beruf ausüben; das sage ich gerade kräftig und damit zielführend sind. an die Adresse Ihrer Fraktion. Nun meinen SPD und Grüne seit einiger Zeit, dass die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von ihnen selbst – Herr Kollege Solms hat noch einmal der FDP) darauf hingewiesen; manche hier haben es anscheinend vergessen – im Jahr 2005 geschaffene Drei-Stufen-Rege- Gerade ein während des Mandats ausgeübter Beruf stützt lung diesen Maßstäben nicht genügt. Wir von der Union die politische Unabhängigkeit des Abgeordneten und ist sind offen für eine Änderung. Wir diskutieren in der Tat damit im Interesse des Parlamentarismus. in der Rechtsstellungskommission seit längerem da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rüber. Wir haben seit langem die Bereitschaft zu einer der FDP) Neuregelung mit deutlich mehr und höheren Stufen signalisiert. Deshalb dürfen wir jetzt nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Wir sind für Transparenz, wenn sie kein Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und höhere Selbstzweck ist, sondern zielführend. Stufen bringen in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei Vortragshonoraren, tatsächlich einen weiteren Erkennt- Ich bedanke mich. nisgewinn; denn hier weichen Brutto- und Nettozufluss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kaum oder gar nicht voneinander ab. Daran aber, dass aus der Höhe der Nebeneinkünfte allein immer auch Er- kenntnisse über Abhängigkeiten, über Interessenkolli- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sionen gewonnen werden können, sind Zweifel ange- Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD- bracht. Außerdem bleibt ein Grundfehler der Regelung Fraktion. von 2005 von Rot-Grün, nämlich das Brutto-Zufluss- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) prinzip. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Christine Lambrecht (SPD): GRÜNEN]: Das klingt ja schon wieder ganz Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Sehr anders als bei Herrn Grosse-Brömer! Jetzt wis- verehrte Damen und Herren! Wenn wir in dieser Aktuel- sen wir: Das wird ein langer, langer, langer len Stunde über mehr Transparenz reden, dann ist das Weg!) kein Selbstzweck, sondern es geht darum: Wie schaffen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23873

Christine Lambrecht (A) wir es, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr chen uns darüber Gedanken. – Herr Kauder und meine (C) Vertrauen in Politik und in Politiker haben? Dazu gehört Damen und Herren von der Koalition, wir werden es Ih- auch die Frage: Wie können wir endlich die UN-Kon- nen nicht durchgehen lassen, wenn wieder nur warme vention zur Korruptionsbekämpfung in diesem Land Worte kommen, wir werden genau beobachten, ob den umsetzen? Das ist bereits seit 2003 ein Anliegen. Wir Worten Taten folgen. Zu sagen: „Wir überlegen jetzt haben es bis heute nicht erreicht, einen Straftatbestand mal. Das ist aber sehr schwer, und ob wir das noch in der Abgeordnetenbestechung zu schaffen. dieser Legislaturperiode schaffen …“, ist, glaube ich, kein angemessener Umgang mit dem Thema. In dieser Woche gab es in dieser Frage endlich Bewe- gung. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was Das ist vergleichbar mit den Stellungnahmen, die wir erzählen. So hat uns Herr Siegfried Kauder, CDU, Vor- hier zur Frage der Transparenz bei Nebeneinkünften be- sitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundes- kommen. Auch bei diesem Thema kommt erst jetzt Be- tages, berichtet, wie es auf seiner Reise letzte Woche in wegung in die Diskussion. Seit Jahren diskutieren wir Afrika war. In Afrika ist er darauf angesprochen worden, darüber, ob die Regeln ausreichen. Es geht nicht, dass wie es denn mit Korruption ist – nicht etwa in Afrika, man immer wieder vertröstet, immer wieder Erklärun- nein, in Deutschland –, warum wir denn in Deutschland gen abgibt, aber trotzdem glaubt, dass das zu mehr Ver- nicht mehr für die Bekämpfung von Korruption tun. trauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik und in Politiker führt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die (Jörg van Essen [FDP]: Stimmt überhaupt Nebeneinkünfte offenlegen, dass wir zeigen: Wir haben nicht, nicht ein einziges Mal! Ich war bei der keinen Dreck am Stecken. Deswegen zeigen wir offen, Reise dabei! – Gegenruf des Abg. Raju von wem wir wofür bezahlt werden. Darum geht es; es Sharma [DIE LINKE]: Gesagt hat er es!) geht hier nicht um eine Neiddiskussion oder darum, ei- – Dann müssen Sie das vielleicht mit ihm klären, Herr nen gläsernen Abgeordneten zu schaffen. Vielmehr muss van Essen. Zumindest den Journalisten gegenüber hat er deutlich werden: Wer bekommt von wem Geld wofür? erklärt, dass das bei ihm zu einem Umdenken geführt hat (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der und er jetzt darüber nachdenkt, wie man so etwas in LINKEN) Deutschland regeln könne. Dann kann sich der Bürger Gedanken darüber machen, (Beifall des Abg. Raju Sharma [DIE LINKE]) ob er sich von diesem Abgeordneten vertreten fühlt. Da kann ich Ihnen sagen, Herr Kauder: Sie hätten Dazu reicht es aber nicht aus, zu sagen: Wir machen nur nicht erst nach Afrika fahren müssen. Sie hätten, jenseits ein paar Stufen. von Afrika, (B) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das (D) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der wolltet ihr bis vor zwei Wochen doch auch LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE noch!) GRÜNEN – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Selbstverständlich muss es möglich sein, weiterhin als Gestern konnten wir von Ihnen nichts hören!) Anwalt, als Arzt, als Vortragsreisender, als Tierversiche- schon vor vielen Jahren – beispielsweise von Organisa- rer zu arbeiten. Aber der Bürger muss wissen: Von wem tionen wie Transparency International – hören können, bekommt der Abgeordnete Geld wofür? Deswegen kann wie wichtig es ist, dass die Regeln dieser Antikorrup- ich Ihnen nur dringend zurufen: Hören Sie auf mit dieser tionskonvention in Deutschland umgesetzt werden. Sie Verschleppungstaktik! Das schadet uns allen und bringt hätten, jenseits von Afrika, einfach nur zuhören müssen, uns alle in eine Situation, die mit Vertrauen bestimmt wie Grüne, Linke, SPD mit zahlreichen Gesetzesinitia- nichts zu tun hat. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten tiven versucht haben, einen Weg zu finden, Abgeordne- folgen! tenbestechung gesetzlich zu fassen. Sie hätten, jenseits Vielen Dank. von Afrika, einfach nur zuhören müssen, wie Bundes- tagspräsident Lammert oder auch Herr Waigel dringend (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dazu aufgerufen haben, endlich Regeln zur Bekämpfung der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE von Abgeordnetenbestechung in diesem Land zu finden. GRÜNEN) Sie hätten, jenseits von Afrika, diesen Sommer einfach nur zuhören müssen, wie ein Großteil der deutschen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wirtschaft uns allen ins Stammbuch geschrieben hat: Das Wort hat nun Jörg van Essen für die FDP-Frak- Macht endlich etwas! Es ist uns peinlich, dass wir im tion. Ausland darauf angesprochen werden, dass ausgerechnet in Deutschland kein Straftatbestand der Abgeordneten- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bestechung bekannt ist. – Wir stehen damit in einer der CDU/CSU) Reihe mit Staaten, in deren Gesellschaft wir uns sonst nicht so sehr wohlfühlen: Syrien, Saudi-Arabien und, Jörg van Essen (FDP): und, und. Jenseits von Afrika wäre das alles möglich ge- wesen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich empfehle uns allen, ein Stück abzurüsten. Es ist schon Aber Sie mussten erst diese Reise machen. Gut, jetzt mehrfach in der Debatte gesagt worden: Es nützt nie- haben Sie diesen Erkenntnisgewinn. Sie sagen: Wir ma- mandem, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen. 23874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Jörg van Essen (A) (Zuruf von der SPD: Wer hat denn aufge- schnittliche Dauer der Zugehörigkeit eines Abgeordne- (C) rüstet?) ten zum Bundestag beträgt zwei Perioden, acht Jahre. Ein Bäckermeister – in unserer Fraktion ist gerade einer Ich stelle fest: Der Kollege Steinbrück hat seine Ne- nachgerückt – kann seine Bäckerei nicht schließen und bentätigkeiten ordnungsgemäß angemeldet, nach acht Jahren wieder öffnen, um als Bäcker wieder (Christine Lambrecht [SPD]: Warum haben Sie Fuß zu fassen. Deshalb ist es sinnvoll, dass er seinen Be- sich dann darüber aufgeregt?) ruf weiter fortführt. Das macht ihn unabhängig. Er kann jederzeit wieder in seinen Beruf zurückkehren. aber er muss sich natürlich den Fragen stellen. Wenn man so vielen Nebentätigkeiten nachgegangen ist und Deshalb: Alle Regeln, die wir schaffen, klopfen wir Reden gehalten hat, wenn man eines der höchsten Ämter daraufhin ab, ob sie so beschaffen sind, dass dem Bundes- in diesem Lande anstrebt und im Bundestag nur ganz tag auch Selbstständige weiterhin angehören können, wenig geredet hat, ohne dass sie ihre Selbstständigkeit, ihren Beruf gefähr- den. Das gilt beispielsweise auch für viele freie Berufe, (Zuruf von der FDP: Viermal!) bei denen ebenfalls Verschwiegenheitspflichten zu be- dann muss man sich Fragen gefallen lassen und darf achten sind. nicht so dünnhäutig reagieren, wie wir das heute in der Debatte erlebt haben. Meine zweite Bemerkung betrifft den Korruptionstat- bestand. Ich erinnere mich noch sehr genau: Als die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bundesregierung die UN-Konvention unterzeichnen Christine Lambrecht [SPD]: Er hat souverän wollte, haben alle damals vertretenen Fraktionen – die reagiert und nicht dünnhäutig!) Linke war nicht dabei, aber Herr Beck war schon dabei – Trotzdem: Ich glaube, dass wir auch gut beraten sind, die Bundesregierung gebeten, sie nicht zu unterzeichnen, zu sehen, dass es in den Fraktionen unterschiedliche In- (Christine Lambrecht [SPD]: Wegen der teressen gibt. Die SPD-Fraktion ist die Fraktion mit dem Formulierung!) höchsten Anteil an Gewerkschaftsfunktionären. Das kri- tisiere ich nicht. weil in der Formulierung kein Unterschied gemacht wird zwischen Beamten und Abgeordneten. (Thomas Oppermann [SPD]: Wir finden das gut!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen Amt und Mandat! Aber Ich finde, dass Arbeitnehmervertreter ganz selbstver- das kann man doch durch einen Vorbehalt hei- ständlich auch im Bundestag anwesend sein müssen, da- len!) (B) mit sie die Interessen der Arbeitnehmer vertreten kön- (D) nen. Der Bundestag lebt davon, dass wir solche Als Abgeordneter habe ich nach Art. 38 des Grundgeset- Interessenvertretungen, auch einseitige Interessenvertre- zes das Recht auf die freie Ausübung des Mandats. tungen, haben. In der Fraktion der Grünen gibt es den (Christine Lambrecht [SPD]: Das hat aber nichts höchsten Anteil der Berufslosen, den höchsten Anteil mit Bestechung zu tun!) der Lehrer. Die haben wiederum andere Interessen. Der Kollege Beck beispielsweise versucht, seitdem er im Das bedeutet natürlich auch, dass man Pflichten hat. Der Bundestag ist, uns nahezubringen, dass die, die keinen Kollege Oppermann hat sie ausgeführt. Ich finde es aus- Beruf haben, am unabhängigsten sind. gesprochen richtig, dass Sie das getan haben. Aber der (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Abgeordnete ist frei. Ich bin es als Beamter nicht. Des- halb lege ich als Beamter auch einen Diensteid ab. Ein Ich versuche, hier das Gegenteil zu vermitteln, nämlich: Abgeordneter tut es nicht. Deshalb muss es unterschied- Derjenige, der einen Beruf hat, ist am unabhängigsten. liche Regeln dafür geben. Herr Beck, es gibt niemanden in diesem Parlament, der abhängiger von Politik ist als Sie. Was sollen Sie denn (Christine Lambrecht [SPD]: Ja! Deswegen ohne Berufsabschluss sonst machen? Trennung!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn man die gestrige Anhörung von Anfang an mit verfolgt hat – der Kollege Sharma war dabei; Sie, Frau Deswegen werbe ich dafür, dass wir ein breites Parla- Lambrecht, glaube ich, auch –, dann wurde einem klar: ment mit vielen Berufen sind. Für mich gehört dazu, Es war ein klarer Verriss dessen, was Sie vorgetragen ha- dass sich meine Fraktion dadurch auszeichnet – darüber ben. bin ich froh –, dass wir den höchsten Anteil an Hand- werksmeistern und Selbstständigen haben. Denn auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – die gehören in den Bundestag. Christine Lambrecht [SPD]: Nein!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diejenigen, die hier den Eindruck erwecken wollen, der CDU/CSU) die Oppositionsfraktionen hätten Vorschläge gemacht, die den Anforderungen der Verfassung genügen, der Das Interesse von Selbstständigen und Handwerkern lügt. ist ein anderes als von denen, die, wie ich, als Beamte, als Lehrer, als Gewerkschaftsfunktionäre jederzeit wie- (Christine Lambrecht [SPD]: Dann waren Sie der in ihren Beruf zurückkehren können. Die durch- auf einer anderen Veranstaltung!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23875

Jörg van Essen (A) Denn das Gegenteil ist der Fall: Diese Vorschläge be- gungspflicht für eine Berufstätigkeit von ausscheidenden (C) inhalten entweder eklatante Verstöße gegen den Art. 103 Regierungsmitgliedern – überfällig. Die Novellierung des Grundgesetzes oder eklatante Verstöße gegen den des Parteiengesetzes – überfällig. Die Bekämpfung der Art. 38. Abgeordnetenbestechung und die Ratifizierung des Übereinkommens der VN – auch das ist angesprochen Dieser Verriss wäre noch deutlicher geworden, wenn worden – sind überfällig, und es ist peinlich, dass das zwei Sachverständige, die leider nicht anwesend sein noch nicht geschehen ist. konnten, ihre Auffassung vorgetragen hätten; so lagen die Stellungnahmen nur schriftlich vor. Wir wissen, dass Ein verpflichtendes Lobbyistenregister – hierüber ha- sie genau die gleiche Kritik geäußert hätten. Von all de- ben wir in dieser Legislaturperiode bereits gestritten – ist nen, die wohlfeil sagen: „Da muss sich was tun“, erwarte ebenso überfällig. ich, dass sie gesetzes- und vor allen Dingen verfassungs- konforme Vorschläge machen. Solche Vorschläge habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich bisher nicht gesehen. Sie verhindern an allen Ecken und Enden, dass diese Ich hätte meinen Beruf als Oberstaatsanwalt verfehlt, Dinge umgesetzt werden. wenn ich Korruption unterstützen wollte. Das will ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie natürlich nicht, aber ich möchte Regeln, die den Anfor- des Abg. Christoph Strässer [SPD]) derungen der Verfassung genügen. Das haben wir bisher nicht gesehen. Nur daran und nicht an unserem schlech- Ich möchte gerne aus dieser Selbstbespiegelungsnum- ten Willen ist das Ganze gescheitert. mer herauskommen und deutlich machen, worüber wir hier eigentlich reden: Es geht nicht um ein selbstreferen- Vielen Dank. zielles Thema, das sich nur um Abgeordnete dreht. Die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Themen Transparenz und Bürgernähe sind kein grünes Hirngespinst, das man mal eben aus der Kiste holt, son- dern das sind die großen gesellschaftlichen Themen un- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: serer Zeit. Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen. Wenn Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern in Ihrem Wahlkreis sprechen, wenn Sie Umfragen lesen, dann er- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kennen Sie: Das ist ein ganz zentrales Thema unserer NEN): Zeit, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter (D) Herr Kollege van Essen, Ihr Seitenhieb gegen die Be- Diese Bundesregierung vertrödelt die Entwicklung rufslosen zeigt, wie hart an den Kern bei Ihnen diese der Transparenz in noch ganz anderen Bereichen. Auch Diskussion gehen muss, wenn Sie nicht anerkennen, im Bereich Open Data – das sei angemerkt – sind wir ein welchen großen gesellschaftlichen Beitrag auch der Kol- Transparenzentwicklungsland. Sie wehren sich auch mit lege Volker Beck geleistet hat in dem, was er beruflich Händen und Füßen dagegen, dass Bürgerinnen und Bür- getan hat. Das ist unterirdisch, das finde ich nicht okay. ger das Recht darauf bekommen, von Ministerien und Verwaltungen proaktiv informiert zu werden. Das ist wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der Abgeordnetenbestechung: Dieses Recht zu ver- Das führt uns auch weg von der Debatte. Herr Grosse- weigern, ist nicht konservativ oder liberal, sondern es ist Brömer und auch der Kollege Götzer haben auf den angestaubt und hinterwäldlerisch. „gläsernen Bürger“ Bezug genommen. Darum geht es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) doch genau nicht. Allerdings würde ich mir diesen Ap- pell gegen den gläsernen Bürger von Ihnen auch bei der Ihre jahrelange Verhinderungs-, Hinhalte- und Verzö- Vorratsdatenspeicherung und beim Datenschutz wün- gerungstaktik in diesem Bereich ist meiner Ansicht nach schen. letztlich nur Ausdruck eines noch nicht ganz überwunde- nen preußischen Obrigkeitsverständnisses. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das weise ich KEN) als Rheinländer zurück!) Dort hört man dieses Argument jedoch seltener. Hier – Ja, das wusste ich; das ist besonders bitter für die CSU. geht es allein darum, dass die Bürgerinnen und Bürger Im 21. Jahrhundert hat das in unserer Demokratie Transparenz darüber erlangen, was Abgeordnete in der nichts mehr zu suchen. Zeit, in der sie Diäten erhalten, nebenher verdienen. Um diese Transparenz geht es, und nicht um den gläsernen (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich bin ein Bürger. Rheinländer, kein Bayer, wie man schon an meiner Idiomatik merken kann!) Wir verhandeln unter diesem Tagesordnungspunkt viele gute Themen. Eine transparentere Regelung der Unklare Nebenverdienstregelungen, Amtsverschwiegen- Nebeneinkünfte – das ist hier schon viel besprochen heit, Geheimniskrämerei – damit ist im 21. Jahrhundert worden – ist überfällig. Die Einführung der Genehmi- kein Staat mehr zu machen. Deswegen brauchen wir ein 23876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Konstantin von Notz (A) neues Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen und die entsprechenden Regelungen im Parteiengesetz in ei- (C) Bürgern. nem Tagesordnungspunkt zusammenfasst, dann hat das schon den Geschmack, dass man das eine mit dem ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren verweben will, obwohl es unmittelbar überhaupt Das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auf nichts miteinander zu tun hat. Zugang zu staatlichen Informationen ist die Basis für in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – formierte Mitbestimmung in einer modernen Demokra- Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE tie. Deshalb haben wir hier vor einigen Wochen einen GRÜNEN]: Den Zusammenhang habe ich ja eigenen Gesetzesentwurf zum Informationszugangs- gerade erläutert!) grundrecht eingebracht. Wenn Sie auch kein Grundrecht wollen, so müssen Sie doch zumindest zustimmen, dass Es ist schon mehrfach zur Sprache gekommen – jeder die Regelungen zur Informationsfreiheit insgesamt drin- weiß es; man braucht es nicht auszusprechen –: Der gend einer Reform bedürfen. Grund für die Aufregung, die hier künstlich erzeugt wurde und aufrechterhalten werden soll, liegt allein in (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Haben Sie den Presseveröffentlichungen und der darauf folgenden noch mehr Textbausteine? – Ansgar Heveling öffentlichen Diskussion über die hohen Nebeneinkünfte [CDU/CSU]: Außerdem bin ich für den Welt- des Kollegen Steinbrück. Das schmeckt der Opposition frieden!) nicht, die sonst gerne den Eindruck erweckt, Nebenein- Nur ein Beispiel dafür: Bisher können sich Verwaltun- künfte in dieser Größenordnung gäbe es nur bei den gen und Unternehmen viel zu oft mit Verweis auf Be- Politikern der Koalition. triebs- und Geschäftsgeheimnisse herausstehlen und (Thomas Oppermann [SPD]: Stimmt nicht! – Auskünfte verweigern, selbst bei der Deutschen Bahn Christine Lambrecht [SPD]: Wer sagt denn so und bei Public-private-Partnerships, bei denen es um die was?) Verwendung von Steuermilliarden geht. Das alles hat in der Bevölkerung keine Akzeptanz mehr, ebenso die be- Deshalb wird nun in einem hektischen Aktionismus ver- stehenden Regelungen zu Nebenverdiensten. Deswegen sucht, sich gegenseitig mit vermeintlich besseren Rege- geht es so nicht weiter. lungsvorschlägen zu übertreffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von uns gibt es zu allem Druck- Die Aufregung hier in der Debatte, aber auch in der sachen!) Diskussion um Herrn Steinbrück ist groß. Das öffentli- che Interesse ist groß, ebenso der Reformdruck. Wir Kommen wir zu den Nebeneinkünften. 2005 wurde (B) – (D) brauchen mehr Transparenz, stärkere Informationsrechte das ist hier schon erwähnt worden – die heutige Rege- lung von Rot-Grün eingeführt. Nach unserer Auffassung und eine gesetzliche Open-Data-Verpflichtung. Dafür hat sie sich im Wesentlichen bewährt. Das beweist im muss man aber Transparenz politisch wirklich wollen, Grunde genommen die Veröffentlichung der Einkünfte nicht nur halbherzig, nicht nur so ein bisschen, nicht nur von Herrn Steinbrück; er hat sie angegeben. Ich habe gar wochenweise, wenn es um gegnerische Kanzlerkandida- nichts gegen diese Einkünfte; eigentlich hatte keiner turen geht. Fangen wir endlich damit an! Wenn wir die Einwände dagegen. heute hier diskutierten Punkte umgesetzt haben, dann müssen viele andere Schritte folgen. (Christine Lambrecht [SPD]: Das hat sich aber anders angehört!) Ganz herzlichen Dank. Aber die Diskussion kam nun einmal auf. In der Öffent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichkeit wird von einem Kanzlerkandidaten – zu Recht sowie bei Abgeordneten der SPD) oder zu Unrecht; darüber kann man lange diskutieren – mehr erwartet, als er bislang geliefert hat. Warten wir es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in aller Ruhe ab! Er hat weitere Angaben angekündigt. Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSU- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Fraktion. GRÜNEN]: Was war eigentlich mit dem Vize- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kanzlerkandidaten Westerwelle? – Thomas der FDP) Oppermann [SPD]: Hat Westerwelle schon of- fengelegt?) Helmut Brandt (CDU/CSU): Die Art der Einkünfte ist doch durchaus unterschied- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- lich – der Kollege Götzer hat das eben zu Recht gesagt –: ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich Führt ein Abgeordneter eine Tätigkeit fort, die er bereits weiß nicht, wie oft sich das Parlament bereits mit dieser zuvor ausgeübt hat oder innehatte, oder aber – das ist ein Frage beschäftigt hat. Es ist jedenfalls ein wiederholtes großer Unterschied – beruhen die zusätzlichen Einkünfte Mal der Fall. Die Überschrift, die die antragstellende auf einer früheren Zugehörigkeit zur Regierung oder Fraktion hier gewählt hat, ist allerdings – darauf werde zum Parlament? Das ist ein qualitativer Unterschied, den ich gleich noch eingehen – für mich etwas verräterisch. man sicherlich beachten muss. Im letzten Fall muss man Wenn man die Debatte über Nebeneinkünfte von Abge- natürlich fragen, wofür, von wem und wie viel er dafür ordneten, Karenzzeiten, Abgeordnetenbestechung und bekommt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23877

Helmut Brandt (A) Jedenfalls müssen wir – darauf lege ich Wert – bei al- … Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck (C) len Regelungen darauf achten, dass die Grenzen des zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit ge- freien Mandats beachtet werden. Dazu gehört insbeson- nug ging. dere auch, dass der Schutz von Berufsgeheimnisträgern So viel zur Tätigkeit von Rot-Grün. wie Anwälten, Ärzten, Steuerberatern und anderen ge- wahrt bleiben muss. Wir müssen darauf achten, dass das Besten Dank. Parlament – auch das ist eben zu Recht betont worden; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ich danke Herrn van Essen, dass er das so deutlich ge- neten der FDP) macht hat – für Unternehmer, Handwerker und Freibe- rufler offen und attraktiv bleibt und nicht nur für diejeni- gen, die ohne Probleme später wieder in ihren Beruf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zurückkehren können, beispielsweise Beamte oder Ge- Das Wort hat nun Christian Lange für die SPD-Frak- werkschafter. tion. Wir sollten uns insgesamt davor hüten, bei der Dis- (Beifall bei der SPD) kussion verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben – damit komme ich auf den Beginn meiner Christian Lange (Backnang) (SPD): Ausführungen zurück –, zu vermengen. Wer etwa die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Frage der Nebentätigkeiten mit der Problematik der Ka- Herren! Am 17. Juni 2005 durfte ich für die SPD-Frak- renzzeit für Regierungsmitglieder oder auch der Abge- tion den Änderungsantrag zum Abgeordnetengesetz und ordnetenbestechung vermischt, will offensichtlich be- damit die Transparenzvorschriften, über die wir heute wusst den Eindruck erwecken, dass Nebentätigkeiten per sprechen, einbringen. Damals, meine lieben Kolleginnen se etwas Negatives sind oder gar ein Zusammenhang mit und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren Sie dage- diesen Themen besteht. Ich halte das, offen gesagt, für gen. Deshalb bitte ich Sie dringend: Erwecken Sie nicht fatal. Wir alle schaden uns mit einer auf diese Art ge- den Eindruck, als ob Sie für noch mehr Transparenz, für führten Diskussion selbst. noch mehr Stufen geworben hätten. Das Gegenteil ist und war der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Man gewinnt schon den Eindruck, dass die jetzt in der Opposition befindlichen Fraktionen wohlfeile Vor- Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie seit der Peer- schläge zu dem Thema machen, weil nicht die Gefahr Steinbrück-Diskussion Ihre Position geändert haben. besteht, dass diese Vorschläge tatsächlich umgesetzt (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sie auch!) (B) werden. Das gilt insbesondere für das Thema der Abge- (D) ordnetenbestechung. Wir haben gestern im Rahmen der Seit wenigen Tagen vertreten Sie plötzlich die Auffas- Sachverständigenanhörung deutlich vernommen, dass sung, dass Sie dieses Stufenmodell, das Sie seit Beginn sämtliche vorgelegten Vorschläge der Opposition so dieser Wahlperiode vor drei Jahren erbittert bekämpft nicht umsetzbar sind. haben, toll finden. (Jörg van Essen [FDP]: Stimmt doch gar (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht!) der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Dann waren Sie auf einer anderen Veranstaltung!) Ich nehme es zur Kenntnis; aber das ist eine Änderung Ihrer Position. Die Redlichkeit gebietet es, dies auch so Insofern halte ich es für sehr problematisch, heute hie- zu sagen. raus Vorwürfe zu entwickeln. Aber es kommt noch di- cker. Sie hatten während Ihrer Regierungszeit anderthalb (Beifall bei der SPD) Jahre Zeit, die UN-Konvention umzusetzen, und für die Es ist wichtig, ein Zweites festzuhalten. Wenn wir für Umsetzung des Europaratsabkommens standen Ihnen Transparenz werben, dann muss eines klar sein: Trans- sogar sechs Jahre zur Verfügung. parenz muss für alle gelten. Was für den Abgeordneten Ich möchte zum Schluss ein Zitat des früheren rechts- Steinbrück gilt, das muss auch für den Abgeordneten politischen Sprechers der SPD-Fraktion, des Kollegen Riesenhuber, für den Abgeordneten Glos und für den Joachim Stünker, bringen. Er hat in einer Debatte am Abgeordneten Döring gelten. Erklären Sie bitte im Deut- 25. September 2008 – das kann man im Plenarprotokoll schen Bundestag, warum es für diese nicht gelten soll! der 179. Sitzung auf Seite 19 144 nachlesen; so viel wird Erklären Sie bitte, warum für den einen Extraregeln gel- hier geredet – gesagt: ten sollen, für diese Personen aber nicht. (Beifall bei der SPD) Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durften sie Für die Juristen unter uns – ich sehe, dass der Kollege Grosse-Brömer schon gegangen ist – – gemeint waren die Vorschläge – (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Er ist zum nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen Ältestenrat!) blockiert haben. – ja, da gehen wir alle noch hin –, will ich Folgendes (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Namen!) doch noch einmal sagen: Tun Sie bitte nicht so, als ob 23878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Christian Lange (Backnang) (A) das Bundesverfassungsgericht sich gegen Transparenz- schaftlichen Eigeninteresses anzuerkennen, dann hat er (C) regeln ausgesprochen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. noch andere Möglichkeiten. Ich will hier einmal die Gründe nennen, die zur Rechts- (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Da geht es kraft der vorhandenen Regelung und zu mehr Transpa- auch um Interessenkonflikte!) renz geführt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur gesagt: „Der Wähler muss wissen, wen er Zum Beispiel könnte sein Betrieb treuhänderisch weiter- wählt“. Es hat auch gesagt: Es entspricht damit einem geführt werden usw. Es ist aber wichtig, dass wir das Grundanliegen demokratischer Willensbildung, Abge- jetzt beschließen, damit das für die nächste Wahlperiode ordnete zu verpflichten, Angaben über Tätigkeiten ne- gelten kann. ben dem Mandat zu machen, die auf Interessenverflech- Ein Letztes: Ich bitte Sie wirklich, jetzt den Weg da- tungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten hindeuten für frei zu machen, dass die Einkünfte aus Nebentätig- können. Weiter heißt es: keiten auf Euro und Cent offengelegt werden. Ich bitte Das Interesse des Abgeordneten, Informationen aus Sie wirklich, den Weg frei zu machen für die Korrup- dieser Sphäre vertraulich behandelt zu sehen, ist ge- tionsbekämpfung. Die SPD-Fraktion hat einen Antrag genüber dem öffentlichen Interesse an der Erkenn- zur Änderung von § 108 e eingebracht. barkeit möglicher Interessenverknüpfungen … Ich bitte Sie wirklich, den Weg frei zu machen für ein grundsätzlich nachrangig. verbindliches Lobbyregister. Auch hierzu haben wir ei- nen Antrag eingebracht. Auch dies ist bislang aufgrund Es ist „nachrangig“. Deshalb sind die Transparenzvor- Ihrer Blockade gescheitert. Ich bitte Sie schließlich auch schriften verfassungskonform. Deshalb unterstützt das darum, den Weg frei zu machen für eine Regelung für Bundesverfassungsgericht die Vorschläge der SPD-Frak- Externe in den Bundesministerien. Viermal zu blockie- tion, endlich alles auf Heller und Cent offenzulegen. ren ist wirklich zu viel des „Guten“. Ändern Sie Ihre (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Position, nicht nur im Lichte der Kandidatur von Peer Steinbrück, sondern zum Wohle der Bürgerinnen und Das Bundesverfassungsgericht geht sogar noch einen Bürger. Transparenz ist angesagt. Deshalb bitte ich um Schritt weiter. Wenn wir weiterlesen – das sage ich den Zustimmung und Unterstützung für die Anträge der Kolleginnen und Kollegen, die ein Interesse an dem SPD. Thema haben –, stellen wir fest, dass darin sogar etwas über uns steht. Darin steht: Herzlichen Dank. Auch Mit-Abgeordnete haben ein legitimes Inte- (Beifall bei der SPD) resse, zu wissen, welchen Interessenverbindungen (B) ihre Kollegen unterliegen, weil dies für die Ein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) schätzung, nach welcher Richtung hin deren Argu- Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ansgar mente besonders wachsamer Prüfung bedürfen, von Heveling für die CDU/CSU-Fraktion. Bedeutung sein kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist also nicht nur für die Wählerinnen und Wähler, sondern auch für uns von Bedeutung, diese Abhängig- Ansgar Heveling (CDU/CSU): keiten zu erkennen. Deshalb ist die Zeit reif für eine Of- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fenlegung nach Heller und Cent. könnte auf den ersten Blick fast ein wenig verwundern, (Beifall bei der SPD) dass sich bei diesem Gemischtwarenladen von Themen der Aktuellen Stunde vonseiten der Opposition haupt- Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, und insbe- sächlich Kolleginnen und Kollegen zur Abgeordneten- sondere Herrn van Essen noch etwas zum Thema Selbst- bestechung geäußert haben, die, abgesehen vom Kolle- ständige sagen. Ja, Sie haben recht: Wir haben hier zu gen Sharma, gestern nicht oder nicht die ganze Zeit bei wenig Selbstständige. Wir brauchen mehr Selbststän- der diesbezüglichen Anhörung dabei gewesen sind. dige. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Dazu trägt neten der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: diese Regelung aber nicht bei!) Was ist das denn? „Nicht die ganze Zeit“? Ich Da bin ich ganz bei Ihnen. Leute wie ich, die Landesbe- war dort!) amte sind, die aus einem Ministerium kommen, haben es Und wer dann die ganze Zeit dabei gewesen ist und da besser. Eines ist aber auch klar: Niemand fordert ein wer einen Gesamteindruck von der Veranstaltung be- Verbot von Nebentätigkeiten, wie wir es in anderen Län- kommen hat, der hätte heute hier sicherlich nicht so ge- dern haben. Niemand! Wir sind immer der Auffassung redet. gewesen, dass wir das in dieser Wahlperiode für die nächste Wahlperiode beschließen müssen, damit die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kandidaten sich darauf vorbereiten und einstellen kön- Das Thema ist entschieden komplizierter, als es auf nen. Das war immer Konsens in diesem Hause, und das den ersten Blick aussieht. Zumindest das ist in der De- ist auch die Position der SPD. batte deutlich geworden, in der neben offensichtlichen Eines steht auch fest: Wenn es dazu kommt und je- Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in mand nicht bereit ist, die Nachrangigkeit seines wirt- der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte of- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23879

Ansgar Heveling (A) fenkundig geworden sind. – Dies hat unser Bundestags- (Christine Lambrecht [SPD]: Da muss auch (C) präsident Norbert Lammert vor einiger Zeit zu diesem noch was kommen!) Thema gesagt. Es ist gleichzeitig der wesentliche Punkt in der interna- Von differenzierten Sachverhalten ist in dieser Ak- tionalen Diskussion. Aber die Umsetzung einer entspre- tuellen Stunde allerdings nicht viel zu merken. Man sieht chenden Konvention besagt zunächst einmal nicht viel. schon an der thematischen Gestaltung: Alles wird in ei- Deutschland und Japan, die beide die Konvention unter- nen Topf geworfen, und daraus wird ein Süppchen ge- zeichnet, aber noch nicht umgesetzt haben, liegen kocht. Ob daraus Kost wird, die den Bürgerinnen und gemeinsam auf Platz 14 des internationalen Korrup- Bürgern schmeckt, sei dahingestellt. tionsindexes von Transparency International – vor den Wenn wir wirklich etwas für die Integrität parlamen- Umsetzungsstaaten Großbritannien auf Platz 16 und tarischer Entscheidungen tun wollen, hilft eine Aktuelle Frankreich auf Platz 25 und weit vor den Umsetzungs- Stunde sicherlich nicht weiter. Der gestrigen Anhörung staaten Paraguay, Libyen und Venezuela. Das zeigt ganz zum Thema Abgeordnetenbestechung wäre sicherlich eindeutig, dass es nicht auf die Buchstaben eines Geset- die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen gewesen wie zes ankommt, sondern darauf, wie eine Gesellschaft mit der heutigen Aktuellen Stunde. Die Anhörung war je- diesem Thema umgeht. denfalls eine wirkliche Lehrstunde dafür, wie mühsam (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und schwierig es ist, abstrakte Ziele in konkret handhab- Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: bare Vorschriften umzusetzen. Mein Fazit der gestrigen Also, wer nicht umsetzt, ist frei von Korrup- Anhörung ist, dass da noch eine ganze Menge Arbeit vor tion?) uns liegt. Wer gesehen hat, wie sehr schon die Sachver- ständigen bei jedem Punkt mit sich gerungen haben, dem Wie dem auch sei; die Tatsache, dass wir die von uns ra- ist klar, welch diffizile Aufgabe auf uns Abgeordnete zu- tifizierten Konventionen noch nicht umgesetzt haben, ist kommt, wenn wir eine sachgerechte Regelung beim und bleibt ein Zustand, der auf Dauer nicht hinnehmbar Thema Abgeordnetenbestechung treffen wollen. ist. – Jetzt können Sie sich wieder beruhigt zurückleh- nen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insofern, glaube ich, sollte man besser einmal inne- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: halten und das gegenseitige Überbieten darin, wer nun Was meinen Sie, wie ich bin, wenn ich mich kein Interesse an einer Regelung habe und aus welchen aufrege?) Gründen, einen kurzen Moment einstellen. Es wäre na- Die Bereitschaft zur Regelung ist ohne Frage gege- türlich auch für mich ein Leichtes, aufzuzählen, wer (B) ben. Aber die gestrige Anhörung hat ganz deutlich ge- (D) wann einmal was regeln wollte und warum er dann an zeigt: Es ist ausgesprochen schwierig, einen tragfähigen wem gescheitert ist. Das ist alles kein Problem. Dafür Ansatzpunkt zu finden. Gerade die Sprachlosigkeit, das braucht man nur einmal in die Stenografischen Berichte minutenlange Schweigen des Sachverständigen von dieses Parlaments zu schauen. Wenn man ein bisschen Transparency International – wer gestern anwesend war, blättert, wird man ganz schnell fündig, auch bei den hat es erlebt – war beispielgebend, und zwar nicht im Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses. positiven Sinne. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur bei Ihnen nicht! Sie wollten nie etwas re- geln!) Das Ganze ist so zu regeln, dass die Mitglieder von Or- Mein persönliches Highlight ist das Bekenntnis eines ganen zweier Gewalten, nämlich Legislative und Exeku- ehemaligen Kollegen von der SPD aus dem Jahr 2008 tive, Parlament und Räte, von den Regelungen umfasst – Kollege Brandt hat das eben ausführlich zitiert –, der sind. hier freimütig erklärte, man habe das alles schon 2005 regeln wollen, aber dann habe es Koalitionsprobleme ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: geben. Dem Koalitionspartner Beck sei der Regelungs- Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. vorschlag zu weit gegangen, dem Koalitionspartner Ströbele aber nicht weit genug. Man findet also schnell Beispiele; aber ich glaube, das führt uns nicht weiter. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Aus meiner Sicht sollten wir daher erst einmal sehr Wichtig ist – das ist gar keine Frage –, dass wir erst offen und sehr genau über das nachdenken, was uns die einmal aus dem Dilemma herauskommen, ratifizierte Sachverständigen gestern gesagt haben. Entscheidend Abkommen noch nicht ausreichend umgesetzt zu haben. aber ist und bleibt, dass es eines gesellschaftlichen Kli- (Christine Lambrecht [SPD]: Überhaupt nicht mas der Transparenz bedarf, eines Klimas, das dafür umgesetzt zu haben!) sorgt, dass korruptive Verhaltensweisen ans Licht gezerrt werden. Denn damit wird Korruption in all ihren Formen Das ist auf die Sache bezogen ein formaler Kritikpunkt. am besten der Boden entzogen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) – Hören Sie zu, was ich noch sage; dann lachen Sie viel- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: leicht nicht mehr. Dazu gleich mehr. Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. 23880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Ansgar Heveling (CDU/CSU): ersten Quartals 2013 beginnen und die Arbeiten an den (C) Das tue ich jetzt. nationalen Regulierungsvorschriften weitgehend been- den. Ganz herzlichen Dank. Auf EU-Ebene haben die Finanzminister am 15. Mai (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Jahres die Vorschläge zur Umsetzung von Ba- sel III mittels einer EU-Verordnung und einer Richtlinie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gebilligt. Auf europäischer Ebene unterstützt die Bun- Die Aktuelle Stunde ist beendet. desregierung mit Nachdruck einen schnellen Abschluss der Verhandlungen zwischen Rat, Europäischem Parla- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: ment und Kommission noch in diesem Jahr. Bundes- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- finanzminister Schäuble hat in den letzten Wochen mit gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- vielen Mitgliedstaaten, mit der Kommission und auch zung der Richtlinie 2012/…/EU über den Zu- mit den maßgeblichen Persönlichkeiten im Europäischen gang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und Parlament gesprochen; denn ein Aufschub der Umset- die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und zung von Basel III dient der Sache nicht, vor allem weil Wertpapierfirmen und zur Anpassung des die Wirkung dieser Regulierung über die unmittelbar be- Aufsichtsrechts an die Verordnung (EU) troffenen Banken hinausgeht und Wirtschaft und Gesell- Nr. …/2012 über die Aufsichtsanforderungen schaft insgesamt betrifft. Daher haben wir auch in an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen Deutschland das nationale Gesetzgebungsverfahren (CRD-IV-Umsetzungsgesetz) frühzeitig eingeleitet. Natürlich müssen wir jetzt auf den Ausgang der Trilog-Verhandlungen warten. Aber wir – Drucksache 17/10974 – wollten in Deutschland alles tun, um unsere Entschlos- Überweisungsvorschlag: senheit zu bekunden, Basel III so zeitgerecht und so früh Finanzausschuss (f) wie möglich umzusetzen. Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Mit der neuen EU-Verordnung wird die Harmonisie- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen rung des EU-Bankenaufsichtsrechts weiter gestärkt. Alle Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Mitgliedstaaten müssen dieselben Vorschriften anwen- den und dürfen nur in ausdrücklich zugelassenen Fällen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem abweichen. Dies ist ein besonderer Baustein für eine Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk. kommende einheitliche europäische Aufsichtsstruktur. (B) (Beifall bei der FDP) Das Gesetzespaket enthält zahlreiche neue Sicher- (D) heitsstandards und gibt der deutschen Bankenaufsicht Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- neue und verschärfte Kontroll- und Sanktionsmöglich- desminister der Finanzen: keiten an die Hand. Die neuen Regelungen schützen All- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit gemeinheit und Steuerzahler besser vor dem Risiko, bei den im Dezember 2010 veröffentlichten Empfehlungen Ausfällen im Bankensektor in Haftung genommen zu des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht wurde eine werden. neue Grundordnung für die Banken weltweit geschaffen. Ein Teil der Umsetzung von Basel III erfolgt mittels Diese „Basel III“ genannten Empfehlungen sind eine der einer unmittelbar in Deutschland geltenden EU-Verord- wichtigsten Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise, nung. In dieser Verordnung werden unter anderem stren- und sie dienen dem Zweck, Banken in Zukunft krisen- gere Mindesteigenkapitalanforderungen an Banken, fester zu machen; denn eines haben wir in der Krise ge- insbesondere eine deutliche Erhöhung des harten Kern- lernt: Banken, die mit zu wenig Eigenkapital ausgestattet kapitals, festgelegt, eine Verschuldungsobergrenze ab sind und zu stark über ihre Eigenkapitalquote hinausge- 2018 nach einer entsprechenden Beobachtungsphase hende Risikogeschäfte eingehen, können nationale und eingeführt und zwei neue Liquiditätskennziffern zur Ab- internationale Finanzsysteme in große Erschütterung deckung der Liquidität für 30 Tage und zur Abdeckung versetzen. Die Umsetzung von Basel III ist ein Herz- der Liquidität bis zu einem Jahr vorgesehen. stück der Reformen auf dem Finanzmarkt; denn ein nachhaltig funktionierendes Bankensystem braucht nicht Im Kern verlangt Basel III von den Banken qualitativ nur qualitativ hochwertiges Eigenkapital, sondern muss besseres und quantitativ umfangreicheres Eigenkapital. auch über hinreichend Eigenmittel verfügen. Hier bestanden in der Vergangenheit Defizite, die für Unsicherheiten und Misstrauen hinsichtlich der Haf- Im Rahmen der G 20 hat sich Deutschland, haben tungseigenschaft der Kapitalinstrumente gesorgt haben. sich die Europäer verpflichtet, Basel III als zentrales Nicht zuletzt deshalb mussten in Schieflage geratene Element der Bankenregulierung jetzt umzusetzen. Auch Banken vom Staat und damit vom Steuerzahler gestützt auf internationaler Ebene – und das ist für die Bundes- werden. Vor diesem Hintergrund war es sehr wichtig, in regierung ganz entscheidend – ist die Umsetzung voran- diesem Sektor grundsätzlich und grundlegend tätig zu gekommen. So haben die USA im Juni 2012 ihre Vor- werden. schläge zur Umsetzung zur Konsultation gestellt und wollen mit der Implementierung am 1. Januar 2013 be- Mit den Änderungen des Kreditwesengesetzes voll- ginnen. Auch Japan will mit der Umsetzung ab Ende des ziehen wir folgende Veränderungen: Es wird eine Ver- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23881

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk (A) besserung der Transparenz der Bankgeschäfte und eine Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und (C) umfangreichere Offenlegung von Millionenkrediten ge- Europäischem Parlament zügig zu einem Abschluss zu genüber den Aufsichtsbehörden geben. Es werden die bringen. Anforderungen an die Art und Weise, wie eine Bank zu Herzlichen Dank. führen ist, erhöht. Es wird in Abhängigkeit von der Größe der Bank zur Einrichtung zusätzlicher Ausschüsse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen, um weitere interne Kontroll- und Beratungs- möglichkeiten zu schaffen. Wir werden eine Verschär- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fung der Sanktionsmaßnahmen durch Erhöhung des Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die SPD-Frak- Bußgeldrahmens bekommen; damit wird grundsätzlich tion. auch ermöglicht, die durch Verstöße gegen das Banken- aufsichtsrecht erzielten Gewinne abzuschöpfen. Schließ- (Beifall bei der SPD) lich werden neue Kapitalpuffer eingeführt, die unabhän- gig voneinander festgesetzt werden und zu einer Manfred Zöllmer (SPD): Erhöhung des harten Kernkapitals führen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ba- sel III ist ein dringend notwendiges Regelwerk zur Sta- Für uns als Bundesregierung war sowohl bei den Ver- bilisierung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weil handlungen im Basler Ausschuss, die BaFin und Bun- der Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eine desbank geführt haben, als auch bei der Umsetzung auf verbesserte Ausgestaltung der Banken mit Eigenkapital europäischer Ebene entscheidend, die bewährte Infra- dringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanz- struktur der deutschen Bankenlandschaft zu sichern. systems insgesamt zu verbessern. Eigenkapital stabili- Deshalb haben wir sowohl bei den Verhandlungen als siert, mehr Eigenkapital bedeutet aber auch weniger auch bei der Umsetzung von Basel III sehr darauf geach- Geld für riskante und spekulative Geschäfte. tet, Lösungen zu finden, die unserem Wirtschaftssystem und seinen Finanzierungsbedürfnissen angepasst sind Basel II, das Vorläufermodell, hatte die Weichen in und den vielfältigen Merkmalen des bewährten Drei- die falsche Richtung gestellt. Danach ist es zu Säulen-Systems des deutschen Bankensektors gerecht einer geringeren Eigenkapitalunterlegung gekommen, da werden. die Regelung es den Banken erlaubt hat, Risiken mit ei- genen Modellen zu bewerten und zu gewichten und die Im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht wurde eine Risikobewertungen auf Ratingagenturen zu verlagern. prinzipienbezogene Ausgestaltung der qualitativen An- Der Verlauf der Finanzmarktkrise hat gezeigt: Dies war forderungen an das Eigenkapital im Sinne des Grundsat- ein falscher Weg. Das musste korrigiert werden. (B) zes „Qualität des Eigenkapitals geht vor dessen rechtli- (D) cher Form“ geschaffen. Das hat bei der Umsetzung in (Beifall bei der SPD) zahlreichen Mitgliedstaaten, die anders strukturierte Die G 20 hatte deshalb schon 2009 in London und Bankensysteme haben, Widerstand hervorgerufen. Aber Pittsburgh gefordert, durch die Erhöhung der Quantität wir haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass die regula- und der Qualität des Eigenkapitals bei verbesserter inter- torischen Rahmenbedingungen für Banken in der nationaler Vergleichbarkeit der Eigenmittel die Liquidi- Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer eingetrage- tät des Bankensystems weltweit zu stärken und damit die nen Genossenschaft oder einer öffentlichen Anstalt wie Widerstandskraft des Systems gegen Krisen zu verbes- einer Sparkasse in diesem zentralen Punkt gleichwertig sern. Kernpunkte waren höhere Eigenkapitalanforderun- ausgestaltet werden. Das heißt, eine Genossenschafts- gen mit einem Zuschlag für systemrelevante Banken, bank kann die Genossenschaftsanteile ebenso ihrem har- neue Definitionen zur Qualität des Eigenkapitals und ten Kernkapital zurechnen wie etwa eine Sparkasse die eine nicht risikobasierte Schuldenobergrenze, im Engli- Einlagen stiller Gesellschafter. schen: Leverage Ratio. Diese Leverage Ratio soll aller- In den Ratsverhandlungen zur Umsetzung von Ba- dings noch nicht verbindlich sein. Wir hoffen aber, dass sel III hat die Bundesregierung zudem eine Klausel sie in absehbarer Zeit endlich verbindlich eingeführt durchgesetzt, die auch den nicht als Konzern organisier- wird. Kapitalpuffer sollen eingeführt werden, damit die ten Finanzverbünden eine günstige Berechnung ihres Banken auch in schwierigen Situationen über ausrei- Eigenkapitals im Hinblick auf ihre Finanzbeteiligungen chend Liquidität verfügen. erlaubt. Das Eigenkapital steht den Verbundinstituten Eigentlich hätten wir hier heute über einen Gesetzent- zur Ausreichung von Krediten im Aktivgeschäft weiter wurf zur Umsetzung von Basel III diskutieren sollen. zur Verfügung. Auch in Zukunft werden so Genossen- Das steht ja auf der Tagesordnung, und wir haben auch schaftsbanken und Sparkassen in Deutschland ihre zen- ein dickes Paket von 184 Seiten Gesetzestext auf den trale Rolle im Privatkundengeschäft und ebenso bei der Pulten liegen. Eine ganze Reihe bestehender Gesetze Finanzierung der Wirtschaftsunternehmen umfassend wird geändert: Pfandbriefgesetz, Kreditwesengesetz bis und letztlich besser als zuvor erfüllen können. hin zum Gesetz über die Landwirtschaftliche Renten- bank, worüber ich mich schon gewundert habe. So weit, Seitens der Bundesregierung wollen wir alles dafür so gut. Wer aber in den Gesetzentwurf hineinschaut, tun, diesen großen Regulierungsschritt weiter im Gleich- stellt fest: An den wirklich wichtigen Punkten finden Sie klang mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union genau dieses, nämlich Punkte und keine Inhalte. voranzubringen. Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung alles tun wird, um die schwierigen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 23882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Manfred Zöllmer (A) Das Werk sollte eigentlich am 1. Januar 2013 in Kraft talanteile zu unterlegen. Die große Frage ist: Kommt es (C) treten. Es ist aber nicht fertig. Die Bundesregierung hat dann wirklich dazu, dass die Zahl der Kredite, die verge- bei den Verhandlungen in Brüssel bisher nicht vermocht, ben werden können, dann deutlich geringer wird? Wird ein Ergebnis zu erzielen. es zu einer Kreditklemme kommen? Wie sind die Aus- wirkungen auf die Realwirtschaft? (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Na, na, na! – Björn Sänger [FDP]: Mein Gott!) Man wird das im Moment sicherlich nur ansatzweise beurteilen können. Es gibt sehr seriöse Schätzungen, die – Herr Flosbach, das ist eine Tatsache, entschuldigen sagen, die Auswirkungen deutlich höherer Eigenkapital- Sie. Oder wie soll man es nennen, wenn die eigene Ziel- unterlegungen sind begrenzt. Also, zum Beispiel hat die setzung nicht erreicht wird? Bank für internationalen Zahlungsausgleich einmal ge- Es gibt eine Reihe von strittigen Punkten in diesem sagt: Eine Verdoppelung der Basel-III-Quote würde das sogenannten Trilog auf europäischer Ebene. Alle Betei- Wachstum um ungefähr 0,7 Prozent bremsen. Das wäre ligten bemühen sich, zu einem Ergebnis zu kommen, dann natürlich ein relativ überschaubarer Preis für ein si- aber eine ganze Reihe sehr wichtiger Fragen ist noch of- cheres Finanzsystem. fen. Dabei geht es zum Beispiel um die Liquiditätssiche- Ich sage nicht, dass wir das fordern, ich sage nur, man rung, die Eigenkapitaldefinition oder die Managergehäl- muss es sehr genau beurteilen, evaluieren und wissen- ter. Das sind für uns zentrale Punkte, die geregelt werden schaftlich begleiten. müssen. Erst dann können wir die Qualität dessen, was letztendlich in Kraft treten soll, auch wirklich bewerten. Wir wären schon froh, wenn es gelänge, Basel III im vereinbarten Zeitplan umzusetzen und eine vernünftige Wir können über die Umsetzung von Basel III heute Eigenkapitalunterlegung zu schaffen. gar nicht substanziell debattieren, weil wir nur eine Ver- packung, aber noch keinen Inhalt vorliegen haben. Die Bundesregierung ist aufgefordert, nun den Wor- ten auch Taten folgen zu lassen. Wir werden dann über (Beifall des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]) die entsprechenden Details reden. Wir können nur hof- Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregierung: Tun Sie fen, dass es sehr bald gelingt, auch wirklich Fakten zu in der Öffentlichkeit doch bitte nicht so, als würden be- schaffen. reits jetzt strengere Eigenkapitalregeln umgesetzt. Das Vielen Dank. ist nicht der Fall. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) Vizepräsident : (D) Auf den Ärger mit den Briten will ich gar nicht einge- Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster hen. Eine interessante Frage hinterher wird sein: Schaf- Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Björn fen wir es wirklich, einheitliche Regeln umzusetzen? Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger. Die Briten sind ja bereits jetzt dabei, sich hier herauszu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stehlen, nachdem sie das Ganze erst erhöhen wollten. Jetzt wollen sie deutlich unterhalb der Kriterien bleiben. Das ist wirklich schwierig. Björn Sänger (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich glaube, wir müssen aber auch über die Frage dis- ren! Wir beginnen heute die Beratungen über ein ganz kutieren: Reicht Basel III eigentlich aus? – Wenn man zentrales Gesetzesvorhaben in der Regulierung der sich wissenschaftliche Studien anschaut, dann stellt man Finanzmärkte. Gemeinsam mit dem Bankenrestrukturie- fest: Es gibt eine ganze Reihe solcher Studien, die sagen: rungsgesetz wird es meiner Auffassung nach das Funda- Basel III ist zu lasch. Es bändigt die Banken nicht wirk- ment einer neuen Sicherheitsarchitektur darstellen. lich. In der Tat ist es ein ungewöhnliches Verfahren, Herr Ich darf hier einmal Herrn Adair Turner zitieren, der Kollege Zöllmer, wenn man mit den Beratungen be- sagt: ginnt, bevor die eigentliche Richtlinie in Brüssel fertig Um das Finanzsystem wirklich sicher zu machen, ist. Das ist völlig richtig. müssten die Eigenkapitalauflagen für Banken deut- Heute früh hat Ihr Kanzlerkandidat gesagt, man soll lich schärfer sein als Basel III. den europäischen Partnern nicht immer gleich mit der Immerhin ist er Chef der britischen Finanzmarktauf- Kavallerie drohen, wenn aus deutscher Sicht irgend- sicht, ein ausgewiesener Experte, kein Vertreter irgend- etwas nicht richtig läuft. einer Occupy-Bewegung. (Manfred Zöllmer [SPD]: „Kavallerie“ hat er nicht gesagt!) Auch andere Wissenschaftler haben sich dieser Über- legung angeschlossen. Sie sagen, bei einer Eigenkapital- – Also, den europäischen; die Schweiz gehört ja nicht quote von 16 bis 20 Prozent würde die Wahrscheinlich- dazu. keit neuer Finanzkrisen deutlich sinken. Insofern wundert es mich jetzt schon, dass Sie der Wir wissen auf der anderen Seite, dass sich die Ban- Auffassung sind, dass hier am deutschen Wesen dann ken aber vehement dagegen wehren, höhere Eigenkapi- auch bzw. die europäische Welt genesen soll. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23883

Björn Sänger (A) Tatsache ist, es hakt in Brüssel, aber – der Staats- Das ist richtig. Da ist schon viel erreicht worden, um (C) sekretär Koschyk hat das schon sehr richtig gesagt – wir Vorsorge zu treffen. Es ist auch noch einiges offen. Aber sind bereit, das umzusetzen. Insofern finde ich es auch es ist ein großes Verdienst dieser Bundesregierung, dass richtig und gut, dass die Bundesregierung jetzt mit den wir schon extrem weit gekommen sind. Beratungen beginnt, um auch einen kleinen Hinweis Das nutzt uns aber nichts, wenn die Regulierung am nach Brüssel zu geben, dass man dort vielleicht das eine Ende dafür sorgt, dass die Finanzbranche nicht mehr in oder andere Problem etwas schneller löst. der Lage ist, ihrer Aufgabe vernünftig nachzukommen, Worum geht es? Es gibt zwei grundlegende Probleme nämlich die Realwirtschaft zu finanzieren; denn um den für jedes Unternehmen, in Schwierigkeiten zu kommen. von Herrn Barnier angesprochenen Wohlstand zu errei- Das eine ist eine Überschuldung, das andere ist ein Li- chen, brauchen wir Wachstum. Das Wachstum muss quiditätsengpass. Beide Probleme haben wir im Rahmen finanziert werden. Die kumulativen Wirkungen der Re- der Finanzkrise bei Banken gesehen. Beide Probleme gelungen, die wir schon jetzt haben – es kommen noch sind eben bei Banken aufgrund der Verflechtungen und weitere –, bereiten möglicherweise doch die eine oder auch der Wichtigkeit für die Realwirtschaft nicht so andere Sorge, dass es hier zu Problemen kommt. ohne Weiteres zu lösen. Im Handwerk gibt es einen Spruch, der da lautet: Nach Fest kommt Ab. – Auch das muss beachtet werden. Diese beiden Probleme werden mit dem Basel-III- Insofern freue ich mich auf die Beratungen. Vorhaben oder CRD-IV-Vorhaben in den Griff zu be- kommen sein. Es wird eine risikoadäquate Eigenkapital- Herzlichen Dank. unterlegung geben. Es gibt eine neue Definition dessen, was überhaupt Eigenkapital ist, welche Qualität das ha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben sollte. Auch hier herzlichen Dank an die Bundesre- gierung, dass die deutschen Besonderheiten entspre- Vizepräsident Eduard Oswald: chend berücksichtigt werden. Die sind gelöst. Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Nächster Red- ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke Darüber hinaus werden weitere Risiken, die es geben unser Kollege Dr. Axel Troost. Bitte schön, Kollege kann, geregelt, beispielsweise das Gegenparteiausfall- Dr. Axel Troost. risiko, das Risiko, das sich aus der Unternehmensfüh- rung einer Bank ergeben kann. Glücklicherweise ist das (Beifall bei der LINKEN) alles so angelegt, dass wir über den Umsetzungsweg in Form einer Verordnung zumindest in Europa auf ein „le- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): (B) vel playing field“ kommen. Aber ich erinnere noch ein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) mal an den Entschließungsantrag, den dieses Haus im Diese Beratung hat schon eine gewisse Komik. Das ist letzten Jahr zu diesem Thema mit großer Mehrheit be- schon deutlich geworden, sowohl durch die Rede von schlossen hat. Wichtig ist, dass diese Regeln auf allen re- Staatssekretär Koschyk als auch vom Kollegen Zöllmer levanten Finanzmärkten dieser Welt umgesetzt werden. von der SPD. Wir beraten hier einen Gesetzentwurf. Aber die dazugehörige Richtlinie und Verordnung der Die Abhängigkeit von Ratingagenturen wird durch EU liegen nicht vor. Insofern haben wir hier in der Tat das Vorhaben reduziert werden. Es wird eine Stärkung eine Hülle und keinen Inhalt, über den man wirklich des internen Ratings geben, sodass wir dann insgesamt konkret streiten könnte. zu einer guten Aufstellung kommen: auf der einen Seite die CRD-IV-Maßnahmen, die präventiv wirken, auf der (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Durchlesen!) anderen Seite das Bankenrestrukturierungsgesetz, das Warum dieser unreife Gesetzentwurf? Sie wollen da- dann, sollte es zu Problemen kommen, eine geordnete mit besondere deutsche Termintreue beweisen. In Pitts- Abwicklung ermöglicht. burgh ist 2009 beschlossen worden, dass das Basel-III- Abkommen bis Ende 2012 vorliegen soll. In Pittsburgh Mit dem im Bankenrestrukturierungsgesetz vorgese- ist aber auch beschlossen worden, dass sich bis dahin henen „living will“ werden sich Kreditinstitute so orga- alle zu den UN-Millenniumszielen und zu der Entwick- nisieren müssen, dass sie problematische Teile relativ lungshilfequote bekennen sollen. Dabei haben Sie bisher schnell herauslösen können. Das ist im Prinzip eine Art keine solche Termintreue zeigen können. Trennbankensystem, das da entsteht. Diese Regelungen in Kombination mit der Einlagensicherung werden dann (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Sparer schützen und unser Finanzsystem stabilisie- neten der SPD) ren. Jetzt aber zum Basel-III-Abkommen selber. Wir sind Der Binnenmarktkommissar Barnier hat bei der Vor- uns in drei wesentlichen Punkten in der Tat einig: Ers- stellung des Richtlinienentwurfs gesagt: tens. Das Basel-III-Abkommen ist nur ein Element einer umfassenden Finanzmarktregulierung. Zweitens. Höhe- Die Finanzkrise hat viele Familien und Unterneh- res und besseres Eigenkapital ist für Banken sinnvoll, men in Europa hart getroffen. Wir dürfen nicht zu- weil Banken damit widerstandsfähiger sind. Drittens. lassen, dass es noch einmal zu einer solchen Krise Bank ist nicht gleich Bank. Das Basel-III-Abkommen kommen kann und unser Wohlstand durch einige darf nicht dazu führen, dass Sparkassen und Genossen- wenige Finanzmarktakteure aufs Spiel gesetzt wird. schaftsbanken auf der Strecke bleiben. Das würde das 23884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Axel Troost (A) Finanzsystem nicht sicherer, sondern nur noch wackeli- Deshalb fordern wir, keine mit internen Modellen be- (C) ger machen. rechneten Risikogewichte zu akzeptieren. Wir fordern auch, sämtliche Passagen aus dem Gesetz herauszuneh- (Beifall bei der LINKEN) men, in denen externe Ratings zugrunde gelegt werden. Doch über dieses Grundsätzliche hinaus gibt es aus Wir fordern eine Aufsicht auf Augenhöhe bei den Ban- unserer Sicht allen Anlass, zu meckern. Die Reform geht ken und mit den Banken. Wir müssen uns trauen, den grundsätzlich in die richtige Richtung. Sie wird der Tiefe Banken in der Tat Vorgaben zu machen, die eine ausrei- der Krise und dem bestehenden Veränderungsbedarf chende Eigenkapitalvorsorge bedeuten und den interna- aber nicht gerecht. Insbesondere differenziert die No- tionalen großen Banken, die am großen Rad drehen, so velle ungenügend zwischen auf der einen Seite den Ban- viel Rückhalt geben, dass sie im Falle einer Auseinan- ken, die im internationalen Kapitalmarkt das große Rad derentwicklung bzw. einer Krise Auffanglösungen aus drehen, und auf der anderen Seite den Tausenden kleinen dem Eigenkapital haben und nicht die Staaten zu Ret- Banken, welche hauptsächlich Spareinlagen verwalten tungsaktionen herangezogen werden. und private Haushalte sowie kleine und mittelständische Danke schön. Unternehmen mit Krediten versorgen. Es sind aber die wenigen großen Banken vom Schlage einer Deutschen (Beifall bei der LINKEN) Bank oder einer Commerzbank, die uns Kopfschmerzen bereiten, und nicht die vielen kleinen Sparkassen und Vizepräsident Eduard Oswald: Genossenschaftsbanken. Außerdem wird das Problem Vielen Dank, Kollege Dr. Axel Troost. Nächster Red- der Schattenbanken überhaupt nicht angegangen, son- ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bünd- dern bleibt völlig außen vor. Außer vagen Absichtserklä- nis 90/Die Grünen Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kol- rungen haben Sie zu diesem Bereich bisher rein gar lege Dr. Gerhard Schick. nichts geliefert. Doch bleiben wir bei den Banken im Engeren. Die Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): systemrelevanten Banken sollen einen Eigenkapitalzu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In schlag von 1 bis 3,5 Prozent bekommen. Insgesamt liegt der Tat ist es bemerkenswert, dass das Regelwerk auf eu- deren Eigenkapitalquote damit im historischen Vergleich ropäischer Ebene noch nicht fertig ist und wir hier trotz- aber immer noch relativ niedrig. Staaten wie die dem schon eine Vorlage haben. Ich finde, es ist aber ei- Schweiz und Schweden wollen im nationalen Allein- gentlich sinnvoll, dass wir versuchen, so zügig wie gang deutlich höheres Eigenkapital verlangen. möglich an die Umsetzung zu gehen und den Prozess zu beginnen. (B) (D) Laut Finance Watch, einer Organisation, die den Ka- Wenn man über die Verhandlungen in Brüssel redet, pitalmarkt schon genau beobachtet, hätte in der jüngsten muss man, finde ich, aber einmal sagen, was da eigent- Krise – das ist eben auch angesprochen worden – eine lich die Verhandlungsposition ist und wer da auf welcher Eigenkapitaldecke von ungefähr 16 Prozent die meisten Seite steht. Darüber habe ich noch nicht viel gehört. Der Verluste einzelner Banken absorbiert. Bei 24 Prozent erste Punkt sind die Liquiditätsregeln. Aus dem Rat, dem – so deren Berechnung – hätten beinahe alle Verluste in Vertreter der Regierungen, wird verhindert, dass ein fes- sämtlichen Bankenkrisen seit 1988 absorbiert werden tes Datum festgelegt wird. Das Parlament will hier ein können. festes Datum für die Einführung festlegen. Ich glaube, Wir liegen aber mit den Entwürfen und den Gedanken das ist auch sinnvoll. bisher weit darunter. Gerade große Banken müssen aber (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann sagen gezwungen werden, entsprechend mehr Eigenkapital Sie aber mal, welche Regierung, Herr Schick! vorzuhalten. Doch Sie lehnen entsprechende Zuschläge Ich glaube, das ist die französische Regierung, in großem Umfang für systemrelevante Banken ab. Ba- nicht die deutsche!) sel III ist daher wesentlich zu zaghaft. In den letzten Jah- ren haben sich zahlreiche Finanzprodukte, Institute und – Sie können nachher gerne Ihre Ausführungen machen Geschäftsmodelle entwickelt. Dafür gab es immer den und das darlegen. Applaus, weil die Märkte das entwickelt haben. Dann (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Er hat hat man gesagt: Wir wollen eine Art Selbstregulierung gemerkt, dass es stimmt!) haben. Diese Selbstregulierung ist nach wie vor auch die Logik von Basel III. Sie drehen sie nur etwas zurück. – Ich habe nicht widersprochen. An dieser Stelle ist es vielleicht ausnahmsweise einmal nicht die Bundesregie- Seit Basel II können Banken nämlich ihr eigenes Risi- rung. Das können Sie nachher gerne ausführen. Sonst komanagement anwenden. Es ist eben die Frage, ob das melden Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage, wenn Sie ausreichend und sicher ist. In Zeiten, in denen alles gut das genauer haben wollen. gelaufen ist, gab es hohe Boni und Gewinne. Als es dann schlecht lief, mussten die Steuerzahler und die Staaten in Der zweite Punkt sind die Bonuszahlungen. Viele die Bresche springen. Wir sagen daher: Die Höhe des Ei- Menschen haben sich zu Recht darüber empört, dass genkapitals zu bestimmen, ist Aufgabe der Aufsicht und Millionenboni dazu geführt haben, dass Banken große nicht Aufgabe der Bank selbst oder privater Agenturen. Risiken eingehen und nachher genau die Leute, die Boni kassiert haben, nicht die Verantwortung übernehmen, (Beifall bei der LINKEN) wenn es schiefgeht. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23885

Dr. Gerhard Schick (A) Unsere grüne Position im Europäischen Parlament ist, wir Grünen zusammen mit vielen wissenschaftlichen In- (C) dass wir die Bonuszahlungen so tief drücken, dass sie stitutionen: Es braucht definitiv eine Untergrenze, eine nicht höher sind als das Fixgehalt – höchstens eins zu Schuldenbremse für Banken. Wir wollen ein Eigenkapi- eins. Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen diese tal von 5 Prozent als Minimum vorschreiben, wie es in Position aufweichen. Ich glaube, es ist im Interesse der Kanada bereits der Fall ist, wo wir unter anderem bei ei- Bürgerinnen und Bürger und eines stabilen Finanzmark- ner Reise des Finanzausschusses gelernt haben, dass tes, dass wir zu Regelungen für niedrigere Bonuszahlun- auch deswegen die kanadischen Banken von der Krise gen kommen und die Fehlentwicklungen in der Vergan- nicht so stark getroffen worden sind wie die deutschen genheit endlich korrigieren. Banken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dabei ist ein Punkt sehr wichtig. Dass die deutsche bei Abgeordneten der SPD) Bundesregierung – in dem Fall war es wirklich die deut- Dann geht es um die Aufschläge für systemische Ban- sche Bundesregierung, und dazu müssen auch die Koali- ken. Dabei muss man sagen: Es ist notwendig, dass wir tionsfraktionen stehen – in Basel, vertreten durch die für große Banken einen zusätzlichen Kapitalpuffer auf- Bundesbank, und in Brüssel darauf gedrängt hat, dass bauen, der mit zusätzlicher Größe ansteigt. Es ist näm- die Leverage Ratio, also die ungewichtete Eigenkapital- lich so, dass seit Ausbruch der Finanzkrise viele Institute untergrenze, nicht festgeschrieben wird, sondern wir erst noch größer geworden sind und damit die Gefahr bei ei- noch fünf Jahre beobachten, halte ich für falsch. Da nem Zusammenbruch noch gewachsen ist. Deswegen stand die Bundesregierung auf der falschen Seite. Denn sind wir Grünen für eine Größenbremse für Banken, die wir müssen es endlich schaffen, Stabilität sicherzustel- sicherstellt, dass Größe sich nicht lohnt, sondern teuer len. Es ist viel zu gefährlich, Banken mit so wenig Ei- wird, und wollen auch im Europäischen Parlament genkapital zuzulassen. durchsetzen, dass es Aufschläge gibt, die auf europäi- scher Ebene gemeinsam etabliert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Es geht auch darum, dass die europäische Bankenauf- Wir haben jetzt einen großen Gesetzentwurf mit sehr sicht festlegen kann, wie die Qualität des Kapitals ausse- vielen einzelnen Punkten vor uns. Sie sind schon ge- hen soll. Auch hier stehen wieder die nationalen Regie- nannt worden: Es geht um Anpassungen bei der Renten- rungen im Rat auf der Bremse. Wir diskutieren über eine bank – das halten wir für sinnvoll –, es geht darum, das europäische Bankenaufsicht, und gleichzeitig wird noch in vielen einzelnen Punkten anzupassen. (B) (D) dabei gebremst, gemeinsame europäische Standards über Dann haben wir die Möglichkeit, nationale Wahl- die bereits bestehende europäische Bankenaufsicht rechte auszuüben. Da gilt es jetzt wieder, genau hinzu- durchzusetzen. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir schauen, was uns eigentlich die Koalition hier vor- hier einen Schritt vorankommen. schlägt. Das ist im Kern unsere Aufgabe als Deutscher Ich will noch zu einem weiteren Punkt kommen, der Bundestag: zu entscheiden, welche dieser Wahlrechte wichtig ist: Was leistet eigentlich Basel III in Bezug auf wir wie ausüben. Wir stellen fest, dass bei entscheiden- die Eigenkapitalausstattung? Das ist der zentrale Kern den Punkten, bei denen der nationale Gesetzgeber das der neuen Regulierung. Wir können sehen, dass man im- umsetzen kann – zum Beispiel bei der Frage der Risiko- mer noch bei dem alten Modell bleibt. gewichtung bei Immobilienkrediten –, die Bundesregie- Ich nehme das Beispiel Deutsche Bank: Bilanz rung uns vorschlägt, diese Wahlrechte nicht zu nutzen 2,2 Billionen Euro. 56 Milliarden Euro sind regulatives und damit aufsichtsrechtlich bei uns nicht so stark auf- Eigenkapital. Trotzdem heißt es: Die Kapitalquote be- gestellt zu sein, wie wir es sein könnten. Angesichts der trägt 9,5 Prozent. Das klingt erst einmal viel und hört Entwicklung, dass wir an manchen Stellen gerade in sich nach Stabilität an. Aber wenn man die zwei genann- Deutschland im Immobiliensektor eine beginnende ten Größen zueinander ins Verhältnis setzt, kommt man Blase haben, halten wir es für falsch, an dieser Stelle die auf eine Relation von 2,5 Prozent. Dann sieht man den Wahlrechte nicht auszunutzen. Vielmehr müssten wir Unterschied in der Frage, ob man es den Banken wie bis- auch national entsprechend dort vorsorgen, wo uns das her erlaubt, ihre Bilanz kleinzurechnen und damit eine europäische Recht die Möglichkeit dazu gibt. größere Kapitalquote auszuweisen, als vorhanden ist, Es gibt also Bedarf, nachzusteuern: zum einen beim oder ob wir ein stabileres System mit einer Schulden- Thema Leverage Ratio, also beim Thema Schulden- bremse für Banken schaffen, indem wir wirklich fragen: bremse für Banken. Wir wollen eine stabile Eigenkapi- Wie ist das Verhältnis von Eigenkapital zur gesamten Bi- lanzsumme? taluntergrenze. Zum anderen müssen wir dafür sorgen, dass die nationalen Wahlrechte so ausgeübt werden, dass Dabei müssen wir eines sehen: Auch fünf Jahre nach der deutsche Finanzmarkt stabil ist. Denn eines muss Ausbruch der Finanzkrise wird in Deutschland einer man in Deutschland zur Kenntnis nehmen – die interna- Bank wie der Deutschen Bank eine Eigenkapitalausstat- tionalen Vergleiche sind sehr eindeutig –: Im internatio- tung von nur 2,5 Prozent erlaubt. Dieselbe Bank würde nalen Vergleich – ich zitiere den Global Financial Stabi- einem mittelständischen Unternehmen, das nur 2,5 Pro- lity Report des Internationalen Währungsfonds vom zent Eigenkapital hat, nie einen Kredit geben. Dazu sagen Oktober 2012, also ganz aktuell – sind die deutschen 23886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Gerhard Schick (A) Banken diejenigen mit der schwächsten Eigenkapital- nämlich einen anderen parlamentarischen Prozess als die (C) ausstattung. Das heißt, wir haben hier noch richtig was Franzosen, die das möglicherweise in ganz kurzer Zeit zu tun. verabschieden, während wir uns sehr intensiv über Monate mit diesem Thema beschäftigen. Ich halte es für Danke. richtig, dass wir das machen, auch wenn noch nicht jedes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Detail geklärt ist. und bei der SPD) Auf der europäischen Ebene gibt es noch ein Vermitt- lungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament, Vizepräsident Eduard Oswald: der Europäischen Kommission und dem Europäischen Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächster Rat, bekannt als das Trilogverfahren. Nach meinen Er- Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege kenntnissen wird sich das noch einige Monate hinziehen. Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Klaus-Peter Ich glaube nicht, dass wir den 1. Januar halten können. Flosbach. Die Ziele sind aber dennoch festgelegt worden, wobei es (Beifall bei der CDU/CSU) sich hier um folgende Fragen handelt: Wie schaffen wir eine größere Widerstandskraft? Wie sieht es mit Risiko- management aus, und wie sieht es mit Transparenzsyste- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir men aus? sind im fünften Jahr der Banken- und Finanzenkrise. Je- Zentral ist aber auf jeden Fall, dass deutlich gemacht der Presseartikel, jedes Buch, jeder Wissenschaftler, der wird: Wir brauchen mehr Eigenkapital im Bankensys- über die Krise spricht, wird über das Eigenkapital von tem, sowohl von der Qualität als auch von der Quantität Banken sprechen. Überall wird dargelegt, die erste Er- her. Die normalen Banken müssen bis zum Jahre 2019, kenntnis aus dieser Krise sei gewesen, dass die Banken also Zug um Zug, diese Vorgabe auch hier in Deutsch- mehr Eigenkapital haben müssen. Dies setzt sich in allen land umsetzen. Das ist für die eine oder andere Bank Bereichen durch, und deswegen unterscheiden wir uns aber nicht ganz einfach, weil die Banken neben der Be- auch in dieser Grundsatzfrage nicht. Die Risiken werden schaffung von zusätzlichem Eigenkapital auch noch die gemindert, je mehr Eigenkapital da ist. Auch viele unse- Bankenabgabe zu tragen haben. Zudem sind wir auf dem rer Diskussionen über Trennbanken, über Fragen der In- Weg zur Finanztransaktionsteuer. Es ist also mit weite- solvenz oder über Einlagensicherung relativieren sich, je ren Belastungen zu rechnen. mehr Eigenkapital im Bankensystem vorhanden ist. Weil das so eine zentrale und wichtige Frage ist, stel- Bei dem Treffen der G 20 in Cannes ist deutlich ge- len wir uns als Regierungspartei natürlich auch die worden: Je größer eine Bank ist, desto mehr Eigenkapi- (B) Frage, warum sich der Kanzlerkandidat der SPD, der in tal muss vorgehalten werden. Deswegen kann ich hier (D) einem Papier von 5 plus 25 Seiten dargelegt hat, wie er nicht den Eindruck bestätigen, dass die großen Banken das alles regulieren würde, nicht dazu bequemt, doch kein erhöhtes Eigenkapital vorlegen müssten. Gerade in einmal in dieses Parlament zu kommen, um mit den Cannes ist noch einmal eine Erhöhung um 2,5 Prozent- Finanzpolitikern über diese zentrale Frage zu diskutie- punkte vorgenommen worden. Wir haben mehr oder we- ren. niger positiv auch die sogenannten Stresstests in Europa begleitet, die EBA-Stresstests, deren Ergebnis war, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid 13 deutschen Banken gesagt wurde, sie müssten deutlich Arndt-Brauer [SPD]: So ein Blödsinn!) mehr Eigenkapital schon bis zum 30. Juni des Jahres Das mag auch daran liegen, dass in seiner Stellung- 2012 vorhalten. Hier ging es allein um eine Summe von nahme von diesen insgesamt 30 Seiten sich überhaupt 13 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass die großen Banken nur eine einzige Seite mit diesem Thema beschäftigt hat, natürlich deutlich mehr Eigenkapital vorhalten müssen. das allgemein als die zentrale Sache der Finanzmarkt- Wir haben hier heute morgen auch schon über die regulierung anerkannt ist. Bankenunion gesprochen. Da geht es um die Frage, ob Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es um die Europäische Zentralbank eine neue Aufsichtsposi- die Umsetzung der europäischen Richtlinie. Es ist ein tion übernehmen soll. Meines Erachtens ist es bei dieser Rahmenwerk zur Stärkung der Widerstandskraft der Diskussion über Basel III oder CRD IV einfach wichtig, Banken, auch bekannt geworden unter dem Thema Ba- dass wir auch in den nächsten Monaten darauf achten, sel III, weil es eben in Basel einen Ausschuss gibt, der dass wir die Regulierung angemessen, proportional um- aus Notenbankern und Vertretern von Aufsichtsbehörden setzen. Das heißt, kleine Banken dürfen nicht so kontrol- besteht und im Grunde die Standards für die Finanz- liert werden wie große Banken. Was die Sparkassen und marktstabilität festlegt. die Volksbanken angeht, sollte deutlich werden, dass Es ist von den Kollegen angesprochen worden, dass hier proportional kontrolliert und beaufsichtigt wird, wir bereits jetzt beginnen. Wir haben seit dem 22. Au- aber nicht das Gleiche wie bei den großen Banken ge- gust einen Kabinettsentwurf vorliegen, obwohl die Ent- macht wird. scheidung auf der europäischen Ebene in der Tat noch Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nun ein- nicht gefallen ist. mal in Europa unterschiedliche Bankensysteme. Für uns Wir waren letzte Woche mit einigen Kollegen im war es sehr wichtig, dass auch bei der Definition des französischen Parlament und haben dort einen Unter- Eigenkapitals auf die Rechtsformneutralität geachtet schied in der Finanzdiskussion festgestellt. Wir haben wurde. Rechtsformneutral heißt, dass die sogenannten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23887

Klaus-Peter Flosbach (A) stillen Einlagen unserer Sparkassen oder die Genossen- Vizepräsident Eduard Oswald: (C) schaftsanteile der Genossenschaftsbanken als hartes Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Flosbach. Kapital akzeptiert werden. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Wir diskutieren über die Liquidität und haben in der Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Krise erfahren, dass gerade die Liquidität bei den Ban- Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Dr. Carsten ken ein ganz großes Problem gewesen ist. Auch hier gibt Sieling. es noch Fragen, zum Beispiel wie Liquidität definiert wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Als sehr problematisch sehe ich den Ansatz an, den Dr. Carsten Sieling (SPD): Herr Schick gerade angesprochen hat; wir werden ihn Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich diskutieren. Auch Herr Steinbrück hat das in seinem fühle mich heute der größten Herausforderung meiner Papier vorgelegt. Es geht darum, dass möglicherweise Parlamentarierzeit unterworfen. Privatanleger, die ein Haus bauen, nicht nur 20 Prozent Eigenkapital vorweisen müssen, sondern Immobilien (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) möglicherweise nur bis zu 60 Prozent finanziert werden Das liegt vor allem daran, dass wir heute einen Gesetz- können, dass also ein höheres Eigenkapital vorhanden entwurf beraten, der – mehrere vor mir haben es gesagt – sein muss. Ich vermute, das würde manchem die Mög- noch gar keine Grundlage hat. lichkeit nehmen, ein Haus zu bauen. Die Erfahrung, die wir mit dem Hypothekensystem hier in Deutschland ge- (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Dann würde sammelt haben, ist meines Erachtens sehr gut. Wir er- ich doch nicht dazu reden!) möglichen auch Beziehern kleinerer Einkommen, eine Es gibt einen Kabinettsbeschluss vom 22. August; aber Immobilie zu erwerben. Ich möchte an diesem System den wollen wir ja noch verändern. In Wirklichkeit hat nicht rütteln. dieses Gesetz noch überhaupt keine Grundlage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: neten der FDP) 93 Seiten!) Es gibt auch Kritik am jetzigen Verfahren, nämlich Auch Sie sagen, dass Sie es anders machen wollen. Wir dass es eine Verordnung gegeben hat. Wir haben auch stehen hier und müssen über einen schwebenden Vor- die Möglichkeit, einen Teil über eine Richtline umzuset- gang reden. Das ist nahezu eine artistische Übung. Ich zen. Wir haben nationale Einflussmöglichkeiten, ins- nenne das ein virtuelles Gesetz – und das zu einer so besondere was die Aufsicht angeht. Das betrifft die Kon- (B) wichtigen Frage. Ich hätte erwartet, dass Sie – Kollege (D) trolle vor Ort, aber auch die Abhängigkeit von externen Flosbach hat einige Punkte angesprochen – etwas klarer Ratings oder die Sanktionierung bei Verstößen. sagen, was die Bundesregierung denn wirklich an harten Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Trilog, das Ab- Verhandlungspunkten einbringen will. Das brauchen wir. stimmungsverfahren, läuft. Auch wir fordern, dass Mit- Der Vorgang ist zu ernst. Es muss eine ernsthafte Regu- telstandskredite anders unterlegt werden, dass also die lierung in diesem Land, aber auch auf der europäischen Möglichkeit zur Finanzierung unserer Realwirtschaft, Ebene geben. insbesondere unserer mittelständischen Wirtschaft, ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sprechend berücksichtigt wird. Auch werden wir prüfen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert müssen, ob die Bewertung von Beteiligungen so ange- Schindler [CDU/CSU]: Das ist wie beim Kata- messen ist. Aber ich denke nach wie vor: Es ist und lysator!) bleibt das Kernthema. Ich sage mit Blick auf die Verhandlungsposition der Ein letzter Satz noch einmal zu Steinbrück: In den Bundesregierung: Wir müssen in viel stärkerem Maße, 25 Seiten seiner Vorlage hat er auf eines überhaupt nicht als das im Rahmen von Basel III ursprünglich vorgese- hingewiesen, was möglicherweise für uns auch Gegen- hen war, nicht nur in Deutschland, sondern auch im in- stand einer Diskussion sein wird, nämlich auf die Eigen- ternationalen Raum die Besonderheiten der Bankaktivi- kapitalunterlegung für Staatsanleihen. Mit diesem täten gewichten und unterstreichen. Thema müssen wir uns in den nächsten Jahren beschäfti- gen. Das ist das zentrale Problem der jetzigen Staats- Ich will, damit Sie nicht auf dumme Ideen kommen, schuldenkrise. Dass dieses Thema von Herrn Steinbrück in dieser Debatte noch einmal sagen, was wir Sozial- überhaupt nicht angesprochen worden ist, zeigt doch demokraten uns vorstellen. Wenn Sie sich einmal die Mühe nur, dass er sich die Möglichkeiten einer höheren Staats- machen würden, sich das Papier von Peer Steinbrück ge- verschuldung auch in Zukunft nicht nehmen lassen will. nau anzuschauen, würden Sie sehen, dass die dort vorge- schlagene Regulierung durchgreift und richtig ist. Da (Manfred Zöllmer [SPD]: Was sagt denn Herr reichen die lockeren Leistungspunkte, die Sie hier vorle- Schäuble dazu? Haben Sie Herrn Schäuble gen, bei weitem nicht hin; da müssen Sie schon mehr auf gefragt?) den Tisch legen. Vielen Dank. Bei diesem Mehr geht es insbesondere um das Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hältnis von Risiken und Haftung. Das ist ein wesentli- der FDP) ches Grundprinzip. Da bedarf es einer größeren Anstren- 23888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Carsten Sieling (A) gung und klarer Veränderungen. Bisher ist überlegt (Dr. Volker Wissing [FDP]: Was sind denn (C) worden, dass unterschiedliche Risiken auch unterschied- Spekulationsgeschäfte?) lich behandelt werden sollen. Das muss ein Grundakzent – Herr Kollege, Sie werden gleich noch die Gelegenheit sein. haben, hier zu reden. Es wäre schön, wenn Sie darlegen Der wichtigste Aspekt ist in diesem Zusammenhang, würden, was durch den Eigenhandel passiert ist, wie sich dass wir bei den Eigenkapitalregeln, aber auch bei den viele Sektoren entwickelt haben und wie wir dort ein- Liquiditätsregeln – inklusive der Leverage Ratio, der greifen und begrenzen müssen. Ich sage Ihnen an dieser Verschuldungsgrenze – die Größe der Institute ins Auge Stelle – hierzu möchte ich, Herr Kollege Wissing, ein fassen müssen; ich komme gleich noch einmal darauf zu klares Wort von Ihnen hören –: Die Boni müssen deut- sprechen. Ich will an dieser Stelle sagen: Die 2,5 Pro- lich reduziert werden. Ich bin sehr dafür, dass die flexi- zentpunkte, um die die Anforderungen noch einmal er- blen Bestandteile, also Prämien und Ähnliches, Anreize, höht worden sind, reichen uns nicht. Das ist nicht genug, die auch in die falsche Richtung führen können, nicht um den Sektor sicher zu machen. höher sein dürfen als die festen Bestandteile. Ich will auch sagen: Es muss auch eine steuerliche Begrenzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Absetzbarkeit von Boni geben. Das ist jedenfalls un- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel sere Position als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- Troost [DIE LINKE]) kraten. Wir werden uns aber auch das Geschäftsverhalten ge- (Beifall bei der SPD) nauer anschauen müssen. Nicht umsonst kommen wir zu Lassen Sie mich zum Schluss etwas sagen, weil ich dem Vorschlag eines Trennbankensystems, also einer ahne, was jetzt kommt. Mich erinnert das immer an den Trennung der Aktivitäten. Wir halten das gerade in Ver- unvergessenen Rudi Carrell. Ich bitte aber darum, Kol- bindung zu den realwirtschaftlichen Notwendigkeiten lege Wissing, heute nicht so viel an Carrell zu denken. für bedeutend. Dass mit Mittelstandskrediten anders um- Rudi Carrell hat gesagt: Schuld ist immer die SPD, an gegangen werden muss als mit spekulativen Geschäften dem schönen Wetter, aber auch am schlechten Wetter. – oder mit Eigenhandel von Banken, ist klar. Das sind un- Ich befürchte, dass jetzt wieder eine Rede kommt, die terschiedliche Risiken, und die sind unterschiedlich zu sich leider nicht mit dem Thema auseinandersetzt, son- behandeln. dern das Lied zu singen versucht: Schuld ist immer die SPD. Ich sage: Vorangehen wird es in diesem Land und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eine ordentliche Regulierung wird es geben, wenn die SPD wieder mehr zu sagen bekommt und regiert. Damit sind wir bei den unterschiedlichen Instituten. (D) (B) Wir wissen: Die, die mit ihrem Kreditgeschäft die ge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. werbliche Wirtschaft, die Industrie, ja wirtschaftliche (Beifall bei der SPD) Aktivitäten im Land überhaupt unterstützen, sind in überdurchschnittlichem Maße Sparkassen und Genos- senschaftsbanken. Trotz aller Bemühungen der Groß- Vizepräsident Eduard Oswald: banken muss man eigentlich sagen: Großbanken sind Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. – Nächster Redner wirtschaftspolitische Blindgänger. Ich finde, das muss ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP. Wir man auch entsprechend gewichten. haben eben gehört, die Erwartungen an ihn vonseiten der Sozialdemokraten sind sehr groß. Bitte schön, Kollege Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist Volker Wissing. die Auswirkung auf die Kommunalfinanzierung. Das hat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit den Volksbanken und den Sparkassen zu tun. Wir der CDU/CSU) Sozialdemokraten machen uns große Sorgen, dass es im Zusammenhang mit der Leverage Ratio, der Verschul- dungsgrenze, zu unterschiedlichen Herangehensweisen Dr. Volker Wissing (FDP): kommt. Das, was ich gerade differenziert ausgeführt Herr Präsident! Ich danke Ihnen. Falls Rudi Carrell habe, gilt auch dort. jemals gesagt haben sollte: Schuld ist immer nur die SPD Kollege Schick hat das Europäische Parlament ange- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das hat er sprochen. Ich finde, nicht alle Ebenen des Vorschlags gesungen!) des Europäischen Parlaments sind umfänglich betont. Das Europäische Parlament hat einen Vorschlag mit drei – oder es gesungen hat –, dann kann man feststellen, Stufen gemacht. Die erste Stufe heißt: Banken, die im- dass er ein kluger Kopf gewesen ist. mer noch meinen, Spekulationsgeschäfte betreiben zu (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie müssen wei- müssen, müssen eine Leverage Ratio von 5 Prozent er- terlesen! – Joachim Poß [SPD]: Es ging um füllen. Normale Risiken werden mit 3 Prozent und das das Wetter!) risikoarme, margenschwache Geschäft wird mit einer Obergrenze von 1,5 Prozent belastet. Ich finde diesen Ich möchte heute über das Thema Basel III reden. Ich Vorschlag richtig. Wir sollten das, was dazu im Europäi- sage Ihnen: Wir haben Lehren aus der Krise gezogen. schen Parlament angedacht wird, in die Debatte aufneh- Wir haben in der Krise gesehen, dass Banken Probleme men. Das zu diesem Punkt. hatten, weil sie keine ausreichende Liquidität hatten. Wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23889

Dr. Volker Wissing (A) haben gesehen, dass Banken Probleme hatten, weil sie und die Banken ihre Geschäftsmodelle heute schon da- (C) kein ausreichendes Eigenkapital hatten. Wir haben uns nach ausrichten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Vor- zu Beginn dieser Legislaturperiode als Koalitionsfrak- würfe, die Sie heute versuchsweise eingestreut haben, tion die Frage gestellt: Welches sind die zentralen Leh- nämlich dass Basel III von der Bundesregierung nicht ren aus dieser Krise? Wir haben gesagt: Der Schwer- schnell genug vorangetrieben würde, sind schlicht und punkt muss darauf liegen, die Eigenkapitalausstattung einfach falsch. der Banken zu verbessern und Liquiditätspuffer zu Wenn an der einen oder anderen Stelle gebremst wird, schaffen, damit sich das Gleiche nicht wiederholt. Dann dann kommt das eher vonseiten der französischen Regie- haben wir gesagt: Wir brauchen auch einen Restrukturie- rung. Das sind diejenigen, zu denen Sie noch hingefah- rungsfonds. Für den Fall, dass Banken wieder ins Strau- ren sind und die Sie als die Besseren in Europa bezeich- cheln geraten, soll der Steuerzahler nicht dafür aufkom- net haben. Das sind Ihre Freunde. Eine Verzögerung men. Dafür brauchen wir eine Bankenabgabe. Die muss kommt jedoch keinesfalls von einer christlich-liberalen der Höhe nach so ausfallen, dass genügend Möglichkei- Koalition, die Basel III entschieden voranbringt. Sie lie- ten vorhanden sind, Liquiditätspuffer zu finanzieren und gen tatsächlich in allen Punkten falsch. Rudi Carell hat Eigenkapitalvorsorge zu treffen. recht, lieber Kollege Sieling. Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden. Sie haben – Sie lassen hier im Plenum keine Gelegenheit Vizepräsident Eduard Oswald: aus, das zu betonen; das gilt auch für Peer Steinbrück Herr Kollege Wissing, der Kollege Dr. Schick will mit seinem Papier – den Schwerpunkt auf eine höhere Ihre Redezeit verlängern, indem er Ihnen eine Zwischen- Bankenabgabe gelegt und sagen immer, dass sie noch frage stellt. höher sein muss. Deswegen können Sie sich hier nicht glaubwürdig hinstellen und sagen, Basel III sei der richtige Weg. Der Weg, den Sie immer propagieren, ist Dr. Volker Wissing (FDP): eine höhere Bankenabgabe. Der Weg, den wir für besser Ja, bitte. halten, ist Basel III: Eigenkapitalvorsorge, Liquiditäts- puffer. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das verstehen nur Sie!) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deswegen ist es falsch und außerdem scheinheilig, NEN): wenn Sie sich Basel III zu eigen machen. Sie argumen- Herr Kollege, ich würde gerne wissen – jetzt gar nicht (B) tieren immer gegen diesen Regulierungsansatz. Wir ha- auf Frankreich bezogen, sondern auf Deutschland –, ob (D) ben uns für einen anderen Ansatz entschieden als Sie; Sie es richtig finden, dass wir es weitere fünf Jahre zu- wir haben uns Basel III zu eigen gemacht, weil mit Ba- lassen, dass Banken mit weniger als 3 Prozent Eigenka- sel III genau die richtigen Lehren aus der Krise gezogen pital arbeiten können. Nehmen wir als Beispiel die Deut- werden. sche Bank mit 2,5 Prozent. Oder sind Sie der Meinung, (Zurufe von der SPD) dass mehr Eigenkapital nötig ist?

Sie wollen einen staatlichen Fonds füllen; Sie können Dr. Volker Wissing (FDP): den Menschen jedoch nicht erklären, wie eine Bank Herr Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen bin ich 1 Euro aus ihrem Gewinn gleich dreimal ausgeben kann. der Meinung, dass die Bankenabgabe nicht erhöht wer- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das Problem ist, den sollte, sondern dass sie auf dem derzeit richtigen jus- dass sie ihn zehnmal ausgegeben haben!) tierten Maß bleiben sollte. Außerdem bin der Meinung, dass das Eigenkapital kontinuierlich auf ein ausreichen- 1 Euro bleibt 1 Euro. Dann kommen Sie auch noch des Niveau angehoben werden muss. und verlangen, dass Banken möglichst hohe Finanz- transaktionsteuern und zugleich eine höhere Bankenab- Dabei muss man jedoch die Tatsache im Blick behal- gabe bezahlen und dann auch noch für Eigenkapitalvor- ten, dass die notwendige Kreditvergabe und somit die sorge und Liquiditätspuffer sorgen. Liquiditätsversorgung der Wirtschaft sichergestellt wer- den muss. Dies zeichnet das Augenmaß der christlich- (Zuruf von der SPD) liberalen Regierung aus, während Sie, ebenso wie die Ich wiederhole: 1 Euro ist 1 Euro, und wenn die So- Sozialdemokraten, den Menschen in Deutschland einre- zialdemokraten das nicht verstehen, belegen sie damit den, man könne 1 Euro dreimal, viermal oder fünfmal nur, dass sie eben immer falsch liegen und nicht rechnen ausgeben. Das hat mit der Realität nichts zu tun. können. Deswegen müssen Sie sich klar bekennen: Wollen Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) höhere Bankenabgaben, wollen Sie hohe Finanztrans- aktionsteuern für die Banken, oder wollen Sie ein höheres Das Gute an Basel III ist, dass es bereits erste Wir- Eigenkapital? Sie stehen nämlich mit all Ihren Forderun- kungen zeitigt gen gegen eine höhere Eigenkapitalausstattung. Also be- haupten Sie hier doch nicht immer wieder das Gegenteil! (Zuruf von der SPD: 4 Prozent sind 4 Prozent!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 23890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Volker Wissing (A) Entscheiden Sie sich doch einmal, was die Banken (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) mit ihren Gewinnen machen sollen! Man kann 1 Euro neten der FDP) nur einmal ausgeben. Eins und eins ist eins und nicht drei. Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Eins und eins ist Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und zwei! – Heiterkeit bei der SPD und dem Herren! Eigentlich ist heute ein ziemlich historischer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tag. Wir hatten 2008 eine fundamentale Bankenkrise, die nicht nur dazu geführt hat, dass wir zweistellige Mil- – Eins bleibt eins und ist nicht zwei oder drei. Ja, Herr liardenbeträge an Liquidität in die Banken hineinpusten Sieling, ist ja gut. mussten und dreistellige Milliardenbeträge als Haftung (Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND- bereitgestellt haben, sondern auch dazu, dass es einen NIS 90/DIE GRÜNEN) veritablen Konjunkturabschwung und Ausfälle bei den Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen in Milliar- Die Frage ist beantwortet. denhöhe gab. Nicht zuletzt hat die Bankenkrise dazu ge- führt, dass die Menschen in diesem Land nicht nur die Vizepräsident Eduard Oswald: Frage nach der Sinnhaftigkeit des Bankensystems, son- dern auch die Systemfrage gestellt haben. Wir alle in der Den Mitgliedern des Finanzausschusses wird immer Politik, die wir hier sitzen, wissen eines: Wenn sich unterstellt, das Einmaleins bestens zu kennen. solch eine Bankenkrise wiederholt, dann haben wir ganz andere Fragen zu beantworten als jene, die wir heute zu Dr. Volker Wissing (FDP): beantworten haben. Eins bleibt eins, liebe Kollegen. Freuen Sie sich, das ist geschenkt. – Sie werden jedoch von dieser Fragestel- Die Politik hat sich deswegen damals, zur Zeit der lung nicht loskommen. Sie können sich nicht hinstellen Großen Koalition, auf den Weg gemacht, die Banken zu und den Leuten immer wieder sagen, die Bankenabgabe regulieren. Uns war eines immer klar: Vorschriften zu sei zu niedrig, die Finanztransaktionsteuer müsse kom- Eigenkapital und Liquidität sind die wichtigsten Instru- men und das Eigenkapital sowie der Liquiditätspuffer mente, um Banken zu regulieren. Nach 2008 hat es vier seien zu niedrig. Jahre gedauert, bis wir zum heutigen Tag gekommen sind, an dem wir versuchen, entsprechende Instrumente Sie müssen den Banken irgendwann die Frage beant- in deutsches Recht umzusetzen. Das ist bemerkenswert. worten, woraus das Ganze finanziert werden soll. Wenn wir die Debatte, die wir heute führen, vor vier Jah- ren geführt hätten, dann hätte sie mehr Aufmerksamkeit (B) (D) (Zuruf des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜND- erregt, dann wäre sie insbesondere vonseiten der Oppo- NIS 90/DIE GRÜNEN]) sition etwas intensiver und weniger lustlos geführt wor- Das geht ja nur aus dem Gewinn, und den gibt es eben den. nur einmal. Das wollte ich Ihnen verdeutlichen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen führt das, was auf europäischer Ebene mit Ich habe gesagt: Wir haben uns auf den Weg gemacht, Basel III vorangebracht wird, zur Schließung weiterer die Banken zu regulieren. Man kann die Maßnahmen in Lücken im Regulierungssystem. Das ist genau der rich- fünf Kategorien einteilen: tige Weg, um unseren Bankensektor sicherer zu machen, begleitet von einer Aufsichtsreform, die wir in dieser Die erste Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass in Woche im Finanzausschuss beraten haben. Banken weniger Fehler gemacht werden, durch die Ver- änderung der Vergütungsstrukturen, durch die Regulie- Das Ganze wird begleitet von vielen einzelnen Schrit- rung von Ratingagenturen, durch das Paket zum Hoch- ten, die unseren Finanzsektor stabiler machen, sowie von frequenzhandel, das wir jetzt auf den Weg bringen, einer europäischen Aufsichtsreform. Am Ende werden durch viele Maßnahmen, die im Rahmen der Kapital- wir in Europa ein stabiles Finanzsystem vorfinden. Ich adäquanzrichtlinie umgesetzt worden sind. freue mich jedenfalls, dass Basel III schon heute in den Geschäftsmodellen der Banken antizipiert wird. Es ist Die zweite Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass ein gutes Gesetz. Sie hingegen sollten sich endlich ein- die Fehlertragfähigkeit bei Banken, offenen Immobilien- mal entscheiden, welche Regulierung Sie für richtig hal- fonds und in vielen anderen Bereichen erhöht worden ten. Die Quadratur des Kreises, die Sie vorschlagen, ist ist. jedenfalls nicht möglich. Deswegen bleiben wir dabei: Die dritte Kategorie. Wir haben die Aufsichtsstruktu- Wir haben Lösungsansätze, Sie liefern nur Papier. ren verbessert, indem wir bei Leerverkäufen Transpa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) renz und neue Aufsichtsarchitekturen geschaffen haben, ganz aktuell hier in Deutschland und vor einigen Mona- ten in Europa. Auch das ist bemerkenswert. Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. – Der Die vierte Kategorie. Wir sind uns immer im Klaren letzte Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion darüber gewesen, dass das nicht reicht, dass wir einen der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte Restrukturierungsmechanismus für Banken brauchen. schön, Kollege Ralph Brinkhaus. Im Gegensatz zu dem, was Herr Steinbrück heute Mor- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23891

Ralph Brinkhaus (A) gen erzählt hat, haben wir hier in Deutschland einen Ich habe mit der Krise nichts zu tun gehabt. Wir sind (C) Bankenrestrukturierungsmechanismus auf den Weg ge- nicht verantwortlich. Wir sind die Guten. Reguliert bitte bracht. Wir haben eine Bankenabgabe eingeführt und da- die Schlechten. für gesorgt, dass zumindest die ersten Verluste von den Banken selber getragen werden, nämlich über einen Das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt. Wir müs- Fonds, der über die Bankenabgabe gespeist wird. sen uns an den Risiken, die tatsächlich im Bankenwesen entstehen, orientieren, und es gibt zwei gute Messlatten Die fünfte Kategorie. Wir haben auch dafür gesorgt, für die Risiken: Das sind Eigenkapital und Liquidität, dass wir die Lasten verteilen. Die Bundesregierung hat und Eigenkapital und Liquidität sind das Rückgrat der auf europäischer Ebene dafür gesorgt, dass die Finanz- Basel-III-Regulierung. transaktionsteuer nunmehr von ganz vielen Ländern un- terstützt wird. Meine Damen und Herren, trotz aller Dinge, trotz al- ler Gesetze, trotz aller Maßnahmen, die wir auf den Weg (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wo ist sie denn?) gebracht haben, müssen wir eines sehen: Eine hundert- prozentige Garantie, dass wir eine Krise wie die, die Das alles ist in den letzten Jahren gemacht worden. 2008 aufgetreten ist, in Zukunft werden verhindern kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen, kann niemand geben. Trotzdem hat eines gefehlt. Wir haben hier über 50 De- Finanzmarktregulierung ist nicht der große Wurf. batten geführt; wir haben fast 20 Gesetze und Initiativan- Finanzmarktregulierung ist ein hartes Geschäft. Finanz- träge auf den Weg gebracht. Wenn wir mit irgendeiner marktregulierung beinhaltet viele Einzelmaßnahmen, Sache fertig waren, haben wir immer gesagt: Das war und Finanzmarktregulierung heißt auch, dass wir uns wieder ein kleinerer oder größerer Baustein, um die Ban- immer wieder damit auseinandersetzen müssen, dass kenwelt sicherer und besser zu machen. Aber der ganz – der Kollege Schick hat es angesprochen – die eine oder große Baustein, das Fundament hat noch gefehlt. Das andere Regierung irgendetwas anders sieht, dass wir uns Fundament bildet tatsächlich das, was wir heute verab- mit unseren Vorstellungen international nicht durchset- schieden. Dementsprechend können wir, der Deutsche zen und dass es in den Märkten Menschen gibt, die Bundestag, wirklich stolz darauf sein, dass wir es, ob- schneller – sie sind im Übrigen auch besser bezahlt als wohl die europäischen Regelungen noch nicht fertig sind wir – auf Ideen kommen, um unsere Regulierungen zu – das ist richtig –, geschafft haben, ein Gesetz auf den umgehen. Weg zu bringen, das sicherstellt, dass wir in Europa zu den Ersten gehören, die das Paket tatsächlich umsetzen. Das ist einfach die Realität. Es geht nicht darum, ein auf ewige Zeiten stabiles Finanzsystem hinzubekom- (B) Das ist gut und richtig. (D) men. Das werden wir nicht hinbekommen. Es geht da- Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Wir ha- rum, die Instabilitäten, die in diesem Finanzsystem ent- ben 2008 eine wirklich fundamentale Krise gehabt. Wir halten sind, gut zu managen, und deswegen bin ich in der Politik haben das kapiert; wir haben aus dieser immer noch über das, was die SPD und der Kanzlerkan- Krise gelernt. Wenn ich mir aber teilweise anschaue, wie didat der SPD in den letzten Wochen geboten haben, die Branche, die Finanzinstitute auf unsere Maßnahmen nachhaltig verärgert. reagieren, dann scheint mir, dass diese Menschen nichts daraus gelernt haben. Leichte Kritik ist okay; auch (Beifall bei der CDU/CSU) schwerere Kritik ist teilweise okay, weil wir nicht alles richtig machen. Aber das permanente Ablehnen von Re- Nicht nur, dass er komplett ignoriert hat, was in den gulierungsmaßnahmen, das Genöle der Branche, dass letzten vier Jahren – übrigens auch unter seiner Mitwir- dieses oder jenes dazu führe, dass die Realwirtschaft zu- kung – an Finanzmarktregulierung auf den Weg gebracht sammenbricht, dass ganze Geschäftsmodelle zusammen- worden ist – nein, er behauptet auch: Ihr müsst einfach brechen, führt nicht weiter. nur das machen – und Herr Sieling hat es gerade bestä- tigt –, was in meinem göttlichen Papier steht. Das ist der (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja!) große grüne Knopf, und wenn wir den drücken, dann wird alles gut in dieser Welt. Da schaue ich jetzt auch zu den Kollegen in der Op- position; da sind wir alle in diesem Haus uns einig. Ich (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der Knopf ist rot! würde mir mehr konstruktive Beiträge wünschen. Ich Nicht grün!) glaube, das ist angesichts der Krise, die durch diese Branche verursacht worden ist, durchaus berechtigt. Meine Damen und Herren – und das gilt für die Besu- cher hier und für die Damen und Herren, die vor dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Fernsehschirm sitzen –, wenn Ihnen jemand verspricht, der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE er habe im Finanzmarktbereich und in anderen Politikbe- LINKE]) reichen den großen grünen Knopf gefunden, auf den man drücken könne, und dann werde alles gut, dann Ich habe gesagt, dass die Krise durch diese Branche glauben Sie ihm nicht. verursacht worden ist. In dem Zusammenhang möchte ich sagen, was mich des Weiteren stört. Es wird immer Danke schön. wieder gesagt – die Kollegen, die in diesem Bereich als Berichterstatter tätig sind, kennen es genauso wie ich –: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 23892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Kindererziehung in der Rente besser berück- (C) Kollege Ralph Brinkhaus war der letzte Redner in un- sichtigen serer Debatte, die ich folglich nun schließe. – Drucksache 17/10994 – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Finanzausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wurfs auf Drucksache 17/10974 an die in der Tagesord- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Ausschuss für Gesundheit andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE gesordnungspunkte 7 a bis 7 i auf: LINKE a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Eine solidarische Rentenversicherung für alle W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Erwerbstätigen weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE – Drucksache 17/10997 – LINKE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Wiederherstellung eines Lebensstandard si- Finanzausschuss  chernden und strukturell armutsfesten Ren- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tenniveaus Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 17/10990 – f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Überweisungsvorschlag: W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Finanzausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie LINKE Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Risiko der Erwerbsminderung besser absi- Ausschuss für Gesundheit chern b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias – Drucksache 17/10992 – W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, (B) Überweisungsvorschlag: (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) LINKE Finanzausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Altersarmut wirksam bekämpfen – Solidari- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  sche Mindestrente einführen Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 17/10998 – g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Überweisungsvorschlag: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss  LINKE Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Angleichung der Renten in Ostdeutschland Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Ausschuss für Gesundheit auf das Westniveau bis 2016 umsetzen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias – Drucksache 17/10996 – W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Finanzausschuss  LINKE Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  Rente erst ab 67 sofort vollständig zurückneh- Ausschuss für Gesundheit men h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias – Drucksache 17/10991 – W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) LINKE Finanzausschuss  Rente nach Mindestentgeltpunkten entfristen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  – Drucksache 17/10995 – Ausschuss für Gesundheit Überweisungsvorschlag: d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Finanzausschuss  Ausschuss für Wirtschaft und Technologie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  LINKE Ausschuss für Gesundheit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23893

Vizepräsident Eduard Oswald (A) i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Die Frauen in der Union fordern ähnlich wie wir, dass (C) W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, allen Müttern und Vätern für jedes Kind bei der Renten- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE berechnung drei Jahre Kindererziehungszeiten gutge- LINKE schrieben werden. Sie fordern das allerdings nur im Hin- blick auf diejenigen, die in Zukunft in Rente gehen Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wie- werden. Wir sagen: Es muss gelten, dass jedes Kind dem der einführen Staat und der Gesellschaft gleich viel wert ist, und des- – Drucksache 17/10993 – halb müssen wir diejenigen Mütter und Väter, die vor 1992 Kinder bekommen haben, gleichstellen. Es ist Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) nämlich überhaupt nicht einzusehen, dass es für diese Finanzausschuss  Kinder nur 74 bis 84 Euro mehr Rente gibt und für Kin- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der, die bis 1991 geboren wurden, nur 25 bis 28 Euro Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  mehr. Damit wir diese Gleichstellung zustande bringen, Ausschuss für Gesundheit sollten Sie auch diesem Vorschlag der Linken zustim- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die men. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Beifall bei der LINKEN) keinen Widerspruch. Sie sind infolgedessen damit ein- verstanden. Das ist also beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ja, es ist richtig: Man muss darüber reden, dass es Armut trotz Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer Erwerbsarbeit gibt. Wir brauchen am Arbeitsmarkt gute Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Tariflöhne. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindest- . Bitte schön, Kollege Matthias lohn. Zwei Drittel der Leiharbeiterinnen und Leiharbei- Birkwald. ter erhalten, wie wir diese Woche gehört haben, Niedrig- (Beifall bei der LINKEN) löhne. Deswegen müssen wir die Leiharbeit regulieren. Wir würden sie am liebsten verbieten. Ich könnte noch vieles mehr nennen. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Trotz der Tatsache, dass es gute Erwerbsarbeit gibt, Kollegen! Warum legt Ihnen die Linke neun einzelne haben wir das Problem der Altersarmut. Deswegen müs- Anträge vor? Nun, die Linke will konkrete und schnelle sen wir an die Gründe dafür herangehen. Einer der Verbesserungen – am besten natürlich in Form des ge- Hauptgründe ist das weiter absinkende Rentenniveau. samten linken Rentenkonzepts, das wir hier bereits im Das ist ein wesentlicher Risikofaktor für Altersarmut. März debattiert haben. Wir wissen aber, dass das hier im Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. Das muss geän- (B) Parlament noch nicht mehrheitsfähig ist. dert werden. Die Rente muss wieder den Lebensstandard (D) sichern. In einzelnen Punkten gibt es jedoch Übereinstimmun- gen. Uns geht es hier um konkrete einzelne Schritte im (Beifall bei der LINKEN) Kampf gegen Altersarmut und für eine gute Rente. Damit das geschieht, muss das Rentenniveau auf 53 Pro- (Beifall bei der LINKEN) zent angehoben werden. Durchschnittlich verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hätten rund In der Rentenpolitik muss sich etwas bewegen, und 160 Euro Rente verloren, wenn das Rentenniveau heute darum fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kolle- nur noch bei 43 Prozent läge. Das ist doch ein Skandal! gen: Verweigern Sie sich nicht. Machen Sie mit. Legen Sie Ihre parteipolitischen Scheuklappen ab, und unter- (Beifall bei der LINKEN) stützen Sie die Forderungen, die Sie selbst für richtig Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, halten. manche von Ihnen wollen aus guten Gründen ebenfalls (Beifall bei der LINKEN) das Rentenniveau anheben oder zumindest beibehalten. Darum bitte ich Sie: Ordnen Sie Ihre rentenpolitische Da komme ich direkt zur CDU/CSU. Jüngst war im Vernunft nicht leichtsinnig dem Vizekanzlerkandidaten- Handelsblatt zu lesen, dass Sie, Herr Kollege Weiß, und konzept Ihrer Partei unter und unterstützen Sie diesen Karl-Josef Laumann von der Christlich-Demokratischen Antrag, der Millionen von hart arbeitenden Männern und Arbeitnehmerschaft Frauen zugutekäme. (Zuruf von der CDU/CSU: Gute Männer!) (Beifall bei der LINKEN) – wie im Übrigen auch die SPD – fordern, die Rente Weitere rentenpolitische Kürzungsmaßnahmen for- nach Mindestentgeltpunkten für Zeiten nach 1992 fort- cieren das Problem der Altersarmut, zum Beispiel die zuführen. Das ist eine gute Idee, weil lange Jahre zu Rente erst ab 67. Deswegen muss sie abgeschafft wer- niedriger Löhne in der Rente deutlich besser bewertet den. würden. Darüber hinaus käme diese Rentenform Frauen (Beifall bei der LINKEN) zugute. Verzichten Sie auf die Einkommensanrechnung, und stimmen Sie unserem Vorschlag zu. Dann sind wir Bei der Erwerbsminderungsrente sind Abschläge sys- an dieser Stelle auf einem guten Weg für Menschen mit temfremd. Wer krank ist, hat keine Wahl. Darum müssen niedrigen Löhnen. die Abschläge aus der Erwerbsminderungsrente heraus. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 23894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Matthias W. Birkwald (A) Hinein in die Rente müssen aber unbedingt wieder die Deutschland hat im Durschnitt die älteste Bevölkerung (C) Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose, die von dieser in Europa und die zweitälteste in der Welt. Die Deut- Regierung auf null gesetzt worden sind. Hartz-IV-Be- schen werden immer älter und bekommen immer weni- troffene dürfen nicht unter die Räder geraten. Deswegen ger Kinder. Im Jahr 2010 war nicht einmal jeder siebte brauchen wir anständige Rentenbeiträge für Langzeit- Deutsche jünger als 15 Jahre und zugleich jeder fünfte arbeitslose. 65 Jahre und älter. Pro 1 000 Einwohnerinnen und Ein- wohner werden nur noch acht Kinder geboren. Damit ist (Beifall bei der LINKEN) Deutschland weltweit bei einem Negativrekord ange- Insgesamt ist es wichtig, dass alle Erwerbstätigen in langt. die Rentenversicherung einbezogen werden, also auch Selbstständige, Beamtinnen und Beamte und vor allen Auf der anderen Seite gibt es eine eigentlich erfreuli- che Entwicklung, nämlich dass die Lebenserwartung der Dingen Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, Staatssekretärinnen und Staatssekretäre. Deutschen kontinuierlich ansteigt, um etwa sechs Wo- chen pro Jahr. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Durch- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hilft der schnitt die Aussicht, noch mindestens 20 Jahre zu leben. Rentenkasse ungemein!) Das sind fünf Jahre mehr, als es für einen 60-Jährigen im Jahr 1960 galt. Bei den Frauen sind es sogar 24 Jahre Alle Erwerbstätigen sollen in die Rentenversicherung und damit 6 Jahre mehr, als es für eine Frau im Jahr 1960 einzahlen, und zwar entsprechend der Löhne und Gehäl- galt. ter, die sie beziehen. Wer ein Gehalt von 10 000 Euro im Monat hat, soll auch für 10 000 Euro Rentenversiche- Mir persönlich, auch unserer Fraktion, CDU/CSU, rungsbeiträge zahlen und nicht nur für 5 600 Euro. fallen eine Menge wünschenswerter Dinge ein, die wir zugunsten unserer Rentnerinnen und Rentner neu ins (Beifall bei der LINKEN) Gesetz schreiben könnten. Aber wir wissen auch: Die Ein ganz wichtiger Punkt: 22 Jahre nach der Einheit umlagefinanzierte Rente bedeutet, dass das, was wir muss endlich Schluss sein mit der erbärmlichen Sankt- heute und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Nimmerleins-Tag-Politik. Union und FDP und die Kanz- Rentnerinnen und Rentnern zusätzlich geben, von den lerin persönlich haben ihre Wählerinnen und Wähler immer weniger werdenden jungen Leuten, die eines Ta- belogen. Rentnerinnen und Rentner im Osten, die durch- ges in Arbeit und Brot stehen werden, bezahlt werden schnittlich verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeit- muss. nehmer waren, erhalten immer noch durchschnittlich 142 Euro weniger Rente im Monat. Es muss aber gelten: (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) (B) Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Deswegen Offensichtlich blendet die Linke dies schlichtweg aus. (D) müssen wir jetzt angleichen und die Sache bis 2016 ab- Sie ist die jugendfeindlichste Partei, die es in Deutsch- schließen. land gibt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wir haben derspruch bei Abgeordneten der LINKEN – schon heute Altersarmut. 436 000 Menschen befinden Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! sich in der Grundsicherung im Alter. Rechnet man die Sie nehmen doch den Jungen von heute die Dunkelziffer hinzu, stellt man fest, dass es um weit über Rente weg!) 1 Million Menschen geht. Deswegen brauchen wir schon In einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Um- heute eine solidarische Mindestrente in Form eines ein - frage haben 41 Prozent der Befragten erklärt, dass sie kommens- und vermögensgeprüften steuerfinanzierten den Generationenvertrag, auf dem die Rente basiert, für Zuschlags. Denn es muss gelten: Niemand soll im Alter ungerecht halten. Dies begründeten sie damit, dass Jün- in Armut leben müssen. gere in diesem System zu stark belastet werden. Ich Herzlichen Dank. frage mich: Welche Akzeptanz würde das Alterssiche- rungssystem in Deutschland bei der Bevölkerung finden, (Beifall bei der LINKEN) wenn wir die Jüngeren noch mehr belasten würden,

Vizepräsident Eduard Oswald: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Man müsste Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Ich weise darauf sie aufklären und nicht auf die Bäume trei- hin, dass wir uns hier im Hause einig sind, dass das Wort ben!) „Lüge“ nicht parlamentarisch ist. als es nach der heutigen rechtlichen Regelung der Fall Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU ist? unser Kollege Peter Weiß. Das zeigt mir, verehrte Damen und Herren: Ein Al- terssicherungssystem kann nur funktionieren, wenn es Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Generationengerechtigkeit abbildet, wenn die Zusage an Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Älteren gilt, dass sie eine sichere Rente bekommen, Das Statistische Bundesamt hat uns erst kürzlich die und wenn die Jüngeren wissen, dass sie das von dem, neuesten Untersuchungen zur Bevölkerungsentwick- was sie eines Tages durch ihre Arbeit verdienen werden, lung in Deutschland vorgelegt, und es hat festgestellt: finanzieren können. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23895

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Wenn wir – die meisten Anwesenden im Plenum des (C) Herr Kollege Peter Weiß, gestatten Sie eine Zwi- Deutschen Bundestages kommen aus geburtenstarken schenfrage unseres Kollegen Ralph Lenkert? Jahrgängen – und unsere Altersgenossinnen und Alters- genossen eines Tages Rentnerin oder Rentner sein wer- den, dann werden diese geburtenstarken Jahrgänge, die Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): dann ja auch die geburtenstarken Rentnerinnen- und Bitte schön. Rentnerjahrgänge sein werden, durch das finanziert wer- den müssen, was die jungen Leute – letztes Jahr haben Vizepräsident Eduard Oswald: wir, glaube ich, 640 000 Geburten in Deutschland ge- Bitte schön, Herr Kollege. habt; das war also nicht einmal die Hälfte der Menschen, die 1964 geboren worden sind – für die Sicherstellung des Rentenaufkommens aufbringen. Wie diese Rech- Ralph Lenkert (DIE LINKE): nung aufgeht, das können uns die Linken nicht erklären. Vielen Dank. – Herr Kollege Weiß, Sie sagen immer, Sie handeln mit ihren Anträgen fundamental gegen das wir müssten aus Gründen der Demografie heute die Ren- Gesetz: Generationengerechtigkeit ist die Grundlage ei- ten der Zukunft abschmelzen. ner solidarischen Sozialversicherung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Nein, das habe ich nicht gesagt. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Peter Weiß, ich frage Sie, ob Sie eine Ralph Lenkert (DIE LINKE): weitere Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke, näm- Ich stelle Ihnen eine Frage. Ich betrachte es jetzt ein- lich unseres Kollegen Matthias Birkwald, beantworten mal unabhängig vom Geld, einfach nur von den Produk- wollen. ten her. Die Generation, die, so wie Sie und ich, im Ar- beitsleben ist, muss in ihrem Arbeitsleben alle Güter, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): materiellen Werte und Ausbildungsmittel produzieren Das mache ich alles sehr gerne. und bereitstellen, die notwendig sind, um die Seniorin- nen und Senioren zu versorgen und gleichzeitig die Aus- Vizepräsident Eduard Oswald: bildung der kommenden Generation sicherzustellen; das Bitte schön, Kollege Matthias Birkwald. muss sie machen. Ich betrachte das jetzt unabhängig vom Geld, rein von den Waren her. In 40 Jahren muss Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (B) die Generation, die dann im Arbeitsleben sein wird – un- (D) Herzlichen Dank, Herr Präsident. Herzlichen Dank, abhängig davon, wie groß diese Gruppe sein wird –, Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ge- ebenfalls für die Seniorinnen und Senioren und gleich- fragt, ob wir Ihnen das erklären können. Auf diese Frage zeitig für die nachwachsende Generation die Mittel be- von Ihnen hin habe ich mich gemeldet. Ich bin jetzt reitstellen. gerne bereit, Ihnen das zu erklären. Jetzt kommt meine Frage an Sie: Welche Produkte (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/ und Güter kann ich 40 Jahre lang einlagern und aufhe- CSU]: Dann ist das aber keine Frage!) ben, die ich dann in Anwendung bringen kann, wenn nicht mehr genügend produziert wird? Denn Geld kann Zu Bismarcks Zeiten kamen 12 Erwerbsfähige im Al- man ja bekanntlich nicht essen. ter zwischen 15 bis 65 Jahren auf 1 Rentner und 1 Rent- nerin. Im Jahre 1916 wurde das Renteneintrittsalter von (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger 65 Jahren eingeführt; da waren es immer noch ungefähr [CDU/CSU]: Einen Trabbi! – Dr. Axel Troost 12. Bei Einführung der dynamischen Rente durch Ihren [DIE LINKE]: So kann man es auch erklären! Parteifreund Dr. Adenauer 1957 und 1960 waren es Das ist auch eine Variante!) 5,8 Menschen im erwerbsfähigen Alter, die einen Rent- ner oder eine Rentnerin finanzieren mussten. Im Jahre 2010 waren es 3,3, und in Zukunft, in den Jahren 2030 Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): und 2040, werden es 2 sein. Ein Einlagern findet in der gesetzlichen Rente nicht statt. Weil das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Diesen großen demografischen Wandel von 12 Er- nehmer heute einzahlen, am nächsten Tag an die Rentne- werbsfähigen, die es brauchte, um 1 Rentner oder rinnen und Rentner ausgegeben wird, funktioniert dieses 1 Rentnerin zu ernähren, auf heute 3,3 und auf in Zu- System immer. Da haben Sie recht. kunft 2 kann man bewältigen durch zwei Punkte, näm- lich durch steigendes Wirtschaftswachstum – durch ein (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) größer werdendes Bruttoinlandsprodukt, das über Jahre und Jahrzehnte im Durchschnitt immer um die 1,4 oder Aber das Problem, vor dem wir in Deutschland stehen, 1,5 Prozent gelegen hat – und durch eine steigende Ar- ist: Heute sind die sogenannten geburtenstarken Jahr- beitsproduktivität, die im Durchschnitt immer bei gänge – hoffentlich – allesamt im Erwerbsleben. An der 1,7 oder 1,8 Prozent gelegen hat. Spitze befindet sich der Jahrgang 1964. Damals sind die meisten Kinder in Deutschland geboren worden, näm- Das heißt, selbst wenn die Rentenbeiträge deutlich lich 1,35 Millionen. anstiegen – in Zukunft, nicht heute –, dann hätten die 23896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Matthias W. Birkwald (A) Menschen bei einem Wirtschaftswachstum auf diesem Meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was ich (C) niedrigen prozentualen Niveau trotzdem mehr in der Ta- vorgetragen habe, heißt nicht, dass im Rentensystem sche als heute, und wir könnten sowohl die Älteren als nicht gehandelt werden muss, wenn Sicherheit im Alter auch die Jüngeren finanzieren. Hinzu kommt Folgendes: für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Als die gerade von Ihnen angesprochenen geburtenstar- auch in Zukunft eine verlässliche Perspektive sein soll. ken Jahrgänge jung waren – ich bin ja auch einer aus die- Insofern ist es gut, zunächst einmal an den Problem- sem Jahrgang –, mussten für sie Kindertagesstätten, punkten anzusetzen. Grundschulen, Universitäten etc. finanziert werden; da- mals gab es aber wenig Ältere. Dieser Gesamtquotient, Wenn man sich anschaut, welche älteren Mitbürgerin- also die Jungen und die Alten gemeinsam im Verhältnis nen und Mitbürger heute ergänzend auf den Bezug von zur erwerbstätigen Bevölkerung, war schon im Jahre Leistungen der Grundsicherung, also auf staatliche Sozi- 1970 niedriger, als er in Zukunft sein wird. alhilfe, angewiesen sind, weil ihr Einkommen im Alter nicht ausreicht, dann fällt auf, dass darunter vor allem Sind Sie also bereit, anzuerkennen, dass man mit dem solche Menschen sind, die wegen Krankheit oder Wirtschaftswachstum und mit der Arbeitsproduktivitäts- bedingt durch einen Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsle- steigerung in Zukunft sehr wohl in der Lage ist, anstän- ben ausscheiden mussten. Schon heute müssen 9,6 Pro- dige Renten für die heute jüngere Generation zu zahlen? zent der sogenannten Erwerbsminderungsrentner ergän- (Beifall bei der LINKEN) zende Leistungen der Grundsicherung beziehen, und in der Perspektive steigt dieser Anteil deutlich an. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir in der Herr Kollege Birkwald, wir können selbstverständlich Koalition bereits vereinbart haben, die Berechnung der gern ein historisches Seminar hier im Plenum des Deut- Erwerbsminderungsrente deutlich zu verbessern, um schen Bundestages durchführen. dieser – derzeit größten – sozialpolitischen Herausforde- rung klar zu begegnen. Wir wollen, dass Erwerbsminde- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ein rungsrentner künftig besser dastehen als heute, damit sie Wirtschaftsseminar!) nicht auf Leistungen der staatlichen Grundsicherung an- Sie haben natürlich manches verschwiegen. Sie haben gewiesen sind. die Einschnitte durch den Ersten und den Zweiten Welt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und krieg verschwiegen, und Sie haben verschwiegen, wie der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE hoch die Beiträge beim Start der Rentenversicherung waren, nämlich unter 10 Prozent, und wo sie heute ste- LINKE]: Dann können Sie unseren Antrag un- hen. terstützen!) (B) (D) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Und die Da unser Alterssicherungssystem, vor allen Dingen Rentenhöhe!) seit Rot-Grün es 2001 umgebaut hat, davon lebt, dass man ergänzend für das Alter vorsorgt, ist die Frage zu – Sie haben auch die Rentenhöhe verschwiegen. – stellen, warum nicht auch die ergänzende Altersvor- sorge, also die betriebliche bzw. private Vorsorge, im (Manfred Grund [CDU/CSU]: Und den Fall des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente eine Beitrag!) Leistung erbringt. Morgen bringt die Koalition einen Sie negieren schlichtweg, dass es eine in Deutschland in Gesetzentwurf ins Parlament ein, mit dem sie den Anteil dieser Form bislang noch nie dagewesene Situation ist, eines Riester-Sparvertrages, der für den Fall einer Er- werbsminderungsrente vorgesehen werden kann, erhö- ( [DIE LINKE]: Das ist doch hen will. falsch!) Als ich vorgestern auf dem Arbeitgebertag hier in – doch! – Berlin an einer Diskussion teilgenommen habe, war ich (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein, das ist positiv überrascht, dass die Befürworter der betriebli- falsch!) chen Altersvorsorge auf den Vorschlag, auch in diesem Bereich eine verbindliche Vorsorge für den Erwerbsmin- dass wir eine solch große Zahl geburtenstarker Jahr- derungsfall zu treffen, durchaus positiv reagiert haben. gänge haben – diese Personen sind heute zwischen Insofern gilt: Die zweite und dritte Säule der Alters- 35 und 55 Jahre alt –, dass wir danach aber deutlich klei- sicherung müssen für den Fall der Erwerbsminderungs- nere Jahrgänge haben, was die Anzahl der geborenen rente mehr leisten, als es heute der Fall ist. Jungen und Mädchen anbelangt, während wir es gleich- zeitig mit einer deutlich höheren Lebenserwartung als in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Vergangenheit zu tun haben. Das heißt, einen sol- der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Zum chen demografischen Wandel, wie er uns in den kom- Wohl der Konzerne!) menden Jahren erwartet, hat es in dieser Form in Deutschland historisch noch nie gegeben. Generell gilt: Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt und für das Alter vorgesorgt hat, der sollte sicher (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist falsch!) sein können, dass er im Alter mehr hat als jemand, der Insofern ist die Antwort, die Sie geben, falsch. nicht vorgesorgt und keine Beiträge gezahlt hat. Wir dis- kutieren in der Koalition also zu Recht darüber, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Prinzip im Rentenrecht generell stärker verankern Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23897

Peter Weiß (Emmendingen) (A) können. Der Vorschlag „Mindestrente für alle“ ist aber tragssätze. Hier seid ihr völlig ignorant. Bei uns in der (C) ein Schlag ins Gesicht von Gerechtigkeit: Partei gibt es eine heftige Debatte über das Leistungs- niveau. Ich gebe hier unumwunden zu, dass das noch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Nicht nicht entschieden ist. Der jungen Generation aber zu sa- für alle! Nur für die, die es brauchen!) gen: „Bei 43 Prozent werdet ihr altersarm“, und dann zu ein Schlag ins Gesicht von Generationengerechtigkeit erwarten, dass dieses System bei der jüngeren Genera- und Leistungsgerechtigkeit. Wir setzen uns für ein Ren- tion Akzeptanz findet, ist fast schon zynisch. tensystem ein, in dem auch zukünftig gilt: Wer etwas ge- leistet und vorgesorgt hat, der soll mehr haben als derje- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nige, der nicht vorgesorgt und nichts geleistet hat. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist Gerechtigkeit im Rentensystem. Da ich gerade dabei bin: Diese Ministerin ist in dieser Vielen Dank. Legislaturperiode mit all dem, was sie rentenpolitisch auf den Weg bringen wollte, kläglich gescheitert. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuschussrente hat noch nicht einmal die Ressortabstim- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das gilt mung überlebt. Jetzt habt ihr eine neue Kommission zur doch schon seit zehn Jahren nicht mehr! Das Entwicklung von Plänen gegen Altersarmut eingesetzt. ist doch alles schon Vergangenheit!) Ein Jahr lang habt ihr für eine Zuschussrente getagt, die am Ende nicht realisiert worden ist – übrigens korrekter- Vizepräsident Eduard Oswald: weise nicht, weil diese Zuschussrente eigentlich eine so- Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner zialpolitische Leistung ist und über Beiträge finanziert für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege werden sollte. Die Ordnungspolitiker in der FDP haben Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf. das korrekterweise verhindert, zwar aus anderen Grün- (Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ den und ideologisch anderer Motivation heraus. Aus CSU]: Toni, bleib bei der Sache!) meiner Sicht haben sie Gott sei Dank verhindert, dass eine Sozialleistung über Beiträge finanziert wird. Anton Schaaf (SPD): Zum Beitragssatz. Da man große Teile der deutschen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einheit über die Beiträge an die Sozialversicherung Respekt vor den Mitgliedern des Hauses gebietet es, finanziert hat, darf man sich über steigende Beitrags- dass ich mich im Wesentlichen mit den Anträgen der sätze nun wirklich nicht wundern und beschweren. Das Linken beschäftige. Aber ich muss sagen: Peter Weiß hat geht nun gar nicht. mich durch die Art und Weise, wie er sich hier gerade (B) (D) dargestellt hat, ganz schön gereizt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: GRÜNEN) Echt? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das kann er sehr gut!) Jetzt zu den Anträgen der Linken, Matthias Birkwald. Ich finde, es ist eine deutliche Verbesserung, dass nicht Peter, die Akzeptanz des Rentenversicherungssystems grundsätzlich alles falsch und einiges sehr zustimmungs- ausschließlich daran festzumachen, wie hoch die Bei- fähig ist, wie zum Beispiel der Punkt, dass man generell tragssätze sind, ist relativ einfach. Allerdings ist das sagt: Die Erwerbsminderungsrente muss verbessert wer- auch ein bisschen schlicht. Für die Menschen ist nämlich den. D’accord! Ihr schreibt in eurem Antrag allerdings auch wichtig, was dabei herauskommt. auch, dass die Zugänge offener werden müssen. Hierbei (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: will ich lieber genau wissen, worüber wir reden, bevor Richtig!) ich einem solchen Antrag zustimme. Beides muss in einem vernünftigen und gesunden Ver- Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten: D’accord! hältnis zueinander stehen. Alle Anträge haben letzten Endes aber gleichermaßen (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) wenig Substanz. Dass sie beispielsweise nicht mit Zah- Indem die Arbeitsministerin darauf hingewiesen hat, len unterlegt sind, ist wohl auch beabsichtigt. Ihr fordert dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent des die Bundesregierung mit diesen Anträgen auf, zu han- durchschnittlichen Nettolohns sinkt, hat sie Angst vor deln. Dann muss man auch nicht konkret werden. Bei Altersarmut geschürt. Sie hätte es eigentlich besser wis- ganz vielem würde ich aber gerne wissen, was ihr genau sen müssen; denn im Gesetz steht: Bei einem Renten- damit meint. niveau von 46 Prozent ist die Regierung aufgefordert, Ihr sprecht zum Beispiel von der Wiederherstellung Vorschläge dafür zu machen, wie man dieses Niveau der lebensstandardsichernden Rente. halten kann. 43 Prozent sind überhaupt kein Ziel. Die Ministerin hat versucht, diese Truppe, die rentenpoli- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) tisch völlig zerstritten ist, auf den Weg zur Zuschuss- rente zu zwingen. Was heißt das denn konkret? Bei der Rentenversicherung geht es immer auch um (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: die Akzeptanz der Leistungen und nicht nur der Bei- 53 Prozent!) 23898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Anton Schaaf (A) Heißt das, eine Rentenhöhe von 53 Prozent ist lebens- Ab wann wird gekappt, und in welcher Höhe wird ge- (C) standardsichernd? Ich bin da anderer Meinung. Für eine kappt? Friseurin, eine Krankenschwester oder eine Frau in ei- nem typischen Frauenberuf werden diese 53 Prozent nie- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Toni, mals lebensstandardsichernd sein. das steht in der Begründung drin!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! Das ist auch eine Frage von Akzeptanz. Deswegen wollen wir ja eine Mindestrente!) Jetzt haben 80 000 Selbstständige Frau von der Leyen Daher ist das Ganze an dieser Stelle nicht konsistent, per Internet die Mitteilung zukommen lassen, dass sie also ein Widerspruch. Insofern bin ich hier etwas anderer nicht zwangsweise in die gesetzliche Rentenversiche- Meinung. rung hineinwollen. Also, man braucht auch für einen sol- chen Weg Akzeptanz. Nun zur solidarischen Mindestrente. Auch wir haben gesagt, man brauche eine Mindestabsicherung für Men- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil es schen, die langjährig gearbeitet haben. Ihr sagt aber: Wir zu teuer ist!) brauchen eine Mindestabsicherung für Menschen, auch Die Frage Angleichung von Ost und West ist in der wenn sie überhaupt keine Beiträge gezahlt haben. Tat eine, die wir auf dieser Seite des Hauses abladen (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So können. Sie haben den Menschen im Osten vorgemacht, ist es!) Sie führten in dieser Legislaturperiode Schritte zur ren- tenrechtlichen Angleichung durch. Nichts, gar nichts ist Das ist dann aber keine rentenrechtliche Frage, sondern geschehen. eine sozialpolitische Frage. Dann geht es letzten Endes darum, dass ihr nur die Grundsicherung im Alter von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem jetzigen Betrag von 680 Euro auf 1 050 Euro anhe- der LINKEN) ben wollt. Das sagt dann doch auch! Noch einmal: Das Die Menschen im Osten sind an dieser Stelle belogen gehört dann aber nicht in eine Rentendebatte, sondern in worden. Ich sage das, auch wenn es unparlamentarisch eine sozialpolitische Debatte, und es hat im Rentenkon- ist. Ich entschuldige mich auch sofort dafür. Es ist in der zept letzten Endes nichts zu suchen. Tat so, dass Sie den Menschen vorgemacht haben, Sie (Beifall bei der SPD) würden ihnen helfen. Einige der Menschen im Osten ha- ben Sie wahrscheinlich deshalb gewählt, und sie sind mit Übrigens: Da das sozusagen bedingungslos sein soll, Sicherheit und zu Recht maßlos enttäuscht, dass Sie an also nicht durch Beiträge hinterlegt werden muss, hat die dieser Stelle nichts gemacht haben. (B) euch bei dem bedingungslosen Grundein- (D) kommen sicherlich über den Tisch gezogen. Anders (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das machen kann ich mir nicht erklären, dass das so darin steht. diese Menschen nie wieder!) Bezüglich der Rente mit 67 bin ich völlig anderer Mei- Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten – das steht in nung; das wisst ihr. Innerhalb unserer Partei gibt es auch unserem Konzept; das will ich unumwunden sagen –: keine ausreichende Mehrheit dafür, die Rente mit 67 zu- Das ist in Ordnung. Da können wir mitmachen. rückzunehmen. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein Fort- Zur Frage, ob man Langzeitarbeitslose mit 0,5 Punk- schritt auch in unserer eigenen Debatte: Wir müssen die ten aufwertet: Na ja, man kommt dann schnell in die Ka- Übergänge in die Rente anders, flexibler und sozialver- tegorie derer, die für geringe Gehälter arbeiten, die kei- träglicher gestalten. nen, eventuell nur einen halben oder einen dreiviertel (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da ist was dran!) Entgeltpunkt erarbeiten. Ich sage: Da ist die Rente nach Mindestentgeltpunkten, also die Aufwertung bei nachge- Man kann in der Rückschau natürlich sagen: Wir hätten lagerter Betrachtung, eigentlich das Richtige. Man sollte das eigentlich machen müssen, als wir die Rente mit 67 nicht im Voraus sagen, was jemand auf jeden Fall be- eingeführt haben. Ich halte hier aber kein Geschichts- kommt, sondern man sollte im Nachhinein schauen, wel- seminar und sage nicht, wer schuld daran ist, dass das che Ansprüche jemand hat und wie man sie entspre- nicht gemacht wurde. Das wäre völliger Quatsch. Wir chend aufwerten muss. haben damals für die Rente mit 67 die Hand gehoben, und jetzt geht es darum, die Wege dahin vernünftig zu (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist gestalten. schon ein Unterschied zwischen der Hälfte und drei Viertel!) Was die Erwerbstätigenversicherung angeht, bin ich der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass jeder, Matthias Birkwald, du siehst, wir sind nicht in allen der ein Erwerbseinkommen hat, in irgendeiner Form in Punkten völlig unterschiedlicher Meinung. Aber bei ei- die sozialen Sicherungssysteme einzahlt. Wie die Kap- nigen hätten wir mit Sicherheit noch Diskussionsbedarf, pung oben aussehen soll, zum Beispiel bei einem Abge- bevor ich einem solchen Antrag zustimmen könnte. Da- ordneten, sollte man dann allerdings auch konkretisie- bei wäre der Charme tatsächlich, wenn wir eine Mehr- ren, damit man weiß, worauf man sich einlässt. heit hätten, diese Anträge zu beschließen, weil sie sich ausschließlich an die Bundesregierung richten. Die Bun- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das desregierung soll einmal Konzepte vorlegen. Es wäre steht drin! Steht in der Begründung!) spannend, zu sehen, was bei diesem zerstrittenen Haufen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23899

Anton Schaaf (A) dabei herauskommt. Dabei würde nämlich nichts heraus- Da wäre wirklich weniger mehr. Wen wollen Sie denn (C) kommen, meine Damen und Herren. mit dieser Flut von Anträgen beeindrucken, Herr Kol- lege Birkwald? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal was zum Inhalt!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. – Ich sage ja etwas zum Inhalt. (Zuruf von der CDU/CSU: Unterschätzt uns nicht!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) – Ich komme schon dazu. Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Ich will Ihnen zunächst einmal vorhalten, dass Sie die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte falschen Grundannahmen treffen. Wer von falschen schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb. Werten und falschen Annahmen ausgeht, muss am Ende auch zu falschen Ergebnissen kommen. Am falschesten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist die Annahme, Deutschland brauche neun Anträge der Linken, um rentenpolitisch voranzukommen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Weltbild der Linken ist einfach. Herr Birkwald, Sie wis- CDU/CSU) sen, was richtig ist, und an einer echten Diskussion mit Das ist wirklich nicht der Fall. dem Rest des Hauses ist Ihnen nicht wirklich gelegen. Wir haben mit dem Alterssicherungsstärkungsgesetz, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- das sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, sehr NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren schon bes- deutlich gemacht, dass wir Anpassungen bei der Zurech- ser, Herr Kolb!) nung der Erwerbsminderungsrente wollen, dass wir eine Zu diesem Schluss muss ich jedenfalls kommen – warten demografiefeste Neufassung des Rehabudgets wollen Sie einmal ab, Herr Strengmann-Kuhn –, wenn ich fest- – Stichwort „atmender Deckel“ – und dass wir vor allen stelle, dass Sie neun Anträge zur Beratung angemeldet Dingen Verbesserungen bei den Hinzuverdienstmöglich- haben, die uns am Dienstag, spät am Abend, noch nicht keiten für Rentner wollen. zugegangen waren, (Anton Schaaf [SPD]: Ah!) (B) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) Das ist ein wichtiger Schritt, Toni Schaaf, für den flexi- (D) gestern noch nicht mit einer Bundestagsdrucksachen- blen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. nummer erfasst waren und die wir heute schon mit Ihnen (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- diskutieren sollen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht das im Gesetz- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben entwurf?) aber alle höchstens zwei Seiten!) Daran müssen wir alle ein Interesse haben. Das zeigt: Sie sind ignorant. Sie wollen wirklich nicht Es ist doch nicht so, dass wir nichts täten. Aber so, die Diskussion in der Sache, sondern Sie wollen nur Ihre wie Sie das machen – immer wieder einmal hopplahopp Ideologie nach vorne bringen. An dieser Stelle können ein paar Anträge fallen lassen, und dann geht es zwei Sie mit uns nicht rechnen. Wochen später in die nächste Runde –, kommt man ren- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – tenpolitisch wirklich nicht voran. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie haben ja fangen Sie doch mit der Diskussion an!) gar nichts! Das ist ja das Problem!) Nachdem ich mir diese Anträge heute angesehen Es ist immer schön, wenn man Debattenzeit bekommt habe, muss ich sagen, dass darin wirklich nichts Neues – das ist das einzig Positive an Ihren Anträgen –, in der ist. Sie bringen zum x-ten Mal die gleichen Forderungen. man sich etwas ausführlicher mit einzelnen Aspekten be- Herr Birkwald, Sie kennen vielleicht das Krankheitsbild fassen kann. der Diarrhö. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aha!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zum Glück nicht!) Eine weitere Fehlannahme von Ihnen ist nämlich, das Rentenniveau sinke auf 43 Prozent, das sei im Gesetz so Ich sorge mich wirklich, dass irgendjemand in Ihrer festgeschrieben. Fraktion an „Graphorrhö“ leidet und nicht mehr kontrol- lieren kann, was aus seinem Computer oder aus seiner (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch Feder herausläuft. nicht! – Anton Schaaf [SPD]: Hat die Ministe- rin auch gesagt!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine Spitzenauseinandersetzung, die Sie da ge- Das steht so nicht im Sozialgesetzbuch VI, Herr Kol- rade bringen!) lege Birkwald. Ich finde da nur eine Rentenformel. Die 23900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Rentenformel beinhaltet einen Nachhaltigkeitsfaktor, grenze ab und flachen am oberen Ende die Ansprüche (C) mit dem der Rentenanstieg gedämpft wird, der erworbenen Anwartschaften ab. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) dem die Rente gekürzt wird!) Ich sage Ihnen: Das ist verfassungswidrig. und zwar in Abhängigkeit von dem Verhältnis der Äqui- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) valenzrentner – das ist ein statistisches Modell – zu den Äquivalenzbeitragszahlern. Wie sich das tatsächlich ent- Damit werden Sie in Karlsruhe zwangsläufig scheitern. wickelt, steht auf einem ganz anderen Papier. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich Ich will Ihnen einmal Zahlen nennen, damit wir etwas wette dagegen!) Neues in die Debatte hineinbekommen. Unter rot-grüner Regierungszeit sank das Nettorentenniveau von 53,6 Pro- Aber diese beiden Annahmen – mehr Redezeit habe zent im Jahre 1998 auf 50,0 Prozent im Jahre 2005. Ak- ich leider nicht – zeigen, dass Sie mit Ihren rentenpoliti- schen Anträgen auf einem vollkommen falschen Funda- tuell, Juni 2012, liegt das Rentenniveau praktisch unver- ment stehen. Ich kann Sie nur noch einmal dazu auffor- ändert hoch bei 49,9 Prozent statt den von dern, Herr Birkwald – das spart auch ein bisschen Arbeit damals für diesen Zeitpunkt prognostizierten 47,5 Pro- und Energie –: Produzieren Sie weniger, aber dafür bes- zent. Merken Sie etwas? Es kommt darauf an, wie man sere Anträge. es macht, wie sich die Dinge am Arbeitsmarkt entwi- ckeln. Dann kommen Sie auch zu zählbaren Ergebnissen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir machen in der Politik. In dem Rentenversicherungsbericht 2011 viel und das gut! Das ist noch besser!) – wir werden bald neuere Zahlen bekommen – geht man von 47,8 Prozent für 2020 und 46,2 Prozent für 2025 Dann haben Sie vielleicht irgendwann einmal die Chance, mit uns in einen ernsthaften Dialog über Ihre aus. Das ist alles mehr als 43 Prozent. Vorstellungen einzutreten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dass wir mit das fördert alles Armutsrenten!) der FDP in einen ernsthaften Dialog kommen, Anstatt jetzt Krokodilstränen darüber zu vergießen, glaube ich nicht!) dass das alles so schlimm sei, sollten wir gemeinsam un- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sere Anstrengungen darauf richten, dass über die beein- flussbaren Faktoren in der Rentenformel die Renten- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) anpassung in Zukunft möglichst ungedämpft verläuft. (D) Das ist doch das Ziel, das uns umtreiben muss. Vizepräsident Eduard Oswald: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dafür haben Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die wir die neun Anträge unterbreitet!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege Dabei sind Flexibilisierung und längere Teilhabe am Er- Dr. Strengmann-Kuhn. werbsleben ein Thema. Da ist die Frage zu beantworten, wie Teilzeitstellen in Vollzeitstellen umgewandelt wer- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ den können, und andere Dinge mehr. Das wäre des DIE GRÜNEN): Schweißes der Edlen wert. Aber so, wie Sie das hier ma- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es chen, geht es meines Erachtens nicht. wäre schön, Herr Kolb, wenn die Regierungskoalition Falsch ist auch Ihre Annahme – das ist der zweite einmal etwas vorlegen würde, aber es gibt nichts. Punkt, den ich in der verbleibenden Zeit noch kurz anrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßen kann –, das Rentensystem würde dann stabiler, wenn und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten man mehr Menschen in das System einbezieht. Das ist der SPD) falsch. Es gibt einen Referentenentwurf, der in der Ressortab- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) stimmung ist, aber schon wieder kassiert worden ist. In dieser einfachen und schlichten Darstellung, wie Sie Hier im Bundestag diskutieren wir immer nur über An- das bringen, ist das falsch. Denn die Menschen, die in träge der Oppositionsfraktionen. das System einbezogen werden, zahlen Beiträge und er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, es gibt werben mit ihren Beiträgen Anwartschaften. Das heißt, einen!) man kann vielleicht kurzfristig ein Strohfeuer entfachen. Aber wir haben in der Rente ein langfristiges und struk- Es gibt diesen einen Gesetzentwurf, mit dem der Au- turelles Problem. Das lösen Sie nicht damit, dass Sie tomatismus, der im Gesetz steht, umgesetzt werden soll. mehr Menschen in das System aufnehmen. Das ist aber auch schon alles. Sonst gibt es keine zu- kunftsweisenden Konzepte der Regierungskoalition, zu- Man kann natürlich jetzt so wie Sie sagen, wir neh- mindest keine abgestimmten. Es gibt viele verschiedene men nicht nur mehr Menschen in das Rentensystem auf, Konzepte. Die FDP hat eines. In der CDU gibt es min- sondern wir schaffen auch die Beitragsbemessungs- destens zwei Konzepte. Im BMAS gibt es ein weiteres Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23901

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Konzept. Die CSU hat eines. Aber hier herrscht Leere. schaffen. Wir wollen, dass der Rentenwert Ost auf den (C) Darüber kann man nicht diskutieren. Rentenwert West angehoben wird; denn Altersarmut ist besonders im Osten bedrohlich. Sie wird dort besonders Meine Redezeit läuft schon. Ich kann nicht auf alle ansteigen. Die Garantierente, die wir vorschlagen, soll neun Anträge eingehen, sondern will mich auf vier im Osten genauso hoch sein wie im Westen. Punkte konzentrieren. Wir wollen das aber nicht wie die Linken machen, Es ist immer wichtig, zu schauen: Wohin will man bei sondern wir wollen es kostenneutral finanzieren. Das der Rente langfristig? Dann weiß man auch, was jetzt zu heißt, die bisher erworbenen Rentenansprüche sollen tun ist. Ein wesentliches Ziel in dem grünen Rentenkon- gleich bleiben und in Zukunft in Ost und West einheit- zept ist, langfristig eine Bürger- und Bürgerinnenversi- lich berechnet werden. Das soll aber, wie gesagt, mit ei- cherung auch in der Rente zu schaffen. Das, was Sie ner Garantierente verbunden werden, die in Ost und eben dazu gesagt haben, Herr Kolb, ist falsch. West gleich ist. (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) Vierter und letzter Punkt. Nachhaltige Finanzierung Natürlich ist es nachhaltiger, wenn man mehr Menschen ist für uns ein ganz zentrales Ziel. Wir wollen langfristig in der Rentenversicherung hat. Sonst würden sich auch nachhaltige, stabile Beitragssätze in der Rentenversiche- mehr Geburten nicht nachhaltig auswirken. Wenn mehr rung haben. Aus dem Grund ist es falsch, jetzt die Ren- Kinder geboren werden, bekommen auch sie irgendwann tenbeiträge zu senken. Das ist kurzsichtig und nicht einmal Rente. Mehr Menschen in die Rentenversiche- nachhaltig. Wir wollen, dass die Rentenbeiträge jetzt rung einzubeziehen, ist ökonomisch nichts anderes, als nicht gesenkt werden, damit sie über das Jahr 2020 hi- mehr Geburten zu haben. Insofern ist eine Ausweitung naus kontinuierlich unter 20 Prozent bleiben können. auf weitere Bevölkerungsgruppen genauso effektiv wie Außerdem wollen wir frei werdende Mittel dafür ver- mehr Geburten. Sie ist sogar effektiver, weil man nicht wenden – das ist ein zentrales Problem, das auch schon noch 18 Jahre warten muss, bis die Menschen einzahlen; angesprochen worden ist –, die Erwerbsminderungsrente vielmehr zahlen sie sofort ein. zu verbessern. Wer aus medizinischen Gründen nicht (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) mehr arbeiten darf, für den sollten die Abschläge abge- schafft werden. – Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann kann ich darauf reagieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- Mit einer Bürgerversicherung, in die alle – Selbststän- KEN) dige, Beamte, Politiker, Politikerinnen, alle Bürgerinnen (B) und Bürger – einzahlen und an der möglichst alle Ein- Bürgerversicherung, Garantierente und stabile Bei- (D) kommen beteiligt sind, bekommt man langfristig eine tragssätze sind Kernelemente des grünen Rentenkon- nachhaltige Finanzierung hin. Das wäre sozial gerecht zepts. Ein solches Rentenkonzept wäre ökonomisch, und ökonomisch nachhaltig. nachhaltig und sozial gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir wissen, dass wir diese Bürgerversicherung nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf einmal hinbekommen. Das wird schrittweise erfol- gen. Die Wirkung wäre sowieso nur langfristig spürbar. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir müssen aber schneller agieren. Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. – Letz- ter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Deswegen haben wir zweitens das Konzept einer grü- CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, nen Garantierente; das haben wir hier schon des Öfteren Kollege Max Straubinger. präsentiert. Es beinhaltet das Prinzip, dass bei mindes- tens 30 Versicherungsjahren – nicht Beitragsjahren, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dern Versicherungsjahren – 30 Entgeltpunkte garantiert werden. Das wäre ein Niveau, das über dem durch- Max Straubinger (CDU/CSU): schnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. Langfristig Geschätzter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Versicherte wären damit so gestellt, dass sie nicht auf Kollegen! Die Fraktion Die Linke überhäuft uns Grundsicherung angewiesen sind. Dadurch erhöhen wir wiederum mit Anträgen, die sie schon x-mal gestellt hat die Akzeptanz der Rentenversicherung und verhindern und die letztendlich nur dazu dienen, hier ein Bild zu drohende Altersarmut. Diese grüne Garantierente ist ein zeichnen von einer angeblich sehr schwierigen Rentensi- zentrales grünes Konzept. tuation in Deutschland. Das ist ein verzerrtes Bild. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Heute hat das Statistische Bundesamt nachgewiesen, Dritter Punkt: Ost-West-Angleichung. Dazu sagen dass die Zahlen der Grundsicherung um auch wir, dass wir – wir wollen das noch schneller als 5,9 Prozent gestiegen sind!) die Linken – ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West brauchen. Nach über 20 Jahren deutscher Einheit Ich möchte zuerst feststellen, Herr Kollege Birkwald, ist es wichtig, die innerdeutsche Mauer bei der Rente dass das Rentenniveau in Deutschland ständig steigt und endlich abzureißen und ein einheitliches Rentenrecht zu dass darüber hinaus vor allen Dingen auch die Finanz- 23902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Max Straubinger (A) grundlagen für die Rentenversicherung von dieser Bun- deutlich, dass die derzeitige Situation die Menschen im (C) desregierung nachhaltig gefördert worden sind. Deshalb Osten bei der Rentenversicherung bevorteilt. haben wir stabile Rentenfinanzen. Darauf können sich Ein weiterer Punkt: Derzeit wird sehr viel über ange- die Bürgerinnen und Bürger verlassen. hende Altersarmut und insgesamt über Altersarmut in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unserer Gesellschaft gestritten. Es ist bezeichnend, dass wir immer darauf bauen und derzeit auch darauf bauen Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, dass können, dass es eine geringe Inanspruchnahme von heute sehr viele Wünsche geäußert werden. Es ist unge- Grundsicherungsleistungen gibt, weil die Versorgung fähr wie beim Wunsch an das Christkind. Vieles von aus der gesetzlichen Rentenversicherung gut ist. Das dem, was gefordert wird, überlegen auch wir; manches zeigt sich vor allen Dingen auch sehr deutlich für die ist auch von uns abgeschrieben worden. Bürgerinnen und Bürger im Osten. (Lachen bei der LINKEN – Matthias W. Die Enquete-Kommission des Landtages von Meck- Birkwald [DIE LINKE]: Davon träumen Sie lenburg-Vorpommern „Älter werden in Mecklenburg- nachts!) Vorpommern“ stellt in einer Kommissionsdrucksache Dafür hätten wir die Linken nicht benötigt. vom 9. Oktober 2012 als Fazit fest – ich darf daraus zi- tieren –: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unser Rentenkonzept ist im Januar vorgelegt wor- In Deutschland wird derzeit viel von Altersarmut den! Davon träumen Sie echt nachts! – Anton gesprochen und insbesondere auf die prekäre Lage Schaaf [SPD]: Der war gut!) von Rentnerinnen verwiesen. Die aktuellen Zahlen beschreiben jedoch ein ganz anderes Bild – auch in Entscheidend ist aber auch, dass wir auf die Finan- MV. zierbarkeit und die Beitragszahlerinnen und Beitragszah- ler in unserem Land achten. Ich glaube, dies ist wichtig Den Älteren steht heute tendenziell mehr Einkom- und entscheidend für eine verantwortliche Rentenpolitik. men zur Verfügung als noch vor zehn Jahren, Ich möchte mich nicht mit allen Anträgen in irgendei- – hört, hört! – ner Art und Weise befassen. Aber eines ist für mich ent- weit über 80 % verfügen über ein gewisses Geld- scheidend und wichtig, nämlich dass die Linke wieder vermögen. Fast die Hälfte der Älteren (40 – 50 % je eine Angleichung der Ost- und Westrenten fordert. Ich nach Altersklasse) weist Haus- und Grundbesitz bin sehr dafür, auf einer tatsächlich sachlich fundierten vor; rund ein Viertel der Rentnerhaushalte und 43 % Grundlage darüber zu reden und es dann vor allen Din- der Jüngeren unter den Älteren (55 – 64 Jahre) kann (B) (D) gen auch in ein Gesetz zu fassen. auf Versicherungsansprüche aus Lebens- und priva- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann machen ter Rentenversicherung bauen. Sie doch mal eine sachlich fundierte Vorlage! – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und die Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum andere Hälfte?) legen Sie dann keinen Gesetzentwurf vor?) Der Anteil von Grundsicherungsbeziehern unter Aber es geht natürlich nicht so, wie Sie es wollen, Herr den Älteren ist und bleibt vermutlich bis 2020 eher Kollege Birkwald. Erstens insinuieren Sie mit Ihrem An- gering. trag, es gäbe eine Benachteiligung der Rentnerinnen und Rentner und der Menschen im Osten Deutschlands. Das Er liegt derzeit bei 1,5 Prozent. ist keineswegs der Fall. Mehr als die Hälfte der über 75-jährigen Frauen in (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Fragen den neuen Bundesländern beziehen neben Versiche- Sie die mal, dann sagen die Ihnen was ande- rungsrenten auch Witwenrenten und erreichen hier- res!) durch von allen Vergleichsgruppen das höchste Renteneinkommen. Denn Sie wissen haargenau, dass die Renten aufgestockt werden und dementsprechend mittlerweile feststellbar (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil sie ist, dass das Rentenniveau im Osten Deutschlands im jahrzehntelang gearbeitet haben! Die haben Durchschnitt höher ist als im Westen Deutschlands. geschlossene Erwerbsbiografien!) Darüber hinaus gilt auch unter aktuellen Gesichts- In MV beziehen rund 34 % der Rentnerinnen Mehr- punkten, Herr Kollege Birkwald: Wenn jemand im Osten fachrenten und erzielen auf diese Weise ein Ein- ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im Jahr hat kommen, das seit 2004 jedes Jahr anstieg; 2011 be- trug es 1 230 Euro. Die Analyse des Bezugs von (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Mehrfachrenten zeigt, dass es notwendig ist, sorg- schon ein Annahmefehler! Das gibt es ja so fältig zwischen den Aussagen zu Renten und Rent- gut wie nicht!) nern zu unterscheiden. und im Westen ebenfalls 30 000 Euro die Grundlage Ich glaube, dass es notwendig ist, bei der Frage von sind, dann erwirbt man im Osten Deutschlands eine Ren- Altersarmut auch darüber zu diskutieren und dies viel- tenanwartschaft von 27,08 Euro im Jahr und im Westen leicht auch einmal stärker in das Blickfeld der Öffent- Deutschlands von 25,95 Euro im Jahr. Das zeigt sehr lichkeit zu rücken. Ich danke ausdrücklich für diese Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23903

Max Straubinger (A) Kommissionsdrucksache, die von der Universität Ros- menbedingungen, der ebenso stark ist. Sie brauchen Ge- (C) tock erarbeitet worden ist. staltungsspielraum, sie brauchen Handlungsfreiheit, Eigenverantwortung, einen autonomen Status ihrer Insti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tution. Dies beschäftigt uns seit langem. Ich habe gerade Damit bin ich auch schon am Ende meiner Redezeit. Frau Flach, die sich, bevor sie ins Gesundheitsministe- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Anträge rium ging, viele Jahre dafür stark gemacht hat, gesagt, der Linken werden wir natürlich ablehnen. dass es uns nun gelingt, den Einrichtungen die Bedin- gungen zu geben, die notwendig sind, um international (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stark und souverän auftreten zu können.

Vizepräsident Eduard Oswald: (Beifall bei der FDP) Wir sind am Ende unserer Aussprache, liebe Kolle- Der Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und drit- ginnen und Kollegen. ter Lesung beraten, hat deshalb auch einen starken und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ungeteilten Zuspruch aus der Wissenschaft bekommen. den Drucksachen 17/10990 bis 17/10998 an die in der Er hat über Fraktionsgrenzen hinweg einen breiten poli- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. tischen Konsens gefunden; das freut mich. Das Gesetz Sie sind damit einverstanden? – Ich sehe keinen Wider- ist damit nicht nur ein Gesetz der einen oder anderen spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Gruppe im Parlament, sondern auch das Ergebnis eines langjährigen Dialoges der wissenschaftspolitischen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Sprecher mit unseren Wissenschaftsorganisationen. Drei Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Säulen tragen dieses Gesetz: Autonomie, Eigenverant- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wortung und Transparenz. zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Autonomie heißt Selbstständigkeit, wenn es um Pro- Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wis- fil, Programme, Projekte und Strategien geht. Die Ein- senschaftseinrichtungen (Wissenschaftsfreiheits- richtungen müssen selbst entscheiden können. Wenn gesetz – WissFG) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschungs- – Drucksachen 17/10037, 17/10123 – projekte betreuen und gestalten, müssen sie immer auch kurzfristig die Möglichkeit haben, neue Wege zu gehen, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- umzuplanen und bislang nicht Vorhersehbares aufzugrei- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- fen. Neue Ansätze müssen berücksichtigt werden, For- schätzung (18. Ausschuss) schungsergebnisse in die weiteren Planungen aufgenom- (B) – Drucksache 17/11046 – men werden. Hierfür ist größtmögliche Flexibilität in der (D) Mittelbewirtschaftung erforderlich. Dafür sind Global- Berichterstattung: haushalte notwendig. Genau das ermöglicht dieses Ge- Abgeordnete  setz. René Röspel Dr. Peter Röhlinger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Petra Sitte Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das viele von uns in den Krista Sager letzten Jahren verfolgt haben: Die Gründungsphase des Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankun- Die Linke vor. gen hat uns gezeigt, wie wichtig diese operative Flexibi- lität vor Ort ist. Nur so können wir aktuelle, gesellschaft- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer inter- lich relevante Forschungsgebiete zügig erschließen und fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine uns im internationalen Vergleich an der Spitze positio- Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind damit einverstan- nieren. den? – Dann haben wir das auch gemeinsam so be- schlossen. Die Wissenschaftseinrichtungen werden durch das Gesetz mehr Freiheit und Selbstständigkeit bei Finanz- Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer und Personalentscheidungen, bei Kooperationen und Aussprache ist für die Bundesregierung Frau Bundes- Bauvorhaben erhalten. Wir machen Ernst mit der De- ministerin Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bun- regulierung und in der Folge dann auch mit dem Büro- desministerin. kratieabbau, nicht nur, weil es effizienter ist, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch, weil wir die Einrichtungen und ihre Mitarbeiterin- neten der FDP) nen und Mitarbeiter darin unterstützen wollen, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Wir wissen, das steigert die Leistung. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- dung und Forschung: Zweitens: Eigenverantwortung. Freiheit ist an Verant- Danke schön, Herr Präsident. – Herr Präsident! Liebe wortung gebunden. Deshalb kann ich Ihnen versichern Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! – das sage ich ganz besonders den Mitgliedern des Haus- Einrichtungen der Wissenschaft stehen in einem starken haltsausschusses, die uns berechtigterweise viele Fragen internationalen Wettbewerb um Wissen und Technolo- gestellt haben –: Die Pilotphase der Wissenschaftsfrei- gien, und sie stehen in einem Wettbewerb um gute Rah- heitsinitiative hat gezeigt, dass die Einrichtungen maß- 23904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) voll und verantwortungsbewusst mit ihrer Selbstständig- für ist es wichtig, dass auch die Hochschulen ein ver- (C) keit umgehen und dass sie unser Vertrauen verdient gleichbares Maß an Autonomie erhalten. haben. Ich bin davon überzeugt: Für die Wissenschaft in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland, für die betroffenen Wissenschaftseinrich- neten der FDP) tungen ist dieses Gesetz Signal zum Aufbruch, eine wei- tere Etappe zur Stärkung in einem harten internationalen Mehr Eigenverantwortung bedeutet auch, die Detail- Wettbewerb. steuerung durch Staat und Verwaltung weiter zurückzu- fahren. Das bedeutet aber nicht Regellosigkeit. Die Ver- Vielen Dank. antwortungsbereiche von Wissenschaftseinrichtungen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Staat und Politik werden insgesamt klarer gefasst und damit auch transparenter. Ich glaube, das ist ein zentraler Punkt. Wir bauen nicht Regeln ab. Autonomie heißt Vizepräsident Eduard Oswald: nicht Anarchie. Vielmehr haben wir neue Formen der Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächster Red- Rechenschaftsgebung und der Rechenschaftslegung. ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial- demokraten unser Kollege René Röspel. Bitte schön, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollege Röspel. Drittens: Transparenz. Transparente Strukturen ma- (Beifall bei der SPD) chen Verantwortung sichtbar. Mit dem Monitoring zum Pakt für Forschung und Innovation und mit den damit René Röspel (SPD): verbundenen Zielvereinbarungen haben wir bereits gute Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Erfahrungen gemacht. Auf diesen Erfahrungen bauen Herren! Zunächst, Frau Ministerin Schavan, herzlichen wir auf. Wir wollen kein starres Berichtswesen, sondern Dank, dass Sie mit relativ wenig Pathos und sehr sach- ein flexibles Instrumentarium, mit dem wir auch kurz- lich in das Wissenschaftsfreiheitsgesetz eingeführt ha- fristig auf aktuelle Entwicklungen reagieren können. Wir ben. wollen keine neue Bürokratie, sondern wir wollen den Abbau bisheriger Bürokratie. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist sie eben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben das in den letzten Wochen und Monaten in Meine Damen und Herren, das Wissenschaftsfreiheits- den Ausschussanhörungen oder in den Debatten manch- gesetz ist schlank konzipiert. Herr Professor Schubert mal durchaus etwas anders erlebt. (B) vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsfor- (D) schung hat dies im Rahmen der Expertenanhörung zur in- Wir debattieren heute in der Tat nicht über Wissen- haltlichen Seite des Gesetzentwurfes treffend formuliert. schaftsfreiheit. Das haben wir im Hohen Hause an ande- Ich zitiere: Es sind sieben einfache Paragrafen, die in wei- rer Stelle durchaus gemacht, immer dann, wenn die Wis- ten Bereichen oder in weiten Teilen eine Diskussion be- senschaftsfreiheit wirklich tangiert war, bei embryonaler enden – zumindest für die außeruniversitäre Forschung –, Stammzellforschung und Ähnlichem. die wir nun seit mindestens 20 Jahren führen. Beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz geht es um die Ich bin davon überzeugt: Das Wissenschaftsfreiheits- Flexibilisierung haushaltsrechtlicher Rahmenbedingun- gesetz wird dem gesamten Wissenschaftssystem positive gen der Forschung, also Erleichterungen im Wissen- Impulse geben. In diesem Zusammenhang nenne ich schaftsmanagement. ausdrücklich auch die Ressortforschungseinrichtungen. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Es Mit dem Entwurf für den Haushalt 2013 hat die Bundes- geht um die Freiheit! – Zuruf von der FDP: regierung auch für solche Einrichtungen wichtige Flexi- Das ist eine Initiative der FDP-Fraktion!) bilisierungen auf den Weg gebracht. Das ist eine Initiative der Großen Koalition von 2008. Und ich freue mich sehr, dass das Parlament auch den Ich habe schon damals kritisiert, dass der Titel eigentlich DAAD und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung in zu hoch gehängt ist, wenngleich viele der Maßnahmen dieses Gesetz aufnimmt. für außeruniversitäre Einrichtungen durchaus sinnvoll (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sind. Wir stärken damit sozusagen ein Bein im Mara- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- thonlauf um ein besseres Bildungs- und Wissenschafts- NISSES 90/DIE GRÜNEN) system in Deutschland und mehr Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. – Danke an alle. – Auch hier gilt das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz geht so hinaus, wie es hereingekommen ist. Aber auch das andere Bein muss man immer im Blick Dies begrüße ich außerordentlich. behalten: Das ist die universitäre Forschung. Im Hin- blick darauf, wie die Hochschulen künftig aufgestellt Meine Damen und Herren, ich ermutige schließlich sind, treibt uns doch die Sorge um. Auch dieses Bein die Länder, im Blick auf die Hochschulen ausdrücklich muss weiterentwickelt werden. Leider geht die Debatte gemeinsam mit uns diesen Weg zu gehen. Wir haben über die Änderung des Grundgesetzes heute Abend zu viele Kooperationen zwischen Hochschulen und außer- Protokoll. Wir hätten Ihnen gerne in dieser Debatte un- universitären Forschungseinrichtungen, und genau da- sere Vorschläge vorgestellt, wie man dauerhaft, nachhal- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23905

René Röspel (A) tig und sicher Bildung, aber auch universitäre Hoch- Deswegen ging es in einem unserer Anträge – er (C) schulforschung und -lehre besser finanzieren kann. wurde im Ausschuss leider abgelehnt – um ein verbes- sertes Steuerungs- und Informationssystem, das das Par- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lament beschließt, um die Kontrolle nachvollziehbar und Das ist dringend notwendig; denn wenn Sie nur bei ei- sichtbar zu machen. nem Bein den Muskel stärken, werden Sie feststellen, dass Sie irgendwann im Kreis laufen und nicht wirklich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des vorankommen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Natürlich Unabhängig davon bedeutet das Wissenschaftsfrei- Kontrolle! Wie denn sonst?) heitsgesetz für außeruniversitäre Einrichtungen sicher- lich einen Fortschritt. Ich will den beiden Berichterstat- Wir sind es, die dem Bürger gegenüber zu rechtfertigen tern, Herrn Schipanski und Herrn Rehberg, ausdrücklich haben, was mit dem Geld, das den Einrichtungen zur meinen Dank dafür aussprechen, dass sie unser Ge- Verfügung gestellt wird, passiert. Das ginge über das hi- sprächsangebot angenommen haben, zu schauen, an wel- naus, was in § 3 Abs. 3 des Entwurfs des Wissenschafts- chen Stellen wir gemeinsam noch etwas verbessern kön- freiheitsgesetzes steht; da kommt das aus unserer Sicht nen. Daraus ist ein interfraktioneller Antrag geworden. zu kurz. Da hätten wir uns eine stärkere parlamentari- Dass nun auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung sche Beteiligung gewünscht. und der DAAD in das Gesetz aufgenommen sind, ist si- Gut für die außeruniversitären Einrichtungen ist si- cherlich ein Fortschritt. cherlich auch, dass man Berufungen, Neueinstellungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von Spitzenwissenschaftlern dadurch begleiten kann, dass man ihnen ein höheres Gehalt zahlt, als eigentlich Das führt dazu, dass wir diese Initiative mit einer Enthal- vorgesehen ist – solange dieses zusätzliche Geld aus tung begleiten. nichtöffentlichen Quellen kommt. Zustimmen können wir leider nicht, weil wir an ande- So gut das für die außeruniversitären Einrichtungen ren Stellen – das werden Sie uns nachsehen – weiterhin ist, so sehr sehen wir auch drei Probleme, die damit ver- Probleme oder Verbesserungsbedarf sehen. Wir hätten es bunden sind: zum Beispiel besser gefunden, wenn die Ressortfor- schungseinrichtungen des Bundes verbindlicher in das Erstens führt ein solches Verfahren zu einem Un- Gesetz aufgenommen worden wären, als das jetzt über gleichgewicht in den Instituten. Wir bekommen schon Maßnahmen haushaltsrechtlicher Art erfolgt. Dieser jetzt mit, dass sich viele Mitarbeiter zu Recht fragen, wa- (B) Punkt war uns wichtig; doch wir haben ihn leider nicht rum es eine Stärkung in der Spitze und nicht in der (D) hineinverhandeln können. Schon jetzt erreichen uns An- Breite gibt. Über das Tarifsystem in außeruniversitären fragen aus den entsprechenden Instituten, Forschungseinrichtungen wird an anderer Stelle, im Zu- sammenhang mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz, (Klaus Hagemann [SPD]: So ist es!) zu reden sein. warum sie, die sie doch gute Forschung machen, nur deswegen, weil sie zum Bund gehören, von den Rege- Das zweite Problem, das wir sehen, ist: Wie steht es lungen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes keinen Ge- eigentlich mit der Unabhängigkeit von Spitzenwissen- brauch machen könnten. schaftlern, wenn künftig über private Industriebeiträge ein Teil ihres Gehalts finanziert wird? Kann Unabhän- Andere Punkte, die wir für wichtig und richtig halten gigkeit wirklich gewährleistet werden? Ich habe zwar – wir finden es gut, dass das endlich kommt –, sind De- erst einmal Vertrauen in die Wissenschaft, ckungsfähigkeit und Überjährigkeit. Nach der Vorlauf- phase, die es gab, wird es den Instituten jetzt endlich (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist gut!) möglich sein, Sachmittel, die nicht abgerufen worden aber es ist ein schwieriger Ansatz, das muss man schon sind, in Personalmittel umzuschichten und damit zum sagen. Beispiel für die nächsten Jahre einen Doktoranden zu fi- nanzieren. Das ist wirklich gut für die außeruniversitäre Das dritte Problem, das wir sehen, ist: Wie ist das im wissenschaftliche Arbeit. Schlecht wäre es allerdings, Verhältnis zu Universitäten und Hochschulen, die es sich wenn umgekehrt der Fall entstünde, dass vorhandene nicht leisten können, diesen zusätzlichen Zuschlag zu Personalmittel, die nicht abgerufen wurden, in Sachmit- gewähren? Auch da ist die Balance zwischen außeruni- tel umgewandelt werden und damit zum Beispiel – zuge- versitärer und universitärer Forschung ein Problem. gebenermaßen ein extremes Beispiel – dem neuen Di- rektor eine Dienstvilla gebaut wird; im Gesetz steht ja Leider haben Sie unseren Antrag, etwas für den wis- auch etwas von baurechtlichen Erleichterungen. Wenn senschaftlichen Nachwuchs – und nicht nur für die die Bürger uns fragen würden: „Warum macht ihr so et- Spitze – zu machen, im Ausschuss abgelehnt. Das hätten was?“, könnten wir kaum sagen: Wir haben den Institu- wir für gut befunden. Wissenschaftsfreiheit in unserem ten 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt; was sie da- Sinne bedeutet nämlich auch, dass Wissenschaftler frei mit machen, wissen wir jedoch nicht. von Sorgen um ihre Existenz forschen und kreativ arbei- ten können. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wer macht denn so was? Das macht doch keiner!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 23906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

René Röspel (A) Das bedeutet, eine Zukunftsperspektive und vernünftige Politik sagt. Aber in vielen Dingen ist es uns doch gelun- (C) Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dafür werden wir uns gen. Ich freue mich darüber, dass der Änderungsantrag weiterhin einsetzen. der christlich-liberalen Koalition zum Gesetzentwurf auch von der SPD mitgetragen wurde. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (René Röspel [SPD]: Das war anders herum! – DIE GRÜNEN) Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein gemeinsamer Antrag gewesen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Das ist insofern bemerkenswert, als das zugleich als ein Vielen Dank, Kollege René Röspel. – Nächster Red- Signal – Herr Röspel, hören Sie genau zu – ner für die FDP-Fraktion ist unser Kollege Dr. Peter (René Röspel [SPD]: Ich höre immer gut zu!) Röhlinger. Bitte schön, Kollege Dr. Röhlinger. an die von der SPD geführten Landesregierungen ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) standen werden kann,

Dr. Peter Röhlinger (FDP): (Klaus Hagemann [SPD]: Aber an die anderen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und auch! An die schwarz-gelben auch!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein schnell entsprechende Landesgesetze auf den Weg zu Tag für die Wissenschaft. Wir freuen uns darüber. Wenn bringen. wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen – ich kann das zumindest für meine Fraktion sagen –: Insbesondere (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Grundlagenforschung hat nicht so eine große Lobby, wie Klaus Hagemann [SPD]: Eure auch!) man sich das manchmal wünscht. Schauen Sie sich die Der Bund kann nicht alles alleine machen, und das will Programme der Parteien einmal dahin gehend an, wie er auch gar nicht. häufig sich dort das Wort „Grundlagenforschung“ wie- derfindet. Ich habe es getan. Ich war erstaunt, wie groß (Patrick Meinhardt [FDP]: Sehr gut! Gebt den die Differenz ist: „Bildung“ ja; „Grundlagenforschung“ Hochschulen Freiheit!) und „Forschung“ schon nicht so sehr. Insoweit ist es ein gutes Zeichen, mit dem heutigen Tag diesen Akzent über Hier sind die Landesregierungen gefragt. Alle Initiati- die Parteigrenzen hinaus zu setzen. ven, diesbezüglich etwas auf den Weg zu bringen, wer- den von uns unterstützt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (B) des Abg. Klaus Hagemann [SPD]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) Dies ist ein Zeichen der Politik für Verlässlichkeit und Dieses Gesetz verbinde ich ganz persönlich mit einer Dauerhaftigkeit, insbesondere auch ein Zeichen von Ver- Erinnerung. Als ich mich nach Berlin in den Bundestag trauen. Wir haben es heute schon von der Ministerin ge- beworben habe, bin ich zu den Präsidenten dieser Ein- hört: Es ist ein Ausdruck der Einheit von Freiheit und richtungen gegangen und habe sie gefragt: Was kann ich Verantwortung. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, für euch tun? Ich war über die Antworten erstaunt, denn dass die Wissenschaftseinrichtungen nicht gegängelt mir wurde gesagt: Geld brauchen wir nicht, Herr werden, sondern dass sie einen gewissen Entscheidungs- Röhlinger, spielraum haben, der ihnen Luft zum Atmen gibt. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Damen und Herren, uns allen liegt die Be- Oh!) schlussempfehlung und der Bericht des Bundestagsaus- wir brauchen weniger Bürokratie. Uns stört diese ewige schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Gängelung. Sehen Sie bitte zu, dass das aufhört. Wir abschätzung zur Annahme des Entwurfs eines wollen weniger Beobachtung, dafür mehr Unterstützung Wissenschaftsfreiheitsgesetzes mit Änderungen vor. Bei und mehr Freiraum. genauerem Hinsehen werden wir unschwer erkennen: Auch dieses Mal ist es gelungen, dem Grundsatz zu fol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen, dass ein Gesetz das Plenum anders verlässt, als es Eingang gefunden hat. Dies ist also Ausdruck dessen, Das ist uns gelungen. In diesem Zusammenhang be- dass wir zuhören. danke ich mich ganz herzlich bei all denen, die den Ge- setzentwurf auf den Weg gebracht haben. Ist Frau Flach (Klaus Hagemann [SPD]: Aber nicht noch da? Ja, da hinten sind Sie, liebe Frau Flach. vollständig!) Herr Röspel, Sie haben es angesprochen: Es gibt beim Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gesetzgeber, insbesondere bei den Koalitionären, durch- Vielleicht können Sie ihr das direkt sagen; denn Ihre aus das Begehren bzw. den Wunsch, den Oppositions- Redezeit ist mehr als abgelaufen. parteien so weit entgegenzukommen, möglichst einen Antrag auf den Weg zu bringen, bei dem es partei- und Dr. Peter Röhlinger (FDP): fraktionsübergreifend die Möglichkeit der Zusammenar- Alles Gute auf diesem Wege! beit gibt. Das geht nicht bis zum Schluss, und irgendwie muss die Opposition auch Kante zeigen, wie man in der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23907

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rückzug aus angeblicher staatlicher Detailsteuerung und (C) Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die verkennen gänzlich, dass Sie sich auch aus Ihrer politi- Fraktion Die Linke. schen Verantwortung zurückziehen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Mit solchen Fragen, wie man in den Einrichtungen, Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): wenn man ihnen schon mehr Autonomie einräumt, mehr Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Transparenz oder größere Mitbestimmung für ihre Be- raten heute einen Gesetzentwurf, den die Koalition ge- schäftigten schaffen kann, haben Sie sich schon gar nicht wissermaßen in einem Anflug von Hochstapelei als Wis- belastet. senschaftsfreiheitsgesetz bezeichnet hat. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulla auch nicht unsere Aufgabe!) Burchardt [SPD] – Lachen bei der CDU/CSU Hierzu will ich Ihnen gerne ein Beispiel nennen: und der FDP – Patrick Meinhardt [FDP]: Das Wenn man auf Stellenpläne verzichtet und das Besser- ist Hochstapelei, was Sie machen!) stellungsverbot für Wissenschaftlerinnen und Wissen- Genau genommen – Herr Röspel hat schon darauf schaftler aufhebt, hingewiesen – geht es gar nicht um Wissenschaftsfrei- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein Meilen- heit. Vielmehr geht es darum, dass Institutsleitungen, stein!) Präsidien und Forschungsministerien mehr Handlungs- spielraum bekommen sollen. dann ergeben sich daraus nicht nur für diese Gruppe, sondern für alle Beschäftigten Konsequenzen. Warum (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Also mehr ergeben sich für alle Beschäftigten daraus Folgen: Weil Freiheit!) das Besserstellungsgebot nicht für alle Beschäftigten gilt; Herr Röspel hat das bereits angedeutet. Es soll nur Insofern wäre es allemal ehrlicher gewesen, wenn Sie für das Personal gelten, das einen sogenannten wesent- das ganze Konstrukt „Wissenschaftsmanagementge- lichen Beitrag zum wissenschaftlichen Prozess leistet. setz“ genannt hätten. Aber nein, wie man Sie so kennt, schlagen Sie lieber ein bisschen Schaum auf einer (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: § 4!) Pfütze, die ziemlich flach, trübe und natürlich auch klein Dahinter verbirgt sich – das sage ich für die Zuhöre- ist. rinnen und Zuhörer – die Möglichkeit, dass sogenannte (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hey! Wir Spitzenkräfte, die gewonnen werden können oder sollen, (B) sind doch nicht beim Karneval!) in ihren künftigen Einkommen aus Drittmitteln aus pri- (D) vatwirtschaftlicher Auftragsforschung bessergestellt Die Linke fürchtet nach den Erfahrungen der letzten werden können. Jahre allerdings, dass die Wissenschaftsfreiheit eher ver- liert als gewinnt. Das will ich Ihnen gerne erklären. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Was ist denn gegen Spitzenkräfte einzuwenden?) Das Problem liegt gar nicht so sehr in den acht schlichten Paragrafen, für die Sie immerhin drei Jahre Für diese Gruppe ist so etwas also möglich. In diesem gebraucht haben, sondern vielmehr in dem, was gerade Falle gehen Sie auch über die Vergütungsregelungen des nicht in dem Entwurf steht. Jetzt wollen Sie sozusagen öffentlichen Dienstes hinaus. Globalhaushalte einführen, Sie wollen Stellenpläne ab- (Patrick Meinhardt [FDP]: Sehr gut!) schaffen, Sie wollen, dass sich die Einrichtungen leichter an Unternehmen beteiligen können. Schließlich sollen Allerdings wollen wir an dieser Stelle einmal festhal- ten, dass diese Praxis bereits vom Bundesrechnungshof die einrichtungseigenen Kompetenzen bei Bauverfahren kritisiert worden ist, weil sie in den letzten Jahren in- erweitert werden. transparent gestaltet worden ist. Daher fordert der Bun- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Gut desrechnungshof klare Regeln und eine Gehaltsober- erkannt!) grenze. Ich kann mich da dem Bundesrechnungshof nur anschließen. Insoweit könnte man jetzt meinen, dass Entwarnung signalisiert werden könnte – wenn sich nicht in den letz- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Röhlinger ten Tagen ausgerechnet der Bundesrechnungshof kri- [FDP]: Klar! Das glaube ich!) tisch bis ablehnend zu Wort gemeldet hätte. Meine Damen und Herren, wieso wird eigentlich das (Patrick Meinhardt [FDP]: Na und?) Personal in den Laboren, an den Großgeräten und im Wissenschaftsmanagement ausgeschlossen? Aber auch das haben Sie in der gestrigen Turboberatung im Bildungsausschuss ganz tapfer ignoriert. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Werden sie nicht!) (Patrick Meinhardt [FDP]: Noch bin ich frei gewählter Abgeordneter!) Ich frage: Wieso werden Beschäftigte, insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs im Mittelbau, ausge- Für die Linke ergeben sich, wie ich es schon angedeu- schlossen? Wissenschaftliches Arbeiten ist viel komple- tet hatte, Probleme vor allem aus dem, was nicht in die- xer geworden; man kann das gar nicht mehr so abgren- sem Gesetz enthalten ist. Sie zelebrieren sozusagen den zen. Deshalb kritisieren wir es. 23908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Petra Sitte (A) Ich erinnere daran: Wir haben hier schon mehrfach Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (C) darüber geredet, dass drei Viertel der Beschäftigten Das war nur ein Versuch, zu scherzen. befristet angestellt sind, was übrigens ein Hauptgrund dafür ist, dass neu gegründete Einrichtungen beispiels- (Heiterkeit) weise in den neuen Bundesländern überhaupt keine Inte- Ich will nur noch sagen, dass dieses Gesetz aus diesen ressenvertretung mehr haben. Da gibt es gar keinen Be- Gründen für uns nicht annehmbar ist. triebsrat, weil die Beschäftigten im Wesentlichen befristete Verträge haben. Das muss man schon kritisie- (Beifall bei der LINKEN) ren. (Beifall bei der LINKEN – Tankred Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Schipanski [CDU/CSU]: Wir haben doch die Wenn Sie den Scherz demnächst bitte schriftlich ein- Linke!) reichen könnten, damit auch ich ihn verstehe? Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir hier im (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Okay!) Bundestag alle gemeinsam schon einen Antrag zur Ver- besserung der Situation des wissenschaftlichen Nach- Krista Sager hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. wuchses beschlossen haben. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja, richtig! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses Aber nicht in diesem Gesetz!) Gesetz ist im Grunde ein Schritt nachholender Moderni- Also müsste man nicht nur eine Art Wissenschaftsma- sierung. Warum „nachholend“? Weil viele Forschungs- nagementgesetz vorlegen, sondern auch das Wissen- einrichtungen die Rechte, die heute gesetzlich fixiert schaftszeitvertragsgesetz ändern. Sie müssten die Tarif- werden, schon in der Praxis nutzen, weil viele Hoch- sperre aufheben, damit die Tarifpartner bessere schulen seitens der Bundesländer schon seit längerem Bedingungen schaffen können. ähnliche Rechte und einen ähnlichen Autonomiestatus hinsichtlich ihrer eigenen Belange eingeräumt bekom- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- men haben. Das heißt, wir bewegen uns in einem Feld, neten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ in dem wir schon jahrelang Erfahrungen gesammelt CSU]: Sie müssen mal schauen, wer zuständig haben. ist! Das sind die Länder, nicht der Bund!) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Genau!) Wer gute Forschung will, muss gute Arbeitsbedingungen (B) bieten, und das auf allen Ebenen, auf allen Karrierestu- Dann wundert mich aber doch so manches im Zusam- (D) fen und für alle Beschäftigten. menhang mit diesem Gesetz. Fazit: Dieses erste Bundesgesetz für die Forschung Ich muss den Kollegen der FDP sagen: Es hat mich hätte eine Initialzündung für eine Zukunftsdebatte geben sehr gewundert, dass im ursprünglichen Regierungsent- können, für eine Debatte über die Frage, wie die Wissen- wurf die Wissenschaftseinrichtungen, die dort ressortie- schaftslandschaft von morgen aussehen soll, über die ren, wo die FDP selber den Hut auf hat, nicht als Nutz- Profile und Aufgaben unserer Forschungsorganisatio- nießer dieser Freiheit vorgesehen waren. nen, über moderne, digital vernetzte Wissenschaft und schließlich über gute Arbeit in den Wissenschaftsein- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- richtungen. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist Da frage ich mich schon, Herr Röhlinger, warum sie ur- nicht der Zweck des Gesetzes!) sprünglich am Gängelband bleiben sollten. Das alles findet nicht statt. Das gibt auch dieses Gesetz (Patrick Meinhardt [FDP]: Weil sie schon die nicht her. Deshalb hat es den hochtrabenden Namen Freiheiten haben!) „Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ auch nicht verdient. Ich habe mich auch gewundert, wie lange ausgerechnet die FDP gebraucht hat, sich in dieser Frage neu zu sor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tieren. Frau Kollegin. (Patrick Meinhardt [FDP]: Ohne uns gäbe es das nicht!) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Keine Zwischenfrage, Frau Präsidentin. Gut, wir haben diese Angelegenheit gestern im Aus- schuss geheilt, die Regierungskoalition gemeinsam mit (Heiterkeit) Grünen und SPD. Das ist auch gut so. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass Sie nicht vergessen sollten, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: diese Heilung jetzt auch im Haushaltsgesetz umzuset- Ich wollte Ihnen keine Zwischenfrage stellen. zen. Auch darin muss sich die Budgetflexibilisierung wiederspiegeln; sonst haben die Einrichtungen davon (Heiterkeit) keinen Nutzen. Also vergessen Sie das bitte nicht auch Ich wollte Ihnen einen Hinweis geben. noch. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23909

Krista Sager (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein weiteres großes Problem ist hier angesprochen (C) und bei der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: worden. Es gibt bei den Gehältern von Spitzenkräften in Wir haben das, was Sie über die Jahre nicht der Forschung jetzt mehr Handlungsspielräume. Wenn gemacht haben, geheilt!) aber in den einzelnen Einrichtungen Milliarden bewegt werden, dann braucht man auch in der Verwaltung und Wenn wir bedenken, dass wir uns hier in einem Be- in den technischen Infrastrukturen Spitzenkräfte. reich bewegen, in dem wir viele Erfahrungen gesammelt haben, ist es im Grunde unverständlich, dass letztendlich (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann offengeblieben ist, mit welchen Instrumenten man tat- [SPD]) sächlich von der Inputsteuerung zur Outputsteuerung Dass die Handlungsspielräume auf diese Kräfte nicht übergehen will. Das heißt, welche Indikatoren sollen ausgeweitet werden, leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht jetzt eigentlich die relevanten Indikatoren sein, um die ein. Leistung dieser Einrichtungen zu messen? Wie soll der Unterschiedlichkeit, der Besonderheit von einzelnen (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Einrichtungen Rechnung getragen werden? Wie soll Frage der Auslegung des Gesetzes!) aber auch mit Kennzahlen eine Vergleichbarkeit herge- stellt werden? Trotz der großen Unterschiede der Ein- Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie Sorge richtungen muss es schließlich vergleichbare Kennzah- dafür trägt, dass auch die Leibniz-Gemeinschaft von den len geben. Wie soll das Ganze mit Elementen der Möglichkeiten dieses Gesetzes profitieren kann und dass leistungsabhängigen Mittelzuweisung begleitet werden, wir erfahren, wie es mit Blick auf die Einrichtungen der und welche Auswirkungen hat das auf Zielvereinbarun- Ressortforschung weiterentwickelt werden kann und wie gen? Da hat die Bundesregierung – das muss ich ganz einzelne Elemente wie die Überjährlichkeit vielleicht ehrlich sagen – ihre Hausgaben nicht gemacht. Dazu auch bei den Begabtenförderungswerken angewendet sagt sie vielmehr: Wir gucken weiter, nachdem wir das werden können. Gesetz gemacht haben. – Das halte ich, ehrlich gesagt, Darüber hinaus müssen wir uns der Frage widmen, für zu wenig. wie wir verhindern können, dass die Universitäten als Arbeitgeber noch mehr Nachteile gegenüber den außer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann universitären Forschungseinrichtungen haben. Diese Frage ist für die Wissenschaftspolitik eine der aktuells- [SPD]) ten Fragen; sie ist noch nicht gelöst. Wir brauchen nach- Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht über haltige Personalstrukturen. Peanuts. Es geht hier um ein Volumen von 4,6 Milliar- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Erst ein- (B) den Euro, und da ist die Frage, wie bei den außeruniver- (D) mal Zuständigkeit!) sitären Forschungseinrichtungen die Steuerungs- und Monitoringelemente aussehen sollen, nicht gerade eine Wir brauchen einen Pakt für den wissenschaftlichen Petitesse. Ich finde es vollkommen richtig, was der Kol- Nachwuchs. Das heißt, es gibt in der Wissenschaftspoli- lege Röspel gesagt hat: Wir müssen auch das Parlament tik auch in Zukunft noch eine ganze Menge zu tun. beteiligen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: In der Anhö- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte rung wurde ganz deutlich gesagt, wie das [DIE LINKE]) funktioniert! Kommen Sie einfach mal vor- bei!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Angelegenheit ist einfach zu wichtig, als dass das Der Kollege Albert Rupprecht hat das Wort für die Parlament einfach außen vor bleiben könnte. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Richtig ist auch, dass eine verantwortliche Personal- Liebe Kollegen! Frau Sitte, was wir heute beschließen, politik nicht erst bei den Spitzenforschern, sondern beim ist nicht Kleinkram, sondern hat eine Dimension, wie es wissenschaftlichen Nachwuchs anfängt. Uns haben in sie in dieser Größenordnung noch nie gegeben hat. Wir der Vergangenheit aus einigen Forschungseinrichtungen schaffen erstmalig – so etwas hat es in der Tat noch nie zu Recht Klagen erreicht, wie mit diesen Menschen in gegeben – ein eigenes, separates Haushaltsrecht für ei- den Verträgen umgegangen wird. Ich hätte es richtig ge- nen speziellen Politikbereich. Das ist einzigartig und hat funden, dieses Wissenschaftsfreiheitsgesetz zugunsten eine historische Dimension. einer verantwortlichen und nachhaltigen Personalpolitik und zugunsten des gesamten Personals um einen Code of (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Conduct zu erweitern. Wer dieses Gesetz, Frau Sitte, kleinredet – Sie sagten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – es seien nur acht schlichte, dürftige Paragrafen –, hat, Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Misstrauen glaube ich, die Dimension und die Wirkung dieses Ge- Sie doch nicht immer der Wissenschaft!) setzes noch nicht verstanden. 23910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Albert Rupprecht (Weiden) (A) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr Erstens. Wir wollten – Sie haben das Thema ange- (C) richtig!) sprochen; das wollten aber auch die Unionsfraktion und die FDP-Fraktion –, dass die AvH und der DAAD in den Ich prognostiziere Ihnen, Frau Sitte, dass das, was wir Gesetzentwurf aufgenommen werden. Dafür war ein heute beschließen – Frau Sager, Sie haben recht, an man- Stück Überzeugungsarbeit bei den Fraktionskollegen aus chen Hochschulen ist dies bereits Realität, aber an vielen den anderen Fachbereichen notwendig. Das ist letztend- eben nicht –, eine Dynamik entfalten, eine Welle auslö- lich gelungen. Der Punkt ist somit erledigt. sen wird, die letztendlich auch vor den Hochschulen nicht haltmachen wird. Vielmehr wird es auch an den Zweitens: das Berichtswesen. In der Tat war die Frage Hochschulen aufgrund dieses Gesetz zu wesentlichen, – Sie haben es angesprochen –, ob wir das Berichtswe- substanziellen Veränderungen kommen. sen im Gesetzentwurf inhaltlich konkret und präzise festschreiben wollen. Letztendlich war der entschei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dende Punkt, dass wir der Überzeugung sind, dass mehr Was wir heute machen, ist in eine Studie, in ein Doku- Freiheit auch mehr Verantwortung bedeutet. Und mehr ment des Wissenschaftsrates von Juli 2000 einzubetten. Verantwortung heißt für uns ganz konkret: Wir erwarten Damals hat der Wissenschaftsrat letztmalig umfassend von den Wissenschaftsorganisationen, dass sie aufgrund das deutsche Wissenschaftssystem untersucht. Er hat in von mehr Freiheit zusätzliche, weitere und bessere wis- diesem Zusammenhang elf Anforderungen an die Politik senschaftliche Ergebnisse vorlegen. Wir erwarten von formuliert. Er forderte eine stärkere Anwendungsorien- den Forschungseinrichtungen, dass sie systematisch, tierung, eine stärkere internationale Ausrichtung und kontinuierlich und aussagekräftig darüber berichten. Das viele andere Dinge mehr. Einer dieser elf Punkte war die ist unstrittig. Die Frage war letztlich nur, ob wir das jetzt Aufforderung des Wissenschaftsrates an die Politik, für mit diesem Gesetz konkret und detailliert regeln sollten. mehr Selbststeuerung und weniger Detailsteuerung Nach vielen Gesprächen, die wir geführt haben, sind wir durch die Politik zu sorgen, eben das, was wir heute mit zu der Erkenntnis gekommen, dass das falsch wäre, weil dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschließen. sich ein derartiges, outputorientiertes Berichtssystem nur im Dialog, im Zuge der Umsetzung und im Zusammen- Die Aufgaben, die der Wissenschaftsrat damals ge- spiel von Wissenschaftseinrichtungen, Parlament und nannt hat, sind wir in den letzten zwölf Jahren angegan- Regierung über Monate hinweg entwickeln kann. Wir gen, auch zusammen mit der SPD in der Großen Koali- können das heute an dieser Stelle nicht abschließend und tion. Die Reform wurde von Frau Bulmahn angestoßen detailliert festlegen. Das ist eine Aufgabe, deren Lösung und von Frau Ministerin Schavan in großer Dimension heute beginnt. Der Beschluss, die Verabschiedung des umgesetzt und vollzogen. Dieser Bericht war die Grund- Gesetzentwurfs ist letztendlich der Einstieg in genau die- (B) lage für die Arbeit der letzten Jahre. Das gilt für die sen Dialog, der notwendig ist. (D) Hightech-Strategie, die Exzellenzinitiative und den Hochschulpakt. Mit den Paketen, die wir als Lösung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- politisch beschlossen haben, haben wir im Wissen- neten der FDP) schaftssystem Deutschlands eine Dynamik in Gang ge- Ich sehe, dass meine Redezeit leider Gottes schon zu setzt, die eine historische Dimension hat. Wir haben Ende ist. Ich verstehe gar nicht, wieso. damit das Wissenschaftssystem in Deutschland neu aus- gerichtet. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich schon!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich hätte gerne noch weitere Themen angesprochen, zum bei Abgeordneten der SPD) Beispiel den Bereich des wissenschaftlichen Nachwuch- ses. Aber dafür sind fünf Minuten wesentlich zu kurz. Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Betrag nennen: Der Bund hat seit 2000, über die Regierungszei- (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: ten der verschiedenen Koalitionen hinweg, deutlich Keine Zwischenfragen!) mehr als 150 Milliarden Euro investiert, um das Wissen- schaftssystem in Deutschland neu auszurichten. Das war Ich hätte auch gerne noch etwas zu den Ressortfor- ein Riesenkraftakt, aber damit waren wir, wie ich finde, schungseinrichtungen gesagt. Das wird der Kollege für ausgesprochen erfolgreich. mich übernehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich habe in den zehn Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bun- Heute beschließen wir den letzten gewichtigen Bau- destages bin, keinen Gesetzentwurf erlebt, der so viel stein, den der Wissenschaftsrat damals eingefordert hat: Zustimmung von den betroffenen Institutionen erhalten mehr Freiheit für die Wissenschaft. Herr Röspel, dieses hat wie dieser Gesetzentwurf. Wir werden von den Wis- Gesetz bringt sehr wohl mehr Freiheit. Dieser Einzel- senschaftseinrichtungen wie Schellenkönige – so sagt baustein fügt sich in ein Ganzes. Ich sage es nochmals: man in Bayern – für diesen Gesetzentwurf gelobt. Ich Über die Parteigrenzen hinweg haben wir unsere Mis- glaube, das ist ein starkes Zeichen dieser Einrichtungen sion aus dem Jahr 2000 erfüllt. dafür, dass wir heute hier in der Tat einen richtigen Schritt machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herzlichen Dank. In der parlamentarischen Beratung haben wir vier Themen vertieft behandelt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23911

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: im Gesetz stehen. Man regelt das jetzt über Vermerke im (C) Der Kollege Klaus Hagemann hat das Wort für die Haushaltsplan. Weil die Ressortforschungseinrichtungen SPD-Fraktion. der einzelnen Ministerien auch von der politischen Di- rektive der Ministerien abhängig sind, besteht aber die (Beifall bei der SPD) Gefahr, dass hier keine Freiheit so wie bei den Wissen- schaftsorganisationen gegeben ist. Deswegen, so meine Klaus Hagemann (SPD): ich, müssen sie ins Gesetz aufgenommen werden, zum Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Beispiel die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, die Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege BAM, also die Bundesanstalt für Materialforschung und Röspel hat davor gewarnt, heute mit zu viel Pathos in die -prüfung, und der Deutsche Wetterdienst. Man hätte sie Diskussion zu gehen. Daran musste ich gerade bei der in das Gesetz aufnehmen sollen, um ihnen mehr Flexibi- Rede des Kollegen Rupprecht denken. Sie haben es so lität zu geben. Hier besteht eine gewisse Gefahr, dass dargestellt, als ob ein neues Zeitalter beginnt, als ob ein Willkür herrscht, dass über politische Direktiven Ein- Urknall durch die Wissenschaftsszene geht. fluss genommen werden kann und dass politischer Op- (Beifall des Abg. Albert Rupprecht [Weiden] portunismus eine Rolle spielt. Diese Einrichtungen [CDU/CSU]) müssten daher unserer Ansicht nach in das Gesetz aufge- nommen werden. Wenn wir in die Genese gehen, lieber Kollege (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Rupprecht, dann sehen wir, dass es nichts Neues ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir das Gesetz nicht Die Kritik des Rechnungshofes ist schon angespro- schlecht- und kleinreden sollen. Die Wissenschaftsfrei- chen worden. Ich möchte hier auf eine Pressemitteilung heitsinitiative, die wir in der Großen Koalition geregelt hinweisen – darüber haben wir uns schon heute Nach- hatten, enthielt schon fast alles von dem, was jetzt im mittag im Haushaltsausschuss unterhalten –: „Rech- Gesetz steht. Die Wissenschaftsorganisationen konnten nungshof verreißt Wissenschaftsfreiheitsgesetz“. Ich also schon handeln, und die Anregungen des Wissen- darf einen kurzen Abschnitt zitieren: schaftsrates sind in diesem Zusammenhang umgesetzt worden. Angesichts der stetig wachsenden Mittel für die Forschungsorganisationen fehle ein ausreichendes Wir könnten in dieser Frage schon wesentlich weiter Controlling. Gelder könnten auf Selbstbewirtschaf- sein, wenn es nicht den einen oder anderen Bremser in tungskonten geparkt werden. der Zeit der Großen Koalition gegeben hätte. Ich schaue nach rechts zum damaligen haushaltspolitischen Spre- Das darf nicht passieren; denn sie sollen in der For- schung verausgabt werden. (B) cher der Union und heutigen geschätzten Staatssekretär (D) Peter Kampeter. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) (Zurufe von der SPD: Ah!) Ich zitiere weiter: Er war einer derjenigen, die am meisten gebremst haben. Er wollte nicht, dass Haushaltsrechte an Außenstehende Bei den geplanten Spitzenvergütungen für heraus- abgegeben werden. Wir, Frau Ministerin Schavan, haben ragende Wissenschaftler fehle es an Transparenz … gekämpft, um dies im Haushaltsausschuss voranzubrin- gen. Das sollten wir noch einmal in Erinnerung rufen Auch das sollten wir als Parlamentarier ernst nehmen. und deutlich machen. Wir sollen im Blick behalten, ob hier entsprechend ge- handelt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Es sollte auch – so steht es in der Pressemitteilung – eine Ich bin auch dankbar – jetzt spreche ich den Kollegen Gehaltsobergrenze eingeführt werden. Rehberg an –, dass wir in Vorgesprächen einiges bewe- gen konnten, leider nicht so, dass wir alle Anregungen, (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann lieber Kollege Dr. Röhlinger, aufgreifen konnten. Einige [SPD]) Anregungen sind nicht umgesetzt worden; ich komme darauf gleich noch zu sprechen. Deswegen können wir Diese Kritikpunkte des Rechnungshofes sind berech- uns heute – Kollege Röspel hat darauf hingewiesen – nur tigt. Ich sage nicht, dass ihnen allen gefolgt werden der Stimme enthalten. Aber der Grundzug ist richtig. kann, aber sie müssen beachtet werden. Diesen haben wir in der Zeit der Großen Koalition fest- Lassen Sie mich zum Schluss – mir geht es wie dem gelegt. Wir haben dabei die Anregungen aus den Wis- Kollegen Rupprecht; auch mir läuft die Zeit davon – senschaftsorganisationen übernommen. noch einmal deutlich machen: In der ersten Lesung hatte ich sehr kritisiert, dass eine der Forschungseinrichtun- Dass die AvH, die Alexander-von-Humboldt-Stif- gen, die Max-Planck-Gesellschaft, gerade im Bereich tung, und der Deutsche Akademische Austauschdienst der Förderung von Stipendiaten, von Doktoranden sehr im Gesetz enthalten sind, ist sehr positiv; denn sie brau- zurückhaltend war. Wir haben hier Verbesserungen ge- chen mehr Flexibilität in ihren Haushalten. fordert. Seit der ersten Lesung ist etwas geschehen: Die Ich möchte aber auch die Ressortforschungseinrich- Max-Planck-Gesellschaft hat festgelegt, dass Stipendia- tungen ansprechen. Ich finde es nicht gut, dass sie nicht ten, dass Doktoranden mit einem Höchstbetrag von – ich 23912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Klaus Hagemann (A) hoffe, ich habe es richtig im Kopf – 1 350 Euro gefördert habe bisher keine Anzeichen dafür bemerkt, dass sich (C) werden. Das sollte beispielhaft für alle Organisationen Länder hier sperren wollten. werden. Kommen wir zum Inhalt. Wir haben jetzt drei Jahre in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Koalition an einem für die Wissenschaft äußerst wichtigen Gesetz gearbeitet. Hier sind ja verschiedene Denn, wie vorhin schon formuliert wurde, gute Wissen- Fragmente genannt worden, die ich kurz zitieren schaftler bedingen gute Nachwuchswissenschaftler. Die möchte; ich habe mir das gerade aufgeschrieben. Ge- Wissenschaft erzielt nur Erfolge, wenn entsprechend sprochen worden ist von wissenschaftlichem Nach- gute Leute zur Verfügung stehen. wuchs, von Intransparenz, und von der Outputsteuerung Zum Schluss noch dieses: Der Kollege Rachel und war die Rede. Sie haben aber nicht mit einem einzigen ich haben in dieser Woche an einer Gremiensitzung einer Wort gesagt, was notwendig ist für die Spitzenfor- großen Wissenschaftsorganisation teilgenommen. Da schung, welche Bedingungen wir in Deutschland organi- wurde seitens des Gesamtbetriebsrates kritisiert, dass sieren müssen, um hier Spitzenforschung zu bekommen. man nur die Spitzenwissenschaftler aufnimmt und nicht Wir reden also nun drei Jahre darüber, wir diskutieren auch die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mit- darüber, und auch hier im Parlament wurde oft darüber arbeiter. Diese Kritik nehmen wir auf, und die werden gesprochen. Aber fünf Minuten vor der Angst bekom- wir hier auch weiter verfolgen. men wir Änderungsanträge, die Sie mit den zuvor zitier- (Beifall bei der SPD) ten Bemerkungen umschrieben haben. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das machen Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: doch auch! Hallo!) Herr Kollege Hagemann. – Jetzt, Frau Sitte, gestatten Sie mir noch eine Bemer- kung zu den Ressortforschungseinrichtungen. Klaus Hagemann (SPD): (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Eine Minute Ich komme zum Ende und möchte darum bitten, das hatten wir gestern Redezeit!) zu beachten. – Ja, das war aber etwas ganz anderes. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Auch die Sache mit den Ressortforschungseinrichtun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen ist tatsächlich nicht so, wie Sie das hier dargestellt der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE haben. Ich habe in der diesjährigen Sommerpause eine (B) GRÜNEN) ganze Reihe von Einrichtungen der Ressortforschung in (D) Berlin und besucht, unter anderem die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die Bundes- Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat für anstalt für Materialforschung und -prüfung. Die Kolle- die FDP-Fraktion das Wort. gen dort haben mir etwas völlig anderes gesagt als das, was Sie hier behaupten. Sie wollen nämlich nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bestimmte Flexibilisierungen. Sie wollen nicht das der CDU/CSU) gesamte Gesetz; das muss man an der Stelle sagen. Des- halb haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die be- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): treffenden Regelungen mit Maß und Verstand in den Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und jetzt vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen. Kollegen! Ich beginne mit dem bemerkenswertesten Ein kleines Beispiel: Die Bundesanstalt für Material- Begriff, der hier gefallen ist, nämlich mit dem Thema forschung und -prüfung möchte im Jahre 2013 mit einem „Outputsteuerung“ – ich sage es mal auf Deutsch –, also Pilotprojekt starten, bevor man dort Stellenpläne kom- Steuerung auf Zielsetzung. Das, was hier dazu gesagt plett verändert. Die Bundesanstalt wartet auf die Ergeb- wurde, stimmt so nicht; denn die Zielvereinbarungen nisse, die man dann dort gemeinsam erzielen wird. Das werden mit den Wissenschaftseinrichtungen getroffen. geht vollkommen gegen das, was Sie hier in den Geset- Wir geben damit – das will ich an der Stelle hervorhe- zestext aufzunehmen versuchen. ben, denn darum geht es ja in diesem Gesetzentwurf – Freiheit und übertragen Verantwortung an die Einrich- (Beifall bei der FDP) tungen auf der Grundlage genau dieser Zielvereinbarun- gen. Sie, liebe Frau Kollegin Sager, haben uns vorgewor- fen, dass wir ein Verhinderer von Freiheit seien, dass wir Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Frau die Ausweitung des Gesetzes blockierten. Dazu kann ich Sager, Sie sprachen beispielsweise von Leibniz und der nur Folgendes sagen, und das will ich wirklich lobend Rolle der Länder dabei. Auch das, was Sie hierzu gesagt hervorheben: Die Ressortforschungseinrichtungen der haben, ist nicht richtig. Die Länder können und müssen FDP-geführten Ministerien machen am meisten von den in der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz für ent- Flexibilisierungsregelungen Gebrauch. Das Gesund- sprechende Landesregelungen sorgen. Das haben wir heitsministerium und das Auswärtige Amt haben ge- immer wieder deutlich gesagt. Dazu laufen gegenwärtig zeigt, dass man weitreichende Flexibilisierungen auf- Beratungen. Verdrehen Sie die Tatsachen bitte nicht. Ich nehmen kann. Wir sind nicht Verhinderer, liebe Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23913

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (A) Kolleginnen und Kollegen, sondern die Förderer der für gesorgt, dass dieses Vorhaben im Koalitionsvertrag (C) Wissenschaftsfreiheit. verankert wurde. Dass es dagegen Widerstände der Fachressorts gibt, halte ich für ganz normal. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen der Opposition ausdrücklich dafür, dass sie die Rege- ( [SPD]: Streit ist also normal lung, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und den bei Ihnen, oder was?) DAAD mit aufzunehmen, mittragen. Ich komme noch einmal auf den DAAD und die AvH- Ich komme zum Schluss. Wir wollen mit dieser Rege- Stiftung zu sprechen. Beide werden aus drei Ressorts ge- lung, so wie wir sie heute vorgestellt haben, letztendlich speist: aus dem des Auswärtigen , dem des Ent- ganz konkret zum Ausdruck bringen, dass wir ein klares wicklungshilfeministeriums und dem des Bildungs- und politisches Signal von Ihnen vermissen. Sie haben ohne Forschungsministeriums. Deswegen waren auch hier Blick auf die richtige Zielrichtung gesprochen. Sie lie- Widerstände zu überwinden. Wir, die Abgeordneten von ben es, uns über das Thema „Freiheit in der Wissen- CDU/CSU und FDP, sind allerdings so selbstbewusst, schaft“ zu belehren. meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo- (Ulla Burchardt [SPD]: Es geht um den sition, dass wir sagen: Wenn wir das für richtig und Freiheitsbegriff!) sachgerecht halten, wird das auch umgesetzt. – Wir bedanken uns bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie ganz deutlich Grünen, dass Sie das mittragen. auf: Wenn es Ihnen tatsächlich um ein Signal an die Wis- senschaft geht und wenn Sie ein solches Gesetz ernsthaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fordern, dann stimmen Sie doch endlich für unser Wis- Frau Sager, Sie kritisieren, dass es zwischen den For- senschaftsfreiheitsgesetz! schungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die im Wis- Ich bedanke mich. senschaftsfreiheitsgesetz aufgeführt sind, und den Hoch- schuleinrichtungen der Länder einen Niveauunterschied (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geben wird. Dazu kann ich nur eines sagen: Dann sollen doch bitte auch die Länder Globalhaushalte einführen! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Ge- Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die nau so ist es! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ CDU/CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN]: Das haben sie doch schon! – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben die schon lange!) (B) (D) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Dann sollen doch bitte auch die Länder ihre Universitä- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ten und Fachhochschulen von stringenten Regelungen Herren! Ich würde dieses Thema nicht so abtun wollen, befreien! als ob wir lediglich ein paar haushaltsrechtliche Rege- lungen verändern oder aufheben. Nein, meine sehr ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ehrten Damen und Herren, das, worum es heute geht, ist Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch für die deutsche Wissenschaftslandschaft ein Schritt schon lange geschehen! – Kai Gehring nach vorne. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das ist doch Unsinn!) Ich glaube, Herr Kollege Hagemann, es ist ganz normal, dass im Vorfeld bestimmte Schritte notwendig Dann, glaube ich, gäbe es noch mehr Wettbewerb, so- waren, um das zu erreichen, was man jetzt erreicht hat: wohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Län- Globalhaushalte, die weitgehende Befreiung von Rege- der, und man könnte sehen: Wo ist man erfolgreich, und lungen im Baubereich usw. usf. Ich glaube, es wäre nicht wo kommen wir voran? ziel- und sachgerecht gewesen, wenn man diese Maß- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch nahmen schon 2008 so durchgeführt hätte, wie wir es schon längst geschehen! – Gegenruf des Abg. heute tun. Ich erinnere nur an die Helmholtz-Debatte, in Tankred Schipanski [CDU/CSU]: In den der es darum ging, dass, wie es der Bundesrechnungshof neuen Bundesländern nicht in einem einzigen dargestellt hat, angeblich Mittel liegengeblieben sind. Im Land! – Gegenruf der Abg. Dr. Petra Sitte Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es nicht so war, [DIE LINKE]: Ach! Du weißt doch gar nicht, sondern dass im Rahmen der Selbstbewirtschaftungs- wovon du redest! Das ist doch völliger grenzen sachgerecht gearbeitet worden ist. Insofern sage Unsinn!) ich als für den Einzelplan 30 zuständiger Haushälter: Ich glaube, heute ist ein mehr als guter Tag. Da dieser Ge- – Das ist in vielen Ländern überhaupt noch nicht gesche- setzentwurf heute im Deutschen Bundestag verabschie- hen. In vielen Ländern haben die Universitäten keine det wird, ist es für den deutschen Wissenschaftsbereich Globalhaushalte. In den meisten Ländern frönt man noch sogar ein ganz entscheidender Tag. dem Urzustand der Kameralistik und Gängelung. Den- jenigen, der sich darüber beklagt, dass der Bund in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sem Bereich voranschreitet, kann ich nur auffordern, es Dieser Prozess wurde ganz maßgeblich von Annette dem Bund gleichzutun. Dann braucht man sich an dieser Schavan und Ulrike Flach gestaltet. Sie haben auch da- Stelle nicht mehr zu beklagen. 23914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Eckhardt Rehberg (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- (C) Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp- dass Sie das an Bayern adressieren!) fehlung auf Drucksache 17/11046, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10037 – Wissen Sie: Es ist mir ganz egal, welche Parteifarbe in und 17/10123 in der Ausschussfassung anzunehmen. einem Bundesland gerade vorherrscht. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bitte ich jetzt um ihr Handzeichen. – Die Gegenstim- Aber in Bayern ist es immer die gleiche!) men! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali- Das war eine generelle Aussage im Hinblick auf die tionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Wissenschafts- und Forschungslandschaft in Deutsch- Die Linke gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen land. Da achte ich überhaupt nicht auf Parteibücher. haben sich enthalten. Noch eine Anmerkung zum Thema Ressortforschung. Dritte Beratung Ich halte es für nicht sachgerecht, das Wissenschaftsfrei- heitsgesetz in dieser Art und Weise für die Ressortfor- und Schlussabstimmung. Wer ist für den Gesetzentwurf schungseinrichtungen des Bundes zu öffnen. Sach- und erhebt sich deswegen? – Die Gegenstimmen! – Die gerecht war vielmehr der Kabinettsbeschluss vom Mai Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter dieses Jahres, der vorsah, dass die Ressorts selber ent- Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor an- scheiden: Wer kann die Flexibilisierung nutzen, und wer genommen. kann sie nicht nutzen? Es gibt Ressortforschungseinrich- tungen, die überwiegend Forschung betreiben, und es Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den gibt auch viele, die in hohem Maße administrative Auf- Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck- gaben haben. Ich glaube, hier muss man ein bisschen sache 17/11064. Wer stimmt für den Entschließungsan- aufpassen, dass man nicht zu viel des Guten tun wird. trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einbringende Fraktion abgelehnt. Die Fraktion Bündnis der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Nicht zu viel 90/Die Grünen, die CDU/CSU und die FDP waren dage- Freiheit!) gen, die SPD hat sich enthalten. Eine letzte Bemerkung: Ich glaube, ich verrate kein Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Geheimnis, wenn ich sage: Ich denke, es ist ein falsches Ansinnen, jetzt schon mit einer Neiddebatte anzufangen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel (B) Es geht um das Thema „Transparenz von Gehältern bei Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer (D) den Forschungseinrichtungen“. Wir haben uns dazu ent- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ schieden, dass sie durch Drittmittel, durch private Mittel, DIE GRÜNEN aufgestockt werden können, und sollten nicht gleich im Kosten und Nutzen der Energiewende fair nächsten Schritt dafür sorgen, dass diese Gehälter offen- verteilen gelegt werden. Überlegen Sie auch einmal, was wäre, wenn Sie das gleiche Ansinnen, dass sämtliche Einkom- – Drucksache 17/11004 – men personenbezogen offengelegt werden müssen, Überweisungsvorschlag: bezogen auf ein Unternehmen hätten. Das macht kein Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Unternehmen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Haushaltsausschuss (Ulla Burchardt [SPD]: Das wollen Sie ja auch Federführung strittig nicht bei den Abgeordneten!) Für die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. – Deswegen bin ich strikt dagegen, dass wir als Erstes Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist damit anfangen, eine Neiddebatte zu führen, indem wir das so beschlossen. alle Gehälter in den Forschungseinrichtungen offenle- gen; denn dies führt nicht zum Ziel, sondern nur zu Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Neiddebatten in der Öffentlichkeit. Das Wissenschafts- Hans-Josef Fell. freiheitsgesetz wird aber nicht dazu da sein, eine Neiddebatte zu initiieren, sondern Wissenschaft und Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Forschung voranzubringen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herren! Seit Monaten gibt es wegen angeblich untrag- barer Strompreiserhöhungen eine Hetzkampagne gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: „Hetzkampagne”!) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Flexibili- Kampagnenchef ist Wirtschaftsminister Rösler, assistiert sierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen wird ihm von Umweltminister Altmaier, FDP-Fraktions- außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen. chef Brüderle und Energiekommissar Oettinger. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23915

Hans-Josef Fell (A) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist schon Wir fordern Sie heute mit dem Antrag auf, genau (C) Wahlkampf! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ diese hausgemachten Fehler zu korrigieren. Wenn Sie es CSU]: Das ist der Abspann!) ernst meinen mit der Begrenzung der Kosten der Ener- giewende, dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen. Verbreitet werden die übelsten Diffamierungen gegen die erneuerbaren Energien, auch in millionenschweren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anzeigen von der Initiative Neue Soziale Marktwirt- und bei der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: schaft. Machen wir auch!) (Ulrich Kelber [SPD]: Sogenannte „Neue“!) Aber ich habe mir auch einmal Ihre konkreten Sie alle verschweigen völlig den Beitrag des Ökostroms Vorschläge zur Preisdämpfung angeschaut. Im Verfah- zum Klimaschutz und zur Ablösung der Erdölwirtschaft, rensvorschlag zum EEG von Umweltminister Altmaier die die Verbraucher und die gesamte Wirtschaft mit im- finden wir keine Vorschläge zur Korrektur Ihrer hausge- mer höheren Ölpreisen unter Druck setzt. machten schwarz-gelben Fehler. Stattdessen hören wir von der FDP und vom Umweltminister ausschließlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorschläge zur Begrenzung des Ausbaus der erneuerba- Doch Ihnen von Union und FDP geht es ja gar nicht ren Energien. Erstmals in der Geschichte Deutschlands um die Lösung zentraler Menschheits- und Wirtschafts- haben wir einen Umweltminister, der die wichtigste Kli- probleme, sondern ausschließlich um den Bestands- maschutztechnologie ausbremsen will. Was ist das denn schutz der schmutzigen Stromerzeugung aus Kohle, und für ein Umweltminister? Sie bereiten Ihre dritte Kehrtwende für eine Laufzeitver- Ja, die FDP verlässt sogar den Boden der freien längerung von Atomkraftwerken vor, Marktwirtschaft. (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) wie sie der Fraktionsvize Vaatz gestern gefordert hat. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ihre Vorschläge zum Quotenmodell mit staatlich festge- legten Ausbauzielen habe ich vor allem in den kommu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nistischen Fünfjahresplänen Chinas gefunden. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt wissen Die wahren Strompreistreiber sind Sie, meine Damen wir, was du liest! – Horst Meierhofer [FDP]: und Herren von Union und FDP. 2005, am Ende der rot- Was tätest du ohne deine Vorurteile?) grünen Regierungsverantwortung, lag die EEG-Umlage (B) gerade mal bei 0,7 Cent pro Kilowattstunde. Nur, selbst in China wurde inzwischen erkannt, dass (D) diese staatlich festgelegten Quoten nicht erfolgreich (Horst Meierhofer [FDP]: Weil Sie keine Er- sind, und dort wurde ein EEG eingeführt, das Sie genau neuerbaren ausgebaut haben!) abschaffen wollen. Sie von Union und FDP haben sie mit gravierenden Feh- lern in verschiedenen EEG-Novellen auf heute 5,3 Cent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hochgetrieben. Aber den Vogel schießt ausgerechnet Umweltminister (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Altmaier ab. Birgit Homburger [FDP]: Aufhören!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht! Ohne Ihre verfehlte Politik läge die EEG-Umlage trotz Das kann man nicht sagen!) erfolgreichen Ausbaus der erneuerbaren Energien heute sozialverträglich unter 3 Cent. Er will den jährlichen Zubau von Windkraft, Biomasse und Photovoltaik staatlich festgelegt kontrollieren und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit einer marktwirtschaftswidrigen Obergrenze belegen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was? Unglaub- Der erste Fehler der Union, den Sie zusammen mit lich!) der SPD machten, passierte schon 2009, als Sie den Umlagemechanismus verändert haben. Sie haben damit Sein Argument, dass der angeblich unkontrollierte den wegen der erneuerbaren Energien sinkenden Bör- Ausbau des Ökostromes mit dem Ausbau der Netze senstrompreis zur Basis für die Berechnung der EEG- nicht mithält, ist nicht tragfähig. Vergleichbar ist dies mit Umlage gemacht und so schon die EEG-Umlage um dem Vorschlag, dass man wegen der vielen Staus auf den 1 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben. deutschen Straßen und des fehlenden Straßenausbaus bei den Bundesfernstraßen VW und Daimler staatlich zwin- Dann folgten Schlag auf Schlag die schwarz-gelben gen will, den Verkauf von Autos einzuschränken. Nichts preistreibenden Fehler: die uferlose Befreiung von anderes ist dies. Eine absurde Vorstellung, die nichts mit Produktionsbetrieben von der EEG-Umlage, Marktwirtschaft zu tun hat, weil Sie nur eingreifen (Zurufe von der FDP: Oh, Oh!) wollen in den Ausbau der anderen. die Eigenstrombefreiung von Kohlekraftwerken und die (Horst Meierhofer [FDP]: Reden Sie jetzt über Einführung der Marktprämie. den Straßenneubau?) 23916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Hans-Josef Fell (A) Ihre Politik von Schwarz-Gelb hat nichts mehr mit Die EEG-Umlage steigt natürlich genauso unbegrenzt (C) Marktwirtschaft zu tun. mit, wenn man den Ausbau in unserem Lande unbe- grenzt forciert. Ganz besonders gilt dies im Bereich der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Photovoltaik. Sie, Herr Fell, wissen selbst: 57 Prozent Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge – der Umlage entstehen durch die Kosten für die Photovol- taik, die aber nur einen Anteil von 12 Prozent unseres Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Stromes in Deutschland ausmacht. Herr Kollege. Wo wäre denn die EEG-Umlage heute, wenn wir nicht in den letzten Jahren gegen den erbitterten Wider- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stand von Ihnen, den Grünen, und von Ihnen, der SPD, – zum Bestandsschutz der großen Energiekonzerne werden aber nicht durchgehen; denn weite Teile der (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau!) Bevölkerung haben längst erkannt, dass sie mit genos- und den Ländern, die alle mitgemischt haben, die Förde- senschaftlichen Modellen selbst den Strom erzeugen rung gekürzt hätten? Es klingelt doch in den Ohren, können – wenn ein Ministerpräsident sagt, er würde eine Energie- preisdeckelung einfordern. Ich frage mich da manchmal, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: was im Bundesrat diskutiert wird. Herr Kollege, Sie müssen zum Ende gekommen sein. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz stößt eben, wirt- schaftlich gesehen, marktwirtschaftlich gesehen und Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch technisch gesehen, an seine Grenzen. Darüber kann – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – und die man doch nicht diskutieren. Wertschöpfung in die eigene Hand nehmen können. (Ulrich Kelber [SPD]: Ja, dass Sie nicht disku- Wir Grünen werden die Bevölkerung gegen Ihre tieren können, wissen wir!) Preistreiberei und Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge zum Ausbremsen der erneuerbaren Energien unterstüt- Ich merke: Auch bei Ihnen zieht langsam die Erkenntnis zen. ein, dass wir Änderungen brauchen und dass wir diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Änderungen schnell brauchen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Dafür habe ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schon unter Schwarz-Rot vergeblich ge- (B) Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die kämpft! – Gegenruf des Abg. Horst (D) CDU/CSU-Fraktion. Meierhofer [FDP]: Ach so! Aber der Kelber war wieder dagegen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Wo ist eigentlich das Die erneuerbaren Energien sind doch mit einem An- Umweltministerium?) teil von über 20 Prozent am Strom kein Nischenprodukt mehr. Damals, als das Stromeinspeisungsgesetz und spä- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): ter das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft gesetzt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wurden, war es sinnvoll, neue Technologien zu fördern. Herren! Herr Fell, wissen Sie, da höre ich mir doch drei- Das ist doch unbestritten. mal lieber die Frau Höhn an als noch einmal das, was Sie (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen haben Sie hier zum Besten gegeben haben. persönlich dagegen gestimmt, obwohl es sinn- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der voll war!) CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn – Wir können darüber reden, warum ich dagegen ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Lob stimmt habe. will ich gar nicht haben!) Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier für einen (Ulrich Kelber [SPD]: Herr Lämmel, Sie ha- Unfug erzählt haben. ben dagegen gestimmt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es war nämlich erkennbar, dass wir genau an den Punkt der FDP) kommen, an dem wir heute stehen. Das war damals schon erkennbar. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist genau das Pro- blem, weil es nämlich bei den Kosten nach oben völlig (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unbegrenzt ist. Jedes Förderprogramm, das wir bisher NEN]: Warum sagten Sie gerade, es sei sinn- aufgelegt haben, ob das nun Marktanreizprogramme voll gewesen? – Ulrich Kelber [SPD]: Deshalb oder andere waren, hat einen Deckel, aber das Erneuer- haben Sie dagegen gestimmt? Herr Lämmel, bare-Energien-Gesetz ist praktisch unbegrenzt. merken Sie eigentlich nichts?) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Fell, Sie können im Moment den Strompreis NEN]: Unbegrenztes Wachstum! Sie wollen nicht mehr dämpfen, weil die von Ihnen vorgeschlage- doch immer unbegrenztes Wachstum!) nen Maßnahmen in Ihrem Antrag erst mittel- und lang- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23917

Andreas G. Lämmel (A) fristig wirken. Kurzfristig kann man an diesem System (Ulrich Kelber [SPD]: Halten Sie mal das Blatt (C) überhaupt nichts ändern. hoch, von dem Sie das vorlesen!) Jetzt zu der größten Legende, die Sie verbreiten. In Unter Berücksichtigung der Entlastung sind es immer Ihrem Antrag steht der Satz: noch 609 Millionen Euro. Wenn Sie das auf die Arbeits- Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende plätze umrechnen, die in der Stahlindustrie existieren, gerade energieintensive Unternehmen hart treffen heißt das, dass das Mehrkosten in Höhe von 6 766 Euro werde, hat sich als unbegründet erwiesen. pro Arbeitsplatz sind. Meine Damen und Herren, man könnte neue Arbeitsplätze schaffen, wenn man diesen Das ist der Hammer. Mein lieber Mann, da kann man se- belastenden Betrag nicht einfach so ausgeben müsste. hen, dass die Grünen wirtschaftspolitisch völlig blind sind und überhaupt nicht merken, was seit der Einfüh- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rung zusätzlicher Belastungen in Deutschland passiert Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage ist. des Kollegen Krischer zulassen?

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Kollege, Herr Lenkert möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen? Nein, möchte ich nicht. – Herr Fell, bevor man Solar- paneele aufs Dach schrauben kann, muss man Alumi- nium, Silizium und Glas herstellen. Wenn Sie verhindern Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): wollen, dass diese Wertschöpfungskette in Deutschland Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfragen weiter existiert, müssen Sie so weitermachen wie bisher. zulassen. Dann können Sie das alles in China kaufen. Sie werden (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] aber hier am Pult stehen und über hohe Arbeitslosigkeit [CDU/CSU]) klagen. Ich will Herrn Fell gerne die Zahlen liefern, damit er er- Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: kennen kann, wie blind die Grünen heute in der Wirt- Minister Altmaier ist auf dem richtigen Weg. Eine schaftspolitik agieren. Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes muss drin- gend auf den Weg gebracht werden. Angesichts dieser (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das inte- Tatsache kann ich nur hoffen, dass auch die linke Seite ressiert ihn aber nicht!) – ich meine die SPD und die Grünen – Vernunft an- nimmt und hier an diesem Werk mitarbeitet. (B) Ein Unternehmen aus der Stahlbranche zahlt bei der ak- (D) tuellen Umlage von 3,59 Cent pro Kilowattstunde ohne Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. Entlastung 280 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich. Für diese 280 Millionen Euro zusätzliche Kosten entsteht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht eine einzige Tonne Stahl mehr. Für diese 280 Mil- lionen Euro zusätzliche Kosten entsteht auch kein einzi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ger Arbeitsplatz mehr. Ich gebe jetzt nacheinander den Kollegen Lenkert und (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Keine Krischer das Wort zu einer Kurzintervention. Dann Tonne CO2 wird eingespart!) könnte Herr Lämmel darauf antworten. Bitte schön. Nach der Entlastung – Sie sprechen immer von Be- freiung, aber es handelt sich hier ausschließlich um eine Ralph Lenkert (DIE LINKE): Entlastung – zahlt das Unternehmen 88 Millionen Euro. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Wenn man jetzt diese neue Preissteigerung einrechnet, Lämmel, im Jahr 2000 habe ich für eine Kilowattstunde also die 5,3 Cent pro Kilowattstunde, die jetzt für die Strom 14 Cent bezahlt. Damals betrug die EEG-Umlage Zukunft ausgerechnet worden sind und dabei wieder die 0,2 Cent. Im Jahr 2012 bezahle ich für die Kilowatt- Entlastung einrechnet, dann entstehen dem Unterneh- stunde Strom 26 Cent. Die EEG-Umlage beträgt men in einem Jahr 128 Millionen Euro zusätzliche 3,5 Cent. Die Differenz beträgt 12 Cent. Davon sind Kosten. – selbst wenn ich den Mehrwertsteueranteil zurechne – etwa 4 Cent EEG-Umlage. Das heißt, ein großer Teil des (Ulrich Kelber [SPD]: Interessant, dass Sie Anstieges des Strompreises kommt nicht aus den erneu- diese Zahlen aus einem Brief einfach unge- erbaren Energien. prüft vortragen!) Ich stelle Ihnen dazu Fragen. Was hat Benzin im Jahre – Ich kann Sie Ihnen geben. – Man muss doch erkennen, 2000 gekostet? Was hat Heizöl im Jahr 2000 gekostet? dass dieses Unternehmen natürlich nicht mehr in Was hat zum Beispiel Kohle für Heizzwecke im Jahr Deutschland investieren wird, sondern es wird sich an- 2000 gekostet? Diese Preise haben sich bis heute mehr dere Standorte in anderen Ländern suchen, wo einfach als verdoppelt. Demzufolge scheint es so zu sein, dass diese zusätzlichen Belastungen nicht entstehen. trotz EEG-Umlage durch den Wettbewerb im Strom- Die Stahlindustrie insgesamt hat ab 2013 jährliche bereich die Stromerzeugungskosten und die Strom- Mehrkosten ohne Entlastung in Höhe von 1,8 Milliarden nutzungskosten selbst – im Gegensatz zu dem, was Sie Euro, also 1 840 Millionen Euro. hier verkünden – für uns relativ gesunken sind. 23918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Ralph Lenkert (A) Ich komme zu einer Studie von Arepo-Consult im Das Unternehmen Norsk Hydro produziert weltweit (C) Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dabei geht es Aluminium und hat vor zwei Wochen angekündigt, seine um die Befreiung der energieintensiven Industrien und Produktion nach Deutschland, nämlich nach Neuss, zu der anderen Industrien. Wir haben letztens gelernt, dass verlagern, weil in Deutschland die Strompreise günstiger zu den energieintensiven Industrien Rolltreppenbetreiber sind. Das Unternehmen hat ein Werk in Deutschland, das in einem Einkaufscenter gehören. Die Befreiungen für es stillgelegt hat, wieder in Betrieb genommen und die diese Industrien und auch für Aluminiumwerke wie das Produktion von Australien nach Deutschland verlagert, in Hamburg – es investiert jetzt auch in Deutschland, mit der Begründung, die Industriestrompreise seien in weil die Energiekosten scheinbar so hoch sind – machen Deutschland billiger. Das ist die Realität in Deutschland. fast 10 Milliarden Euro pro Jahr aus, wenn man alles zu- sammenrechnet. Weiteres Beispiel: Trimet Aluminium. Trimet Alumi- nium hat in der Tat im letzten Jahr Verluste gemacht. Wenn man die Industriestromkosten vom Jahr 2000 Aber wissen Sie, warum sie Verluste gemacht haben? mit denen von heute vergleicht, stellt man fest, dass die Weil sie auf steigende Strompreise gewettet haben. Aber Unterschiede im Verhältnis zu unseren Wettbewerbern die Strompreise sind für Trimet Aluminium gesunken. sogar kleiner geworden sind. Wir haben zwar immer Deshalb ist der Verlust entstanden. Das ist die Realität in noch die zweitteuersten; aber der Abstand ist von 2 Cent Deutschland – nicht das, was Sie uns erzählen wollen. für die Kilowattstunde auf 1 Cent für die Kilowattstunde geschrumpft. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit der Ich möchte noch ein drittes Beispiel nennen, das mir deutschen Industrie ist nicht gefährdet. nach der Debatte, die wir in der letzten Sitzungswoche zu dem Thema geführt haben, nochmals bestätigt wor- Ich frage Sie deshalb: Wieso lasten Sie die gesamten den ist. Bayer MaterialScience sagt klipp und klar: Die Kosten permanent den Verbraucherinnen und Verbrau- Industriestrompreise in Deutschland sind geringer als im chern an? Wieso stellen Sie nicht sicher, dass hier europäischen Durchschnitt. – Sie erzählen hier wider Wahrheit herrscht? Wenn wir nämlich die Preisanstiege besseres Wissen das Gegenteil. Sie sollten lernen. Infor- in allen Bereichen betrachten, werden wir feststellen, mieren Sie sich besser, statt ungeprüft Lobbybriefe vor- dass gerade der Strombereich – so weh uns die Kosten zulesen und damit auch noch wirtschaftliche Kompetenz dort auch allen tun – den geringsten Preisanstieg hat. zu suggerieren, die Sie offensichtlich nicht haben. Gerade die erneuerbaren Energien haben dafür gesorgt, dass dies so ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bitte, erklären Sie mir, warum die Stromrechnung so sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gestiegen ist. KEN) (B) (D) (Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Da ist keiner auf der Regierungsbank! – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie im- Herr Lämmel, möchten Sie reagieren? – Bitte schön. mer kopflos! Es ist keiner da! Das ist nichts Neues! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Bei (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns regiert das Parlament, nicht die Regie- NEN]: Vielleicht haben Sie noch einen zwei- rung!) ten Brief, den Sie vorlesen können! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind offensichtlich nicht vorbereitet! – Ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: genruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] Herr Krischer, bitte. [CDU/CSU]: Ach, Herr Beck, wir sind doch nicht bei den Grünen!) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha, es regiert also das Parlament und nicht die Re- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): gierung. – Herr Kollege Lämmel, Sie haben uns eben vorgeworfen, hier gäbe es keinen wirtschaftspolitischen Das ist das Interessante bei den Grünen: Wenn Sie Sachverstand. Den vermisse ich leider bei Ihnen. Ich Zahlen einer Branche verwenden, dann ist das die Wahr- finde es schon erstaunlich, dass Sie hier in Ihrer Rede ei- heit. Wenn die Solarbranche ihre Zahlen liefert, dann ist nen Lobbybrief der Stahlindustrie, der uns allen heute das gedruckte Wahrheit. oder gestern zugegangen ist, ungeprüft vorlesen. Das ist (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schon ein unglaublicher Vorgang. NEN]: Bayer MaterialScience!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn man Zahlen verwendet, die zum Beispiel die Ge- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) werkschaft oder eine andere Branche vorlegen, dann ist das die Unwahrheit. So gehen Sie mit den Dingen um. Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, die An- Deshalb habe ich gesagt: Sie sind auf dem wirtschafts- gaben, die dort gemacht werden, zu überprüfen. Sie hal- politischen Auge blind. Denn wenn Sie die Industrie- ten nämlich einer Überprüfung nicht stand. Einer Über- strompreise in Amerika, Asien und Europa vergleichen, prüfung stand hält allerdings das, was die Industrie dann werden Sie feststellen, dass es nicht stimmt, was selber sagt. Ich möchte Ihnen dazu Beispiele nennen. Sie behaupten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23919

Andreas G. Lämmel (A) Die Industriestrompreise sind eben nicht mit den Prei- Gestehen Sie wenigstens ein, dass das Ihre Preiserhö- (C) sen vergleichbar, die an der Börse gebildet werden. Das hung ist und bitte schön nicht unsere! Wir nehmen sie sollten Sie vielleicht im Lehrbuch nachlesen. Ihnen nicht weg. Zu dem Herrn von der linken Seite: Sie haben viel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ leicht noch den VEB Energiekombinat im Hinterkopf, DIE GRÜNEN) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sehr origi- Der Titel des heute vorliegenden Antrags „Kosten und nell!) Nutzen der Energiewende fair verteilen“ veranlasst mich, zunächst einmal darüber zu reden, dass wir als Erstes ver- der feste Preise hatte, und der Staat hat dann aus seiner suchen sollten, unnötige Kosten zu vermeiden. Wenn ich Kasse den Rest gezahlt. Wenn Sie sich die Belastungen sehe, was Sie da in den letzten Jahren gemacht haben, des Strompreises allein durch politische Elemente anse- dann denke ich daran, dass Sie genau an dieser Stelle ein hen, dann zeigt sich, wo die großen Preissteigerungen Scheitern par excellence zu verantworten haben. Sie herkommen. Der größte Batzen war die Einführung der haben durch planloses Handeln zum Beispiel im Bereich Ökosteuer, die im Prinzip als Rentenauffüllsteuer einge- der Offshorewindenergie dafür gesorgt, dass zusätzliche führt worden ist. Kosten entstanden sind, die jetzt auf die Verbraucher (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Vor 2000!) umgewälzt werden müssen. Sie haben einen Gesetzesvor- schlag gemacht und gestehen ein, dass inzwischen Haf- Das hatte mit Öko nichts zu tun. Außerdem gibt es die tungsentschädigungen von 1 Milliarde Euro fällig wer- Netzentgelte und all die anderen Bausteine, die politisch den, die auf die Verbraucher umzulegen sind. Dies macht motiviert auf den Strompreis aufgeschlagen werden. Das 0,25 Cent pro Kilowattstunde für die nächsten drei bis sind die großen Strompreistreiber. vier Jahre aus. Das war Ihr Werk. Das sind Kosten, die Sie Derzeit ist das die EEG-Umlage. Man kann diskutie- durch planloses und hektisches Handeln künstlich und ren und reden, wie man will: Das sind jetzt 5,3 Cent pro zusätzlich verursacht haben. Kilowattstunde. Die muss jeder bezahlen, und zwar nicht Das Zweite. Es droht durch die fehlende Koordination nur die Bürgerinnen und Bürger; die Wirtschaft zahlt das der Energiewende, was Sie auch wiederum zu verantwor- genauso. ten haben, dass wir in den nächsten Jahren weitere zu- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sätzliche und unnötige Kosten haben werden. Es gibt Eben nicht! Das ist ja unglaublich!) nämlich keinen abgestimmten Plan zwischen Bund und Ländern zur Entwicklung der Energieinfrastruktur. Im Wenn man jetzt nicht der Sache Einhalt gebietet und Gegenteil, wir haben auf der einen Seite im Norden die (B) die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes angeht, Bemühungen, die Steigerung von Offshore- und (D) wird sich dieser Preisaufschwung in den nächsten Jahren Onshorewindenergie weit über den eigenen Bedarf hi- fortsetzen. Das ist ein einfaches mathematisches Modell. naus zu bewerkstelligen – dagegen will ich gar nichts sa- Herr Fell, ich weiß nicht, ob Sie in der Schule das Rech- gen –; aber gleichzeitig sagen in anderen Bundesländern, nen vielleicht nicht richtig gelernt haben. Sonst könnten zum Beispiel im Süden der Republik, explizit Minister- Sie nämlich mit einem Dreisatz ausrechnen, wie sich die präsidenten, sie wollen von diesem Strom nicht abhängig Kosten entwickeln. sein, sie wollen autark sein, sie wollen Energieerzeugung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und im eigenen Land. Wenn Sie dies zulassen, wenn Sie das der FDP) nicht koordinieren, dann werden wir demnächst nicht nur das eine oder andere notleidende konventionelle Kraft- werk haben, sondern möglicherweise notleidende Infra- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: strukturen an allen Ecken und Enden, nämlich dann, Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf wenn zum Beispiel Netze, die von Nord nach Süd gebaut Hempelmann jetzt das Wort. werden, aus diesem Grund nicht ausgelastet werden oder (Beifall bei der SPD) wenn Stromerzeugungsanlagen, die im Norden stehen, im Süden keine Abnehmer finden und deswegen Abfall produzieren. Sie sollten sich darum kümmern, endlich Rolf Hempelmann (SPD): die Koordinierungsaufgabe in der Energiewende ernst zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- nehmen, um weitere Kostenexplosionen zu vermeiden. gen! Es ist doch erfrischend, dass wir für die Debatte heute einen Antrag mit dem sachlichen Titel „Kosten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Nutzen der Energiewende fair verteilen“ von den DIE GRÜNEN) Grünen vorgelegt bekommen haben. Das Dritte. Seit über einem Jahr oder noch länger bas- In der gestrigen von Schwarz-Gelb aufgesetzten Ak- teln Sie an einer Alternative, die durchaus kostengünstig tuellen Stunde wollten Sie uns in die Schuhe kippen, sein würde – aber Sie haben bisher immer noch nicht ge- dass wir eine EEG-Umlage von 5,3 Cent im Jahre 2012 liefert –: Ich rede vom Lastmanagement, also davon, haben. Sie haben sich damit absolut lächerlich gemacht. dass man zu- und abschaltbare industrielle Lasten nutzen Die Zahlen sind eben hier genannt worden: 0,67 Cent kann, um zu bestimmten Zeiten – zum Beispiel zu Spit- war die EEG-Umlage im Jahre 2005 am Ende von Rot- zenlastzeiten, wenn aber beispielsweise der Wind nicht Grün, 1,13 Cent am Ende von Schwarz-Rot, und jetzt, weht – gegenüber der sehr teuren Regelenergie die Al- also in Ihrer Verantwortungszeit, liegt sie bei 5,27 Cent. ternative der Abschaltung zu haben. Liefern Sie endlich, 23920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Rolf Hempelmann (A) und sorgen Sie dafür, dass wir hier eine Alternative be- Rolf Hempelmann (SPD): (C) kommen, die uns vor allen Dingen in der zeitlichen Per- Erstens. Selbst wenn die Zahlen – ich kann sie jetzt spektive hilft, Kosten zu vermeiden! nicht prüfen – so stimmen: Es geht nicht allein um den Nun zu dem Thema der fairen Kostenverteilung. Ges- Umfang, sondern auch um die Symbolik. tern haben wir diese unsägliche Debatte gehabt. Ich habe (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) gerade schon gesagt: Es sind Ihre 5,3 Cent, die Sie ges- tern zum Thema gemacht haben. Die Öffentlichkeit, Wenn Sie Unternehmen befreien, die nicht zu dem Kreis denke ich, hat das auch gemerkt. Diese 5,3 Cent kom- der Privilegierten gehören sollten – dies aufgrund der men zu 100 Prozent beim Kunden als Belastung an. Tatsache, dass sie eben nicht ausreichend stromintensiv Aber was heute hier zu Recht gesagt worden ist: Wir ha- sind, dass sie nicht im internationalen Wettbewerb ste- ben durch die erneuerbaren Energien auch Kostensen- hen, dass sie keine Produkte herstellen, in deren Preis kungen im System. Wir haben beispielsweise beim Bör- man zusätzliche Lasten hineinbringen kann, weil der senstrompreis den Effekt, dass die erneuerbaren Preis an internationalen Handelsplätzen gebildet wird –, Energien in der Merit Order aufgrund ihrer geringen, ge- dann ist jedes einzelne Unternehmen, das hier privile- gen null tendierenden variablen Kosten den Börsen- giert wird, fehl am Platze und dann stört das die Akzep- strompreis senken. tanz dieses Instruments. Das hat aber den paradoxen Effekt, dass das als dop- (Beifall bei der SPD) pelte Steigerung bei der EEG-Umlage ankommt. Also sorgt der Kostenvorteil, generiert durch erneuerbare Das Zweite ist: Sie haben diese Ausweitung der Aus- Energien, für eine doppelte Steigerung der EEG-Um- nahmetatbestände nicht nur im EEG vorgenommen. Sie lage. Arbeiten Sie an diesem System! Denn daran ist et- haben es zum Beispiel auch bei den Netztarifen ge- was falsch. Dann werden wir es auch schaffen, dass die macht. Da haben wir die schizophrene Situation, dass Kostenvorteile und nicht nur die Belastungen beim End- Unternehmen dabei sind, die nun mit produzierendem kunden ankommen. Gewerbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wir haben Ihnen gestern die Liste genannt. Ich glaube, man muss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das nicht wiederholen. DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich will zur Differenzie- Sie mussten ja auch gestern erfahren: Nicht die Aus- rung darauf hinweisen, dass zwar auf der einen Seite in nahmen für die wirklich stromintensiven, im internatio- der Tat die Großhandelspreise sinken, dass aber auf der nalen Wettbewerb stehenden Unternehmen sind das Pro- anderen Seite nicht jedes Industrieunternehmen, jeden- (B) blem, sondern das Problem ist Ihre Ausweitung dieser falls auf Sicht, gleichermaßen davon profitiert. Das hat (D) Ausnahmen auf zahlreiche Unternehmen, die zu diesem etwas damit zu tun, dass sich viele Unternehmen an Ter- Kreis überhaupt nicht gehören. Das hat dazu geführt, minmärkten oder auch bei Over-the-Counter-Geschäften dass zusätzliche Belastungen beim Endkunden entstan- vorsorglich mit Strom eindecken. Wir hatten die Situa- den sind, gerade auch bei den Haushalten, und dass Vor- tion, die Sie im letzten Jahr mit der hektischen Energie- teile, die nicht sinnvoll sind, für Unternehmen, die diese wende verursacht haben, dass die Preise deutlich gestie- Ausnahmen nicht brauchen, entstanden sind. Das ist gen sind und Unternehmen sich am Terminmarkt oder keine faire Verteilung von Chancen und Lasten. bilateral mit Strom für die nächsten Jahre versorgt ha- ben. Sie profitieren derzeit überhaupt nicht von den ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sunkenen Großhandelspreisen, sondern erst dann, wenn Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen zulas- diese Verträge ausgelaufen sind. Deswegen sage ich: Im sen? Grundsatz stimmen die Behauptungen. Aber man muss noch einmal sehr differenziert hinschauen. Rolf Hempelmann (SPD): Meine Damen und Herren, helfen Sie den Leuten, Ja, da kann ich mal einen Schluck Wasser trinken. Kosten zu sparen. Zur fairen Verteilung gehört, dass man dafür sorgt, dass die Menschen, die es nicht von alleine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: können, beim Energiesparen Unterstützung erhalten. Wir Bitte schön. haben dazu vielfältige Vorschläge gemacht. Jetzt werden sie aufgegriffen, von Umweltminister Altmaier aller- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): dings nur verbal; gehandelt hat er bisher nicht. Er will et- Lieber Kollege Hempelmann, Sie haben gerade ange- was tun für die Energieberatung, er will auch im Bereich sprochen, dass die im letzten Jahr eingeführte Stufe der Wärme sowie im Bereich Mobilität etwas tun. Er will Entlastung für energieintensive Unternehmen diese Aus- Effizienzmaßnahmen unterstützen. Kündigen Sie nicht weitung bewirkt hat. Jetzt frage ich Sie: Ist Ihnen be- mehr nur an, sondern handeln Sie in diesen Bereichen! kannt, dass diese Stufe in der Summe gerade einmal Dann können Sie tatsächlich zeigen, dass Sie ein Herz 10 Terawattstunden ausmacht und dass vorher bereits für diejenigen haben, die zurzeit von den Kosten er- 150 Terawattstunden befreit waren? Sind Sie der Mei- drückt werden. nung, dass diese 150 Terawattstunden, die die rot-grüne Vielen Dank. Koalition bzw. wir in der Großen Koalition 2008 be- schlossen haben, damit in Ordnung und gut sind? (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23921

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sich, wenn man 2013 einkalkuliert, verdoppelt. Doch (C) Herr Meierhofer für die FDP-Fraktion. Bitte. warum hat sich die EEG-Umlage in dieser Zeit dann ver- vierfacht? (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Horst Meierhofer (FDP): Horst Meierhofer (FDP): Das kann ich Ihnen sagen: Weil fast 50 Prozent der EEG-Umlage mit der Photovoltaik zusammenhängen, Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin wirklich für die Sie und der Kollege Fell von den Grünen lobby- ziemlich überrascht, wie Sie hier mit Wahrheiten umge- ieren. hen, wie Sie hier die Tatsachen verdrehen, nur weil es Ihnen gerade in den Kram passt. Das ist wirklich unred- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich von Anfang bis Ende. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Aus diesem Grund sind die Kosten insgesamt extrem an- CDU/CSU) gestiegen. Ich nenne die Zahlen bei der Photovoltaik: Die Aussage, dass wir die Energiekosten durch die EEG- 0,92 Gigawatt, 7,5 Gigawatt, 7,3 Gigawatt, dieses Jahr Umlage auf 5,3 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben wieder über 7 Gigawatt. Die Vergütung für Photovoltaik hätten und es bei Ihnen nur so wenig, 0,6 Cent, gewesen ist viel höher, sie liegt bei 20 bis 30 Cent pro Kilowatt- seien, stunde. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulrich NEN]: Ist richtig und korrekt!) Kelber [SPD]: Ich habe gesagt: Vergütung ver- doppelt, Umlage vervierfacht!) ist vollkommen richtig. Wissen Sie auch, warum? Weil Rot-Grün im Jahr maximal 0,92 Gigawatt erneuerbare So viel rechnen müssten Sie doch können, dass Sie se- Energie ausgebaut hat. Wir dagegen haben die beiden hen, dass es einen Unterschied macht, ob man für 6 oder letzten Jahre 7,5 Gigawatt ausgebaut. 7 Cent pro Kilowattstunde die Windkraft ausbaut oder, wie Sie früher, für 43 Cent oder, wie wir jetzt, für (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 19 Cent die Photovoltaik. NEN]: Das ist nicht der entscheidende Punkt! – Rolf Hempelmann [SPD]: Sie wollten es doch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gar nicht!) der CDU/CSU) Natürlich ist es dadurch teurer geworden. Wir haben die (B) Wir haben die erneuerbaren Energien ausgebaut; im Ver- (D) gleich dazu ist bei Ihnen nichts passiert. teuren erneuerbaren Energien ausgebaut. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!) Natürlich habe ich keine EEG-Umlage, wenn ich die Er- neuerbaren nicht ausbaue. Das ist genau der Punkt. Jetzt – Sie haben es immer noch nicht verstanden, oder? Sie haben wir die Dynamik, dass der Preis nach oben geht. wollen es nicht verstehen. Es ist doch selbstverständlich, Deswegen kommen die Kosten. dass diejenigen Energien am meisten ausgebaut wurden, die die teuersten waren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ (Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, DIE GRÜNEN]: Das wäre unter 3 Cent!) Umlage vervierfacht!) Wissen Sie auch, warum? Weil die Rendite am höchsten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: war. Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kelber zulassen? (Ulrich Kelber [SPD]: Sie sammeln doppelt so viel Geld, um halb so viel auszugeben!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bitte keine Zwi- schenfrage zulassen! Wir wollen abstimmen!) Wissen Sie auch, warum die Rendite am höchsten war? Weil Sie sich in allen Gremien, wo Sie die Möglichkeit dazu hatten, dagegen gewehrt haben, die Vergütung ver- Horst Meierhofer (FDP): nünftig zu kürzen. Ja, gern; so viel Zeit muss sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der CDU/CSU) Bitte schön. Das ist die Wahrheit: Sie haben aus Lobbyinteressen he- raus jedes Mal die Prozesse monatelang verzögert. Ulrich Kelber (SPD): (Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Herzlichen Dank. – Man kann ja die vielen Zahlen, Umlage vervierfacht!) die vorgetragen wurden, auf eine reduzieren: In den vier Jahren schwarz-gelbe Koalition gab es in der Tat einen Wir sind mittlerweile zwar bei 19 statt 42,7 Cent für eine massiven Ausbau der Erneuerbaren. Ihre Vergütung hat Kilowattstunde Photovoltaik. Die Kosten sind aber ge- 23922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Horst Meierhofer (A) nau deswegen so langsam gesunken, weil Sie sich immer Jetzt, lieber Kollege Fell, würde ich gern mal darauf (C) quergestellt haben. hinweisen, was die tatsächlichen Kosten ausmacht. Wenn Sie genau zuhören, werden Sie feststellen, dass (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Bei jeder Ihre Aussage vollkommen verkehrt war. Gestern habe notwendigen Reduktion!) ich leider gehört, dass es hier absolut nicht möglich ist, Und jetzt sollen wir dafür verantwortlich sein, dass es so von einer Lüge zu sprechen; dass das unparlamentarisch teuer geworden ist? Das schlägt dem Fass den Boden ist. Mir fällt jetzt kein passendes Wort dafür ein, wie aus. man es nennen sollte. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulrich (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage CDU/CSU – Zurufe von der FDP und der vervierfacht!) CDU/CSU: Die Unwahrheit!) Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, zu sagen: Wir wol- Gerade einmal 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstunde len diese hohe Vergütung; es ist uns egal, dass das zu so- macht unsere Reform, dass wir die Mittelständler entlas- zialen Zerwürfnissen führt; es ist uns egal, dass von un- ten, aus. Das sind 2 Prozent dessen, was Sie beschlossen ten nach oben umverteilt wird; wir sind der festen haben. Es ist vollkommen absurd, so zu tun, als würden Überzeugung, das ist richtig; der Strompreis kann gar wir es teuer machen. nicht hoch genug sein, weil Strom per se nicht ver- braucht werden soll. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kanzlerin hat unsere Zahlen verwendet! (Ulrich Kelber [SPD]: Sie sammeln viermal so 0,5 Cent!) viel Geld, um doppelt so viel auszugeben!) Sie haben es teuer gemacht, weil Sie nicht bereit waren, – Sagen Sie das den Leuten ehrlich und offen; dann wer- zu akzeptieren, dass sich internationale Investoren die den Sie einmal ein realistisches Ergebnis bekommen. Taschen auf Kosten des kleinen Mieters vollgestopft ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ben. Das ist Ihr Verdienst. Das werden wir jetzt beenden. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Aber dazu sind Sie nicht bereit. Mit Krokodilstränen Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reden Sie von Sozialtarifen. Dabei sind Sie diejenigen NEN]: Die Kanzlerin hat es verstanden, aber gewesen, die die Großindustrie – Betriebe, die 10 Giga- Sie nicht! – Dr. Martin Lindner [Berlin] watt abnehmen – ausgenommen haben. [FDP]: Die Lobby von Herrn Fell!) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt mein Lieblingspunkt. Wenn man sich mit (B) (D) Ist doch in Ordnung!) Leuten von energieintensiven Unternehmen unterhält, dann bekommt man klare und eindeutige Aussagen. Es Natürlich wird diese besondere Berücksichtigung der Großindustrie in Anspruch genommen. wird gesagt: Das ist eine Existenzfrage. Die Energie- und Stromkosten seien die zweithöchsten in ganz Eu- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bärbel ropa. Wir wären erledigt, wenn es keine Ausnahmen Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur gäbe. – Also: Sie haben es damals mit Ihren Ausnahmen die! Die und nicht alle!) richtig gemacht, nur gehen sie nicht weit genug. Und – Sie wollen uns vorwerfen, dass wir neben der Großin- was sagen Sie? Sie sagen: Es gibt aber Firmen, die das dustrie, von der Sie lobbyiert werden, genau andersherum sehen. Der Kollege Krischer hat darauf hingewiesen, und es steht auch in Ihrem wunder- (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- baren Antrag. Dem Unternehmen Norsk Hydro geht es NISSES 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn wunderbar und deshalb erhöhen sie die Produktion; das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen hat Herr Krischer gesagt. lauter Geschenke!) Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende auch die Mittelständler, die im internationalen Wettbe- gerade energieintensive Unternehmen hart treffen werb stehen, ausnehmen? werde, hat sich als unbegründet erwiesen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Das schreiben die Grünen. Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaden dem Mittelstand! Das ist der Punkt!) Im Gegenteil: Die günstige Strombeschaffung hat kürzlich den Aluminiumhersteller Norsk Hydro zu Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Seit wann sind Sie dem Plan bewogen, seine Produktion in Deutsch- denn ausschließlich für die Großkonzerne? land deutlich zu erhöhen. Der Industriestandort (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- Deutschland profitiert also auch in stromintensiven NISSES 90/DIE GRÜNEN) Branchen von der Umstellung auf erneuerbare Energien. Seit wann haben Sie ein Problem damit, wenn Mittel- ständler, die im internationalen Wettbewerb stehen, auch Das steht in dem Antrag. Herr Krischer hat es bestätigt. entlastet werden? Ich halte das für eine Absurdität son- Die Zitate, die ich gerade genannt habe – nämlich dergleichen. Existenzfrage; die Strompreise seien die zweithöchsten (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Europa; wir wären erledigt, wenn es keine Ausnah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23923

Horst Meierhofer (A) men gäbe – kommen zufälligerweise von Herrn Bell. Horst Meierhofer (FDP): (C) Oliver Bell heißt der Herr. Er ist Vorsitzender des Auf- Sie machen hier nichts außer Propaganda. sichtsrates von Norsk Hydro. Man könnte jetzt vermu- Herzlichen Dank. ten, der Mann weiß nicht, wovon er spricht, oder er hat den Verstand verloren, weil es das Gegenteil von dem zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sein scheint, was sie machen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: An den Investitionsentscheidungen Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak- müssen Sie es messen!) tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Darum haben wir uns in meinem Büro die Mühe ge- macht und bei dem Unternehmen nachgefragt. Das Tele- fonat hätten Sie hören sollen. Sie hätten hören sollen, Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): was sie dazu gesagt haben, dass Norsk Hydro für Ihren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dünnen, jämmerlichen Lobbyantrag missbraucht wird. Ökologischer Umbau und sozialer Ausgleich müssen Und Sie hätten hören sollen, was sie dazu gesagt haben, Hand in Hand gehen. Diesen Satz aus Ihrem Antrag un- dass sie dafür in Haftung genommen werden, dass sie terstützen wir voll und ganz. wegen der günstigen Strompreise hier ausbauen. Wissen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wunderbar!) Sie, was sie wirklich gemacht haben? Sie haben im Jahr 2005, also kurz nachdem Sie aus der Regierung ausge- Ich hoffe auch, Sie meinen es ernst; schieden sind, ihre Produktion in Deutschland auf (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!) 20 Prozent reduziert, also um 80 Prozent. Das lag an der Unklarheit, wie es auf europäischer Ebene weitergeht. denn in der Regierungszeit von Rot-Grün wurden eine Menge neuer Instrumente eingeführt, die auf den Strom- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: preis wirken. Aber den richtigen sozialen Ausgleich da- Weil wir nicht mehr dabei waren, haben sie es für gab es leider nicht. Auch der im Jahr 2005 einge- runtergefahren – Hans-Josef Fell [BÜND- führte Emissionshandel hat die Energieversorger reich NIS 90/DIE GRÜNEN]: Unklarheit wegen des gemacht, aber bisher leider kaum zum Klimaschutz bei- Regierungswechsels!) getragen. Gab es irgendwann Geld, um für Haushalte die Strompreiseffekte des CO2-Handels abzufedern? Nein. Sie haben nicht gewusst, wie es mit der Bundesregie- Es gab auch keine Mittel, um die miese Verteilungswir- rung weitergeht, ob wirtschaftsverträgliche Regelungen (B) kung der Ökosteuer auszugleichen. Wir haben das ange- (D) angekündigt werden. Nachdem dies geschehen ist, haben mahnt. Kein Cent ging in Richtung Bedürftiger, auch sie jetzt die Produktion auf 70 Prozent erhöht. Es ist so nicht unter Schwarz-Gelb, die es immer anmahnen. Sie was von schäbig, zu unterstellen, dass diejenigen, die machen wirklich den Bock zum Gärtner. wegen Ihrer Politik einen Großteil der Produktion ins Ausland verlagert haben, (Beifall bei der LINKEN) Klar ist: Der beste Schutz vor steigenden Preisen be- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: steht darin, die Energieeffizienz, Energieeinsparungen Das war nach unserer Politik!) zu erhöhen sowie Kohle und Öl abzulösen; denn die sich über Ihre Politik freuen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie werden immer knapper und teurer. Gleichzeitig müssen so etwas noch einmal machen, dann erzählen Ihnen die wir aber die Energiewende sozial absichern – darum Firmen etwas. Uns haben sie es gesagt. Sie haben gesagt: geht ja der Streit: Wer ist sozialer? – Die Grünen wissen genau, dass sie Quatsch erzählen. Sie (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind sicher sagen es aber trotzdem, weil ihnen die Wahrheit an die- sozialistischer!) ser Stelle vollkommen egal ist. Sie tun es nur für PR, um die Leute zu überraschen. und die Kosten fair verteilen, Kollege Meierhofer. Da- rum hat die Linke ein Sieben-Punkte-Programm erarbei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tet, das diese Aspekte enthält. Uns geht es darum, die Privilegien der Industrie abzubauen, die unberechtigt Da machen wir nicht mit. Wenn Ihre Fairness darin be- sind. steht, dass man im Bundesrat blockiert, wenn die Kosten sinken, wenn es Ihre Fairness ist, dass man, wenn es um (Beifall bei der LINKEN) die Gebäudesanierung geht, bei der man viel CO2 ein- Es kann nicht sein, dass große Stromverbraucher mit- sparen könnte, sich dauernd daneben verhält, weil Sie hilfe des EEG Geld verdienen, etwa weil sie von dem nicht bereit sind, sich an den Kosten, die alle, auch die sinkenden Börsenpreis durch die Vorrangregelungen des Länder, betreffen, zu beteiligen, dann gute Nacht, EEG profitieren, selbst aber kaum EEG-Umlage zahlen, Deutschland! Wir machen es so, dass es für alle verträg- Kollege Lämmel. Befassen Sie sich doch einmal mit die- lich ist. Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt. sen Themen; das Wirtschaftsministerium hat ja bestätigt, dass es diese Probleme gibt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt wende ich mich an die Grünen. Ich verstehe Fol- Herr Kollege. gendes nicht: In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die ener- 23924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Eva Bulling-Schröter (A) gieintensiven Unternehmen lediglich 0,5 Cent Umlage (Horst Meierhofer [FDP]: Ich komme wieder, (C) als Ausgleich für den preissenkenden Merit-Order-Ef- keine Frage!) fekt – ich habe ihn schon erklärt – zahlen sollen. Dieser Der ökologische Umbau kann nur sozial gestaltet wer- beträgt aber doch 0,9 Cent; das schreiben Sie selbst. Das den, oder er wird auf Dauer nicht akzeptiert werden. heißt also: Auch hier wird den Großverbrauchern noch Deshalb brauchen wir soziale Strompreise. etwas gegeben. Wir haben einmal für einen Alubetrieb berechnet, wie sich das auswirken würde, und kommen (Beifall bei der LINKEN) auf einen Betrag von 20 Millionen Euro – und das ohne Leistung. Das ist ein bisschen viel, oder? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Einige Ausnahmen halten auch wir für berechtigt. Die Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für Linke will nicht leichtfertig Arbeitsplätze aufs Spiel set- die CDU/CSU-Fraktion. zen. Das haben wir auch in unserem Antrag im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frühsommer bereits x-mal gesagt. Weiterhin brauchen wir eine effektive Stromaufsicht im Endkundenbereich. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Denn der Großhandelsmarkt und die Netze werden Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich natürlich überwacht; denn – kein Wunder – die Industrie hätte mir wenigstens einen Minimalkonsens gewünscht, hat Interesse an niedrigen Strompreisen. Die Preisbil- der gelautet hätte: Jawohl, dieser Energieumbau kostet dung für Endverbraucher hingegen interessiert offen- viel Geld. Wir müssen über die Frage diskutieren, wie sichtlich niemanden. Das ist ebenfalls kein Wunder; das Ganze verteilt werden soll und wie wir vorgehen denn hier geht es ja nur um die privaten Haushalte und wollen. nicht um die Konzerne. Der ganze Spuk kostet eine Fa- Stattdessen erleben wir eine Feigenblattdiskussion milie rund 70 Euro im Jahr, und das betrifft nur diesen erster Güte, eine Haltet-den-Dieb-Debatte, Tatbestand; es kommt noch einiges andere hinzu. (Rolf Hempelmann [SPD]: Habt ihr gestern Darüber hinaus müssen wir über die Stromsperren re- angefangen!) den. Das ist wichtig. Stromsperren sind asozial, hierzu habe ich gestern schon etwas gesagt. bei der die eine Seite des Hauses versucht, der anderen Seite den exorbitanten Anstieg der EEG-Umlage in die (Beifall bei der LINKEN) Schuhe zu schieben. Das ist schon bemerkenswert. Reden müssen wir zudem über eine Abwrackprämie für Wenn gute Katholiken über Schuld und Unschuld spre- chen, geht es mit der Erforschung des eigenen Gewis- Stromfresser im Haushalt, damit die Leute Energie spa- sens los. Hier haben Sie einiges auf dem Kerbholz. (B) ren können. Man kann den Leuten doch nicht sagen, sie (D) sollen Energie sparen, weil die Preise steigen, und dabei ( [SPD]: Wer frei von Schuld wissen sie überhaupt nicht, wie das funktioniert. Das ist, der werfe den ersten Stein!) geht gar nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Freiflächenpho- Wir wollen ein Stromtarifmodell, in dem wir Effi- tovoltaik-Einspeisevergütung im Jahr 2003 45,7 Cent zienz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden. und im Jahr 2005 noch 43,4 Cent betrug. Wenn man in dem Tempo, das Sie da vorgegeben haben, weiterge- (Beifall bei der LINKEN) macht hätte, wären wir heute noch bei einer Vergütung Wir wollen mehr Geld in die energetische Gebäudesa- in der Größenordnung von 30 Cent pro Kilowattstunde. nierung fließen lassen; das ist aus sozialen Gründen drin- Es ist Legendenbildung, wenn hier manche behaupten, gend notwendig. Wir wissen, dass viele Menschen be- sie hätten die notwendige Reduzierung der Einspeisever- reits aus ihren Wohnungen ausziehen mussten, weil sie gütungen im Solarbereich mit großer Wonne unterstützt. die Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Das ist einfach falsch. Sie wissen ganz genau, dass die Altlast, die das EEG mitschleppt, der Sprengsatz dieses Nicht zuletzt – da stimmen wir mit den Grünen nicht Gesetzes, die Tatsache ist, dass Sie mit der Photovoltaik überein – wollen wir die Stromsteuer senken. Ihre Len- zu früh an den Markt gegangen sind, als es noch zu teuer kungswirkung ist marginal. war. Das ist das Problem. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Linke als Steuersenkungspartei!) der FDP) Wir setzen auf das Lenkungsinstrument EEG, Kollege Es ist auf ganz besondere Art und Weise unredlich, uns Meierhofer, und hier darf eben nicht gesenkt werden, das jetzt in die Schuhe schieben zu wollen und zu sagen: wie Sie es immer fordern. Wir wollen das EEG aus- Schaut her! Die haben die böse Industrie von der Um- bauen. lage befreit. Deshalb ist das so teuer. Nun gestehe ich den Linken zu, dass sie das tun, was Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sie an der Stelle immer tun, nämlich auf ihre Klientel Frau Kollegin, Ihre Zeit ist abgelaufen. schielen und sagen: Wichtig ist, dass die Hartz-IV-Emp- fänger befreit sind. Wir schenken ihnen auch noch einen Kühlschrank. Dann ist die Welt wunderbar. – Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Meine Zeit ist leider für heute abgelaufen. (Zuruf von der LINKEN: Das ist ja peinlich!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23925

Dr. Georg Nüßlein (A) Das gestehe ich Ihnen zu; aber das interessiert hier wirk- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (C) lich niemanden. Sie haben die Tragweite Ihrer Frage zum Schluss Gott sei Dank selber relativiert; denn Sie haben immerhin Wenigstens von der SPD, die in der Großen Koalition – das billige ich Ihnen zu – die Kosten richtig zugeord- bei dem Thema mit dabei war, net. Sie stimmen mir doch hoffentlich zu, dass das, was (Ulrich Kelber [SPD]: Wir waren nicht mit da- Sie gerade angeführt haben, nichts mit der Steigerung bei! Ihr habt uns blockiert!) der EEG-Umlage zum jetzigen Zeitpunkt zu tun haben kann. hätte ich aber erwartet, dass sie sagt: Freunde, es ist voll- kommen richtig, dass man die energieintensive Industrie (Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist ja heute in Deutschland von der EEG-Umlage befreit; wir sind da auch nicht das Thema! Da oben steht das auf dem richtigen Weg. – Das hätte ich von Ihnen erwar- Thema! Verteilung der Kosten der Energie- tet. wende ist das Thema!) Herr Krischer, Ihr komischer Vergleich mit dem Das ist doch wohl Fakt. Deshalb ist Ihre Frage an dieser Durchschnitt ist im Übrigen Unfug. Denken Sie daran: Stelle komplett unsachgerecht. Deutschland ist die letzte Industrienation in Europa. Es Aber ich räume ein, dass es uns auch darum gehen kommt nicht darauf an, ob wir knapp über oder knapp muss, das Thema Offshorewindenergie – da gab es bis unter dem Durchschnitt liegen, sondern darauf, dass wir dato einen Konsens; Sie sind offenkundig bereit, ihn zu diesen Status halten; das ist entscheidend. kündigen – angesichts der größeren Zahl der Laststun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den bei der Energiewende zu berücksichtigen. Da geht neten der FDP) es am Schluss natürlich auch um die Frage: Wer trägt welche Risiken? Wie gestalten wir dies, dass am Schluss Das können wir nur tun, wenn wir dieses Thema auch im noch investiert wird? Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh- internationalen Bereich sehr präzise angehen. men, dass wir redlich und ernsthaft darum ringen, diese Risiken gerecht zu verteilen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie sollten jetzt nicht noch eine Nebelkerze zünden; Herr Nüßlein, der Kollege Lenkert möchte Ihnen eine aber das tun Sie, um die Verwirrung komplett zu ma- Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen? chen. Es geht Ihnen nämlich bei diesen Debatten perma- nent darum, die Verwirrung komplett zu machen, anstatt zu sagen: Jawohl, diese Energiewende ist teurer. – Wir (B) (D) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): müssen letztendlich über die Frage reden, wie wir damit Ja, bitte schön, gerne. umgehen. (Florian Pronold [SPD]: Keine Antwort auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Frage!) Bitte. Ich sage Ihnen ganz offen: Es hat mich ernsthaft geär- gert, dass Kollege Trittin und Ihr Parteivorsitzender, Ralph Lenkert (DIE LINKE): Herr Özdemir, in letzter Zeit Unwahrheiten verbreitet Herr Kollege Nüßlein, ich stelle eine Frage zu den haben. Das ist schon ein dreistes Ding. Ich gehe gar Offshorewindparks, die von Ihrer Koalition bevorzugt nicht auf die Zahlen ein; denn schon die Zahlen, die werden. Stimmen Sie mir zu, dass Sie den Betreibern der Quantitäten waren falsch. Sie haben nämlich immer von Offshorewindparks mehrere Geschenke unterbreitet ha- über 2 000 Unternehmen gesprochen, die von der Um- ben, indem Sie erstens eine Vergütung für die Off- lage befreit seien. Wenn man genau gelesen hätte, hätte shorewindenergie in Höhe von 15,9 Cent pro Kilowatt- man gesehen, dass das die Unternehmen sind, die ent- stunde durchgesetzt haben – sie ist übrigens höher als die sprechende Anträge gestellt haben. Zum jetzigen Zeit- Vergütung für Solarstrom –, zweitens den Netzkunden punkt sind etwas über 700 Unternehmen befreit. Wenn die Kosten für den Anschluss der Offshorewindparks an man weiter im Gesetz gelesen hätte, nicht Verwirrung die Koppelpunkte an Land aufgedrückt haben und Sie hätte stiften wollen und nicht bewusst die Unwahrheit jetzt drittens als Krönung dafür gesorgt haben, dass die hätte sagen wollen, dann hätte man auch lesen können, Netzkunden, die nichts dafür können, die Versicherung dass nur das produzierende Gewerbe und der Schienen- bezahlen müssen, die einspringt, wenn Windparks nicht verkehr befreit werden können. Ein Golfplatz ist selbst rechtzeitig angeschlossen werden bzw. es in Zukunft zu bei der weitesten und naivsten Auslegung Ausfällen kommt? Allein die Kosten der Versicherung gegen das Risiko ausfallender Nutzungsstunden in den (Zuruf von der CDU/CSU): Wider besseres Offshorewindparks betragen 1 Milliarde Euro; dieses Wissen alles behaupten!) Geschenk haben Sie den Betreibern gemacht. Stimmen kein produzierendes Gewerbe. Sie mir zu, dass dies Ihre Politik ist, die nicht über die EEG-Umlage, aber über die Netznutzungsentgelte dazu Wenn ich mir die Richtlinien der BAFA anschaue führt, dass die Kosten der Endverbraucher um 1 bis – ich könnte sie Ihnen im Einzelnen vorlesen, aber dafür 2 Cent je Kilowattstunde steigen? reicht die Zeit leider nicht –, – 23926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Reden Sie mit uns doch über vernünftige Dinge, bei- (C) Aber vielleicht reicht die Zeit für eine Zwischenfrage. spielsweise über die Frage, wie man die EEG-Umlage berechnet. Das wäre eine spannende Debatte. Denn ich Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): sehe, dass die Berechnung einen Zirkelschluss enthält und dass der Druck auf die Preise für Strom aus grenz- – dann finde ich auch dort keinen Golfplatz. Trotz- kostenlosen erneuerbaren Energien dazu führt, dass die dem tragen Sie diesen Golfplatz wegen des Verhetzungs- EEG-Umlage steigt. Man kann darüber diskutieren, wie potenzials monstranzartig vor sich her, damit Sie sagen man so etwas in Zukunft gestaltet. Das ist eine span- können: Das sind die anderen. nende Geschichte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Rolf Hempelmann [SPD]: Dazu kommen Sie tun so, als ob das das Negativbeispiel wäre, anhand doch keine Vorschläge von Ihnen!) dessen man zeigen könnte, welche bescheuerten Aus- nahmen wir gemacht haben. Auch über die Frage der Verteilung der Lasten durch die EEG-Umlage kann man aus meiner Sicht diskutie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren. Vielleicht fällt uns etwas ein, wie wir die EEG-Um- lage, die 20 Jahre läuft, so gestalten können, dass auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die nachfolgende Generation – schließlich profitiert Herr Nüßlein, möchten Sie die Frage von Frau Höhn diese davon, dass wir in die Erneuerbaren eingestiegen zulassen? sind und ohne variable Kosten Strom produzieren kön- nen – einen Teil dieser Lasten übernimmt. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Rolf Hempelmann [SPD]: Die übernimmt Ja. schon ganz andere Lasten!) Dazu gibt es intelligente Ideen. Dafür müssen Sie lesen, Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): was die CSU dazu publiziert. Das ist hochspannend, Der arme Herr Nüßlein. – Herr Nüßlein, können Sie nicht nur weil es von der CSU ist, sondern weil es – das bestätigen, dass zwei Golfplätze – einer liegt in Sontho- hängt natürlich damit zusammen – intelligent ist. fen – einen Antrag auf Befreiung von den Netzdurchlei- (Zuruf von der SPD: Da müssen Sie ja selber tungsgebühren gestellt haben und dass Sie bei den Netz- lachen!) durchleitungsgebühren nicht den Faktor „Produktion“ berücksichtigt haben? Können Sie das bestätigen? Ja Ich lade Sie ein, solche Diskussionen mit uns zu füh- (B) oder nein? ren, und möchte Sie bitten, hier nicht am laufenden Band (D) solche Verwirrungsaktionen zu starten. Schließlich ha- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! – Weitere ben wir morgen das Vergnügen, dasselbe Thema noch Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: einmal miteinander zu bereden. Nein!) Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Frau Höhn, ich kann etwas dieser Art überhaupt nicht Hempelmann [SPD]: Ihr hättet ja auf eure De- bestätigen, weil ich nicht weiß, wer welchen Antrag batte gestern verzichten können!) stellt. Das ist das Erste. Im Unterschied zu Ihnen – das ist der zweite Punkt – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weiß ich auch nicht, wie dieser Antrag am Schluss be- Ich schließe die Aussprache. schieden wird; denn ich habe leider nicht so viel Augu- renvermögen wie Sie. Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/11004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Dritter Punkt – und das halte ich für ganz entschei- schüsse zu überweisen. Darüber gibt es Einvernehmen; dend –: Ich habe von der EEG-Umlage gesprochen, und jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen von ich habe bis dato gedacht, dass auch Sie davon reden. CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Aus- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Das tue ich ja!) Bündnis 90/Die Grünen hingegen beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Jetzt reden Sie wieder von etwas anderem. Man muss schon wissen, wovon man redet, wenn man nicht nur zur Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag von Verwirrung beitragen will. Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Enthaltungen? – Damit ist dieser Überweisungsvor- schlag abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringende Sie wollen nur einseitig zur Verwirrung beitragen und Fraktion und die Linke. Die übrigen Fraktionen waren rufen: Die Kosten haben die anderen verursacht. Wir ha- dagegen. ben nur gute Dinge gemacht. – Das ist falsch und unred- lich, und das kann man Ihnen an der Stelle nicht durch- Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der gehen lassen. Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23927

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch die tion der SPD Koalitionsfraktionen und die SPD angenommen. Dage- gen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Freiheit und Unabhängigkeit der Medien si- chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal- Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 6 a bis e auf: ten und Qualität im Journalismus stärken ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- – Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 – regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Berichterstattung: Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG) Abgeordneter Reinhard Grindel Martin Dörmann – Drucksache 17/9852 – Burkhardt Müller-Sönksen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Kathrin Senger-Schäfer ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Tabea Rößner schuss) Ich weise darauf hin, dass wir später über Art. 3 des – Drucksache 17/11053 – Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nament- Berichterstattung: lich abstimmen werden. Abgeordneter Ingo Egloff Zu dem genannten Gesetzentwurf liegt ein Entschlie- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ßungsantrag der Fraktion der SPD vor. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. – ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion. Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht verankern (Beifall bei Abgeordneten der FDP) – Drucksachen 17/9956, 17/11053 – Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Berichterstattung: Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! (B) Abgeordneter Ingo Egloff Ich freue mich, heute die Debatte über die achte GWB- (D) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Novelle eröffnen zu dürfen. Der Bundeswirtschafts- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- minister und diese Koalition stärken damit die wettbe- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Frak- werblichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Diese tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reform ist ein klares ordnungspolitisches Signal, mit dem Wachstumskräfte und der Wirtschaftsstandort Presse-Grosso gesetzlich verankern Deutschland nachhaltig gestärkt werden. Die Verbrau- cher profitieren genauso davon. – Drucksachen 17/8923, 17/9989 – (Beifall bei der FDP) Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein Ich glaube, es ist uns vor allem gut gelungen, auf der d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- einen Seite den Fokus klar auf kleine und mittlere Be- richts des Ausschusses für Kultur und Medien triebe in Deutschland zu richten und auf der anderen (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen Seite nicht ohne Not starke und große Unternehmen zu SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwächen. Beispielsweise im Bereich des Presse- und Medienwesens ist das hervorragend gelungen. Wir las- Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt sen zu, dass gerade in den Bereichen, in denen einzelne auf solide Datenbasis stellen Unternehmen bedroht sind, Fusionen zur Sanierung die- ser Unternehmen stattfinden. Wir brauchen hier starke – Drucksachen 17/9155, 17/11058 – Medienunternehmen. Das ist ein ganz klares Signal für Berichterstattung: die Stärkung des Wettbewerbs im Medienbereich. Abgeordnete Reinhard Grindel Martin Dörmann Oftmals ist groß auch klein. Markenunternehmen bei- Burkhardt Müller-Sönksen spielsweise haben große Marktanteile in ihren Branchen, Kathrin Senger-Schäfer aber bezogen auf den Lebensmitteleinzelhandel insge- Tabea Rößner samt haben sie nur einen kleinen Anteil am Marktsorti- ment. Deswegen freue ich mich, dass wir beispielsweise e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- das Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unter Ein- richts des Ausschusses für Kultur und Medien standspreisen um weitere fünf Jahre verlängern konnten. (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Auch dies ist ein starkes Signal. Wir wollen gerade im ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Handel in Deutschland Wettbewerb haben. Das tut den 23928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Martin Lindner (Berlin) (A) Verbrauchern gut, das sorgt für günstigere Preise. Das wir Wettbewerb, Aufsicht und Fusionskontrolle zuguns- (C) haben wir mit dieser Novelle richtig und gut gemacht. ten der Marktwirtschaft und vor allen Dingen zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben. der CDU/CSU) Ich sage Ihnen: Es war richtig und wichtig, auch öf- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fentliche und gesetzliche Unternehmen in diese Novelle Herr Kollege! einzubeziehen. In dieser Auffassung unterscheiden sich die zwei Hälften dieses Hauses. Die linke Hälfte dieses Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Hauses sagt: Was öffentlich-rechtlich ist, was hoheitlich Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ist, was staatlich ist, ist gut und bedarf keiner Kontrolle. Die vernünftige Hälfte des Hauses sagt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist was?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wer am Markt teilnimmt, muss sich auch der Aufsicht Der Kollege Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die stellen, unabhängig davon, ob es staatliche oder private SPD-Fraktion. Anteilseigner gibt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Das gilt für den Bereich der Wasserversorgung und in Ingo Egloff (SPD): anderen Bereichen. In der Vergangenheit haben gerade Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und staatliche Monopolunternehmen für extrem hohe Preise Herren! Die achte Novelle zur Änderung des GWB- gesorgt. Deswegen ist es richtig und vernünftig, dass wir Gesetzes hat drei Jahre gebraucht, um es hier ins Plenum ein Auge darauf haben und sich auch diese Unternehmen zu schaffen, und in den letzten drei Wochen ist noch ein- in Deutschland dem Wettbewerb und der Aufsicht stel- mal hektisch an dem Gesetzentwurf herumgeschraubt len müssen. worden, ohne dass man genau erkennen kann, warum. Das Ergebnis ist anscheinend der kleinste gemeinsame Ich komme zu den gesetzlichen Krankenkassen. Ich Nenner der Koalitionspartner. Jedenfalls sind Punkte, die sage Ihnen: Auch was einem sozialen Zweck dient, auch einst wortgewaltig von Herrn Brüderle angekündigt wor- was primär sozialgesetzlichen Regelungen unterstellt ist, den sind, zum Beispiel Regelungen zur Entflechtung der kann Preisabsprachen treffen, kann zum Nachteil des Unternehmen, dabei sang- und klanglos auf der Strecke (B) Wettbewerbs verdrängen und fusionieren. Deswegen ist geblieben. (D) es richtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen ab sofort der Fusionskontrolle in Deutschland unterliegen sollen. (Beifall bei der SPD) (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Absurd!) Nicht ausreichend geregelt ist in dem Gesetzentwurf die Frage der Abschöpfung unrechtmäßig erlangter Nichts ist sozialer als ein gesunder, geregelter Wettbe- Kartellgewinne. Wer wie das Kaffeekartell unrecht- werb in Deutschland. Nichts ist sozialer als dies. Nicht mäßige Gewinne in Höhe von 860 Millionen Euro die Schaffung und Förderung von privaten oder öffentli- macht, der lässt sich auch durch ein Bußgeld in Höhe chen Monopolen ist die zentrale Aufgabe des Staates, von 160 Millionen Euro nicht beeindrucken. sondern die Herstellung und Stärkung von Wettbewerb. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der wichtigste Kritikpunkt ist aus unserer Sicht aber die Einbeziehung der gesetzlichen Krankenkassen in den Das beinhaltet folgende Grundsätze: Bereich der Fusionskontrolle. Hier können wir wieder einmal die neoliberale Resterampe der FDP besichtigen. Erstens. Der Markteintritt muss gesichert werden. (Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP: Zweitens. Es muss einen fairen Wettbewerb geben. Oh!) Dies beinhaltet übrigens auch den Austritt aus dem Markt. Es beinhaltet auch, dass ein Unternehmenskon- Ich hatte in den letzten drei Wochen erwartet, dass die zept scheitern kann, wie das beispielsweise bei Quelle Kollegen von der CDU/CSU – ich weiß von dem einen oder Schlecker der Fall war. Dazu gehört auch, dass der oder anderen, dass er überhaupt nicht damit einverstan- Staat nicht zulasten der Mitbewerber, die erfolgreiche den ist, dass die Krankenkassen einbezogen werden – Unternehmenskonzepte haben, intervenieren kann. diesen Punkt noch herausverhandeln. Aber anscheinend haben sie sich nicht durchsetzen können und müssen den Drittens: Wachstum und Größe ermöglichen – auch Unsinn, den ihnen der liberale Koalitionspartner in die- das ist ein wichtiges Prinzip der Marktwirtschaft –, aber sen Gesetzentwurf geschrieben hat, hinnehmen. gleichzeitig dafür sorgen, dass die Größe von Unterneh- men nicht zu Verdrängungen auf dem Markt führt. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Warum ist das Unsinn?) Ich glaube, diesen Grundsätzen wird diese Novelle in hervorragender Weise gerecht. Diese Koalition und die- Diese Regelung hat in dem Gesetzentwurf nichts zu ser Bundesminister werden weiterhin dafür sorgen, dass suchen. Sowohl nach deutschem als auch nach europäi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23929

Ingo Egloff (A) schem Recht sind Krankenkassen keine Unternehmen im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) kartellrechtlichen Sinne. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie sind Teil der mittelbaren Landes- bzw. Bundesver- Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer spricht für die waltung und laut Bundessozialgericht – hören Sie zu – CDU/CSU-Fraktion. „organisatorisch verselbstständigte Teile der Staatsge- walt“. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Die Fusionskontrolle ist überflüssig, weil die freiwil- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! lige Vereinigung von gesetzlichen Krankenkassen schon Heute beschließen wir hier in zweiter und dritter Lesung dem sozialrechtlichen Genehmigungsvorbehalt durch die achte Novelle zum Grundgesetz der sozialen Markt- die Aufsichtsbehörde unterliegt. wirtschaft. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirt- schaft ist nämlich die Wettbewerbswirtschaft. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: So ist es!) (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Der Bundesrat hat völlig recht, wenn er feststellt, – Da sollten Sie auf der linken Seite nicht lachen, son- dass das Verhalten der Krankenkassen weiterhin dern gut zuhören, damit Sie vielleicht noch das eine oder nach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben andere lernen. und allein durch die für die Rechtsaufsicht über die jeweilige Krankenkasse zuständige Aufsichts- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Lassen Sie das behörde beurteilt wird. „sozial“ mal weg!) Gerade dieser Wettbewerb ist ursächlich dafür, dass Er stellt auch fest, dass einer Beteiligung des Bundes- wir in diesem Land Fortschritt erzielen. Das GWB sorgt kartellamts verfassungsrechtliche Bedenken entgegen- nämlich durch den Rahmen, dieses Grundgesetz, das es stehen. aufspannt, dafür, dass der Wettbewerb funktioniert und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten möglichst ungehindert ein vielgestaltiger Wettbewerb der LINKEN – [FDP]: Warum auf allen Märkten stattfindet, ganz im Sinne von Ludwig die Länder das wohl wollen?) Erhard. Anders als in der reinen Marktwirtschaft oder in der menschenverachtenden Planwirtschaft nach Ihrem Gesetzliche Krankenkassen als Körperschaften des (B) Gusto besteht in der sozialen Marktwirtschaft das So- (D) öffentlichen Rechts, die im Verhältnis untereinander und ziale darin, dass die Effizienzgewinne, die über den zu ihren Mitgliedern vom Solidarprinzip geprägt sind, Wettbewerb im Markt gehoben werden, dem Verbrau- sind nicht mit freien Unternehmen vergleichbar. Gesetz- cher in allen Sektoren zugutekommen. Es bedarf also liche Krankenkassen sind Ausdruck des Sozialstaats- keiner sozialen Flankierung in dem Sinne, dass der Staat prinzips – auch wenn Ihnen das nicht gefällt, Herr eingreifen muss. Vielmehr hebt der Wettbewerb die Effi- Dr. Lindner – und deshalb zu Recht bisher von der Über- zienzpotenziale, die dem Verbraucher zugutekommen. prüfung durch die Kartellbehörden ausgenommen. Seien Das ist der Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft. Sie sicher: Wenn wir regieren, ändern wir das wieder. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Super! Jetzt habe (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ auch ich es verstanden! – Heiterkeit bei der CSU]: Das wird lange nicht der Fall sein!) CDU/CSU) Sie schaffen nicht nur überflüssige Doppelstrukturen – Das freut mich, Volker. auf der Genehmigungsebene, sondern Sie gefährden auf europäischer Ebene die Stellung der Krankenkassen. Wir (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- laufen Gefahr, dass die Anwendung des Kartellrechts zur NEN]: Volker Kauder hat die soziale Markt- Folge hat, dass Krankenkassen nach europäischem wirtschaft verstanden! Sehr schön!) Recht als Unternehmen eingestuft werden, unter Aus- Mit dieser Rolle kam das GWB bisher sehr gut zu- blendung des sozialstaatlichen Auftrages. recht. Daher beschränkt sich diese Novellierung auf Ver- Gesetzliche Krankenkassen sind zu einer kassenüber- besserungen in Kernbereichen der Fusionskontrolle, der greifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen, Missbrauchsaufsicht und bei Verfahren wegen Kartell- innerhalb derer ein Kosten- und Risikoausgleich erfolgt. verstößen. Das Solidarprinzip lässt an dieser Stelle ein Gewinnstre- Was wird konkret geregelt? Hervorzuheben ist hier ben nicht zu, und darüber hinaus besteht die Verpflich- die Verlängerung des Verbots der Preis-Kosten-Schere tung, jeden Versicherungspflichtigen aufzunehmen. um weitere fünf Jahre. Der Wettbewerb auf dem Kraft- Sie gefährden aus ideologischen Gründen das System stoffsektor ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen. der gesetzlichen Krankenkassen. Das Kartellrecht passt Deshalb ist ein Gesetz in Vorbereitung – Stichwort hier nicht. Es ist systemwidrig, und deswegen lehnen wir Markttransparenzstelle –, das insbesondere die kleinen Ihren Gesetzentwurf ab. und mittleren Tankstellenbetreiber betrifft. Auch wird die spezielle Preismissbrauchsaufsicht für marktbeherr- Vielen Dank. schende Strom- und Gasanbieter um weitere fünf Jahre 23930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Joachim Pfeiffer (A) verlängert. Dies ist notwendig, um in Bereichen, in de- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) nen der Wettbewerb noch nicht vollendet funktioniert, Nein. Aber Sie sind schon seit 40 Sekunden über Ih- mit dem Hammer im Schrank dem Wettbewerb auf die rer Zeit. Beine zu helfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Gemäß dem ehemaligen Vorsitzenden der Monopol- Zudem wird das wettbewerbliche Handeln der gesetz- kommission, Möschel, schließe ich, ganz wie es die Prä- lichen Krankenkassen zukünftig dem Kartellrecht unter- sidentin wünscht, – liegen. Darüber kann man in der Tat diskutieren. Aber durch die Reformgesetze der vergangenen Jahre im Krankenkassenbereich sind wesentliche wettbewerbli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: che Elemente in der Krankenversicherung gestärkt wor- Wie es Ihre Zeit vorsieht. den. Beispielsweise wurden die Möglichkeiten der Kran- kenkassen, Selektivverträge abzuschließen, erweitert. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Auch können sie in erweitertem Umfang Wahltarife und – wie folgt: Satzungsleistungen anbieten. Darüber hinaus haben wir Die Erfahrung zeigt, daß da, wo Märkte funktionie- seit 2011 den für die Kassen individuell eingeführten ren, jeder kriegt, was er will. Zusatzbeitrag, der auch ein zentrales Unterscheidungs- kriterium im Wettbewerb darstellt. Wenn Bereiche, die Wir wollen, dass jeder kriegt, was er will. Deshalb hof- bisher nicht im Wettbewerb standen, an den Wettbewerb fen wir nicht nur heute im Bundestag, sondern auch im herangeführt werden oder in den Wettbewerb überführt Bundesrat auf Zustimmung zum vorliegenden Gesetz- werden, ist es natürlich logisch, auch diese dem GWB zu entwurf. unterstellen und in das Grundgesetz der sozialen Markt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirtschaft einzubeziehen. Die effiziente Versorgung der Patienten wird darunter nicht leiden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Konflikte mit dem Sozialrecht, am Beispiel „Koope- Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die rationsgebot der Krankenkasse“, sind nicht zu erwarten. Linke. Die Gefahr, dass die EU durch die Hintertür über den Wettbewerb in den Gesundheitsbereich eingreift, was (Beifall bei der LINKEN – wir uns nicht wünschen, sehe ich in Deutschland als [Münster] [FDP]: Jetzt kommt das Gegen- nicht gegeben an. modell: die Planwirtschaft!) (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Auch gemeinsames Handeln der Krankenkassen ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukünftig weiterhin möglich, beispielsweise beim Wir reden hier und heute über die immerhin achte No- Mammografie-Screening. Im vorliegenden Gesetzent- velle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. wurf geht es um einen regelrechten Bauchladen von Wenn es dabei darum ginge, die Verbraucherinnen und Themen, weil er alle betroffenen Sektoren behandelt. Verbraucher und die kleinen und mittleren Unternehmen Der Handlungsspielraum kleinerer und mittlerer Presse- vor der Marktmacht der Großkonzerne zu schützen, unternehmen wird gestärkt. Die Aufgreifschwelle bei dann würde die Linke ihr gerne zustimmen. Aber dazu Fusionen von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen wird ist sie leider völlig unzureichend. von 25 auf 52,5 Millionen Euro erhöht; dies stärkt die kleinen Verlage, den Mittelstand und die Medienland- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schaft insgesamt. Auch sind Sanierungsfusionen zukünf- Wer? Die Linke oder die Novelle?) tig leichter möglich, als es bisher der Fall ist. Uns ist Illegale Preisabsprachen schädigen die Verbrauche- lieber, dass kleine Verlage übernommen werden, als dass rinnen und Verbraucher in Millionen- oder sogar Milliar- sie aus wirtschaftlichen Gründen ganz aus dem Markt denhöhe. Beim sogenannten Badezimmerkartell zum ausscheiden. Beispiel schätzt man, dass es um einen Betrag von (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) 7 Milliarden Euro ging. Die Linke fordert deshalb ers- tens deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnen Last, but not least wird das Presse-Grosso-System und Verbraucher im Klageverfahren. Zweitens wollen durch eine Betrauungslösung rechtlich abgesichert. wir, dass die Geschädigten ihr zu viel gezahltes Geld un- Auch dies stärkt die Pressevielfalt, insbesondere im bürokratisch zurückbekommen, etwa durch einfachere ländlichen Raum. Sammelklagen. Und: Ein Fünftel der Bußgelder soll der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) unabhängigen Verbraucherarbeit zufließen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das leistet Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Dabei Herr Kollege! könnten Sie hier wirklich etwas Gutes für die Verbrau- cherinnen und Verbraucher tun. Stattdessen verfolgt die Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): schwarz-gelbe Bundesregierung die absurde Idee, das Gibt es eine Zwischenfrage? Kartellrecht jetzt noch mehr über die gesetzlichen Kran- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23931

Kathrin Vogler (A) kenkassen zu stülpen. Das ist aber völlig neben der Spur. mente nicht dazu führt, dass die Krankenkassen künftig (C) Die gesetzlichen Krankenkassen sind keine Wirtschafts- als Unternehmen einzuordnen sind? Ich frage mich, was unternehmen. Sie haben einen gesetzlichen Auftrag, der zutrifft: Wissen Sie das, sagen aber etwas anderes, oder nahezu das gesamte Leistungsspektrum regelt. Ihre Ver- wissen Sie das nicht? In diesem Fall sollten Sie viel- sicherten sind keine Kunden, sondern Mitglieder; sie leicht Ihre Rede umschreiben. zahlen keine Versicherungsprämien, sondern Beiträge, und die Kassen dürfen keine Gewinne machen. Kathrin Vogler (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Liebe Frau Kollegin, ich bedanke mich sehr für diese Frage, weil mir das ermöglicht, noch ein bisschen mehr Die Linke sagt: So soll es bleiben. Wir wollen eine soli- auf Details einzugehen. darische gesetzliche Krankenversicherung erhalten und sie zu einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wei- Tatsächlich haben Sie offensichtlich auch gemerkt, terentwickeln. welche Schwierigkeiten mit dieser GWB-Novelle ins Aber für die FDP und leider auch für große Teile der Haus stehen, wenn Sie nicht nachbessern. Deshalb haben Union ist dies ein kaum erträglicher Fremdkörper im Sie uns gestern im Ausschuss ja auch noch einen Ände- neoliberalen Weltbild. rungsantrag vorgelegt, der den Kassen zumindest teil- weise weiter gemeinsames Handeln erlaubt. Liebe Kol- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ei, ei, ei!) legin Aschenberg-Dugnus, das macht den gesamten Sie predigen Ihren Glaubenssatz vom Wettbewerb der Gesetzentwurf aber nicht besser, sondern allenfalls kom- Kassen. Dazu gehört dann eben auch, dass Kassen nicht plizierter. mehr zusammenarbeiten dürfen, wenn sie dadurch eine Meine Prognose ist, dass wir erleben werden, wie sich große Marktmacht erringen. Heerscharen hochdotierter Consulting-Unternehmer, Be- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Falsch! Das ist rater, Juristen und Fachreferenten damit auseinanderset- doch gar nicht wahr! – Dr. Georg Nüßlein zen werden, wo jetzt die Grenze zwischen der von Ihnen [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) mit diesem Gesetzentwurf erlaubten und der unerlaub- ten, weil kartellrechtlich zu kontrollierenden, Zusam- Dabei wäre genau diese Zusammenarbeit im Interesse menarbeit liegt. Das heißt, die Versicherten, die Patien- der Versicherten. tinnen und Patienten, haben davon gar nichts, aber es gibt eine ganze Schar von Leuten, die dadurch wieder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sehr gutes Geld verdienen werden. (B) Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwi- Vielen Dank. (D) schenfrage, und zwar von Frau Aschenberg-Dugnus. (Beifall bei der LINKEN – Christine Kathrin Vogler (DIE LINKE): Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank für Sehr gerne. die Nichtbeantwortung der Frage!) Im Übrigen gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass Ihre Art von Wettbewerb den Versicherten nutzt. Im Bitte schön. Gegenteil: Er führt zur Konkurrenz der Kassen um junge und gesunde Mitglieder und zu Kostendrückerei zulasten Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Kranker. Der Versicherte wird im Krankheitsfall zum Vielen Dank. – Liebe Frau Kollegin Vogler, ist Ihnen Kostenfaktor. Dieses Welt- und Menschenbild lehnt die eigentlich bewusst, dass wir mit der vorliegenden GWB- Linke ab. Gesundheit ist für uns keine Ware. Novelle eine entsprechende Anwendung des Wett- (Beifall bei der LINKEN) bewerbs- und Kartellrechts anordnen, eben keine unmit- telbare? Ist Ihnen bewusst, dass mit der juristischen For- Jetzt kurz noch einmal zur SPD. Herr Kollege Egloff, mulierung „entsprechend“ dem Umstand Rechnung Sie gebärden sich hier ja sehr schön populistisch als Ret- getragen wird, dass die Krankenkassen keine Unterneh- ter der Krankenkassen vor dem Wettbewerbsrecht. men sind? (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das mit dem Ist Ihnen weiterhin bewusst, dass bereits seit 2007 Populismus ist Ihnen ja fremd!) Vorschriften des Kartellrechts im Hinblick auf das Ver- hältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer Erinnern Sie sich nicht mehr daran, dass Sie es waren, ebenfalls entsprechend angewendet werden und dass die die Krankenkassen mit den Wahltarifen, den Selek- niemand, auch nicht der EuGH, deswegen auf die Idee tivverträgen, den Zusatzbeiträgen, den Prämien und an- kommt, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, eine Ein- deren unternehmerischen Elementen in den ökonomi- ordnung der Krankenkassen als Unternehmen vorzuneh- schen Wettbewerb geschickt haben? Jetzt stellen Sie men? ganz überrascht fest, dass Sie mit dem Wettbewerb, den Sie wollten und den Sie gesät haben, Wettbewerbsrecht Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass im EU-Kartellrecht ernten. ein funktionaler Unternehmensbegriff vorherrscht, das heißt, dass die Einführung der wettbewerblichen Ele- (Ingo Egloff [SPD]: Das stimmt doch nicht!) 23932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Kathrin Vogler (A) Die Linke sagt kategorisch: Im Gesundheitswesen In das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (C) darf es Wettbewerb nur und ausschließlich um die beste wird als ultima ratio ein Entflechtungsinstrument Versorgung von Patientinnen und Patienten geben. integriert. (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr Auch die Experten in der Anhörung und die Mono- [Münster] [FDP]: Dafür ist das Kartellrecht polkommission sind der Auffassung: Wir brauchen auch doch da! – Gabriele Molitor [FDP]: Wir ma- im Kartellrecht ein missbrauchsunabhängiges Entflech- chen das doch für die Patienten! – Gisela Piltz tungsinstrument als Ultima Ratio. [FDP]: Wissen Sie eigentlich, wovon Sie spre- chen?) Mit anderen Worten: Es ist in Oligopol und Monopol alles andere als leicht, einen Missbrauch nachzuweisen. Darum müssen wir uns bei Ihrem Entschließungsantrag Deshalb müsste diese Forderung in dieser Novelle des leider auch enthalten. Kartellgesetzes stehen, und das tut sie nicht. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD Ich will auf einen anderen Punkt eingehen – ich habe und Grünen, die gesetzliche Krankenversicherung ernst- es anfangs erwähnt –: Das Kartellgesetz, der Wettbewerb haft als soziales Umlagesystem erhalten wollen und zu stehen im Dienst der Verbraucherinnen und Verbraucher. einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche- Wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher, rung für alle ausbauen, dann schreiten wir gerne mit Ih- muss oftmals die durch Kartelle abgesprochenen über- nen Seit’ an Seit’. höhten Preise bezahlen? Wer, wenn nicht die Verbrau- cherinnen und Verbraucher, kann dazu beitragen, dass (Beifall bei der LINKEN) Marktmissbrauch aufgedeckt wird, und wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitiert von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fairem Wettbewerb? Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Tobias Lindner. Meine Damen und Herren, meine Fraktion, wir for- dern, dass die Belange des Verbraucherschutzes ins Kar- Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tellgesetz aufgenommen werden und dass Verbraucher- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verbände auch entsprechend gestärkt werden. Das ist Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte dringend notwendig. zeigt: Wir sind uns in diesem Haus über zwei Dinge ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gentlich einig: sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf (B) Erstens. Das Kartellrecht ist wichtig in unserer sozia- von der CDU/CSU: Das ist doch geschehen!) (D) len Marktwirtschaft. Wettbewerb ist kein Selbstzweck. Lassen Sie mich an dieser Stelle, gerade weil wir in Wettbewerb ist nicht aus sich heraus gut, nein, Wettbe- einer parlamentarischen Debatte sind, noch einen Punkt werb soll sicherstellen, dass die Konsumentinnen und erwähnen. Es geht mir um die Ministererlaubnis, darum, Konsumenten den Preis bezahlen, der einerseits für Pro- dass wir uns da nicht falsch verstehen. Da wollen wir die duzenten kostendeckend ist, andererseits aber nicht Bundesregierung nicht aus der Verantwortung lassen. Es übertriebene Gewinne ermöglicht. ist richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister die Ver- (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] antwortung trägt, wenn eine seltene Ausnahme gemacht [FDP]) wird. Aber genauso wichtig und richtig ist es in einer parlamentarischen Demokratie, dass dann der Bundestag Zweitens. Eine Reform des Kartellgesetzes ist drin- bzw. der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie das gend notwendig; denn ein solches Gesetz muss immer Recht zu einer Stellungnahme zu einer solchen Aus- wieder an die Zeichen der Zeit angepasst werden. nahme hat und, wenn er anderer Auffassung ist, dann die Bundesregierung nochmals entscheiden muss. Das wol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len wir im Kartellgesetz ergänzt sehen. Es gibt aber eine Sache, über die wir uns gar nicht ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nig sind. Sie von der rechten Seite des Hauses haben hier diese Novelle, die in den letzten Tagen – man kann Ich möchte auf einen allerletzten Punkt eingehen. Das schon fast sagen: im Schweinsgalopp – durchgepeitscht Thema Krankenkassen ist vielfach angesprochen worden. wurde, in den Himmel gelobt. Mein Kollege Dr. Martin Es ist völlig unstrittig, dass natürlich auch gesetzliche Lindner sprach eben von einem klaren Signal für das Krankenkassen beaufsichtigt werden müssen. Wettbewerbsrecht. Nein, Herr Dr. Lindner, das ist alles andere als ein klares Signal. Was Sie hier vorlegen, ist (Beifall der Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP] vielmehr eine Nebelkerze. und Kathrin Vogler [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Das ist überhaupt nicht das Problem. Aber was das Pro- bei Abgeordneten der LINKEN) blem ist – da blicke ich genau in Ihre Richtung, zu der Partei, die sich immer des Bürokratieabbaus rühmt –: Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sie können es von Warum machen Sie das dann nicht über das Sozialge- dort aus vermutlich nicht erkennen. Es ist die Seite 18 setzbuch? Warum machen Sie eine Art doppelte Prü- Ihres Koalitionsvertrages. Dort schreiben Sie: fung? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23933

Dr. Tobias Lindner (A) (Beifall der Abg. Ingo Egloff [SPD] und Kathrin (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) Vogler [DIE LINKE]) Deswegen haben wir die Aufgreifschwellen erhöht, Das ist alles andere als effizient. Nein, das ist ein neues deshalb haben wir die Sanierungsfusionen erleichtert, Bürokratiemonster, das Sie hier aufbauen. Das wird und deshalb haben wir auch die Bagatellanschlussklau- noch eine Menge Konflikte geben. sel vorgesehen. Ich komme zum Schluss. Die vorliegende Novelle des (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kartellrechts macht eines deutlich: Sie haben die Zei- Aber Fusionen waren schon möglich!) chen der Zeit nicht erkannt. Diese Novelle programmiert die nächste Überarbeitung des Gesetzes gegen Wettbe- Lassen Sie mich noch ein Wort zum Presse-Grosso werbsbeschränkungen schon vor. Deshalb werden wir es sagen. Ich hätte es wirklich sehr begrüßt, wenn die im heute in dieser Abstimmung ablehnen. Gesetzentwurf vorgesehene europarechtliche Betrauung und kartellrechtliche Befreiung der Printverlage und des Vielen Dank. Grosso-Verbandes überflüssig geworden wären. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen habe ich im Vorfeld alle Beteiligten und sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- auch alle fünf Fraktionen zu mehreren Sitzungen eines KEN) runden Tisches eingeladen. Wir mussten dort allerdings feststellen, dass eine außergesetzliche Einigung leider nicht möglich war und auf der anderen Seite eine anste- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hende Klage gegen das Grosso-System die Gefahr her- Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta- aufbeschworen hat, dass hier Schaden entsteht. rische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. Wir haben uns deshalb schweren Herzens – das will (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der ich ganz klar sagen – zu dieser Gesetzesänderung durch- CDU/CSU) gerungen, mit der wir gesetzgeberisches Neuland betre- ten. Wir hatten so etwas noch nicht. Es sind bereits – das muss man offen sagen – Klagen gegen diese Neufassung Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun- angekündigt. desminister für Wirtschaft und Technologie: Danke schön. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle- Diese Regelung ist allerdings dennoch unumgänglich, ginnen und Kollegen! Ich habe mich als Staatssekretär weil wir wissen, dass das bewährte Grosso-System ein (B) des Bundeswirtschaftsministeriums gemeldet, aber ich Garant für die weltweit einmalige Pressevielfalt in (D) spreche hier natürlich auch als ein langjähriger Kultur- Deutschland ist, für die Überallerhältlichkeit, für die und Medienpolitiker. Deswegen will ich Ihnen eingangs Diskriminierungsfreiheit aller Presseerzeugnisse. Wir ganz offen einräumen, dass manche der Änderungen im dürfen nicht zulassen, dass dieses bewährte Presse- Pressebereich dem Bundeswirtschaftsministerium und Grosso-System in seinem Kern gefährdet oder gar zer- mir persönlich gar nicht leichtgefallen sind. Wir haben stört wird. das alles nicht leichtfertig gemacht. Das gilt insbeson- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der dere für die Bagatellanschlussklausel, die dazu führt, CDU/CSU sowie des Abg. Martin Dörmann dass alle Verlage mit weniger als 1,25 Millionen Euro [SPD]) Umsatz pro Jahr ohne jede Überprüfung durch das Kar- tellamt übernommen werden können. Wir werden dadurch bestärkt, dass bis auf einen alle deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, der Grosso- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verband und auch alle fünf Fraktionen des Deutschen Das wollten Sie doch gar nicht!) Bundestages hinter dieser Änderung stehen. Ich bin seit Das ist ein Zielkonflikt. Das will ich hier ganz offen rund 20 Jahren Mitglied dieses Hohen Hauses. Ich kann kennzeichnen. Wirtschaftliche Ordnungspolitik, für die mich nicht erinnern, dass es eine Änderung oder einen das Bundeswirtschaftsministerium ja steht, gebietet eine Vorschlag gegeben hat, der in diesem Detail von allen starke Wettbewerbskontrolle durch das Kartellamt. fünf Fraktionen dieses Hauses gemeinsam getragen wurde. Weshalb also erleichtern wir im Pressebereich die Fu- sionskontrolle? Wir tun das, meine Damen und Herren, Deswegen will ich hier abschließend feststellen: Alle weil die Digitalisierung der Medien zu einer wirklich ra- fünf Fraktionen des Bundestages bekennen sich zur santen Marktveränderung geführt hat und in Zukunft Pressevielfalt in Deutschland, bekennen sich zum noch weiter führen wird. Die Umsätze verschieben sich Presse-Grosso-System, das diese Pressevielfalt sichert. in immer größerem und immer schnellerem Umfang von Das ist immerhin eine gute Nachricht. Ich hoffe, dass es Printangeboten hin zu digitalen Angeboten. Wir müssen uns gelingen wird, mit dieser Änderung dazu beizutra- deshalb insbesondere die kleinen und mittleren Verlage, gen, dass wir diese einmalige Pressevielfalt auch in Zu- die vor großen Umstellungen, vor großen Investitionen kunft erhalten können. stehen, in die Lage versetzen, die Herausforderungen ge- Vielen Dank. meinsam zu stemmen und sich leichter zusammenzu- schließen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 23934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kritisieren allerdings scharf, dass die Regierungs- (C) Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Dörmann von koalition einseitig nur auf wettbewerbsrechtliche Rege- der SPD. lungen fokussiert ist und weitergehende, aber notwen- dige Maßnahmen zur Sicherung der Medienvielfalt und (Beifall bei der SPD) von Qualität im Journalismus verweigert. Die SPD- Fraktion hat hierzu einen umfassenden Antrag vorgelegt. Martin Dörmann (SPD): Darin schlagen wir ein Maßnahmenbündel vor, um die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Qualität, die Freiheit und die Unabhängigkeit der Me- Mein Fraktionskollege Ingo Egloff hat bereits prägnant dien in einer sich verändernden Medienlandschaft zu dargelegt, warum wir heute die GWB-Novelle insgesamt sichern. Dies reicht von neuen Modellen zur Finanzie- ablehnen werden. Ich möchte aber einige ergänzende rung von Journalismus bis hin zu Fragen der Medienord- Anmerkungen zu den presserelevanten Bestimmungen nung, die man natürlich gemeinsam mit den Ländern an- machen und dabei auch auf den von der SPD-Fraktion gehen muss. vorgelegten Medienantrag eingehen, über den wir heute Im laufenden Haushaltsverfahren verweigert die auch beraten. Koalition zudem die Finanzierung und ständige Aktuali- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!) sierung einer Medienstatistik. Genau die ist aber Vo- raussetzung für belastbare Daten für zukünftige Ent- Für die SPD-Fraktion ist die Sicherung der Medien- scheidungen. freiheit und der Medienvielfalt von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen es deshalb sehr – Herr Kollege Otto, Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wissen das –, dass die Koalition unsere Forderung nach DIE GRÜNEN) einer gesetzlichen Absicherung des Presse-Grosso-Ver- Insgesamt springt die schwarz-gelbe Koalition auch me- triebssystems aufgegriffen hat und die bewährte Mög- dienpolitisch deutlich zu kurz. lichkeit von freiwilligen Branchenvereinbarungen erhält. Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kol- Das bisherige Presse-Grosso-System verhindert, dass legen. Wir laden alle Fraktionen ein, mit uns nicht nur größere Verlage bessere Konditionen als kleine Verlage beim Presse-Grosso für gemeinsame medienpolitische erhalten, und trägt so entscheidend zu einer vielfältigen, Lösungen einzutreten bzw. diese zu finden. Unsere Vor- diskriminierungsfreien und flächendeckenden Medien- schläge jedenfalls liegen auf dem Tisch. landschaft bei. Die vorgesehenen Änderungen beim Pressefusionsrecht sehen wir differenziert. Wegen der Vielen Dank. besonderen Bedeutung der Presse für die Meinungsbil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) dung und damit für unsere Demokratie ist es wichtig, DIE GRÜNEN) dass hierfür auch weiterhin strengere Sonderregelungen gelten als im übrigen Wettbewerbsrecht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Richtig ist andererseits aber auch, dass wir in einer Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat veränderten Medienwelt leben und dass insbesondere die jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU- Zeitungsverlage unter besonderen wirtschaftlichen Druck Fraktion das Wort. geraten sind. Vor diesem Hintergrund können wir eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorsichtige Lockerung des Pressefusionsrechts mittra- gen, soweit hierdurch in einer Gesamtbetrachtung die Medienvielfalt eher gestärkt und eben nicht geschwächt Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): wird. Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Kritik ist natürlich das Metier der Opposition. Ich hätte mich So halten wir eine Erleichterung bei der Sanierungs- trotzdem gefreut, wenn wir – so wie es der Kollege fusion in engen Grenzen durchaus für sinnvoll, um defi- Dörmann gerade exerziert hat – ein paar lobende Worte zitäre Zeitungstitel überhaupt noch zu erhalten. Wettbe- mehr insbesondere zu dem gehört hätten, was man hier werbsrechtlich gerade noch vertretbar erscheint uns auch beispielsweise im Bereich des Presse-Grossos imple- eine Erhöhung der Aufgreifschwellen für kartellrechtli- mentiert hat. che Verfahren. Ich will darauf hinweisen, dass das in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses sowohl die Mo- (Ingo Egloff [SPD]: Habe ich doch gemacht!) nopolkommission als auch das Bundeskartellamt ent- Nichtsdestotrotz gebe ich auch zu, dass ich den einen sprechend gesehen haben. Sie haben aber auch gleich- oder anderen kritischen Einwurf zum Thema Kranken- zeitig betont, dass hierdurch eine rote Linie erreicht sei, kassen nachvollziehen kann. Ich bin aber der Auffas- und Sie haben vor weiteren Änderungen insbesondere sung, dass Sie sich damit auf den Regierungsentwurf be- bei der Bagatellanschlussklausel gewarnt. Herr Otto, ich ziehen und nicht auf das, was nach Veränderungen durch habe Ihr schlechtes Gewissen herausgehört. Wir glau- das Parlament hier heute zu beschließen ansteht. ben, dass an dieser Stelle die Balance insgesamt doch nicht mehr stimmt. Meine Damen und Herren, wir haben dafür gesorgt, dass auf der einen Seite wichtige, gebotene und auch ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzlich vorgegebene Möglichkeiten der Kooperation DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: zwischen Krankenkassen ermöglicht werden, dass man Falsch!) auf der anderen Seite aber über die Fusionskontrolle Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23935

Dr. Georg Nüßlein (A) auch sicherstellen kann, dass noch eine Vielzahl von Es ist auch ein spannendes Lehrstück, dass man er- (C) Krankenkassen erhalten bleibt und dass auch da der kennen muss, dass die Wettbewerbsbeschränkung an der Wettbewerb eine Rolle spielt. Darauf kommt es uns ent- einen Stelle für mehr Wettbewerb an der anderen Stelle scheidend an. sorgt. Wettbewerbsbeschränkung bei der Verteilung von Medien sorgt nämlich dafür, dass wir dann zwischen den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Medien mehr Wettbewerb haben. Deshalb haben wir uns Bei der anderen Thematik, die hier kritisch erwähnt am Schluss durchgerungen, diesen Schritt zu gehen und wurde, handelt es sich um das Fehlen einer miss- beide, die Grossisten und die Verleger, mit einer Auf- brauchsunabhängigen Entflechtungsbefugnis. Meine gabe zu betrauen, von der wir meinen, dass sie kulturell Damen und Herren, als wir das Thema am Beginn der und auch national von besonderer Bedeutung ist. Koalition diskutierten, taten wir uns alle miteinander Die EU macht an dieser Stelle etwas Bemerkenswer- schwer, Anwendungsbeispiele – und zwar solche, die tes: Sie öffnet das Tor im Wege der Betrauung, Ausnah- rechtlich durchsetzbar sind – zu finden. Ich finde es hoch men zu machen; dabei greift das europäische Kartell- spannend, dass die SPD plötzlich einen Antrag formu- recht nicht. Es war gut, Herr Kollege Otto, dass wir liert und alle problematischen Märkte in ganz Deutsch- durch dieses Tor gegangen sind und die Gestaltungs- land aufführt, wo man dieses Instrument jetzt, weil es möglichkeiten nutzen, die die EU eröffnet. Man sollte nicht kommt, angeblich hätte anwenden können, um mit nicht immer nur über die Kollegen in Brüssel schimpfen, diesem Allheilmittel alles zu klären und alles zu regeln. sondern auch das regeln und gestalten, was sie uns in Meine Damen und Herren, Sie wissen präzise: Dieses dieser Weise eröffnen. Das ist eine gute Sache. Ich hoffe, missbrauchsunabhängige Entflechtungsinstrument wäre dass dieses Vorhaben jetzt nicht beim Thema Kranken- ein stumpfes Schwert gewesen. Es wäre auf der einen kassen am Bundesrat scheitert oder eingeschränkt wird. Seite verfassungsrechtlich höchst problematisch, auf der Denn ich glaube, dass unser Presse-Grosso und unsere anderen Seite wäre es, wenn man es wirklich hätte an- Medienlandschaft so wichtig sind, dass wir sehen soll- wenden wollen, so an Vorprüfungen und rechtliche Ein- ten, dass diese Gesetzesnovelle zum Schluss auch durch- schränkungen gebunden gewesen, dass es schier unmög- kommt. lich gewesen wäre, damit etwas zu tun. Ein stumpfes Vielen herzlichen Dank. Schwert, meine Damen und Herren! Trotzdem sage ich ganz offen: Auch mit einem stumpfen Schwert kann man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schaden anrichten, wenn die Falschen damit herumfuch- neten der FDP) teln. Deshalb ist es ganz gut – es kann ja einmal sein, dass jemand von Ihrer Seite damit fuchtelt –, dass wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) das an dieser Stelle unterlassen und eben nicht in diese Ich schließe die Aussprache. (D) Novelle implementiert haben. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Zum Thema „schwierige Märkte“ habe ich schon ei- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur niges erwähnt. Wir haben auch etwas zum Thema Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän- „Presse und Medien“ – was sich da verändert hat – ge- kungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hört. Ich glaube, es ist ganz spannend, dass uns gerade empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh- das Thema Pressefusionskontrolle sehr beschäftigt hat. lung auf Drucksache 17/11053, den Gesetzentwurf der Wie stellt man sicher, dass auf einem Markt, auf dem Bundesregierung auf Drucksache 17/9852 in der Aus- die Auflagen so dramatisch zurückgehen – und zwar schussfassung anzunehmen. nicht deshalb, weil das von irgendeiner Politik beein- flusst wird, sondern weil die Mediennutzung so ist, wie Die Fraktion der SPD hat beantragt, über Art. 3 einer- sie ist –, die eine oder andere Tageszeitung letzten Endes seits und über den Gesetzentwurf im Übrigen anderer- trotzdem weiter existieren kann? Eben im Wege der Fu- seits getrennt abzustimmen. sion. Ich halte es für wichtig, richtig, geboten und sinn- Ich rufe zunächst Art. 3 in der Ausschussfassung auf. voll, dass man das dann so macht und sagt: Dann muss Die Fraktion der SPD hat namentliche Abstimmung ver- man ein bisschen großzügiger mit der Fusionskontrolle langt. umgehen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die In der Tat hat uns das Thema Presse-Grosso sehr in- Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze besetzt? – Gut. tensiv beschäftigt. Ich bin dem Kollegen Otto ausdrück- Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, die Stimm- lich dankbar für seine Versuche, zu klären, welche Mög- karten einzuwerfen. lichkeiten zur Gestaltung es gibt. Denn der runde Tisch war letztendlich auch das, nämlich ein Ansatz, zu klären, Haben alle Kolleginnen und Kollegen Ihre Stimm- was man tun kann, um ein jahrzehntelang geduldetes karte eingeworfen? – Dann schließe ich diesen Abstim- Kartell so abzusichern, dass es gegen Europarecht beste- mungsgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.1) hen kann. Denn wir alle wissen, meine Damen und Her- ren, dass dieses Kartell, wenn es darum ging, Presseer- Ich erteile jetzt das Wort zu einer persönlichen Erklä- zeugnisse flächendeckend auch im ländlichen Raum zu rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord- verteilen, dazu beigetragen hat, dass die Medienland- nung der Kollegin Elke Ferner. Bitte schön. schaft in Deutschland anders aussieht als beispielsweise in Frankreich. 1) Ergebnis Seite 23936 D 23936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Elke Ferner (SPD): Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil mit den von (C) Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und CDU/CSU und FDP getragenen Änderungen die gesetz- Kolleginnen! Ich melde mich deshalb jetzt hier zu Wort, liche Krankenversicherung ihren Charakter als Sozial- weil es aus sozialpolitischer Sicht keine Kleinigkeit ist, versicherung verlieren wird. Die solidarische Finanzie- worüber wir abstimmen. Im Kern geht es darum, ob die rung, der Steuerzuschuss, die bewährte Selbstverwaltung gesetzlichen Krankenversicherungen Sozialversicherun- von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch gen bleiben oder ob sie als Wirtschaftsunternehmen be- die der Leistungserbringer, das Gebot zur Kooperation trachtet werden. Weil dies eine weitreichende und unab- zwischen den Kassen, die Rechtsform der Körperschaf- sehbare Folge hat, stimmen wir – auch ich – heute gegen ten des öffentlichen Rechts bis hin zu den Gestaltungs- die 8. GWB-Novelle. Wir stimmen gegen das Gesetz, möglichkeiten dieses Parlaments werden durch diesen weil Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und Gesetzentwurf ebenfalls zur Disposition gestellt. FDP, das Kartellrecht auf die gesetzlichen Krankenkas- Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil dies der Ein- sen anwenden. stieg in ein völlig anderes, in ein von privaten und priva- Dies widerspricht aus meiner Sicht in elementarer tisierten Versicherungsunternehmen getragenes Gesund- Weise dem Wortlaut und dem Geist des Sozialgesetz- heitssystem wäre, und das wollen die Menschen in buches V. Deutschland nicht, das wollen die Arbeitgeber nicht, das wollen die Gewerkschaften nicht, nicht die Sozialver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bände und nicht die Patientenorganisationen, und die der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE SPD will das auch nicht. GRÜNEN) Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil wir wollen, Dort ist an vielen Stellen die Rede vom einheitlichen und dass die Krankenversicherungen Sozialversicherungen gemeinsamen Handeln der Krankenkassen. Es gibt dort bleiben und nicht zu Wirtschaftsunternehmen mutieren; ein Gebot zur Kooperation, und das passt eben nicht mit denn Sie spielen mit einem der grundlegenden Eckpfei- der Anwendung des Kartellrechts zusammen, weil in ler unserer Gesellschaft, auf dem auch ein großer Teil diesem Gesetz ein Verbot der Kooperationen normiert des sozialen Friedens in unserem Land beruht. Wenn der ist. Wettbewerb zwischen den Krankenkassen überhaupt ei- ner weiteren Regulierung bedarf, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen, dann muss diese im Sozialrecht und nicht im der LINKEN) Kartellrecht erfolgen. Wir stimmen gegen das Gesetz, weil unterstellt wird, Wir werden anhand der eben erfolgten namentlichen (B) (D) dass die gesetzlichen Krankenkassen Wirtschaftsunter- Abstimmung auch sehen, wer sich hier für Sozialversi- nehmen sind und es hier um einen Wettbewerb zwischen cherungen und den Erhalt der gesetzlichen Krankenver- Unternehmen geht, der durch das Kartellamt überwacht sicherung als Sozialversicherung einsetzt und wer das werden muss. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aber nicht tut. Vor allen Dingen hoffe ich, dass Sie alle hier keine Wirtschaftsunternehmen, sondern solidarische, im sich der Tragweite Ihrer Entscheidung bewusst sind. Ihre Umlageverfahren finanzierte Pflichtsozialversicherun- Länder werden dazu wahrscheinlich im Bundesrat eine gen, die für über 70 Millionen Menschen in unserem für Sie vermutlich nicht sehr erfreuliche Position vor- Land die notwendigen medizinischen Leistungen ohne bringen. jegliches Gewinnstreben zu günstigen Kosten sicherstel- Schönen Dank. len müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch der EuGH hat in einem Urteil die Auffassung der LINKEN) vertreten, dass die deutschen Krankenkassen eben keine Unternehmen sind. Nur deshalb gilt das europäische Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wettbewerbsrecht für die gesetzlichen Krankenkassen in Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen Deutschland nicht, Herr Minister. Wir stimmen gegen Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung. dieses Gesetz, weil durch die Anwendung des Kartell- rechts auf alle Sozialversicherungen im nationalen Recht (Unterbrechung von 19.31 bis 19.34 Uhr) die Gefahr besteht, dass auch der EuGH unsere gesetz- Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. lichen Krankenkassen als Unternehmen betrachtet und sie dann mit allen negativen Konsequenzen dem euro- Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und päischen Wettbewerbsrecht unterworfen wären. Dann Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen wären eben nationale Sonderregelungen nicht mehr Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 543. Mit möglich, und am Ende müssten die Versicherten die Ze- Ja haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 241, che bezahlen. keine Enthaltungen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23937

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Endgültiges Ergebnis (C) Abgegebene Stimmen: 543; Dr. (Altötting) Gero Storjohann davon Jürgen Hardt Dr. Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Max Straubinger ja: 302 Dr. Dr. h. c. Hans Michelbach nein: 241 Dr. (Heilbronn) Philipp Mißfelder Lena Strothmann Ja Michael Stübgen CDU/CSU Dr. Gerd Müller Dr. Hans-Peter Uhl Ansgar Heveling Dr. Ernst Hinsken (Bremen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Thomas Bareiß Dr. Georg Nüßlein Andrea Astrid Voßhoff Norbert Barthle Robert Hochbaum Franz Obermeier Dr. Johann Wadephul Günter Baumann Eduard Oswald (Börde) Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Dr. Michael Paul (Hamburg) Dr. Peter Weiß (Emmendingen) Anette Hübinger Rita Pawelski Sabine Weiss (Wesel I) Hubert Hüppe Ulrich Petzold Karl-Georg Wellmann Peter Bleser Dr. Joachim Pfeiffer Peter Wichtel Wolfgang Börnsen Dieter Jasper Sibylle Pfeiffer Annette Widmann-Mauz (Bönstrup) Dr. Beatrix Philipp Klaus-Peter Willsch (Konstanz) Elisabeth Winkelmeier- Dr. Egon Jüttner Christoph Poland Becker Klaus Brähmig Hans-Werner Kammer Dagmar G. Wöhrl Michael Brand Steffen Kampeter Dr. Dr. Reinhard Brandl Wolfgang Zöller Helmut Brandt Bernhard Kaster Dr. Willi Zylajew Dr. Ralf Brauksiepe Siegfried Kauder (Villingen- Eckhardt Rehberg Dr. Schwenningen) FDP Volker Kauder Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Dr. (B) Johannes Röring Christine Aschenberg- (D) Thomas Dörflinger Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Dugnus Marie-Luise Dött Axel Knoerig Dr. Christian Ruck Daniel Bahr (Münster) Dr. Thomas Feist Erwin Rüddel Florian Bernschneider Enak Ferlemann Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Sebastian Blumenthal Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Anita Schäfer (Saalstadt) Claudia Bögel Dirk Fischer (Hamburg) Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Nicole Bracht-Bendt Axel E. Fischer (Karlsruhe- Thomas Kossendey Dr. Annette Schavan Klaus Breil Land) Michael Kretschmer Dr. Rainer Brüderle Dr. Maria Flachsbarth Angelika Brunkhorst Klaus-Peter Flosbach Dr. Günter Krings Norbert Schindler Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Marco Buschmann Dr. Hans-Peter Friedrich Georg Schirmbeck Helga Daub (Hof) Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Reiner Deutschmann Michael Frieser Günter Lach Bijan Djir-Sarai Erich G. Fritz Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Dyckmans Hans-Joachim Fuchtel (Heidelberg) Nadine Schön (St. Wendel) Hans-Werner Ehrenberg Ingo Gädechens Andreas G. Lämmel Dr. Kristina Schröder Rainer Erdel Dr. Thomas Gebhart Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Jörg van Essen Bernhard Schulte-Drüggelte Ulrike Flach Alois Gerig Ulrich Lange Uwe Schummer Dr. Max Lehmer (Weil am Dr. Edmund Peter Geisen Paul Lehrieder Rhein) Dr. Josef Göppel Dr. Hans-Michael Goldmann Peter Götz Heinz Golombeck Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Dr. Joachim Günther (Plauen) Dr. Bernd Siebert Heinz-Peter Haustein Reinhard Grindel Manuel Höferlin Hermann Gröhe Dr. Jan-Marco Luczak Michael Grosse-Brömer Birgit Homburger Markus Grübel Dr. Michael Luther Carola Stauche Heiner Kamp Manfred Grund Dr. Michael Kauch Monika Grütters Dr. Thomas de Maizière Erika Steinbach Dr. Lutz Knopek Hans-Georg von der Marwitz Christian Freiherr von Stetten Pascal Kober 23938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Heinrich L. Kolb Klaus Brandner Heike Hänsel (C) Gudrun Kopp Willi Brase Dietmar Nietan Inge Höger Dr. h. c. Jürgen Koppelin Holger Ortel Dr. Barbara Höll Sebastian Körber Marco Bülow Heinz Paula Holger Krestel Ulla Burchardt Johannes Pflug Ulla Jelpke Patrick Kurth (Kyffhäuser) Petra Crone Joachim Poß Dr. Lukrezia Jochimsen Martin Dörmann Dr. Wilhelm Priesmeier Harald Koch Harald Leibrecht Elvira Drobinski-Weiß Florian Pronold Jan Korte Lars Lindemann Dr. Dr. Martin Lindner (Berlin) Ingo Egloff Stefan Rebmann Katrin Kunert Michael Link (Heilbronn) Siegmund Ehrmann Gerold Reichenbach Petra Ernstberger Dr. Carola Reimann Sabine Leidig Horst Meierhofer Karin Evers-Meyer Sönke Rix Ralph Lenkert Patrick Meinhardt Elke Ferner René Röspel Gabriele Molitor Gabriele Fograscher Dr. Ernst Dieter Rossmann Stefan Liebich Jan Mücke Dr. Michael Roth (Heringen) Ulla Lötzer Petra Müller (Aachen) Marlene Rupprecht Dr. Gesine Lötzsch Burkhardt Müller-Sönksen (Tuchenbach) Thomas Lutze Dr. Martin Neumann Annette Sawade Ulrich Maurer (Lausitz) Iris Gleicke Anton Schaaf Dorothée Menzner Günter Gloser Bernd Scheelen Hans-Joachim Otto Ulrike Gottschalck Marianne Schieder Wolfgang Nešković () Angelika Graf (Rosenheim) (Schwandorf) Thomas Nord Werner Schieder (Weiden) Gisela Piltz Gabriele Groneberg (Aachen) Jens Petermann Dr. Christiane Ratjen- Michael Groß Richard Pitterle Damerau Hans-Joachim Hacker Swen Schulz (Spandau) Paul Schäfer (Köln) Jörg von Polheim Bettina Hagedorn Dr. Birgit Reinemund Michael Schlecht Klaus Hagemann Frank Schwabe Dr. Ilja Seifert Dr. Peter Röhlinger Michael Hartmann Dr. Stefan Ruppert Kathrin Senger-Schäfer (Wackernheim) Raju Sharma Björn Sänger Hubertus Heil (Peine) Frank Schäffler Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Petra Sitte Dr. Carsten Sieling Kersten Steinke Christoph Schnurr Rolf Hempelmann Sonja Steffen Sabine Stüber (B) Dr. Barbara Hendricks Peer Steinbrück Alexander Süßmair (D) Marina Schuster Gustav Herzog Dr. Erik Schweickert Christoph Strässer Dr. Kirsten Tackmann Gabriele Hiller-Ohm Judith Skudelny Frank Tempel (Essen) Dr. Hermann Otto Solms Dr. h. c. Wolfgang Thierse Alexander Ulrich Dr. Eva Högl Joachim Spatz Franz Thönnes Kathrin Vogler Christel Humme Dr. Johanna Voß Josip Juratovic Torsten Staffeldt Rüdiger Veit Halina Wawzyniak Oliver Kaczmarek Dr. Rainer Stinner Ute Vogt Jörn Wunderlich Johannes Kahrs Stephan Thomae Dr. Marlies Volkmer Sabine Zimmermann Dr. h. c. Susanne Kastner Manfred Todtenhausen Andrea Wicklein Florian Toncar Ulrich Kelber Heidemarie Wieczorek-Zeul BÜNDNIS 90/ Serkan Tören Waltraud Wolff DIE GRÜNEN Johannes Vogel Hans-Ulrich Klose (Wolmirstedt) Kerstin Andreae (Lüdenscheid) Dr. Bärbel Kofler Manfred Zöllmer Marieluise Beck (Bremen) Dr. Daniel Volk () Volker Beck (Köln) Dr. Guido Westerwelle Fritz Rudolf Körper DIE LINKE Dr. Claudia Winterstein Jan van Aken Dr. Volker Wissing Angelika Krüger-Leißner Agnes Brugger Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ute Kumpf Agnes Alpers Ekin Deligöz Christine Lambrecht Dr. Dietmar Bartsch Katja Dörner Christian Lange (Backnang) Herbert Behrens Nein Dr. Karl Lauterbach Karin Binder Hans-Josef Fell Steffen-Claudio Lemme Heidrun Bluhm Dr. Thomas Gambke SPD Burkhard Lischka Kai Gehring Ingrid Arndt-Brauer Gabriele Lösekrug-Möller Eva Bulling-Schröter Katrin Göring-Eckardt Kirsten Lühmann Dr. Martina Bunge Britta Haßelmann Heinz-Joachim Barchmann Bettina Herlitzius Doris Barnett Katja Mast Heidrun Dittrich Priska Hinz (Herborn) Dr. Hans-Peter Bartels Werner Dreibus Dr. Anton Hofreiter Petra Merkel (Berlin) Wolfgang Gehrcke Ingrid Hönlinger Sören Bartol Ullrich Meßmer Nicole Gohlke Bärbel Bas Dr. Matthias Miersch Diana Golze Katja Keul Uwe Beckmeyer Franz Müntefering Annette Groth Memet Kilic Gerd Bollmann Dr. Rolf Mützenich Dr. Gregor Gysi Sven-Christian Kindler Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23939

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Maria Klein-Schmeink Dr. Wolfgang Strengmann- (C) Ute Koczy Dr. Tobias Lindner Brigitte Pothmer Kuhn Tom Koenigs Nicole Maisch Tabea Rößner Hans-Christian Ströbele Sylvia Kotting-Uhl Jerzy Montag Krista Sager Dr. Harald Terpe Oliver Krischer Kerstin Müller (Köln) Markus Tressel Agnes Krumwiede Beate Müller-Gemmeke Jürgen Trittin Stephan Kühn Dr. Konstantin von Notz Dr. Gerhard Schick Daniela Wagner Renate Künast Dr. Arfst Wagner (Schleswig) Markus Kurth Ulrich Schneider Wolfgang Wieland Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Hermann E. Ott Dorothea Steiner Dr. Valerie Wilms

Der Art. 3 des Gesetzentwurfs ist angenommen. Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin- ken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Instrumente zur der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu- Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stel- stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – len“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter fehlung auf Drucksache 17/11058, den Antrag der Frak- Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- Drucksache 17/9155 abzulehnen. Wer stimmt für diese men. Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. Ge- genstimmen? – SPD und Grüne. Enthaltungen? – Die Dritte Beratung Linken. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Ti- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf tel „Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern – ist mit gleichem Stimmergebnis angenommen. Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- (B) Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11045 bzw. (D) tion der SPD auf Drucksache 17/11065. Wer stimmt für in seinem Bericht auf Drucksache 17/11082, den Antrag diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Ent- der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10787 abzuleh- haltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Linken. Ge- von Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung von SPD genstimmen? – SPD und Grüne. Die Beschlussempfeh- und Linken. lung ist angenommen. Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b fehlungen des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- auf: gie auf Drucksache 17/11053 fort. Der Ausschuss emp- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Abgeordneter und der Fraktion der SPD  Grünen auf Drucksache 17/9956 mit dem Titel „Verbrau- sowie der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina cherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht ver- Herlitzius, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord- ankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- NEN fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- Programm „Soziale Stadt“ zukunftsfähig wei- haltung von SPD und Linken. terentwickeln – Städtebauförderung sichern Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft – Drucksache 17/10999 – und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen von SPD Überweisungsvorschlag: und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Presse- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Grosso gesetzlich verankern“. Der Ausschuss empfiehlt Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9989, Verbraucherschutz den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Ausschuss für Arbeit und Soziales Grünen auf Drucksache 17/8923 abzulehnen. Wer stimmt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Technikfolgenabschätzung men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Haushaltsausschuss 23940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Hilfe brauche, wenn ich krank bin? Kann ich in meinen (C) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und eigenen vier Wänden alt werden? Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Ich glaube, dass die Bundesregierung zurzeit auf – zu dem Antrag der Abgeordneten Sören diese Fragen keine Antwort hat, weder auf die die stei- Bartol, Uwe Beckmeyer, , wei- genden Mieten betreffen noch auf die zur Lebensqualität terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD in unseren Städten. sowie der Abgeordneten Bettina Herlitzius, (Beifall bei der SPD) Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Das Programm „Soziale Stadt“ hat alle Antworten ge- DIE GRÜNEN boten, die notwendig sind. Ich habe alle Akteure meines Stadtteils beteiligen können, um die Frage zu beantwor- 40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmo- ten: Wie gestalte ich den Stadtteil, die Quartiere? Ich dell für die Zukunft der Städte und Regio- habe alle Themen abarbeiten können: Inklusion, Integra- nen erhalten und fortentwickeln tion, gutes Leben, Altwerden im Stadtteil. Ich habe einen – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun großen Teil der Bürger mobilisieren können. Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Sie haben das Programm seit 2009 systematisch zu- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE rückgefahren, Sie haben die Mittel um 60 Prozent, zum LINKE Teil um 70 Prozent gekürzt. Während im Jahr 2009 noch Städtebauförderung auf hohem Niveau ver- 48 Projekte neu aufgenommen werden konnten – da wa- stetigen, Forderungen der Bauministerkon- ren Sie noch nicht in der Verantwortung –, wurde im ferenz umsetzen letzten Jahr nur ein Projekt neu in das Programm „So- ziale Stadt“ aufgenommen. Sie haben das Programm vor – Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199 – die Wand gefahren, vor allen Dingen deshalb, weil sich Berichterstattung: die Kommunen und die Länder nicht darauf verlassen Abgeordneter Peter Götz konnten, dass Planungssicherheit und eine verlässliche Finanzierung vorhanden sind. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derspruch dagegen? – Das ist offenkundig nicht der Fall. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann ist das so beschlossen. Wir leben in einer Zeit der riskanten Chancen. Diese Aussage ist schon 30, 40 Jahre alt. Sie stammt von dem (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (D) ner dem Kollegen Michael Groß von der SPD-Fraktion Soziologen Beck aus München. Diese Aussage ist im- das Wort. mer noch ganz aktuell. Die Arbeiterwohlfahrt hat eine Studie zu Lebenslagen von Kindern herausgebracht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Man höre, wie der Titel heißt: „Von alleine wächst sich nichts aus …“ Je länger ein junger Mensch in Armut Michael Groß (SPD): aufwächst, desto geringer wird die Chance für ein Wohl- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen ergehen, für ein gutes Leben, desto größer sind die Risi- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha- ken. ben in den Städten zurzeit zwei große Herausforderun- Der von Ihnen und anderen studierte Armuts- und gen. Die erste betrifft die Frage: Wie können die Men- Reichtumsbericht belegt eindeutig: Trotz wirtschaftli- schen demnächst noch ihre Miete bezahlen, wenn in chen Wachstums haben wir ein zunehmendes Armutsri- manchen Regionen 30 bis 50 Prozent des zur Verfügung siko in Deutschland. 12,8 Millionen Menschen sind ge- stehenden Einkommens für das Wohnen ausgegeben fährdet, insbesondere Kinder, Alleinerziehende, Frauen werden müssen? und ältere Menschen. 6,5 Prozent eines Jahrgangs, 60 000 junge Menschen in Deutschland, haben keinen Die zweite Herausforderung betrifft die Fragen: Wie Schulabschluss. 20 Prozent der Deutschen schaffen es wollen wir in den Städten leben? Was heißt gute Lebens- nicht, einen höheren Bildungsabschluss zu bekommen qualität? Wie sieht die Zukunft der Menschen in den als ihre Eltern. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder studie- Städten aus? Die zweite Herausforderung hat damit zu ren. Man kann das zusammenfassen: Die Bundesregie- tun, dass sich Menschen, insbesondere Familien, fragen: rung hat eine Studie in Auftrag gegeben zu „Trends und Wachsen unsere Kinder gesund auf? Welche Unterstüt- Ausmaß der Polarisierung in deutschen Städten“, aus der zung finde ich im Stadtteil für meine Kinder? Gibt es hervorgeht – ich zitiere –: Betreuungsangebote? Gibt es Spielplätze? Können sich die Kinder ihr Wohnumfeld aneignen? Identifiziere ich … dass Bewohnerinnen und Bewohner mit niedri- mich mit meinem Wohnumfeld? Der zweite Fragenkom- gem sozialen Status, geringer Qualifikation und un- plex lautet: Kann ich selbstbestimmt in meinem Stadtteil terdurchschnittlichem Einkommen oft konzentriert leben? Finde ich Arbeit? Finde ich Freunde, die mir hel- in Stadtteilen mit mangelhaftem Gebäudebestand fen, wenn ich krank werde? und unterdurchschnittlicher Infrastruktur leben. Der dritte Fragenkomplex betrifft das Altwerden im Das ist der Befund, den Sie sich selber ausstellen. Dage- Stadtteil in Würde: Finde ich Unterstützung, wenn ich gen wollen Sie nichts tun. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23941

Michael Groß (A) Was trägt zur Stabilisierung in Stadtteilen bei? Es gibt Wir fordern Sie auch auf, dafür zu sorgen, dass insbe- (C) ein Dutzend Faktoren. Ich glaube, über das Thema Bil- sondere die Kommunen diese Programme in Anspruch dung brauchen wir nicht zu reden. Außerschulische För- nehmen können. Nach dem KfW-Panel sind 40 Prozent derung ist ein wichtiges Thema. Bereits in der U-3-För- der Kommunen dazu nicht in der Lage. Hier lassen Sie derung im Kindergarten ist es notwendig, die Familien die Städte allein. Sie könnten jedoch mit wenig Mittel- zu unterstützen. Wir müssen Netzwerke aufbauen, so- einsatz viel erreichen. ziale Hilfen und vor allen Dingen vorbeugende Hilfen in Ich komme zum Schluss. hat vor circa Stadtteilen organisieren, in denen sich die Menschen 50 Jahren im Ruhrgebiet gesagt: Der Himmel über dem nicht mehr selber helfen können. Wir müssen die Bürge- Ruhrgebiet soll wieder blau werden. – Das war nicht nur rinnen und Bürger aktivieren. Das ist eigentlich das eine umweltpolitische Aussage, sondern damit haben die wichtigste Pfund, mit dem wir wuchern können; denn sie Menschen im Ruhrgebiet die Hoffnung verbunden, dass verfügen über Ressourcen und Kompetenzen. Diese dür- es ihnen einmal besser geht und dass sie sich darauf ver- fen wir nicht brachliegen lassen. Wir müssen daher in lassen können, dass ihre Stadtteile ihnen ein besseres Le- den Stadtteilen für Aufbruchstimmung sorgen und dür- ben ermöglichen. fen nicht zulassen, dass sich die Menschen abgehängt fühlen. Herzlichen Dank und Glückauf! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die „Soziale Stadt“ ist ein Erfolgsmodell. Wir haben jahrelang erlebt, dass die Städte und Länder mithilfe des Bundes erfolgreiche Arbeit geleistet haben. Ich möchte Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einen in Berlin geborenen Diplom-Wirtschaftsingenieur Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der zitieren. Er sagt, durch die Zusammenarbeit mit dem CDU/CSU-Fraktion. Programm „Soziale Stadt“ habe er zum ersten Mal in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) seinem Leben das Gefühl gehabt, nicht mehr nur gedul- deter Ausländer zu sein, sondern zu dieser Gesellschaft Peter Götz (CDU/CSU): zu gehören. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie Kinder befragen, sagen diese: Nachbar- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege schaft ist wichtig. Die Menschen dort sind für uns Groß von der Opposition, jetzt lassen Sie doch einfach Freunde und Bekannte, die wir jeden Tag sehen. – Nach- einmal die Kirche im Dorf und nehmen Sie die Realität barn haben keine eigentlichen Aufgaben, ich halte es je- wahr. Es ist diese Bundesregierung, die die Kommunen (B) doch für meine Aufgabe, meinem Nachbarn zu helfen, durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im (D) wenn er Hilfe benötigt. Alter und bei Erwerbsminderung allein im Zeitraum von 2012 bis 2016 um über 20 Milliarden Euro entlastet. Das (Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist ja alles rich- ist die größte Kommunalentlastung in der Geschichte der tig! – Gegenruf des Abg. Sören Bartol [SPD]: Bundesrepublik Deutschland Warum kürzen Sie es denn? – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das wird nicht mit Städte- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bauförderung geregelt!) Und dann kommen Sie heute her und beklagen, genau Warum gerade Ältere von der Nachbarschaftshilfe wie vor einem Jahr, in einer rückwärtsgewandten De- profitieren, sagen Ihnen Menschen aus dem Stadtteil, die batte, dass der Bund nicht genug tut. mit dem Programm „Soziale Stadt“ zu tun haben. Auf- (Michael Groß [SPD]: Macht er auch nicht!) grund dieses Programms erfahren sie Nachbarschafts- hilfe, sodass sie im Bedarfsfall nicht die Tagespflege Wenn Ihnen sonst nichts Besseres einfällt, begreifen Sie oder die Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen müssen, wirklich nicht, wie wichtig die Gesundung der Kommu- sondern zu Hause wohnen bleiben können. Deswegen nalfinanzen eigentlich ist. fordern wir Sie auf, Ihre Kürzungen in der Städtebauför- derung endlich zurückzunehmen, die Mittel für die „So- (Sören Bartol [SPD]: Doch! Das eine schließt ziale Stadt“ auf 150 Millionen Euro aufzustocken das andere nicht aus!) (Beifall des Abg. Sören Bartol [SPD]) Chancen für die Übernahme eigener Verantwortung in freier Entscheidung sind besser als goldene Züge und endlich Verlässlichkeit und Planbarkeit einzuführen. durch Bund und Länder mit immer stärker ausgestalteten lenkenden und bevormundenden Förderprogrammen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir schlagen Ihnen vor, das Programm „Soziale Sören Bartol [SPD]: Da hast du aber mal an- Stadt“ zu einem Leitprogramm zu machen. Dies sollte ders drüber geredet!) nicht nach defizitorientierten Maßstäben erfolgen; viel- mehr sollte man ressourcenorientiert nach den Kompe- – Lieber Kollege Sören, für uns haben auch eine solide tenzen der Menschen Ausschau halten. Vor allen Dingen Haushaltspolitik und das Einhalten der Schuldenbremse gilt es, übergreifend, koordinierend und kooperativ zu einen hohen Stellenwert. – Die Kostenübernahme der planen und zu handeln und die Menschen im Stadtteil Altersgrundsicherung steht sinnbildlich für einen Para- zusammenzubringen, damit sie dort gut leben können. digmenwechsel in der Bundespolitik. Anstatt wie in der 23942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Peter Götz (A) Vergangenheit die Kommunen immer wieder mit neuen tischen Instrumenten gekoppelt; so steht es auch im Ge- (C) Aufgaben und Ausgaben zu belasten, stärken wir die setz. Wenn wir uns die verschiedensten nichtinvestiven Städte, Gemeinden und Landkreise nachhaltig. Die Bundesprogramme anschauen, wie zum Beispiel das Früchte dieser Politik lassen sich auch an der Entwick- ESF-Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ und lung der Gewerbesteuereinnahmen ablesen. Die meisten die Bundesinitiativen „Offensive Frühe Chancen: Kommunen – sicherlich nicht alle – sind wieder in der Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“, „JUGEND Lage, ihre eigenen gesetzlichen und freiwilligen Aufga- STÄRKEN“ oder „Lernen vor Ort“, dann erkennen wir: ben selbst zu finanzieren. Es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, das Programm „Die soziale Stadt“ sinnvoll zu ergänzen. Diese notwen- (Bernd Scheelen [SPD]: Gut, dass Sie den Ko- dige Koordinierung ist von keinem der vielen SPD-Bun- alitionsvertrag nicht umsetzen konnten!) desbauminister gegenüber anderen Ressortchefs dauer- Unabhängig von dieser positiven Entwicklung, Herr haft durchgesetzt worden. Kollege Scheelen, werden wir die Städte und Gemein- Es ist richtig, das Programm „Die soziale Stadt“ auf den auch zukünftig bei nötigen Investitionen im Bereich die baulichen Investitionen zu konzentrieren und es so der Städtebauförderung und der Stadtentwicklung unter- mit anderen Programmen zu kombinieren, dass städte- stützen. Dies gilt gerade auch für wirtschaftlich und so- bauliche Missstände in den Kommunen behoben werden zial benachteiligte Stadtteile. Dafür – das ist seit mehr und das Programm den Menschen zugutekommt. Jedes als 40 Jahren unstrittig – sind die Städtebauförderungs- Land, jede Kommune ist frei in ihrer Entscheidung, sich programme ausgezeichnet geeignet. zusätzlich mit eigenen Mitteln in die Programmfinanzie- Für uns ist ein ressortübergreifender, stadtteilbezoge- rung einzubringen. ner Ansatz ein zentraler Erfolgsfaktor in der Stadtent- (Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wicklung. Deshalb haben wir neue Schwerpunkte ge- NEN]: Die können schon den Eigenanteil setzt und den Energie- und Klimafonds auch für die nicht mehr leisten!) Finanzierung von Maßnahmen der Stadtentwicklungs- politik geöffnet. Die große Nachfrage nach den neuen Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Programmen „Kleine Städte und Gemeinden“ und Herren, der Bundeshaushalt ist kein Wünsch-dir-was- „Energetische Stadtsanierung“ bestätigt eindrücklich die Katalog, und trotzdem ist es gelungen, die Mittel der Notwendigkeit, sich diesen Zukunftsthemen verstärkt Städtebauförderung auf hohem Niveau zu verstetigen zuzuwenden. Wir leisten damit auch einen unverzichtba- und zusätzlich die Mittel für die energetische Stadtsanie- ren Beitrag zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvor- rung auf über 100 Millionen Euro aufzustocken. Das sorge in dünn besiedelten Räumen und erschließen neue sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen. (B) (D) Potenziale bei der Vermeidung von CO2-Ausstoß in städ- tischen Quartieren. Vielen Dank. Nur zur Erinnerung: Das Programm „Die soziale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stadt“ wurde in seiner Grundidee unter der Leitung der Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- damaligen Bundesbauminister Klaus Töpfer und Eduard NEN]: Sie bleiben nach wie vor unter den al- Oswald auf den Weg gebracht. Das war 1998, vor inzwi- ten Ansätzen!) schen 14 Jahren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Zuruf von der SPD: Da hat übrigens Franz Müntefering angefangen!) Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm von der Fraktion Die Linke. Es half, vor allem in den Jahren geringen wirtschaft- lichen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit. Leider (Beifall bei der LINKEN) haben einige wenige Kommunen die bei solchen Pro- grammen stets notwendige kritische Reflexion aus den Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Augen verloren. Dadurch ist der gute Ansatz des Pro- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gramms „Die soziale Stadt“ in Misskredit geraten. Unser Antrag mit dem Titel „Städtebauförderung auf Ziel dieses Programms ist nicht die dauerhafte Ali- hohem Niveau verstetigen, Forderungen der Bauminis- mentierung sämtlicher Maßnahmen – der Kollege Groß terkonferenz umsetzen“, der hier heute neben den beiden hat es vorhin aufgezeigt –, sondern die Beseitigung der Anträgen der SPD besprochen wird, bezieht sich auf den Ursachen der Entwicklung eines Stadtquartiers zu einem seinerzeit einstimmig gefassten Beschluss der Bauminis- Problemquartier. Vor diesem Hintergrund hat sich die terkonferenz vom 28. Juni 2011. Ich kann heute den Be- CDU/CSU-Bundestagsfraktion intensiv an der Weiter- schluss der Bauministerkonferenz vom 20./21. Septem- entwicklung und am Ausbau des Programms beteiligt. ber 2012 in Saarbrücken danebenlegen und konstatieren, dass unsere Forderungen von vor einem Jahr nicht nur Wir wollen eine passgenaue Verzahnung der verschie- immer noch aktuell sind, sondern ihre Umsetzung sogar denen Programme und Maßnahmen sowohl auf Bundes- noch notwendiger geworden ist. Herr Götz, wenn Sie ebene als auch vor Ort erreichen. Um benachteiligte hier die SPD dafür kritisieren, dann muss ich Sie schon Quartiere zu stabilisieren, wurden die städtebaulichen fragen: Sind Sie als CDU klüger als 16 Bauminister, die Investitionen des Programms „Die soziale Stadt“ pas- seit Jahren beklagen, dass Sie zwar im Koalitionsvertrag send zu den gesetzlichen Vorgaben mit arbeitsmarktpoli- versprochen haben, 535 Millionen Euro pro Jahr in den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23943

Heidrun Bluhm (A) Haushalt einzustellen, nun aber die Mittel auf 455 Mil- ein einzigartiges, sich selbst finanzierendes Konjunktur- (C) lionen Euro reduzieren? programm ist, dann wundert es uns schon, dass Sie ge- rade in Zeiten, in denen die Wachstumsraten für (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Deutschland wieder korrigiert werden und in denen die Sie tragen es zwar nett vor, aber Sie tragen es nicht ehr- Alarmglocken verschiedener Branchen läuten, weil es lich vor. bergab gehen wird, konjunkturell funktionierende Pro- gramme abbauen und ihre Mittelausstattung auf einem (Peter Götz [CDU/CSU]: Nehmen Sie doch niedrigeren Niveau verstetigen. Das ist für uns völlig un- die 100 Millionen für die energetische Stadtsa- verständlich. nierung dazu! Dann ist es ehrlich!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das ist auch nicht verwunderlich, weil unerledigte neten der SPD) Aufgaben durch Liegenlassen nicht kleiner werden, son- dern wachsen. Qualitativ neue Aufgaben sind zwischen- Wenn von heute 455 Millionen Euro Städtebauförde- zeitlich aufgrund der Aktualität des Themas hinzuge- rung – und jetzt zitiere ich Herrn Ramsauer selbst – kommen und wachsen jeden Tag rasant an. Die städtebauliche Investitionen von insgesamt über 6 Mil- Regierung macht aber nichts anderes, als die Mittel auf liarden Euro angestoßen werden, frage ich mich, um wie immer geringerem Niveau zu verstetigen. Sie macht viel größer die ökologischen und volkswirtschaftlichen nicht das, was sie im Koalitionsvertrag versprochen hat. Effekte von 535 Millionen Euro oder den eigentlich not- So wird der Berg unerledigter Aufgaben bei der Ent- wendigen 700 Millionen Euro wären. wicklung unserer Städte, Ein weiterer Grund für eine entschlossene Aufsto- (Gisela Piltz [FDP]: Ist das mit den 100 Millionen ckung der Städtebaufördermittel kommt hinzu: Die Kon- nicht wieder dasselbe, Frau Kollegin?) junkturdaten, die ich eben genannt habe, erfordern In- vestitionen des Bundes und der Länder, nicht aber den den die Bundesregierung vor sich herschiebt, immer grö- Rückbau von Investitionen. Ich sage Ihnen: Die Städte- ßer. bauförderung könnte neben den sowieso gewollten und Städtebauförderung eignet sich auch nicht für Kampa- notwendigen Impulsen für den sozialökologischen Um- gnen. Sie muss langfristig, dauerhaft und zuverlässig an- bau unserer Städte und Regionen zu einem starken und gelegt sein, auch weil die Länder und Kommunen je- effizienten Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwick- weils mit mindestens 30 Prozent an den Kosten der lung werden. Sie könnte Arbeitsplätze sichern, die So- Städtebauförderung beteiligt sind und vor allem die Um- zialsysteme stabilisieren und zusätzliche Steuereinnah- setzung zu organisieren haben. Auch sie haben ihre men bei Bund und Ländern generieren. Dies nicht zu (B) Haushaltspolitik zu machen und ihren Planungsvorlauf begreifen, ist die große Schwäche unseres Bauministers. (D) zu realisieren, und dafür benötigen sie dauerhaft zuver- lässige Aussagen der Bundesregierung. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deswegen ist es absolut unverständlich, dass die Kon- GRÜNEN) tinuität der Städtebauförderung gerade in einer Zeit un- terbrochen wird, in der die Erfordernisse der Stadtent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wicklung objektiv eine völlig neue Dimension Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Petra annehmen. Die Ansprüche und Maßstäbe, die heute an Müller das Wort. die Städtebauförderung gelegt werden müssen, haben sich an sozialdemografischen, ökologischen, ökonomi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen und Entwicklungserfordernissen der Gesellschaft zu orientieren. Herr Groß hat das hier sehr intensiv und Petra Müller (Aachen) (FDP): auch sehr umfassend dargestellt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gu- Die Städtebauförderung ist nicht nur eine nationale ten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Aufgabe, sondern auch eine globale Herausforderung. Städtebauförderung ist seit 40 Jahren ein Erfolgsmodell. Gerade der Kongress, den wir in der vergangenen Woche Darüber herrscht breite, große Einigkeit in diesem gemeinsam bestritten haben, hat noch einmal deutlich Hohen Haus, in den Ländern und parteiübergreifend. gemacht, dass unsere Städte auch international eine Ver- (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- antwortung tragen. NEN]: Warum gibt es nicht denselben Ansatz Ich bin weit davon entfernt, dem Koalitionsvertrag wie früher?) von 2009 vorausschauende Weisheit zu unterstellen, – Lass mich doch einmal weitersprechen, bitte. aber immerhin hat die Koalition damals versprochen, 535 Millionen Euro zu verstetigen. Daran sieht sie sich Die Finanzhilfen des Bundes für 2013 bleiben bei seit 2011 nicht mehr gebunden. Wir erheben mit unse- 455 Millionen Euro; diese Summe ist seit drei Jahren rem Antrag also gar keine neue Forderung, sondern for- gleich. Hinzu kommen die Mittel für die energetische dern nur die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Wenn Stadtentwicklung in Höhe von 100 Millionen Euro. Wer wir Ihnen zum wiederholten Mal vorrechnen, dass die rechnen kann, kommt dann auf 555 Millionen Euro, und Städtebauförderung keine Subventionssünde, sondern das ist ein bisschen mehr als 535 Millionen Euro. 23944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Petra Müller (Aachen) (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – zu stellen. In unseren Gebäuden, egal ob in privater oder (C) Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- öffentlicher Hand, werden 40 Prozent der Primärener- NEN]: Weniger als 600 Millionen!) gien verbraucht. Die Stadtentwicklung muss in Zukunft zur Senkung des Primärenergieverbrauchs in den Gebäu- Diese Ergebnisse – das möchte ich hinzufügen – er- den beitragen. Sie muss dabei einen entscheidenden reichen wir trotz Haushaltskonsolidierung und trotz Beitrag leisten. Dieser Verantwortung haben wir uns ge- Euro-Krise. Das zeigt, wie hoch der Stellenwert der stellt, und diese Chance haben wir mit dem Programm Städtebauförderung in der christlich-liberalen Koalition „Energetische Stadtsanierung“ genutzt. ist. Damit betreiben wir eine verlässliche und erfolgrei- che Politik. Es gibt weitere Bereiche, in denen wir uns neu aus- richten müssen. Abgesehen von der Notwendigkeit eines (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten energetischen Umbaus und der Berücksichtigung des der CDU/CSU) demografischen Wandels müssen wir auch das Daher lasse ich den Vorwurf vonseiten der SPD, dass wir Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen die Städtebauförderung vernachlässigen, nicht gelten. megaurbanem und ländlichem Raum ausgleichen. Das müssen die Schwerpunkte der zukünftigen Städtebauför- Zu Ihren Anträgen fallen mir zwei Dinge ein: derungsprogramme sein. Ich glaube auch, dass eine Wunschkonzert und Gießkanne. Wunschkonzert, weil energetisch-dynamische Stadtentwicklung den Blick Ihre Forderung zeigt, dass Sie keine Rücksicht auf den weg vom Einzelgebäude hin zum Quartier richten muss. Gesamtetat oder die Teilprogramme nehmen. Ihre An- Das ist ganz wichtig, wenn wir unsere Klimaschutzziele träge zeigen, dass Sie auch nicht zur Kenntnis nehmen, erreichen wollen. An dieser Stelle macht der Einsatz dass mit dem Programm „Kleinere Städte und Gemein- öffentlicher Mittel Sinn. Er ist effizient, er verringert den den“ 2010 ein neues Programm auf den Weg gebracht bürokratischen Aufwand, und er schafft nachhaltige wurde. Es war zunächst mit 18 Millionen Euro ausge- Lösungen. stattet. Mittlerweile wurden 55 Millionen Euro abgeru- fen. Das spricht für Kontinuität. Das ist ein Anwachsen In Ihrem Antrag schreiben Sie, liebe Kolleginnen von den Linken, dass gute Nachbarschaft, sozialer Zusam der Städtebauförderung in ganz bestimmten Bereichen, - menhalt, reges Vereinsleben, kulturelle Vielfalt usw. nämlich den kleinen Städten und Gemeinden. Ich muss Ausdruck funktionierender Städte, Gemeinden und Ihnen auch einmal sagen: Unter Rot-Grün haben Sie das Quartiere sind. Ich muss Ihnen einmal ganz ehrlich nicht zustande gebracht. sagen: Genau das setzen wir um. Das wird gefördert. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dennoch sind die Prozesse dynamisch. In den vergan- NEN]: Das war auch nicht notwendig!) genen Tagen konnten Sie Bilder von Studenten sehen, (B) (D) Das haben wir zustande gebracht. die eine Wohnung suchen, die keinen günstigen Wohn- raum finden. Auch hier besteht Handlungsbedarf, und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zwar im Interesse aller Wohnungssuchenden. Die soziale der CDU/CSU) Wohnraumförderung ist Ländersache. Wir erwarten von Ihre Anträge zeigen auch, dass Sie nicht zur Kenntnis den Ländern, dass der Bundeszuschuss eins zu eins in nehmen, dass die alten Ziele des Programms „Soziale den sozialen Wohnraum fließt und nicht für andere haus- Stadt“ schon längst in anderen Programmen aufgenom- halterische Maßnahmen in den Länderhaushalten ge- men wurden und jetzt in diesem Rahmen angestrebt wer- nutzt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. den, und zwar viel direkter und viel effizienter. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir, die christlich-liberale Koalition, werden die NEN]: Das wollen wir auch! – Gegenruf des Städtebauförderung in Deutschland kontinuierlich wei- Abg. Peter Götz [CDU/CSU]: Dann sorgt da- terentwickeln, zielgenau und treffsicher. für! – Gegenruf der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In NRW tun (Ulrike Gottschalck [SPD]: Das hört sich an wir das!) wie eine Drohung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, 630 Millionen Euro Bestes Beispiel ist der Stadtumbau West. Das Programm für das Wohngeld – das sind 34 Millionen Euro mehr als berücksichtigt heute als breitaufgestelltes Programm den im letzten Jahr –; 455 Millionen Euro, seit drei Jahren Klimawandel gleichermaßen wie den demografischen verstetigt, für Stadtentwicklungsmaßnahmen; 1,5 Mil- Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung. Das ist liarden Euro für die CO2-Gebäudesanierung, verstetigt das, was Sie eben beklagt haben. Lesen Sie das einmal bis 2014; 100 Millionen Euro für das Programm „Ener- nach. So stelle ich mir – das muss ich Ihnen ganz ehrlich getische Stadtsanierung“. Ehrlich gesagt, das ist für mich sagen – eine zukunftsweisende Stadtentwicklung vor. moderne Stadtentwicklungspolitik. Nur so können wir Städte, Gemeinden und Kommunen (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das sind nur fitmachen für die Zukunft. Das nenne ich eine erfolgrei- Zahlen!) che Politik der christlich-liberalen Koalition. Genau diese Politik werden wir in der Zukunft fortset- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zen. Wir haben die Energiewende beschlossen. Wir haben Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. uns vorgenommen, in nur wenigen Jahren die Energie- versorgung unseres Landes auf eine neue, andere Basis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23945

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Freiheit ist das, was im Moment herrscht, nicht, Herr (C) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Kollege Götz. Es ist keine Freiheit, zum Beispiel die Wort die Kollegin Daniela Wagner. nichtinvestiven Maßnahmen selber zu finanzieren. Viele Städte können nicht einmal mehr den investiven Anteil tragen. Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Sie müssen die Einschnitte rückgängig machen. Denn Kollegin Müller, die einzige Aussage in Ihrer Rede, der die soziale Spaltung in unseren Städten und Gemeinden man zustimmen kann, war, dass der Bund in der Tat verschärft sich. Das hat eine Difu-Studie ganz klar darauf achten muss, dass die Länder die Mittel für den belegt. Die, die in diesen Stadtteilen übrig bleiben, die sozialen Wohnungsbau ausgeben. Darum haben wir ja nicht wegziehen können, sind genau diejenigen, die am auch den Bauminister gebeten. Damals, im Jahr 1999, Ende des Tages dringend unsere Unterstützung brau- haben wir mit dem neuen Bund-Länder-Programm „So- chen. Wir dürfen diese Stadtteile nicht sich selbst über- ziale Stadt“ in vielen Stadtteilen in ganz Deutschland lassen. Diese Stadtteile sind überfordert. Wir müssen sie drohende oder bereits in Gang gesetzte Abwärtsspiralen dauerhaft und nachhaltig erhalten und ihnen helfen, und stoppen können. Es gab sichtliche bauliche Verbesserun- zwar nicht mit einem Strohfeuer, nicht mit jährlichem gen für die Menschen: neue Spielplätze, renovierte Investitionsrisiko, bei dem die Städte am Ende sagen: Schulen, neue Gemeinwesenzentren, Stadtteilbibliothe- Wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt, also ken. lassen wir besser die Finger davon. Aber eine Stadt besteht eben nicht nur aus ihren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gebäuden, aus ihren Wohnungen und aus dem Sand auf sowie bei Abgeordneten der SPD) ihren Spielplätzen, sondern sie besteht auch aus den Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ hat her- Menschen, die dort wohnen, arbeiten und leben, die vorragende Arbeit geleistet, auch und gerade mit den täglich das Leben dort gestalten. Deswegen haben wir nichtinvestiven Maßnahmen und mit der Förderung der damals in dieses Programm die Möglichkeit aufgenom- Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Diszipli- men, Handlungen in diesen Stadtteilen anzustoßen, die nen der Stadtverwaltung: Sozialverwaltung, planende Identifikation stiften. Das waren damals die nichtinvesti- Verwaltungsbereiche, Bildungsbereiche. Das ist wichtig, ven Maßnahmen. Soziale und professionelle Netzwerke und das muss fortgesetzt werden, sowohl bei den Län- und bürgerliches Engagement zur Stärkung von Integra- dern als auch beim Bund. Denn anders wird es nicht tion und einem fairen Zugang zu Bildung und Teilhabe gehen. Ohne den interdisziplinären Ansatz dieses an Kultur konnten damit gefördert werden. Programms wird die Förderung im Grunde als Stroh- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN feuer verbrennen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen wollen wir die Anhebung der Mittel für die Städtebauförderung, für das Bund-Länder-Programm Das alles haben Sie geschleift. Sie haben das Pro- „Soziale Stadt“ auf das Niveau von vor drei Jahren, gramm nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu nämlich auf 105 Millionen Euro. Wir wollen die seinem Nachteil verändert. Deckungsfähigkeit mit allen anderen Programmen der (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das ist nicht Städtebauförderung wiederherstellen. Vor allen Dingen wahr!) müssen die nichtinvestiven Maßnahmen wieder zugelas- sen werden. Erst der lagerübergreifende aus allen Städten hat Sie überhaupt dazu veranlasst, in den letzten beiden Außerdem wollen wir ein Programm zur energeti- Haushalten, dem Haushalt 2012 und dem Haushalt 2013, schen Sanierung noch ein bisschen nachzulegen. (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das gibt es (Petra Müller [Aachen] [FDP]: 10 Millionen doch schon!) sind kein bisschen!) von Quartieren mit einem hohen Anteil einkommens- schwacher Haushalte anregen. Das betrifft viele Gebiete Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle bei Ihrer Linie blei- des Programms „Soziale Stadt“. Hier muss das Ziel sein, ben. zu einer warmmietenneutralen energetischen Sanierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu kommen; denn diese Menschen können sich hervorra- gend sanierte Wohnungen, bei denen die Sanierungskos- Sie müssen jetzt nur noch die gegenseitige Deckungsfä- ten mit 11 Prozent umgelegt wurden, nicht mehr leisten. higkeit wiederherstellen und die Diskriminierung des Sie werden sozusagen heraussaniert. Deswegen brau- Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ innerhalb der chen wir ein besonderes Programm für diese Stadtteile. Städtebauförderung beseitigen. Vor allen Dingen müssen Anders werden wir die sozialen und ökologischen Sie sicherstellen, dass die Städte ihren Eigenanteil auf- Schieflagen in unseren Städten nicht in den Griff bekom- bringen können. men. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir, der Bund, haben eine klare Mitverantwortung für und bei der SPD – Zuruf des Abg. Peter Götz die Entwicklung in unseren Städten und Wohnquartie- [CDU/CSU]) ren. Da kann man nicht sagen: Das ist doch Ihre Sache. 23946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Daniela Wagner (A) Machen Sie doch etwas. – Das ist auch unsere Sache. Eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Als 1998 (C) Das ist auch Sache der Länder. Wir müssen das gemein- die SPD gemeinsam mit den Grünen in die Verantwor- sam anpacken. tung kam, ist es ihr nicht gelungen, das Programm „Soziale Stadt“ tatsächlich zu verzahnen. Peter Götz hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es anschaulich dargestellt. Dem gibt es nichts hinzuzufü- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gen. KEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ginnen und Kollegen, wenn wir über Städtebauförderung Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege sprechen, dann müssen wir vor allen Dingen darüber Volkmar Vogel als letzter Redner zu diesem Tagesord- sprechen, welche Herausforderungen in der Zukunft vor nungspunkt. uns stehen werden. Das sind zwei wesentliche Dinge: Das eine ist der demografische Wandel, und das andere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist die Energiewende, die auch im Gebäudebereich eine wichtige Rolle spielt. Es waren wir, die dafür gesorgt ha- Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): ben, dass der Stadtumbau Ost und der Stadtumbau West Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit einem hohen Anteil weitergeführt werden. Es waren Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte erst ein- wir, die sich auch in der Fläche darum gekümmert mal Folgendes feststellen: Wenn man von Sozialstaat haben, dass für kleine Städte und Gemeinden die Mög- spricht, dann denken alle an Rentenversicherung, an Ar- lichkeit besteht, eine gemeinsame Infrastruktur zu entwi- beitslosenversicherung, an Sozialhilfe. Aber keiner ckeln. Wir fördern das mit einem entsprechenden Pro- denkt eigentlich an das berühmte Dach über dem Kopf. gramm. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Doch, wir, die Gerade im Stadtumbau sind weitere Maßnahmen SPD!) notwendig. Wir haben die Zwischenberichte zum Stadt- umbau Ost, und wir haben den Zwischenbericht zum Ich glaube, das Dach über dem Kopf und lebenswerte Stadtumbau West. Wir werden in den nächsten Jahren Städte sind die größte soziale Errungenschaft, die wir in große Anstrengungen unternehmen müssen, um hier unserem Lande haben. Es muss auch ein bisschen Zeit voranzukommen. Wir stellen uns dieser Aufgabe in viel- sein, denen zu danken, die dafür gesorgt haben. Es ist fältiger Hinsicht. nicht die SPD an erster Stelle. An erster Stelle sind es die, die vor Ort im Rahmen der Wohnungswirtschaft als Demografischer Wandel heißt, da, wo es notwendig (B) private Immobilienbewirtschafter, als Wohnungsunter- ist, Rückbau zu unterstützen. Demografischer Wandel (D) nehmen, als kommunale Unternehmen dafür sorgen, heißt aber auch Umbau, der den neuen Bedingungen der dass unsere Städte im Großen und Ganzen bei aller Kri- Menschen entspricht. Außerdem heißt demografischer tik und bei allen Problemen, die es gibt, in einem sehr Wandel Aufwertung, etwa was soziale Infrastruktur an- guten Zustand sind. geht. Auch hier sieht man die Verknüpfung mit anderen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Programmen, wie zum Beispiel mit dem Programm „So- ziale Stadt“. Wenn man das weltweit, also auch mit anderen großen Industrienationen, vergleicht, dann zeigt sich: Das kann (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Volkmar, was sich sehen lassen. ist mit den Altschulden?) Natürlich haben ihren Beitrag geleistet die Kommu- Die Energiewende wird im Gebäudebereich – das nen, die Länder, in deren Zuständigkeit einige dieser wissen wir alle – eine sehr große Rolle spielen. Ich Dinge liegen, und auch der Bund, der seit mittlerweile möchte an dieser Stelle sagen: Wenn wir von insgesamt 40 Jahren die Städtebaufördermittel kontinuierlich zur 555 Millionen für die Städtebauförderung sprechen, Ausreichung bringt. dann müssen wir auch noch darüber sprechen, dass jedes Jahr 1,5 Milliarden für das CO -Gebäudesanierungspro- Ja, „Soziale Stadt“ ist gut. Aber „Soziale Stadt“ ist 2 gramm zur Verfügung stehen, ein großer Teil davon für nur dann gut, wenn auch tatsächlich sozial wirkende unsere Gebäude, für unsere Immobilien, die es energe Investitionen im Vordergrund stehen – - tisch zu ertüchtigen gilt. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber genau das wollen Sie doch ver- Nun spreche ich besonders die Opposition an: Wenn hindern!) es um die Energiewende und die Bereitstellung finan- zieller Mittel geht, fordere ich Sie auf: Springen Sie end- Investitionen ins Wohnumfeld, in die soziale Infrastruk- lich über Ihren Schatten und sprechen Sie mit den Ver- tur und auch in lebenswerte Wohnungen. Genau da antwortlichen in den Bundesländern, in denen Sie an der bauen wir nicht ab. Einen solchen Abbau zu verhindern, Regierung beteiligt sind, ist die Aufgabe, die uns, dem Bauausschuss, zusteht. Die Mittel, die auch in diesem Jahr für investive Zwecke zur (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verfügung stehen, haben mindestens die Höhe, die schon NEN]: Haben wir! Der Vorschlag liegt auf in den vergangenen Jahren zur Verfügung gestanden hat. dem Tisch! Jetzt müssen Sie mitspringen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23947

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (A) um dafür zu sorgen, dass wir im Hinblick auf die energe- Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Be- (C) tische Sanierung auch die Möglichkeit von Sonderab- schlussempfehlung ist angenommen. schreibungen auf den Weg bringen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Der Vorschlag von Ministerpräsident Kretschmann ist SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwar nicht ganz neu; er stellt aber zumindest eine gute Lebensmittelverluste reduzieren Basis für weitere Verhandlungen dar, wenngleich es aus unserer Sicht notwendig ist, hier noch etwas zu tun, um – Drucksache 17/10987 – auch privates Kapital zu heben. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin (Sören Bartol [SPD]: Ich denke, ihr lasst schon Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei- ein entsprechendes Programm vorbereiten!) terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lassen Sie mich zum Schluss sagen: 40 Jahre Städte- Die Ursachen der Vernichtung und Ver- bauförderung, das ist eine gute Sache. schwendung von Lebensmitteln wirksam be- kämpfen (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Altschulden!) – Drucksache 17/10989 – Sie gilt es fortzuführen, allerdings immer den jeweiligen Bedingungen entsprechend. Ich rufe die Kollegen von Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der Opposition auf: Unterstützen Sie uns, wenn es darum Verbraucherschutz (f) geht, neue Programme zu entwickeln und alte Pro- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gramme weiterzuentwickeln, und zwar den Bedingun- gen, die uns der Wohnungs- und der Immobilienmarkt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die vorgeben, und den Bedürfnissen der Menschen entspre- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- chend. derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Vielen Dank. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter Hans-Joachim Hacker [SPD]: Und die Alt- Bleser. schulden? – Christian Lange [Backnang] (B) [SPD]: Die Altschulden hat er wieder verges- Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (D) sen!) ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir Ich schließe die Aussprache. eine große Freude, hier und heute miterleben zu dürfen, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema Le- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf bensmittelverschwendung befasst und in einem frak- Drucksache 17/10999 an die in der Tagesordnung aufge- tionsübergreifenden Antrag gleiche Ziele definiert. Ich führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- halte das für ein sehr wichtiges Signal, das die öffentli- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung che Debatte beflügeln und dabei helfen wird, dieses so beschlossen. Thema mitten in die Gesellschaft zu tragen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auf jeder schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Stufe der Warenkette werden Lebensmittel weggewor- Drucksache 17/8199. Der Ausschuss empfiehlt unter fen. In Deutschland rechnen wir mit 11 Millionen Ton- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung nen pro Jahr. des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/6444 mit dem Titel (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: 20!) „40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmodell für die Dies ist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht verein- Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwi- bar. Die Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung von ckeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Nahrungsmitteln beansprucht nämlich eine große Menge CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo- natürlicher Ressourcen, die dadurch für andere Nutzun- sitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine Enthaltungen. gen nicht zur Verfügung stehen. Sie verursachen natür- Die Beschlussempfehlung ist angenommen. lich auch Kosten für die Gesellschaft. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6447 mit dem Ti- tel „Städtebauförderung auf hohem Niveau verstetigen, Es ist daher ein Gebot der Verantwortung gegenüber Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen“. Wer der Weltbevölkerung und den kommenden Generatio- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koali- nen, Lebensmittelverluste so weit wie möglich zu redu- tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – SPD und Linke. zieren. 23948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Parl. Staatssekretär Peter Bleser (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem merksam zu machen. In Bremerhaven wird noch im (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herbst die erste Veranstaltung dazu stattfinden. Das ist in einer Gesellschaft, die sich an Überfluss, an Aber auch bei unseren Kindern müssen wir ansetzen, eine breite Auswahl und an die ständige Verfügbarkeit und wir müssen ihnen Wertschätzung vermitteln. Dazu von Lebensmitteln gewöhnt hat, nicht einfach. Etwas, hat unsere Ministerin am 3. Oktober 2012 den Schüler- was man immer hat, wird weniger geschätzt. Das gilt wettbewerb „ECHT KUH-L“ gestartet, der in diesem auch für andere gesellschaftliche Bereiche. Schuljahr die Lebensmittelverschwendung thematisiert. Wir brauchen mehr Wertschätzung für die Mittel zum Ich hoffe auch, dass in so mancher Küche über unsere Leben. Insofern bin ich froh, dass unsere Ministerin alltägliche Verwendung und oft auch Verschwendung Aigner schon vor einiger Zeit mit der Kampagne „Jedes von Lebensmitteln diskutiert wird. Ich glaube, nur so Mahl wertvoll“, mit der Initiative „IN FORM“ und auch werden wir ein Umdenken erreichen, das letztlich erst in mit der Kampagne „Zu gut für die Tonne“ damit begon- den Köpfen der Menschen herbeigeführt werden muss nen hat, entsprechende Hinweise zu geben und damit die und dann auch zu praktischem Handeln führen kann. Gesellschaft auf dieses Problem hinzuweisen. Die Kam- (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: pagne „Zu gut für die Tonne“ bündelt zahlreiche Aktivi- Jawohl!) täten, die in diesem koalitionsübergreifenden Antrag richtigerweise angesprochen werden. Wir dürfen natürlich nicht nur auf die privaten Haus- halte setzen. Deswegen hat das BMELV in den vergan- Sowohl die Europäische Union als auch die Bundes- genen Monaten erste Gespräche auch mit Herstellern, ministerin haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020 dem Handel und Großverbrauchern geführt. Diese Ge- die vermeidbaren Lebensmittelabfälle um die Hälfte zu spräche werden mit dem Ziel fortgesetzt, konkrete Bei- reduzieren. Ich meine, dieses ambitionierte Ergebnis träge aller Akteure zur Reduzierung von Lebensmittel- lässt sich nur in einem gesellschaftlichen Bündnis aus verschwendung zu leisten. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und natür- lich Verbrauchern erreichen. Im Frühjahr nächsten Jahres soll dieser Prozess mit einem runden Tisch abgeschlossen werden. Von allen Wichtig ist uns die Information der Verbraucherinnen Beteiligten werden bis dahin konkrete, überprüfbare und Verbraucher a) über die Möglichkeit der Abfallver- Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle in meidung und b) zur Sensibilisierung für die Wertschät- ihrem Verantwortungsbereich erwartet. zung von Lebensmitteln. Dazu gehören natürlich Wissen und auch praktische Tipps, die unsere Eltern und Großel- Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und (B) tern vielleicht noch eher kannten als viele Angehörige Ressourcen zu schonen. Das geht uns alle an. Dieses (D) jüngerer Generationen. Es geht um nützliches Wissen Thema ist für jeden wichtig. Jeder ist gefragt, und jeder und praktische Tipps für den Umgang mit Lebensmitteln ist gefordert. Am Schluss dieser Debatte sage ich noch und um die Berücksichtigung dieses Wissens und dieser einmal: Ich freue mich, dass wir bei diesem Thema einen Tipps schon beim Einkauf, bei der Lagerung und natür- so tollen Konsens in diesem Haus haben. Ich denke, es lich bei der Verarbeitung in der Küche, also bei der Nah- ist auch eine Botschaft an die Bevölkerung, dass wir uns rungsmittelzubereitung. hier nicht nur streiten, sondern bei Themen, bei denen wir einen Konsens haben, auch gemeinsam handeln kön- Wir haben die Internetseite www.zugutfuerdie- nen. Auch diese Kampagne ist von Erfolg gekrönt, weil tonne.de geschaltet, die sehr stark nachgefragt wird und wir zusammenstehen. für die es auch eine App gibt. Hier werden Tipps von Sterneköchen Herzlichen Dank. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die schmei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ßen am meisten weg!) dafür preisgegeben, wie man aus vermeintlichen Abfäl- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: len, also mit Lebensmittelresten, tolle Speisen zubereiten Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski- kann. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass in Weiß von der SPD-Fraktion. meiner Jugend gerade Speisen aus Resten am besten ge- (Beifall bei der SPD) schmeckt haben. Bis heute liegt mir noch sehr viel an Restesuppen, wie wir immer gesagt haben. Das waren sehr schmackhafte Gerichte. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, was lange Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: War das eine währt, wird endlich gut, nicht wahr, Herr Staatssekretär? Einladung zum Abendessen?) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Na ja, – Liebe Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich glaube, wir ein bisschen!) haben hier den gleichen Erfahrungsschatz. Nun haben wir es doch geschafft, einen gemeinsamen Außerdem gilt es natürlich, gemeinsam mit den Ta- Antrag mit Maßnahmen gegen die Verschwendung von feln und Slow Food durch öffentlichkeitswirksame Ver- Lebensmitteln auf den Weg zu bringen. Das ist ein gutes anstaltungen auf die Rettung von Lebensmitteln auf- Signal. Denn mit dem Wegwerfen genießbarer Lebens- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23949

Elvira Drobinski-Weiß (A) mittel werden ungeheure Ressourcen verschwendet Unser Antrag ist auf die gesamte Wertschöpfungs- (C) – Arbeitskraft, Energie, Wasser, Rohstoffe, ländliche kette ausgerichtet. Die Verschwendung von Lebensmit- Fläche –, die in armen Ländern dringend benötigt wür- teln kann nur eingedämmt werden, wenn alle Beteiligten den, um den Hunger vor Ort zu bekämpfen. Damit hat – alle! – ihren Beitrag leisten. Auch die Landwirtschaft, dieses Thema nachhaltige und ethische Dimensionen, die Ernährungsindustrie und der Handel müssen stärker denen wir nur dann gerecht werden können, wenn wir Verantwortung übernehmen. Diese Einsicht scheint sich alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Insofern war es jedoch noch nicht überall in der Branche durchgesetzt zu uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr haben. wichtig, dass wir hier einen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen konnten. So hatte zum Beispiel die vom Agrarministerium in Auftrag gegebene Studie der Universität wegen (Hans-Georg von der Marwitz [CDU/CSU]: fehlender Auskunftsbereitschaft auf neue Zahlen aus Uns auch!) Handel und Industrie verzichten müssen. Hier, so mei- Auch wenn in einem gemeinsamen Antrag nicht alle nen wir, braucht es mehr Kooperationsbereitschaft und Vorschläge zu 100 Prozent untergebracht werden können mehr Transparenz, um nachvollziehen zu können, wo und Kompromisse gemacht werden müssen, ist das, was wie viel Lebensmittelabfälle anfallen. wir heute hier vorlegen, so denke ich, eine gute Grund- lage. Uns allen ist bewusst, dass im Zeitalter der Globali- sierung, in einer immer weiter vernetzten Welt, die Wert- Bisher stand allerdings vor allem das Verhalten der schöpfungsketten immer länger werden. Damit gibt es Verbraucher im Fokus der Maßnahmen gegen die Le- zwischen Produzenten und Verbrauchern immer mehr bensmittelverschwendung. Das reicht nicht aus, Herr Zwischenhändler, Logistiker, Verpackungs- und Lage- Staatssekretär; denn beim verschwenderischen Umgang rungsspezialisten und immer mehr Wege, auf denen mit Lebensmitteln handelt es sich um ein systemisches brauchbare Ware, brauchbare Lebensmittel aussortiert Problem, dessen Ursache in einem nicht nachhaltigen und weggeworfen werden. Umgang auf allen Produktionsstufen liegt. Zudem gibt es immer alles und überall: Erdbeeren aus (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ China, Mangos aus Indien und Äpfel aus Amerika – und CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE das alles das ganze Jahr über. Die Lebensmittel müssen GRÜNEN) teilweise weit reisen, um zu uns, zum Verbraucher, zu – Vielen Dank. gelangen. Kürzere Wertschöpfungsketten und der Ein- kauf von regionalen und saisonalen Produkten sind des- (B) Zwar müssen wir als Verbraucherinnen und Verbrau- halb auch gute Maßnahmen gegen die Lebensmittelver- (D) cher unser Konsumverhalten und unsere Ansprüche an schwendung. Dabei sind nicht nur die Verbraucher Vielfalt, frische Optik und ständige Verfügbarkeit von gefragt, sondern auch die Gastronomie, Großküchen und Lebensmitteln hinterfragen. Dazu gehört aber auch, dass Kantinen. Verbraucher besser darüber informiert werden, welche sozialen und ökologischen Folgen die Erfüllung dieser 20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel – Herr Ansprüche hat und welchen Wert Lebensmittel wirklich Staatssekretär, ich habe bei dieser Zahl ein paar Tonnen haben. mehr, als Sie genannt haben – wandern in Deutschland jährlich auf den Müll. Statistisch gesehen wirft jeder von (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ uns jedes Jahr 235 Euro in den Abfall. Jedes fünfte Brot CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- wird weggeworfen. Trotzdem haben wir über 300 ver- NEN) schiedene Brotsorten in den Regalen der heimischen Bä- Die mangelnde Wertschätzung ist nicht nur bei Ver- ckereien und Läden. Und bis zum Ladenschluss wird das brauchern ein Problem. Wo Wegwerfen billiger und komplette Sortiment vorgehalten, um dem Kunden auch leichter für alle Anbieter als die Weiterverwertung ist, noch nach 20 Uhr die volle Auswahl bieten zu können. braucht man nach Wertschätzung nicht zu fragen. Was übrig bleibt, wird weggeworfen. Die Konzentration im Handel verschärft die Situa- Der Bischof von Caesarea, Basileus, hat einmal ge- tion; denn im Kampf um Marktanteile sind Niedrigst- sagt: Das Brot, das ihr verderben lasst, das ist das Brot preise für Lebensmittel die Waffe, mit der Konkurrenten der Hungernden. – Das ist ethisch, sozial und ökologisch vom Markt gedrängt werden und unter der Zulieferer unverantwortlich. Deshalb bin ich froh, dass wir heute und Erzeuger zu leiden haben. Auch die Ansprüche an hier gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen, erste Optik und Verarbeitungsfähigkeit üben Druck auf die Er- Schritte gehen, um diese Verschwendung einzudämmen zeuger aus und führen zum Aussortieren und zu unnöti- und zu einem achtsamen Umgang mit Lebensmitteln zu- gen Abfällen bereits bei der Ernte. Dieser Umgang mit rückzufinden. Lebensmitteln ist ethisch, sozial und ökologisch nicht vertretbar. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN) CDU/CSU und der FDP) 23950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: saal angemietet. 500 junge Menschen, 500 Schüler, sind (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael gekommen. Als der Film zu Ende war, ist etwas einge- Goldmann von der FDP-Fraktion. treten, was ich sehr selten erlebt habe. Tief bewegte junge Menschen kamen auf mich zu und fragten mich: Hans-Michael Goldmann (FDP): Wie können Sie eigentlich als Politiker damit leben, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wir diese unendlich großen Mengen wegwerfen, wäh- Kollegen! Ein gemeinsamer Antrag macht es vielleicht rend in der Welt Menschen verhungern? möglich, den persönlichen Zugang zu einem Thema in Wir haben daraus den Schluss gezogen – gemeinsam einer Rede hier im Bundestag darzustellen. den Schluss gezogen –, den wir mit dem heute vorlie- Als ich die Aufgabe des Vorsitzenden in meinem genden Antrag zum Ausdruck bringen. Er setzt darauf, Lieblingsausschuss übernahm, habe ich mir überlegt: die gesamte Kette ins Auge zu fassen und daraus die Was willst du eigentlich als Akzent setzen in der Funk- richtigen Schlüsse zu ziehen, wie wir an jeder einzelnen tion, in der Rolle, die du jetzt hast? Mir war es ganz be- Stelle – von Afrika bis in den Kühlschrank, bis auf den sonders wichtig, herauszustellen, dass wir heute enorm Teller – die Dinge so entwickeln können, dass wir zu ei- global mit allem vernetzt sind – die Erdbeeren aus ner Minimierung des Wegwerfens kommen, dass wir zu China, die hier unglücklicherweise ankamen, sind dafür einer viel, viel besseren Situation kommen. ein besonderes Beispiel –, dass es aber auch darum geht, Kernvoraussetzung dafür ist Bildung, Information dass man immer wieder die Vernetzung zwischen der und Wissen um die Dinge. Wir haben in Deutschland im globalen Situation und dem ganz persönlichen Verhalten Moment eine riesige Chance, uns in besonderer Weise deutlich macht. mit dem Thema zu beschäftigen, weil sich die Familien- Jeder, der sich damit ein bisschen beschäftigt, kommt struktur verändert. Heute gehen Kinder relativ früh in sehr schnell dahinter, dass es ein Thema gibt, das uns be- außerhäusliche Bildungseinrichtungen, ob es Kindergär- wegen muss, das uns in die ethische Verantwortung ten oder Schulen sind. Viele dieser Schulen machen sich nimmt: Das ist das Thema der Lebensmittelverschwen- auf den Weg, Kantinen einzurichten. Diese Kantinen dung. Das ist ein Synonym dafür, dass bei uns Lebens- sind häufig nicht unbedingt das, was man unter einem mittel viel zu billig sind und dass wir es eigentlich mit klugen Bildungsangebot in den Schulen versteht. Sie einem Begriffsirrtum zu tun haben; denn sehr viele Men- sind häufig nicht mit dem unterrichtlichen Tun vernetzt, schen empfinden die Lebensmittel nicht als wesentliche wo in Erfahrung gebracht wird: Wo kommt das Produkt Mittel für ihr Leben. her? Wie muss es bearbeitet werden? In welcher Menge muss es eingesetzt werden, damit es auch zu einer ver- Deswegen haben wir vom Ausschuss nach diesen Er- nünftigen Verwendung dieses Produktes kommt? (B) kenntnissen, die wir gemeinsam hatten, wie der Antrag (D) belegt, als Erstes eine Reise nach Afrika gemacht, nicht Wir wissen natürlich auch, dass die Dinge zum Teil eine Vergnügungsreise, sondern eine Arbeitsreise. Wir sehr kompliziert sind. Gerade das jüngste Beispiel mit wollten dahin fahren, wo die größte Gruppe von Men- den Erdbeeren aus China hat gezeigt, welche Streuung schen Hunger leidet. Angesichts der Weltbevölkerung ist solche Themen heute erfahren. Da hatten auf einmal das eine unvorstellbar große Zahl: Von 7 Milliarden Tausende von jungen Menschen Durchfall bzw. ein En- Menschen hungern 1 Milliarde Menschen. teritisproblem. Das gab es aber keineswegs nur in Nord- Als die Kollegen aus Afrika wiederkamen, haben wir rhein-Westfalen. Nein, das gab es auch in Thüringen und gefragt: Was bringen Sie uns mit? Dabei stellten wir fest, Sachsen-Anhalt. Im Grunde gab es das überall. dass der Hunger auch etwas damit zu tun hat, dass in die- Wenn man nicht weiß, wo die Ursachen für solche sen Ländern die Lagerbedingungen schlecht sind, dass in Probleme liegen, kann man die Dinge nicht korrigieren. diesen Ländern die Transportbedingungen schlecht sind. Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir über die gesamte All das sind Gründe dafür, dass es nicht zu einer ver- Palette – über den Forschungsbedarf, das Mindesthalt- nünftigen Lebensmittelverwendung kommt. barkeitsdatum, Aufklärungskampagnen, Vermarktungs- Wir haben dann eine weitere Reise nach China ge- strukturen in der EU und über Wertschätzung – nachden- macht. Die Chinesen waren enorm stolz darauf, dass sie ken. in der Lage waren, ihr 1,3-Milliarden-Volk zu ernähren, Am Anfang hatte ich gesagt, dass es eine globale Ver- weil sie sich darüber im Klaren waren, dass Hungerkon- antwortung gibt. Es gibt aber auch die lokale. Vor einiger flikte sehr schnell zu kriegerischen Konflikten führen Zeit habe ich auf Mallorca ein bisschen Urlaub gemacht. können. Ich stellte, als ich relativ spät den Speisesaal verließ, Dann gab es eine Veranstaltung von Greenpeace hier fest, dass die gesamte Palette auf dem Büfett noch vor- in unmittelbarer Nachbarschaft. Bei dieser Veranstaltung handen war. Meine Tochter hat in einem Hotel gearbei- hat eine junge Frau aus Österreich erzählt, wie die Zah- tet. Zwei Minuten vor zehn hat sich ein Gast furchtbar len in Österreich sind. Ich habe mich daraufhin gefragt: darüber beschwert, dass bestimmte Artikel des Pro- Warum haben wir eigentlich keine Zahlen? Wir haben gramms nicht mehr da waren. uns dann gemeinsam auf den Weg gemacht, um diese Ich frage: Was machen wir selbst? Sagen wir dann Zahlen zu beschaffen. auch einmal: „So muss das nicht sein; ich bin im Grunde Eines Tages tauchte der Film „Taste the Waste“ auf. genommen auch zufrieden, wenn ich, weil ich später ge- In Papenburg, meiner Heimatstadt, habe ich einen Kino- kommen bin, nicht mehr alles geboten bekomme“? Ich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23951

Hans-Michael Goldmann (A) habe es schon ein paarmal gesagt: Ich finde es tief bla- den Takt an. Bauern bleiben auf ihren Erzeugnissen sit- (C) mabel, dass, wenn bei den Veranstaltungen, die bei uns zen, da sie nicht den Normvorgaben der Industrie ent- in der Parlamentarischen Gesellschaft abends stattfin- sprechen. den, Anmeldungen für 40, 50 oder 60 Kollegen einge- hen, aber nur 15 erscheinen, dann weggeworfen wird auf (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Teufel komm raus. Ich finde, wir sollten da bei uns selbst Unerhört!) anfangen und das umsetzen, was in diesem Antrag steht. Wer nicht die passende Größe, Form oder Farbe liefern Dann sind wir auf einem guten Weg. kann, kann seine krummen Gurken oder zu kleinen oder Herzlichen Dank. zu großen Kartoffeln wieder unterpflügen, da sie zur ma- schinellen Weiterverarbeitung nicht taugen. (Beifall im ganzen Hause) Die Produktion von Halbfertig- oder Fertigprodukten läuft maschinell. Sie sollen billig und haltbar sein. Des- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: halb sind auch viele Füll- und Zusatzstoffe drin. Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke. Strategien zur Eindämmung der Lebensmittelver- schwendung müssten auch dieses systembedingte Pro- (Beifall bei der LINKEN) blem aufgreifen. Insofern ist der Antrag „Lebensmittel- verluste reduzieren“ der vier anderen Fraktionen etwas Karin Binder (DIE LINKE): enttäuschend. Es handelt sich um wohlfeile Lippenbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kenntnisse nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bleser, Sie mach mich nicht nass“: Verbraucher müssten nur richtig möchten gerne Lebensmittelverluste reduzieren, um mit Lebensmitteln umgehen lernen, dann landete auch Himmels Willen aber nicht mit der Linken zusammen, nichts auf dem Müll. Da sollen ein offener Dialogpro- obwohl es ein gemeinsames Anliegen ist und wir auch zess eingeleitet und die Verbraucher verstärkt informiert mitgearbeitet haben. werden. Verantwortliche in Industrie und Handel sollen aufgefordert werden; ein Innovationswettbewerb soll (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist eingeleitet werden, aber: keine Verbindlichkeit, keine ziemlich peinlich!) Verpflichtung, keine klaren Vorgaben. Frau Aigner Aber deshalb haben wir dann noch einen eigenen Antrag dürfte sehr zufrieden sein, denke ich. Damit fällt nämlich auf den Weg gebracht, um zu Ihrem Antrag vielleicht in dieser Wahlperiode keine Arbeit mehr an. noch ein paar zusätzliche Ideen beizusteuern. Denn wir Die Linke hingegen fordert wirksame Maßnahmen, gehen davon aus, dass die Ursachen der Lebensmittel- (B) um der Vernichtung und Verschwendung von Lebens- (D) vernichtung in Deutschland sehr vielfältig sind. mitteln zu begegnen: Die Regierung muss die Halbie- (Beifall bei der LINKEN) rung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelabfällen bis 2020 verbindlich vorgeben. Große Lebensmittelun- In erster Linie sind sie ein Problem der Nahrungsmit- ternehmen sollten verpflichtet werden, ihre Stoffbilanz telindustrie und des Handels. Echte Wertschätzung für offenzulegen, um die Wirksamkeit ihrer Vermeidungs- unsere Lebensmittel bleibt leider auf der Strecke, wenn strategien überprüfbar zu machen. Dumpingpreise und Lockvogelangebote den Takt ange- ben. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sind doch die, die am (Beifall bei der LINKEN) wenigsten wegwerfen!) Das regionale Lebensmittelhandwerk wie Bäcker Für Waren wie Obst, Gemüse, Brötchen und Eier oder Metzger kann da auch nicht mehr mithalten. muss es neben den Mehrfachgebinden immer auch den In den ärmeren Ländern dieser Erde entstehen Ver- Stückverkauf geben. Güteklassen und industrielle Ver- luste aus der alltäglichen Not heraus. Erntemaschinen, marktungsnormen für Waren wie Obst und Gemüse sind Lagerhaltung oder die Infrastruktur fehlen, um Produkte aufzuheben. zu ernten oder auf den Markt zu bringen. Ernten werden Statt Exportförderung für die Industrie brauchen wir vernichtet, nicht nur durch Klimakatastrophen. Jeder eine konsequente Förderung des ökologischen Anbaus Krieg verhindert oder zerstört Ernten. und regionaler Erzeugung. Das haben wir auch in der Erschwerend kommt noch hinzu, dass multinationale Haushaltsberatung deutlich gemacht. Lebensmittelkonzerne aus den Wohlstandsländern die Es gibt noch viele Forderungen, die Sie unserem An- Märkte dieser armen Länder mit unseren Abfällen und trag entnehmen können, aber auf eine möchte ich noch Billigprodukten überschwemmen und damit den heimi- ausdrücklich eingehen: Wir brauchen eine Umkehr der schen Anbau und die Produktion von Nahrungsmitteln Rechtslage. Das Containern, also das Fischen nach ess- verdrängen oder langfristig sogar zerstören. Das ist für baren Lebensmitteln im Müll, darf nicht länger als Straf- die Linke nicht hinnehmbar. tat verfolgt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dagegen ist hierzulande Lebensmittelvernichtung ein Heinz Paula [SPD] – Hans-Michael Goldmann Problem des Überflusses. Hersteller und Handel geben [FDP]: Das wird doch gar nicht verfolgt!) 23952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Karin Binder (A) Stattdessen muss das verantwortungslose Wegwerfen bei Unser Antrag sagt es klar und deutlich: Angesichts (C) Herstellern und im Handel geahndet werden, meine Da- 1 Milliarde hungernder Menschen, angesichts schon men und Herren. existierender und in Zukunft drohender Knappheiten sind die Verluste entlang der gesamten Produktions- und Jetzt danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Handelskette und die Verschwendung im Privathaushalt wünsche einen schönen Abend. aus ethischer und ökologischer Sicht nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: neten der CDU/CSU und der LINKEN) Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Wir haben als gemeinsames Ziel formuliert – der Kollegin Nicole Maisch. Staatssekretär hat es ganz am Anfang gesagt –, bis 2020 die Zahl der vermeidbaren Lebensmittelverluste zu hal- Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bieren. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel, und deshalb Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ist es gut, dass sich der gesamte Bundestag – auch die führen heute auf Grundlage eines fast fraktionsübergrei- Linke hat sich ja zu diesem Ziel bekannt – hinter dieser fenden Antrags nichts weniger als eine Lebensstil- und Zielmarke versammelt. Wertedebatte. Ich finde es gut, dass Union und FDP, die Es gibt noch einige Dinge, die im fraktionsübergrei- sich sonst solchen Lebensstildebatten ja nicht so gerne fenden Antrag nicht zu unserer vollständigen Zufrieden- nähern – heit niedergelegt sind, obwohl es ein sehr guter Antrag ist. Deshalb möchte ich diese Punkte hier doch noch ein- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh, oh, Sie mal nennen, weil ich glaube, dass sie zu der Debatte über sind eine so nette Kollegin!) Lebensmittelverluste dazugehören. ich denke an die Frage des Fleischkonsums –, sich ge- Erstens. Wir brauchen eine tiefer gehende Analyse des meinsam mit uns und anderen starken gesellschaftlichen Systems der Nahrungsmittelproduktion. Wir müssen uns Akteuren wie den Tafeln, Slow Food, den Kirchen ganz fragen: Wie ist es dazu gekommen, dass Nahrungsmittel vorne dabei, auf den Weg gemacht haben, diese Diskus- zu Wegwerfprodukten werden? Hat das vielleicht etwas sion zu führen. damit zu tun, dass wir Milch billiger als Mineralwasser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verramschen? Hat es etwas damit zu tun, dass man das Kilo Schweinefleisch für 3 Euro bekommt und dass die (B) Wir wissen nicht erst seit dem letzten Bericht unserer externen Kosten eben nicht auf dem Kassenzettel auftau- (D) Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens- chen, sondern die Umwelt- und sozialen Kosten auf an- qualität“: Unser Ressourcenverbrauch übersteigt das dere Menschen und die Natur abgewälzt werden? Leistungsvermögen des Planeten, und durch reine Effi- zienzsteigerung in der Produktion ist dies nicht aufzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fangen. Das macht sich exemplarisch an der Frage der Deshalb sagen wir: Die Neuordnung der Agrarsubven- Nahrungsmittelproduktion fest. Wenn global ein Drittel tionen auf europäischer Ebene ist eine gute Möglichkeit, und in den reichen Ländern bis zur Hälfte der Lebens- um sich für Klasse statt Masse einzusetzen. Wir setzen mittel im Müll landen, dann können wir uns natürlich nicht mehr auf billig, sondern wir setzen auf besser. bemühen, im Agrarbusiness Innovationen einzuführen; wir können effizienter werden. Aber wenn gleichzeitig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9 Milliarden Menschen satt werden wollen, wird es uns sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Hans- nicht gelingen, diese Lücke zu schließen. Was wir an Ef- Michael Goldmann [FDP]: Sehr gut!) fizienzsteigerung hereinholen, wird uns auf der anderen Zweitens. Es ist eine schwierige politische Aufgabe, Seite durch Verschwendung und durch den größeren Be- der wir uns aber stellen müssen, neue Formen des Tei- darf wieder weggegessen. lens und Tauschens zu ermöglichen. Wer von Ihnen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kleinen Orten wohnt, der weiß: Wenn die Zucchini reif sind, dann verschenkt man sie an die Nachbarn; wenn Wenn wir also in Zukunft satt werden wollen, müssen die Pflaumen reif sind, gibt man den Korb an Freunde wir uns mit dem Thema Nahrungsmittelverschwendung und Verwandte weiter. In Großstädten ist das gar nicht so befassen. Wir wollen hier als Abgeordnete des Ernäh- einfach mit dem Teilen und Tauschen. Deshalb haben rungsausschusses keine Welle der Empörung reiten und sich Leute aufgemacht, im Internet Plattformen – die das Thema dann, wenn wir ein paar Schlagzeilen abge- nennt man heute Food-Sharing Platforms – zu organisie- griffen haben, wieder zu den Akten legen, sondern wir ren. haben intensiv in Anhörungen, in langen Diskussionen im Ausschuss ein politisches Programm erarbeitet. Es (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, bin ich geht uns um nichts weniger als um eine gesellschaftliche drin!) Debatte darüber, wie viel wir als Individuen und wie viel Hier stellt sich die Frage für uns in der Politik: Müssen wir als Gesellschaft von den knappen Ressourcen, die diese Plattformen reguliert werden? unser Planet bereithält, für uns in Anspruch nehmen wollen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23953

Nicole Maisch (A) Ich würde sagen, da begegnen sich Bürger wie früher am nen Lebensmittelverlusten beimessen. Uns allen ist es (C) Gartenzaun, die die Zucchini rübergeben und die Eier wichtig, so wenig Lebensmittel wie nur irgend möglich entgegennehmen. Leider ist das Ministerium anderer in der Versorgungskette zu verlieren. Das möchte ich Meinung. Dort ist man der Meinung, dass solche Platt- hier noch einmal ausdrücklich betonen. Hierfür gibt es formen ähnlich wie Lebensmittelunternehmen reguliert ökonomische, ökologische, aber vor allen Dingen ethi- werden sollen. Wir sind der Meinung: Wenn sich Bürger sche Gründe. Dies wurde auch schon gesagt. begegnen, um etwas zu tauschen, dann muss der Staat nicht unbedingt übermäßig regulieren. Es darf nicht sein, dass nach Schätzung der Ernäh- rungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO 1 Mil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liarde Menschen auf der Welt hungern und gleichzeitig in der EU 89 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle im Der dritte Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist – das hat Jahr verursacht werden. Allein in Deutschland – es der Ausschussvorsitzende angesprochen, was ich sehr wurde vorhin schon in Geld beziffert – sind es, um dies gut finde – das Thema Schulernährung. Wenn wir etwas einmal zu verdeutlichen, pro Bürger 81,6 Kilogramm im Hinblick auf die Wertschätzung für unsere Lebens- Lebensmittel, die wir als Müll verursachen. Es gilt also mittel ändern wollen, dann dürfen wir die Kinder nicht nicht nur international zu fragen, ob wir es uns tatsäch- abfüttern, sondern dann müssen sie gutes Essen kriegen. lich leisten können, Lebensmittel zu verschwenden. Wenn große Caterer heute 50 Cent an Rohstoffkosten für ein Schulmittagessen ausgeben, dann ist das Abfüttern; Ausdrücklich lobe ich hier im Plenarsaal des Deut- dann ist das kein gutes Essen. Damit lernen Kinder nicht schen Bundestages die Arbeit der vielen Ehrenamtlichen Wertschätzung für Lebensmittel. bei den Tafeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Hans-Michael Goldmann [FDP]) GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das kann nicht oft genug geschehen. Sie fahren landauf, landab Supermärkte ab und sammeln Lebensmittel für Kommen Sie bitte zum Schluss. Arme ein, die noch gut sind, aber nicht mehr verkauft werden können. Sie haben seit vielen Jahren regen Zu- Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lauf. Es gibt auch in Deutschland noch bedürftige Men- Das mache ich; das ist mein letzter Satz. schen, die sich ohne Hilfe nicht ausreichend oder ver- Wir Abgeordnete haben den ersten Teil unserer Arbeit nünftig ernähren können. Der sozialpolitische Aspekt (B) geleistet: Wir haben nach langen Diskussionen im Aus- dessen gehört diskutiert, allerdings nicht heute in dieser (D) schuss und einer Anhörung ein verbindliches Reduk- Debatte. Ohne die Einsatzbereitschaft der Tafeln und der tionsziel und ein umfassendes Maßnahmenpaket verab- vielen Ehrenamtlichen würde noch viel mehr Essen im schiedet. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug. Eimer landen. (Peter Bleser, Parl. Staatssekretär: Ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tafeln komme!) sind aktiv im Kampf gegen die Lebensmittelverschwen- dung. Weltweit versuchen Menschen, diesen Wegwerf- – Herr Bleser, Sie haben uns an Ihrer Seite. Wenn es uns irrsinn zu stoppen. Die Bundeslandwirtschaftsministerin zu langsam geht, haben Sie uns dann auch im Nacken. Ilse Aigner hat nach dem Film „Taste the Waste“ quer Deshalb wünsche ich mir, dass Sie schnell Maßnahmen durch die Gesellschaft eine breite Debatte angestoßen auf den Weg bringen. Ich denke, inhaltlich sind wir uns und die Menschen für das Thema Lebensmittelver- in weiten Teilen einig. schwendung sensibilisiert. Politiker aller Parteien sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich einig: Lebensmittelverschwendung ist ein Problem, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieses Problem CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) zu lösen. Viele kleine Schritte können bewirken, dass wir unser Ziel erreichen, Lebensmittelverschwendung um die Hälfte zu reduzieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Ta- Doch welche Wege führen aus der Wegwerffalle? gesordnungspunkt die Kollegin Carola Stauche von der Vieles zu den Ursachen und Lösungswegen wurde heute CDU/CSU-Fraktion. bereits gesagt. Das ist auch gut; denn oberste Priorität müssen Information und Aufklärung haben. Das muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei den Kleinsten anfangen und darf bei den Älteren nicht aufhören. Der verantwortungsvolle Umgang mit Carola Stauche (CDU/CSU): Lebensmitteln muss Tag für Tag neu gelernt werden. Nur Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- so gelingt es uns, das Bewusstsein für den Wert von Le- nen und Kollegen! Wir diskutieren heute, wie schon ge- bensmitteln wieder in die Köpfe der Menschen zu sagt wurde, einen gemeinsamen Antrag von Grünen, bekommen. Nur so können wir in unserer Überflussge- SPD und den Regierungsfraktionen. Eigentlich weist sellschaft abhandengekommenes Alltagswissen zum schon das darauf hin, welche Bedeutung wir dem Thema Umgang mit Lebensmitteln langfristig und erfolgreich Lebensmittelverschwendung und den damit verbunde- zurückgewinnen. Diese Kompetenzen im Umgang mit 23954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Carola Stauche (A) Lebensmitteln müssen von klein auf erlernt werden. Hier Carola Stauche (CDU/CSU): (C) müssen wir die Länder, die ja für die Bildung zuständig Ja. – Lebensmittelindustrie und -handel sind ebenso sind, in die Pflicht nehmen. in der Pflicht, Lebensmittelverluste zu minimieren. An- gefangen beim Mindesthaltbarkeitsdatum über das Ver- Nachdem insgesamt 11 000 Kinder – vermutlich auf- fütterungsverbot tierischer Proteine bis hin zu praktika- grund verkeimter Erdbeeren aus China – Magen-Darm- bleren Verpackungsgrößen ist hier vieles aufgezählt. Die Erkrankungen erlitten haben, fragen sich viele, warum Gastronomie könnte mit kleineren Schnitzeln einen Bei- unsere Kita- und Schulkinder im Herbst Erdbeeren aus trag leisten. Deshalb fordern wir einen Ideenwettbewerb China bekommen. Ich will dazu nur so viel sagen: Es zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen. gibt hervorragende Kitas und Schulen, die die Verpfle- gung der Kinder mit Ernährungsbildung verknüpfen. Meine Damen und Herren, ich möchte es nicht ver- Das ist der richtige Ansatz. Dann lernen die Kinder näm- säumen, mich bei Ministerin Aigner, dem Staatssekretär lich, dass im Herbst Äpfel, Birnen und Pflaumen auf den und ihrem Hause für ihren Einsatz zu bedanken. Bäumen wachsen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der FDP) Wenn sie dann noch das Obst fürs Frühstück selbst ge- Dadurch hat das Thema Lebensmittelverschwendung in schnippelt haben, werden sie eine ganz andere Einstel- der öffentlichen Wahrnehmung den Stellenwert bekom- lung zum Essen bekommen. men, den es verdient. Unsere Landfrauen leisten mit dem Ernährungsfüh- (Gustav Herzog [SPD]: Ein gewaltiger Ab- rerschein sehr gute Arbeit. Sie haben das Wissen, und sie schluss einer großartigen Rede!) haben den Willen, uns bei der Ernährungsbildung zu hel- – Ich danke Ihnen. – Nur wer sich traut, kann gewinnen. fen. Wir sollten dieses Wissen einbeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Einstellung zu Lebensmitteln muss sich ändern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Verbraucher ist natürlich nur ein Glied in der Kette; Ich schließe die Aussprache. er ist nicht allein für dieses hohe Ausmaß der Lebensmit- telverschwendung verantwortlich. Wir können ihn aber Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der auch nicht außen vor lassen; denn er ist besonders an- Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die (B) (D) spruchsvoll: In der Regel will er nämlich nur einwand- Grünen auf Drucksache 17/10987 mit dem Titel „Le- freie Produkte kaufen, und das möglichst zu jeder Tages- bensmittelverluste reduzieren“. Wer stimmt für diesen und Nachtzeit. Manche gehen mitten in der Nacht zur Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Ent- Tankstelle und kaufen dort Brötchen oder Tiefkühlpizza; haltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller das ist heute eine Selbstverständlichkeit. anderen Fraktionen ist der Antrag angenommen. Ich erlebe selbst jeden Tag, dass viele Mitbürger Le- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf bensmittel nicht mehr wertschätzen; schließlich gibt es Drucksache 17/10989 an die in der Tagesordnung aufge- ja genug davon, und sie wachsen ja nebenan in der Kauf- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- und sind preiswert. Wir wissen nicht erst jetzt, dass verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung dem nicht so ist. so beschlossen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: im Antrag geforderte offene Dialogprozess, der eingelei- a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein- tet werden soll, um eine Strategie zur Reduzierung der gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- Lebensmittelverschwendung zu entwickeln. Über den rung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme men- Weg des Dialogs muss es uns gelingen, die Wertschät- schenverachtender Tatmotive als besondere zung für Lebensmittel zu erhöhen und dadurch die Le- Umstände der Strafzumessung (… StRÄndG) bensmittelverschwendung zu reduzieren. Ich möchte das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wissen. – Drucksache 17/9345 – Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern den – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion mündigen Verbraucher, der gut informiert selbst ent- der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes scheidet, was er konsumieren möchte und, vor allem, zur Änderung des Strafgesetzbuchs (… Straf- was nicht. Die Aufklärung, die ich beschrieben habe, rechtsänderungsgesetz – … StRÄndG) spielt bei dem Thema Lebensmittelverluste eine wesent- – Drucksache 17/8131 – liche Rolle. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schusses (6. Ausschuss) Kommen Sie bitte zum Schluss. – Drucksache 17/11061 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23955

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Berichterstattung: dem Titel „Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver- (C) Abgeordnete Ansgar Heveling folgen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Burkhard Lischka Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Jörg van Essen fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- Halina Wawzyniak tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd- Jerzy Montag nis 90/Die Grünen und Enthaltung von SPD und Linken. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu auf: dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten DIE GRÜNEN Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver- – Drucksachen 17/10042, 17/10124 – folgen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksachen 17/8796, 17/11061 – ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling – Drucksache 17/11019 – Burkhard Lischka Berichterstattung: Jörg van Essen Abgeordnete Alois Gerig Halina Wawzyniak Gustav Herzog Jerzy Montag Dr. Erik Schweickert Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Alexander Süßmair sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sind Markus Tressel Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetz- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu buchs – „Aufnahme menschenverachtender Tatmotive dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair, als besondere Umstände der Strafzumessung“. Der Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (B) Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- (D) schlussempfehlung auf Drucksache 17/11061, den Ge- Rettung einheimischer Rebsorten durch Er- setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/9345 haltungsanbau abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- – Drucksachen 17/7845, 17/8612 – men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei- ter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions- Berichterstattung: fraktionen bei Zustimmung der SPD-Fraktion und Abgeordnete Alois Gerig Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken. Gustav Herzog Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Dr. Erik Schweickert tere Beratung. Alexander Süßmair Harald Ebner Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Strafgesetzbuchs. Der Rechtsaus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage- fehlung auf Drucksache 17/11061, den Gesetzentwurf der gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8131 abzulehnen. so beschlossen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- ner das Wort dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/ haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung CSU-Fraktion. abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der SPD-Fraktion und Enthaltung der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Auch hier entfällt die weitere Beratung. Alois Gerig (CDU/CSU): Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/11061 Kollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland ist fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be- ein wirtschaftlich starkes Land. Dies liegt am Fleiß und schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Grips unserer Mitbürger, an der Innovationskraft unserer tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8796 mit Unternehmen und natürlich auch an der richtigen politi- schen Führung.

1) Anlage 6 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 23956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Alois Gerig (A) Deutschland ist ein schönes Land. Dies liegt an der gung verleiht und sie sehr attraktiv für den Tourismus (C) vielfältigen, bunten Kulturlandschaft und den Menschen, macht. Hier sehe ich noch deutliche Zukunftspotenziale. die diese bewirtschaften und pflegen. Leider liegt der Erhalt des Steillagenweinbaus nicht Damit dies auch in Zukunft so bleibt, verbessern wir allein in unserer Hand. Wichtig ist, dass sich die Bundes- zum Beispiel mit der Änderung des Weingesetzes die länder weiterhin engagieren. Ebenso wichtig ist, dass in Rahmenbedingungen für die Winzer und die deutsche der Europäischen Union der bestehende Anbaustopp für Weinwirtschaft. Derzeit ist die Weinlese in vollem Reben verlängert wird. Gange. Es wird von einer leicht unterdurchschnittlichen Erntemenge, dafür aber aufgrund des schönen Spätsom- Der Anbaustopp hat für den Weinbau in Deutschland mers von einem qualitativ sehr guten Jahrgang ausge- eine große Bedeutung. Eine Aufhebung würde unwei- gerlich zu einer Ausdehnung der Rebflächen in einfach gangen. Dies ist nach einem Jahr mit vielen Frostschä- den eine sehr erfreuliche Situation für die Branche. zu bewirtschaftenden Flachlagen und damit zu einer Pro- duktionssteigerung führen. Die Folge: Die Preise und Lassen Sie uns heute für eine weitere gute Nachricht damit die Einkommen der Winzer kämen vermutlich sorgen, indem wir gemeinsam den Gesetzentwurf zur massiv unter Druck, und unsere überwiegend kleinen Änderung des Weingesetzes beschließen. und mittelständischen Unternehmen wären schnell in ih- rer Existenz bedroht. Mit den Änderungen nutzen wir im Rahmen der euro- päischen Weinmarktordnung unsere nationalen Spiel- Ich bitte deshalb die Bundesregierung, ihren richtigen räume, um das Bezeichnungsrecht für Wein zu präzisie- Kurs beizubehalten und sich in Brüssel weiterhin massiv ren. Durch die zusätzlichen Angaben auf dem Etikett für die Verlängerung des Anbaustopps einzusetzen. Dies können deutsche Weine im Wettbewerb mit in- und aus- liegt im Interesse der deutschen Weinbauern und unserer ländischen Produkten noch stärker an Profil gewinnen. Bevölkerung. Die Angaben zu Anbaugebiet und Lage haben beim Eine weitere wichtige Zukunftsaufgabe – auch für Kauf von Wein schon immer eine gewichtige Rolle ge- den deutschen Weinbau – ist es, einen besseren Schutz spielt. Die neuen differenzierten Bezeichnungen helfen gegen zunehmende Wetterextreme zu erreichen. Hagel, dem Käufer, das Produkt seiner Wahl noch besser zu fin- Sturm, Spätfrost und Starkregen häufen sich infolge des den. Klimawandels und können für existenzbedrohende Pro- Viele Verbraucher greifen zunehmend sehr bewusst duktionsverluste sorgen. Bei der Absicherung gegen zu Nahrungsmitteln mit eindeutiger Herkunft, diese Risiken dürfen deutsche Winzer nicht gegenüber europäischen Wettbewerbern benachteiligt werden. (B) (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön wäre (D) es!) Aus diesem Grund bin ich dafür, die Mehrgefahren- versicherungen steuerlich genauso zu behandeln wie die weil diese in der unübersichtlichen anonymen Waren- Hagelversicherungen. Bei der Änderung des Versiche- welt vertrauenswürdiger sind. Mit dem Kauf von Pro- rungsteuergesetzes sollten wir die Steuersätze so festle- dukten regionaler Herkunft können unsere Bürger einen gen, dass Winzer, Bauern und auch Gärtner ermuntert Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten und ge- werden, Eigenvorsorge zu betreiben, um sich selbst ge- zielt die heimische Erzeugung und somit auch den Erhalt gen witterungsbedingte Risiken absichern zu können. der liebgewonnenen Kulturlandschaft stärken. Dieser Trend ist zu begrüßen und wird durch die vorliegende (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gesetzesänderung unterstützt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sche Weinwirtschaft erzeugt qualitativ hochveredelte Produkte, die für ein gutes Stück Lebensqualität stehen. Wichtig ist, dass wir nicht nur neue Bezeichnungen Darüber hinaus leisten die Winzer einen wertvollen Bei- schaffen, sondern auch die Qualität fördern. Die Länder trag zum Erhalt der Kulturlandschaft und für den Touris- können für Weine, die aus kleineren geografischen Ein- mus in den Anbaugebieten. heiten oder einer Steil- oder Terrassenlage stammen, Wohl wissend, dass auf europäischer Ebene weitere strengere Qualitätsanforderungen festlegen, beispiels- wichtige Entscheidungen anstehen, sollten wir heute un- weise hinsichtlich der zugelassenen Rebsorten oder des seren Beitrag für positive Rahmenbedingungen in der zulässigen Hektarertrags. Damit bieten wir die Möglich- deutschen Weinwirtschaft leisten und den vorliegenden keit und Gewähr, die spezielle Wertigkeit dieser Weine Gesetzentwurf gemeinsam beschließen. zu erhöhen. Die Käufer werden dadurch motiviert, die notwendigen höheren Preise zu akzeptieren. Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit auch weiterhin fröhliche Weinfeste gefeiert werden und wir weiterhin (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön wäre hübsche Weinköniginnen krönen können. es!) Vielen Dank. Derzeit bedeutet Steillagenweinbau für die Winzer nämlich harte körperliche Arbeit und leider häufig auch (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und nicht kostendeckende Erträge. An Mosel sowie an Main, der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Tauber und Neckar wird deutlich, dass der dortige Wein- Das ist aber schon ein bisschen frauenfeind- bau diesen Regionen eine besondere landschaftliche Prä- lich!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23957

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir waren hier im Deutschen Bundestag immer gut (C) Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Gustav beraten, die Länder intensiv in die Diskussion mit einzu- Herzog das Wort. beziehen; denn nicht nur die Länder, sondern auch die Weinanbaugebiete weisen eine große Vielfalt auf, die (Beifall bei der SPD) sich im Wein widerspiegelt und ein besonderes Quali- tätsmerkmal des deutschen Weines ist. Gustav Herzog (SPD): (Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP]) Frau Präsidentin! Schönen guten Abend, liebe Kolle- Eine Ursache dieser Vielfalt liegt darin – auch da stimme ginnen und Kollegen! Heute hat es im Plenum, hier an ich dem Kollegen Gerig zu –, dass wir, was die Pflanz- diesem Rednerpult, eine ganze Reihe heftigster politi- rechte angeht, ein sehr strenges Regelwerk haben, wir es scher Auseinandersetzungen gegeben; über Fragen der also nicht zulassen wollen, dass die Weinrebe nur dort Europa-, Finanz-, Energie- und Rentenpolitik ist heftig angepflanzt wird, wo die Kapitalverwertung am besten gestritten worden. Aber schon beim vorhergehenden Ta- möglich ist, sondern dass sie Teil der Kulturlandschaft gesordnungspunkt – bei der Frage, wie wir mit Lebens- bleibt. mittelverlusten umgehen – haben wir bewiesen, dass es möglich ist, hier im Deutschen Bundestag nicht nur ei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, allein im nen Kompromiss zu finden, sondern auch einen Kon- Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Wein- sens. So ist es gut, dass wir auch hier, beim Thema Wein, gesetzes wurden neunmal die Bezeichnungen „Prädi- einen Konsens gefunden haben. katswein“, „Qualitätslikörwein b. A.“ und „Qualitäts- perlwein b. A.“ eingefügt. Ich sage das deshalb, weil Nun darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass damit deutlich wird, wie hochkompliziert und wie ver- es beim Weinrecht immer so friedlich zugeht. Ich kann rechtlicht dieser Bereich geworden ist. Es ist kein Ste- mich daran erinnern, dass es in Zeiten, in denen wir die ckenpferd der Politik – wir finden keine innere Freude Hektarhöchsterträge eingeführt haben, stundenlange De- daran –, die Sachen besonders kompliziert zu machen. batten und heftige Auseinandersetzungen gab. Aber das Vielmehr haben wir in der Debatte zu dieser Weingesetz- ist schon einige Jahre her. Ich glaube, wir haben damals änderung viele Anregungen aus der Weinwirtschaft be- den Mut bewiesen, ein vernünftiges Regelwerk zu eta- kommen, von den Verbänden, den Genossenschaften, blieren, und leben heute von den Früchten, die wir da- den Kellereien; auch einzelne Winzer haben sich an mals gesät haben. mich gewandt. Jeder hatte einen Wunsch oder die Emp- fehlung, dies oder jenes in das Weingesetz aufzunehmen. Ich habe heute Abend gleich zu Beginn einige gute Ich glaube, wir waren gut beraten, dass wir als Bericht- (B) Nachrichten. Zunächst zitiere ich aus der Zeitschrift erstatter für das Weingesetz insgesamt gesagt haben: (D) Pfälzer Bauer: „Jahrhundertweine sind beim 12er mög- Verständigt euch weitestmöglich in der Weinwirtschaft, lich“. klärt das erst einmal unter euch, und dann sind wir gerne bereit, diese Vorschläge auch in unsere Willensbildung (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Nicht nur beim mit einzubeziehen. Pfälzer Bauern!) Es hat sich in einer großen Anhörung, die wir zu dem – Aber daraus habe ich zitiert. Andere haben das, Kol- Weingesetz gemacht haben, gezeigt, dass auch die Wis- lege Schweickert, sicherlich auch zutreffend beschrie- senschaft, die Wirtschaft und die Verbände diesen Weg ben. – Auch die Mengen sprechen dafür, dass sowohl die und das Ergebnis für richtig halten. Erzeuger als auch wir, die Kunden, über die Runden kommen. Die Preise sind für die Erzeuger auskömmlich Wir haben uns dann in einem Berichterstattergespräch und für die Kunden leistbar. den Gesetzentwurf noch einmal sehr detailliert vorge- nommen. Daher kann ich sagen: Weil das Struck’sche Ich sage das, weil wir beim Wein schon ganz andere Gesetz zur Anwendung kommt, werden wir auch hier Zeiten erlebt haben, beispielsweise als die Mengen vaga- dem Änderungsgesetz zustimmen. Wir haben aus einem bundiert und die Preise abgestürzt sind. Die Politik hat brauchbaren Gesetzentwurf der Bundesregierung einen dafür gesorgt, dass in diesem Bereich Ruhe eingekehrt guten Gesetzentwurf gemacht, dem es sich auch zuzu- ist. Heute wollen wir die Rahmenbedingungen der Ver- stimmen lohnt. marktung weiter verbessern. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Na, na, na! – Heiter- Die heutige zweite und dritte Lesung des Siebten Ge- keit bei der CDU/CSU und der FDP) setzes zur Änderung des Weingesetzes bietet die Gele- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. genheit, zwei, drei grundsätzliche Dinge zu sagen. Wir haben mit der Überführung des eigenen Regelwerkes in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die gemeinsame Marktordnung vor einigen Jahren einen DIE GRÜNEN) großen Schritt getan, nicht immer mit Beifall aus diesem Haus. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Politik euro- Vizepräsidentin Petra Pau: päisches Recht vernünftig in nationales Regelwerk über- Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Professor setzt hat. Mein Vorredner hat schon die vielen Möglich- Dr. Erik Schweickert das Wort. keiten angeführt, die das Bezeichnungsrecht heute mit sich bringt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 23958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Dr. Erik Schweickert (FDP): Aber sie muss auch genutzt werden. Insofern appelliere (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ich an die Länder, dieses Gesetz nicht nur limitativ zu Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die gute nutzen, also den Hektarertrag extrem einzugrenzen, son- Ernte sind schon einige Worte verloren worden. Ich dern profilbildend zu wirken und Profile auf den Markt möchte auch für die Zuhörer darstellen, dass es hier zu bringen, unter denen sich der Verbraucher etwas vor- nicht um eine kleine Nische geht. Über 50 000 Genos- stellen kann. senschaftswinzer, über 20 000 Weingüter, über 200 Win- zergenossenschaften in verschiedenen Arten und über Allein die Region Rioja mit über 60 000 Hektar – in 200 Wein- und Sektkellereien sind in Deutschland in Deutschland wird auf insgesamt 102 000 Hektar Wein diesem Bereich tätig. Viele Familien sind also davon ab- angebaut – oder die Region Chianti mit 24 000 Hektar hängig, wie wir unsere Entscheidung heute treffen. stehen jeweils für einen einzigen Weinstil, und trotzdem kann jedes Weingut machen, was es will. Es hat sich al- Ich möchte dem Kollegen Herzog, aber natürlich auch lerdings diesem Profil und dieser Stilistik zu unterwer- dem Kollegen Gehrig zustimmen: Wir haben es über die fen, wenn es diesen Wein produziert. Das sind Chancen Fraktionen hinweg geschafft – so stellen es sich viele auf dem Markt. Aber natürlich muss ich auch die Mög- Zuhörer auch vor –, darüber zu diskutieren und auch An- lichkeit haben, diese Weine zu erzeugen. Deswegen regungen der Länder aufzunehmen, um hier gemeinsam mein Appell: Wir sollten in diesem Bereich nicht nur einen Gesetzentwurf vorzulegen. limitative Möglichkeiten nutzen, sondern insbesondere Ich muss mit mir selber ein bisschen ins Gericht ge- profilbildende. hen. Ich komme aus der Weinwirtschaft. Mein Opa hat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten früher immer von Schrott gesprochen, wenn es um der CDU/CSU) Dinge ging, die die Politik beschlossen hat, und hat über das Weingesetz geschimpft. Aber ich muss sagen: Wenn Wir haben in der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf es heute schiefgeht, dann ist daran definitiv nicht die klargemacht, dass wir, wenn wir möchten, dass das Reb- Politik schuld. Denn wir haben die Anregungen aus dem flächenmanagement erhalten bleibt – dazu stehen alle Berufsstand aufgenommen und für die Betriebe zum Fraktionen im Deutschen Bundestag –, auch dafür sor- Beispiel die Berücksichtigung von Jungwein bei der gen müssen, dass das Rebflächenmanagement auf euro- Umrechnung vereinfacht. Ich möchte Ihnen verdeut- päischer Ebene erhalten bleibt. Dann dürfen keine natio- lichen, dass es bei „g.g.A.“ und „g.U.“ nicht um einen nalen Freiräume genutzt werden; denn dafür ist die Rap, der hier in Berlin produziert wurde, geht, sondern Weinwirtschaft ein zu großes Haifischbecken. Wer um bezeichnungsrechtliche Eigenschaften. meint, als Winzer in einem Haifischbecken Goldfisch spielen zu müssen, der darf sich nicht wundern, wenn er Wir werden den Ländern nun bei kleineren herkunfts- (B) gefressen wird. Deswegen müssen wir alle, die wir hier (D) geschützten Angaben die Freiheit einräumen, ihre eigenen sitzen, uns dafür einsetzen, dass das Rebflächenmanage- Möglichkeiten im Bereich der Rebsorten, des Hektarertra- ges, des Mindestalkoholgehaltes und des Restzuckerge- ment auf europäischer Ebene erhalten bleibt. Wir wissen haltes zu nutzen. Das heißt, wir kommen weg, wie es in alle, dass das nicht so einfach gehen wird wie in den Jah- Deutschland bisher immer der Fall war, von der Qualität ren zuvor, dass die Regelung nicht einfach verlängert im Glase und hin zur Ursprungsbezeichnung, wie es in werden wird. Wir müssen schauen: Wo gibt es Kompro- vielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Spa- missmöglichkeiten? An welcher Stelle kann man mit fle- nien schon lange Tradition ist. xibleren Regelungen entgegenkommen? Im Grundsatz muss der Beschluss aber erhalten bleiben. Wenn man sich vor Augen hält, dass wir in Deutsch- land ungefähr 35 Prozent eigenen Wein trinken – 65 Pro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zent der Weine, die in Deutschland getrunken werden, der CDU/CSU) kommen aus dem Ausland –, dann wird klar, dass die Ich sage auch: In diesem Bereich können wir als Winzer bei Aldi & Co. im Wettbewerb stehen. Denn Fraktionen einiges tun. Wir haben das Parlamentarische 80 Prozent werden über den Lebensmitteleinzelhandel Weinforum, in dem wir seit Jahren fraktionsübergreifend und nur 20 Prozent ab Weingut vermarktet. Dann wird gut zusammenarbeiten. Wenn ich aber sehe – das sage uns bewusst, dass wir die Basis dafür schaffen müssen, ich auch an die Adresse des Präsidiums, nicht nur an die dass sich die Winzer in diesem Wettbewerb behaupten Adresse der Fraktionen und der Regierung –, was für können. Produkte bei Veranstaltungen der Bundesrepublik (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutschland, der Fraktionen oder bei Parlamentarischen Abenden manchmal ausgeschenkt werden, Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund, dass bei einem Einkauf im Supermarkt im Prinzip in drei Se- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig! kunden die Entscheidung zwischen Rotwein, Weißwein Genau!) und Preis gefällt wird, müssen wir den Winzern Mög- dann muss ich sagen: Es liegt auch an uns. Wir entschei- lichkeiten geben, hier aktiv zu werden. Das machen wir. den nicht nur heute Abend über die Rahmenbedingungen Denn die Länder wissen vor Ort besser, welche regionale der Weinwirtschaft, sondern wir können auch mit ande- Besonderheit sie besonders schützen und im Marketing ren Entscheidungen, die wir treffen, unsere Weinwirt- besonders hervorheben können. schaft unterstützen und zeigen, dass wir zu ihr stehen. Ich möchte allerdings auch ganz klar sagen: Dieses Wir können sagen: Jawohl, wir haben in Deutschland Gesetz birgt eine große Chance für die Weinwirtschaft. eine gut ausgebildete Weinwirtschaft. Wir haben beste Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23959

Dr. Erik Schweickert (A) Voraussetzungen: eine gute Wasserverfügbarkeit, tolle Wir sind der Meinung: Wenn Bundesländer mit einem (C) Böden, eine hohe Tag-Nacht-Amplitude, die Aromen großen Anteil von Gebieten mit Steillagen, wie zum Bei- bringt. Wir können auch durch solche Entscheidungen spiel an der Unstrut, der Nahe oder dem Main, schärfere zu den Produkten stehen, die die Weinwirtschaft nach Regelungen treffen wollen, dann sollen sie dies auch unseren Regeln erzeugt. In diesem Sinne können wir den dürfen. Deshalb lehnen wir diese Änderung ab. Winzern sagen: Zum Wohl! (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank. Zweitens. Sie beantragen eine Erhöhung der Anzahl (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Sitze des Aufsichtsrats des Deutschen Weinfonds und eine Erhöhung der Anzahl der festen Mitglieder der Vizepräsidentin Petra Pau: Winzereigenossenschaften von eins auf zwei. So weit, so gut. Aber gleichzeitig machen Sie es durch eine Verän- Kollege Schweickert, den Hinweis auf das Präsidium derung der Zusammensetzung des Aufsichtsrates so gut habe ich nicht ganz verstanden. Hier oben – damit das wie unmöglich, dass Mitglieder der Verbraucherschutz- auch für die Zuhörer klar ist – wird weiter Wasser ge - organisationen im Aufsichtsrat vertreten sind. reicht. Das mit dem Wein verschieben wir auf einen spä- teren Zeitpunkt. Vizepräsidentin Petra Pau: (Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Süßmair, gestatten Sie eine Frage des Kolle- NEN]: Ab 20 Uhr könnten wir doch auch gen Schweickert? Wein ausschenken!) Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die Alexander Süßmair (DIE LINKE): Fraktion Die Linke. Er kann sich am Ende meiner Rede zu einer Kurzin- tervention melden, aber jetzt nicht. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Alexander Süßmair (DIE LINKE): Also nicht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich muss Ihre Anre- gung gleich aufnehmen. Mir kommt jetzt wohl die Rolle zu, etwas Wasser in den Wein zu gießen. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Eine der Hauptaufgaben des Deutschen Weinfonds ist (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Erik die Erschließung und Pflege des Weinmarktes. Es sind Schweickert [FDP]: Schorle!) doch die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die der (B) Wein produziert wird. Deshalb haben wir im Ausschuss (D) – Ja, leider. Das kann ich Ihnen nicht ersparen. beantragt, dass mindestens zwei Mitglieder des Auf- Wir befassen uns heute mit dem Entwurf eines Geset- sichtsrates Vertreter der Verbraucherschutzorganisatio- zes der Bundesregierung zur Änderung des Weingeset- nen sein müssen und dass auch die Anzahl der Verbrau- zes und mit einem Antrag meiner Fraktion zum Erhalt cherschützer im Verwaltungsrat erhöht wird. Diesen von einheimischen Rebsorten. Einige der Änderungen, Antrag haben die Regierungsfraktionen abgelehnt. Das die die Regierung beim Weingesetz vornehmen will, fin- zeigt einmal mehr, welchen Stellenwert Verbraucher- den auch wir von der Linken sinnvoll, zum Beispiel die schutz für Sie hat. Die Linke jedenfalls möchte die Anpassung von Begrifflichkeiten und Formulierungen Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken. an das EU-Recht. Allerdings steckt der Teufel, wie so (Beifall bei der LINKEN) oft, im Detail. Abschließend möchte ich über den Antrag der Linken Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP ha- zum Erhalt der einheimischen Rebsorten sprechen. Fast ben einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bun- zwei Drittel der Weinbaubetriebe in Deutschland verfü- desregierung eingebracht. Darin sind zwei Punkte ent- gen nur über maximal 1 Hektar Landfläche. Wenn diese halten, die wir von der Linken kritisieren: Winzerinnen und Winzer alte Rebsorten anbauen wollen, Erstens. Laut Ihrem Änderungsantrag wollen Sie es die nicht registriert sind, müssen sie für die Zulassung den Bundesländern ausdrücklich untersagen – jetzt wird zum Teil mehrere Tausend Euro zahlen, und das, bevor es fachlich –, eigene strengere Festlegungen für die auch nur eine einzige Flasche verkauft ist. Nebener- Hangneigung in herkunftsgeschützten, kleineren geogra- werbswinzer können sich diese Kosten kaum leisten. fischen Einheiten zu treffen. Das ist falsch; denn gerade Staatliche Institute haben zwar auch Weinstöcke seltener im Weinbau ist die sogenannte Steillage prägend. Sie oder alter Sorten, aber teilweise nur drei Stück. Wir fin- bewahrt die Kulturlandschaft. den, das ist zu wenig. (Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog (Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Sie bringen die gesamte Förderkulisse Alle reden über Biodiversität, also Artenvielfalt; aber durcheinander, Herr Kollege!) wenn es konkret wird, dann ist plötzlich Schluss mit der Förderung von Vielfalt. Die Linke aber meint: Biodiver- Nicht zu vergessen ist der Wert für den Tourismus. sität und Erhaltungsanbau brauchen Wertschätzung und Weinbau in Steillagen ist aber kostenintensiver als der Unterstützung. Weinbau in Flachlagen. Gerade deshalb sollten Steil- lagen besonders gefördert und geschützt werden können. (Beifall bei der LINKEN) 23960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Alexander Süßmair (A) Wir alle wissen: Auch Wein aus Deutschland hat einen um den Erhalt einer besonderen Form der Kulturland- (C) guten Ruf. Tun wir als Gesetzgeber alles, damit es auch schaftspflege geht, also um den Aufwand, der betrieben so bleibt! wird, um zum Beispiel einen Mehrwert für die Land- schaft und den Tourismus zu erreichen. Vielen Dank. Sie werden mir auch zustimmen, wenn ich sage: Wir (Beifall bei der LINKEN) haben auf europäischer Ebene – Sie haben das angespro- chen – Debatten über die Aufhebung der Pflanzrechte. Vizepräsidentin Petra Pau: Andere Länder wollen in der Tiefe und in den Flachla- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege gen in die größere Produktion gehen. Wenn wir weiter- Schweickert das Wort. hin rechtfertigen wollen, dass die Steillage etwas Beson- deres ist, und wenn wir sie fördern und erhalten Dr. Erik Schweickert (FDP): möchten, und zwar auch für die Kulturlandschaft und für Sehr geehrter Herr Kollege Süßmair, man kann natür- den Tourismus, dann finde ich es sehr wohl angebracht, lich die Position vertreten, dass man es den Bundeslän- dass man dies dem Verbraucher klarmacht, wenn die ent- dern offenlässt, strengere Festlegungen in Bezug auf die sprechenden Bundesländer es wollen. Wenn die Men- Hangneigung zu treffen. Aber stimmen Sie mit mir darin schen zum Beispiel einen Ausflug in ein schönes Tal, ob überein, dass allein der Hinweis auf den höheren Ar- an der Mosel oder sonst wo, machen und die Steilhänge beitsaufwand in der Steillage nicht geeignet ist, den Ver- sehr schön finden, müssen sie wissen, dass wir dies lang- braucher, den Sie gerade in den Mittelpunkt gestellt ha- fristig nur erhalten können, wenn wir genau diese Form ben, zu überzeugen? Denn wenn der Verbraucher von des Kulturanbaus schützen. Interessanterweise ist die dieser Mehrarbeit keinen Mehrwert hat, dann wird er Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu der Stel- nicht dafür zahlen. lungnahme des Bundesrats hierauf eingegangen. Sie hat in Bezug auf § 24, der unter anderem die Beschränkung Die Originalität der Steillage besteht darin, dass sie der zugelassenen Rebsorten, den Alkoholgehalt und der- eine bessere Wasserverfügbarkeit hat. Wir alle wissen, gleichen beinhaltet, unter Punkt 1 die Hangneigung hi- dass es eher eine Wasserrennbahn ist, wenn die Steillage neingeschrieben. Sie bestätigt also die Position der Lin- zu steil ist. Dann rinnt das Wasser herunter, und es wird ken. weniger gespeichert. Bei den Graden, die jetzt im Gesetz stehen, gibt es eine optimale Reflexion von Nachtwärme (Gustav Herzog [SPD]: Nein, das war ein Feh- und besserer Aromabildung. Ich möchte einfach bitten, ler der Bundesregierung! Deshalb haben wir dass wir mehr über die Qualität, die uns die Steillage lie- einen brauchbaren, einen besseren Gesetzent- fert, und nicht über den Arbeitsaufwand, der dahinter- wurf gemacht!) (B) (D) steckt, sprechen. Er ist zwar vorhanden und muss ent- Deshalb finde ich es durchaus korrekt, dass wir es den lohnt werden, er wird aber nur dann entlohnt, wenn der Bundesländern überlassen wollen. Verbraucher etwas davon hat. Das ist nur dann der Fall, wenn genau diese Charakteristika, die man jetzt mit der (Beifall bei der LINKEN) Eigenschaft g.U. erheben kann, vom Verbraucher wahr- genommen werden. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der der CDU/CSU) Kollege Markus Tressel das Wort.

Vizepräsidentin Petra Pau: Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zur Erwiderung hat der Kollege Süßmair das Wort. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jenseits der schönen Weinfeste und der noch schöneren Weinköniginnen hat der Weinbau auch wichtige Funk- Alexander Süßmair (DIE LINKE): tionen in anderen Bereichen. Er stärkt die regionale Sehr verehrter Kollege Schweickert, ich habe dazu Wertschöpfung, er schafft Arbeitsplätze auf dem Land, eine andere Position. Sie sagen, dass der Verbraucher be- und er fördert den Tourismus. Das ist hier schon mehr- reit ist, mehr zu zahlen, wenn er Wein mit einer besseren fach angesprochen worden. Unsere Aufgabe als Politik Qualität bekommt. Mit dem Fachlichen kennen Sie sich ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass dies wahrscheinlich besser aus als ich. Aber Sie müssen er- auch weiterhin gewährleistet wird. Die Winzerinnen und klären, warum Sie meinen, dass unsere Vorstellung in Winzer in Deutschland haben unsere Unterstützung ver- diesem Zusammenhang nicht gerechtfertigt ist. Sie wis- dient. Ich glaube, das wird auch deutlich, liebe Kollegin- sen auch, dass die Europäische Union es so definiert hat, nen und Kollegen. dass eine Förderung erst ab 30 Prozent möglich ist. Das gilt natürlich für die gesamte EU. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade wir in Deutschland haben sehr viele Regio- Ich bin froh darüber, dass uns heute ein Gesetzent- nen, zum Beispiel bei mir im Bayerischen, im Fränki- wurf vorliegt, der die Rahmenbedingungen für den schen, in denen es zahlreiche Steillagen gibt. Wir sind Weinbau verbessert. Der Gesetzentwurf lässt den Bun- der Meinung, dass es nicht allein um die Bezahlung des desländern die Freiheit, unterschiedliche Ansätze bei der Aufwands der Menschen, die die Steillagen bewirtschaf- Profilierung kleinerer geografischer Einheiten und Steil- ten, geht, sondern – das habe ich gesagt – dass es auch oder Terrassenlagen zu wählen. Kleinere Weinlagen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23961

Markus Tressel (A) können somit aufgewertet werden. Das ist ein Vorteil für schen Weinforum heraus sind wir insoweit auf einem gu- (C) die Verbraucher; denn mit dem Grundsatz „Je genauer ten Weg. die Herkunftsangabe, desto höher die Qualitätsanforde- Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, den rungen“ bekommen sie eine bessere Orientierung. Winzerinnen und Winzern in unserem Land auch weiter- Eine geregelte Aufwertung der Lagenweine trägt hin gutes Gelingen bei ihrer Arbeit. auch dazu bei, das hohe Niveau der Weine, seine Vielfalt Vielen Dank. und Einzigartigkeit zu erhalten. Wir wissen, es gibt über 2 500 Einzellagen in Deutschland. Hier können höhere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Preise erzielt und der Absatz der Winzer gesichert wer- den. Vizepräsidentin Petra Pau: Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, liebe Für die Unionsfraktion hat der Kollege Norbert Kolleginnen und Kollegen, dass in der EU seit Anfang Schindler das Wort. August dieses Jahres anstelle der Bezeichnung „Wein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aus Trauben aus ökologischem Anbau“ endlich die Bezeichnung „Ökologischer Wein“ verwendet werden Norbert Schindler (CDU/CSU): kann. Verbraucherinnen und Verbraucher legen zuneh- Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich möchte mend Wert auf ökologische Qualität und auf eine gerin- nicht nur die Gäste auf den Tribünen, sondern vor allem gere Belastung der Umwelt mit Pflanzenschutzmitteln. auch meine Freunde aus Neustadt an der Deutschen Deshalb ist auch das ein richtiger Schritt. Weinstraße herzlich begrüßen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Trotz der positiven Entwicklungen bei der Weinge- der FDP) setzgebung, gibt es eine Entwicklung – die Kollegen ha- – Ja, besser kann es nicht sein. – Sie warten schon die ben es angesprochen –, die die qualitätsorientierte Zu- ganze Zeit auf dieses Thema und natürlich auch auf mei- kunft des Weinbaus gefährdet. Das ist das für 2015 nen Auftritt. geplante Auslaufen der Rebpflanzrechte. Wenn das Ver- bot, wie von der EU vorgesehen, ausläuft, droht eine Ab- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der wanderung des Weinbaus in Ackerbauregionen. Damit CDU/CSU und der FDP – Hans-Michael wäre einer industriellen Produktion von Billigweinen Goldmann [FDP]: Sag bloß, die sind extra we- Tür und Tor geöffnet, und es wäre für viele Winzer kaum gen dir nach Berlin gekommen! Toll! – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Entschuldi- (B) noch möglich, Weinbau in solch einzigartigen Kultur- (D) landschaften zu betreiben und diese so zu erhalten. Das gung, wir sind immer noch das deutsche Parla- wäre katastrophal für unsere Weinbauregionen. Deshalb, ment!) liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir das verhin- Natürlich könnte ich jetzt eine abendfüllende Rede dern. halten. Aber, lieber Herr Süßmair, Ihnen rufe ich nur zu: Vielleicht haben Sie Ahnung von Bier, von Wein jeden- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN falls haben Sie keine. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch da sehen Sie uns an Ihrer Seite. Ich freue mich, Lassen Sie sich doch einmal im Rahmen einer geschei- dass wir da, glaube ich, partei- und auch fraktionsüber- ten Weinprobe von der Rebsortenergründung und den greifend Konsens haben. Feinheiten und filigranen Wünschen der Winzerschaft überzeugen. Wir laden Sie dazu gerne ein. Wir haben starke Unterstützer. Auf EU-Ebene unter- stützen 16 EU-Mitgliedstaaten dieses Anliegen, und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ei, ei, ei! auch eine von der EU-Kommission eingesetzte hochran- Etwa in deinem Büro?) gige Expertengruppe versucht, einen Kompromiss jen- Im Übrigen wäre es ja das erste Mal, dass die linke Frak- seits der völligen Liberalisierung zu finden. Ich glaube, tion einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustim- hier sollte die Bundesregierung in Zukunft deshalb noch men würde. Ihr habt ja immer und an allem etwas zu me- mehr Engagement zeigen. ckern. Leider Gottes ist es so. Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt heute ein (Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP] – Gesetzentwurf vor, den wir unterstützen können. Die Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ihr müsst Kollegen haben das ebenfalls gesagt. Er leistet einen nur etwas Gescheites vorlegen!) Beitrag dazu, dass die Qualität des Weinbaus in Deutsch- land erhalten bleibt, regionale Wertschöpfung gestärkt Zur Sache. Es gibt zwei neue elementare Begriffe, mit und Arbeitsplätze gesichert werden. Deshalb stimmt denen es die Länder im Rahmen der Ermächtigung zu meine Fraktion dem Gesetzentwurf zu. tun haben. Das hat es im deutschen Weinrecht bis jetzt nicht gegeben, weder im Weinrecht von 1970 noch in Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam und im Kon- dem von 1971, noch in dem von 1986, noch in dem von sens Initiativen für den deutschen Weinbau entwickeln 1997. Es geht um kleinere geografische Einheiten oder, können. Ich glaube, nicht nur aus dem Parlamentari- wie die deutschen Weinleute sagen, um die Qualitätspy- 23962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Norbert Schindler (A) ramide: je kleiner die geernteten und vermarkteten Men- aller Weine, die in Deutschland abgefüllt werden, kom- (C) gen, je höher die qualitativen und mengenmäßigen An- men nämlich aus dem genossenschaftlichen Bereich. strengungen. In den neun Aufsichtsräten war die genossenschaftli- Sowohl bei den zugelassenen Rebsorten – ihre Zahl che Schiene schwächer vertreten, und wir waren uns ei- soll allerdings sehr eng begrenzt werden – als auch beim gentlich über die Parteien hinweg einig: Diesem berech- zulässigen Gesamternteertrag als auch beim natürlichen tigten Wunsch sollte man entgegenkommen. Mindestalkoholgehalt – bis hin zum Restzuckergehalt – (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ist ja in versetzen wir die Länder in die Lage – Baden-Württem- Ordnung! Dagegen haben wir nichts!) berg, Bayern, Sachsen-Anhalt, natürlich auch Rhein- land-Pfalz –, für Betriebe, die in der Vegetationszeit – Warum kritisieren Sie es denn dann? Dann lassen Sie durch Ausdünnung nur 6 000, 7 000 oder 8 000 Liter pro es doch sein! Hektar produzieren – die Ausdünnung ist in der Wein- (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wir kriti- wirtschaft heutzutage ja schon selbstverständlich – und sieren das doch gar nicht! Sagen Sie einmal et- deren Weine aus kleineren geografischen Einheiten was zum Verbraucherschutz!) stammen, besondere Bedingungen festzulegen. – Stellen Sie eine Frage, dann kommen Sie dran. In Baden-Württemberg denkt man im Hinblick auf die Bereichslagen und in Rheinland-Pfalz im Hinblick (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie haben auf die Einzellagen darüber nach, einen Katasternamen nicht zugehört!) hinzuzufügen. Die kleinste geografische Einheit geht üb- Wir haben in Bezug auf den Begriff „Schaumwein“ rigens auf das Weinrecht von vor 100, 120 Jahren zu- eine Korrektur vorgenommen. Weil die Bezeichnung rück. Damals war es selbstverständlich, eine Weinfla- „Tafelwein“ weggefallen ist, haben wir neu geregelt, sche mit der Katasterlage als engster geografischer dass man an die Bezeichnung „Schaumwein“ den Be- Herkunft des Weins auszuzeichnen; mit den Weingeset- griff „Landwein“ anfügen kann. zen, die in der nachfolgenden Zeit auf den Weg gebracht wurden, wurde dieses Vorgehen etwas egalisiert. Mit der (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Nicht zu- Ermächtigung werden die Länder also in die Lage ver- hören, aber weiterreden!) setzt, gemeinsam mit der Weinwirtschaft für Baden, für – Geben Sie dem einmal einen gescheiten Schluck Wein Württemberg, für die Mosel und für die Pfalz individuell zu trinken, dann ist er vielleicht ein bisschen ruhiger. Er besondere Qualitätskriterien festzulegen. hat immer was zu meckern. – (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie müs- (D) sen nur besser zuhören, Herr Kollege!) Hier sind natürlich auch die Länder in der Verantwor- tung. Ich richte sowohl an Rheinland-Pfalz als auch an Damit ist auch wieder Rechtssicherheit geschaffen, was Baden-Württemberg den Appell, die Kriterien – ob im gerade im Bereich der Schaumweine notwendig war. Hinblick auf die Ursprungsbezeichnungen, die uns die Dies musste neu geordnet werden, damit bei den Quali- Europäische Union vorgegeben hat, oder im Hinblick tätssekten eine nähere geografische Herkunftsbezeich- auf die neuen Lagenbezeichnungen engerer Herkunft – nung gegeben ist. landeseinheitlich zu formulieren, damit es beim Verbrau- Meine letzte Anmerkung zu etwas, das auch Kollege cher nicht erneut zu Verwirrung kommt. Gerig angesprochen hat. Es geht um die Elementarscha- Zu dem Begriff „Steillagen“, den wir bundeseinheit- densversicherung. Für Frost- und Hagelschäden gibt es lich festlegen. Ja, es ist richtig, dass wir bundesweit eine sie. Es gilt hier auch ein besonderer Satz. Wir führen im Hangneigung von 30 Prozent festlegen, damit der Ver- Finanzausschuss derzeit eine Debatte darüber. Helfen braucher weiß: Die Steillage am Würzburger Juliusspital Sie mir, meine Freunde, dass wir die Finanzleute in die- ist genauso differenziert wie der Bernkasteler Doctor. ser Frage noch überzeugen. Das ist kein leichter Weg, Damit hat man im Interesse der Verbraucher eine klare den wir hier gehen, aber es wäre eine gute Sache. Trennung vorgenommen. Warum 30 Prozent? Weil es Entgegen den Rechnungen der Finanzbeamten wären vonseiten der Europäischen Union bei Überschreiten die Einnahmen, die der Staat aus der Versicherungsteuer dieser 30 Prozent eine zusätzliche Fördermöglichkeit erzielen würde, höher, weil mit dem Angebot an alle, gibt. In Zukunft werden hoffentlich alle Steillagen- und eine Elementarversicherung abzuschließen, ein Anreiz Terrassenwinzer eine besondere Zuwendung aus der dafür gegeben wird, und zwar nicht nur für diejenigen, zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der Euro- die sich gegen Hagelschäden versichern wollen, sondern päischen Union bekommen. Deswegen, Herr Kollege: auch für diejenigen, die sich gegen die Folgen von Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander, fordern Hochwasser und Frost versichern wollen, damit sie nicht Sie aber keine Sonderrechte, die man vielleicht gerne als in elementare Not kommen und jedes Mal nach einem i-Tüpfelchen hätte! Das führt bei den Verbrauchern nur Jahrhundertereignis nach der Hilfe der Staates rufen zu Verwirrung. müssen. Das könnte man wirklich sehr elegant lösen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Besetzung des Ich sehe, ich habe meine Redezeit um eine Minute Aufsichtsrates. Ja, diese Debatte wurde vom Genossen- überschritten. Danke, Frau Präsidentin, für die Großzü- schaftsverband zu Recht angestoßen. Über 30 Prozent gigkeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23963

Norbert Schindler (A) Wohl bekomm’s! Es ist ein guter Gesetzentwurf. Wie dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- (C) gesagt: Sie, Herr Süßmair, lade ich einmal zu einer ge- lung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und scheiten Weinprobe ein. der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Und ich nommen. Sie auf ein Bier!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: – Bringen Sie kein Bier mit, das haben wir selbst. – In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen guten Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia Abend. Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Irgendwann müssen wir zwar wieder eine Änderung vornehmen, aber wir haben jetzt eine kundenorientierte Rechtliche und finanzielle Voraussetzungen Zielrichtung gewählt. für die Zahlung einer Ausstellungsvergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Vorhang! schaffen Ab nach links!) – Drucksache 17/8379 – Klarheit und Wahrheit! Die Winzer, die bestrebt sind, Qualität anzubieten, werden mit dieser gesetzlichen Vor- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) gabe belohnt. Rechtsausschuss Danke schön. Finanzausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Vizepräsidentin Petra Pau: Bevor es zum interfraktionellen Zusammentreffen bei Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf einem guten Wein oder auch Bier kommen kann, haben Drucksache 17/8379 an die in der Tagesordnung aufge- wir noch ein wenig Arbeit vor uns. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (B) rung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (D) Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- – Drucksache 17/10956 – lung auf Drucksache 17/11019, den Gesetzentwurf der Überweisungsvorschlag: Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10042 und Ausschuss für Bildung, Forschung und 17/10124 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- Rechtsausschuss fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2) wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion wurfs auf Drucksache 17/10956 an die in der Tagesord- Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Linke angenommen. dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dritte Beratung Dann ist die Überweisung so beschlossen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu entwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses ange- Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker nommen. Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah- braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke ren – Konsequenzen aus den Entscheidungen mit dem Titel „Rettung einheimischer Rebsorten durch des Gerichtshofs der Europäischen Union und Erhaltungsanbau“. des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- rechte ziehen lung auf Drucksache 17/8612, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7845 abzulehnen. Wer 1) Anlage 3 stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt 2) Anlage 2 23964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Vizepräsidentin Petra Pau (A) – Drucksachen 17/8460, 17/9008 – Matthias Lietz (CDU/CSU): (C) Berichterstattung: Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung Abgeordnete Reinhard Grindel soll im Wesentlichen dazu dienen, das Bauprodukten- Rüdiger Veit gesetz und damit einhergehende Rechtsvorschriften an Hartfrid Wolff (Rems-Murr) die Bauproduktenverordnung der Europäischen Union Ulla Jelpke anzupassen. Diese Verordnung wird am 1. Juli 2013 Josef Philip Winkler die bisher geltende Rechtsvorschrift der Bauprodukten- richtlinie 89/106/EWG aus dem Jahre 1988 ablösen. Die Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu neue Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Protokoll zu nehmen.1) – Sie sind damit einverstanden. Rates und des Europäischen Parlaments vom 9. März 2011 gibt harmonisierte Bedingungen für die Vermark- Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss tung von Bauprodukten vor. Inhaltlich handelt die Ver- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- ordnung vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von che 17/9008, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Handelshemmnissen im Binnenmarkt ab. Grünen auf Drucksache 17/8460 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Wie so oft nehmen wir mit dem Gesetzentwurf unsere dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Aufgabe als Mitgliedstaat innerhalb der EU wahr und lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen passen unsere Gegebenheiten an die harmonisierten die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Vorgaben der Europäischen Union an. Zwar müsste bei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: der nun durch die EU gewählten Rechtsform einer Ver- ordnung grundsätzlich keine Umsetzung in nationales Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Recht erfolgen, da sie ohnehin direkt in jedem Mitglied- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den staat gilt. Dennoch müssen wir einige nationale Anpas- Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des sungen der momentan geltenden Regelungen vorneh- Römischen Statuts des Internationalen Straf- men. Damit der bald geltenden Verordnung nichts im gerichtshofs vom 17. Juli 1998 Wege steht, sieht der Gesetzentwurf der Bundesregie- rung vor, alte Vorschriften, die derzeit zur Umsetzung – Drucksache 17/10975 – der Bauproduktenrichtline gelten, aufzuheben. Auch Überweisungsvorschlag: Folgeänderungen im übrigen Bundesrecht müssen zu- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss sätzlich vorgenommen werden. Innenausschuss Rechtsausschuss Grundsätzlich wird in der EU-Bauproduktenverord- (B) Verteidigungsausschuss nung ein neuer Rechtsrahmen für die Vermarktung der (D) CE-Kennzeichnung von Bauprodukten geregelt. Das An- 2) Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. passungsgesetz der Bundesregierung regelt zudem die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- folgenden organisatorischen Punkte: Einsetzung des wurfs auf Drucksache 17/10975 an die in der Tagesord- Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als eine „tech- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind nische Bewertungsstelle“ für Bauprodukte, die Einset- damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. zung des DIBt als Behörde für sogenannte unabhängige Drittstellen, Ausführungsregelungen zur Marktüberwa- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: chung sowie Bußgeld- und Straftatbeständen, Verpflich- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- tung zur Akkreditierung von unabhängigen Drittstellen gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bei der Deutschen Akkreditierungsstelle, DAkkS. zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist notwen- weiterer Rechtsvorschriften an die Verord- dig und richtig. Detailfragen zu fachlichen Themen sind nung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung har- zuvor mit den Bundesländern und Verbänden einver- monisierter Bedingungen für die Vermark- nehmlich abgestimmt worden, und auch der Ausschuss tung von Bauprodukten für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen – Drucksache 17/10310 – Bundestages hat sich in einer Beschlussempfehlung ein- stimmig für die Annahme des Antrags in leicht geänder- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ter Fassung ausgesprochen. Nach Abänderung der an- ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gesprochenen formalen Berichtigungen im Antrag bitte (15. Ausschuss) ich, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustim- – Drucksache 17/10874 – men. Berichterstattung: Michael Groß (SPD): Abgeordnete Daniela Wagner Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Bedin- gungen für die Vermarktung von Bauprodukten in der EU Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir harmonisiert werden, und es wird eine Anpassung an die die Reden zu Protokoll. EU-Verordnung Nr. 305/2011 und damit die Aufhebung der bisherigen Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG vor- 1) Anlage 5 genommen. Vor dem Hintergrund, dass auf die europäi- 2) Anlage 4 sche Bauwirtschaft 15 Prozent der industriellen Wert- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23965

Matthias Lietz (A) schöpfung entfallen, jedoch ihr Anteil am europäischen Produkte den produktspezifisch geltenden europäischen (C) Handel nur 5 Prozent beträgt, hat die Europäische Richtlinien entsprechen und damit Sicherheits- und Union das Recht der Bauprodukte europaweit angegli- Gesundheitsanforderungen erfüllen, die in den 30 Ver- chen. tragstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums gelten. Faktisch hat sich die CE-Bezeichnung im Baugewerbe Der EU-weite Handel soll unter anderem durch fol- als Qualitätssiegel etabliert und ist ein für Produzenten, gende Maßnahmen gestärkt und die Verwendung von Händler und Verbraucher gleichermaßen leicht an- Bauprodukten vereinfacht werden: durch die Einführung wendbares und gut erkennbares Instrument der Sicher- einer gemeinsamen Fachsprache für Bauprodukte auf heit und Verlässlichkeit. Die FDP unterstützt daher alle Grundlage der harmonisierten Normen, dem CE- im Zuge eines weiteren Harmonisierungsprozesses der Kennzeichen kommt eine größere Bedeutung zu, Leis- Länder der Europäischen Union notwendigen und dem tungserklärungen sind den Produkten beizufügen. Die Charakter des bisherigen Konformitätsverfahrens ent- Mitgliedstaaten richten sogenannte technische Bewer- sprechenden Schritte. tungsstellen ein. Auch in der EU-Bauproduktenverord- nung, die auf der früheren Bauproduktenrichtlinie be- Über die Richtigkeit und den Bedarf dieser Harmo- ruht und die jetzt mit diesem Gesetz umgesetzt wird, sind nisierung besteht im Hohen Hause kein Streit. Lassen die wesentlichen Leistungsmerkmale der Bauprodukte Sie mich zur Anpassung des Bauproduktengesetzes nicht festgeschrieben, sondern werden aus den Grund- trotzdem hier sagen: Es bleibt, erstens, wie bisher bei ei- anforderungen an Bauwerke abgeleitet. Für diese Merk- ner Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten für die male werden dann in harmonisierten Normen konkrete sich aus einem Bauwerk ergebenden Anforderungen an Anforderungen formuliert. Diese bilden die Grundlage Bauprodukte. Die EU – wie wir – regelt mit dieser Vor- für die Leistungserklärung des Herstellers und die Ver- lage nur die Verfahren des Nachweises, dass ein Produkt gabe der CE-Kennzeichnung. Mit der Leistungserklä- bestimmte Anforderungen auch erfüllt. Diese Verfahren rung übernimmt der Hersteller die Verantwortung für werden vereinheitlicht mittels harmonisierter techni- sein Bauprodukt und dessen Leistung und kann in Män- scher Normen und durch einzelproduktbezogene techni- gelhaftung genommen werden. Straftat- und Bußgeld- sche Bewertungen, die ein Hersteller bei den von den vorschriften ergeben sich ebenfalls aus dem vorliegen- Mitgliedstaaten einzurichtenden Bewertungsstellen be- den Gesetz. antragen muss. Dann erst ist er befugt und verpflichtet, Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt, wird die die CE-Kennzeichnung anzubringen, und muss genau Aufgabe der technischen Bewertungsstelle wahrneh- angeben, welches Anforderungsniveau das jeweilige men. Nach der EU-Bauproduktenverordnung können die Produkt in Bezug auf bestimmte Merkmale erreicht. Mitgliedstaaten für die jeweiligen Produktbereiche ei- Das war bisher so, und das wird auch so bleiben. Neu (B) nen oder mehrere technische Bewertungsstellen benen- (D) nen. Hier sollte zukünftig geprüft werden, ob aufgrund jedoch ist, dass die Kommission zukünftig europaweit der wirtschaftlichen Bedeutung, aber auch hinsichtlich gültige und europaweit einheitliche Schwellenwerte fest- relevanter Bauprodukte wie Dämmstoffe zum Erreichen setzen kann für einzelne Inhaltsstoffe oder Leistungs- der Klimaziele und der Energiewende zusätzliche Kapa- werte. Das ist ein großer und wichtiger Schritt hin zu zitäten benötigt werden und weitere Bewertungsstellen einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Gesetz- hinzugezogen werden sollten. gebung im Bauproduktenrecht und wird von der FDP ausdrücklich unterstützt. Mit der Ablösung der EU-Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG durch die neue EU-Bauproduktenverord- Im Verfahren selbst sind, zweitens, Verfahrenserleich- nung stand die Anpassung zahlreicher nationaler Vor- terungen vorgesehen. Insbesondere wird die technische schriften an den veränderten Rechtsrahmen bevor. Die Bewertung zukünftig an Fristen gebunden und wird Umsetzung der alten EU-Bauproduktenrichtlinie ist seit damit rascher erfolgen können. Das ist insbesondere für längerem Gegenstand mehrerer durch die Europäische Marktteilnehmer ein nicht zu unterschätzender Wert, Kommission gegen die Bundesrepublik geführter Vertrags- denn in vielen Fällen dauern Prüfvorgänge zu lange und verletzungsverfahren, Nrn. 2004/5116 und 2005/4743. Ge- verhindern den Marktzugang. Es war daher der FDP genstand dieser Verfahren sind insbesondere die in der wichtig, dass Hersteller sich auch weiterhin die Prüf- Bauregelliste B vorgesehenen Zusatzanforderungen an stelle frei wählen können. Produkte, die von harmonisierten europäischen Normen erfasst sind und die CE-Kennzeichnung tragen. Die Drittens. Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt, Kommission rügt, dass die bestehenden Zusatzanforde- soll weiterhin als in Deutschland zuständige Stelle für rungen gegen die europäischen Vorgaben verstoßen. die Erteilung europäischer technischer Zulassungen für Hier sollte im Sinne der europäischen Angleichung um Bauprodukte fungieren. So werden wir sicherstellen, eine gemeinsame Lösung gerungen werden. dass trotz der Zweigleisigkeit im Zulassungswesen eine organisatorische Einheitlichkeit für Hersteller und Eine Harmonisierung, mehr Transparenz und die Ge- Handel gewährleistet bleibt. währleistung einer europarechtskonformen Umsetzung des Bauproduktenrechts sind generell zu begrüßen. Eine vierte und damit letzte Bemerkung: Nicht nur ist im Interesse der Marktüberwachung und im Interesse Petra Müller (Aachen) (FDP): des deutschen Baugewerbes vorgesehen, die deutsche Die CE-Kennzeichnung ist seit ihrer Einführung in- Sprache für die notwendigen Dokumente zu verwenden; nerhalb der Europäischen Union 1993 eine Erfolgs- es soll auch die Bundesregierung, also das fachlich geschichte. Mit ihr dokumentieren Hersteller, dass zuständige BMVBS, dieselben Informationen erhalten,

Zu Protokoll gegebene Reden 23966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Petra Müller (Aachen) (A) die die Europäische Kommission im Rahmen der Markt- insbesondere Auswirkungen auf die Art und Weise, wie (C) überwachung erhalten muss. So bleibt Deutschland ökologisch vertretbare Baunormen gefördert werden informativ uneingeschränkt handlungsfähig. können. Die Verordnung legt wesentliche Merkmale für verschiedene „Familien“ von Bauprodukten fest. Einige Die ursprüngliche Motivation, mit der CE-Kenn- dieser Kategorien von Produkten unterliegen harmoni- zeichnung als Produktreisepass Handelshemmnisse für sierten Normen, andere wiederum unterliegen den Euro- den europäischen Binnenmarkt zu beseitigen, ist ein pean Technical Assessments. Es ist daher unerlässlich, urliberaler Gedanke. Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Bewertungsverfahren zu definieren. daher für diesen Gesetzentwurf stimmen. Die Fraktion der Grünen im Europaparlament hatte Heidrun Bluhm (DIE LINKE): bereits festgestellt, dass im Ergebnis die Verhandlungen Zu dem hier vorliegenden Antrag der Bundesregie- zur Verordnung zur Festlegung harmonisierter Bedin- rung kann ich die Zustimmung der Fraktion Die Linke gungen für die Vermarktung von Bauprodukten mit dem signalisieren. Wir verbinden damit allerdings die Er- Rat nicht ideal verlaufen sind. Es gab erheblichen Druck wartung, dass die mit dem Gesetz verfolgten Absichten von einigen Sektoren der Industrie, die von einigen Mit- und Ziele in einer angemessenen Frist überprüft werden gliedstaaten unterstützt wurden, um klare Verpflichtun- und die Bundesregierung dem Bundestag spätestens ein gen zu vermeiden. Aber der letztlich vereinbarte Text Jahr nach Inkrafttreten darüber berichtet. enthält Elemente, die aus unserer Sicht wichtig sind. Uns ist wichtig, dass mit dem Gesetz nicht nur rechts- Den Grünen ist es wichtig, dass die Verfahren trans- formale Vereinheitlichungen ohne jeden praktischen parent sein sollten. Insbesondere die Normungsgremien Nutzen stattfinden, sondern dass die Anwendung des Ge- sollten nicht von den Vertretern der Großindustrie mo- setzes auch einen konkreten Beitrag zur ökologischen nopolisiert werden. und ökonomischen Effektivitätssteigerung der Bauwirt- In dem vorliegenden Gesetz wird die renommierte Zu- schaft leistet. Die Bauwirtschaft ist einer der Hauptak- lassungsstelle im Bauwesen, das Deutsche Institut für teure bei der Durchsetzung von Klimaschutzzielen und Bautechnik, als unabhängiges Normungsgremium be- der Energiewende. Deshalb muss sichergestellt sein, nannt, das 1993 aus dem Institut für Bautechnik hervor- dass erstens die Einführung des Gesetzes auch zur aus- gegangen ist. schließlichen Verwendung von CE-zertifizierten Bau- produkten beiträgt und ein Ausweichen auf billigere, Unser Anliegen ist es, dass auch Positionen kleiner aber nicht gekennzeichnete Bauprodukte ausgeschlos- und mittlerer Unternehmen oder anderer Beteiligter be- sen wird, zweitens die Verwendung ausschließlich zer- rücksichtigt oder übernommen werden sollten. (B) tifizierter Bauprodukte europaweit zur Einhaltung ein- Der Aufbau der Vorschriften und auch das Verfahren (D) heitlicher Schwellenwerte bezogen auf Inhaltsstoffe und sollten in der Lage sein, innovative und ökologische An- Leistungswerte der Bauprodukte führt und drittens die sätze zu fördern. Verwendung zertifizierter Bauprodukte nicht zur Be- gründung höherer Baupreise missbraucht werden darf. Weiter ist zu vermeiden, dass spezielle Verfahren für „Kleinstunternehmen“ von der Industrie als ein Mittel Wir fordern die Bundesregierung daher dazu auf, vor genutzt werden könnten, um die Anforderungen und Ver- Inkrafttreten der vorgelegten Regelungen am 1. Juli 2013 fahren generell zu umgehen. in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen Stel- lungnahmen sowohl vom Deutschen Institut für Bau- Lassen sie mich die Gelegenheit nutzen, etwas zu technik als auch von den Baufachverbänden einzuholen Bauprodukten im Allgemeinen zu sagen. Deutschland und diese dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zu ge- hat sich international verpflichtet, seinen Beitrag zu ben. leisten, um den Anstieg der globalen Temperatur um mehr als 2 Grad Celsius zu verhindern. Dies bedeutet, Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass der Ausstoß von Klimagasen hierzulande um min- Das vorliegende Gesetz dient der Anpassung des destens 40 Prozent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050 Bundesrechts an die neue Verordnung (EU) Nr. 305/2011 gesenkt werden muss. Der Gebäudebereich spielt also des Europäischen Parlaments und des Rates vom für das Erreichen der Klima- und Energieeinsparziele 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun- eine zentrale Rolle; denn in den Bestandsgebäuden wer- gen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Auf- den 40 Prozent der Endenergie für Wärme und Kühlung verbraucht und fast 20 Prozent der gesamten CO -Emis- hebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates – EU- 2 Bauproduktenverordnung. sionen in Deutschland verursacht. Die EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen Mit den Klimazielen gehen Fragen der Versorgungs- Rechtsrahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeich- sicherheit einher. Das Gros der fossilen Energieroh- nung von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die stoffe wird aus außereuropäischen Ländern importiert, bisher geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab. und es wird immer teurer. Deutschland lag in 2008 mit einem Erdölverbrauch von 118,1 Millionen Tonnen an Der Gesetzentwurf ist sehr technisch, aber von hoher sechsten Stelle der zehn Länder mit dem weltweit größ- politischen Relevanz für Bündnis 90/Die Grünen. Es ten Erdölverbrauch. Die deutsche Wirtschaft zahlte im werden Anforderungen an die Vermarktung von Baupro- Jahr 2010 allein für ihre Ölimporte 41,6 Milliarden dukten harmonisiert, und diese Anforderungen haben Euro.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23967

Daniela Wagner (A) Um die Klimaschutzziele zu erreichen, den Energie- Baustoffe gäbe es bei Betrachtung dieser Zahlen somit (C) verbrauch sowie die CO2-Emissionen zu senken und die ein erhebliches Potenzial. Abhängigkeit von Erdölimporten zu reduzieren, ist also die Steigerung der Ressourcen-, Energieeffizienz und Die Bundesregierung sollte daher erwägen, die Sub- Nachhaltigkeit im Gebäudebestand ein wichtiger Bau- ventionierung petrochemischer Kunststoffe und CO2-in- stein. tensiver Baustoffe abzubauen und die Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl abschaffen. Die In Bezug auf die Modernisierung der Wärmeversor- Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl gung von Gebäuden sind immerhin erste Schritte einge- stellt eine Marktverzerrung zugunsten umwelt- und kli- leitet. Alternative Baustoffe haben aber trotz des großen maschädlicher sowie energieaufwendiger Produkte dar. Substitutionspotenzials nur wenig Eingang in die Ak- Die steuerliche Gleichstellung würde einen deutlichen tionsprogramme zur Gebäudesanierung gefunden, und ökonomischen Anreiz zur Nutzung nachwachsender selbst im Neubau sind sie nur die Ausnahme. Rohstoffe setzen. Ein Großteil der in Deutschland benötigten energeti- Die Energie- und Stromsteuersubventionen sollten für schen und nichtmetallischen mineralischen Rohstoffe die energieintensive Herstellung von Baustoffen wie Ze- wird im Land gewonnen. Mengenmäßig sind Bausande ment und Keramik nur gewährt werden, wenn die Pro- und -kiese mit etwa 239 Millionen Tonnen die wichtigs- duktion sonst nachweislich von der Verlegung ins weni- ten mineralischen Rohstoffe, auf die knapp ein Drittel ger stark regulierte Ausland bedroht wäre und keine der heimischen Rohstoffproduktion entfällt. Ökologische gleichwertigen Alternativbaustoffe mit besserer Um- Herausforderungen ergeben sich aufgrund der negati- weltbilanz bereitstehen. ven Umweltwirkungen, durch Abbau und Verbrauch, und ihrer Endlichkeit. Die Entnahme von Rohstoffen be- Auch ist es überlegenswert, das Bergrecht grundle- einflusst die Umwelt negativ: unter anderem durch Ver- gend zu reformieren. In Deutschland kann nach dem gel- änderungen der Landschaft, Abholzung der Vegetation tenden Bergrecht eine Förderabgabe von 10 Prozent für Tagebaue, Absenken der Grundwasserspiegel, die oder mehr des Rohstoffwertes auf sogenannte bergfreie Belastung des Grundwassers mit Metallen oder durch Bodenschätze von den Ländern erhoben werden. Aller- Versauerung sowie durch das Risiko von Bergschäden. dings ist die derzeitige Aufteilung in bergfreie und grundeigene Bodenschätze und damit die Aufteilung, für Die von Rot-Grün eingeführten Marktanreizpro- welche Bodenschätze Förderabgaben grundsätzlich zu gramme für ökologische Baustoffe wurden von den zahlen sind oder nicht, willkürlich. Darüber hinaus gibt nachfolgenden Bundesregierungen leider nicht weiter- es zahlreiche Ausnahmeregelungen, sodass in der Regel geführt. Die Absatzzahlen von Dämmstoffen auf Basis überhaupt keine Förderabgabe gezahlt wird. (B) von nachwachsenden Rohstoffen konnten durch die (D) Marktanreizprogramme kurzfristig gesteigert werden. Diese Regelung ist – wie auch weite Teile des übrigen Die Laufzeit der Programme war zu kurz, um wesentli- deutschen Bergrechts – nicht mehr zeitgemäß. Bis heute che dauerhafte Preissenkungen der Produkte zu errei- stehen hier völlig einseitig die Interessen der Bergbau- chen. Diese konnten gegenüber den Produkten aus der treibenden im Vordergrund, nicht die Schonung von Res- steuerbefreiten stofflichen Nutzung von Erdöl keine ge- sourcen. Wir wollen das Bergrecht umfassend reformie- steigerte Konkurrenzfähigkeit entwickeln, obwohl die im ren. Neubau und der energetischen Gebäudesanierung übli- Die Zahlung einer Förderangabe muss der Regel- cherweise verwendeten Baustoffe hinsichtlich Energie- und darf nicht der Ausnahmefall in Deutschland sein. verbrauch, CO2-Emissionen, Haltbarkeit, Schadstoff- Wir wollen daher eine Förderabgabe in Höhe von min- freiheit und Recyclingfähigkeit vielfach mangelhaft sind. destens 10 Prozent konsequent auch auf nicht erneuer- Obwohl die konventionellen organisch-synthetischen bare Baustoffe wie Kies und Sand erheben. Dies ist ge- Dämmstoffe über die Steuerbefreiung für die stoffliche rechtfertigt, da beim Rohstoffabbau in der Regel in Nutzung von Erdöl bereits einen Marktvorteil haben, erheblichem Umfang Gemeingüter in Anspruch genom- sind ökologisch nachhaltige Baustoffe in der Fördersys- men werden. Jedenfalls sind die bestehenden Förderab- tematik der KfW mit Dämmstoffen auf petrochemischer gaben nicht ausreichend, und die vielen Ausnahmen ma- Basis gleichgestellt. chen diese ineffizient. Die konsequente Erhebung einer Förderabgabe schafft Anreize für Ressourceneffizienz, Unter anderem wegen dieses Marktvorteils und den gerade bei dem bisher nicht erfassten Abbau von Mas- daraus resultierenden niedrigen Preisen der petroche- senrohstoffen der Bauindustrie wie Kies, Sand und Ge- mischen Materialien werden Dämmstoffe aus ökolo- steinen. Die Verpflichtung zur Zahlung wollen wir auf gisch nachhaltigen Materialien weniger verbaut. alle hierzulande geförderten Bodenschätze ausdehnen. Sie sollte nur in begründeten Ausnahmefällen und zeit- Schaut man auf die Zahlen der CO2-Gebäudesanie- lich eng befristet erlassen werden und weiterhin den rungsprogramme der KfW, so sieht man: Es wurden seit Ländern zugutekommen. 2006 der Neubau und die energetische Sanierung von 2,4 Millionen Wohnungen finanziert. Über diese Förder- Wir wollen Unternehmen, die nachweislich besonders mittel wurden Investitionen mit einem Volumen von energieintensiv sind und in intensivem internationalen 74 Milliarden Euro angestoßen, circa 4,6 Millionen Ton- Wettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen bei den nen CO2 eingespart und 320 000 Arbeitsplätze geschaf- Energiesteuern oder bei den Umlagen für erneuerbare fen oder gesichert. Für die Verwendung ökologischer Energien gewähren, um eine CO2-bedingte Verlagerung

Zu Protokoll gegebene Reden 23968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Daniela Wagner (A) von Unternehmen zu vermeiden. Allerdings müssen diese ordnung im Bauproduktengesetz zu treffen, die Vor- (C) Subventionen zukünftig an den im Einzelfall nachgewie- schriften aufzuheben, die zurzeit der Umsetzung der senen Härten bemessen und an konkrete Effizienzver- Bauproduktenrichtlinie dienen, sowie Folgeänderungen pflichtungen geknüpft werden, damit nicht Verschwen- im übrigen Bundesrecht vorzunehmen. dung und technologischer Stillstand subventioniert werden. Das Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung (EU) Der Einsatz ökologischer Baustoffe sollte im Neubau Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun- und bei energetische Sanierung stärker gefördert und gen für die Vermarktung von Bauprodukten, BauPG-An- daher ein Modellprogramm für ökologische Baustoffe passungsgesetz, regelt Folgendes: die Einsetzung des initiiert werden. Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als technische Hinsichtlich der Standards für Baustoffe sollten diese Bewertungsstelle für Bauprodukte, analog den Zulas- um den Energieverbrauchs ergänzt werden und den ge- sungen nach Landesrecht; die Einsetzung des DIBt als samten Lebenszyklus der Baustoffe, inklusive des Ener- notifizierende Behörde für „unabhängige Drittstellen“ gieverbrauchs bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung – diese erteilt etwa Prüflaboratorien die Befugnis, im berücksichtigen. Rahmen der EU-Bauproduktenverordnung tätig zu wer- den –; die Verpflichtung zur Akkreditierung für unab- Die Energieausweise für Gebäude müssen dringend hängige Drittstellen bei der Deutschen Akkreditierungs- um eine Nachhaltigkeitsbewertung mit Lebenszyklusbe- stelle, DAkkS – diese bescheinigt die technische trachtung der Gebäude erweitert werden. Kompetenz der Drittstellen –; ergänzende Ausführungs- regelungen zur Marktüberwachung sowie Bußgeld-/ Auch dürfen ökologische Baustoffe nicht länger in Straftatbestände. den Bauordnungen des Bundes und der Länder diskrimi- niert werden, wie etwa in den Brandschutzkategorien. Der Gesetzentwurf ist zur Durchführung von EU- Sehr sinnvoll wäre es, die Programme der KfW für Recht notwendig und ausreichend. Die Art. 1 und 2 des Neubau und Sanierung stärker auf den Einsatz ökologi- Gesetzes enthalten die notwendigen Durchführungsre- scher Baumaterialien auszurichten; denn viele der im gelungen zur EU-Bauproduktenverordnung. Sie umfas- Neubau und der energetischen Gebäudesanierung her- sen im Wesentlichen Zuständigkeitsbestimmungen, er- kömmlich verwendeten Baustoffe erfüllen nur mangel- gänzende Verfahrensbestimmungen sowie Bußgeld- und haft Anforderungen an das Nachhaltigkeitsprinzip hin- Straftatbestände. sichtlich ihrer Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und Die weiteren Artikel enthalten Folgeänderungen des Recyclingfähigkeit. (B) Erlasses der EU-Bauproduktenverordnung im übrigen (D) Die Grundlagenforschung in diesem Bereich der öko- Bundesrecht. Der gespaltenen Inkrafttretensregelung logischen Baustoffe und Bauweisen, beispielweise ein des Art. 68 der EU-Bauproduktenverordnung folgend Forschungsprogramm „Bauen mit Holz“, muss daher tritt Art. 1 sofort in Kraft; die übrigen Artikel treten zum dringend intensiviert werden. 1. Juli 2013 in Kraft. Zum Instrumentarium einer nachhaltigen Ressour- Für Bund, Länder und Gemeinden ergeben sich keine cenpolitik gehören auch Ressourcensteuerabgaben. Ne- Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand. Das Gesetz gative gesellschaftliche Umweltauswirkungen, die durch verursacht keinen Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen den Abbau von Rohstoffen entstehen, können durch Steu- und Bürger. Das Gesetz verursacht keinen Erfüllungs- ern und Abgaben internalisiert werden. Nötig ist des- aufwand für die Wirtschaft. Das Gesetz verursacht kei- halb ein Forschungsprogramm, das konkrete Möglich- nen Erfüllungsaufwand für die Verwaltung. keiten in den Einstieg der Rohstoffbesteuerung aufzeigt. Die Diskriminierung ökologischer Baustoffe in Deutsch- Weitere Kosten entstehen nicht. Es sind keine Auswir- land muss endlich ein Ende haben. kungen auf die Einzelpreise für Bauprodukte und andere Waren und Dienstleistungen zu erwarten. Auswirkungen auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucher- Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- preisniveau, sind auszuschließen. minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das Gesetz dient der Anpassung des Bundesrechts Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung an die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäi- zuzustimmen. schen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Ver- marktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Vizepräsidentin Petra Pau: Richtlinie 89/106/EWG des Rates, ABl. L 88 vom Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für 4. April 2011, S. 5 EU-Bauproduktenverordnung. Die Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen Rechts- Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10874, den rahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeichnung Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die bis- 17/10310 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich her geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab. bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- Zur Anpassung des Bundesrechts ist es erforderlich, Re- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer gelungen zur Durchführung der EU-Bauproduktenver- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23969

Vizepräsidentin Petra Pau (A) wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom- desregierung dem Innenausschuss ihren Bericht zugelei- (C) men. tet. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass nach Art. 83 Grundgesetz die Ausführung des Waffengesetzes Dritte Beratung Angelegenheit der Länder ist. Der Bund war insofern und Schlussabstimmung. darauf angewiesen, Erfahrungswerte von den 577 Waf- fenbehörden der Länder aufzugreifen und zu einem Be- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- richt zusammenzufügen. men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig Vor dem Hintergrund, dass unsere derzeitige Struktur angenommen. sehr heterogen ist und auch die Zuständigkeitsbereiche der Mitarbeiter unterschiedlich gestaltet sind, stützt sich Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die Ergebnisse Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele der Expertengruppe Waffenrecht der Länder. Die Län- Fograscher, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann derexpertengruppe hat einen Fragenkatalog erarbeitet, (Wackernheim), weiterer Abgeordneter und der der von 15 Prozent der Waffenbehörden anonymisiert zu Fraktion der SPD beantworten war. Unter Einbeziehung der Erfahrungen von Flächenländern ebenso wie Stadtstaaten sollte so Evaluierung der Auswirkungen des neuen ein repräsentatives Bild gezeichnet werden. Insgesamt Waffenrechts wurden also 86 Behörden über ihre Erfahrungen mit den – Drucksache 17/10114 – waffenrechtlichen Änderungen von 2009 im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 befragt. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Aufgrund des Fragenkatalogs der Expertengruppe Waf- Rechtsausschuss fenrecht kommt die Bundesregierung zu der Bewertung, dass die Waffenrechtänderungen von 2009 zur Verbesse- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die rung der Sicherheit beitragen und sie damit das Ziel, Ju- Reden zu Protokoll genommen. gendlichen und unberechtigten Personen den Zugang zu Waffen und Munition zu erschweren, erreicht hat. Das Günter Lach (CDU/CSU): Datenmaterial, auf dem die Auswertung der waffen- Der schreckliche Amoklauf vom 11. März 2009 in rechtlichen Änderungen im Einzelnen basiert, kann mei- Winnenden war Anlass dafür, eine Änderung des Waffen- ner Ansicht nach nur Hinweise zur Wirksamkeit geben. rechts vorzunehmen. Insbesondere die mangelhafte Si- Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass cherung bei der Aufbewahrung von Waffen und Muni- die Waffenbehörden der Länder nicht verpflichtet sind, (B) tion hat dem Täter erst Zugang zu Waffen und Munition Statistiken zu führen und somit keine einheitlich struktu- (D) ermöglicht. In seinen Beratungen hat sich der Deutsche rierten Daten zur Auswertung vorliegen. Abgesehen da- Bundestag besonders mit dieser Problematik auseinan- von ist vonseiten der Bundesregierung aber auch keine dergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Waffengesetz- weitere umfassende Abfrage hinsichtlich der Wirksam- gebung an mehreren Stellen verändert werden muss, um keit der jüngsten Änderungen des Waffengesetzes er- mehr Sicherheit zu erreichen. Ein Hauptaugenmerk lag folgt. Dies wäre wünschenswert gewesen. unter anderem darauf, dass gerade Jugendlichen der Im Hinblick auf einheitliche Struktur und Datenlage Zugang zu Waffen und Munition erschwert wird. wird die Einführung des Nationalen Waffenregisters, das Um die Wirksamkeit der Gesetzesänderungen zu wir in diesem Jahr auf den Weg gebracht haben, eine überprüfen, hat der Deutsche Bundestag in seiner deutliche Verbesserung bringen. Die bisher in unter- 227. Sitzung am 18. Juni 2009 zudem eine Entschlie- schiedlicher Form gesammelten Informationen über ßung angenommen, die die Bundesregierung auffordert, Waffenbesitz der lokalen Waffenbehörden werden nun die getroffenen Regelungen zu evaluieren. Diese Forde- aktualisiert und in ein computergestütztes System über- rung findet sich auch im Koalitionsvertrag der christ- führt. Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland lich-liberalen Koalition. Dabei sollte ein besonderes erstmals einheitliche Standards festgelegt, welche Infor- Augenmerk darauf gelegt werden, ob die Änderungen mationen im Zusammenhang mit Waffenbesitz im Einzel- für legale Waffenbesitzer eine zu hohe Belastung dar- nen festgehalten werden müssen. Eine aktuelle und stellen. Um dies zu bewerten, ist eine aussagekräftige belastbare Datengrundlage ist nicht nur ein Sicherheits- Evaluierung wichtig. gewinn für Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Sie dient auch einer sachlichen Debatte um das Thema Waf- Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundes- fenrecht. regierung nun auf, diesen Evaluierungsbericht, der bis zum Ende 2011 vorliegen sollte, endlich vorzulegen. Des Ein wesentlicher Teil der Gesetzesänderungen von Weiteren bittet die SPD die Ständige Konferenz der In- 2009 bezieht sich auf die Kontrolle der sicheren Aufbe- nenminister und Senatoren der Länder, IMK, endlich um wahrung von Waffen und Munition sowie die Überprü- Freigabe des Berichts der Expertengruppe Evaluierung fung der waffenrechtlichen Bedürfnisse. Die Umsetzung Waffenrecht. Bedauerlicherweise liegt uns dieser Be- der verdachtsunabhängigen Kontrollen nach § 36 Abs. 5 richt der Länder nicht vor. Die Länder haben mehrfach WaffG hat im Vorfeld große Diskussionen unter den Waf- einer Freigabe des Berichts widersprochen, zuletzt im fenbesitzern hervorgerufen. Die Ordnungsämter haben Rahmen einer Abfrage durch die Geschäftsstelle der nun die Möglichkeit, in Vor-Ort-Kontrollen die Einhal- IMK im September 2012. Zwischenzeitlich hat die Bun- tung der Aufbewahrungsvorschriften bei Besitzern von 23970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Günter Lach (A) Schusswaffen stichprobenartig ohne vorherige Ankündi- Zu den waffenrechtlichen Änderungen von 2009 ge- (C) gung zu überprüfen. Im Berichtszeitraum haben die Waf- hört auch, dass der Waffenerwerb durch Sportschützen fenbehörden der Länder in 8 554 Fällen die Möglichkeit über das sogenannte Grundkontingent hinaus stärker der verdachtsunabhängigen Kontrolle genutzt. von waffenrechtlichen und sportlichen Bedürfnissen ab- hängig ist. Der Bericht sieht hierin eine Unterstützung Erfreulicherweise ist festzuhalten, dass die Beanstan- der Arbeit von Waffenbehörden und ehrenamtlich Ver- dungsquote bei Jägern und Schützen nur bei 14 Prozent antwortlichen in den Schießsportverbänden, da so nur lag. Dies zeigt deutlich, dass Vereine und Verbände eine nachgewiesen aktive Sportschützen in der Ausübung ih- gute Aufklärungsarbeit leisten. Die Beanstandungsquote res Sports gefördert werden. bei Altbesitzern lag allerdings bei fast 100 Prozent. Ein Großteil der Beanstandungen konnte kurzfristig behoben Die Anhebung der Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre werden, und nur 12 Prozent der Beanstandungen führten – § 27 Abs. 3 WaffG – für das Schießen mit sogenannten zu 236 Widerrufsverfahren. großkalibrigen Waffen im Schießsportverein war eine richtige Entscheidung. Nur zur Nachwuchsgewinnung Mit § 36 Abs. 3 Satz 1 WaffG hat der Waffenbesitzer und Förderung des Leistungssports sind Ausnahmen zu- nun eine „Bringschuld“ und muss gegenüber der Waf- gelassen. fenbehörde die sichere Aufbewahrung nachweisen. Aus Sehr positiv wird die Verpflichtung der Meldebehör- dem Bericht geht hervor, dass dieser Nachweis von Jä- den in § 44 Abs. 2 WaffG aufgenommen, auch den Zuzug gern und Sportschützen durchweg erbracht wurde. Da- von Waffenbesitzern an die Waffenbehörden zu melden. gegen konnten Erben und Altbesitzer eine sichere Aufbe- Diese Regelung verbessert die Informationslage der wahrung häufig nicht nachweisen und entschieden sich Waffenbehörden wesentlich und gewährleistet eine dafür, entsprechende Waffen an die Behörden abzuge- schnellere Bearbeitung und Aktualisierung der Waffen- ben. akten. Nach der Regelung des § 52 a WaffG ist ein Verstoß Aus dem Bericht der Bundesregierung geht außerdem gegen die Aufbewahrungsvorschriften nun nicht mehr hervor, dass auch die Möglichkeit der Vernichtung ein- wie bisher nur bußgeldbewehrt. Ein vorsätzlicher Ver- gezogener Waffen mit Änderung des § 46 Abs. 5 Satz 1 stoß steht unter Strafe, wenn konkrete Gefahr des Ab- WaffG positiv bewertet wird. Nach den vorliegenden An- handenkommens bzw. der Zugriff Dritter entsteht. gaben machten 92 Prozent der Waffenbehörden von der Hierzu ist der Bericht meiner Ansicht nach nicht aussa- Möglichkeit Gebrauch, sichergestellte und eingezogene gekräftig genug, da kaum Erfahrungen mit dem Vollzug Waffen zu vernichten. Damit können diese Waffen end- gemacht wurden. gültig vom Markt genommen werden. (B) (D) Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, dass die Nicht zuletzt durch den Erfolg der befristeten Amnes- Beibehaltung eines Strafmaßes bei besonders schwer- tieregelung kommt die Bundesregierung zu dem Schluss, wiegenden Verstößen gegen die waffenrechtlichen Auf- dass die in 2009 getroffenen Änderungen des Waffenge- bewahrungsvorschriften sinnvoll ist. Eine genaue Über- setzes die Erwartungen erfüllt haben. Insgesamt wurden prüfung der Vorschrift ist aber erst möglich, wenn bis zum 31. Dezember 2009 circa 200 000 Waffen abge- konkretere Erfahrungswerte vorliegen. geben. Insgesamt sehe ich klare Hinweise darauf, dass mit Als Gesetzgeber ist es das Bestreben des Deutschen Nachweispflicht und verdachtsunabhängigen Kontrollen Bundestages in seiner Gesetzgebung zum Waffenrecht das Ziel erreicht wurde, die Sicherheit bei Aufbewah- einen Ausgleich zwischen dem berechtigten Sicherheits- rung von Waffen und Munition wesentlich zu verbessern. bedürfnis der Bevölkerung einerseits und den Interessen Die Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse haben jeder- von rechtmäßigen Waffenbesitzern wie Sportschützen, zeit für eine sichere Aufbewahrung von Waffen und Mu- Jägern und Sammlern andererseits zu schaffen. Insbe- nition Sorge zu tragen. sondere vor dem Hintergrund der letzten waffenrechtli- chen Änderungen von 2009 ist es daher von großem In- In Bezug auf die 2009 in § 4 Abs. 4 Satz 3 WaffG ge- teresse für den Deutschen Bundestag, die Auswirkungen troffene Möglichkeit, auch nach der bisher vorgeschrie- der Änderungen überprüfen zu können. Nur aufgrund ei- benen einmaligen Regelüberprüfung das waffenrechtli- ner fundierten Information und Datenlage können Aus- che Bedürfnis fortlaufend überprüfen zu können, kommt sagen über die Wirksamkeit der Regelungen getroffen der Bericht zu einem positiven Ergebnis. Von den be- werden. fragten Waffenbehörden wurde diese Möglichkeit der er- Die Ergebnisse des vorgelegten Berichts der Bundes- neuten Überprüfung befürwortet und auch durchge- regierung sind leider nicht so aussagekräftig, wie ich es führt. In den meisten Fällen geschah dies anlassbezogen mir als Innenpolitiker wünschen würde. Hier möchte ich zum Beispiel aufgrund von Information von Schießsport- die Anregung an das Bundesministerium des Innern wei- vereinen oder bei Zuzug. Außerdem erfolgte die Bedürf- tergeben, eine weitere Ergänzung des Berichts vorzu- nisprüfung häufig im Zuge von Kontrollen der sicheren nehmen. Aufbewahrung von Waffen und Munition. Bei knapp 4 Prozent der Fälle wurde ein Widerrufsverfahren ge- Es bleibt außerdem festzuhalten, dass bestehende mäß § 45 Abs. 2 WaffG eingeleitet, und in Einzelfällen Fragen und Unklarheiten zur Umsetzung einiger Rege- haben Waffenbesitzer ihre Waffen freiwillig an Behörden lungen erst mit der am 23. März 2012 in Kraft getrete- abgegeben. nen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffenge-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23971

Günter Lach (A) setz, WaffVwV, ausgeräumt wurden. Inwieweit das einen Ländern zu weitergehenden Ergebnissen bzw. Erkennt- (C) Einfluss auf die Praxis der Waffenbehörden vor Ort nissen geführt hätte, wurde nicht zuletzt auch im Hin- hatte, geht aus diesem Bericht leider nicht hervor. blick auf die begrenzten personellen Ressourcen sowohl beim Bund als auch bei den Ländern darauf verzichtet Deutlich geworden ist, dass Sportschützen, Jäger und und der von der IMK beschlossene Evaluierungsbericht Sammler überwiegend gut über die neuen Anforderun- zur Erledigung des Auftrages des Deutschen Bundesta- gen an die Sicherheit bei der Aufbewahrung von Waffen ges zugrunde gelegt.“ und Munition informiert sind und sie weitestgehend erfüllt haben. Dies bestätigt auch meine persönliche Das ist eine Frechheit und eine Missachtung des Par- Erfahrung in Gesprächen mit Waffenbesitzern. laments. Dieser angebliche Evaluierungsbericht ist also eine Zusammenfassung des Berichts der IMK, der dem Gabriele Fograscher (SPD): Deutschen Bundestag nicht zugänglich gemacht wird. Am 18. Juni 2009 hat der Deutsche Bundestag um- Hinzu kommt, dass der IMK-Bericht auch die Ände- fangreiche Änderungen im Waffenrecht beschlossen. Ne- rungen des Waffenrechts von 2008 untersuchen sollte. ben anderen Neuregelungen wurde die Nachweispflicht Die Erkenntnisse wurden für den Zeitraum 1. Januar der sicheren Aufbewahrung für Waffenbesitzer ein- 2010 bis 31. Dezember 2010 erhoben, also für einen geführt und für die Waffenbehörden die Möglichkeit ge- Zeitraum, in dem das im Juli 2009 geänderte Waffen- schaffen, die sichere und ordnungsgemäße Aufbewah- recht gerade erst in Kraft getreten war. Auch die All- rung der Waffen verdachtsunabhängig zu kontrollieren. gemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz war in Viele Waffenbesitzer haben diese Änderungen kritisiert, dem Zeitraum noch nicht in Kraft. weil sie angeblich die legalen Waffenbesitzer unter ei- nen Generalverdacht stelle. Erstaunlich ist auch, dass das Bundesinnenministe- rium fast ein Jahr gebraucht hat, um den IMK-Bericht Deshalb hat der Deutsche Bundestag bei der Verab- zusammenzufassen und dem Bundestag vorzulegen. schiedung des Gesetzes eine Entschließung gefasst, ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundes- Es gab keine eigenständige Abfrage der Wirkungen regierung auf, die Wirksamkeit der getroffenen Regelun- der Neuregelungen bei den Waffenbehörden durch das gen zur sicheren Aufbewahrung und zum Schutz vor un- Bundesinnenministerium. Es gab keine Gespräche mit berechtigtem Zugriff bis Ende 2011 zu evaluieren.“ Waffenbesitzern und deren Verbänden durch das Bun- desinnenministerium. Es gab auch keine Erhebung des Doch bis Ende 2011 lag nichts, aber auch gar nichts Bundesinnenministerium, wie die verdachtsunabhängi- aus dem Bundesinnenministerium vor, was den Auftrag gen Kontrollen in den einzelnen Ländern durchgeführt (B) des Bundestages hätte erfüllen können. werden, welche Gebühren für diese Kontrollen den (D) Am 11. Oktober 2012, also mehr als 9 Monate nach Waffenbesitzern angelastet werden. Nach meinen Infor- Ablauf des Frist, erhalten wir ein Schreiben aus dem mationen sind die Gebühren für die Kontrollen teilweise Bundesinnenministerium, das der geforderte Evaluie- erheblich, unterscheiden sich aber massiv von Bundes- rungsbericht sein soll. Doch dieser angebliche Evaluie- land zu Bundesland, ja sogar von Landkreis zu Land- rungsbericht ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. kreis. Schon alleine in der Vorbemerkung zeigt das Bundes- Dabei steht in der Begründung zu den neuen waffen- innenministerium, was es von Aufträgen des Deutschen rechtlichen Regelungen: „Die verdachtsunabhängigen Bundestages hält: „Der zwischen CDU, CSU und FDP Kontrollen liegen im öffentlichen Interesse und des- für die 17. Legislaturperiode vereinbarte Koalitionsver- wegen werden keine Gebühren erhoben.“ Wenn das trag greift diesen Auftrag auf und regelt, dass insbeson- Bundesinnenministerium eigene Erhebungen durch- dere darauf geachtet werden soll, ob es im praktischen geführt und den Auftrag des Bundestages ernst genom- Vollzug der 2009 getroffenen Regelungen unzumutbare men hätte, dann hätte so etwas auch in dem Evaluie- Belastungen für die Waffenbesitzer gegeben hat.“ rungsbericht stehen müssen. Es ist doch völlig unerheblich, was in dem Koalitions- Wenn Sie uns schon eine Zusammenfassung des IMK- vertrag von CDU, CSU und FDP steht. Wichtig ist, was Berichts als Ihren eigenen Evaluierungsbericht vorle- der Deutsche Bundestag von der Bundesregierung gen, müssen Sie uns eine Reihe von Fragen beantwor- fordert. Das Parlament wollte eine Evaluierung der Auf- ten: Wie ist der Bericht zustande gekommen? Welche bewahrungsvorschriften und der Regelungen zum Methodik liegt ihm zugrunde? Führen die Länder Statis- Schutz vor unberechtigtem Zugriff. Ob es unzumutbare tiken über die Kontrollen? Wird unterschieden zwischen Belastungen für die Waffenbesitzer gibt, war und ist angemeldeten und unangemeldeten Kontrollen? Wie nicht Auftrag des Bundestages gewesen. Wenn Sie als kann man einen Bericht zusammenfassen und die Ergeb- Koalitionsfraktionen das gerne wissen wollen, dann fra- nisse bewerten, wenn „keine einheitlich strukturierten gen Sie doch Ihren Minister. Daten für eine statistische Auswertung zur Verfügung stehen“ (Ausschussdrucksache 17(4)582)? Wer sich von dem angeblichen Evaluierungsbericht neue Erkenntnisse über das neue Waffenrecht erhofft Für meine Fraktion stelle ich klar: Das Waffengesetz hat, wurde abermals enttäuscht: In der Ausschussdruck- ist ein Bundesgesetz. Dass der Vollzug bei den Ländern sache heißt es dazu: „Da nicht zu erwarten war, dass liegt, enthebt die Bundesregierung nicht ihrer Pflicht, zu eine erneute eigenständige Abfrage des Bundes bei den überprüfen, wie sich Gesetzesänderungen auswirken. 23972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Gabriele Fograscher (A) Die Innenausschussdrucksache 17(4)582 erfüllt nicht Zur Bedürfnisprüfung nach § 4 Waffengesetz: Zur Be- (C) den Auftrag des Deutschen Bundestages zur Evaluie- dürfnisprüfung möchte ich anmerken, dass viele Sport- rung der Aufbewahrungs- und Kontrollregelungen im schützen zwar regelmäßig schießen, oftmals aber Pro- neuen Waffenrecht. bleme haben, die für erforderlich gehaltene Anzahl von Schießen nachzuweisen. Dies wiederum hat dann Aus- Wir fordern von der Bundesregierung, dass bis Ende wirkungen auf ihr Bedürfnis, entsprechende Waffen zu 2012 ein ernstzunehmender und auf eigenen Erhebun- besitzen. Im Bericht heißt es dazu, dass in knapp 4 Pro- gen und Befragungen basierender Evaluierungsbericht zent der Fälle, in denen eine Bedürfnisprüfung vorge- dem Deutschen Bundestag zugeleitet wird. nommen wurde, ein Widerrufsverfahren nach § 45 II Wir fordern, dass die Bundesregierung sich dafür ein- Waffengesetz eingeleitet wurde. Mich würden in diesem setzt, dass dem Deutschen Bundestag der IMK-Bericht Zusammenhang weitere Hintergründe zu diesen ange- zugeleitet wird. führten Fällen interessieren. Das Waffenrecht ist ein Beitrag zur öffentlichen Schließlich noch zur verdachtsunabhängigen Kon- Sicherheit. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger trolle nach § 36 III Waffengesetz: Es wird Sie sicherlich ein Recht, zu erfahren, wie sich Änderungen im Waffen- nicht überraschen, aber gerade aus liberaler Sicht sehe recht auswirken. Und wir, der Deutsche Bundestag, ich bei den Möglichkeiten der Nachschau in privaten lassen uns nicht abspeisen mit der lapidaren Begrün- Räumen das größte Problem der Änderungen im Waffen- dung des Personalmangels, der angeblich einer eigen- recht. Hierbei wird aus meiner Sicht in das Recht der ständigen Evaluierung eines Bundesgesetzes entgegen- Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen, wie sie das steht. Grundgesetz in Art. 13 garantiert. Sicherlich ist eine Kontrolle zur Durchsetzung gesetzlicher Vorschriften Serkan Tören (FDP): erforderlich. Aber was ich im Zusammenhang mit den Nachschauen aus dem Kreis von Jägern und Schützen zu Nunmehr liegt also der lang erwartete Evaluierungs- bericht zu den Verschärfungen des Waffenrechts auf dem hören bekomme, macht mich fassungslos. Da wurde mir Tisch – leider allerdings nur der Bericht der Bundesre- berichtet, dass zur Überprüfung gleich mehrere Behör- denvertreter zusammen mit Polizisten angerückt seien. gierung. Die Länder haben Ihren Bericht nach meinem Kenntnisstand bis zum heutigen Tag nicht freigegeben. Es wurde mir auch berichtet, dass Behördenvertreter Dabei wäre es aus meiner Sicht durchaus hilfreich, den gar keine Ahnung von Waffen gehabt haben sollen. Wenn wir als Gesetzgeber diese ohnehin schon problematische Bericht der Länder zu bekommen. Immerhin ist dieser Länderbericht die Grundlage des Evaluierungsberichts Nachschau gesetzlich verankern, dann hat diese auch der Bundesregierung. Vielleicht können sich die Innen- schonend und fachlich versiert zu erfolgen. Ich sehe hier (B) noch erheblichen Klärungsbedarf. (D) minister der Länder noch dazu durchringen, dem Bun- destag als zuständigem Gesetzgeber im Bereich des Waf- Sie sehen, es gibt noch viele Punkte, die in den weite- fenrechts ihren Bericht vorzulegen. Dies wäre sehr ren Beratungen zu klären sind. Ich bin gespannt auf die hilfreich. weiteren Beratungen im Innenausschuss. Zum vorgelegten Evaluierungsbericht der Bundesre- gierung: Wie dem Bericht zu entnehmen ist, scheinen Frank Tempel (DIE LINKE): sich die Änderungen im Waffenrecht der letzten Jahre Der vorliegende Antrag der SPD hat sich insofern er- bewährt zu haben. Erlauben Sie mir dennoch ein paar ledigt, als dass die Bundesregierung in plötzlicher Eile kritische Anmerkungen. Zunächst zu den Altersgrenzen – mit Datum vom 8. Oktober 2012 – den geforderten gemäß § 27 III Waffengesetz. Was die Altersgrenzen für Evaluationsbericht doch noch vorgelegt hat. Allerdings junge Sportschützen angeht, so wurden diese mit den kann der Bericht nicht den Anspruch einlösen, eine Eva- Verschärfungen des Waffenrechts erheblich angehoben. luation der waffenrechtlichen Änderungen seit 2009 Sicher, es gibt die Möglichkeit für Ausnahmegenehmi- oder gar eine Evaluation des bundesdeutschen Waffen- gungen für den Bereich des Leistungssports. Aber diese rechtes vorzunehmen. Die Bundesregierung hat es sich gelten für den Leistungssport, und niemand fängt in die- so einfach wie möglich gemacht. Sie hat den Evalua- sem Bereich an. Außerdem gibt es für Ausnahmegeneh- tionsbericht der Expertengruppe „Waffenrecht“ der migungen auch Einschränkungen, sofern mit bestimm- Ständigen Konferenz der Innenminister von Dezember ten Kalibern geschossen werden soll. Ob sich diese 2011 abgeschrieben. Die Datenlage dieses Berichtes ist Altersbeschränkungen mit der Möglichkeit der Aus- allerdings mehr als dürftig. nahme allerdings unter dem Gesichtspunkt Nachwuchs- förderung bzw. Nachwuchsgewinnung und Olympische Von den 577 Behörden – Polizei und Kommunen – Spiele bewährt haben, ist aus meiner Sicht fraglich. Mir sind nur 86 Waffenbehörden für den Zeitraum Januar bis geht es nicht darum, dass Jugendliche ohne jegliche al- Dezember 2010 befragt worden. Da war das Waffen- tersgerechte Betreuung den Umgang mit Waffen lernen. recht gerade mal anderthalb Jahre in Kraft. Die Allge- Mir geht es darum, dass Sportler ihre Karriere frühzei- meine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz wurde tig beginnen können, damit sie in der Weltklasse mithal- erst im März 2012, also nach der Datenerhebung, in ten können. Mit den angesprochenen Einschränkungen Kraft gesetzt. Die Verwaltungspraxis zum Beispiel zur sehe ich da große Probleme. Wir sollten uns dies im In- Bedürfnisprüfung war bis dahin in jedem Kreis eine nenausschuss aus meiner Sicht noch einmal genau anse- andere. Angesicht dessen und der Tatsache, dass in den hen. Ländern völlig unterschiedliche Statistiken geführt wer-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23973

Frank Tempel (A) den, die erhobenen Daten also nur begrenzt vergleich- Es ist offensichtlich, dass die Regierungsparteien ein (C) bar sind, kann von einer repräsentativen Erhebung Jahr vor den Wahlen kein wirkliches Interesse an einer keine Rede sein. Evaluation des Waffenrechtes, geschweige denn an kon- struktiven Änderungen haben und ihr bisheriges Han- In der Anhörung zum Waffenrecht im Innenausschuss deln in belanglosen Berichten beschönigen wollen. des Bundestages im Mai 2012 waren sich alle Fraktio- nen und Gutachter einig, dass eine Evaluierung des bun- desdeutschen Waffenrechtes unabdingbar ist. Die Bun- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desregierung beschränkt sich auf die Änderungen seit Der Antrag, den wir hier vor uns haben, ist ein klas- 2009, und selbst das ist nur halbherzig umgesetzt. Die sisches Stück SPD-Politik zum Waffenrecht: erst die Linke hingegen fordert eine grundhafte Evaluation des Reform selbst nicht hingekriegt, dann in anklagendem bundesdeutschen Waffenrechtes und einen internationa- Ton die Bundesregierung angehen, dass sie doch endlich len Vergleich der bundesdeutschen Regelungen mit Re- ihrer Informationspflicht nachkommen solle – die es so gelungen anderer vergleichbarer Länder. Überprüft gar nicht gibt, weil die SPD sie nicht im Gesetz veran- werden sollte, inwieweit die Verfügbarkeit von Waffen in kert hat –, und schließlich übersehen, dass andere diese der Gesellschaft und restriktive bzw. liberale Regelun- Anforderung längst gestellt haben, und zwar da, wo es gen Waffenmissbrauch verhindern oder begünstigen. tatsächlich wirksam ist, nämlich im Innenausschuss. Erst dann kann eingeschätzt werden, inwieweit das deut- Von einer inhaltlichen Positionierung in Sachen Reform sche Waffenrecht die Sicherheitsinteressen der Bevölke- des Waffenrechts sieht die SPD übrigens ab. rung und die Interessen von Sportschützen und Jägern Der Reihe nach: Im Frühjahr 2009 hat die damalige im vernünftigen Maße austariert. Große Koalition eine verkorkste und unzureichende Zum Evaluationsbericht. Nach dem Amoklauf von Reform des Waffenrechts beschlossen. Zwar wurden ei- Winnenden wurde das Waffenrecht in mehreren Punkten nige wichtige Punkte aufgenommen und die ohnehin geändert. Wesentlich sind die fortlaufende Bedürfnis- zwingende Erfüllung EU-rechtlicher Vorgaben noch ein- und Eignungsprüfung, die Änderungen bei der Anzahl mal als Fortschritt gefeiert. Aber es gibt darin keine Be- des erlaubten Waffenbesitzes, Änderungen bei den Al- grenzung des Waffenbesitzes, keine Regelungen gegen tersgrenzen, die Nachweispflicht einer sicheren Auf- großkalibrige, halbautomatische Waffen, wie sie beim bewahrung, die Einrichtung des nationalen Waffen- grässlichen Amoklauf in Winnenden benutzt wurden, registers und insbesondere die verdachtsunabhängigen keine Vorschrift, Waffen und Munition getrennt aufzube- Kontrollmöglichkeiten zur vorschriftsmäßigen Lage- wahren. Auch eine Auswertung dieses Reförmchens rung von Waffen und Munition. In all diesen Punkten be- sieht das Gesetz nicht vor. Die mitregierende SPD hat es (B) scheinigt der Bericht der Bundesregierung eine Verbes- damals nicht vermocht, ihre Zustimmung zum Gesetz (D) serung der Sicherheit und die Praktikabilität der davon abhängig zu machen – es gab lediglich einen Ent- Gesetzesänderungen. Kein Wort wird hingegen verloren, schließungsantrag. Nicht einmal die wissenschaftliche dass die meisten Waffenbehörden mit den verdachtsab- Unabhängigkeit der Evaluierung wurde damals ange- hängigen und verdachtsunabhängigen Kontrollen per- mahnt. Die wäre zwar richtig, aber im Text steht eben sonell überfordert sind. Die Vor-Ort-Kontrollquote von auch sie nicht. Und mal ganz ehrlich: Ein Entschlie- 3,85 Prozent aller waffenrechtlichen Erlaubnisinhaber ßungsantrag einer Regierungskoalition, in der die ei- gene Regierung zum Handeln aufgefordert wird, ist nun ist wohl eher ein erster Anfang als ein Ausweis für die wirklich eine so schwache Willenserklärung, dass man Effektivität der Waffenbehörden. Die dabei festgestellte von Entschluss eigentlich nicht mehr reden mag. Als Beanstandungsquote von 23 Prozent ist zutiefst erschre- Papiertiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet! ckend und widerspricht den gebetsmühlenartig vorge- tragenen Behauptungen von der überdurchschnittlichen Inhaltlich teilen wir das Anliegen der SPD, weshalb Gesetzestreue der Waffenbesitzer. Es ist noch viel Arbeit ich namens meiner Fraktion bereits im letzten Dezember zu leisten, um zu dem behaupteten Zustand zu gelangen. um Übersendung der entsprechenden Ergebnisse der Länder gebeten hatte. Und ich hatte die Bundesregie- Auch der für Ende 2012 angekündigte Start des natio- rung um ihre Haltung zu diesen Erkenntnissen gebeten nalen Waffenregisters ist nach Einschätzung zahlreicher und auch darum, welche Folgerungen sie daraus zieht. Experten kaum zu halten. Es gibt erhebliche Schwierig- keiten bei der Zusammenführung Hunderter unterschied- Das Ergebnis war ernüchternd. Zunächst hieß es, es licher Datenbestände. Im Bericht liest sich das völlig liege noch nichts vor, und wir wurden mit einer lapida- anders. Probleme kommen nicht vor. Der illegale Waf- ren Zusammenfassung des Gesetzes abgespeist. Da es ja fenbesitz als gefährlichster Umstand bezüglich Waffen bei Schwarz-Gelb bekanntlich oft länger dauert, bis die in der Bundesrepublik wird nur im Zusammenhang mit Erkenntnis einsetzt, und dann ja noch der unvermeidli- der abgelaufenen, befristeten Amnestie thematisiert. Die che Koalitionsstreit zu regeln ist, habe ich dann erst im straflose Abgabemöglichkeit nicht zugelassener Waffen Juni wieder nachgefragt. Nun wurde ich darauf verwie- ist eine anerkannte Möglichkeit, illegale Waffen aus dem sen, dass es sich um einen Bericht der Länder handle, Schwarzmarkt zu nehmen. Im Bericht wird allerdings der dem Bund nicht zugänglich sei. Dass diese Regie- nur mitgeteilt, dass Amnestien nicht zu häufig stattfin- rung bisweilen lange braucht, um anstehende Fragen zu den dürfen, da sonst illegaler Waffenbesitz dauerhaft le- verstehen, daran haben wir uns alle gewöhnt. Dass sie galisiert würde. Das offenbart eine gähnende Ideenlo- das Schreiben von Gesetzen auslagert, ist auch nicht sigkeit der Bundesregierung. neu, aber dass sie nun die Bewertung einer Studie der

Zu Protokoll gegebene Reden 23974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Wolfgang Wieland (A) Bundesländer nicht von der Studie selbst unterscheiden Berichterstattung: (C) kann und im Übrigen eben diesen Ländern überlassen Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth will, das ist dann doch ein neuer Grad an Begriffsstut-  zigkeit und Unselbstständigkeit. Michael Kauch Ralph Lenkert Mit Datum vom 8. Oktober wurde uns nun ein knap- Hans-Josef Fell per Bericht vorgelegt. Darin werden vor allem die Ände- rungen des Waffengesetzes noch einmal dokumentiert, Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir an Evaluierung gibt es nicht mehr als Sätze der Komple- die Reden zu Protokoll. xitätsstufe „Die Regelung hat sich dem Grunde nach be- währt“. Man fühlt sich so stark an Radio Eriwan erin- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): nert, dass man auf die Frage, ob diese Evaluierung Am 30. Juni 2011, also gerade mal vor einem Jahr, etwas tauge, antworten möchte: Im Prinzip ja, aber sie hat der Deutsche Bundestag die Novelle des Erneuer- müsste um Erkenntnisse ergänzt werden. Die Bundesre- bare-Energien-Gesetzes beschlossen – das Herzstück gierung verzichtet vollkommen darauf, irgendwelche der Energiewende. Mit dem Ziel, den Anteil erneuerba- Schlussfolgerungen zu ziehen. Kein Wort dazu, wie fest- rer Energieträger am Bruttostromverbrauch bis 2022 gestellte Defizite behoben werden sollen, kein Wort auf 80 Prozent gegenüber heute etwa zu verdreifachen, dazu, ob lang diskutierte Maßnahmen wie technische müssen auch die Anforderungen an die Rahmenbedin- Sicherungssysteme erforderlich und umsetzbar sind, gungen für diese Entwicklungen angepasst werden. Aus kein Wort zu neuen Fällen des Missbrauchs privater diesem Grund war die schrittweise Integration regene- Waffen und dazu, warum sie durch die Gesetzesnovelle rativer Erzeuger in den Energiemarkt – neben der kos- nicht verhindert wurden. teneffizienten Ausgestaltung der Förderung und der Man kann hoffen, dass die Fortsetzung bewährter Grundprinzipien – schon vor ei- sich doch noch erweichen lässt, und uns ihre – hoffent- nem Jahr ein zentraler Bestandteil der Novelle. Auch im lich – umfangreichere und substanziellere Studie zukom- Energiekonzept der Bundesregierung vom September men lässt, dann kann man vielleicht noch etwas lernen. 2010 wird das Ziel „die Einspeisung effizienter gestal- Allerdings muss man befürchten, dass es dazu nicht ten“ bereits deutlich herausgestellt. Ich zitiere: „... eine kommt. Wenn hier die SPD beantragt, dass uns dieser schrittweise, aber zügige Heranführung an den Markt Bericht vorgelegt werden möge, aber die sieben Landes- und damit eine stärker bedarfsgerechte Erzeugung und innenminister der SPD offenbar nicht für eine Übermitt- Nutzung der erneuerbaren Energien. Künftig soll das lung votiert haben und auch die Unionsinnenminister in EEG stärker am Markt orientiert werden und der wei- (B) den mit Großer Koalition regierten Ländern nicht von tere Ausbau der erneuerbaren Energien in stärkerem (D) einer Veröffentlichung zu überzeugen waren, dann ma- Maße marktgetrieben erfolgen.“ che ich mir wenig Hoffnung. Dieses Kernelement – die Markt- und Systemintegra- Fazit: ein schlechtes Gesetz vor drei Jahren, Geheim- tion – hat die Weiterentwicklung des Gesetzes aus dem niskrämerei der eigenen Landesminister und ein Schau- vergangenen Jahr übrigens mit nahezu allen Vorschlä- fensterantrag, der Jahre alte eigene Versäumnisse ver- gen über die zukünftige Ausgestaltung des Strommarkts decken soll. Überzeugen kann das nicht – und gegen die gemein, die heute auf dem Tisch liegen. verbliebenen Lücken im Waffenrecht kann man so schon Damit will ich sagen: Wir wissen alle, dass das EEG gleich gar nichts tun. durch den zunehmenden Anteil regenerativer Erzeuger – die erneuerbaren Energien sind keine Nischenpro- Vizepräsidentin Petra Pau: dukte mehr – an seine Grenzen stößt. Aus diesem Grund Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- beschäftigten sich die Bundesregierung, aber auch die wurfs auf Drucksache 17/10114 an die in der Tagesord- Unionsfraktion im Deutschen Bundestag seit Jahren mit nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es marktorientierten Förderwerkzeugen innerhalb des be- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. stehenden Gesetzes. Dann ist so beschlossen. Bereits heute liegt der Anteil der Erneuerbaren an der Bruttostromerzeugung bei 25 Prozent, und bei diesem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Anteil gewinnt die Optimierung des Zusammenspiels al- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ler Marktakteure – der Erneuerbaren, der Konventionel- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz len, aber auch von Speichern und Stromverbrauchern – und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der immer weiter an Bedeutung. Verordnung der Bundesregierung Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal aus- Verordnung über die Höhe der Management- drücklich darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Frak- prämie für Strom aus Windenergie und sola- tion im Deutschen Bundestag nicht erst seit der Novelle rer Strahlungsenergie (Managementprämien- des EEG im Jahr 2009 auf die Bedeutung der Marktinte- verordnung – MaPrV) gration hinweist. So fand der Beginn der Marktintegra- tion Erneuerbarer Anfang 2010 statt; seitdem wird – Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2, Strom, der in EEG-Anlagen erzeugt wird, durch die 17/10817 – Übertragungsnetzbetreiber am Day-ahead-Markt der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23975

Dr. Maria Flachsbarth (A) Leipziger Strombörse transparent vermarktet. Strom aus dings haben die Gutachter im vergangenen Jahr einen (C) Erneuerbaren leistet erstmals einen aktiven Beitrag zur Rückgang der Kosten für das Folgejahr prognostiziert – Grundfunktion des Marktes, dem Prinzip von Angebot dieser Beweis ist in den kommenden Jahren noch zu füh- und Nachfrage, und beeinflusst seitdem aktiv die Preis- ren. bildung. Obwohl oder gerade weil die Marktprämie solch ein Das zweite Instrument, die Einführung eines Prämien- Erfolgsmodell ist, ist es notwendig, die Prämie nachhal- modells, um eine marktorientierte Produktion erneuer- tig an die Entwicklung des Marktes anzupassen: Die barer Energien anzureizen und diese schrittweise an den Managementprämie für fluktuierende erneuerbare Er- Markt heranzuführen, war ursprünglich ebenfalls im zeuger, und nur um diese geht es in dieser Verordnung, Rahmen der 2009er-Novelle angedacht. Gegen vehe- wäre zum 1. Januar 2013 von heute 1,2 Cent pro Kilo- mente Intervention des damaligen Koalitionspartners ist wattstunde auf 1 Cent pro Kilowattstunde gesunken. Al- das Instrument jedoch bedauerlicherweise im parlamen- lerdings war bereits im Laufe dieses Jahres absehbar, tarischen Beratungsverfahren gescheitert und erst vier dass sich die Grundlage für die Berechnung der Ma- Jahre später, auf erneute Initiative der CDU/CSU-Bun- nagementprämie verändert. Es war von Beginn an da- destagsfraktion, zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten. von auszugehen, dass die Einführung eines neuen unbe- Die Einführung der Marktprämie stellt bis heute einen kannten Instruments anfangs höhere Kosten als im Paradigmenwechsel bei den erneuerbaren Energien dar. derzeitigen System verursachen dürfte und schon kurz- Es war ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige fristig mit einem deutlichen Lerneffekt zu rechnen ist. Richtung und hat Anlagebetreibern zum ersten Mal die Auch aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag im Möglichkeit eröffnet, sich optional selbstständig im vergangenen Sommer eine Verordnungsermächtigung Markt zu versuchen oder aber Dritte mit dieser Aufgabe innerhalb des EEG beschlossen, um die Marktprämie zu beauftragen. kurzfristig und kosteneffizient an die Marktentwicklun- Die Anzahl der EE-Anlagen, die in diesem Jahr in die gen anzupassen. Direktvermarktung gewechselt sind, hat uns letztendlich Auf Basis neuer wissenschaftlicher Untersuchungen, recht gegeben; unsere Erwartungen wurden bei weitem die gezeigt haben, dass sich die Höhe der Management- übertroffen und somit im Oktober 2012 fast 27 Gigawatt prämie für volatile Erzeuger mittlerweile deutlich über über das Marktprämienmodell vermarktet – das ent- den wirtschaftlich abzudeckenden Kosten befindet, wird spricht der Hälfte der installierten Leistung erneuerba- die Höhe der Managementprämie im Rahmen der Ma- rer Energien in Deutschland. Und auch für die Zukunft nagementprämienverordnung über die im EEG festge- wird ein breiter Zulauf erwartet; die Übertragungsnetz- legte Degression zum Ende des Jahres angepasst. Diese betreiber haben in ihrer Annahme zur EEG-Umlage (B) Erkenntnisse wurden darüber hinaus durch die Erfah- (D) 2013 prognostiziert, dass der Anteil der Anlagen in der rungen der Übertragungsnetzbetreiber bestätigt, die Marktprämie auf bis zu 36 Gigawatt ansteigen könnte. diese über Jahre bei der Vermarktung des EEG-Stroms Bereits heute lassen sich die ersten positiven Effekte machen konnten. Das führt letztlich dazu, dass die Ma- dieser Marktorientierung feststellen: Dies betrifft in ers- nagementprämie für das Jahr 2013 bei nicht fernsteuer- ter Linie die zunehmende Flexibilität des Gesamtsystems baren Anlagen um 0,35 Cent pro Kilowattstunde abge- und die damit zusammenhängenden sinkenden System- senkt wird. kosten. Zum Beispiel konnte durch den Auf- und Ausbau Eine weitere Anpassung, die im Rahmen der Manage- einer umfassenden Infrastruktur, von Kommunikations- mentprämienverordnung zu einer effizienteren Integra- und Steuerungssystemen die Prognosegüte bei der tion fluktuierender Erneuerbarer in den Markt führen Stromerzeugung deutlich verbessert werden. Wie sich soll, ist die Kopplung einer erhöhten Managementprä- ein zukünftiger Strommarkt immer auch gestalten wird – mie an die Fernsteuerbarkeit der Anlagen. Die Manage- hierbei handelt es sich um eine sinnvolle Investition in mentprämie wird hierfür um 0,1 Cent pro Kilowatt- die Zukunft. stunde gegenüber nicht fernsteuerbaren Anlagen Dieser Nutzen findet sich auch in der finanziellen Be- erhöht; somit fällt die Degression der Managementprä- trachtung wieder. Bereits im ersten Jahr hat die Einfüh- mie bei fernsteuerbaren Anlagen mit 0,25 Cent pro Kilo- rung der Marktprämie zu einer Reduzierung negativer wattstunde etwas niedriger aus. Diese Regelung soll Strompreise am Spotmarkt geführt und die EEG-Umlage dazu führen, den – bisher schleppend vorangehenden – dadurch signifikant entlastet. Diese Entlastung liegt da- Integrationsprozess fernsteuerbarer Wind- und Solaran- rin begründet, dass die Marktprämie – im Gegensatz zur lagen im folgenden Jahr signifikant zu beschleunigen Einspeisevergütung – einen Anreiz schafft, Windenergie- und einen Anreiz zu schaffen, um die Einrichtung von anlagen abzuregeln, wenn keine Nachfrage besteht. Fernsteuerungstechnologien im Sinne der Systemsicher- heit weiter zu etablieren und die bedarfsorientierte Be- Dieser unerwartete Erfolg hat unzweifelhaft auch reitstellung von Strom zu verbessern. Auswirkungen auf die Kosten der Marktprämie. Die pro- gnostizierten 200 Millionen Euro Mehrkosten, die für Vor diesem Hintergrund wird die Absenkung der Ma- das Einführungsjahr der Marktprämie – maßgeblich nagementprämie eine geringere Gewinnmarge für die durch die Vergütung der Kosten für den Ausgleich von Direktvermarktung von Strom aus Windenergie und so- Prognoseabweichungen sowie die Kosten für den Han- larer Strahlungsenergie zur Folge haben. Grundsätzlich delszugang veranschlagt wurden, werden aufgrund der – und das ist auch die Rückmeldung aus der Branche – regen Teilnahme bereits deutlich überschritten. Aller- bleibt jedoch der Anreiz zum Wechsel in die Direktver-

Zu Protokoll gegebene Reden 23976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Maria Flachsbarth (A) marktung erhalten und bietet bei entsprechendem Anla- Der Import macht derzeit noch 70 Prozent der Energie- (C) genbetrieb auch zukünftig die Aussicht auf angemessene kosten aus. Mit erneuerbaren Energien können wir wirtschaftliche Mehrerlöse. flexibel und selbstbestimmt auf Angebot und Nachfrage reagieren. Dem ist noch hinzuzufügen, dass in der Verordnung auch für die Zeit ab 2014 die Höhe der Managementprä- Dabei spielt auch Biomasse eine wichtige Rolle – sie mie für nicht fernsteuerbare Anlagen und eine stetige kann kurzfristig an den Verbrauch angepasst werden Verstärkung der zusätzlichen Anreizwirkung für fern- und helfen, Lücken in der Stromproduktion durch Wind steuerbare Anlagen geregelt ist. und Sonne zu überbrücken. Eine Zusammenführung der Kleinerzeuger mit bedarfsgerechten Komplettangeboten Das Ziel der Managementprämienverordnung ist es, stabilisiert den Markt und entlastet die EEG-Umlage. die Direktvermarktung der erneuerbaren Energien zu- Derzeit wird von den Möglichkeiten der Direktvermark- nehmend stärker an den Markt heranzuführen und die tung noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die Kosteneffizienz der Stromversorgung insgesamt zu ver- Managementprämie ist strukturell zu sehr auf die alten bessern; die EEG-Umlage wird durch die Neuregelung Stromversorger hin orientiert. im Jahr 2013 um die Größenordnung von 200 Millionen Euro entlastet und leistet infolgedessen einen Beitrag zu Gut ist an ihr, dass die Fernsteuerbarkeit von Anla- den Bestrebungen der Bundesregierung, die Kosten der gen verbessert wird. In einem virtuellen Kraftwerk, also Energiewende in einem angemessenen Rahmen zu hal- einem Verbund verschiedener Kleinerzeuger, trägt die ten. Fernsteuerbarkeit zur bedarfsgerechten Einspeisung der erneuerbaren Energien und zur Entlastung der Die Entwicklung der Direktvermarktung wird weiter- EEG-Umlage bei. Unumstößlich für das Gelingen der hin regelmäßig evaluiert, und die Entwicklung der tat- Energiewende ist und bleibt bei allen diesen Markt- sächlichen Kosten als auch der unmittelbare Nutzen der mechanismen der Einspeisevorrang der erneuerbaren Direktvermarktung, insbesondere in Bezug auf die Energien. Marktintegration, werden analysiert. Viele Ökostromhändler haben in eine langfristig an- Ich bitte daher um Zustimmung zur vorliegenden Ver- gelegte Direktvermarktung investiert und sind bereit, ordnung. sich weiterzuentwickeln. Jörg Müller, Vorstandschef von ENERTRAG, erklärt: „Mit einem novellierten Josef Göppel (CDU/CSU): Grünstromprivileg könnten wir die Stromkunden preis- Ich halte die Degression der Managementprämie für werter mit sauberer Energie beliefern.“ Diesem Zitat richtig. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um die erneu- schließe ich mich an. (B) erbaren Energien marktfähig zu machen. (D) Die Direktvermarktung von Eigenstrom ist ein wichti- Dr. Matthias Miersch (SPD): ger Schritt in Richtung Marktanpassung. Wichtig ist An diesem Montag konnte man schwarz auf weiß le- hierzu, dass die Angebote der vielen Kleinerzeuger zu- sen, was zuvor viele befürchtet hatten: Die Übertra- sammengeführt und daraus verlässliche Komplettpakete gungsnetzbetreiber gaben an, dass die sogenannte EEG- geschnürt werden. Umlage im nächsten Jahr 5,277 Cent pro Kilowatt- stunde betragen wird. Dies entspricht einer Erhöhung Die Bevölkerung in Deutschland greift die Chancen um rund 50 Prozent, nachdem die EEG-Umlage in die- der Energiewende aktiv auf: Seit 2005 haben sich über sem Jahr noch 3,59 Cent pro Kilowattstunde betragen 80 000 Bürger in rund 600 Energiegenossenschaften zu- hat. Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen diesen sammengetan. Darüber hinaus gibt es weitere Formen Preis pro verbrauchter Kilowattstunde, um Deutsch- des genossenschaftlichen Engagements. Ihnen allen ist lands Energieerzeugung fit für die Zukunft zu machen. gemein, dass sie die Energiewende dezentral gestalten und die Wertschöpfung in der jeweiligen Region halten. Kritiker und Gegner der Energiewende sind kräftig Das Einkommen aus der Energieproduktion fließt nicht am Werk, um Ängste seitens der Verbraucherinnen und mehr in anonyme Aktienpakete oder ins Ausland, son- Verbraucher vor steigenden Strompreisen zu schüren. dern kommt Landwirten, Hausbesitzern, Handwerkern Eines muss uns jedoch klar sein: Die Energiewende wird und vielen Privatleuten zugute, die sich an Windrädern es nicht zum Nulltarif geben. Der Umbau der Energiein- und Solaranlagen beteiligen oder diese vor Ort installie- frastruktur und des Marktsystems mit dem Ziel, eine ren und warten. Das ermöglicht breite Eigentumsstreu- Vollversorgung mit erneuerbaren Energien bis 2050 zu ung im Energiebereich und stärkt so die Mittelschichten erreichen, wird zweifelsohne Geld kosten. der Gesellschaft. Andererseits muss man sich darüber im Klaren sein, Das aktuelle Zusammentreffen neuer Informations- welche immens hohen Kosten auf uns zukommen wür- technologien mit erneuerbaren Energien führt zu einem den, wenn wir in der Energiefrage untätig blieben. Das Entwicklungsschub, der die Grundlagen unseres Lebens fossile Öl und Gas aus Saudi-Arabien und Russland ge- in Richtung Dezentralität und Kleinteiligkeit verändert. hen zur Neige, die Brennstoffe müssen in den nächsten Dies fördert langfristig ein verlässliches Stromangebot – 40 Jahren ersetzt werden. Die zentrale Frage, die wir wir sind weder vom Funktionieren einer Handvoll Groß- uns stellen müssen, ist: Was hätte es gekostet, wenn die kraftwerke abhängig, noch sind wir steigenden Rohstoff- Energiewende nicht in Gang gesetzt worden wäre und kosten oder Unsicherheiten beim Import ausgeliefert. alles beim Alten geblieben wäre? Eine Struktur des

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23977

Dr. Matthias Miersch (A) Strommarkts mit wenigen, aber übermächtigen Strom- beispielsweise den billigen Grünstrom ein, anstatt mit (C) konzernen, ins Unermessliche steigende Öl- und Gas- höheren Kosten selbst Strom zu produzieren, und teilen preise, verpestete Luft und eine zerstörte Umwelt! sich die Managementprämie mit den Anlagenbetreibern. So profitieren sie sogar doppelt. Eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevöl- kerung will nach wie vor die Energiewende hin zu einem Kurzum: Die nun von der Bundesregierung vorgese- dezentralen Strommarkt, bezahlbarem Strom und einer hene Absenkung der Managementprämie ist ein Symp- Vollversorgung mit sauberen, erneuerbaren Energien. tom dafür, dass das Marktprämienmodell in seiner der- Es gilt jetzt vor allem, die anfallenden Kosten so gerecht zeitigen Form gescheitert ist. Die Absenkung kann man zu verteilen, dass die Herkulesaufgabe Energiewende zwar begrüßen, sie ändert aber nichts an der grundsätz- nicht nur auf wenigen Schultern ruht, sondern alle glei- lichen Fehleinschätzung auch in dieser energiepoliti- chermaßen mit in die Finanzierung eingebunden und so- schen Frage. ziale Härten abgefedert werden. Die Kosten, die die Managementprämie verursacht, Die Höhe der EEG-Umlage taugt dabei ganz und gar sind Bestandteil der EEG-Umlage und werden von den nicht als Indikator für die Kosten der Energiewende, ob- Stromendverbrauchern bezahlt. Angesichts der steigen- wohl Kritiker uns dies weismachen wollen: Die Umla- den Belastungen für Stromkunden sehen wir es als rich- geerhöhung geht am wenigsten auf die ansteigende För- tig an, die sinnlosen Überförderungen innerhalb der derung für die erneuerbaren Energien zurück. Nur rund Managementprämie zu beseitigen, und stimmen daher ein Drittel des gesamten Anstiegs um rund 1,7 Cent be- der Verordnung zu ihrer Absenkung zu. trifft die zusätzlichen Förderkosten von Erneuerbare- Gleichzeitig kritisieren wir, dass die Bundesregierung Energien-Anlagen. Für den Rest sind vor allem die poli- im Zuge der letzten EEG-Novelle das bislang einzig ef- tischen Fehlentscheidungen der schwarz-gelben Bun- fektive Instrument zur Marktintegration erneuerbarer desregierung im Zuge der Novelle des Erneuerbare- Energien, das sogenannte Grünstromprivileg, durch un- Energien-Gesetzes im Sommer 2011 verantwortlich. gerechtfertigte Restriktionen faktisch beseitigt hat. An- Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Um- ders als die Marktprämie wäre ein weiterentwickeltes weltminister Röttgen haben im letzten Jahr die Anhe- Grünstromprivileg ein einfaches, unbürokratisches Sys- bung der EEG-Umlage aus politischen Gründen einfach tem, das Märkte für Grünstrom schafft und Anreize zum aufgeschoben. Nichts sollte die NRW-Wahl für Röttgen betriebswirtschaftlichen Planen bietet. Die Bundesre- belasten. Dieser Schuss ging Gott sei Dank nach hinten gierung soll endlich die Marktprämie in der derzeitigen los, die Rechnung dafür müssen die Verbraucherinnen Form als ineffizientes und überteuertes Direktvermark- und Verbraucher aber nun im nächsten Jahr bezahlen. tungsmodell abschaffen und stattdessen ein Konzept für (B) Zudem hat Schwarz-Gelb die Umlageentlastung von In- eine Weiterentwicklung des Grünstromprivilegs vorle- (D) dustrieunternehmen enorm ausgeweitet. Ab 2013 profi- gen, das die System- und Marktintegration effektiv und tieren dann statt circa 750 Unternehmen wie in diesem kosteneffizient vorantreibt, Anreize für eine bedarfsge- Jahr mindestens 2 000 industrielle Abnehmer von den rechte Stromeinspeisung erneuerbarer Energien und für Privilegien. Die Umlage wird somit auf weniger Schul- Investitionen in Speichertechnologien schafft. Ein Lern- tern verteilt. Privathaushalte und kleine und mittelstän- effekt stellt sich bei Schwarz-Gelb aber leider nur selten dische Unternehmen müssen die Zeche dafür zahlen. ein. Ein weiterer Punkt, der die EEG-Umlage unnötig be- lastet, ist das sogenannte Marktprämienmodell, das die Michael Kauch (FDP): Bundesregierung in der letzten EEG-Novelle gegen den Der Vermittlungsausschuss hat sich im Rahmen des Willen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen hat. Pakets zur Reform der Photovoltaikvergütung darauf Das Modell beinhaltet eine Marktprämie und eine Mana- geeinigt, die Managementprämie ab dem Jahr 2013 ab- gementprämie, die Anlagenbetreibern ausgezahlt wird, zusenken, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden und die wenn sie ihren erzeugten Strom direkt – und nicht über Belastung der Stromkunden zu verringern. Diese Absen- den EEG-Mechanismus – verkaufen. kung stellt eine Justierung des im letzten Jahr eingeführ- ten Instruments der Marktprämie dar. Deren Einführung Nun, noch nicht einmal ein Jahr nach der Einführung war richtig, da sie zur Direktvermarktung motiviert und dieses Mechanismus, bestätigt sich die Kritik der SPD- so die erneuerbaren Energien an den Markt heranführt. Bundestagsfraktion am Marktprämienmodell voll und Allerdings wurden von den zuständigen Ministerien im ganz: Diese Form der Direktvermarktung fördert weder Gesetzgebungsverfahren wesentlich niedrigere Kosten die Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien, prognostiziert. Das zeigt erneut die begrenzte Prognose- noch setzt sie ausreichend Anreize für eine bedarfsge- fähigkeit der öffentlichen Institutionen in Bezug auf die rechte Einspeisung und für Investitionen in Speicher- EEG-Instrumente. technologien. Zudem wurde weder die Prognosegüte verbessert, noch eröffneten sich neue Vermarktungs- Zudem ist dieses Instrument für die Markt- und Netz- wege für den wertvollen Grünstrom. Es zeigt sich, dass integration erneuerbarer Energien auf Dauer nicht ge- die Marktprämie zwar hohe Kosten verursacht, die ge- eignet, weil es einen Mindestpreis setzt und die Börsen- wünschte Wirkung jedoch nicht erzielt hat. Zudem entwicklung nach unten abfedert. Die Marktakteure machen Anlagenbetreiber, Direktvermarkter und die können also nach oben profitieren und haben nach unten konventionelle Energiewirtschaft durch hohe Mitnahme- kein Risiko. Deshalb plädiert die FDP-Bundestagsfrak- effekte Kasse. Konventionelle Energieerzeuger kaufen tion dafür, die Marktprämie durch ein Marktzuschlags-

Zu Protokoll gegebene Reden 23978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Michael Kauch (A) modell zu ersetzen, bei dem es einen festen Zuschlag auf nehmenden Abschaltung von Erneuerbare-Energien-An- (C) den Börsenpreis und nicht einen vollständigen Kosten- lagen hält die Bundesregierung weiter daran fest, airbag nach unten gibt, der letztendlich die in Rede ste- Sonnen- und Windstrom passend für den Markt machen henden Zusatzkosten mit verursacht. zu wollen, anstatt das Marktdesign, bei dem das eigent- liche Problem liegt, grundlegend auf den Kopf zu stel- Es ist die Mühe wert, gemeinsam zu schauen, wie man len. Unser Ziel ist die Vollversorgung mit erneuerbaren die Direktvermarktung reformieren kann. Die Antwort Energien. Wenn man das möchte, kann man die Regene- der Opposition, einfach das Grünstromprivileg auszu- rativen aber nicht in das Stromsystem hineinpressen, weiten, greift zu kurz. Denn das Grünstromprivileg ist sondern man muss den Markt entsprechend ausrichten. immer damit verbunden, dass die EEG-Umlage auf im- Dass sich diese Erkenntnis noch immer nicht in den Re- mer weniger Schultern lastet. Deshalb müssen andere gierungs- und Koalitionskreisen durchgesetzt hat, zeigt Modelle entwickelt und dann auch beschlossen werden. uns exemplarisch das weitere Festhalten an der Markt- Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. und Managementprämie, anstatt sie völlig abzuschaffen. Deshalb können wir dieser Verordnung nicht zustimmen. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Vergangenes Jahr haben wir in einem unfassbaren Tempo 200 Seiten EEG-Novelle durch dieses Haus ge- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): jagt. Es war aufgrund der Eile nicht einmal den Verbän- den möglich, die Gesetzesnovelle in ihrer ganzen Breite Seit letztem Montag wissen wir, um welchen Betrag zu durchdringen, obwohl sie den Entwurf dafür Tage vor die EEG-Umlage im nächsten Jahr steigen wird. Es sind den Abgeordneten zur Stellungnahme erhalten hatten. knapp 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Neben Wirtschafts- Verschiedene peinliche Dinge, die sich in dem Entwurf minister Rösler schiebt auch der Kollege Vaatz die Erhö- noch verborgen hatten, wurden inzwischen ausgeräumt. hung auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Herr Darüber hinaus gab es aber auch Politisches, aufgrund Vaatz will mit der Begründung steigender Strompreise dessen der Bundesrat diese Novelle so nicht passieren die gefährliche und teure Atomkraft wiederbeleben, wel- lassen wollte. Die Verordnung zur Absenkung der Ma- che er für billig hält. Dabei ist die Atomenergie bisher nagementprämie, die wir jetzt behandeln, ist Teil der mit rund 180 Milliarden Euro subventioniert worden, Kompromissmasse aus den Verhandlungen mit dem Bun- die nicht im Strompreis auftauchen. Eine billige Strom- desrat und wiederum eine Korrektur der völlig überhas- quelle, Herr Vaatz? Während bei der EEG-Umlage so teten und planlosen Änderungen am Erneuerbare-Ener- getan wird, als wären dies ausschließlich die Kosten für gien-Gesetz des vergangenen Jahres. den Ausbau der erneuerbaren Energien, wurden die (B) enormen Subventionen für Atom und die fossilen Ener- (D) Die Linke begrüßt diese Verordnung, da wir bereits gien über Jahrzehnte in unzähligen Haushaltsposten zur Einführung der Managementprämie davor gewarnt versteckt. Leider ist die EEG-Umlage eben kein Indika- haben, dass diese zu unnötigen Mehrkosten bei der Er- tor für die Kosten des Ausbaus der Erneuerbaren, weil neuerbare-Energien-Umlage führen würde. Auch der sie inzwischen mit zahlreichen anderen Posten belastet Bundesverband Erneuerbare Energien hat seinerzeit ve- wird. Die Regierung und die Koalitionsfraktionen sind hement darauf hingewiesen. Bereits nach wenigen Mo- leider an einer ehrlichen Analyse der einzelnen Posten naten hat sich herausgestellt, dass die Prämie zu hoch der EEG-Umlage und deren Steigerungen gar nicht inte- angesetzt war und kaum einen Nutzen gebracht hat. Sie ressiert. Da Sie zu dieser Analyse nicht bereit sind, hatte keinen Nutzen für den Ausbau der erneuerbaren werde ich sie für Sie machen. Von den 1,7 Cent Erhö- Energien und ebenso wenig für deren Marktintegration. All das war bereits im Juni 2011 absehbar, und davor hung der Umlage sind gerade einmal 0,5 Cent auf den hatten wir gewarnt. Ausbau zurückzuführen. Etwa zwei Drittel aber gehen auf Ihre Fehler zurück. Bei einer zweiwöchigen Beratungszeit für einen über 200 Seiten umfassenden Gesetzentwurf, in dem noch we- Da haben wir zunächst die Ausweitung der Privile- sentlich gravierendere Dinge fehlgesetzt worden waren, gien für die Industrie. Es ist richtig, dass wir unter der ist es aber kein Wunder, dass solche mahnenden Stim- rot-grünen Regierung die Ausnahmen für die energiein- men nicht wahrgenommen wurden. Obwohl wir die vor- tensive Industrie im EEG 2004 eingeführt haben. Wir gesehene Kürzung der Managementprämie nun begrü- wollen nämlich auch nicht die energieintensive Industrie ßen, können wir uns letztendlich zu dem Gesamtwerk aus Deutschland vertreiben. Doch wir führten damals nur enthalten. Das eigentliche Problem dieser Verord- auch einen Passus ein, der die Ausnahmen auf 10 Pro- nung ist nämlich das Ziel der Marktintegration von fluk- zent des Gesamtvolumens der Umlage deckelten. Dieser tuierenden erneuerbaren Energien. Die Linke vertritt Passus wurde 2006 aus dem Gesetz gestrichen. In der hier deutlich den Standpunkt, dass nicht die erneuerba- letzten EEG-Novelle senkten Sie dann die Schwelle für ren Energien sich dem Markt anpassen müssen, sondern energieintensive Unternehmen auf eine Gigawattstunde der Markt den fluktuierenden erneuerbaren Energien. Jahresverbrauch. Dadurch haben jetzt gut 2 000 Unter- Wir alle kennen das Bild stillstehender Windräder, ob- nehmen einen Antrag auf Befreiung von der EEG-Um- wohl sehr wohl Wind weht. Es kommt immer häufiger lage gestellt. Erhält der große Teil dieser Unternehmen vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber erneuerbare die Befreiung, erhöht sich die Entlastung der Unterneh- Energien vom Netz nehmen müssen, weil fossile Grund- men auf etwa 4 Milliarden Euro. Die weitere Befreiung lastkraftwerke die Netze verstopfen. Aber trotz der zu- vieler Industriezweige muss auf den Prüfstand, und wir

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23979

Hans-Josef Fell (A) freuen uns, dass dies inzwischen auch die Bundeskanz- Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weite- (C) lerin so sieht. rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ein weiterer Punkt sind die geringeren Erlöse der er- Für eine ehrliche und faire europäische Per- neuerbaren Energien an der Strombörse durch die Einfüh- spektive der Staaten des westlichen Balkans rung des neuen Wälzungsmechanismus im Jahr 2009. Eigentlich freuen wir uns über den strompreissenkenden – Drucksachen 17/9744, 17/11034 – Effekt der erneuerbaren Energien. Allerdings fehlt auf der einen Seite eine Maßnahme der Bundesregierung, Berichterstattung: diesen positiven Effekt für alle Stromkunden wirksam Abgeordnete Peter Beyer werden zu lassen, und auf der anderen Seite steigt genau Dr. Rolf Mützenich durch diesen Effekt die EEG-Umlage um etwa 1 Cent Marina Schuster pro Kilowattstunde. Warum gibt es zur Weitergabe des Wolfgang Gehrcke Merit-Order-Effekts an die Haushalte und zu einem ver- Kerstin Müller (Köln) besserten Wälzungsmechanismus eigentlich keinen Vor- Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages- schlag von Umweltminister Altmaier? ordnung ausgewiesen, zu Protokoll. Als nächsten Punkt haben wir die viel zu hohe Anset- zung der Liquiditätsreserve. Wenn die Prognose für die Peter Beyer (CDU/CSU): EEG-Umlage für das nächste Jahr dieses Mal seriös be- rechnet wurde, dann brauchen wir keine Liquiditätsre- Spricht man über Ehrlichkeit und Fairness für die serve von 10 Prozent, dann hätte die Bundesnetzagentur Menschen auf dem Westbalkan im Zusammenhang mit die Reserve bei 3 Prozent belassen können. Auch hier einer europäischen Perspektive, sollten wir vor der haben wir wieder Mehrkosten von etwa 1,2 Milliarden Wahrheit nicht die Augen verschließen. Die Wahrheit Euro. lautet: Analysiert man den Zustand der Länder des sogenannten Westbalkan anhand der Kopenhagener Auch die Marktprämie ist eine Fehlleistung dieser Messlatte, werden zahlreiche Defizite offenkundig. Zur Regierung. Dabei ist die Idee, die erneuerbaren Ener- Wahrheit gehört aber auch, dass bereits honorige An- gien dort, wo es jetzt schon möglich ist, auch außerhalb strengungen aktueller und potenzieller Beitrittskandida- des EEG am Markt zu etablieren, richtig. Aber das In- ten benannt werden können. Bereits in der Debatte vom strument hat wenig für die Marktintegration der erneuer- 28. Juni 2012 habe ich in meinem Redebeitrag darauf baren Energien bewirkt und stattdessen viele Mitnahme- hingewiesen, dass – auch wenn wir vereinheitlichend effekte produziert. Durch die Mitnahmeeffekte wurden vom „Westbalkan“ sprechen – wir die Heterogenität (D) (B) obendrein innovative andere Vermarktungswege uninte- dieser Region nicht außer Acht lassen dürfen. So unter- ressant und damit ausgebremst. Die Mehrkosten der schiedlich die nationalen, historischen, ethnischen und Managementprämie belaufen sich anstelle der von der religiösen Identitäten auf dem Westbalkan sind, so un- Regierung veranschlagten 200 Millionen Euro in diesem gleich sind auch ihre politischen und wirtschaftlichen Jahr auf rund 600 Millionen Euro. sowie sozialen Entwicklungsstadien. Wir stehen hinter dem Ziel, die erneuerbaren Ener- In Bezug auf die geforderte Geschwindigkeit der eu- gien außerhalb des EEG stärker zu fördern. Wir wollen ropäischen Integration im Antrag der SPD sollte darauf dazu das Grünstromprivileg wieder in das Zentrum der hingewiesen werden, dass die Behebung der Defizite im Direktvermarktung der erneuerbaren Energien rücken. Sinne der Erfüllung der Kriterien für eine Vollmitglied- Obwohl wir eine Abschaffung der Managementprämie schaft Zeit braucht. Deutlich wird dies am Beispiel fordern, stimmen wir dieser Beschlussempfehlung den- Kroatiens, das kurz vor der bevorstehenden Aufnahme noch zu, da wir damit zumindest einen ersten Schritt zur in die EU in der vergangenen Woche einen Blauen Brief Korrektur dieser Fehlentwicklung machen. aus Brüssel erhielt. Gleich zehn Mängel stellte die EU- Kommission fest, die das Land bis nächsten Juli beseiti- Vizepräsidentin Petra Pau: gen muss. Es hat den Weg noch nicht erfolgreich beschritten, wie auch ich im vergangenen Juni noch an- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für nahm. Nach wie vor gilt uneingeschränkt: Wer beitritt, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in muss beitragen. Und so muss Zagreb nun nachsitzen. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10817, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksa- In diesem Zusammenhang macht es die EU-Erweite- che 17/10571 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be- rungsmüdigkeit, wie sie in den Worten des Bundestags- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- präsidenten Norbert Lammert mitschwang, Politikern hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung nicht leichter. Es geht längst nicht mehr allein um eine der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen ehrliche und faire Perspektive. Für die Menschen auf Fraktionen des Hauses angenommen. dem Balkan geht es um konkrete Verhandlungen, nicht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: um Versprechungen. Augenmaß und bindende Kriterien sind das, was zählt, nicht das Termingeschäft. Nur das Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schafft Vertrauen und Akzeptanz, besonders nach den richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien, auch oder schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten gerade bei unseren Bürgern im eigenen Land. 23980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Peter Beyer (A) Im Fall Kroatien ist noch eines zu erwähnen: An ei- chen Balkan in der EU darstellen. Nicht allein die Zeit (C) nem Beitritt ist festzuhalten, schon allein wegen der muss reif sein, sondern vor allem der Kandidat. Strahlkraft auf die Nachbarstaaten und dem eigenen Interesse, um die in den 1990er-Jahren aus den Fugen Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): geratene Region für ein friedliches und sicheres Europa weiter zu stabilisieren. Die europäische Perspektive, die die EU den Ländern des westlichen Balkan in der Erklärung des Europäi- Für den Schlüsselstaat Serbien ist ebenfalls kein bal- schen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „Die diges Termingeschäft zu empfehlen, wie es der Antrag Zukunft des westlichen Balkan liegt in Europa“ gab, fordert. Die kürzlichen Äußerungen des serbischen Prä- wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens eine neue sidenten Nikolic über einen möglichen Verzicht Belgrads Form der Realität annehmen. Auch die anderen Staaten auf die EU-Eingliederung, sollte Serbien vor die Wahl des westlichen Balkan sind auf dem Weg nach Europa. zwischen EU und der Anerkennung des Kosovo gestellt Wie die aktuellen Fortschrittsberichte der EU-Kommis- werden, sind dafür ein warnendes Indiz. Die neue Regie- sion vom 10. Oktober für die einzelnen Länder des west- rung in Serbien muss durch Taten zeigen, dass sie lichen Balkan zeigen, ist die europäische Perspektive reformwillig ist. Verbalinjurien wie die des Premiermi- heute näher und konkreter denn je. Allerdings ist sie nisters Dacic vor laufender Kamera: „Scheiß auf die nicht pauschal und ohne Bedingungen und Auflagen zu EU, wenn die Schwulenparade die Eintrittskarte ist“, haben. Daher lehnen wir den Antrag der SPD ab. zeugen nicht vom Willen zu einem positiven Avis zur Auf- Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkan ei- nahme von Beitrittsverhandlungen, der im Frühjahr nen Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, SAP, ein- 2013 denkbar gewesen wäre. Die Zukunft Serbiens liegt geleitet, der sie nach und nach enger an die EU heran- in Europa, die Geschwindigkeit der Annäherung hängt führen soll. In den letzten Jahren waren etliche aber zuallererst vom Land selbst ab. Fortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbst Die Reihe setzt sich fort mit Bosnien-Herzegowina. Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt. Nicht nur, dass Bosnien Ende August eine Frist für Hier ergibt sich noch ein sehr differenziertes Bild. Als Reformen auf seinem Weg nach Europa verstreichen potenzielle Kandidaten gelten nach heutigem Stand ließ. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschen- Albanien sowie Bosnien und Herzegowina und das rechte geforderte Anpassung des Wahlrechts wurde Kosovo. Was Albanien anbelangt, so hat die EU-Kom- ebenfalls nicht umgesetzt. Zusätzlich drohen antieuropä- mission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vom ische, nationalistische Tendenzen, die eine Spaltung des 10. Oktober eine Empfehlung für den Kandidatenstatus Landes voranzutreiben geeignet sind. Mit der Ankündi- ausgesprochen. Die EU hat Albanien in diesem Zusam- (B) gung eines Zahlungsstopps betreffend die bosnische menhang angehalten, seine Reformbemühungen ins- (D) Armee erhöht der bosnische Serbenführer Dodik den besondere in den Bereichen Justiz und öffentliche Ver- Druck, womit er das Land gefährlich nahe an die Situa- waltung sowie bezüglich der Verfahrensregelungen im tion der 1990er Jahre bewegt. Allzu ausgeprägte Klein- Parlament zu intensivieren. Der Kandidatenstatus ist so- staaterei ist in einem zusammenwachsenden Europa mit an weitere Fortschritte und die Umsetzung weiterer nicht zu unterstützen und stellt einen Anachronismus Reformen gebunden. Wir unterstützen diese Haltung der dar. EU. Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seine Verglichen mit der ungeklärten Kosovo-Frage und Verfassung in Einklang mit der Europäischen Men- der prekären Situation in Bosnien-Herzegowina er- schenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabi- scheint die Auseinandersetzung zwischen Mazedonien lisierungs- und Assoziierungsabkommen, SAA, in Kraft und Griechenland um die Namensfrage quasi als Rand- treten kann, und die Grundlagen für einen fundierten notiz. Und doch hat die Region bei allen beschriebenen Beitrittsantrag gelegt werden. Für uns sind darüber Unterschieden in jedem Fall ein gemeinsames Problem: hinaus substanzielle Fortschritte im Hinblick auf die den Exodus junger Menschen ins Ausland. Der Grund Verfassungsreform im Bereich Parlamentskammer und für diese Tendenz ist nicht die hohe Arbeitslosigkeit. Es Präsidentschaft unablässige Voraussetzungen für das ist das fehlende Vertrauen der jungen Menschen in die Inkrafttreten des SAA und einen möglichen EU-Beitritt. Politik und vor allem das Gefühl wirtschaftlicher und sozialer Stagnation, weshalb sie ihrer Heimat – zumin- Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiter- dest zeitweilig – den Rücken kehren. Dabei wäre es von hin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, dass die junge Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption Generation nach Ausbildung und Studium im Ausland in engagieren müssen, um die entsprechenden Reformen im ihrer Heimatländer zurückkehren. Denn sie sind einer Kosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- und der die Zukunft stützenden Pfeiler für Stabilität, Rechts- Assoziierungsabkommen zu unterstützen. staatlichkeit und Demokratie ihrer Länder. Was die Kandidatenländer Mazedonien, Montenegro Wir stehen zu unserem Wort und bieten mehr als eine und Serbien betrifft, möchte ich hervorheben, dass dort ehrliche und faire Perspektive. Uns geht es um eine rea- Fortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehen listische Zukunft und die klare Benennung der tatsächli- weiterhin Defizite. Auch hier gilt – wie für alle Beitritts- chen Möglichkeiten, die Kriterien zu erfüllen, die den kandidaten: Selbst wenn diese Staaten auf ihrem Weg in Schlüssel für jede Mitgliedschaft der Staaten des westli- die EU weiter vorangeschritten sind, bestehen wir da-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23981

Dr. Wolfgang Götzer (A) rauf, dass alle Auflagen und Verpflichtungen der EU er- eine politische Botschaft und unterstreicht damit eine (C) füllt sind, ehe ein Beitritt erfolgt. Verantwortung, der sich niemand der politisch Verant- wortlichen in unserem Land – etwa mit einem populisti- In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir den hoch- schen Gerede über einen Stop der EU-Erweiterung – rangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen in entledigen kann. allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namensstreits Die jüngsten Fortschrittsberichte der EU-Kommis- durch Griechenland blockiert wird. sion und die Erweiterungsstrategie für die Jahre 2012 bis 2013 zeigen in aller Deutlichkeit: Vieles haben Kroa- Montenegro hat insbesondere in den Bereichen tien, Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawische Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Alba- organisierter Kriminalität noch etliche Reformen zu nien und das Kosovo schon erreicht auf dem Weg in meistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kom- Richtung EU, viel muss noch getan werden. Gerade in mission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den zentralen Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grund- den Kapiteln Justiz und Rechtstaatlichkeit zu beginnen. rechte und Justiz gibt es vielfach noch Missstände, Auch die Beitrittsverhandlungen mit Serbien müssen ebenso bei der Reform staatlicher Verwaltung, der Be- unserer Meinung nach insbesondere an weitere Fort- kämpfung von Korruption und Kriminalität, dem Schutz schritte im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess von Minderheiten, der Medienfreiheit und -pluralität sowie einer weiteren Normalisierung der bilateralen Be- und in weiteren Bereichen. ziehungen zum Kosovo gebunden sein. Wie dem Fort- Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir die zentrale schrittsbericht der EU-Kommission zu Serbien vom Bedeutung der Kopenhagener Kriterien stets betont. Wir 10. Oktober zu entnehmen ist, muss Serbien außerdem sind für strenge Beitrittskriterien und erwarten von den Reformen im Bereich Justiz sowie der Bekämpfung von Kandidatenländern und beitrittswilligen Staaten große Korruption und dem organisierten Verbrechen zügig auf Reformanstrengungen. Weder die Erfolge noch die den Weg bringen. Vor diesem Hintergrund werden wir Schwächen der Länder des westlichen Balkan dürfen den europapolitischen Kurs des serbischen Präsidenten kleingeredet werden. Nur eine ehrliche Position der EU Nikolic genauestens verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass er und ehrliche Anstrengungen der Beitrittskandidaten und den Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt. beitrittswilligen Länder werden schließlich zum Erfolg Auch beim Beitrittsland Kroatien legen wir Wert führen. darauf, dass die EU-Kommission ihre bisherige Über- Nun entzünden sich kurz nach der Bekanntgabe der wachung des Beitrittsprozesses fortsetzt. Gerade in An- Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU Debat- betracht des jüngsten durchaus kritischen Fortschritts- (B) ten, welche Teilen der Begründung des Nobelpreiskomi- (D) berichts der EU-Kommission sehen wir Kroatien auch in tees zuwiderlaufen. Was wir hier von einigen Protago- der Pflicht, vereinbarte Fristen einzuhalten und ein an- nisten aus der CDU/CSU innerhalb weniger Tage an gemessenes Reformtempo aufrechtzuerhalten. Wir er- kurzsichtigen und schädlichen Signalen an die Länder warten ein eindeutigeres Bekenntnis Kroatiens zu seiner des westlichen Balkan vernehmen konnten, muss einen europäischen Perspektive und greifbare Erfolge auf sei- schon sehr nachdenklich stimmen. Da erklären führende nem Weg nach Europa. Denn eine Ratifizierung der Bei- Politiker der Union Kroatien neun Monate vor dem ge- trittsurkunde wird es mit uns erst geben, wenn alle Auf- planten Termin für nicht beitrittsreif. Da rufen führende lagen erfüllt sind. Politiker der Union nach einem Erweiterungsstopp. Und der Bundesinnenminister fordert die Aussetzung der Dietmar Nietan (SPD): visafreien Einreise in die EU für Bürgerinnen und Bür- Aus Sicht der Geschichtsschreibung ist es erst einen ger Serbiens und der ehemaligen jugoslawischen Repu- Augenblick her, dass auf dem Balkan blutige Konflikte blik Mazedonien. Das alles sind Schläge in die Gesich- tobten. Nach dem Versagen der internationalen Gemein- ter der europafreundlichen Kräfte in den Ländern des schaft während der Jugoslawienkriege haben die EU westlichen Balkan. Befeuert werden damit mitnichten und Deutschland große Verantwortung in der Region differenzierte Debatten, sondern ungute Stimmungen übernommen, um Frieden zu sichern, Neues aufzu- und Ängste sowohl in der EU als auch in den betroffenen bauen, Versöhnung zu erreichen und schließlich auch Ländern, die uns keinen Schritt weiterbringen. Das Bild die einzelnen Länder sowie die Region als ganze auf Deutschlands und der EU als glaubwürdige und verläss- dem Weg hin zur europäischen Integration zu begleiten. liche Partner wird darunter leiden. Die europäische Integration nach dem Ende des Ob Kroatien reif für den Beitritt am 1. Juli 2013 ist, Zweiten Weltkrieges ist eine große Erfolgsgeschichte des wird sich zeigen. Der Reformwille Kroatiens sollte nicht Friedens und der Verständigung und Zusammenarbeit abgeschrieben, sondern nach Kräften unterstützt wer- unter den Völkern. Es erfüllt mich und – ich denke – alle den. Vor abschließenden Beurteilungen sind die Ent- hier in diesem Hause mit Freude, Respekt und Stolz, wicklungen in Kroatien während der kommenden dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis er- Monate und die Veröffentlichung des letzten Monito- halten wird – ausdrücklich auch für die Friedenswir- ringberichtes der EU-Kommission im Frühjahr 2013 kung ihrer Erweiterungen und ausdrücklich auch unter abzuwarten. Es waren die Vertreter Kroatiens selbst, die Benennung ihrer Anstrengungen zur Integration von immer wieder betonten, dass sie die Kriterien erfüllen Ländern des westlichen Balkan! Dies ist ganz klar auch werden und dabei auch keinen politischen Rabatt erhal-

Zu Protokoll gegebene Reden 23982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dietmar Nietan (A) ten wollen. In unserem heute hier zur Abstimmung vor- ohnehin wirtschaftlich katastrophalen Lage – so lag bei- (C) liegenden Antrag machen wir als SPD-Bundestagsfrak- spielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in Serbien 2011 tion ganz deutlich, dass wir für strenge Beitrittskriterien bei 46 Prozent, in der ehemaligen jugoslawischen Repu- und deren strikte Einhaltung sind. Wir haben zum jetzi- blik Mazedonien bei fast 54 Prozent – stehen sie am un- gen Zeitpunkt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass teren Rand der Gesellschaft. Wir können diese Probleme Kroatien bis zum 1. Juli 2013 die Bedingungen der EU nicht anstelle Serbiens oder der ehemaligen jugos- erfüllen wird. Denn wenn es die Kriterien bis dahin nicht lawischen Republik Mazedonien lösen, wir können nicht erfüllt, wird es zu diesem Termin auch nicht beitreten alle aufnehmen, die ihr Land der Armut wegen verlassen können. Das ist in Kroatien sowohl der Regierung als wollen, aber wir können gemeinsam mit den Regierun- auch der Bevölkerung klar. Wer dies aber bereits jetzt gen nach Lösungen suchen. Armut und Massenarbeits- herbeiredet, schadet mehr, als dass er nützt. losigkeit in Kandidatenländern der EU gehen uns sehr wohl etwas an. Die Türe zuzuschlagen, kann nicht der Die Forderung nach einem Erweiterungsstopp aus richtige Weg sein. den Reihen der Union ist nicht neu. Sie erhält aber eine neue Brisanz, wenn der Bundestagspräsident sie auf- Die Bundesregierung sollte zeitnah schlüssige Kon- greift. zepte aufzeigen, wie sie die Länder des westlichen Bal- kan auf dem nicht immer einfachen und keineswegs Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unions- schnellen Weg hin zu Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und fraktion, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident wirtschaftlichem Aufschwung, letztlich auf dem Weg Lammert, wenn Sie die Position eines Erweiterungs- Richtung EU, unterstützen will. Dazu gehört ganz klar stopps tatsächlich vertreten, fordere ich Sie nun auch auch die Benennung von Schwachstellen. Ob jedoch Ini- dazu auf, in letzter Konsequenz ehrlich und aufrichtig zu tiativen wie der jüngste Besuch des Kollegen sein. Dann müssen Sie jetzt offen und ehrlich sagen, dass Schockenhoff in Belgrad dazu geeignet sind, den Re- sich die EU aus dem 2003 in Thessaloniki gegebenen formwillen vor Ort zu unterstützen, darf bezweifelt wer- Versprechen verabschieden soll, demzufolge alle Staaten den. des westlichen Balkan eine EU-Perspektive haben. Ver- treten Sie Ihre Haltung offen gegenüber der EU-Kom- Besonders drängend stellt sich die Frage nach deut- mission, den Mitgliedstaaten und den Staaten, denen das scher Unterstützung im Fall Bosnien und Herzegowinas. Versprechen gilt! Zu guter Letzt zeigen Sie dann bitte Der vor wenigen Wochen vollzogene Abzug der letzten auch den Weg auf, wie die EU den Spagat zwischen deutschen Soldaten aus der EU-Mission EUFOR Althea einem Bruch ihrer Zusage und ihrer Glaubwürdigkeit darf kein Rückzug aus dem deutschen Engagement in meistern soll; denn ich sehe diesen Weg nicht. Wenn sich und für Bosnien und Herzegowina sein. Das Land mag friedlich sein, stabil ist es noch lange nicht. Nationale (B) die EU von der gegebenen Zusage einer Beitrittsper- (D) spektive abwendet, wird die friedens- und stabilitätsstif- Partikularinteressen in den verschiedenen Landesteilen tende Wirkung dieser Perspektive erlöschen, Reform- blockieren nötige Reformschritte zugunsten des Gesamt- kräfte werden geschwächt, und die betroffenen Länder staates. Der Annäherungsprozess Bosnien und Herzego- werden sich früher oder später anderen Partnern zu- winas an die EU stockt. Auch wirtschaftlich steht das wenden. Dies liegt nicht in unserem Interesse. Und ge- Land schlecht da. Die Europäische Union und Deutsch- nau das wäre die Flucht aus unserer Verantwortung für land müssen vor allem den Aufbau demokratischer und Frieden und Freiheit in ganz Europa! Wieder würde die transparenter Strukturen als Grundlage eines funktio- EU auf dem Balkan versagen, mit möglicherweise dra- nierenden Staates fördern. Zivilgesellschaft und regio- matischen Folgen für den Frieden in dieser Region. nale Kooperation müssen gestärkt werden. Unsere Ver- antwortung für Bosnien und Herzegowina bleibt Noch einige Worte zur Visafrage. Einem Missbrauch bestehen. Dazu gehört auch die Unterstützung des von Asylleistungen muss selbstverständlich entgegen- Engagements des Hohen Repräsentanten der Vereinten gewirkt werden. Die Lösung kann aber nicht sein, gan- Nationen für Bosnien und Herzegowina. Die SPD-Bun- zen Bevölkerungen die visafreie Einreise zu verweigern destagsfraktion fordert daher ausdrücklich, seine Ar- und nun alle Serben und Mazedonier – Bürgerinnen und beitsfähigkeit und sein Büro vor Ort bis zur Erfüllung Bürger von EU-Beitrittskandidaten – unter Generalver- der vereinbarten 5+2-Kriterien zu erhalten. Die dacht zu stellen. Die visafreie Einreise ist die für die Powers des Hohen Repräsentanten sind immer noch Menschen wohl stabilste, greifbarste Brücke nach Eu- eine tragende Säule der staatlichen Integrität Bosnien ropa. Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten, Tou- und Herzegowinas und dürfen daher nicht ausgehölt risten, Familienangehörige, Teilnehmer von Jugendaus- werden. tauschprogrammen – wollen wir für alle diese Menschen das Überqueren der Brücke erschweren? In Verbindung Weil uns die Integrations- und damit Zukunftsfähig- mit dem Ruf nach einem Erweiterungsstopp ist dies ein keit der EU sehr am Herzen liegt, erwarten wir Sozial- überdeutliches Signal, das sagt: „Wir wollen euch demokraten von Kroatien, Serbien, Montenegro, der nicht.“ Ein falscheres Signal können wir nicht senden. ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Bos- nien und Herzegowina, Albanien und Kosovo große Re- Auch lohnt sich ein zweiter Blick darauf, wer die formanstrengungen und die Erfüllung aller nötigen Kri- Menschen eigentlich sind, die da Asylanträge stellen. Es terien. Aber auf eines können sich die Menschen in gibt in Staaten des westlichen Balkan leider immer noch diesen Ländern verlassen: Von unserer Seite bleibt die große Probleme bei der Integration von Sinti und Roma. Hand dabei ausgestreckt, wir stehen zu dem, was wir als Sie leiden unter Diskriminierung und Armut. Bei einer EU den Menschen des Westbalkan versprochen haben.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23983

Dietmar Nietan (A) Es wäre ein wichtiges Signal, wenn auch die CDU/CSU- mit Fortschritten bei den Verhandlungen mit Kosovo (C) Fraktion in diesem Haus ein solches Signal der Verläss- erst einmal rechtfertigen. lichkeit und des Verantwortungsbewusstseins aussenden Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, mit würde. Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkom- men auszuhandeln. Das hört sich heute nach einem tech- Dr. Rainer Stinner (FDP): nischen Schritt an, ich möchte aber daran erinnern, dass Eine Woche nach der Veröffentlichung der Fort- diese Perspektive noch vor wenigen Jahren ganz, ganz schrittsberichte der Europäischen Union ist ein guter weit entfernt schien. Zeitpunkt für diese Debatte. Ich weiß, dass die Fort- Ich habe bereits in der ersten Debatte zu diesem An- schrittsberichte, gerade wenn sie kritisch ausfallen, von trag deutlich gemacht, warum wir ihm wegen verschie- den Beitrittsländern leicht als zusätzliches Hindernis dener Einzelpunkte nicht zustimmen können, obwohl wir angesehen werden. Von manchen innerhalb der EU wer- uns glücklicherweise in diesem Haus über die Grund- den sie ebenfalls manchmal gerne als Vorwand genom- linien sehr einig sind. Ich möchte aber noch eine Bemer- men, den gesamten Prozess aufzuhalten oder zumindest kung zum Titel des Antrags machen: „ehrliche und faire zu verzögern. Wir Liberale lehnen jegliche Versuche die- europäische Perspektive“. Denn wenn wir ehrlich sind, ser Art mit Nachdruck ab. Die Fortschrittsberichte sind dann müssen wir zugeben, dass wir im Grunde nicht eine Hilfestellung auf dem Weg zum Beitritt. Sie können wirklich fair sind. Die jetzigen Beitrittsländer müssen und dürfen für keine anderen Zwecke missbraucht wer- höhere Anforderungen erfüllen als frühere. Wir schauen den. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten heute wesentlich genauer hin. Natürlich würden wir mit fällen Entscheidungen dann, wenn sie anstehen. Bei- dem ganzen Serbien/Kosovo-Problem anders umgehen, trittskandidaten werden danach beurteilt, was sie zu die- wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Zypern gemacht sem Zeitpunkt erreicht haben – und nicht ein halbes Jahr hätten. Wir würden auch bei Kroatien weniger genau vorher. Ich sage ausdrücklich, dass dies auch uneinge- hinschauen, wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Ru- schränkt für Kroatien gilt. Wir sind optimistisch, dass mänien und Bulgarien gemacht hätten. Europa hat aus das Land die noch offenen Aufgaben bis 2013 abarbei- seinen Fehlern gelernt, und das hat Konsequenzen für ten kann. Wir ermutigen Kroatien, dies zu tun, und hal- die Kandidatenländer. Das sollten wir ehrlich zugeben. ten nichts von Vorverurteilungen. Diese Strategie liegt aber auch im Interesse der Länder. Diese wollen einer starken und handlungsfähigen Union Die diesjährigen Fortschrittsberichte zeigen – wie beitreten. Dazu müssen die Kandidatenländer besser immer – Licht und Schatten. Zwei besonders dunkle Ka- werden, aber auch wir müssen besser werden. Daran ar- pitel, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, bilden beiten wir. (B) Bosnien-Herzegowina und Makedonien. Die Kommis- (D) sion hat jetzt zum vierten Mal die Aufnahme von Bei- trittsverhandlungen mit Makedonien empfohlen, was Thomas Nord (DIE LINKE): von Griechenland weiter wegen der ungelösten Namens- Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive frage blockiert wird. Dieser Fall gefährdet die Glaub- der Staaten des westlichen Balkan, so heißt der Antrag würdigkeit unseres gesamten konditionierten Ansatzes. der SPD, den wir heute debattieren. Zur ehrlichen De- Wenn ein Land Fortschritte macht, aber trotzdem keinen batte gehört auch der Blick in die Vorbedingungen der Schritt weiterkommt, dann ist das ein extrem schlechtes jetzigen Situation. Und da muss immer wieder darauf Beispiel für alle anderen Beitrittsländer. Bei allem Ver- hingewiesen werden, dass die schwarz-gelbe Regierung ständnis für die aktuelle Lage in Griechenland, ich 1991 durch ihre vorzeitige Anerkennung von Slowenien glaube, wir müssen hier mehr Nachdruck entwickeln. und Kroatien Mitverantwortung für die Eskalation der nationalistischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien Das andere dunkle Kapitel ist Bosnien-Herzegowina: hat. Zur ehrlichen Debatte gehört auch die Feststellung, Die Reform des Wahlrechts ist nicht vorangekommen. So dass die rot-grüne Regierung die Verantwortung für den lange wird es auch keine weiteren Annäherungsschritte völkerrechtswidrigen Angriff auf Rest-Jugoslawien im an die EU geben können. Sie alle hier kennen meine Jahr 1999 trägt. Meinung, dass die internationale Gemeinschaft hier In dem heute zu debattierenden Antrag finden wir nicht eingreifen sollte, sondern im Gegenteil, die Institu- dennoch viele richtige Ansätze. Die Linke begrüßt die tion des Internationalen Hohen Repräsentanten abge- Aussage, den EU-Erweiterungsprozess nicht zu stoppen schafft werden sollte. Ich bin aber sehr froh, dass Valentin und die Zusagen des Europäischen Rates von Thessalo- Inzko sich in der aktuellen Lage völlig richtig verhält, niki nicht infrage zu stellen, obwohl die EU selbst im indem er auf die Eigenverantwortung der Politiker des Moment nicht mehr eine so attraktive Ausstrahlung hat Landes pocht und nicht für einen vermeintlich leichten wie noch 2003. Die EU-Mitgliedschaft bietet für die Ausweg sorgt. Das Land muss diesen Schritt selber ge- Staaten des Westbalkan dennoch eine große Chance auf hen. Nur dann zeigt es seine Europatauglichkeit. eine dauerhaft friedliche Perspektive. Angesichts der aktuellen Fortschrittsberichte ist dies aber eine Jahr- Zu Serbien: Die Kommission hat keine Aufnahme von hundertaufgabe und keine schnell zu lösende Herausfor- Beitrittsverhandlungen empfohlen. Ich halte das für derung. richtig. Mit der Verleihung des Kandidatenstatus im März hat die EU meiner Ansicht bereits eine Vorleistung Auch wir stehen dazu, dass die Beilegung regionaler erbracht. Serbien muss diesen Vertrauensvorschuss nun Konflikte und die Anerkennung bestehender Grenzen

Zu Protokoll gegebene Reden 23984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Thomas Nord (A) Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sind. In den sel- blick auf den Grenzverlauf sind mit Serbien, Montenegro (C) tensten Fällen kann man die Grenzstreitigkeiten in der und Bosnien-Herzegowina keine konkreten Fortschritte Region als bilateral bezeichnen, wie dies im Antrag ge- erzielt worden. Die Romaminderheit lebt unter beson- tan wird. Deshalb hat sich die Linke gegen die einseitige ders schwierigen Bedingungen. Bildung, Sozialschutz, Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und der Zugang 2008 ausgesprochen. zu Personaldokumenten sind weiterhin problematisch. Bundestagspräsident Lammert fordert angesichts der Wir begrüßen, dass Serbien nun den Status eines Bei- Bewertung der Fortschritte in Kroatien einen Stopp der trittskandidaten hat. Allerdings muss hier zur Ehrlich- EU-Erweiterung. Auch die negativen Erfahrungen der keit hinzugefügt werden, dass die Vorbedingung der An- Beitritte von Bulgarien und Rumänien könnten nicht erkennung eines unabhängigen Kosovo durch Serbien ignoriert werden. Die EU müsse sich erst selber stabili- sich noch als ein Pferdefuß für den gesamten Westbalkan sieren, bevor sie sich erweitern könnte. Hier deutet sich herausstellen kann. Denn die einseitige Unabhängig- ein politischer Kurswechsel an, der die Lösung der keitserklärung im Jahr 2008 wird mit dem Gutachten Krise eher in der Konzentration auf ein Kerneuropa bzw. des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zur ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sieht. Blaupause für weitere territoriale Aufsplitterungen im ehemaligen Jugoslawien. Innenminister Friedrich stößt in das gleiche Horn. Er will die Visumspflicht für die Balkanstaaten Bosnien- Mit der Ankündigung eines Zahlungsstopps betref- Herzegowina, Albanien, Mazedonien, Serbien und Mon- fend die bosnische Armee ist der Ministerpräsident der tenegro wieder einführen. Er bekommt von der EU-In- Republik Srpska, Milorad Dodik, bereits einen weiteren nenkommissarin Malmström hierin Unterstützung. Erst Schritt in Richtung seines politischen Vorhabens gegan- im Juni hat die EU Beitrittsverhandlungen mit Monte- gen, Bosnien-Herzegowina aufzulösen. Das Haltbarkeits- negro beschlossen, obwohl das Land als eines der kor- datum Bosniens sei schon längst abgelaufen, so Dodik ruptesten Länder der Welt gilt. Gegen den gerade ge- Anfang Oktober. Er fordert ein Referendum zur Ablö- wählten Premierminister Milo Djukanovic laufen in sung von Srpska aus Bosnien ein. Niemand wird nach ei- mehreren westeuropäischen Ländern Verfahren gegen nem der Sezession zustimmenden Referendum glaub- groß angelegten Zigarettenschmuggel. Seine Familie ist würdig begründen können, warum für Srpska nicht in zahlreiche Affären verstrickt. Justiz und Medien ste- gelten soll, was für Kosovo rechtens ist. Die aktuellen hen unter dem Einfluss der Regierung. Erwägungen, das Büro des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina ins Ausland zu verlagern, Angesichts der realen Lage auf dem Westbalkan ist spielen dieser Entwicklung in die Hände. Deshalb ist schwer nachvollziehbar, warum in der jetzigen Situation (B) aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, warum die EU noch von Fortschrittsberichten gesprochen wird. Es sind (D) in dieser problematischen Situation mit dem Kosovo Stagnations- oder sogar Rückfallberichte, die wir hier noch einen Schritt weitergeht. Trotz der Tatsache, dass zur Kenntnis nehmen müssen. Große Teile des Balkan fünf Mitgliedstaaten – Spanien, Griechenland, Slowakei, innerhalb und außerhalb der EU sind heute wieder poli- Rumänien und Zypern – das Kosovo nicht als eigenstän- tische und ökonomische Zonen der Instabilität. Gerade digen Staat anerkennen, will sie einen Stabilisierungs- deswegen ist es wichtig, an der Idee von einem friedlich und Assoziierungsabkommen auf den Weg bringen. In geeinten Kontinent festzuhalten. der mit den Fortschrittsberichten veröffentlichten Mach- barkeitsstudie heißt es auf Seite 4: „Die Assoziierung Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE des Kosovo mit der Europäischen Union ist mit der Tat- GRÜNEN): sache vereinbar, dass die Mitgliedstaaten der Union un- terschiedliche Standpunkte in Bezug auf den völker- Der Westbalkan bleibt eine fragile und gefährliche rechtlichen Status des Kosovo haben.“ Es scheint, als Krisenregion. Es bestehen Spannungen und ungelöste sollte hier das Krisenpotenzial des Westbalkan in die EU Konflikte. Die Gefahr eines erneuten Gewaltausbruchs selber hineingetragen werden. ist leider immer noch nicht gebannt. Die Region benötigt trotz Euro-Krise eine hohe Aufmerksamkeit der europäi- Bosnien-Herzegowina ist derzeit das räumliche und schen Politik. politische Krisenzentrum. In dem Fortschrittsbericht ist die Rede davon, dass Korruption sowohl im öffentlichen Die 2003 in Thessaloniki eröffnete Beitrittsperspek- Sektor als auch im Privatsektor noch immer ein weitver- tive ist ein wichtiges Instrument für Stabilität und Frie- breitetes und gravierendes Problem ist. Die Zersplitte- den auf dem Westbalkan. Der voraussichtliche Beitritt rung der Polizeikräfte in Bosnien und Herzegowina Kroatiens am 1. Juli 2013 und die Aufnahme von wirkt sich nach wie vor nachteilig auf die Effizienz, die Beitrittsverhandlungen mit Montenegro sind richtige Zusammenarbeit und den Informationsaustausch aus. Signale. Sie zeigen, dass die Europäische Union weiter Die Roma sehen sich nach wie vor mit sehr schwierigen zu der Thessaloniki-Agenda steht. Umso beunruhigen- Lebensbedingungen und mit Diskriminierung konfron- der sind aktuelle Äußerungen, die unnötigerweise den tiert. Positive Wandlungen können kaum festgestellt Beitritt Kroatiens und die Visumfreiheit für Serbien und werden. Montenegro in frage stellen. Gerade die Reisefreiheit lässt die Menschen auf dem Westbalkan die Vorzüge der Kroatien soll am 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaat Annäherung an die Europäische Union konkret erleben. der EU werden, aber der Fortschrittsbericht zählt zehn Der Austausch fördert das Zusammenwachsen des Punkte auf, die der Aufnahme entgegenstehen. Im Hin- Kontinents und trägt die Erfahrung demokratischer

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23985

Marieluise Beck (Bremen) (A) Bürgergesellschaften in die Transformationsländer Süd- große Sorge. Dieser Zustand zeigt, dass Anreizpolitik (C) osteuropas. und Ownership allein nicht ausreichen, um Reformen anzustoßen. Die Europäische Union hat die weiterhin Der anstehende Beitritt Kroatiens ist ein Bespiel für bestehende Nachkriegsordnung 1995 in Dayton mit ver- die Reformkraft, die der Beitrittsprozess auslösen kann. fasst. Sie hat deshalb nicht nur ein eigenes Interesse, Die EU-Kommission hat aus den vorangegangenen sondern auch eine Verantwortung, die diskriminierende Erweiterungen gelernt und auf strikte Konditionalität und undemokratische Dayton-Verfassung zu überwin- geachtet. Diese Strategie hat in Kroatien Wirkung ge- den. Nur so kann das Land regierbar werden und sich zeigt. Es ist klar, dass auch die anderen Staaten des auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten. Westbalkans nur beitreten können, wenn sie die Bedin- gungen vollständig erfüllen. Politische Rabatte kann es Auch wenn die Kräfte der Europäischen Union durch nicht geben. die Euro-Krise stark gebunden sind, ist eine aktive West- balkan-Politik dringend nötig. Deutschland sollte mit Eine rein technische Erweiterungslogik ist allerdings seinen zahlreichen Verbindungen in die Region und sei- nicht ausreichend. Einzelne Länder drohen dabei auf nem Gewicht innerhalb der Europäischen Union voran- der Strecke zu bleiben, weil bestehende Konflikte nur gehen und die Initiative auf dem Westbalkan ergreifen. schwer zu lösen sind und ein Fortkommen verhindern. Deshalb muss die Europäische Union ihr Prinzip von Anreiz und strikter Konditionalität durch eine aktive Vizepräsidentin Petra Pau: Politik ergänzen, die die bestehenden Konflikte zu lösen Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus- sucht. Nur so kann Chancengleichheit zwischen den schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf zukünftigen Beitrittsländern hergestellt werden. Und nur Drucksache 17/11034, den Antrag der Fraktion der SPD so können die Länder möglichst zeitnah zueinander auf Drucksache 17/9744 abzulehnen. Wer stimmt für beitreten. Sollten einzelne Staaten von der Annäherung diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – an die Europäische Union abgehängt werden, drohen Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den sich die bestehenden Spannungen zu verstärken – mit Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der nicht absehbaren Folgen. Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Frak- tion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Viele der bestehenden Konflikte auf dem Westbalkan angenommen. sind ohne eine Einigung der europäischen Politik nicht zu lösen. Die Europäische Union muss sich deshalb auf Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: gemeinsame Grundsätze in der Westbalkanpolitik eini- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gen. Allem zugrunde muss ein klares Bekenntnis zur gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (B) Unverrückbarkeit der Grenzen liegen. Vereinzelte rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und (D) Vorschläge, Länder entlang ethnischer Grenzen zu spal- anderer umweltrechtlicher Vorschriften ten, bergen unabsehbare Risiken für mögliche Ketten- reaktionen. Denn in der gesamten Region ist das Zusam- – Drucksache 17/10957 – menleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Überweisungsvorschlag: und Minderheiten fragil. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Auch gegenüber den einzelnen Ländern des Westbal- kan muss die Europäische Union Einigkeit herstellen. So Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir kann der Aufbau des Rechtsstaats im Kosovo durch die die Reden zu Protokoll. EU-Mission EULEX nur gelingen, wenn alle Mitglieder der Europäischen Union das Land anerkennen und Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): EULEX nicht länger statusneutral agieren muss. Weil Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des eine Teilung des Kosovo aus den genannten Gründen Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umwelt- nicht hingenommen werden kann, ist von Serbien der rechtlicher Vorschriften klingt zunächst technisch und Abbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo zu fordern. wenig spektakulär. Allerdings geht es darin um nicht we- Vorher kann es keine Beitrittsverhandlungen mit Serbien niger als um die künftige Infrastruktur in Deutschland, geben. Auf lange Sicht ist für den Beitritt Serbiens eine um den Umbau unserer Energieversorgung, es geht um Anerkennung des Kosovo nötig. Denn gute Nachbar- die Beteiligung der Öffentlichkeit bei großen Bauvor- schaft ist ein Grundprinzip der Europäischen Union. haben wie etwa Industrieanlagen, und es geht vor allem Andernfalls könnten die Länder gegenseitig den Beitritt um die Stellung der Umweltverbände im deutschen blockieren oder später durch Blockaden innerhalb der Rechtsgefüge. Union deren Funktionsfähigkeit bedrohen. Was ist der Hintergrund? Mit Urteil vom 12. Mai Der Namensstreit zwischen Griechenland und Maze- 2011 hat der Europäische Gerichtshof den deutschen donien muss endlich beendet werden, damit Mazedonien Umweltverbänden mehr Klagerechte zugebilligt. Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. In Montenegro Danach können diese grundsätzlich in einem gerichtli- sollten wir in den Bereichen Korruption und organisier- chen Verfahren auch die Verletzung der objektiven maß- ter Kriminalität genauer hinsehen, wenn der Reform- geblichen Umweltvorschriften des Unionsrechts geltend prozess durch die beginnenden Beitrittsverhandlungen machen. Den Umweltverbänden werden demnach we- ein Erfolg werden soll. In Bosnien und Herzegowina be- sentlich mehr Klagerechte eingeräumt, als das geltende reiten zwei Jahre Dauerblockade und völliger Stillstand deutsche Recht derzeit vorsieht. Diese weitergehende 23986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Thomas Gebhart (A) Regelung leitet der EuGH aus der Umweltverträglich- Maßnahmen diesen Ausgleich zu schaffen. Sofern die (C) keitsrichtlinie, Richtlinie 85/337/EWG des Rates über Umweltverbände die Verletzung objektiven Umwelt- die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öf- rechts rügen, müssen sie bestimmte Fristen einhalten fentlichen und privaten Projekten, ab, die seiner Ansicht und ihre Klagen ausreichend begründen. Dies ist im An- nach umfassendere Klagemöglichkeiten für die Umwelt- gesicht der Herausforderungen, beispielsweise im Be- verbände vorsieht. Nach geltendem deutschem Recht reich der Energieversorgung, durchaus angemessen. sind Umweltverbände bislang weitestgehend klage- befugten Personen gleichgestellt. Das deutsche Rechts- Durch die flankierenden Maßnahmen stellen wir schutzsystem geht im Ansatz – nicht nur in diesem sicher, dass Umweltverbände sich weiterhin genau über- Bereich – vom Individuum und dessen subjektiven Rech- legen, gegen welche Großvorhaben sie aufgrund ihrer ten aus. Den Umweltverbänden soll mit dem Urteil jetzt erweiterten Befugnisse künftig Klage erheben. Dadurch die Möglichkeit gegeben werden, auch die Verletzung wollen wir in der konkreten Ausgestaltung sicherstellen, objektiver Umweltrechtsvorschriften zu rügen. Die Öff- dass sich die Rahmenbedingungen bei Vorhaben wie nung der Verbandsklage im Verwaltungsverfahren und zum Beispiel Infrastrukturprojekten im Energie- oder im der Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeutet ein Novum, das Verkehrsbereich nicht so verändern, dass sich diese auch in der deutschen Rechtswissenschaft nicht unum- kaum noch durchsetzen lassen. Geschaffen werden soll stritten ist. Dadurch wird die Kontrollfunktion der ein konstruktives Miteinander. Wir wollen, dass die Um- umweltrechtlichen Verbandsklage erweitert. Klage- weltverbände gestärkt und die Umwelt geschützt wer- gegenstand kann nun beispielsweise auch die Wieder- den. Wir wollen aber auch, dass in Deutschland auch herstellung der Artenvielfalt sein. Bei dieser Herange- künftig wichtige Infrastrukturprojekte entstehen. Wir hensweise sprechen viele von einer Zäsur im deutschen wollen, dass die Akzeptanz von Großprojekten steigt und Rechtsschutzsystem. eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung geschaffen wird, und wir wollen, dass Deutschland Industrieland bleibt Die Bundesregierung hat sich deshalb sehr intensiv und Investitionen in Deutschland weiter stattfinden. mit der Thematik befasst. Der Gesetzentwurf setzt die Dass der Bundesrat die komplette Abschaffung des § 4 europäischen Vorgaben in nationales Recht um. Da Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fordert, ist aus meiner Deutschland auch nach der Aarhus-Konvention eine er- Sicht unverständlich. Auch den Ländern sollte daran ge- weiterte Verbandsklage im Umweltrecht zulassen muss, legen sein, dass wichtige Großprojekte realisiert werden ergibt es sich, dass die erweiterte Verbandsklage nicht können. nur im Bereich der unionsrechtlich basierten Umwelt- vorschriften, sondern künftig auf den gesamten deut- Darüber hinaus werden weitere europarechtliche Er- schen Bestand der Umweltrechtsvorschriften Anwendung fordernisse mit dem Gesetzentwurf in deutsches Recht (B) findet. Durch die Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfs- umgesetzt. Beispielsweise wird eine UVP-Pflicht für (D) gesetzes wird sichergestellt, dass den Umweltverbänden Projekte zur Verwendung von Ödland oder naturnahen diese hinreichenden Klagebefugnisse eingeräumt wer- Flächen zu intensiver Landwirtschaftsnutzung geschaf- den. fen und künftig im Umwelt-Verträglichkeitsprüfungs- gesetz des Bundes geregelt. Alles in allem hat der Gesetzentwurf aber viel Kritik erfahren. Auch ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Der Gesetzentwurf wird nun in den Ausschuss über- betonen, dass Deutschland beschlossen hat, seine Ener- wiesen. Am kommenden Montag findet eine Anhörung gieversorgung umzubauen. Wir benötigen neue Netze. statt. Ich bin davon überzeugt, dass der eingeschlagene Es werden neue Offshorewindenergieanlagen gebaut. Weg im Ergebnis von den Sachverständigen bestätigt Wir benötigen zur Überbrückung lastschwacher Zeiten wird. hocheffiziente und flexible Gaskraftwerke. Bei diesen Bau- und Großvorhaben sind in vielen Fällen Umwelt- verträglichkeitsprüfungen oder Überprüfungen nach Josef Göppel (CDU/CSU): dem Bundesimmissionsschutzgesetz notwendig. Glei- Ich begrüße den Entwurf zur Neugestaltung des Um- ches gilt bei Verkehrsprojekten oder Deponien. Mit der welt-Rechtsbehelfsgesetzes. Durch das Trianel-Urteil Neuregelung werden nun bei allen diesen Vorhaben des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai 2011 wurde auch die weitergehenden Klagerechte für die Umwelt- Deutschland veranlasst, das Verbandsklagerecht zu än- verbände greifen. dern. Das Gericht beanstandete die Beschränkungen auf die Verletzung subjektiver Rechte. Es ist schade, dass Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte ge- Deutschland erst nach mehrmaliger Aufforderung durch richtlich angefochten. Dies führt – in einigen Fällen den Gerichtshof in Luxemburg die Mitbestimmungs- auch begründet – zu erheblichen Verzögerungen, die mit rechte seiner Bürger erweitert. Deutschland gehört zu hohen Kosten für die Unternehmen und schlussendlich den Mitgliedsländern der Europäischen Union, die Kla- damit auch die Verbraucher verbunden sind. Die Indus- gerechte noch immer einschränken. Deswegen hat die trie fürchtet daher weitere Verfahrensverzögerungen bei Europäische Kommission Ende September ein Verfahren Großprojekten. Es geht deshalb auch darum, ökologi- wegen Vertragsverletzung eingeleitet. sche Gegebenheiten mit ökonomischen Erfordernissen in Einklang zu bringen. Ich begrüße daher außerordent- Erst durch den neuen Gesetzentwurf werden Umwelt- lich, dass mit dem Gesetzentwurf bewusst ein Ausgleich verbandsklagen den Individualklagen gleichgestellt. geschaffen wird. Danach sieht der Gesetzentwurf in § 4 a Künftig können auch Verbände gegen Verletzungen aller Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor, mit flankierenden umweltrechtlichen Vorschriften Klage einreichen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23987

Josef Göppel (A) Dennoch beschreitet Deutschland noch immer einen Deutschland wegen nicht EU-rechtmäßiger Umsetzung (C) Sonderweg. Das Klagerecht bleibt eingegrenzt. Die der Aarhus-Konvention und der Richtlinie zum Zugang „flankierenden Regelungen“ eines neuen § 4 a UmwRG zu Gerichten, sondern der EuGH als Überbringer der schränken Klagerechte auf folgende Weise ein: schlechten Nachrichten. Hört sich so ein Minister an, der Einsicht zeigt und die aufgezeigten Rechtswidrigkei- Erstens. Die Einführung einer Klagebegründungs- ten in der Gesetzgebung aktiv und zur allgemeinen Zu- frist. Zweitens. Das Gericht muss den Sachverhalt einer friedenheit lösen will? Ich denke kaum. behördlichen Entscheidung nur formal auf Vollständig- keit hin überprüfen, nicht jedoch auf inhaltliche Fehler Dabei haben wir als Arbeitsgruppe Umwelt der SPD- oder Lücken. Drittens. Ein Gericht kann erhöhte Anfor- Bundestagsfraktion schon vor Jahren im Plenum mit ei- derungen an die aufschiebende Wirkung von Rechtsbe- ner Erklärung nach § 31 GO auf die Unionsrechtsmän- helfen anordnen. gel im Rechtsbehelfsgesetz hingewiesen. Die Beschrän- kung der Rügebefugnis von Umweltverbänden auf Auch der Bund der deutschen Verwaltungsrichter drittschützende Normen ist offensichtlich eine politisch sieht hier eine Gefahr. Er befürchtet, dass Deutschland motivierte Fehleinschätzung gewesen. die Vorgaben aus Brüssel nicht weit genug umsetzt. Die Verwaltungsrichter hegen weiter Bedenken gegen den Nun scheint sich diese Erkenntnis bei Herrn Altmaier neuen § 4 a UmwRG. Dieser Position schließe ich mich auch durchgesetzt zu haben, der Richterspruch des an. Der Bundesrat hat sich bereits im September für das EuGH hat seinen Reflexionsprozess aber nicht ausrei- Streichen der „flankierenden Maßnahmen“ ausgespro- chend angeregt. Betrachtet man den jetzt vorliegenden chen. Entwurf, so ist immerhin der eben angesprochene Fehler geheilt. Allerdings hat der Gesetzentwurf im Beratungs- Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass verfahren vom ersten Entwurf bis zur heutigen Vorlage Genehmigungen bei fehlerhaften Umweltverträglich- an anderen Stellen Änderungen erfahren, die wieder mit keitsprüfungen aufgehoben werden müssen. Hier muss einiger Wahrscheinlichkeit EU-rechtswidrig sein wer- rechtliche Klarheit geschaffen werden. den. Anerkannte Umweltverbände werden in ihren Rech- Die besagten Änderungen gehen auf Interventionen ten durch die Änderungen zwar gestärkt – das Klage- und ein Positionspapier des Bundesverbandes der Deut- recht ist ein wichtiger Schritt zur Mitgestaltung – den- schen Industrie, BDI, zurück, dessen Formulierungsvor- noch erfüllen die deutschen Vorschläge noch nicht alle schläge – flankiert durch das Bundeswirtschaftsministe- europäischen Anforderungen. Es muss mit weiteren Nie- rium – dann auch teilweise in die Vorlage des BMU derlagen vor dem Europäischen Gerichtshof gerechnet übernommen wurden. Man fragt sich doch manchmal, (B) werden. In Deutschland machen Umweltverbandsklagen wer im BMU eigentlich die Hosen anhat. (D) im Übrigen nur 0,03 Prozent aller Verwaltungsgerichts- verfahren aus. Die Angst vor einer Klageflut ist also Der BDI und das BMWi sind beide nicht eben dafür nicht begründet. bekannt, eine breite Öffentlichkeitsbeteiligung bei Pla- nungs- und Genehmigungsverfahren zu befürworten, Andere europäische Länder haben es vorgemacht. wie sie der heutigen Zeit und den komplexen Problem- Auch wir sollten die Bürger stärker einbinden. Dafür stellungen in diesen Verfahren angemessen wäre. Viel- müssen neue Möglichkeiten der Partizipation geschaf- mehr argumentieren sie mit der Straffung der Verfahren, fen werden. indem Bürger- und Verbänderechte eingeschränkt wer- den sollen und der Zugang zu Gerichten erschwert wer- Dr. Matthias Miersch (SPD): den soll. Dass auf europäischer Ebene und darüber hi- Es ist eine traurige Angelegenheit, die es heute zu be- naus durch die Aarhus-Konvention schon seit Jahren sprechen gilt. Und es hätte nicht so weit kommen müs- genau das Gegenteil, nämlich eine Stärkung der Bürger- sen, das steht fest. Die handwerklichen Fehler im Um- und Verbänderechte, vorangetrieben wird, wird vom welt-Rechtsbehelfsgesetz waren schon länger klar, der BDI und BMWi, und nun anscheinend auch vom BMU, Reformbedarf ist offensichtlich. Die notwendigen Klar- leider ignoriert. stellungen und inhaltlichen Verbesserungen der in unse- Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hat diese rer Zeit enorm wichtigen Beteiligungsrechte nun auf die anachronistische Einstellung mit seiner Forderung un- vom Minister Altmaier vorgelegte Art und Weise ange- terstrichen, man müsse europäisches Naturschutzrecht hen zu wollen, zeigt schlicht, dass es in dieser Sache mal eben bei der Planung von Stromleitungen außer überhaupt kein Problembewusstsein gibt. Kraft setzen können. Im BDI-Positionspapier liest sich Diese mangelnde Ernsthaftigkeit wurde durch Herrn das dann so: „Vor dem Hintergrund der aktuellen politi- Minister Altmaier auf einer Pressekonferenz vom schen Bemühungen zur Beschleunigung von Planungs- 16. August 2012 erneut auch persönlich zur Schau ge- und Genehmigungsverfahren ist die Ausweitung der stellt: Angesprochen auf das Umwelt-Rechtsbehelfsge- Klagerechte kontraproduktiv“ und „Der Ausweitung der setz, erklärte er, und ich zitiere: „Das hat uns der EuGH Klagerechte für Verbände hinsichtlich des Gerichtszu- eingebrockt“. gangs müssen interessengerechte Beschränkungen ge- genüberstehen, um die Ausgewogenheit des deutschen Das Rechtsverständnis des Juristen Altmaier ist be- Rechtsschutzsystems zu gewährleisten“. Zu diesem merkenswert: Nicht die handwerklichen Fehler des Ge- Zweck wurden daher im Gesetzentwurf die Präklusions- setzes sind schuld an der Verurteilung der Bundesrepublik regeln verschärft und formale Hürden in der Verwal- 23988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Matthias Miersch (A) tungsgerichtsordnung geschaffen, die mit einem hohen Vorschriften vor, um insbesondere bei dieser Problema- (C) europarechtlichen Risiko verbunden sind. Ein Schelm, tik Abhilfe zu schaffen. wer bei dem aktuell vorliegenden Entwurf des BMU nun Böses denkt. Umweltverbände sind damit nicht mehr auf die Gel- tendmachung von Grundrechtsverstößen beschränkt, die Wir haben auf Basis dieser Überlegungen eine Sach- auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu einer verständigenanhörung im Umweltausschuss beantragt Klage berechtigen würden. Mit seinem Urteil hat der und werden das weitere Gesetzgebungsverfahren kri- EuGH die Rechte von anerkannten Umwelt- und Natur- tisch begleiten. Ziel des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes schutzverbänden in Deutschland damit gestärkt. Diese muss nicht nur seine EU-Konformität sein, sondern auch können nun auch die Beachtung eines vorsorgenden dem Geist des Gesetzes muss Rechnung getragen wer- Umweltschutzes, beispielsweise im Bereich der Luftrein- den: Vorausschauende, transparente und bürgernahe haltung und des Artenschutzes, einfordern. Dies geht Planungsverfahren mit breiten Beteiligungsmöglichkei- deutlich über die bisherigen Klagerechte hinaus. ten für Betroffene und Verbände werden letztlich dazu führen, Genehmigungsprozesse zu beschleunigen und Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es, neben weniger kostenintensiv zu gestalten. Wer erst alles der europarechtlich gebotenen Ausweitung des Ver- durchwinkt und sich nachher auch noch über Ärger bandsklagerechts auch einen Ausgleich zwischen Um- wundert, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. weltschutz und der Verwirklichung von Großprojekten zu schaffen, beispielsweise solchen, die zur Umsetzung der Energiewende notwendig sind, aber auch Vorhaben Judith Skudelny (FDP): der Wirtschaft, um Arbeitsplätze in Deutschland zu hal- Derzeit bestimmt § 2 des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset- ten. Es geht insgesamt nicht nur um Projekte wie den zes, UmwRG, dass den Umweltverbänden nur dann ein Bau von Automobilfabriken, Stahl- oder Kohlekraftwer- eigenes Klagerecht zusteht, wenn sie Vorschriften rügen, ken, sondern auch um den dringend notwendigen Aus- die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begrün- bau der Stromnetze und Speicherkraftwerke. Wenn man, den und für die Entscheidung von Bedeutung sein kön- wie die Grünen, mit Nachdruck den Ausstieg aus der nen. Atomkraft und die Energiewende gefordert hat, dann muss man jetzt auch ehrlich zu den Bürgern und konse- Genau diese Beschränkung stellt heute das Problem quent im Handeln sein. dar. Nach dem sogenannten Trianel-Urteil des Europäi- schen Gerichtshofs (EuGH C-115/09) vom 12. Mai 2011 Art. 1 des Gesetzentwurfs enthält die zur Umsetzung sind Vorschriften des deutschen Umwelt-Rechtsbehelfs- des Trianel-Urteils notwendigen Änderungen des (B) gesetzes über den Gerichtszugang nicht mit Art. 10 a der UmwRG. Dazu ist vorgesehen, bei der Umweltverbands- (D) UVP-Richtlinie der EU – jetzt Art. 11 – vereinbar, soweit klage die bisherige Beschränkung der Rügebefugnis auf anerkannte Umweltvereinigungen darin auf die Rüge individualrechtsschützende Umweltvorschriften ersatz- der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte beschränkt los entfallen zu lassen. werden. Der nationale Gesetzgeber darf zwar den Ge- richtszugang von Einzelpersonen entsprechend eingren- Die Art. 2 bis 13 des Entwurfs enthalten weitere punk- zen, nicht jedoch den Gerichtszugang anerkannter Um- tuelle Anpassungen verschiedener Rechtsvorschriften. weltvereinigungen. Bei diesen Änderungen ergibt sich der Regelungsbedarf nicht aus dem Trianel-Urteil. Vielmehr geht es um die Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltver- Umsetzung von Vorgaben, die sich aus anderen Urteilen bände nach geltendem deutschem Recht auf drittschüt- des EuGH und aus Forderungen der Europäischen zende und auf dem Europarecht basierende Normen be- Kommission ergeben, ferner um inhaltliche Klarstellun- schränkt. Dies ist nach dem oben genannten EuGH- gen sowie redaktionelle und rechtstechnische Korrektu- Urteil europarechtswidrig. ren. Der EuGH hat dies damit begründet, dass nach Die Herausforderung bei der Novellierung des Um- Art. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die Europäische welt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Aus- Union Vorschriften der UNECE-Aarhus-Konvention gleich zwischen der europarechtlich gebotenen Auswei- über den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten tung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw. umgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhal- Verfahrensbeschleunigung bei dringend notwendigen ten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung von Infrastrukturprojekten zu schaffen; denn es ist zu be- Vorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlich fürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklage geltend machen zu können, die auf dem Unionsrecht ba- die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zu- sieren. Anerkannten Umweltverbänden ist danach in nimmt und auch die Kosten für diese Projekte weiter Umweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Ge- steigen. Hierdurch könnte für Deutschland ein erheb- richten zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassung licher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessen des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorga- will der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigen. Ziel ben. ist es, die möglichen kontraproduktiven Wirkungen von Verbandsklagen abzufedern. Insbesondere soll verhin- Seit dem 10. Oktober 2012 liegt daher ein Gesetzent- dert werden, dass das Instrument der Verbandsklage in wurf der Bundesregierung zur Änderung des Umwelt- der Praxis zu sachlich ungerechtfertigten Verzögerun- Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher gen von Vorhaben instrumentalisiert wird.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23989

Judith Skudelny (A) Dazu wird beispielsweise mit dem neuen § 4 a „Maß- Worum geht es? Es geht um die Aarhus-Konvention, (C) gaben zur Anwendung der Verwaltungsgerichtsord- eine Vereinbarung der europäischen Länder zu mehr nung“ eine zwingende Klagebegründungsfrist von sechs Bürgerrechten in Umweltfragen, die 2001 in Kraft trat. Wochen eingeführt. Die Klagebegründungsfrist be- In Europa hat seitdem jede Person das Recht auf Infor- schneidet nicht die Möglichkeit des Gerichts, darauf mationen über die Einhaltung von Umweltvorschriften hinzuwirken, dass unerfahrene oder nicht fach- und bis hin zur Klagemöglichkeit bei Beeinträchtigungen der rechtskundige Individualkläger sachdienliche Tatsachen Umwelt durch Großvorhaben. Die Bundesregierung hat und Beweismittel vortragen. Diese Klagebegründungs- dazu mit großer Verspätung, erst 2006, ein sehr halbher- frist kann auf Antrag durch das Gericht nach seinem Er- ziges Gesetz verabschiedet. Und auch das muss gesagt messen verlängert werden. werden, der damalige Bundesumweltminister der SPD, Sigmar Gabriel, hat dabei keine besonders rühmliche Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle indus- Rolle gespielt. Meine Fraktion hat damals darauf hinge- trierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behörd- wiesen, dass das Gesetz unzureichend ist und mit einem liche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben, Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefor- Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichen dert, umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, der den geforderten Rechtsschutz aller Umweltbelange wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbe- durchsetzt. Der Europäische Gerichtshof hat unsere Kri- schlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dies tik mit seiner Entscheidung im Mai 2011 bestätigt. Nur zeigt die hohe praktische Relevanz und Bedeutung die- wenige Monate später erinnerten die Grünen mit einem ses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrund Gesetzentwurf die Bundesregierung an ihre nicht erle- der Herausforderungen der Energiewende. Als liberale digte Hausaufgabe. Partei wollen wir in Deutschland Vorhaben verwirk- Nach einem weiteren Jahr haben Sie nun, meine Da- lichen und nicht ausbremsen; denn bereits jetzt dauern men und Herren auf der Regierungsbank, eine Gesetzes- Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange. novelle vorgelegt. Aber Sie wollen damit das bisher Durch die in dem Gesetzentwurf der Grünen (Druck- schon unzulängliche Klagerecht in unserem Land noch sache 17/7888) geforderten Änderungen, die deutlich weiter einschränken. Das ist das Gegenteil von dem, über die europarechtlichen Anforderungen hinausgehen, was der Europäische Gerichtshof entschieden hat. Und würden die Klagemöglichkeiten erheblich ausgeweitet, das ist das Gegenteil von Bürgerbeteiligung, Transpa- wodurch Deutschland ein wesentlicher Wettbewerbs- renz und Akzeptanz, die Bundesminister Altmaier vor nachteil entstehen würde. Wir wollen Arbeitsplätze in wenigen Wochen als seine Arbeitsschwerpunkte postu- Deutschland halten und neue schaffen. Dazu benötigen liert hat. Hier wird geltendes Recht komplett auf den (B) wir Vorhabenträger, die weiterhin in den Standort Kopf gestellt. Selbst der Bundesrat versagt dafür die Ge- (D) Deutschland investieren. Was wir nicht brauchen, sind folgschaft. Diese Gesetzesnovelle ist so nicht haltbar. Das werden in der nächsten Woche auch die Sachver- Forderungen wie die der Grünen, die den Wirtschafts- ständigen der öffentlichen Anhörung des Umweltaus- standort Deutschland und damit Arbeitsplätze gefähr- schusses im Bundestag bestätigen. den. So durchsichtig präsentiert uns die Bundesregierung Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mit- ihre Klientelpolitik auch nicht alle Tage. Und wenn die wirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die He- möglichen Auswirkungen auf unsere Lebensumwelt rausforderungen der Energiewende beispielsweise wol- nicht so gravierend wären, hätte das Ganze sogar einen len wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen, gewissen Unterhaltungswert. Was steckt also dahinter, sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemög- wenn bei Verstößen gegen Umweltvorschriften das Kla- lichkeiten haben sich dazu als ausreichend und ange- gerecht weiter eingeschränkt werden soll? Zeit – es geht messen erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGH um Zeitgewinn für weitere Genehmigungen von Groß- hinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist projekten, die eben nicht die Umweltstandards einhal- nicht erforderlich. ten. Wahrscheinlich reicht das dem FDP-Wirtschaftmi- nister Rösler schon. Aber das ist ganz schlechter Stil und Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demo- wird kaum zur Verbesserung des derzeit schlechten Ima- kratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen ges der Politik beitragen. Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben wie dem Netzausbau und dem Bau von Speicherkraft- Ich fordere die Bundesregierung heute erneut auf, werken auf der anderen Seite zu gewährleisten. umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Rechtsschutz aller Umweltbelange durchsetzt und damit das vom Europäischen Gerichtshof bestätigte un- Sabine Stüber (DIE LINKE): eingeschränkte Informations- und Klagerecht für alle Zu der heute vorliegenden Novelle der Bundesregie- Personen und Umweltverbände gegen die Genehmigung rung zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fällt mir nur noch aller Großprojekte, die Umweltvorschriften nicht ein- die Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ halten. Dabei empfehle ich, den Grünen-Gesetzentwurf ein. Die Debatten um das Recht der Umweltverbände aus dem letzten Jahr und den Antrag der Linken aus dem und jeder Person, Genehmigungen von Großvorhaben Jahr 2006 hinzuzuziehen. Darin findet sich alles, um gerichtlich überprüfen zu lassen, finden in diesem dieses Gesetz zu dem zu machen, was es sein soll und Hause seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit statt. was die Bürgerinnen und Bürger von ihm erwarten: die

Zu Protokoll gegebene Reden 23990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Sabine Stüber (A) Umsetzung des Gedankens der Aarhus-Konvention, so Sie nun auf leicht durchschaubare Weise, durch die Hin- (C) wie es erstmals im Völkerrecht verankert wurde, in deut- tertür, die Klagemöglichkeiten wieder zu beschränken. sches Recht. Das heißt, ich sage es zum Schluss noch Sachliche Gründe für Einschränkungen beispielsweise einmal: Jede Person hat das Recht auf Information, Be- bei der Begründungsfrist oder bei der Begrenzung des teiligung und Klagemöglichkeit zum Schutz der Umwelt. Rechtsschutzes gibt es nicht. Und bitte kommen Sie mir nicht wieder mit dem Argument, mehr Klagerechte wür- den allein dazu missbraucht, wichtige Infrastrukturpro- Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): jekte zu verzögern. Dies ist, gelinde gesagt, eine Unter- Das gute alte Sprichwort „Was lange währt, wird stellung der übelsten Art, werte Kollegen von CDU/CSU gut“, stimmt in diesem Fall leider gar nicht. Nach einer und FDP. Umfassende Klagemöglichkeiten führen häu- fast einjährigen Ressortabstimmung und anderthalb fig dazu, dass sorgsamer geplant wird, dass alle umwelt- Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, und sie legt die Bundesregierung nun endlich einen Gesetzent- steigern die Akzeptanz. Nur schlecht geplante Projekte, wurf zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor. Dieser aber bei denen, absichtlich oder fahrlässig, bestehende ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Wir haben be- Rechtsvorschriften ignoriert werden, müssen erweiterte reits Ende letzten Jahres einen fachlich fundierten Ge- Klagemöglichkeiten fürchten. setzentwurf vorgelegt, den Sie postwendend abgelehnt haben. Hätten Sie mal damals unserem Gesetzentwurf Die Verbandsklage ist das erfolgreichste Instrument zugestimmt, dann hätte wir heute ein modernes und eu- zum Abbau von Vollzugsdefiziten im Naturschutzrecht. roparechtskonformes Beteiligungsrecht im Umweltbe- Wir Grüne wollen auch, dass die Vollzugsdefizite im reich. Stattdessen haben wir hier nun einen Entwurf auf Umweltrecht abgebaut werden. Bei Ihnen, werte Kolle- dem Tisch, der leider nicht zustimmungsfähig ist, weil er gen von CDU/CSU und FDP, gewinnt man aber eher erneut zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen wird. den Eindruck, dass es Ihnen ganz recht ist, wenn mög- lichst viele Vollzugsdefizite beim Umweltrecht entstehen. Lassen Sie mich daran erinnern, welches der eigent- Sie wollen anscheinend nicht, dass die bestehende Ge- liche Grund für die Neuregelung ist. Mit dem sogenann- setzgebung möglichst konsequent umgesetzt wird. Das ten Trianel-Urteil stellte der Europäische Gerichtshof zeigt sich nicht nur hier, sondern auch darin, dass in den fest, dass das deutsche Verbandsklagerecht nicht euro- Ländern, in denen Schwarz-Gelb regiert, die Umwelt- parechtskonform ist. Die Klagemöglichkeiten der Bür- verwaltungen systematisch kaputtgespart werden oder gerinnen und Bürger werden bisher unverhältnismäßig wurden. Ohne Fachverwaltung lässt sich der Vollzug stark eingeschränkt. Dies wurde zwar auch bereits bei nicht mehr kontrollieren und ohne umfassende Klage- (B) der Verabschiedung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes rechte kann auch niemand mehr einen ordnungsgemä- (D) von der Opposition und dem Sachverständigenrat für ßen Vollzug einklagen. Umweltfragen kritisiert, aber sie brauchten ja erst ein Gerichtsurteil, um dies zu glauben. Aber damit werden Sie nicht durchkommen; wir wer- den auf Bundesebene dafür sorgen, dass es zukünftig Und was passiert nun, nachdem sie über anderthalb starke Klagerechte für Umweltverbände gibt. Und wir Jahre Zeit hatten, darüber nachzudenken, wie dieses werden auf Landesebene die von Ihnen kaputtgesparten recht deutliche Urteil umgesetzt werden kann? Sie legen Umweltverwaltungen wieder stärken. Wir machen Um- einen Gesetzentwurf vor, der absolut unzureichend ist. weltpolitik nicht allein für den Grünen Tisch, wir wollen Ich habe größte Zweifel, ob die vorgeschlagene Neurege- Umweltgesetze auch umsetzen. lung den europa- und völkerrechtlichen Vorgaben ent- spricht. Insbesondere die Regelungen der Aarhus-Kon- vention werden sträflich missachtet. Das novellierte Vizepräsidentin Petra Pau: Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz wird daher erneut gericht- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- lich zu überprüfen sein. Eine Mehrbelastung der Ge- wurfs auf Drucksache 17/10957 an die in der Tagesord- richte, die sich eigentlich niemand wünschen kann, und nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es eine Verzögerung einer eindeutigen Gesetzgebung sind anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann die Folgen. ist die Überweisung so beschlossen.

Und wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann warten Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Sie die Anhörung am Montag ab. Da werden Ihnen die Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gutachterinnen und Gutachter mit Sicherheit die Schwä- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales chen Ihres Gesetzentwurfs verdeutlichen. Verschließen Sie (11. Ausschuss) sich nicht allen Argumenten, und ergreifen Sie die Chance, im parlamentarischen Verfahren den Gesetz- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja entwurf so zu korrigieren, dass die Rechtsunsicherheiten Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. auf ein Minimum reduziert werden. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Da Sie nur zähneknirschend akzeptieren wollen, dass die Klagemöglichkeiten gegen Vorhaben mit Umwelt- Behindern ist heilbar – Unser Weg in eine auswirkungen ausgeweitet werden müssen, versuchen inklusive Gesellschaft Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23991

Vizepräsidentin Petra Pau (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Das geforderte „Screening“ aller bestehenden Ge- (C) Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, setze und Verordnungen auf behindertenrelevante The- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE menstellungen ist ein ständiger Prozess und parlamenta- LINKE rische Praxis. Auch die Forderung, den Kostenvorbehalt in § 13 SGB XII aufzuheben, ist unrealistisch, weil damit Teilhabesicherungsgesetz vorlegen das Subsidiaritätsgebot aufgegeben wird. Und eine hö- – Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008 – here Sensibilität bei den Ausschreibungen von öffentli- chen Aufträgen, Projekten und Maßnahmen in diesem Berichterstattung: Bereich unter Qualitätsgesichtspunkten zu erreichen – Abgeordnete Maria Michalk auch dieser Punkt ist parlamentarisch bearbeitet und auf den Weg gebracht. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus- dass eine offizielle Übersetzung der BRK verwendet gewiesen, die Reden zu Protokoll. wird, die keine Interpretationsspielräume zulässt. Wohl niemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Konsultati- Maria Michalk (CDU/CSU): onsprozess und die Erarbeitung des NAP unter breiter Wohl niemand bestreitet in diesem Hohen Haus, dass Einbeziehung der betroffenen Menschen und ihrer Inter- inklusive und integrative Ansätze seit langem sich wie essensvertretungen stattgefunden hat und in der Umset- ein roter Faden durch unsere parlamentarische Arbeit zung der permanente Dialog gepflegt ist, weil unstrittig ziehen. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die Teil- ist, dass nicht über Menschen mit Behinderungen ge- habe von Menschen mit Behinderungen in allen Berei- sprochen wird, sondern mit ihnen. Sie sind Experten in chen unserer Gesellschaft voranbringen. Inklusion ist eigener Sache. die konsequente Weiterentwicklung von dem, was wir Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle 10 Punkte vor langer Zeit unter dem Begriff der „Integration“ be- aus dem Antrag bereits heute „unser täglich Brot“ sind. gonnen haben. Der Antrag hat sich erledigt bzw. wäre nicht notwendig. Unter Integration wird die Eingliederung von Außen- stehenden in etwas Bestehendes verstanden. Die weitere Aufforderung, ein Teilhabesicherungsge- setz vorzulegen, ist parlamentarisch zwar legitim, aber Inklusion bedeutet aber Einbeziehung und Öffnung nicht verantwortungsvoll. Es liegt uns allen am Herzen, des Bestehenden. Das bedeutet, selbst auf andere zuzu- die volle und wirksame Teilhabe für Menschen mit Be- gehen, eigene Grenzen zu verschieben. Wenn wir Teil- hinderungen durch flächendeckende, soziale, inklusiv habe, Chancengleichheit und Vielfalt in unserer Gesell- ausgestaltete Infrastrukturgegebenheiten zu sichern. (B) schaft verwirklichen wollen, müssen wir uns selbst Und der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile ist (D) öffnen. Das bedeutet:Wir brauchen eine gesellschaftlich unser gemeinsames Ziel. Das ist auch das Wesensmerk- tragfähige Kultur der Inklusion. Vorbehalte, Begeg- mal des SGB IX in seiner aktuellen Fassung. Nicht von nungsängste, Umgangsunsicherheiten und ähnliche Er- ungefähr ist der Beschluss der SMK zustande gekom- scheinungsformen müssen überwunden werden, und men, stärker als bisher die individuelle Situation des je- zwar von jedem einzelnen von uns. Am erfolgreichsten weils Betroffenen zu berücksichtigen. wird dieser Prozess gelingen, je intensiver sich jede Bür- gerin und jeder Bürger mit diesen Fragen beschäftigt, Ich habe es bereits in meiner Rede zur 1. Lesung die- unabhängig davon, ob eine persönliche Betroffenheit in ses Antrages gesagt: Der Paradigmenwechsel im SGB der Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis vorliegt. IX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UN- Behindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, muss Mut machen dazu gelungene Beispiele aus dem wah- vor Ort gelebt werden. Vor Ort ist das Mühen deutlich ren Leben, so wie ungelöste Situationen natürlich Zwei- erkennbar. Aber leider erreichen uns immer wieder Bei- fel an der Verwirklichung dieses Zieles schüren. spiele, dass vom Gesetzgeber gegebene Entscheidungs- spielräume zum Nachteil des Betroffenen nicht genutzt Ich möchte nicht nur zum Nachdenken anregen, son- werden. Das muss sich ändern. dern zum Handeln vor Ort. Das liegt ganz im Interesse der Kampagne der Bundesregierung, die unter anderem Deshalb ist auch der Beschluss der Bund-Länder-Ar- mit dem Motto „Behindern ist heilbar“ für Offenheit beitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungs- und aktives Handeln wirbt. Insofern ist Mahnung aus hilfe der ASMK so wichtig, wo vereinbart wurde, dass dem Antrag der Linken kein neuer Ansatz, und die auf- ein Verfahren etabliert werden sollte, das den Menschen geführten 10 Punkte sind keine neue Idee. Ich will daran mit Behinderungen in seiner Situation ganzheitlich er- erinnern, dass wir den Nationalen Aktionsplan der Bun- fasst, ihn aktiv einbezieht und sein Wunsch- und Wahl- desregierung sowohl im Deutschen Bundestag debattiert recht berücksichtigt. In Zukunft sollte also stärker als als auch Anhörungen zu ihm durchgeführt haben. Er ist bisher die Gesamtplanung der Unterstützungsnotwen- kein Gesetz, sondern ein Programm, das selbstverständ- digkeiten und -möglichkeiten erfolgen, und zwar träger- lich immer wieder mit neuen Umsetzungsideen angerei- übergreifend. Die trägerübergreifende Arbeit ist nach chert wird. Ich will auch daran erinnern, das in der Gesetzeslage bereits heute möglich, wird aber in viel Deutschland das Diskriminierungsverbot existiert. Im zu geringem Umfang praktiziert. Da sind wir uns einig. Bundeshaushalt sind finanzielle Grundlagen aufgenom- Hintergrund ist natürlich die Kostenbetrachtung. Uns ist men, die in der mittelfristigen Finanzplanung fortge- die Forderung, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen in schrieben werden. diesem Bereich zu überprüfen und neu zu regeln, nicht 23992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Maria Michalk (A) verborgen geblieben. Ich denke, wir müssen uns mit die- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Wenn (C) ser Frage beschäftigen, aber nicht auf der Grundlage ei- Sie in Ihrem Antrag eine Einbeziehung der betroffenen nes neuen Behindertenbegriffs, wie im Antrag beschrie- Menschen fordern, dann darf ich Sie darauf hinweisen, ben. Was wir brauchen, ist ein nach festen Kriterien dass die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans ge- agierendes, für alle Bundesländer verbindliches Verfah- rade gemeinsam mit Menschen mit Behinderung und ih- ren. Die Gesetzesgrundlage ist das eine, die Ausfüh- ren Verbänden stattfand. Hierdurch wurden Qualität und rungsbestimmungen und die gängige Praxis in den Län- Wirkung der Maßnahmen gewährleistet. dern das andere. Das beweist der sehr breite Korridor der bewilligten Eingliederungshilfe je Person im jewei- Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie sich sogar ligen Land. den Titel der Kampagne des Bundesministeriums für Ar- beit und Soziales „Behindern ist heilbar“, mit dem das Die Komplexität dieser Thematik verbietet Schnell- selbstverständliche Zusammenleben von Menschen mit schüsse. Ich wünsche mir auch, dass wir in der gemein- und ohne Behinderung in das Bewusstsein aller Men- samen Arbeit zwischen Bund und Ländern in diesem schen in Deutschland gebracht werden soll, zu eigen ge- Themenbereich zu einem tragfähigen Ergebnis kommen. macht haben. Aber wie Sie wissen, hält der seit Jahren geführte inten- Ich freue mich, dass auch Sie die Kampagne für ge- sive Diskussionsprozess an. Da alle hier im Deutschen lungen erachten. Bundestag vertretenen Fraktionen in unterschiedlicher Konstellation Regierungsverantwortung in den Ländern Aber zurück zu Ihrem Antrag: Mit der Forderung tragen, haben wir uns gegenseitig keinen Vorwurf zu nach zahlreichen neuen Leistungsansprüchen und der machen. Aufhebung der Anrechnung von Einkommen und Vermö- gen in der Eingliederungshilfe unterlaufen Sie das Sys- Paul Lehrieder (CDU/CSU): tem der beitragsfinanzierten Vorsorge und stellen auf eine überwiegend steuerfinanzierte Leistung ab. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihren beiden Anträge Mit der Einführung eines Teilhabesicherungsgesetzes „Behindern ist heilbar – unser Weg in eine inklusive Ge- zulasten des Bundes mit generell bedürftigkeitsunabhän- sellschaft“ und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“, gigen Teilhabeleistungen – die im Übrigen deutlich über die wir heute diskutieren, einen Beitrag dazu leisten, die den derzeitigen Aufwendungen für die Eingliederungs- Diskussion über die Behindertenrechtskonvention auf- hilfe liegen würden und nicht gegenfinanziert sind – lö- rechtzuerhalten. Die Ermöglichung einer gleichberech- sen Sie die strukturellen Probleme der Eingliederungs- tigten und selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit hilfe für behinderte Menschen nicht. Behinderungen ist mir eine Herzensangelegenheit und (B) Des Weiteren wäre eine zusätzliche Belastung für den (D) sollte auch zu keinem Zeitpunkt aus dem Fokus unserer Bundeshaushalt in Milliardenhöhe vor dem Hintergrund politischen Arbeit geraten. der in der letzten Sitzungswoche in erster Lesung debat- Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregie- tierten vollständigen Übernahme der Kosten der Grund- rung sorgt die unionsgeführte Bundesregierung für eine sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- den Bund nicht vertretbar. vention und kommt einen großen Schritt voran auf dem Meine sehr geehrten Damen und Herren der Fraktion Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Ak- Die Linke, lassen Sie mich abschließend nochmals be- tionsplan hat bereits und wird auch weiterhin das Leben tonen, dass ich Ihnen für Ihren Diskussionsbeitrag der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in dankbar bin – allerdings ist die Behindertenpolitik der Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen. christlich-liberalen Koalition nicht von unerreichbaren Aber wir wollen nicht nur die physischen Barrieren be- Versprechungen und einer fahrlässigen Auseinanderset- seitigen, sondern auch die psychischen, die eine Integra- zung mit den haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen tion und Berührungen mit Menschen mit Behinderungen gekennzeichnet, sondern von realistischen Maßnahmen, erschweren. Mit den zahlreichen Einzelprojekten in un- die Schritt für Schritt wirkungsvoll umgesetzt werden serem Aktionsplan beseitigen wir eben diese Barrieren. und auf einer notwendigen, belastbaren Kostenfolgen- Aufführen möchte ich hier zum Beispiel die Aufhe- abschätzung basieren. Wir sind mit unserem Aktionsplan bung der 50-km-Regelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX, die zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der auf einem sehr guten Weg. Deutschen Bahn ausgehandelt hat. Diese Regelung er- Daher müssen wir Ihre beiden Anträge leider ableh- möglicht den schwerbehinderten bzw. Schwerkriegsge- nen. schädigten Reisenden eine bundesweite, kostenfreie Nutzung der Nahverkehrszügen der DB Regio AG. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Anführen möchte ich an dieser Stelle auch die Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Frak- Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV – tion Die Linke. In dem einen Antrag wird ein Teilhabege- 2.0, welche sicherstellt, dass öffentlich zugängliche In- setz gefordert; der andere Antrag trägt den Titel „Behin- ternetdienste und -angebote der Bundesverwaltung für dern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusive Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt Gesellschaft“. Dieser Weg ist lang. Auch wir müssen im werden können. Bundestag noch so manche Barrieren beseitigen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23993

Gabriele Hiller-Ohm (A) Wir alle erinnern uns: Im letzten Jahr musste der Tag Teilhabe im SGB IX schaffen. Anders als Sie können wir (C) der Menschen mit Behinderungen im Deutschen Bun- uns dabei aber durchaus auch eine Grenze der Anrech- destag ausfallen und alle Gäste wieder ausgeladen nungsfreiheit bei sehr hohen Einkommen oder Vermö- werden. Das war eine peinliche Angelegenheit. Leider gen, insbesondere aus Schadensausgleichen, vorstellen. war den Organisatoren zu spät aufgefallen, dass für die Sonst gibt es wieder neue Ungerechtigkeiten. Im Unter- vielen angemeldeten Rollstuhlfahrerinnen und Roll- schied zu Ihnen würden wir die Leistungsausführung stuhlfahrer die Sicherheit hier im Gebäude nicht ge- lieber bei den Kommunen sehen, die durch die Einglie- währleistet werden konnte. derungshilfe viel Erfahrung damit haben. Deshalb wer- den wir uns zu Ihrem Antrag zum Teilhabesicherungs- Diesmal wird es klappen. Der Tag findet nun nächste gesetz enthalten, auch wenn wir uns einig sind: Wir Woche statt. Etwa 300 Betroffene aus beinahe allen brauchen eine umfassende Überarbeitung des Sozial- Wahlkreisen werden nach Berlin kommen und mit uns gesetzbuches IX, des Behinderungsbegriffs und der Politikerinnen und Politikern diskutieren. Instrumente. Wir brauchen ein neues System, das Wir möchten von ihnen lernen: Wir möchten unseren Menschenrechte, Selbstbestimmung und Inklusion kon- Blick auf Politik mit und für Menschen mit Behinderung kret verwirklicht. schärfen. Wir möchten Vorschläge von den Expertinnen Die aktuellen Bestrebungen zur Reform der Einglie- und Experten in eigener Sache bekommen. Und wir derungshilfe und die Übernahme der Finanzverantwor- möchten lernen, welche Barrieren es gibt und wie sie ab- tung durch den Bund bieten hier eine Chance, die nicht gebaut werden können. ungenutzt bleiben sollte. Insbesondere sind wir als Bun- Ich freue mich auf den Dialog. despolitikerinnen und -politiker gefragt, die Position des SGB IX zu stärken und nicht die Verantwortung für die Die Mehrzahl der Gäste könnte ohne Einladung des Teilhabe gänzlich an die Sozialhilfe abzugeben. Diese Bundestages einschließlich Übernahme der Fahrtkosten Verantwortung gilt es wahrzunehmen, sehr verehrte Kol- überhaupt nicht zu uns nach Berlin kommen, weil eine leginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen. solche Reise schlichtweg zu teuer wäre. So weit sind wir nicht und so weit kommen wir auch Traurige Wahrheit ist: Jemand, der einen verantwor- nicht mit den Plänen der Bundesregierung. Bis auf einen tungsvollen Job hat und den ganzen Tag arbeitet, wird seitenschweren, aber weitestgehend inhaltsleeren auf Sozialhilfeniveau heruntergerechnet, nur weil er be- Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention haben wir hinderungsbedingte zusätzliche Ausgaben hat. Diese von Union und FDP nichts Wegweisendes auf den Tisch Menschen müssen ihre gesamten Lebensverhältnisse bekommen. Mir fällt nur ein Programm aus Mitteln des offenlegen – aufgrund ihrer Behinderung. Eltern, wenn (B) Ausgleichsfonds ein. Diese Gelder standen jedoch schon (D) sie im gleichen Haushalt leben, und Ehepartner werden vorher für Menschen mit Behinderung zur Verfügung. mit belastet. Das entspricht nicht der UN-Behinderten- rechtskonvention. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mar- schieren da schon eher in die richtige Richtung mit Es ist eine riesige Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch Ihrem Antrag „Behindern ist heilbar – Unser Weg in mit Behinderung von einem eigentlich ausreichenden eine inklusive Gesellschaft“. Auch wir fordern ganz Gehalt nicht leben kann. Die Menschen sind arm, weil Ähnliches in unserem Antrag, den wir übrigens gemein- ihr Verdienst auf die Eingliederungshilfe nach Sozialhil- sam mit den Betroffenen und ihren Verbänden formuliert fekriterien angerechnet wird. In der Anhörung im ver- haben. Dies war uns ganz wichtig, denn „Nichts über gangenen Jahr wurde ein bedrückendes Beispiel eines uns ohne uns“ oder „Selbst Aktiv“ ist unsere Leitlinie. Diplominformatikers genannt, der sagte: „Ich verdiene Leider ist es nicht die der Bundesregierung und das kri- gut, aber für meine Lebensassistenz wird mir so viel tisieren Sie zu Recht. Geld abgenommen, dass … ich bei knapp über 900 Euro pro Monat bin. Ganz davon abgesehen, dass ich meine Sie greifen die Probleme der Übersetzung und des Lebenspartnerin nicht heiraten kann. Es ist eine Situa- mangelnden Inhalts des Nationales Aktionsplans (NAP) tion, die unglücklich ist und die behinderte Menschen zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention auf. auch in der Lebensorientierung ständig mit der Frage, Sozialhilfe ja oder nein, wie komme ich da heraus, be- Hier möchte ich insbesondere auf die Aufhebung des schäftigt.“ Kostenvorbehalts in § 13 SGB XII hinweisen, die Sie und auch wir fordern. Der Kostenvorbehalt bedeutet zum Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie Beispiel, dass ein junger Mensch, der nach einem Unfall haben recht mit Ihrer Forderung in Ihrem Antrag zum behindert ist, gegen seinen Willen in einem Pflegeheim Teilhabegesetz: Wir müssen dringend eine Einkommens- untergebracht werden kann, weil das billiger ist, als und Vermögensunabhängigkeit prüfen. Wir müssen weg wenn er weiterhin in seiner Wohnung lebt. In was für ei- vom Fürsorgegedanken, der hinter der Sozialhilfe steht, nem Staat leben wir denn, in dem erwachsene Menschen und hin zum Inklusionsgedanken, der hinter einer Teil- in ein Heim gezwungen werden können? So etwas darf habeleistung stünde. nicht sein! Das haben wir schon im letzten Jahr in unserem An- Aber auch in diesem Antrag der Linken gibt es einige trag „UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eine Punkte, denen wir uns so nicht anschließen können. Sie inklusive Gesellschaft nutzen“ (Drucksache 17/7942) wollen zum Beispiel neben dem Nationalen Aktionsplan gefordert. Wir wollen ein Leistungsrecht zur sozialen eine Liste mit zu ändernden Vorschriften. Wir wollen all

Zu Protokoll gegebene Reden 23994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Gabriele Hiller-Ohm (A) das im Nationalen Aktionsplan haben und ihn stärken – nicht finanzierbar. Denn würde die individuelle Bedürf- (C) durch eine Beteiligung des Parlaments und der Betroffe- tigkeitsprüfung wegfallen, würden auch Menschen mit nen. Auch hier muss ganz klar gelten: „Nichts über uns einem hohen Einkommen Anspruch auf steuerfinanzierte ohne uns“. Deshalb werden wir uns, so richtig die Ziel- Teilhabeleistungen haben. Der Personenkreis würde setzung ist, auch bei diesem Antrag enthalten. sich erheblich erweitern. Der Vorschlag der Linken folgt nicht dem Prinzip, nur denen zu helfen, die bedürftig Ich freue mich auf eine anregende Diskussion im Aus- sind. schuss und mit unseren Gästen am Tag der Menschen mit Behinderungen in der nächsten Woche hier bei uns Erreichbare Ziele sollten angesteuert werden. Die ge- im Bundestag. samte Gesellschaft ist aufgerufen, Menschen mit Behin- derung teilhaben zu lassen und nicht an den Rand zu Gabriele Molitor (FDP): drängen. Daher sehe ich die UN-Behindertenrechtskon- „Behindern ist heilbar“ – das ist der Slogan des vention auch als gesellschaftspolitischen Impuls. Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behin- Doch Inklusion ist noch nicht jedermann ein Begriff. dertenkonvention. „Behindern ist heilbar“ ist auch Titel Fragt man Menschen auf der Straße, so können viele des Antrages der Fraktion Die Linke. Wir sind uns offen- nichts mit diesem Wort anfangen. Der Begriff an sich ist sichtlich alle einig, dass die Teilhabechancen von Men- nicht barrierefrei, weil er erklärungsbedürftig ist. Be- schen mit Behinderung verbessert werden können und dauerlicherweise nimmt die Hälfte der Deutschen ihre Barrieren, die Inklusion verhindern, abgebaut werden zehn Millionen Mitbürger mit Behinderung nicht wahr, müssen. Der Slogan drückt zudem eine Perspektive aus, und jeder Dritte hat überhaupt keinen Kontakt zu die sich auch in der UN-Behindertenrechtskonvention Menschen mit Behinderung. Das ergab eine Umfrage widerspiegelt: Nicht die Menschen mit Behinderung der Aktion Mensch und zeigt uns, dass noch viel zu tun müssen sich an die Gesellschaft anpassen, sondern die ist. Gesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Noch viel zu oft spielen und lernen Kinder mit Behin- derung getrennt von ihren nichtbehinderten Alters- Ich freue mich, dass mit der Ratifikation der UN- genossen. Noch viel zu oft erleben Menschen mit Be- Behindertenrechtskonvention die Diskussionen um hinderung Diskriminierung. Noch viel zu oft wird Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behin- Behinderung mit Leistungsminderung gleichgesetzt. Vor derung zugenommen haben. Es vergeht nicht eine allem im Arbeitsleben wird das Potenzial von Menschen Woche, in der Zeitungen nicht über das Thema Inklusion mit Behinderung zu wenig erkannt. Die Linken plädieren und Behinderung berichten, vor allem im Zusammen- in ihrem Antrag für eine Prüfung der derzeitigen Ge- hang mit dem Thema Bildung. Dort steht die Frage im (B) setze. Es ist in diesem Zusammenhang besonders wich- (D) Mittelpunkt: Bekommen Kinder mit Behinderung durch tig, dass alle Regelungen und Gesetze, die Menschen mit gemeinsames Lernen eine bessere Schulbildung? Behinderung eigentlich die Aufnahme von Arbeit und Zunehmend wird auch in Spielfilmen das Thema das Berufsleben erleichtern sollen, vorurteilsfrei geprüft Behinderung aufgegriffen. Der Deutsche Bundestag werden, ob sie dieses Ziel auch erfüllen. befasst sich mit den Bedürfnissen behinderter Men- schen. Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behin- Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung kann dertenrechtskonvention sind Schlagworte wie Inklusion, nicht allein durch Gesetze gesichert werden. Entschei- Teilhabe, Selbstbestimmung und Partizipation wegwei- dend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Rückblickend send für die Behindertenpolitik in Deutschland. Diese haben sich in den letzten Jahrzehnten die Teilhabechan- Prinzipien sind Richtschnur der liberalen Politik. Unser cen von Menschen mit Behinderung insgesamt erheblich Ziel ist es, Menschen mit Behinderung echte Teilhabe zu verbessert. Es ist erfreulich, dass mit der UN-Behinder- ermöglichen. Die UN-Konvention gilt dabei als Mess- tenrechtskonvention weitere Entwicklungen stattfinden. latte für politische Entscheidungen und das betrifft nicht Die Ambulantisierung schreitet voran. Mehr und mehr nur die Sozialpolitik! Es ist wichtig, dass wir Politik für Projekte machen es möglich, dass Menschen außerhalb Menschen mit Behinderung als Inklusionspolitik begrei- von großen Einrichtungen leben können, wie beispiels- fen. Daher begrüße ich die Anträge der Linken als weise das Hamburger Projekt Alsterdorf, wo sich eine Anstoß für weitere Diskussionen. große Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in einen Stadtteil für alle fortentwickelt hat. Noch nie spra- Inhaltlich muss ich jedoch klar widersprechen. Es chen so viele Menschen über inklusive Bildung. Neue in- wird mit dem Antrag der Linken der Eindruck erweckt, klusive Modelle entstehen. Insgesamt beschäftigen nicht dass unsere Gesetze nicht im Einklang mit der UN- immer weniger, sondern immer mehr Unternehmen Behindertenrechtskonvention seien und nur ein einkom- Menschen mit Behinderung. Mit dem Nationalen mensunabhängiges Teilhabegeld der richtige Weg sei. Aktionsplan und seinen Maßnahmen sind wir auf einem Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt den einzel- guten Weg, die Teilhabechancen zu erhöhen. Inklusive nen Vertragsstaaten jedoch Gestaltungsspielraum, wie Prozesse wurden angestoßen, weitere werden folgen. Es Leistungen für Menschen mit Behinderung erbracht ist ganz natürlich, dass sich im Laufe dieser Entwick- werden. Es kann der UN-Behindertenrechtskonvention lung auch Konflikte ergeben. Diese sollten aber nicht keinesfalls entnommen werden, dass Leistungen unab- einfach beiseite geschoben werden, sondern zum Anlass hängig von Einkommen und Vermögen erbracht werden genommen werden, Veränderungen vorzunehmen. Be- müssen. Dies ist angesichts der Haushaltslage auch hindern ist dann heilbar, wenn Menschen die für sie not-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23995

Gabriele Molitor (A) wendige Unterstützung und Assistenz bekommen und es nig, getan. Es gibt eine teure Kampagne der Bundesre- (C) sich alle Menschen zur Aufgabe machen, Bedingungen gierung unter der Überschrift „Behindern ist heilbar“. zu schaffen, die Menschen mit Behinderung ein gleich- berechtigtes und selbstverständliches Miteinander er- Fazit: Behindertenpolitik ist weiterhin kein inklusiver möglichen. Bestandteil der Politik in allen Bundesbehörden, son- dern eine Nische im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es wird viel geredet – das ist auch schon was Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): wert –, aber kaum was getan… Am 1. Dezember 2011 hatten wir hier im Hohen Hause eine behindertenpolitische Debatte im Bundes- Im unlängst veröffentlichten 4. Armuts- und Reich- tag. Wir diskutierten unter anderem die Anträge der tumsbericht gibt es kaum Angaben über die Lebenssitua- Fraktion Die Linke „Behindern ist heilbar – Unser Weg tion von Menschen mit Behinderungen. Auch in der Stu- in eine inklusive Gesellschaft“ ,Drucksache 17/7872, die der Universität Heidelberg zur Lebenssituation von und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ,Drucksache contergangeschädigten Menschen spielte die finanzielle 17/7889. Thema war auch der für den 2. und 3. Dezem- Situation keine Rolle. Daten darüber waren vom Auf- ber geplante Dialog der Politik mit Menschen mit Be- traggeber politisch nicht gewollt. Gleichzeitig erklärt hinderungen, welcher aus sicherheits- und brandschutz- die Bundesregierung auf diesbezügliche Fragen der Lin- technischen Gründen abgesagt werden musste, weil sich ken seit vier Jahren, dass sie diesbezüglich keine Er- zu viele Rollstuhlfahrer unter den eingeladenen Teilneh- kenntnisse hat. Wer aber mit Betroffenen redet, die gel- mern befanden. Hier hatte das wirkliche Leben von tende Sozialgesetzgebung kennt und auch etwas genauer Menschen mit Behinderungen den Bundestag kalt er- in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie- wischt. rung schaut, wird feststellen: Behinderung ist ein Ar- mutsrisiko, und zwar für die Betroffenen und ihre Ange- Heute, fast ein Jahr später, entscheiden wir über die hörigen. Behinderung führt sehr schnell zu Armut. Und beiden Anträge der Linken, und in ein paar Tagen, am wer dort erst mal angekommen ist, bleibt in der Regel 26. und 27. Oktober, kommen rund 300 Menschen mit auch lebenslänglich arm. Behinderungen aus allen Bundesländern in den Bundes- tag, um mit uns Abgeordneten über die Umsetzung der Eine wesentliche Ursache ist das Fehlen von persön- UN-Behindertenrechtskonvention zu diskutieren. Ich freue licher bedarfsgerechter einkommens- und vermögensun- mich auf diese erstmalig stattfindende Veranstaltung, abhängiger Assistenz und Pflege. Deswegen kämpft die auch wenn sie aufgrund der baulichen Gegebenheiten Behindertenbewegung seit vielen Jahren für ein entspre- mit Kompromissen und Einschränkungen beim Konzept chendes Teilhabesicherungsgesetz. Deswegen brachte die Linke, wie auch schon in der 14. und 16. Wahl- (B) und der Zahl der Rollstuhlfahrer verbunden ist. Und ich (D) bin sicher: Auch wenn beide Anträge heute mit Ihrer periode, einen Antrag für ein solches Leistungsgesetz in Mehrheit abgelehnt werden – sie bleiben aktuell, und sie den Bundestag ein. Den Beratungsverlauf und das Ab- werden von der Behindertenbewegung und von den Lin- stimmungsverhalten der Fraktionen zu beiden Anträgen ken bei dieser Veranstaltung und darüber hinaus wieder kann die interessierte Öffentlichkeit der vorliegenden auf die Tagesordnung gesetzt werden. Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Arbeit und Soziales, Drucksache 17/10008, entneh- Was hat die Bundesregierung in den letzten dreiein- men. So heißt es in diesem Bericht: „Die Fraktion der halb Jahren, seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention SPD forderte … das auch in der Konvention verankerte innerstaatliches Recht ist, für deren Umsetzung getan? Motto ,Nichts über uns ohne uns‘ müsse umgesetzt wer- Sie legte – sehr spät – einen Nationalen Aktionsplan vor, den. Das sei in den Anträgen der Fraktion Die Linke of- der vor allem Prüfaufträge und Absichtserklärungen fensichtlich geschehen.“ Stimmt. Deswegen finde ich es enthält, die Vorschläge aus der Behindertenbewegung unerklärlich, dass sich die Fraktion der SPD bei beiden aber weitgehend unberücksichtigt ließ. Gibt es inzwi- Anträgen nur zu einer Stimmenthaltung durchringt. Die schen eine Überprüfung aller Gesetze und Verordnun- Fraktion der CDU/CSU betonte, dass sie grundsätzlich gen auf Änderungsbedarf, damit sie den Maßstäben der die permanente Diskussion über die Behindertenrechts- UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden? Fehl- konvention begrüße. Sie lehne aber die Anträge ab, weil anzeige! Und die Einbeziehung von Menschen mit Be- der eine überflüssig sei, denn es gäbe einen tollen Ak- hinderungen und deren Organisationen bei der Erarbei- tionsplan der Bundesregierung und eine erfolgreiche tung von Konzepten und Gesetzen, die sie direkt oder Kampagne. Und der Antrag für ein Teilhabesicherungs- indirekt betreffen? Überwiegend Fehlanzeige! Gibt es gesetz sei nicht finanzierbar. ein Konjunkturprogramm zur systematischen und be- schleunigten Beseitigung von baulichen Barrieren? Fehl- Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den christlichen anzeige! Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der – fi- Parteien, Sie forderten am 3. April 2001, Bundestags- nanziellen – Lebenssituation zur Sicherung umfassender drucksache 14/5804, eine „umfassende Lösung mit Ver- Teilhabe am Leben in der Gesellschaft? Fehlanzeige! besserungen für behinderte Menschen“. „Diese kann“, Nein, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen! Gibt es so steht es in Ihrem Antrag, „nur in einem eigenstän- einkommens- und vermögensunabhängige Sicherung per- digen und einheitlichen Leistungsgesetz für Behinderte sonaler Assistenz? Fehlanzeige! erreicht werden, das vom Bund zu finanzieren ist. Dieses Gesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängig Und wie sieht es aus mit Maßnahmen zur Bewusst- ausgestaltet sein und die Leistungen, die derzeit in der seinsbildung? Da hat sich etwas, wenn auch viel zu we- Eingliederungshilfe … enthalten sind, zusammenfas-

Zu Protokoll gegebene Reden 23996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Ilja Seifert (A) sen …“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträch- nicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassen (C) tigungen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Son- von staatlichen Übergriffen zu garantieren, sondern ge- derbelastungen und vor einer Stigmatisierung als Sozial- rade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst zu hilfeempfänger geschützt werden“. War das alles Lüge, ermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachter weil Sie gerade in der Opposition waren, oder kann Ihre gehen davon aus, dass die Anspruchsrechte auf Befähi- Forderung aus dem Jahr 2001 in Folge ihrer Regie- gung Wirkung auf weitere Gruppen weit über den Kreis rungspolitik in den letzten sieben Jahren nicht mehr auf- der Menschen mit Behinderungen hinaus entfalten. Die rechterhalten werden? Konvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiter- entwicklung des internationalen Menschenrechtsschut- Auch die FDP will beide Anträge ablehnen. Das zes. Es eröffnet sich meines Erachtens auch eine Per- überrascht mich nicht, auch wenn in dem Bericht steht: spektive für eine neue Phase der Entwicklung sozialer „Die FDP lobte die Anträge als Diskussionsbeitrag. Menschenrechte. Grundsätzlich stimme die Fraktion der FDP auch ein- zelnen Vorschlägen zu …“. Welchen, bleibt ihr Geheim- Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention nis, denn es liegt von der FDP nichts zur Abstimmung sind Phänomene wie „gesellschaftliche Ausgrenzung“, auf dem Tisch. „Diskriminierung“, „rechtliche Entmündigung“ und „medizinische Zwangsbehandlung“ nicht bloß gesell- Bündnis90/Die Grünen will dem Antrag „Behindern schaftliches Übel, sondern müssen richtigerweise als ist heilbar“ zustimmen, den Antrag für ein Teilhabesi- Verletzung von Menschenrechten verstanden werden. cherungsgesetz dagegen ablehnen. Im Bericht heißt es: Die Entwicklung eines anderen Menschenbildes für alle „Den weitergehenden Vorschlägen zu einem Teilhabesi- Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen cherungsgesetz allerdings nicht. Dazu habe man andere von Normalität entsprechen, wie in der Konvention for- Vorstellungen.“ Das überrascht mich, schließlich hat muliert ist, liefert dafür die Grundlage: Unter Buch- die Fraktion der Grünen im Wahlkampf 2009 die diesbe- stabe e der Präambel der Konvention wird Behinderung züglichen Forderungen aus den Behindertenverbänden als ein sich verändernder Zustand – als Prozess – be- ausdrücklich unterstützt. schrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschen „Behindern ist heilbar“ – es wird aber noch ein lan- mit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstel- ger Heilungsprozess, bis Menschen mit Behinderungen lung sowie der Umwelt entsteht und im Ergebnis die selbstbestimmt und ohne Diskriminierungen am Leben gleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teil- in der Gesellschaft teilnehmen können, bis alle Barrie- nahme an der Gesellschaft behindert. ren beseitigt sind und Inklusion kein Fremdwort mehr ist. Unbestritten: Es ist kein einfacher Weg in eine inklu- Dieser Satz greift fundamental die Ursachen von (B) sive Gesellschaft. Den müssen wir gemeinsam beschrei- Ausgrenzung an: Behinderung – ja Benachteiligung (D) ten, parteiübergreifend, in Bund, Ländern und Kommu- schlechthin – wird als soziale Konstruktion begriffen. nen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und allen Wer konstruiert? Ein Netz definitionsmächtiger, ressour- anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Vorschläge der censtarker und durchsetzungsfähiger Akteure, die nicht Linken für diesen Weg liegen auf dem Tisch. Ich meine, unbedingt bewusst organisiert sein müssen, die nicht sie sind gut, können aber – durch die Diskussion in und einmal die Bevölkerungsmehrheit darstellen oder reprä- mit der Gesellschaft – durchaus noch besser werden. sentieren müssen! Im Ergebnis erzwingt dieses Netz eine Lassen Sie uns daran arbeiten, nicht stur ablehnen! bestimmte Definition von Normalität. Über den gesell- schaftlichen Diskurs, rechtliche Normen und Sanktions- drohungen wird diese Definition von Normalität als gesell- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaftliche Wirklichkeit rationalisiert und reproduziert. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat die Entwicklung sozialer Bürger- Mit der Übernahme des sogenannten sozialen Mo- rechte für behinderte Menschen einen entscheidenden dells von Behinderung stellt die UN-Konvention nichts Schritt weitergebracht und eine qualitativ neue Dimen- weniger dar als die Anerkennung von Behinderung als sion aufgemacht: In keiner internationalen Menschen- Bestandteil menschlichen Lebens. Weiter gedacht: Die rechtskonvention kommt der Empowerment-Ansatz so Anerkennung von „Anderssein“ als Bestandteil mensch- prägnant zum Tragen wie hier. Die formulierten Befähi- lichen Lebens wird schlechthin vorangetrieben. Setzte gungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminie- sich diese Auffassung mehrheitlich in der Gesellschaft rungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche durch, führte dies in der Konsequenz dazu, dass es kein Teilhabe für Menschen mit Behinderungen werden nicht „Anderssein“ mehr gibt, sondern nur noch ein „So- nur das deutsche Sozialrecht, sondern den gesamten sein“. Damit verbunden dürfte eine Aufwertung all jener Menschenrechtsdiskurs verändern. Umgangsweisen und Praktiken verbunden sein, derer sich die heute noch als „unvollkommen“ Stigmatisierten Zum ersten Mal werden Menschenrechte nicht aus- bedienen. schließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen. Nach dieser Konvention, der ersten großen Menschen- Die mit der Konvention postulierte Akzeptanz des rechtskonvention des 21. Jahrhunderts, stehen staatliche „Soseins“ ist ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung und gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, den der Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, auch eine Ant- Möglichkeitsraum und Handlungsraum von Menschen wort auf die Gefahr neuer Ausgrenzungen darzustellen, zu garantieren und durch aktives Handeln möglich zu die zu beobachten sind: In dem Maße, in dem Beschäf- machen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokument tigte zusehends die Rolle eines Arbeitskraftunterneh-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23997

Markus Kurth (A) mers einnehmen (müssen) und ihnen mithin die individu- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- (C) elle Verantwortung für das einwandfreie Funktionieren tionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zugewiesen wird, sind die neuen Dogmen der sozial kon- gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal- struierten Normalität zunehmend geeignet, neue For- tung der SPD-Fraktion angenommen. men der Exklusion hervorzubringen. In der „Aktivge- sellschaft“, Lessenich, ist jeder, der sich nicht fit hält, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: sich nicht weiterbildet, raucht oder sich gar den Zumu- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tungen gewisser Arbeitsverhältnisse wie Niedriglohnbe- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- schäftigung zu entziehen versucht, beinahe ein wandeln- führung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Standortrisiko, mindestens aber ein potenzieller des Europäischen Parlaments und des Rates fiskalpolitischer und volkswirtschaftlicher Schadensfall. vom 24. November 2010 über die Fahrgast- Ein solches Verständnis von Eigenverantwortung – so es rechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie sich denn weiter verbreitet – ginge mit neuen Diskrimi- zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes nierungen gegenüber sich abweichend verhaltenden Menschen einher. Die von der Großen Koalition be- – Drucksache 17/10958 – schlossenen Leistungsausschlüsse in der gesetzlichen Überweisungsvorschlag: Krankenversicherung für Hauterkrankungen und Ent- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss zündungen nach Tätowierungen bzw. Piercings zeigen Ausschuss für Tourismus deutlich, dass diese neuen Diskriminierungen mehr als eine vage Befürchtung darstellen. Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages- ordnung ausgewiesen, zu Protokoll. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die UN-Konven- tion über die Menschenrechte von Menschen mit Be- Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): hinderungen, eine universelle Forderung an Staat und Gesellschaft zu stellen: „Anderssein“ ist nicht zu diskri- Diesen Sitzungstag hat unsere verehrte Bundeskanz- minieren, sondern „Sosein“ ist zu ermöglichen. Anders lerin mit einer wegweisenden Regierungserklärung zu ausgedrückt: Je größer die Diskriminierungsfreiheit und Europa begonnen. Im Mittelpunkt der Ausführungen der Barrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller die Kanzlerin standen die Vertrauenskrise des Euro, die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit hergestellt besorgniserregende finanzielle Situation einiger Mit- wird, desto kleiner wird die Zahl behinderter und ausge- gliedstaaten der Europäischen Union sowie die Reform- grenzter Menschen zukünftig sein und desto weniger bemühungen in diesen Ländern, die von interessierten wird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daran Kreisen immer weiter verzögert werden. Die Menschen (B) hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Unter in Deutschland sind verunsichert. Denkt der Bürger an (D) dem Aspekt der Möglichkeit des „Soseins“ verwundert Europa in der Nacht, so ist er um den Schlaf gebracht. es übrigens nicht, dass die Würde – sehr viel direkter als Glücklicherweise haben wir mit Angela Merkel und in anderen Menschenrechtskonventionen – auch als Ge- Wolfgang Schäuble starke Führungspersönlichkeiten, genstand notwendiger Bewusstseinsbildung angespro- die uns und die Europäische Union mit sicherer Hand chen wird. Im Ergebnis kann dieses Menschenrechts- durch diesen schweren Sturm lenken werden. Die Regie- dokument alle Mitglieder der Gesellschaft von dem rungserklärung der Bundeskanzlerin hat in eindrucks- Zwang entlasten, sich den Norm- und Normalvorstellun- voller Weise gezeigt, dass sie die richtigen Akzente zu gen der übermächtigen, definitionsmächtigen Kollektive setzen weiß. Unser aller Unterstützung ist ihr sicher. zu unterwerfen. Es stellt daher eine emanzipatorische Voller Verständnislosigkeit kann ich – das können Errungenschaft ersten Ranges dar, die so noch längst aber sicher auch die meisten Deutschen – nur auf die nicht erkannt worden ist. Den Staat stellt sie vor große kruden Vorstellungen der Opposition blicken. Niemand Herausforderungen. außer den SPD-Funktionären kann nachvollziehen, wa- rum es für Deutschland so vorteilhaft sein soll, wenn die Vizepräsidentin Petra Pau: Schulden vergemeinschaftet werden. Vielleicht sollten Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- die Damen und Herren der Opposition einmal die Schul- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf den fremder Menschen, Menschen, die nicht unverschul- Drucksache 17/10008. Der Ausschuss empfiehlt unter det in die Schuldenfalle geraten sind, aus ihrem Privat- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung vermögen bezahlen, damit sie sehen, wie toll ihre Ideen des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache sind. Doch Europa besteht nicht nur aus Krisen, Schul- 17/7872. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – den und Bürokratie. Europa ist mehr. Europa ist der ge- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- meinsame Weg aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs in schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- Gedenken an die gefallenen, toten und ermordeten Men- fraktionen gegen die Fraktion Die Linke und die Frak- schen als ewige Mahnung hin zu Frieden, Freiheit und tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Wohlstand auf dem gesamten Kontinent. Diesen Zielen der SPD angenommen. fühlt sich die Union von über Helmut Kohl bis hin zu Angela Merkel verpflichtet. Auf diesem Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Weg haben wir nicht nur die längste Friedensperiode in lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- Europa seit Menschengedenken erlebt, sondern auch sache 17/7889. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- eine Entwicklung von Handel und Wandel, die niemand lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die vorhergesehen hat, ja auch so nie vorhersehen konnte. 23998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Hans-Werner Kammer (A) Nahezu jeden Tag gibt es dank der Europäischen Union Des Weiteren haben die Fahrgäste Anspruch auf eine (C) für die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland Fort- Entschädigung durch Fahrpreisnachlässe bei verspäte- schritte, Fortschritte, die in vielen Fällen auch die Miss- ter Ankunft. Das Prinzip, dass durch die Anwendung auf helligkeiten des täglichen Lebens wirksam bekämpfen. den Luftverkehr bekannt geworden ist, gilt also auch für den See- und Binnenschiffsverkehr. Europa ist nicht in erster Linie das Europa der Tech- nokraten und Konzernlenker, der Kapitalgesellschaften Schließlich haben auch Menschen mit Behinderung und Konzerne. Europa ist in erster Linie das Europa der vielfältige Ansprüche auf Unterstützung und Hilfe. Den- Menschen, das Europa der Europäer. jenigen unter Ihnen, die aus einer falsch verstandenen Marktradikalität Überregulierung und Bevormundung Daher genießen der Schutz des Verbrauchers und die der Unternehmen annehmen, möchte ich zurufen, dass verbesserte Teilhabe von Menschen, die Einschränkun- wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben. Der sozia- gen ausgesetzt sind, am täglichen Leben, aber auch an len Marktwirtschaft Ludwig Erhards, in der der Mensch den kleinen Freuden des Daseins, die für uns, die wir eine zentrale Rolle einnimmt. Wir von der Union haben glücklicherweise gesund sind, selbstverständlich sind, in immer für diese soziale Marktwirtschaft gefochten und Europa eine sehr hohe Priorität. Trotz des sperrigen Ti- werden dies auch weiter tun. Zur Beruhigung sei noch tels freue ich mich daher, heute zur Durchführung der angeführt, dass die Verordnung (EU) Nr. 1177/210 des Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Par- Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. No- laments und des Rates sprechen zu dürfen. In dieser Ver- vember 2010 die Unternehmen nur zu dem verpflichtet, ordnung werden nicht nur die Fahrgastrechte im See- was jeder anständige Mensch sowieso täte. und Binnenschiffsverkehr gestärkt, sondern auch die Si- tuation von Personen mit eingeschränkter Mobilität ver- Als nationalem Gesetzgeber obliegt es uns, für die bessert. Einhaltung und Durchsetzung der Verordnung in Bezug auf den See- und Binnenschiffsverkehr die entsprechen- Durch diese Verordnung wurden die Rechte der Ver- den Stellen einzurichten. Außerdem mussten wir Sank- braucher im See- und Binnenschiffsverkehr in zentralen tionen für Verstöße gegen die Verordnung festlegen. Die Punkten gestärkt. Ich möchte hier einige ansprechen: zuständige Stelle für Beschwerden über einen mutmaßli- Wir alle wissen, dass auch bei sorgfältigster Planung chen Verstoß gegen die Verordnung ist in Zukunft das und einer hervorragenden unternehmerischen Leistung Eisenbahn-Bundesamt, das zu diesem Zweck mit um- der Reiseveranstalter Verspätungen nicht immer vermie- fangreichen Befugnissen ausgestattet wurde, die zur Er- den werden können. Nichts aber ist ärgerlicher, als im reichung des Zieles der Verordnung erforderlich und nö- Ungewissen gelassen zu werden. Daher müssen die Pas- tig sind. (B) sagiere im See- und Binnenschiffsverkehr so schnell wie (D) möglich, spätestens aber eine halbe Stunde nach der Ferner haben wir die Voraussetzungen für die Ein- planmäßigen Abfahrtszeit, über die Lage und, sobald richtung von Schlichtungsstellen zur Beilegung von diese Informationen vorliegen, über die voraussichtliche Streitigkeiten aus der Beförderung im See- und Binnen- Abfahrtszeit und die voraussichtliche Ankunftszeit infor- schiffsverkehr genannt, die von den Fahrgästen im Falle miert werden. von Problemen angerufen werden können, ohne dass das Recht, die Gerichte anzurufen, verloren geht. Wenn Fahrgäste aufgrund einer Annullierung oder Verspätung einen Anschluss versäumen, so müssen sie Wie jedes Gesetz, das kein zahnloser Tiger sein über alternative Anschlüsse unterrichtet werden. möchte, weist auch dieses Sanktionsmöglichkeiten auf. Verstöße gegen die Verordnung können mit einer Geld- In den Fällen, in denen die Abfahrt im See- und Bin- buße bis zu 30 000 Euro geahndet werden. nenschiffsverkehr ganz annulliert wird oder sich um Ich denke, dass dieses Gesetz in hervorragender mehr als 90 Minuten über die planmäßige Abfahrtszeit Weise den Absichten der Verordnung (EU) Nr. 1177/ hinaus verzögert, müssen den Fahrgästen in den Hafen- 2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom terminals kostenlos Imbisse, Mahlzeiten oder Erfri- 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und schungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit an- Binnenschiffsverkehr entspricht. Dieses Beispiel zeigt, geboten werden. Wenn die Fahrt ganz annulliert wird dass Europa auch in der Krise für die Menschen da ist. oder sich so verspätet, dass ein Aufenthalt von einer oder mehreren Nächten erforderlich wird, haben die Passagiere nicht nur das Recht auf die erwähnten Im- Ulrike Gottschalck (SPD): bisse, Mahlzeiten oder Erfrischungen, sondern auch ei- Mobilität wird immer wichtiger für jeden Einzelnen nen Anspruch auf eine kostenlose angemessene Unter- von uns. Wir unternehmen Urlaubsreisen, besuchen bringung an Bord oder an Land sowie die Beförderung Freunde und Verwandte in aller Welt, und auch beruflich zwischen dem Hafenterminal und der Unterkunft. Da- ist heute eine immer größer werdende Mobilität und rüber hinaus muss in diesen Fällen den Passagieren Flexibilität gefragt. Passagierrechte bilden ein Kernele- eine anderweitige Beförderung zum frühestmöglichen ment der verkehrspolitischen Vision Europas. Die EU- Zeitpunkt und ohne Aufpreis zum Reiseziel unter ver- Kommission hat es sich zum Ziel gemacht, das Reisen in gleichbaren Bedingungen angeboten werden. Ersatz- der EU einfacher und angenehmer zu gestalten, die weise können die Fahrgäste sich für die Erstattung des Qualität des Reisens zu verbessern, die Reisenden bes- Fahrpreises und eine kostenlose Rückfahrt zum Abfahrts- ser zu schützen und die europäische Verkehrsbranche at- ort entscheiden. traktiver zu machen. Die EU-Passagierrechte ruhen auf

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23999

Ulrike Gottschalck (A) drei Eckpfeilern: Diskriminierungsfreiheit, genaue, zeit- lungen zur Schlichtung im See- und Binnenschiffs- (C) gerechte und zugängliche Informationen, unverzügliche verkehr insbesondere mit den Schlichtungsregeln im und angemessene Hilfeleistungen. Energiewirtschaftsgesetz, in der Eisenbahn-Verkehrs- ordnung sowie im Entwurf eines Gesetzes zur Schlich- Im Flugverkehr enthält vor allem die sogenannte tung im Luftverkehr harmonisiert werden müssen. Fluggastrechteverordnung, Verordnung (EG) Nr. 261/ 2004, die am 17. Februar 2005 in Kraft getreten ist, die In der Stellungnahme des Gesetzentwurfs zählt der wichtigsten Regelungen zu Verspätungen, Annullierun- Bundesrat auf, wie die Situation der Schlichtungsstellen gen und Überbuchungen. Daneben gibt es noch die für Fahrgäste in Deutschland ist. Bahnkunden können Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 für die Rechte von be- sich an die vereinsgetragene Schlichtungsstelle für den hinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit einge- öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, wenden, für schränkter Mobilität und die Verordnung (EG) Nr. 1008/ Flugpassagiere sollen laut einem aktuellen Gesetzent- 2008 für Bestimmungen zur Preisfestsetzung. Für Bahn- wurf der Bundesregierung eine privatrechtliche Schlich- reisende gilt in Deutschland seit dem 29. Juli 2009 das tungsstelle auf freiwilliger Basis und eine behördliche Gesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschrif- Schlichtungsstelle bei einer Bundesbehörde eingerichtet ten an die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007. Voraussicht- werden. Damit wird völlig unnötig die Gründung von lich 2013 werden Fahrgastrechte für Busreisende wirk- drei Schlichtungsstellen für die Fahrgäste in Deutsch- sam. Im Dezember dieses Jahres tritt eine EU- land vorbereitet. Dies ist in der heutigen Zeit, in der Verordnung für Fahrgastrechte von Schiffsreisenden in Passagiere und Fahrgastunternehmen verstärkt nach Kraft, die Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäi- der Intermodulität, also einer stärkeren Verzahnung der schen Parlaments und des Rates vom 24. November verschiedenen Verkehrsträger verlangen, kontraproduk- 2010. Diese Verordnung enthält im Wesentlichen für tiv. Schiffsreisende bei Annullierung oder Verspätung der Abfahrt um mehr als 90 Minuten den Anspruch auf Das Verhalten der Bundesregierung auf die Vor- Erstattung des Fahrpreises oder eine anderweitige Be- schläge des Bundesrates ist wieder einmal bezeichnend. förderung und eine angemessene Unterstützung bezüg- Einerseits begrüßt sie die Vorschläge des Bundesrates lich Verpflegung und Unterbringung für die Nacht, nach einer harmonisierten Schlichtungsstelle, trifft an- Schutz von Menschen mit Behinderungen oder einge- dererseits aber keine konkreten Vorkehrungen in ihrem schränkter Mobilität, Mindestanforderungen an die In- Gesetz, damit eine wirklich verkehrsträgerübergreifende formation für alle Fahrgäste und ein vorgeschriebenes Schlichtungsstelle Realität wird. Wir halten die Beschwerdemanagement. Erstmals sollen mit dieser verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle für den Verordnung nun auch für die Schifffahrt unabhängige öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, die gerade im Bahnbereich hervorragende Arbeit geleistet hat, für (B) Durchsetzungsstellen auf nationaler Ebene geschaffen (D) werden, die unter anderem für ein Beschwerdemanage- sehr geeignet. Genau wie bei der Bahn könnte sie auch ment und die Erstellung von Statistiken über die Anzahl bei Schiffs- und Luftverkehr zur Wiederherstellung eines und Art der Beschwerden eingeführt werden. Mir ist be- vertrauensvollen Miteinanders von Fahrgästen und Un- sonders auch wichtig an dieser EU-Verordnung, dass die ternehmen beitragen. qualifizierten Hilfeleistungen für Mobilitätsbehinderte Der Bundesrat plädiert in seiner Stellungnahme au- und ihre Berücksichtigung bei den Anmelde- und Orga- ßerdem für eine Pflicht der Unternehmen zur Beteili- nisationsprozessen von Schiffsfahrten und -reisen nun in gung an einer Schlichtung für alle Beförderer, Reisever- den Fokus rücken. anstalter und Reisevermittler. Dies halte ich ebenfalls Mit dem vorliegenden EU-Fahrgastrechte-Schiff- für einen guten Vorschlag, der die Verbraucherrechte fahrt-Gesetz, FahrgRSchG, will die Bundesregierung die weiter stärkt. Leider lehnt die Bundesregierung diesen Grundlage und Ermächtigung zum Erlass einer Rechts- Vorstoß ab und bleibt damit hinter den Richtlinien der verordnung zur Durchsetzung und Einhaltung der EU- EU zurück. Verordnung schaffen und die umsetzungsbedürftigen Abschließend möchte ich eine Empfehlung der EU- Regelungen bezüglich der Durchsetzung durch natio- Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und nale Durchsetzungsstellen in nationales Recht umsetzen. Binnenschiffsverkehr erwähnen, die mir besonders am Gleichzeitig verlängert sie die Übergangsfrist des § 73 Herzen liegt. In der Einleitung wird empfohlen, dass bei Abs. 4 LuftVG um zwei weitere Jahre und gewährleistet der Gestaltung neuer Häfen, bei Abfertigungsgebäuden so, dass die langjährig ausgeübten Tätigkeiten ausländi- und Renovierungsarbeiten auf Barrierefreiheit geachtet scher Flugsicherungsorganisationen gemäß § 31 b Abs. werden muss. Besondere Beachtung soll eine Konzep- 6 LuftVG fortgesetzt werden können. Dieses Gesetz be- tion für alle Verwendungsarten – Design for all – finden. darf nicht der Zustimmung des Bundesrates, gleichwohl Die SPD-Fraktion hat gerade eine Kleine Anfrage zum hat der Bundesrat seine Empfehlung gemäß Art. 76 Abs. universellen Design an die Bundesregierung verfasst. 2 des Grundgesetzes abgegeben. Aus unserer Sicht ist es wichtig, den Ansatz des univer- Als zuständige Behörde für die Durchsetzung der EU- sellen Designs nicht nur im Baubereich, sondern auch Verordnung hat die Bundesregierung das Eisenbahn- für alle Verkehrsträger voranzutreiben. Bundesamt eingesetzt. Die weitere Ausgestaltung der Schlichtungsstelle für Schifffsreisende wurde im vorlie- Torsten Staffeldt (FDP): genden Gesetzentwurf offengelassen. Der Bundesrat Wenn wir über Fahrgastrechte im Allgemeinen reden, weist daher völlig zu Recht darauf hin, dass die Rege- denken wir zuallererst an den Flugverkehr. Verschiebun-

Zu Protokoll gegebene Reden 24000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Torsten Staffeldt (A) gen und Ausfälle dominieren nicht nur unsere Gedan- Mitgliedsländern unmittelbar in Kraft. Damit erhalten (C) ken, sondern sind auch Gegenstand zahlreicher Bericht- Schiffsreisende ähnliche Rechte wie Bahn- und Flugrei- erstattungen verschiedener Medien. In den meisten sende. Diese Gleichstellung begrüßt die Linke. Jedoch Fällen aber landen wir problemlos und pünktlich am krankt die Verordnung an den ebenso gleichen Stellen Zielflughafen. Dann erwischt uns die Sorge, dass unser wie im Bereich der Fluggastrechte. Zwar sollen auch die Gepäck beschädigt ist oder vielleicht gar nicht seinen Betreiber von Fahrgastschiffen einen Teil des Reiseprei- Zielort erreicht haben könnte. Vielen Mitbürgern fällt ses bei verspäteter Ankunft am Zielhafen erstatten. Wie aber auch als Gegenstand von Beschwerden die Bahn im Luftverkehr beinhaltet die Regelung jedoch scheu- ein, die deutlich pünktlicher ist als ihr Ruf. Das wird nentorgroße Schlupflöcher, bei denen sich Reiseveran- sich aber ein Bahnreisender sicherlich nicht vor Augen stalter durch Hinweise auf schlechtes Wetter oder au- führen, wenn er bei minus 20 Grad am Berliner Haupt- ßergewöhnliche Umstände aus der Pflicht stehlen bahnhof auf seinen 15 Minuten verspäteten Zug wartet. können. Für beides gibt es bewährte Entschädigungssysteme, Insgesamt jedoch dürfen die Fahrgäste dankbar sein, sodass die Kunden zu ihrem guten Recht kommen. Die dass hier die Europäische Union zum größten Teil selbst Bahn ist beispielsweise verpflichtet, ab einer Verspätung unmittelbares Recht setzt und so der Bundesregierung von 60 Minuten ihren Kunden einen 25-prozentigen Ra- kein großer Spielraum bleibt, die Stärkung von Fahr- batt einzuräumen, und die Fluggastrechteverordnung gastrechten zu torpedieren. Obwohl die neuen Regelun- EG Nr. 261/2004 sorgt für einen gerechten Entschädi- gen gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität gungsanspruch von Passagiere gegenüber ihren Flugge- entscheidende Verbesserungen enthalten, erklärte Ver- sellschaften. Auch wenn die Erfahrung zeigt, dass sich kehrsminister Ramsauer zum Beschluss der Verordnung die Airlines in den meisten Fällen sehr kulant zeigen, so durch das Europäische Parlament: „Bei der Verordnung wird diese christlich-liberale Koalition die Verbraucher- fehlen das Augenmaß und die nötige Balance zwischen rechte durch die Einrichtung einer eigenen Schlich- Kosten für die Verkehrsunternehmen und dem effektiven tungsstelle für den Flugverkehr noch weiter stärken. Nutzen für die Fahrgäste.“ Und: „Die Bundesregierung Woran die wenigsten aber denken, ist, dass es auch hat sich in Brüssel gegen die Verordnung in der vorlie- Passagiere im Schiffsverkehr gibt. Um auch deren Rechte genden Form ausgesprochen.“ zu stärken, hat die Europäische Union vor zwei Jahren Die Umsetzung des kleineren Teils der Verordnung, die Verordnung Nr. 1177/2010 erlassen, die Ende dieses der erst noch in nationales Recht umgesetzt werden Jahres in Kraft tritt. Diese regelt die Fahrgastrechte im muss, trägt dann auch die entsprechende Handschrift Binnen- und Seeschiffsverkehr, wenn der Einschiffungs- der Bundesregierung. Obwohl an dieser Stelle Rege- hafen oder Ausschiffungshafen in der Europäischen (B) lungskompetenz besteht, unterlässt es die Bundesregie- (D) Union liegt. Neben Regelungen zu Verspätungen und rung, den Unternehmen gegenüber den Reisenden aus- Annullierungen beinhaltet sie auch das Verbot der Dis- reichend deutlich ausformulierte Informationspflichten kriminierung und das Gebot der Unterstützung gegen- über die Schlichtungsstelle aufzutragen. über Menschen mit Behinderungen und Mobilitätsein- schränkungen. Das hier vorgelegte Gesetz soll nun die Weiter versäumt es die Bundesregierung, die Sanktio- Verordnung in deutsches Recht transferieren. nen bei Verstoß gegen die Fahrgastrechte gerade im Sinne von Menschen mit Behinderung ausreichend zu Ich finde es gut, dass die Bundesregierung dabei von konkretisieren. So spart die Verordnung zum Gesetzent- der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dass sich der wurf die Sanktionierung zahlreicher behindertenspezifi- Beschwerdeführer zuerst an das betroffene Unterneh- sche Verstöße gegen die EU-Verordnung aus. men wenden muss, bevor die Schlichtungsstelle einbezo- gen wird. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass ähn- Die Linke wird sich im Gesetzgebungsprozess dafür lich wie im Flugverkehr oder bei der Bahn sich auch einsetzen, dass der Bundestag seinen verbliebenen hier die allermeisten Probleme bereits ohne Schlichtung Spielraum bei den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr im lösen lassen. Daneben ist es gelungen, die Schlichtung Sinne der Fahrgäste und nicht im Sinne der beteiligten möglichst unbürokratisch zu gestalten, indem es eine Unternehmen nutzt. zentrale Anlaufstelle geben soll, ohne in jedem Bundes- land noch eine zusätzliche Beschwerdestelle einzurich- ten. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zwei Dinge stehen hier heute zur Debatte: zum einen Ich glaube, dass der Bundesregierung mit dem hier Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, zum vorgelegten Gesetz zur Durchführung der EU-Verord- anderen die Änderung des Luftverkehrsgesetzes. Bei bei- nung ein guter Aufschlag zur Stärkung der Verbraucher- den Themen hatten wir ausführliche Stellungnahmen der rechte gelungen ist, und freue mich auf die weiteren Be- Bundesländer, die an Kritik nichts offen ließen. Und was ratungen. hat die Bundesregierung dazu zu sagen? Man muss hier auf Seite 48 von einem 50-seitigen Dokument schauen, Thomas Lutze (DIE LINKE): um sich dann mit zweieinhalb Seiten Gegenäußerung zu- Mit der Europäischen Verordnung Nr. 1177/2010 er- frieden zu geben. Den absolut berechtigten Einwendun- reichen Fahrgäste im See- und Binnenschifffahrtsver- gen zur Schlichtung im Luftverkehr werden gar nur kehr einige wesentliche Verbesserungen. Die wesentli- zwölf Zeilen gewidmet. Ist das Ihr Ernst, meine liebe chen Regelungen der Verordnung treten in den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition? Halten Sie

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24001

Markus Tressel (A) es für angemessen, angesichts der Kritik des Bundesra- Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (C) tes, wo nahezu alle Länder Änderungsbedarf sahen? minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Einen besonderen Gruß sende ich an dieser Stelle mal Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verord- nach Bayern. Sie haben im Bundesrat wirklich sehr gute nung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments Arbeit geliefert. Aber das, was CSU und FDP hier ablie- und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahr- fern, ist unterirdisch. Ramsauer und Aigner führen mit gastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur dem Verkehrs- und dem Verbraucherministerium auf Änderung des Luftverkehrsgesetzes werden zum einen Bundesebene zwei Ministerien, denen man nun wirklich die gesetzlichen Grundlagen im nationalen Recht für die nicht unterstellen kann, dass sie in diesem Bereich nicht Einhaltung und Durchsetzung der durch die Verordnung betroffen seien. Das BMVBS war auch stets in die Ver- (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und handlungen des BMJ unter Führung der FDP eingebun- des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnen- den. Das, was Sie hier abliefern, ist Ausdruck des blan- schiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) ken Versagens. Und ich sage Ihnen auch eines: Wenn es Nr. 2006/2004 unmittelbar geltenden Fahrgastrechte im Ihnen wirklich ernsthaft um verkehrsträgerübergrei- See- und Binnenschiffsverkehr durch die Einrichtung fende und neutrale Schlichtung gegangen wäre, würden entsprechender Stellen sowie der Festlegung eines Sank- Sie das hier nicht durchgehen lassen. Bei Ihrer Reise tionsregimes bei vermeintlichen Verstößen geschaffen. durch das Verbraucherrecht haben Sie wirklich noch einmal eindrucksvoll unter Beweise gestellt, dass Sie Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung da- nichts anderes als blinde Passagiere sind. mit das verbraucherpolitische Ziel der Stärkung und weiteren Verbesserung der Rechte von Verbrauchern im Lassen Sie mich eines kurz zitieren. Schauen Sie mal See- und Binnenschiffsverkehr in Bezug auf Personen- auf Seite 50: „Die Bundesregierung weist für den Be- verkehrsdienste und Kreuzfahrten unter besonderer reich des Luftverkehrs darauf hin, dass sich inzwischen Berücksichtigung von Belangen behinderter und mobili- zahlreiche Luftfahrtunternehmen zu einer freiwilligen tätseingeschränkter Menschen in Deutschland um. Schlichtung bereit erklärt haben.“ Ich frage Sie: Wer ist Diese Passagiere erhalten nach Inkrafttreten des vorge- denn schon Mitglied bei einer anerkannten Schlich- legten Gesetzentwurfs das gleiche europaweite Schutz- tungsstelle? Die Verordnung gibt es schließlich schon niveau, wie es schon im Luft- und Eisenbahnverkehr seit siebeneinhalb Jahren. Seit 2005 bestand dazu die besteht und künftig auch auf den Buslinienverkehr aus- Möglichkeit. Erst bei der Schlichtungsstelle Mobilität, geweitet wird. jetzt bei der SÖP. Wo ist denn die Schlichtungsstelle für Der Entwurf des eingebrachten EU-Fahrgastrechte- (B) Flugreisende? Was passiert denn derzeit mit den ganzen (D) Beschwerden, die Fluggäste an die Airlines richten und Schifffahrt-Gesetzes bestimmt im Wesentlichen die Auf- die dort nur unzureichend bearbeitet werden? Sie haben gaben und die Zuständigkeit des Bundes für den Bereich es wirklich nicht begriffen. Weder erkennen Sie die man- des Verkehrsträgers Schiff zur Durchsetzung der Fahr- gelhafte Rechtsdurchsetzung der Fluggastreche noch gastrechte. Ferner werden die für die Durchführung der welches Potenzial eine unabhängige Schlichtungsstelle Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 notwendigen Befug- für die Reisenden bringt, wohl gemerkt im Zusammen- nisse sowie Mitwirkungspflichten abschließend nor- hang mit anderen zu nutzenden Instrumenten, wie bei- miert. Zudem enthält der Gesetzentwurf Regelungen zur spielsweise einer konsequenten Sanktionierung. individuellen Streitbeilegung sowie zur Möglichkeit der Anrufung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlich- Und damit möchte ich auch noch kurz etwas zu den tungsstelle. anderen Bereichen des Reiserechts betonen: Auch hier – liebe Kollegen von der CSU – bauen Sie nicht Büro- Neben den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr wird kratie ab, sondern auf. Was ist denn mit Herrn Stoiber? mit dem Gesetzentwurf die Luftsicherheit durch auslän- dische Flugsicherungsorganisationen in grenznahen Wo ist denn seine Aufgabe? Ist das Reiserecht davon Bereichen und an Flugplätzen durch die Verlängerung ausgenommen? Wir brauchen endlich einen Rechtsakt der bestehenden Übergangsfrist für deren Aufgaben- für alle Reisenden. Was soll denn dieser Käse mit den wahrnehmung aufgrund einer Änderung von § 73 Abs. 4 ganzen sektorspezifischen Regelungen? Natürlich brau- Luftverkehrsgesetz weiterhin dauerhaft gewährleistet. chen wir auch Fahrgastrechte für See- und Binnen- schiffsverkehr. Natürlich brauchen wir Fahrgastrechte Mit der durch den Gesetzentwurf erfolgten Änderung im Bus- und Bahnverkehr. Und selbstverständlich brau- von § 73 Abs. 4 des Luftverkehrsgesetzes wird die dort chen wir dringend ein ordentliches Maß an Verbrau- geregelte und am 31. Dezember 2012 endende Über- cherschutz für Fluggastrechte. Aber: Wir brauchen ein gangsfrist für ausländische Flugsicherungsorganisatio- Reiserecht, dass auch den intermodalen Verkehrskon- nen nach dem LuftVG um zwei Jahre bis zum 31. Dezem- zepten gerecht wird. Wir brauchen ein Recht, das Quali- ber 2014 verlängert. Damit wird gewährleistet, dass die tät sichert. Wir brauchen ein Recht, das den Reisenden, mit ausländischen Staaten ausgehandelten völkerrecht- auch ohne dafür ein Jurastaatsexamen gemacht zu ha- lichen Übereinkünfte zur Durchführung der Flugsiche- ben, klar und einfach darstellt, welches Recht sie haben – rung in Deutschland fristgerecht in Kraft gesetzt werden ganz im Sinne der Reisenden. Denn die sind es, um die es können. Andernfalls würden die bisherigen und teilweise primär geht, und nicht allein die Wahrung der Interessen seit Jahrzehnten im deutschen Luftraum in grenznahen der Wirtschaft. Bereichen ausgeübten Tätigkeiten ausländischer Flug-

Zu Protokoll gegebene Reden 24002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) sicherungsorganisationen mit Ablauf der bislang gelten- teilung, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, werden (C) den Frist als nicht mehr gestattet gelten. wir nichts ändern. Die planerische Konkretisierung des Ausbaus erneuerbarer Energien auf Grundlage des § 17 Ich glaube, wir haben heute einen guten Entwurf vor- Abs. 1 ROG ist nicht notwendig. Es ist nicht sinnvoll, gelegt, und freue mich auf zügige parlamentarische Be- dass der Bund den Gemeinden vorschreibt, ob und in ratungen. welchem Umfang entsprechende Flächen für erneuer- bare Energien festgeschrieben werden. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Die bisherigen Erfahrungen beim Ausbau der erneu- wurfs auf Drucksache 17/10958 an die in der Tagesord- erbaren Energien zeigen, dass die Erstellung eines ge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind samtdeutschen Raumordnungsplanes mit verbindlichen damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- Flächenvorgaben für erneuerbare Energien für die ein- schlossen. zelnen Bundesländer nicht notwendig ist. Die Energie- konzepte der Länder werden nach derzeitigem Stand Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: dazu führen, dass die von der Bundesregierung anvisier- ten Ziele für erneuerbare Energie nicht nur erreicht, Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina sondern übertroffen werden. Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Eine verbindliche Vorgabe durch den Bund ist in der NIS 90/DIE GRÜNEN Praxis schon deshalb nicht sachgerecht, weil für ein effizientes Raummanagement die örtlichen Gegebenhei- Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz ten der einzelnen Regionen in Ansatz gebracht werden und Energiewende müssen, so dass eine Steuerung nur auf Ebene der über – Drucksache 17/9583 – die entsprechende Ortskenntnis verfügenden Landes- Überweisungsvorschlag: und Regionalplanungen möglich ist. Im Übrigen wäre Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) ein entsprechender gesamtdeutscher Plan nicht zielfüh- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rend, weil er keine positive Wirkung in der Praxis garan- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tieren könnte. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir An dieser Stelle möchte ich auf den Flächenver- die Reden zu Protokoll. brauch eingehen, der zunehmend zu einem Problem wird. Es ist in unserem Sinn, eine möglichst geringe In- Ulrich Lange (CDU/CSU): anspruchnahme land- und forstwirtschaftlicher Flächen (B) Die Energiewende ist für die Bundesrepublik zu erreichen. Ich möchte auf die Doppelbelastung der (D) Deutschland neben der Euro-Krise die größte wirt- Land- und Forstwirtschaft durch Inanspruchnahme schaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederauf- landwirtschaftlicher Flächen zunächst für den Eingriff bau und die größte umweltpolitische Herausforderung selbst und dann für Kompensationsmaßnahmen im Rah- überhaupt. Gerade weil unsere umwelt- und energie- men des Naturschutzausgleichs hinweisen. Deshalb soll- politischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvoll ten bei der Umweltprüfung neben Schutz und Schonung sind, bedürfen sie auch einer besonders sorgfältigen von Naturräumen auch der Schutz von land- und forst- Prüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen wirtschaftlichen Flächen, agrarstrukturelle Belange so- auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze, aber auch wie für die Landwirtschaft besonders geeignete Böden auf die Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Ländern sowie der Bodenschutz Berücksichtigung finden. und Kommunen. Alle Möglichkeiten, die zu einem er- folgreichen Abschluss dieses Mammutprojektes führen Wichtig ist auch, dass wir hier die Bevölkerung, ins- können, müssen berücksichtigt und integriert werden. besondere unsere Landwirte, mitnehmen. Bei Kompen- Deshalb müssen auch die positiven Auswirkungen der sationsmaßnahmen müssen Inhalt, Art und Umfang von Raumordnung betrachtet werden. Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Entsiegelung, Wiedervernetzung von Lebensräumen, Bewirtschaftung Die von den Grünen geforderten Änderungen und und Pflege sowie zum Ersatzgeld und zur Definition Vorschläge sind jedoch in keiner Weise zielführend, da „agrarstrukturelle Belange“ und „besonders geeignete es im Wesentlichen um Ziele geht, die auch ohne die be- Böden“ berücksichtigt werden. Eine Erhöhung der ein- antragten Gesetzesänderungen und Raumordnungs- maligen Dienstbarkeitsentschädigung auf 20 Prozent pläne des Bundes erreicht werden können, sodass die des Grundstückswertes bei Freileitungen und mindes- vorgeschlagenen Maßnahmen lediglich deklaratori- tens 50 Prozent des Grundstückswertes für 380-kV- schen Charakter besitzen. Erdverkabelungen sowie die Ergänzung der einmaligen Dienstbarkeitsentschädigung um eine jährlich wieder- Zudem werden die erfolgreichen föderalen Strukturen kehrende und unbefristete Nutzungsvergütung sollten infrage gestellt. Der Bund ist für die Planung eines aus- diskutiert werden. reichenden Hochspannungsnetzes zuständig, welches gewährleistet, dass der produzierte Strom vom Ort der Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist auch für Entstehung dahin transportiert wird, wo der Strom ge- Deutschland ein Kraftakt. Die von der Bundesregierung braucht wird. Die Ausweisung raumordnerischer anvisierten klimapolitischen Ziele sind mehr als erfüllt. Gebiete für erneuerbare Energien ist aber originärer Wir sind auf dem Weg zur Energie von morgen: sauber, Kompetenzbereich der Landesplanungen. An dieser Auf- bezahlbar, verlässlich. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24003

(A) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Ort entschieden wird, wo die erneuerbaren Erzeugungs- (C) Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zeigt wieder anlagen gebaut werden. Vorgaben für den Ausbau der er- einmal deutlich, dass Sie verzweifelt versuchen, unsere neuerbaren Energien durch das Raumordnungsgesetz Erfolge in der Energiepolitik schlechtzureden. Statt würden die Akzeptanz der erneuerbaren Energien nur unsere energiepolitischen Vorhaben konstruktiv zu be- unnötig gefährden. Denn die Leute vor Ort wollen mit gleiten, haben Sie sich auf Blockade und Lamentieren eingebunden werden, wenn vor ihren Häusern Wind- spezialisiert. Doch die Fakten zeigen deutlich, dass un- mühlen oder Biogasanlagen gebaut werden. Geeignete sere Gesetzgebung zum Erreichen der energiepoliti- Gebiete für erneuerbare Energien festzulegen, kann also schen Ziele erfolgreich ist. Wir erreichen nicht nur un- besser durch die Länder als durch den Bund geschehen. sere Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien, Denn die Länder verfügen zusammen mit den Kommu- sondern übertreffen auch bei Weitem alle Ausbauziele, nen eindeutig über die bessere Ortskenntnis in den die sich Grün oder Rot in ihrer Regierungszeit gesetzt Regionen. Dass dies funktioniert, beweisen sowohl alle haben. Energiekonzepte der Länder mit ihren teils überborden- den Ausbauzielen als auch die laufende Umsetzung Allein im vergangenen Jahr ist der Anteil der erneu- durch die Landes- und Regionalplanung der Bundeslän- erbaren Energien am Strommix um 3 Prozent auf über der. 20 Prozent gestiegen, seit unsere schwarz-gelbe Koali- tion regiert, ist der Anteil der erneuerbaren Energien um Dieser Antrag zeigt wieder einmal den Realitätssinn fast 10 Prozent gestiegen. So schnell wie bei keiner an- der Grünen. Sie verkennen die Lage und die eigentlichen deren Regierung zuvor. Damit gehören wir in Europa zu Herausforderungen der Energiewende. Unser Haupt- den Spitzenreitern beim Ausbau der erneuerbaren Ener- problem ist nicht, dass wir den Zubau durch EEG- gien. Auch die Bundesländer überbieten sich in ihren Novellen durch das Raumordnungsgesetz verhindern. Energiekonzepten. Insgesamt wollen 14 Bundesländer Vielmehr stellt uns der äußerst schnelle Ausbau der er- energieautark und zehn von ihnen zum Stromexporteur neuerbaren Energien vor massive, andere Herausforde- werden. Alle Ausbauziele zusammen liegen 60 Prozent rungen. So ist es nun an der Zeit, dass die erneuerbaren über denen der Bundesregierung. Allein im ersten Halb- Energien schneller zu Markt- und Wettbewerbsfähigkeit jahr dieses Jahres sind laut Branche 26 Prozent mehr geführt werden. Deshalb haben wir mit der Marktprä- Windenergieanlagen aufgestellt worden als im Vorjah- mie erstmals ein Instrument für mehr Systemintegration reszeitraum, insgesamt 414 Windenergieanlagen mit ei- der erneuerbaren Energien geschaffen. Damit wird an- ner Leistung von zusammen 1 004 Megawatt. Diese Zah- gereizt, dass die erneuerbaren Energien nicht einfach len zeigen deutlich, dass der Zubau vor Ort floriert und blind einspeisen, sondern sich besser in das System inte- keineswegs am jetzigen Raumordnungsgesetz scheitert. grieren. Weitere Schritte werden und müssen folgen. (B) Zum einen müssen die erneuerbaren Energien für den (D) Das aktuelle Raumordnungsgesetz ist eben kein „Er- Verbraucher bezahlbar bleiben. Deshalb fühlen wir uns neuerbaren-Ausbau-Verhinderungs-Gesetz“, wie es der in der Pflicht, die Förderung der Erneuerbaren so effi- vorliegende Antrag suggeriert. Im Gegenteil: Es be- zient wie möglich zu gestalten. Dies haben wir in ver- inhaltet ausreichende Regelungen für Klimaschutz und gangenen EEG-Novellen versucht, doch auch hier wur- den Ausbau der erneuerbaren Energien. So wird schon den wir zu oft von Ihnen im Bundesrat gehindert. Zum zu Beginn des Gesetzes in § 2 Abs. 2 Nr 6 Raumord- anderen muss der Ausbau der erneuerbaren Energien nungsgesetz geregelt: „Den räumlichen Erfordernissen mit dem Ausbau der Netze in Einklang gebracht werden. des Klimaschutzes ist Rechnung zu tragen sowohl durch Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken als Diesen und weiteren Herausforderungen stellen wir auch durch solche, die der Anpassung an den Klima- uns. Wo Sie schon mit Wahlkampfgetöse starten, leiten wandel dienen. Dabei sind die räumlichen Vorausset- wir zusammen mit Bundesumweltminister Peter zungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien … zu Altmaier einen Verfahrensprozess ein und packen diese schaffen.“ Herausforderungen ganz konkret an. Das Parlament, die Länder und auch die Bürger bekommen die Möglich- Auch der Flächensicherung für erneuerbare Ener- keit, sich an diesem Verfahren zu beteiligen. Das ist auch gien und Klimaschutz wird im Raumordnungsgesetz Ihre Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit der Rechnung getragen. Raumbedeutsame Nutzungen und Energiewende. Funktionen des Raumes sowie alle denkbaren raumord- nerischen Steuerungsfunktionen sind dort ausreichend Michael Groß (SPD): abgedeckt. Die von Ihnen geforderte Ergänzung im § 8 Abs. 5 ROG ist also nicht sinnvoll, da sie eine rein dekla- Das Raumordnungsgesetz beinhaltet die Leitvorstel- ratorische Normierung ohne eigenen Regelungsgehalt lung einer nachhaltigen Raumordnung, die die sozialen darstellen würde. und wirtschaftlichen Anforderungen an den Raum in der Bundesrepublik mit den ökologischen in Einklang bringt Wenn die Grünen an der einen Stelle mehr Bürgerbe- und ausgewogen gestaltet. Mit der letzten Novelle 2008 teiligung beim Ausbau der Netze oder Umbau von Bahn- wurden nicht nur Anpassungen hinsichtlich der Födera- höfen fordern, dann sollten sie auch beim Ausbau der er- lismusreform vorgenommen, sondern wurde das Raum- neuerbaren Energien konsequent bleiben und nicht ordnungsgesetz, ROG, auch an die aktuellen „Leitbilder einen Bundesausbauplan für erneuerbare Energien for- und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in dern. Denn auch aus Gründen der Akzeptanz ist es rich- Deutschland“ angepasst. Diese Neufassung hatte unter tig, dass auf Landesebene und kommunaler Ebene vor anderem die Verringerung der Flächeninanspruch-

Zu Protokoll gegebene Reden 24004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Michael Groß (A) nahme, den Klimaschutz, die Stärkung des ländlichen Belange berücksichtigen. Ich verweise an dieser Stelle (C) Raumes und das Hervorheben der interkommunalen und erneut auf unseren Antrag und das SPD-Konzept im europäischen Zusammenarbeit zum Ziel. Insgesamt Rahmen des Infrastrukturkonsenses zu umfassender wurde die Raumordnungsgesetzgebung derart gestaltet, Bürgerbeteiligung. Bei der Raumordnung muss jedoch dass sie künftig von vornherein flexibel auf besondere mit Augenmaß gehandelt werden und ein Abwägungs- Entwicklungen reagieren kann. Auch die EU-Richtlinie prozess gestaltet werden. Dies geht nur über regionale zur strategischen Umweltprüfung wurde im damaligen Planung, horizontal und vertikal abgestimmte regionale Gesetz vollständig umgesetzt. Ziel war es zu diesem Zeit- Konzepte – gerade für die Gestaltung der Energie- punkt bereits, die Raumordnung umfassend auf klima- wende. Eine einseitige Auslegung der Raumordnungs- bedingte Veränderungen vorzubereiten und deren Aus- gesetze wäre hier sicher nicht zielführend. wirkungen einzubeziehen. Wichtig ist also eine enge inhaltliche und politische Wegen der unmittelbaren Auswirkungen der Raum- Abstimmung mit den Ländern, ob überhaupt und in wel- ordnung auf die Bauleitplanung sind detaillierte Vorga- cher Form eine Änderung der Raumordnung verfolgt ben in der Raumordnung eher zurückhaltend zu bewer- werden sollte. ten. Als NRW-Bundestagsabgeordneter kann ich darüber informieren, dass der weit überwiegende Teil der kommunalen Flächennutzungspläne in NRW bereits Petra Müller (Aachen) (FDP): Darstellungen zu Konzentrationszonen mit Windenergie Die christlich-liberale Regierungskoalition hat sich der enthält. unumkehrbaren und umfassenden Energiewende ver- schrieben. Ob im Bundesministerium für Wirtschaft un- Mit Klimaveränderungen wird zunehmend die Frage ter Führung des FDP-Vorsitzenden Dr. Philipp Rösler, der Ernährung und als wichtigstes Produktionsmittel im Umweltministerium unter dem Christdemokraten der Boden – also die Fläche – eine gewichtige Rolle oder im BMVBS unter dem CSU-Minis- spielen. Bereits jetzt ist die Konkurrenz um die Fläche ter Dr. Peter Ramsauer – alle Parteien der Koalition ar- sehr hoch. Auch der Präsident des Deutschen Bauern- beiten intensiv und nachdrücklich an der Umsetzung der verbandes lenkte das Augenmerk um die Flächenkon- Beschlüsse zur Energiewende. Das beinhaltet selbstver- kurrenz von Nahrung und Energie mit einer öffentlichen ständlich auch, die klimagerechte Entwicklung in den Petition auf die schwindende landwirtschaftliche Flä- Städten und Gemeinden zu fördern, den CO2-Ausstoß zu che. Mit dem ZDF-Thementag gegen Hunger – als im- verringern, die erneuerbaren Energien auszubauen. mer noch größtes Gesundheitsrisiko in der Welt – wird Überall dort, wo Bau-, Stadtplanungsvorschriften sowie der Ernst der Lage sehr deutlich. Hier liegt aus Sicht der Raumordnung dazu einen Beitrag leisten können, wer- SPD die Aufgabe der Raumordnung klar in der Identifi- (B) den wir das tun. Denn Raumordnung und Stadtentwick- (D) zierung und Abwägung spezifischer Nutzungskonkurren- lung, Klimaschutz und Energiewende sind für die FDP zen. kein Widerspruch, sondern bilden eine Einheit, die es Es ist ohne Zweifel eine politische Aufgabe, den Aus- politisch weitblickend, sozialverträglich, ökologisch sinn- bau erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Auch die voll und ökonomisch vertretbar zu gestalten gilt. Ministerkonferenz für Raumordnung bekräftigte, dass Mit den Änderungen des Baugesetzbuches tun wir ge- „die verstärkte Nutzung regenerativer Energien und der nau das. Wir gestalten und begleiten unter anderem hierzu erforderliche Netz- und Speicherausbau der auch die Energiewende und leisten den fachlichen Bei- überörtlichen, planerischen Konzeption sowie der trag zum Klima- und Naturschutz, der in Verantwortung Flächen-, Standort- und Trassenvorsorge durch die für lebende wie zukünftige Generationen notwendig ist. Landes- und Regionalplanung bedarf“. Gerade regene- Kursorisch lassen Sie mich einige Themen aufgreifen. rative Energien bieten die Chance dezentraler Struktu- Bereits in § 1 des novellierten Baugesetzbuches werden ren und können nur vor Ort und in Kooperation von die Bedeutung der Fläche und die Schonung der Natur Bund, Land und Kommunen entwickelt werden. Dazu in besonderer Weise hervorgehoben und gestärkt. Die sind die ordnungspolitischen Voraussetzungen zu schaf- Notwendigkeit der Umwandlung landwirtschaftlich oder fen. als Wald genutzter Flächen soll zukünftig begründet Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, NABeG, hat werden. Der Innenentwicklung von Städten und Gemein- eine Reihe von Verbesserungen bei der Öffentlichkeits- den wird daher eine wichtige Rolle zugewiesen. Brach- beteiligung im Rahmen der Bundesnetz- und Bedarfs- flächen, Baulücken, Gebäudeleerstand und Möglichkeiten planung geschaffen, so zum Beispiel die Verpflichtung der Nachverdichtung werden ausdrücklich hervorgeho- der Betreiber von Übertragungsnetzen, den Entwurf des ben. Das wird den Flächenverbrauch in der Zukunft Netzentwicklungsplans vor Vorlage bei der Regulie- bremsen und damit das natürliche und klimafreundliche rungsbehörde im Internet zu veröffentlichen, sowie die Regenerationspotenzial stärken. Gleiches gilt für § 17, verpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung im Zuge der wo der Spielraum der Gemeinden im Interesse der In- strategischen Umweltprüfung. Darüber hinausgehend nenentwicklung erhöht wird, wenn es darum geht, von halten wir weitere Verbesserungen der Bürgerbeteili- Obergrenzen für die Festsetzung des Maßes für bauliche gung für geboten. Nutzungen abzuweichen. Für den ambitionierten Ausbau der regenerativen Die FDP hält am Ziel des Nullneuflächenverbrauchs Energien in Deutschland müssen wir die Menschen mit- fest und sieht vor dem Hintergrund der demografischen nehmen, aber insbesondere gewinnen und regionale Entwicklung einen politisch begleiteten negativen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24005

Petra Müller (Aachen) (A) Flächenverbrauch für angezeigt. Und lassen Sie mich Kompetenz, aber auch deren Motivation stärkt. Ob dazu (C) einfügen: Die Innenentwicklung werden wir nicht nur im ein Bundesraumordnungsplan, wie in Punkt 3 des An- Baugesetzbuch fördern. Mit den für den Bundeshaushalt trags gefordert wird, das richtige Instrument ist, lasse 2013 erhöhten Mitteln für die Städtebauförderpro- ich erst einmal dahingestellt. Richtig ist jedenfalls das gramme „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“ um 4 Mil- Anliegen, das ich dahinter vermute. lionen auf 97 Millionen Euro, „Kleine Städte und Ge- meinden“ um 10 Millionen auf 55 Millionen Euro, Die Energiewende ist eine Aufgabe von geradezu his- „Stadtumbau Ost und West“ zusammen 116 Millionen torischer Bedeutung. Als politische Aufgabenstellung ist Euro werden wir passgenau unter anderem das tun, was sie aber noch relativ jung und die verfügbaren Planungs- Sie fordern: den Flächenverbrauch senken, die Innen- instrumente, die Planungsgremien und der gegebene städte fördern, den natürlichen Lebensraum erhalten, Rechtsrahmen haben darauf noch nicht in der notwen- die Klimabilanz verbessern. Das ist Politik der FDP und digen Konsequenz reagiert. Anstelle eines Bundesraum- das ist Politik der christlich-liberalen Union. ordnungsplanes – der könnte vielleicht der zweite Schritt sein –, würde ich eine generelle Revision sämt- Doch zurück zur Baugesetzbuchnovelle. Mit § 136 licher Planungs- und Rechtsvoraussetzungen anregen. werden wir die Belange des Klimaschutzes und der Das gesamte System von Planungshoheit, Ämterbefug- Klimaanpassung ausdrücklich in die Beurteilung städte- nis und die in den letzten Jahrzehnten geübte Planungs- baulicher Missstände einbeziehen. Damit wird deutlich, praxis gehören auf den Prüfstand, und zwar unter der dass beide Aspekte – Klimaschutz und Klimaanpas- Prämisse, ob sie den objektiven Erfordernissen des Kli- sung – auch im Rahmen der städtebaulichen Sanierung maschutzes und der Energiewende noch gerecht werden. und als Bestandteil städtebaulicher Gesamtmaßnahmen zukünftig berücksichtigt werden. Die bereits vielerorts Klimaschutz ist eine internationale Aufgabe, die aber praktizierten Aktivitäten zur klimagerechten Stadterneue- in Regionen und Gemeinden verwirklicht werden muss. rung finden damit auch im Gesetzestext eine Stütze. Die Die Frage ist: Ist die Raumordnungsplanung in ihrer Städte und Gemeinden können davon Gebrauch ma- jetzigen traditionellen Verfasstheit in der Lage und ist chen; es liegt in ihrem planerischen Ermessen. Die FDP sie motiviert, dazu einen entscheidenden Beitrag zu leis- und die Bundesgesetzgebung fordern sie dazu ausdrück- ten? Ich meine, es gibt da bedeutende Reserven und Po- lich auf und schaffen dafür den rechtlichen Rahmen. tenziale zu heben, für die aber bundespolitische Priori- Gleichzeitig sollen in § 136 die energetische Beschaf- tätensetzungen einschließlich des dafür erforderlichen fenheit und die Gesamtenergieeffizienz als Kriterien be- Rechtsrahmens notwendig sind. nannt werden für die Sanierungsbedürftigkeit. Damit Insofern ist mir auch die Forderung im Punkt 4 des (B) sollen städtebauliche Sanierungsmaßnahmen zukünftig Antrags zu zögerlich, wonach die Bundesregierung an- (D) einen stärkeren Beitrag dazu leisten, dem Klimawandel gehalten ist, zu „prüfen, ob der Klimaschutz und der entgegenzuwirken. Dafür wird es notwendig sein, die Ausbau erneuerbarer Energien gestärkt werden können, Ausstattung baulicher Anlagen mit nachhaltigen Versor- indem im Raumordnungsgesetz die Möglichkeit geschaf- gungseinrichtungen, mit Erneuerbare-Energien-Anlagen, fen wird, Flächenvorgaben verbindlich auf die Länder- mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und einer verbes- ebenen zu konkretisieren“. Der Bund muss, ausgehend serten Wärmedämmung zu versehen. Was die Nutzung von von Klimaschutzerfordernissen, einen Prioritätenkatalog Solarthermie- und Photovoltaikanlagen betrifft, werden festlegen, den die Landesplanung in ihre Prämissen zur wir die Baunutzungsverordnung – §§ 14 und 17 – ent- Fortschreibung von Raumordnungskonzepten und -pla- sprechend anpassen. nungen übernimmt. Er muss auch mit den Ländern ge- meinsam eine Hirarchie der Entscheidungsebenen ab- Die Möglichkeiten, den Klimaschutz politisch und ge- stimmen, mit der Planungszeiträume verkürzt und setzgeberisch zu fördern und die Energiewende in unse- unmissverständliche Rechtssicherheit in den einzelnen rem Land voranzutreiben sind vielfältig. Die christlich- Planungsschritten erreicht werden können. Weder der liberale Koalition beweist unter anderem mit der No- Klimaschutz noch die Energiewende dürfen durch Lan- velle des Baugesetzbuches oder mit der Fortentwicklung desgrenzen aufgehalten werden. der Städtebauförderprogramme, dass sie auch weiterhin handwerklich solide und ökologisch nachhaltig und Wenn es Landesinteressen oder regionale Interessen politisch erfolgreich daran arbeitet. gibt, die zu Verhinderungsplanungen verleiten, müssen diese Interessen mit den Bundesinteressen verglichen Heidrun Bluhm (DIE LINKE): und Interessenkonflikte durch Vereinbarungen ausge- glichen werden. Die Frage ist, ob in der Bürgerbeteili- Dem hier vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd- gungspraxis eine ausreichende Berücksichtigung aller nis 90/Die Grünen stimmen wir insgesamt zu, auch Interessen stattfindet oder ob Planungsvorgaben dazu wenn wir nicht jede einzelne Forderung eins zu eins führen können, dass berechtigte Bürgerinteressen zu übernehmen würden. Wenn die Umsetzung dieses An- früh und ohne Nachteilsausgleich weggewogen werden. trags aber einen Beitrag leisten kann zur Beschleuni- Zur Bürgerbeteiligung wäre es sinnvoll, ein Instrument gung der Energiewende, hat er unsere Unterstützung. Es der Bestandsaufnahme der Interessen aller von der ist absolut richtig, dass die Raumordnung einen gewichti- Raumordnungsplanung Betroffenen am Beginn einer gen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten Planfortschreibung oder einer Planänderung zu finden, kann. Voraussetzung ist aber, dass der Bund mit seiner und zwar mit dem Ziel, Einvernehmen herzustellen und Gesetzgebung die Landesbehörden unterstützt und deren auf eine vertragliche Grundlage zu heben. Geschieht

Zu Protokoll gegebene Reden 24006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Heidrun Bluhm (A) das nicht, entscheiden womöglich am Ende einer jahre- Die Verhinderung von Windkraftanlagen ist kein neues (C) langen Planungsphase Oberverwaltungsgerichte da- Thema. So kam es in der Vergangenheit vor, dass Gemein- rüber – und zwar aus rein rechtsformalen Gründen –, ob den die Möglichkeit zur Festlegung von Windkrafteig- die Energiewende gelingt oder ob die Akteure, die die- nungsgebieten genutzt haben, um Windkraftanlagen zu sen Prozess voranbringen wollen, irgendwann entnervt verhindern. Damit werden gesetzliche Möglichkeiten, die oder pleite aufgeben. eigentlich den Ausbau erneuerbarer Energien befördern sollen, ad absurdum geführt. Denn solche Eignungsge- Akzeptanz im Kleinen ist notwendig, damit die Ener- biete sind mit einer Sperrwirkung ausgestattet. Das heißt, giewende im Großen gelingen kann. werden Flächen als Eignungsflächen für Windkraft vorge- sehen, ist diese Nutzung auf umliegenden Flächen nicht Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): möglich. Hier muss das Raumordnungsgesetz angepasst werden, um diese missbräuchliche Verhinderungsplanung Die Raumordnung wird von dieser Regierung ver- zu erschweren. Eignungsgebiete für Windkraft sollten nur nachlässigt. Denn schon im Jahr 2010 sollte der neue noch in Ausnahmefällen möglich sein. Raumordnungsbericht vorliegen. Doch es hat bis An- fang dieses Jahres gedauert, also zwei Jahre länger als Auch zum Thema Repowering von Windkraftanlagen geplant. Jetzt liegt der Bericht zwar vor, aber Sie wei- muss das Raumordnungsgesetz überarbeitet werden. gern sich, den Bericht im Parlament zu debattieren. Denn der Austausch alter Windkraftanlagen durch mo- derne und effizientere Anlagen wurde mit der letzten Die Gründe dafür sind offensichtlich. Sie wollen den BauGB-Novelle schon in das Baugesetzbuch aufgenom- Bericht dem Bundestag nicht vorlegen, weil er aufzeigt, men. Dieser Ansatz muss auch in das Raumordnungsge- welche Steuerungspotenziale in der Raumordnung lie- setz übertragen werden. Dazu haben Sie vor elf Monaten gen. Er zeigt sehr deutlich auf, wo sie tatenlos sind und in Ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage angemerkt, wie sie es versäumen, die Energiewende ernsthaft zu be- dass Sie noch nicht abschließend entschieden haben, ob treiben. Herr Minister Raumsauer, lassen Sie die Poten- eine solche Änderung sinnvoll ist. Geschwindigkeit ist ziale der Raumordnung nicht ungenutzt. Gerade im Be- bei der Energiewende nicht Ihre Sache, das ist klar. Viel- reich der Energiewende gibt es über die Raumordnung leicht haben Sie hier mittlerweile doch eine Entschei- Gestaltungsmöglichen. Laut Raumordnungsbericht 2012 dung getroffen und die Notwendigkeit dieser Regelung sollten im besonderen Maße der Ausbau erneuerbarer erkannt. Dann freuen wir uns über Ihre Unterstützung Energien und Leitungsnetze, Risikomanagement und für unseren Antrag. Schutz kritischer Infrastrukturen als Aufgabe der Bun- desraumordnung gesehen werden. Und auch die wich- Vizepräsidentin Petra Pau: tigen Themen wie Begrenzung des Flächenverbrauchs Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf und der Aufbau eines nationalen Biotopverbundsystems (B) Drucksache 17/9583 an die in der Tagesordnung aufge- (D) wären hier gut aufgehoben. Doch in keinem dieser Be- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- reiche werden Sie – als Regierung – aktiv. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Der aktuell wichtigste Handlungsansatz ist jedoch so beschlossen. der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Lei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: tungsnetze. Dazu kann die Raumordnung einen wesent- lichen Beitrag leisten, wie wir in unserem Antrag aufzei- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gen. Das hat mittlerweile sogar Bundesumweltminister gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Peter Altmeier erkannt. Vor kurzem sagte er: „Die wich- zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der tigste Aufgabe ist, ein Gesamtkonzept auszuarbeiten, in Internationalen Arbeitsorganisation dem der Ausbau der erneuerbaren Energien und der – Drucksache 17/10959 – Stromnetze besser miteinander verzahnt werden.“ Wir Überweisungsvorschlag: sind gespannt auf Ihre Vorschläge! Denn das Ministe- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ignoriert Rechtsausschuss weiterhin kosequent die Potenziale der Raumordnung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für die Energiewende und den Klimaschutz. Dabei ist b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dafür nicht einmal eine Gesetzesänderung notwendig. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Denn schon mit einem Bundesraumordnungsplan, der (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- übrigens eh im Raumordnungsgesetz vorgesehen ist, ten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, lässt sich hier schon viel erreichen. Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und Ein Bundesraumordnungsplan für erneuerbare Ener- der Fraktion DIE LINKE gien schafft Transparenz, bietet den nachfolgenden Ebe- Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeits- nen Orientierung und schafft so einen Beitrag zur sach- übereinkommens der Internationalen Arbeits- gerechten Verteilung erneuerbarer Energien im Raum. organisation Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, ein plan- wirtschaftliches Instrument zu schaffen, das den Län- – Drucksachen 17/9066, 17/9614 – dern keinen Handlungsspielraum mehr lässt, sondern Berichterstattung: vielmehr darum, eine Grundlage für einen koordinierten Abgeordneter Dr. Johann Wadephul Ausbau zu schaffen. Das wäre ein echter Beitrag zur Energiewende, im Gegensatz zu dem Ausbaustopp für Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir Windkraft, den Minister Altmeier fordert. die Reden zu Protokoll. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24007

(A) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): füllt dies nicht vollständig. Sonst brauchten wir ja auch (C) Wir diskutieren heute ein sehr wichtiges Regelwerk – das aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht. Die mo- den Entwurf für das neue Seearbeitsgesetz. Dabei geht derne, global ausgerichtete Handelsschifffahrt erfordert es um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute gerade im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts eine an Bord von Kauffahrteischiffen unter deutscher Flagge. neue Rechtsgrundlage. Meine Fraktion hat deswegen Wir setzen damit das Seearbeitsübereinkommen der In- auch Ihren Antrag ablehnen müssen. ternationalen Arbeitsorganisation – kurz ILO – aus dem Wie Sie wissen, wird das neue Seearbeitsgesetz der- Jahr 2006 in deutsches Recht um. Gleichzeitig wird die zeit erarbeitet. Es noch in diesem Jahr verabschiedet Ratifizierung des ILO-Abkommens vorbereitet. Deutsch- werden, sodass es im ersten Quartal 2013 in Kraft treten land trägt mit diesen Vorhaben seinen Teil dazu bei, dass kann. Die Ratifizierung selbst ist dann nur noch reine das ILO-Übereinkommen weltweite Gültigkeit erlangen Formsache. kann. Wenn dieses Ziel erreicht ist, herrschen überall auf See dieselben Bedingungen für Seeleute. Vor dem Bis das neue Gesetz in Kraft tritt, stehen die Seeleute Hintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs ist unter deutscher Flagge aber keinesfalls schutzlos da. dies auch wichtig; denn nur mit weltweit einheitlichen Das aktuelle Seemannsgesetz setzt bereits einen hohen Mindeststandards kann der Wettbewerb nicht auf Kosten Standard für den Schutz der Lebens- und Arbeitsbedin- der Beschäftigten stattfinden. Zusammen mit den neu gungen an Bord. Das beginnt bei den Regelungen über aufgenommenen Elementen der Flaggenstaatkontrolle das Heuerverhältnis, Arbeitsschutz, Verpflegung, Unter- und der Hafenstaatkontrolle, auf die ich gleich noch näher bringung und geht hin bis zu Vorschriften über die medi- eingehen werde, bilden diese Mindeststandards das Kern- zinische Versorgung, Urlaub und Landgang. stück des ILO-Übereinkommens aus dem Jahr 2006. Der Entwurf für das neue Seearbeitsrecht setzt jedoch Nach der Flaggenstaatkontrolle muss jeder Staat die weitere, ganz neue Maßstäbe. Einhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsüberein- So berücksichtigt es neue Entwicklungen im Bereich kommens auf Schiffen unter seiner Flagge überwachen. der Schifffahrt, sei es im Bereich des Handels oder etwa Die Hafenstaatkontrolle sieht vor, dass jeder Staat, in der Offshoreindustrie. dessen Häfen Schiffe unter fremder Flagge einlaufen, die Einhaltung der ILO-Anforderungen zu überprüfen Der persönliche Geltungsbereich des Gesetzentwurfs hat. Somit ist gewährleistet, dass auf allen Schiffen welt- ist weiter gefasst als der bisherige im Seemannsgesetz. weit dieselben Bedingungen herrschen müssen, auch auf So gilt das Gesetz zum Beispiel auch für selbstständig an Schiffen unter der Flagge solcher Staaten, die das ILO- Bord Tätige oder für abhängig Beschäftigte, die bei ei- Abkommen nicht ratifiziert haben. Zahlenmäßig sprechen nem anderen Arbeitgeber als dem Reeder des Schiffs be- (B) wir von circa 65 000 Handelsschiffen oder etwa 1,2 Mil- schäftigt sind. (D) lionen Seeleuten, die von diesen Vorhaben betroffen Eine Neuerung ist auch die Definition des Reeders im sind. Sie erkennen hiermit die enorme Tragweite unserer Bereich des Seearbeitsrechts und seine Verantwortung nationalen Bemühungen. für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute an Bevor ich näher auf die markantesten Neuerungen Bord seines Schiffs. Dies gilt unabhängig davon, ob er unseres vorliegenden Gesetzentwurfs eingehe, möchte selbst ihr Arbeitgeber ist oder ein Dritter. Damit werden ich gerne noch ein paar Bemerkungen zu dem Antrag die Seeleute davor geschützt, dass ein Reeder versuchen der Linksfraktion machen. Sie haben, meine Damen und könnte, seine Pflichten gegenüber den Seeleuten auf an- Herren von den Linken, in Ihrem Antrag die Bundesre- dere abzuwälzen. gierung aufgefordert, das Seearbeitsübereinkommen der Um die bereits angesprochenen umfangreichen Kon- Internationalen Arbeitsorganisation unverzüglich zu ra- trollen künftig effizienter zu gestalten, sieht das neue tifizieren. Wie ich schon in meiner letzten Rede zu die- Gesetz ein transparentes Verfahren vor, mit dem die See- sem Thema dargelegt habe, ist uns in der Union der Ar- diensttauglichkeit der Besatzungsmitglieder eines Schiffes beitsschutz und die Gesundheit der auf See tätigen festgestellt werden kann. An dessen Ende erhalten die Menschen ein wichtiges Anliegen. Dafür muss es die Seeleute dann ein Seetauglichkeitszeugnis. eingangs erwähnten Mindestbedingungen geben. So weit sind wir uns einig. Eine bessere Übersicht und klarere Abgrenzungen finden sich auch bei den neu geregelten Arbeits- und Aber was den richtigen Zeitpunkt für die Ratifizie- Ruhezeiten. Erforderliche Abweichungen von Höchst- rung angeht, überlassen Sie doch besser uns die Ent- arbeitszeiten oder Mindestruhezeiten sind für bestimmte scheidung. Es macht nämlich wenig Sinn, den zweiten Schiffskategorien oder bestimmte Arbeitseinsätze vorge- Schritt vor dem ersten zu gehen. Wenn wir das ILO- sehen. Um die Besatzungsmitglieder nicht zu überfor- Übereinkommen ratifizieren, ohne zuvor die internatio- dern, werden daneben auch Ausgleichsruhezeiten vorge- nalen Bestimmungen in nationales Recht umgesetzt zu schrieben. haben, fehlt uns ein wichtiger Baustein. Für alle Schiffe, die unter der deutschen Bundesflagge in See stechen, be- Als letztes positives Beispiel aus diesem Regelwerk nötigen wir ein Regelwerk, das international Bestand möchte ich den Bereich der Berufsausbildung an Bord hat. Das ist zudem eine wesentliche rechtliche Voraus- erwähnen. Dieser wird erstmals gesetzlich normiert. setzung, um überhaupt das ILO-Abkommen ratifizieren Das Berufsbildungsgesetz, das die Ausbildung an Land zu können. Das deutsche Seemannsgesetz, das bis zum regelt, wird den besonderen Anforderungen auf See nur Inkrafttreten des neuen Seearbeitsgesetzes gültig ist, er- in Teilen gerecht. Die neuen Vorschriften im Seearbeits-

Zu Protokoll gegebene Reden 24008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Johann Wadephul (A) gesetz orientieren sich hieran so weit wie möglich. Al- Die Gefahr einer Schlechterstellung sehe ich zum an- (C) lerdings berücksichtigen sie eben auch die besonderen deren in der Formulierung zu Höchstarbeitszeiten und Gegebenheiten einer Berufsausbildung an Bord. Mindestruhezeiten. Wir haben derzeit eine Regelung im Seemannsgesetz, die im Großen und Ganzen gut funk- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leistet die Bun- tioniert. Nach Art. 19 der Verfassung der Internationa- desregierung also ihren Beitrag zur weltweiten Anwen- len Arbeitsorganisation, dem Schlechterstellungsverbot, dung des Seearbeitsübereinkommens. Sie trägt mit müssen wir uns auch hier daran orientieren, was bisher Sorge dafür, dass auf See angemessene Bedingungen für in Deutschland gilt. Die nun vom BMAS vorgesehenen die Beschäftigten gelten. Durch ihre Gesetzesvorhaben Regelungen sind jedoch eine Schlechterstellung im Ver- sichert sie gleichzeitig, dass der Wettbewerb auf Kauf- gleich zu den bisher geltenden Höchstarbeitszeiten. Mir fahrteischiffen nicht über die Besatzungsmitglieder aus- ist absolut bewusst, dass es in der Schifffahrt immer wie- getragen wird. der Extremsituationen geben kann, in denen eine lange Arbeitszeit der Besatzungsmitglieder notwendig ist. Wir Josip Juratovic (SPD): brauchen aber klare Regeln, die besagen, dass über- Ich hatte gehofft, dass ich mich hier schon viel lange Arbeitszeiten nicht die Regel sind. Bislang haben schneller wieder zum Seearbeitsübereinkommen äußern die Tarifvertragspartner hierzu Regelungen mit Augen- kann. Denn es war eine ganz schöne Hängepartie der maß getroffen – Regelungen, die für Seeleute und Reeder Bundesregierung, bis der Gesetzentwurf zur Umsetzung gleichermaßen praktikabel waren. Hier dürfen wir ers- des Seearbeitsübereinkommens fertig war. Das Seearbeits- tens nicht die Seeleute schlechterstellen, wenn die Bun- übereinkommen war 2006 von der Internationalen Ar- desregierung einfach die Höchstarbeitszeit im Vergleich beitsorganisation, ILO, beschlossen worden. In der Gro- zum bisherigen Seemannsgesetz verlängert. Und zweitens ßen Koalition hatten wir noch intensiv an der dürfen wir nicht zulassen, dass ein funktionierendes Sys- Umsetzung gearbeitet, doch seit 2009 wurde das alles tem der Tarifvertragspartner zerstört wird, indem die schleifen gelassen. In Antworten auf schriftliche Fragen Bundesregierung hier ohne Not gesetzlich regulieren will. der SPD-Fraktion und im Ausschuss wurden von der Bundesregierung immer wieder verschiedene Daten ge- Die Anerkennung der Ausbildungen, die Rolle der nannt, zu denen ein Gesetzentwurf vorgelegt werden Gesundheitsämter und die Regelung von Höchstarbeits- sollte. Und jedes Mal verstrichen diese Daten, ohne dass zeiten sind nur drei Beispiele, anhand derer ich hier zei- etwas geschah. Deswegen möchte ich zunächst der Bun- gen will, dass der Entwurf zum Seearbeitsgesetz noch desregierung gratulieren, dass es nach viel zu langer nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wir müssen im Ge- Zeit nun endlich geglückt ist, einen Gesetzentwurf vor- setzgebungsprozess noch an entscheidenden Stellen zulegen, und es damit endlich einen Schritt vorwärtsgeht nachbessern, und hier möchte ich meine Kolleginnen (B) auf dem Weg zu guten und fairen Arbeitsbedingungen und Kollegen von Union und FDP auffordern, sich den (D) auf See. Sachargumenten nicht zu verschließen und noch mal ge- nau nachzuprüfen, damit das Schlechterstellungsverbot Leider stimmt aber der Spruch „Was lange währt, aus der ILO-Verfassung respektiert wird. Lassen Sie uns wird endlich gut“ nicht immer. So ist das auch hier, und bei den Beratungen im Ausschuss gemeinsam handeln, der Teufel steckt im Detail. Der Bundesrat hat bereits ei- um faire Arbeitsbedingungen auf See zu schaffen. nige wichtige Anmerkungen vorgebracht, so beispiels- weise bei der Anerkennung von Ausbildungsberufen in Bei aller Kritik an der deutschen Umsetzung des See- der Seeschifffahrt. Hier war es bisher so, dass die Län- arbeitsübereinkommens – zu spät und kritisch an den der einbezogen werden – und dabei muss es auch blei- angesprochenen Punkten – möchte ich betonen, dass das ben, auch wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung Seearbeitsübereinkommen ein großartiges Beispiel da- zunächst anderes vorsah. Wir haben an der Küste viele für ist, wie die internationale Arbeitsmarkt- und Sozial- gute Ausbildungsstandorte für Seeleute. Diese gute Aus- politik funktionieren kann – und funktionieren muss. bildung müssen wir auch in Zukunft gewährleisten. Beim Seearbeitsübereinkommen werden weltweit gültige Standards gesetzt, die viel Missbrauch, der insbesondere Die Verfassung der ILO besagt, dass es durch die auf ausgeflaggten Schiffen stattfindet, verhindern wer- Umsetzung von Übereinkommen nicht zu einer Schlech- den. Das ILO-Übereinkommen steht für weltweit gute terstellung im Vergleich zu den davor geltenden Rege- Arbeitsbedingungen, die auch weltweit kontrolliert wer- lungen kommen darf. Wir dürfen also keine der Regelun- den. Denn auf See kann kein Staat alleine garantieren, gen, die bisher bestehen, verwässern. Doch auch hier dass faire Arbeitsbedingungen gewährleistet sind. Hier sehe ich im Gesetzentwurf der Bundesregierung Pro- brauchen wir die internationale Kooperation. bleme. Das Seearbeitsübereinkommen ist nicht das einzige Zum einen, und auch dies kritisiert der Bundesrat, ILO-Übereinkommen, das in Deutschland so lange liegt, werden die hafenärztlichen Dienste abgeschafft. Wir bevor etwas geschieht. Ich habe Sorge, dass die dürfen aber die Gesundheitsämter bei der Kontrolle der schwarz-gelbe Bundesregierung auch beim im letzten Arbeits- und Gesundheitsbedingungen nicht außen vor Jahr geschlossenen Übereinkommen 189 zu den Rechten lassen, denn hier wird gute Arbeit geleistet. Hier hat von Hausangestellten die Umsetzung auf die lange Bank sich ein Modell bewährt, das wir nicht abändern sollten. schiebt. Es ist niemandem damit geholfen, wenn auf in- Auch in Zukunft sollen die Gesundheitsämter hier über- ternationaler Ebene gute und wegweisende Überein- wachen. Alles andere wäre eine Schlechterstellung der kommen geschlossen und diese von allen gelobt wer- Seeleute. den – beim Übereinkommen zu Hausangestellten nicht

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24009

Josip Juratovic (A) zuletzt von der Kanzlerin, als sie im vergangenen Jahr über die Arbeitsvermittlung, die Arbeitsinspektion und (C) bei der ILO-Arbeitskonferenz sprach. Was zählt, sind die soziale Betreuung der Seeleute. aber nicht die Worte, sondern die Taten. Deswegen for- dere ich, dass das ILO-Übereinkommen zu Hausange- Eine weitere wichtige Neuerung ist die Regelung der stellten nicht erst mal in die Schublade gelegt wird, son- flaggen- und hafenstaatlichen Kontrollen zur Durchset- dern dass hier schnell ein klarer Plan zur Ratifizierung zung der Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens vorgelegt wird. – Arbeitsinspektion. Das bestehende System der flag- gen- und hafenstaatlichen Kontrollen – Schiffssicher- Die Arbeit der ILO kann nur funktionieren, wenn die heit, Umweltschutz – wird auf die Überprüfung der Mitgliedstaaten nach dem Beschluss der Übereinkom- Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmit- men zu Hause ihre Hausaufgaben erledigen. Die Ratifi- glieder erstreckt. Dabei werden Schiffe unter deutscher zierungen und die Umsetzung der Übereinkommen sind Flagge, ebenso Schiffe unter fremder Flagge, die deut- die Hausaufgaben, die Deutschland von den jährlichen sche Häfen anlaufen, überprüft. Auch Schiffe aus Nicht- Internationalen Arbeitskonferenzen bekommt. Wir müs- vertragsstaaten, die das Seearbeitsübereinkommen nicht sen in der Umsetzung der Hausaufgaben besser und ratifiziert haben, müssen dessen Mindeststandards be- schneller werden und mit gutem Beispiel international achten; sogenannte Nichtbegünstigungsklausel. Sie vorangehen. Denn nur so können weltweit gute Arbeits- werden künftig in den Häfen ratifizierender Staaten kon- bedingungen auch tatsächlich umgesetzt werden und trolliert werden können – auch wenn sie unter der bleiben nicht nur der Papiertiger ILO-Konferenzen in Flagge eines Landes fahren, das das Übereinkommen Genf. nicht ratifiziert hat. Bei Hafenstaatkontrollen werden sie keine günstigere Behandlung erfahren als Schiffe aus Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Vertragsstaaten. Damit stärken wir die Wettbewerbsfä- Die christlich-liberale Bundesregierung schafft mit higkeit der Reeder, die Schiffe unter deutscher Flagge dem vorliegenden Gesetzentwurf die Voraussetzungen betreiben. dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland das See- Die Novellierung des Seearbeitsrechts nutzt die arbeitsübereinkommen, Maritime Labour Convention, christlich-liberale Bundesregierung auch dazu, über- MLC, der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, von holte Regelungen zu streichen. So wird es das im bishe- 2006 ratifizieren kann. rigen Seearbeitsrecht vorgesehene Musterungsverfah- Das Seearbeitsübereinkommen ist die erste Kodifizie- ren künftig nicht mehr geben. Das baut Bürokratie ab rung des Seearbeitsrechts, in der mehr als 60 beste- und entlastet alle Beteiligten finanziell um bis zu 2 Mil- hende Übereinkommen und Empfehlungen der ILO in lionen Euro. (B) einem Regelwerk zusammengefasst werden. Das Seear- (D) beitsübereinkommen wird zukünftig verbindlich welt- Für die Arbeits- und Lebensbedingungen der See- weite Mindeststandards für die Arbeit und das Leben der leute ist die Ratifikation des Seearbeitsübereinkommens mehr als 1,2 Millionen Seeleute an Bord von Kauffahr- von entscheidender Bedeutung. Die Verbesserungen teischiffen setzen. Damit ist es eine Art Bill of Rights der können dazu beitragen, die Attraktivität seemännischer Seeschifffahrt. Konkret geht es um Beschäftigungsbedin- Berufe zu steigern. Für die deutschen Reeder ist die gungen, Unterkunft und Verpflegung, Gesundheitsschutz Ratifikation von erheblicher wirtschaftlicher Bedeu- und soziale Sicherung. Wegen der Vorgaben des Art. 59 tung. Sie schafft die Garantie, dass im Bereich der Grundgesetz wird Deutschland zunächst das nationale Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Kauffahr- Recht ändern und erst dann das Seearbeitsübereinkom- teischiffen ein weltweit fairer Wettbewerb besteht. Die men ratifizieren. Reeder aus anderen Staaten müssen die gleichen Anfor- derungen des Seearbeitsübereinkommens erfüllen. Da- Für die Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens raus folgen faire, einheitliche Wettbewerbsbedingungen muss eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen an- für alle Reeder. gepasst und aktualisiert werden. Kern der Umsetzungs- gesetzgebung ist ein neues Seearbeitsgesetz, mit dem Im Rahmen der Umsetzungsgesetzgebung muss – wie das alte, aus dem Jahr 1957 stammende Seemannsgesetz bereits erwähnt – eine Vielzahl von Gesetzen und Ver- ersetzt wird. Der Entwurf passt das Recht im Bereich der ordnungen angepasst und aktualisiert werden. In diesem Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute an die Zusammenhang mussten viele Detailfragen geklärt wer- Entwicklungen der heutigen, zunehmend global aus- den. Dazu sind auch die Sozialpartner in der Seeschiff- gerichteten modernen Seeschifffahrt an. Überkommene fahrt in die Diskussion eingebunden worden. Dass wir Regelungen, insbesondere im Bereich des Urlaubs-, heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung das Kündigungs-, und Heimschaffungsrechts, werden im Verfahren zur Ratifikation des Seearbeitsübereinkom- Seearbeitsgesetz modernisiert. mens einleiten, halte ich in Anbetracht des umfassenden Regelungsgegenstandes und der Reichweite des Abkom- Künftig wird das Seearbeitsrecht für alle Personen mens für einen beachtlichen Erfolg. Das ist auch ein gelten, die an Bord eines Schiffes unter deutscher Erfolg des guten sozialen Dialogs in der Branche. Flagge tätig sind. Daneben werden das Verfahren zur Feststellung der Seediensttauglichkeit, die Berufsausbil- Deutschland stärkt mit der Umsetzung des See- dung an Bord und die medizinische Ausstattung auf eine arbeitsübereinkommens die Arbeits- und Sozialrechte einheitliche rechtliche Grundlage gestellt. Neu geregelt der Seeleute und schafft die Voraussetzungen für einen werden die Vorgaben des Seearbeitsübereinkommens fairen Welthandel. Ich gehe insgesamt davon aus, dass

Zu Protokoll gegebene Reden 24010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Heinrich L. Kolb (A) wir hier eine hohe Akzeptanz im Interesse der betroffe- kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die See- (C) nen Seeleute und Reeder erreichen werden. leute dann das Recht, sich wegen der Heuerzahlung di- rekt an den Reeder zu wenden. Es gibt in der Schifffahrt Herbert Behrens (DIE LINKE): eben auch Reeder, die sich um die Heuerzahlung an die 1,2 Millionen Seeleute stehen weltweit unter dem Besatzung drücken. In einem solchen Fall haben die Druck globalisierter Transportbedingungen und arbei- Seeleute international das Recht, in einem ausländischen ten unter zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen, Hafen sogenannte Schiffsgläubigerrechte geltend zu ma- mangelnder sozialer Absicherung und Niedriglöhnen. chen und notfalls das Schiff an die Kette legen zu lassen, Viele Reeder fahren unter Billigflagge und halten sich bis die Heuerforderung erfüllt ist. nicht an den Tarifvertrag der Internationalen Transport- Auch die Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten arbeiter-Föderation ITF. Sie zahlen ihnen mitunter wurden gegenüber dem internationalen Abkommen ver- kaum mehr als 500 US-Dollar pro Monat. schlechtert. Da auf See ein normaler Achtstundentag Nach jahrelangen Verhandlungen war es der Inter- nicht immer möglich ist, wurde eine maximale Höchst- nationalen Arbeitsorganisation, ILO, gelungen, im Fe- arbeitszeit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen von bruar 2006 einstimmig ein weltweit gültiges einheit- täglich 14 Stunden vereinbart. Wenn selbst dies in einer liches Seearbeitsübereinkommen zu verabschieden. Doch Extremsituation nicht ausreicht, können die Tarifver- leider konnte dieses Abkommen bis heute nicht in Kraft tragsparteien nach der Norm A 2.3 Abs. 13 unter Ein- treten. Deutschland und andere Länder haben die Rati- haltung der Vorgaben einen Tarifvertrag zur Verlänge- fizierung verschleppt. rung der maximalen Höchstarbeitszeiten vereinbaren. Hier wurde das Abkommen jedoch so übersetzt, dass bei Steckt Vorsatz dahinter? Deutsche Reeder verfügen uns jetzt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales über eine der größten Handelsflotten der Welt. Aber nur ohne Information der Sozialpartner die Höchstarbeits- auf jedem zehnten Schiff gelten auch die deutschen zeit nach dem Seemannsgesetz in § 48 in Art. 1 des Ge- Rechtsvorschriften, denn nur 366 Handelsschiffe fahren setzentwurfs pauschal für alle Schiffe verlängern unter deutscher Flagge. Die meisten Reeder umgehen könnte. Der neue Text in Abs. 2 bedeutet für Seeleute die Vorschriften, indem sie unter einer Billigflagge fah- beispielsweise auf einem großen Feederschiff eine Verlän- ren. Nach eigenen Angaben sparen sie pro Schiff zwi- gerung der täglichen Höchstarbeitszeit von 10,3 Stun- schen einer Viertelmillion und einer halben Million den auf 13 Stunden bzw. eine Verlängerung der wöchent- Euro. lichen maximalen Arbeitszeit von 72 auf 91 Stunden. Da viele Rechte von Seeleuten im Rahmen des Seearbeits- Doch diese Blockadehaltung war nicht mehr auf- übereinkommens nicht direkt im Gesetz, sondern per rechtzuerhalten. Am 20. August diesen Jahres hatten Verordnungen geregelt werden können, fordern wir, (D) (B) 33 Schifffahrtsnationen das Abkommen ratifiziert, die diese in die parlamentarische Beratung einzubeziehen. zusammen über fast 60 Prozent der Tonnage der Welt- Dies gilt insbesondere für die Schiffsbesetzungsverord- handelsflotte verfügen. Damit kann das Abkommen nun nung. auch ohne Zustimmung Deutschlands im nächsten Jahr in Kraft treten und würde auch gegen den erklärten Wil- Die Linke fordert, dass die Regelungen zu Höchst- len der Regierung bei uns gelten. arbeitszeiten und Mindestruhezeiten umgehend korri- giert werden und die zulasten der Seeleute eingefügten Nachdem nun selbst die Reeder vor den negativen gravierenden Abweichungen vom Abkommen behoben Auswirkungen warnten, da deutsche Schiffe zukünftig werden. wesentlich intensiver in den Häfen kontrolliert würden als Schiffe von Staaten, die das Abkommen freiwillig um- gesetzt haben, blieb der Koalition nichts anderes übrig, Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als ein eigenes Seearbeitsübereinkommen vorzulegen. NEN): Das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Doch leider planen Sie, wichtige Details immer noch Arbeitsorganisation, ILO, wurde mittlerweile von über sehr zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 30 Staaten ratifiziert, die zusammen mehr als 33 Prozent umzusetzen, und fallen dabei zum Teil sogar hinter den der Welthandelstonnage pro Jahr transportieren. Damit Stand bereits existierender Regelungen zurück. Insbe- sind die Mindestvoraussetzungen erfüllt und das Über- sondere ergibt sich eine Schlechterstellung bezüglich einkommen kann im Sommer 2013 in Kraft treten. der §§ 3, 4 und 48 in Art. 1 des Gesetzentwurfs zur Um- setzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der ILO. Es wird also Zeit, dass die Bundesregierung mit dem Wir erwarten, dass dies unverzüglich geändert wird. Gesetzentwurf auch in Deutschland die Bedingungen zur Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens Wichtig ist, dass der Reeder auch weiterhin als Bürge schafft. Es geht schließlich darum, dass die circa für die Seeleute bestehen bleibt und die Einhaltung der 1,2 Millionen Seeleute weltweit bessere Arbeits- und Gesetze gewährleisten muss, selbst wenn er Teile seiner Lebensbedingungen erhalten. Die Seeleute, die Tag für Aufgaben auf Dritte überträgt. Dies ist deshalb so in Tag den Welthandel und die stark ausdifferenzierte dem internationalen Abkommen vereinbart worden, weil Arbeitsteilung aufrechterhalten, bekommen endlich die es in der Schifffahrt immer wieder vorkommt, dass bei- Wertschätzung, die sie verdienen. spielsweise Seeleute von Bemannungsagenturen, BA, im Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Schiff von A nach B bringen und anschließend von denen Aber eine Passage ist höchst problematisch. Die Bun-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24011

Beate Müller-Gemmeke (A) desregierung hat ihre Hausaufgaben nur zum Teil ge- men ist im Februar 2006 von den Vertretern der in der (C) macht. Gegenüber dem Referentenentwurf wurden ei- Internationalen Arbeitsorganisation versammelten Staa- nige Verbesserungen vorgenommen. Sie muss dennoch ten ohne Gegenstimme verabschiedet worden. Nachdem nacharbeiten und zumindest den zentralen Kritikpunkt die dafür erforderlichen Ratifikationen jetzt vorliegen, bis zur zweiten Lesung beseitigen. wird das Seearbeitsübereinkommen am 20. August 2013 in Kraft treten. Wir kritisieren insbesondere eine gravierende Ver- schlechterung zulasten der Seeleute, die die Bundes- Das Übereinkommen konsolidiert und aktualisiert regierung gegenüber dem ILO-Entwurf zum Seearbeits- das internationale Seearbeitsrecht. Regelungen aus übereinkommen vorgenommen hat. Dabei geht es um die 35 Übereinkommen und 30 Empfehlungen der ILO wer- Haftungsfrage des Reeders, falls dieser Personal über den in eine einheitliche Urkunde überführt. Umfassend eine Bemannungsagentur einstellt und diese Seeleute werden alle Aspekte der Arbeit und des Lebens an Bord nicht oder nicht wie vereinbart bezahlt. Nach dem ILO- von Handelsschiffen geregelt. Die Anforderungen bezie- Entwurf ist der Reeder für alle Forderungen der See- hen sich auf die Begründung der Beschäftigungsverhält- leute uneingeschränkt haftbar. Die Bundesregierung hat nisse, ein Mindestmaß an arbeitsrechtlichem und sozia- die Haftungsfrage in dem Gesetzentwurf aber erheblich lem Schutz und auf die Durchsetzung dieser Standards. verkompliziert und zulasten der Seeleute abgeschwächt. Abgebildet ist die ganze Breite des Arbeitens an Bord Laut dem Gesetzentwurf tritt der Reeder nur noch als von Seeschiffen. Vorsorge wird getroffen hinsichtlich der Bürge auf, wenn er Personal über eine Bemannungs- Arbeitssicherheit, für eine ausreichende und angemes- agentur anstellt. Für deutsche Seeleute wird es schwer sene Unterkunft und Verpflegung, aber auch für eine und für ausländische Seeleute dürfte es nahezu unmög- gute medizinische Versorgung und soziale Absicherung. lich sein, ihre Ansprüche gegenüber dem Reeder geltend zu machen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, Ich will einzelne Punkte hervorheben. Eine Neuerung die Haftung entsprechend dem ILO-Entwurf zu regeln ist der verpflichtend vorgegebene Abschluss eines aus- und § 4 Abs. 2 des Seearbeitsgesetzes ersatzlos zu strei- führlichen schriftlichen Heuervertrags. Die detaillierten chen. Die Seeleute haben ein Recht auf ein einfaches Anforderungen an den Vertragsinhalt stellen sicher, dass und faires Verfahren, in dem der Reeder, wie es die ILO das Besatzungsmitglied jederzeit seine wesentlichen verlangt, der Durchgriffshaftung unterliegt. Rechte und Pflichten nachlesen kann. Ein Vertragsent- Über den Gesetzentwurf hinaus erwarten wir von der wurf muss dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor Bundesregierung, dass sie die Ausflaggung erschwert Vertragsschluss übermittelt werden. So werden für das und dafür sorgt, dass wieder mehr Schiffe eingeflaggt Besatzungsmitglied verbesserte Prüf- und Beratungs- (B) werden. Derzeit hat Deutschland mit circa 3 000 Schif- möglichkeiten sichergestellt. (D) fen die weltweit größte Handelsflotte. Davon fahren aber nur 300 Schiffe unter deutscher Flagge. Die Ein- Ein weiterer Schwerpunkt von Übereinkommen und flaggung würde auch dazu beitragen, dass die Arbeits- Gesetzentwurf sind die Regelungen zur Erfüllung und bedingungen besser kontrolliert und damit verbessert Durchsetzung der Mindestanforderungen zum Schutz werden können. der Seeleute. Hier sind zwei Stichworte wichtig: Flag- genstaatkontrolle und Hafenstaatkontrolle. Sie wissen, Es ist dringend erforderlich, dass die Lebens- und Handelsschiffe führen die Flagge eines bestimmten Arbeitsbedingungen auf den Schiffen verbessert werden, Staates. Dieser Staat ist völkerrechtlich für schiffsrecht- denn die Schiffe sind aus Kostengründen die meiste Zeit liche Regelungen einschließlich arbeitsrechtlicher auf See. Die Seeleute sind auf angemessene Unterkünfte, Regelungen verantwortlich. Das Seearbeitsübereinkom- Freizeiteinrichtungen und medizinische Betreuung an- men gestaltet diese Regelungspflicht inhaltlich aus. Zu- gewiesen. Aufgrund der erheblichen Missstände und der gleich verpflichtet es den Flaggenstaat dazu, die Verschiedenheit der Arbeitsbedingungen ist es an der Regelung effektiv auf den Schiffen unter seiner Flagge Zeit, dass weltweit geltende Arbeitsnormen, Beschäfti- durchzusetzen. Hierzu wird der moderne Weg einer Zer- gungsbedingungen und Mindestanforderungen an die tifizierung beschritten. Ergebnis der Flaggenstaatkon- Infrastruktur an Bord geschaffen und wirkungsvoll trolle ist, dass für das Schiff ein Seearbeitszeugnis durchgesetzt werden. Deshalb sollte die Bundesregie- einschließlich einer Seearbeitskonformitätserklärung rung mit dem Gesetzentwurf nicht die Reeder schonen, ausgestellt wird. Diese Dokumente sind eine Aufstellung sondern die Belange der Beschäftigten in den Mittel- der nach dem jeweils einschlägigen nationalen Recht an punkt stellen. die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Schiff zu stellenden Anforderungen und der vom Reeder zu ihrer Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Erfüllung getroffenen Maßnahmen. Bestätigt wird, dass Bundesministerin für Arbeit und Soziales: das Schiff den arbeitsrechtlichen Anforderungen genügt. Ich freue mich, dass hier heute die erste Lesung des Die Dokumente werden aktuell gehalten, indem in neuen Seearbeitsgesetzes und begleitender Gesetzesän- bestimmten Intervallen Überprüfungen und nach fünf derungen ansteht. Bereits der Titel des Gesamtvorha- Jahren eine Neuausstellung vorgegeben werden. Der bens macht deutlich, dass unser Gesetzentwurf Teil eines Gesetzentwurf überträgt diese Aufgaben für Schiffe un- umfassenden Prozesses ist. Umgesetzt werden soll das ter deutscher Flagge der Berufsgenossenschaft für Seearbeitsübereinkommen 2006 der Internationalen Transport und Verkehrswirtschaft, die bereits eine Arbeitsorganisation, ILO. Das Seearbeitsübereinkom- Dienststelle Schiffssicherheit unterhält.

Zu Protokoll gegebene Reden 24012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe (A) Seearbeitszeugnis und Seearbeitskonformitätserklä- gegeben, das bisher vor der Einstellung von Besatzungs- (C) rung spielen eine wichtige Rolle für den zweiten Pfeiler mitgliedern die Beteiligung der Seemannsämter er- der Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens, die fordert. Auch Seefahrtsbücher, wie sie bisher den Hafenstaatkontrolle. Das Seearbeitsübereinkommen Besatzungsmitgliedern von den Seemannsämtern ausge- verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, ausländische stellt werden, müssen nicht mehr geführt werden. Wirt- Schiffe in ihren Häfen auf die Einhaltung der Mindest- schaftlich ist dies keine Kleinigkeit. Wir erwarten hier standards aus dem Übereinkommen zu überprüfen. Entlastungen für die Betroffenen von circa 800 000 Euro Dabei gilt die Kontrollpflicht gleichermaßen gegenüber allein an zu entrichtenden Gebühren. Schiffen von Staaten, die dem Seearbeitsübereinkommen beigetreten sind, wie gegenüber Schiffen von Staaten, die Ein letzter Aspekt. Mit der Energiewende einher geht dies nicht getan haben. Bei den Kontrollen in ausländi- der Ausbau von Windenergieanlagen auf See. In den schen Häfen können Schiffe auf die von ihren nationalen deutschen Küstengewässern und der deutschen Außen- Behörden ausgestellten Seearbeitspapiere verweisen. wirtschaftszone sind viele solcher Anlagen in Bau oder Die Dokumente erbringen dort einen Anscheinsbeweis in Planung. Dies wird zu stark ansteigenden Beschäftig- dafür, dass die Anforderungen aus dem Seearbeitsüber- tenzahlen in den genannten Seegebieten führen. Der Ih- einkommen erfüllt sind. Hier wird deutlich, welche Be- nen vorliegende Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zur deutung die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für rechtlichen Bewältigung dieser Entwicklung. Es wird Schiffe unter deutscher Flagge eingeführte Möglichkeit klargestellt, dass das Arbeitszeitgesetz auch in der deut- hat, das Seearbeitszeugnis ausgestellt zu erhalten. schen Außenwirtschaftszone gilt. Rechtsverordnungen Schiffe unter deutscher Flagge werden dadurch gut und werden vorbereitet, durch die an die besonderen sicher durch Kontrollen in ausländischen Häfen kom- Verhältnisse der Offshoreindustrie angepasste Höchst- men. Kostspielige Verzögerungen bei der Kontrolle, Ver- arbeitszeiten geregelt werden sollen. längerungen der Hafenliegezeit oder sogar eine Fest- Ich hoffe, ich habe Interesse und Verständnis für die- haltung seitens des Hafenstaates werden vermieden. sen wichtigen Gesetzentwurf fördern können. Schließen Meine Ausführungen habe ich bisher auf die das See- will ich mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklun- arbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorga- gen. Die Bundesregierung strebt die Ratifizierung des nisation bedingten Neuerungen konzentriert. Darüber Seearbeitsübereinkommens an. Die Vorbereitung des will ich einen zweiten Schwerpunkt des Gesetzes nicht hierzu noch erforderlichen förmlichen Ratifikationsge- unerwähnt lassen. Dieses Gesetz modernisiert grundle- setzes steht vor dem Abschluss. Bitte wundern Sie sich gend das deutsche Seearbeitsrecht und bereitet es auf also nicht, wenn Sie bald erneut mit dem Seearbeits- die Anforderungen der kommenden Jahrzehnte vor. Bis- übereinkommen befasst werden, dann unter dem (B) her ist die Materie im Wesentlichen durch das See- Gesichtspunkt der Ratifikation. Heute geht es um die (D) mannsgesetz aus dem Jahr 1957 geregelt. Seitdem ha- Umsetzung der Anforderungen aus dem Seearbeitsüber- ben sich aber die Verhältnisse verändert. Die einkommen. Hier möchte ich Sie um zügige und ziel- Handelsschifffahrt ist sehr viel internationaler gewor- gerichtete Beratung bitten, damit wir den dargestellten den. Der Anteil an ausländischen Seeleuten aus Unions- Beitrag zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen an ländern, aber auch aus Drittstaaten, ist stark angestie- Bord von Seeschiffen leisten können. gen. Es ist deshalb nicht mehr zeitgemäß und entspricht nicht den Bestimmungen des Übereinkommens, wenn Vizepräsidentin Petra Pau: etwa bei der Erkrankung eines Besatzungsmitglieds die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Zahlung des sogenannten Reederkrankengeldes nur wurfs auf Drucksache 17/10959 an die in der Tagesord- dann vorgeschrieben ist, wenn das Besatzungsmitglied nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe in Deutschland seinen Wohnsitz hat. Der zunehmend keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überwei- internationalen Zusammensetzung der Besatzung wider- sung so beschlossen. spricht es auch, wenn bei der Gewährung von „Heimat- urlaub“ als Urlaubsort ausschließlich auf den Gel- Tagesordnungspunkt 25 b. Wir kommen zur Abstim- tungsbereich des Grundgesetzes abgestellt wird. mung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/9614, den Antrag der Frak- Bedeutende Modernisierungen sollen auch in ande- tion Die Linke auf Drucksache 17/9066 abzulehnen. Wer ren Bereichen geschaffen werden. So fehlt es bisher bei stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt der Berufsausbildung an Bord von Seeschiffen an einer dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- klaren, einheitlichen und den praktischen Erfordernis- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen sen entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Die Praxis die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. behilft sich hier mit einer Teilregelung in der Schiffs- mechaniker-Ausbildungsverordnung und einer analogen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Anwendung von Vorschriften des Berufsbildungsgeset- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zes. Mit dem Gesetz wird nun erstmals die Berufsausbil- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- dung für einen Beruf an Bord von Seeschiffen auf eine schuss) zu dem Antrag der Fraktion der SPD umfassende und angepasste gesetzliche Grundlage ge- stellt. Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit ei- nem Rechenschaftsmechanismus fördern Schließlich trägt das Gesetz zur Entbürokratisierung bei. Beispielsweise wird das Musterungsverfahren auf- – Drucksachen 17/8777, 17/10904 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24013

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Berichterstattung: der Vereinten Nationen, bei den Militärbeobachtern, der (C) Abgeordnete Dr. Egon Jüttner Zivilpolizei sowie beim Menschenrechtspersonal und Heidemarie Wieczorek-Zeul beim humanitären Personal auszuweiten. Sie empfiehlt, Dr. Rainer Stinner das gesamte Friedenssicherungspersonal im Hinblick Stefan Liebich auf den Schutz, die besonderen Bedürfnisse und die Kerstin Müller (Köln) Menschenrechte von Frauen und Kindern in Konflikt- situationen speziell auszubilden und das Datenmaterial Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus- zu den Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen gewiesen, die Reden zu Protokoll. und Mädchen zu konsolidieren. Dies sind wichtige und richtige Schritte, die die volle Unterstützung der Bun- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): desregierung und der CDU/CSU-Fraktion haben. Die UN-Resolution 1325 wurde am 31. Oktober 2000 Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Resolution vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedet. Die nicht Halt macht bei der Rolle von Frauen und Mädchen CDU/CSU-Fraktion steht genauso wie die Bundesregie- im Konfliktfall, sondern auch dazu auffordert, deren be- rung voll hinter dieser Resolution. In ihr wird die gleich- sonderen Bedürfnisse bei der Normalisierung, der Wie- berechtigte Einbindung von Frauen in politische Pro- dereingliederung und beim Wiederaufbau nach Konflik- zesse und Institutionen, bei der Planung, bei der ten Rechnung zu tragen. Hervorzuheben ist in diesem personellen Ausgestaltung von Friedensmissionen und Zusammenhang insbesondere die Aufforderung, mehr bei der Verhandlung von Friedensabkommen gefordert. Frauen zu Sonderbeauftragten und Sonderbotschafte- Es war Zeit, diese Resolution zu verabschieden und der rinnen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu Rolle von Frauen in Konfliktsituationen Rechnung zu benennen. Wir hoffen, dass in dieser Hinsicht möglichst tragen. Denn Zivilpersonen, und hier insbesondere viele Mitgliedstaaten dieser Aufforderung nachkommen Frauen und Kinder, stellen die weitaus größte Mehrheit und dem Generalsekretär geeignete Kandidatinnen vor- der von bewaffneten Konflikten betroffenen Personen schlagen. Wir halten dies für einen äußerst wichtigen dar. Die dramatischen Bilder aus Syrien zeigen dies ge- und wirksamen und vor allem symbolträchtigen Schritt. rade auch in jüngster Zeit wieder deutlich: Frauen und Ich weise in diesem Zusammenhang auf so herausra- Kinder machen nicht nur den Hauptanteil an Flüchtlin- gende Persönlichkeiten hin wie Hina Jilani, die UN- gen und Binnenvertriebenen aus, sie werden auch in zu- Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger, oder nehmendem Maße von Kriegsparteien oder terroristi- die UN-Sonderbotschafterin gegen Beschneidung, Waris schen Akteuren gezielt angegriffen. So galten bis 2010 Dirie, die zudem seit Juli 2010 auch noch Friedensbot- circa 27,5 Millionen Menschen als binnenvertrieben. schafterin der Afrikanischen Union ist. Als Opfer von Verfolgung und Krieg haben sie meist we- (B) (D) der rechtlichen noch physischen Schutz. Der für sie zu- Hina Jilani, eine 1953 in geborene Anwältin ständige Staat gewährleistet ihnen oft keinen Schutz. Sie und Menschenrechtsaktivistin, gründete 1980 gemein- müssen ihre Häuser verlassen und sind häufig Men- sam mit ihrer Schwester Asma erste Anwalts- schenrechtsverletzungen ausgesetzt, bevor sie ihren kanzlei für Frauenrechte und ist Mitbegründerin der Wohnort verlassen oder verlassen müssen. Und als Kommission für Menschenrechte in Pakistan. Kofi Flüchtlinge haben viele aus Furcht vor Verfolgung im ei- Annan berief sie einst zur Sonderbeauftragten des Gene- genen Land ihre Heimat verlassen, weil sie einer be- ralsekretärs der Vereinten Nationen für die Lage von stimmten Ethnie angehören, eine andere Religion als die Menschenrechten. Waris Dirie, ein 1965 geborenes ös- Mehrheit ausüben oder eine andere politische Überzeu- terreichisches Model somalischer Herkunft, Bestseller- gung vertreten. Teilweise werden sie verfolgt, misshan- autorin und Menschenrechtsaktivistin, machte sich im delt oder gefoltert. Und gerade Frauen und Mädchen Kampf gegen die Beschneidung von Frauen und Mäd- sind verstärkt Opfer von Vergewaltigung. Den Schutz ih- chen einen Namen. Sie entstammt einer Nomadenfami- res Landes können sie nicht in Anspruch nehmen und lie. Als sie im Alter von 13 Jahren an einen alten Mann verlassen es deshalb. verheiratet werden sollte, floh sie durch die Wüste nach Mogadischu. In ihrem Buch „Wüstenblume“ berichtete Während auf der einen Seite Frauen von Kriegen, sie über ihre Beschneidung und löste damit ein weltwei- Bürgerkriegen und sonstigen bewaffneten Auseinander- tes Medienecho aus. setzungen überdurchschnittlich stark betroffen sind, wird ihre Rolle bei der Verhütung und Beilegung von Wir unterstützen die in der Resolution 1325 gemachte Konflikten und bei der Friedenskonsolidierung nicht Anregung, in den Mitgliedstaaten der Vereinten Natio- ausreichend gewürdigt. Es ist auch nicht sichergestellt, nen Leitlinien für die Aus- und Fortbildung sowie Mate- dass Frauen an allen Anstrengungen zur Wahrung und rial über den Schutz, die Rechte und die besonderen Be- Förderung von Frieden und Sicherheit gleichberechtigt dürfnisse von Frauen sowie über die Wichtigkeit der und in vollem Umfang teilhaben. Die Resolution 1325 Beteiligung von Frauen an allen Friedenssicherungs- vom Oktober 2000 führt nun aber dazu, dass die Rolle und Friedenskonsolidierungsmaßnahmen zur Verfügung von Frauen an den Entscheidungen im Hinblick auf die zu stellen. Dies ist eine wichtige präventive Maßnahme, Verhütung und Beilegung von Konflikten ausgebaut die hoffentlich dazu führt, die Sensibilität für die Situa- wird. Sie garantiert, dass in allen Bereichen von Frie- tion von Frauen in Konfliktsituationen, für ihre spezifi- denssicherungseinsätzen eine Geschlechterperspektive schen Probleme und Herausforderungen zu schärfen. integriert wird. Die Resolution regt an, die Zahl der Man kann nur hoffen, dass sich daraus ein positiver Ne- Frauen in Entscheidungsfunktionen, bei Feldmissionen beneffekt ergibt und die angedachten Maßnahmen eine 24014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Egon Jüttner (A) Strahlkraft auf die gesamte Gesellschaft haben und sich Die Frage ist nun, ob es darüber hinaus noch eines (C) durch sie positive Auswirkungen auf den gesamtgesell- weiteren nationalen Aktionsplans bedarf, der die Umset- schaftlichen Umgang mit Frauen und ihre gesellschaftli- zung der Resolution garantiert. In ihrem Antrag fordert che Rolle ergeben. Die Resolution bringt mit der Forde- die SPD einen Evaluations- und Rechenschaftsmecha- rung, Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes und nismus, wie es ihn in der Resolution 1612 zu Kindern in der Achtung der Menschenrechte von Frauen und Mäd- bewaffneten Konflikten gibt. Bei der Rekrutierung von chen, insbesondere im Zusammenhang mit der Verfas- Kindersoldaten, deren gezielter Tötung, Verstümmelung, sung, dem Wahlsystem, der Polizei und der rechtspre- Vergewaltigung, Entführung und der Verneinung huma- chenden Gewalt des jeweils betroffenen Landes zu nitären Zugangs sowie bei Angriffen auf Schulen und ergreifen, eine Kernforderung deutscher Außen- und Krankenhäuser handelt es sich um die Verletzung von Menschenrechtspolitik zum Ausdruck, die ausdrücklich humanitärem Völkerrecht. Entsprechend kann dies auch die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion findet. mit Sanktionen belegt werden. Die Resolution 1325 be- handelt aber, grob dargestellt, vier Aspekte: Prävention Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen, die von Gewalt, angemessene Reaktion auf Gewalt, Ent- sich mit dem Thema Frauen in Konfliktsituationen be- schädigung und Partizipation von Frauen in allen Pha- schäftigen, die Wirksamkeit der in der Resolution 1325 sen von Friedensprozessen. angeregten Maßnahmen möglicherweise mit einer gewis- Geahndet werden kann jedoch nur die Partizipation sen Skepsis betrachten und bezweifeln, dass in den Kon- von Frauen in allen Phasen von Friedensprozessen. Ein fliktherden dieser Welt auf die Stimme von Frauen gehört nationaler Aktionsplan ist nach unserer Auffassung je- und auf ihre Rechte eingegangen wird. Vor dieser Einstel- doch nicht erforderlich. Für Frauen nämlich gibt es lung kann ich nur warnen. Ich teile sie nicht, denn sie ent- schon einen der Resolution 1612 vergleichbaren Mecha- spricht meines Erachtens nicht den Realitäten. In einer nismus, und zwar in Form der im Jahre 2000 verab- Reihe von Ländern, in denen es große soziale Spannun- schiedeten Resolution 1960 bei sexueller Gewalt gegen gen, ethnische Konflikte oder kriegerische Auseinander- Frauen. Ein nationaler Aktionsplan würde somit gegen- setzungen gegeben hat oder noch gibt, konnten Frauen über dem bestehenden deutschen Engagement für die beachtlichen Einfluss erlangen und haben es sogar an die Umsetzung der Resolution 1325 keinen entscheidenden Spitze von Staat und Regierung geschafft. Ich denke hier Mehrwert bedeuten. an Indira Gandhi in Indien, an die Friedensnobelpreis- trägerin Ellen Johnson-Sirleaf in Liberia, an Benazir Aus diesem Grund stimmen wir dem Antrag nicht zu. Bhutto in Pakistan oder an Chandrika Kumaratunga in Sri Lanka, um nur einige Beispiele zu nennen. Indira Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Gandhi ist ein Beweis für die Fähigkeit von Frauen zur (B) Mit der Verabschiedung der Resolution 1325 (D) politischen Gestaltung. Ellen Johnson-Sirleaf, die erste „Frauen, Frieden und Sicherheit“ und der Folgeresolu- weibliche Präsidentin Afrikas, regiert das vom Bürger- tionen 1820, 1888 und 1889 trägt der Sicherheitsrat dem krieg ruinierte Liberia. Sie erhielt den Friedensnobel- Tatbestand Rechnung, dass Frauen und Kinder in krie- preis. Mit Benazir Buttho stand zum ersten Mal eine gerischen Konflikten systematisch Opfer von Gewalt Frau an der Spitze eines modernen islamischen Staates. werden, Frauen aber auch eine besondere Rolle als Ak- Chandrika Kumaratunga, von 1994 bis 2005 Präsiden- teurinnen in der Friedenspolitik einnehmen. In der Re- tin Sri Lankas, schlug während ihrer Regierungszeit solution wird dazu aufgefordert, dass Kriegsparteien die einen verbindlichen Kurs ein gegenüber den Separatis- Rechte von Frauen schützen, Frauen bei der Verwirkli- ten, um den Bürgerkrieg im Land zu beenden. chung von Frieden und Sicherheit auf allen Ebenen ver- stärkt einbezogen und eine Gender-Perspektive veran- Sicherlich teilt nicht jeder die Positionen dieser oder kert wird. anderer Frauen an der Spitze von Staat, Regierung oder internationaler Organisation, aber allein die Tatsache, Mehr als zehn Jahre nach Verabschiedung der Reso- dass eine Frau in diesen häufig männlich geprägten Ge- lution 1325 sind die Fakten immer noch ernüchternd: sellschaften mit am Verhandlungstisch sitzt, ist ein Fort- 30 Prozent des internationalen Personals in Peace- schritt und sollte anderen Frauen Mut machen, sich zu keeping-Missionen sind weiblich, davon aber nur engagieren und einzumischen. 1,9 Prozent des militärischen Personals und 7,3 Prozent der Polizeikräfte. Blickt man auf die Führungsebene, Deutschland hat von Beginn an zu den Unterstützern finden sich noch weniger Frauen und auch ihre welt- der Resolution 1325 gehört. Ausdruck unseres Bekennt- weite Beteiligung an Friedensverhandlungen ist mit nisses zu deren Inhalten ist Deutschlands Teilnahme an 4 Prozent vernichtend gering. Daher greifen wir als der auf VN-Ebene von Kanada im Jahre 2001 initiierten SPD-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Antrag „Freundesgruppe der Resolution 1325“. Die nationale den Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Umsetzung erfolgt durch die jeweils beteiligten Res- aus dem Jahre 2009 auf, einen Evaluations- und Re- sorts, in deren Zusammenhang die Ressortarbeitsgruppe chenschaftsmechanismus für die Resolution 1325 einzu- „1325“ eingerichtet wurde. Seit 2004 berichtet die Bun- richten. Die Motivation für einen solchen Mechanismus desregierung dem Bundestag über die Umsetzung der resultiert aus den Erfahrungen mit der Resolution 1612 Resolution 1325. Die Europäische Union wendet die Re- zu Kindern in bewaffneten Konflikten. Mittels eines solution im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und „Monitoring and Reporting“-Mechanismus werden sys- Verteidigungspolitik an. tematisch verlässliche Informationen zu Kindern in be-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24015

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) waffneten Konflikten gesammelt. Verletzungshandlun- Trotz allem: Der Handlungsbedarf, die Vorgaben der (C) gen wie die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern Resolution 1325 umzusetzen, besteht unverändert fort. als Soldaten werden dabei besonders berücksichtigt. Wir sollten alle gemeinsam dazu beitragen, dass die Si- Durch das systematische Sammeln, Vergleichen und Pu- tuation von Frauen in bewaffneten Konflikten, bei der blikmachen von Informationen kann Transparenz herge- Herstellung und Sicherung von Frieden und beim Wie- stellt und der Druck auf Nationalstaaten erhöht werden, deraufbau verbessert wird. Besonders möchte ich daher die Resolution des Sicherheitsrats entsprechend umzu- den Nichtregierungsorganisationen danken. Sie setzen setzen. Besonders wirksam hat sich dabei das Instru- sich unermüdlich für eine bessere Berücksichtigung der ment des „Naming and Shaming“ in den Berichten des Resolution 1325 und einen nationalen Aktionsplan ein. Generalsekretärs erwiesen: Es werden jene Staaten in Ihnen gebührt unser ganz besonderer Dank. Gemeinsam den Berichten aufgelistet, die die Resolution 1612 nicht mit ihnen werde ich mich mit der SPD-Bundestagsfrak- adäquat umsetzen. Im Jahr 2010 befanden sich 57 Grup- tion auch weiterhin im Sinne der Resolution 1325 und pierungen in 22 Ländern auf einer solchen Liste der der Folgeresolutionen engagieren. Schande. In letzter Konsequenz kann der Sicherheitsrat Sanktionen gegen einen Staat beschließen. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wir sind überzeugt, dass die Einführung eines Eva- „Wenn wir über die Schaffung von Frieden sprechen luations- und Rechenschaftsmechanismus vergleichbar – was nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben für dem der Resolution 1612 zu Kindern in bewaffneten uns im Bereich der internationalen Sicherheit ist –, wis- Konflikten, der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit ein besseres Umsetzungsergebnis verschaffen sen wir, dass etwas fehlt. Und das sind Frauen.“ Diese würde. Ban Ki-moon hatte bereits 2005 gefordert, dass wahren Worte stammen von . Sie hat Staaten nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Re- recht: Der internationalen Sicherheit kann man gar solution 1325 vorlegen sollen. Jedoch sind bislang von keine größere Bedeutung zusprechen. Die Zahl der den 25 Ländern, die die Resolution ratifiziert haben, nur Frauen aber, die in Friedens- oder Verhandlungs- 15 dieser Aufforderung nachgekommen. Auch die Bun- prozesse eingebunden sind und dort eine führende Rolle desregierung hat bislang nichts unternommen, einen übernehmen, liegt leider nicht in einem zufriedenstellen- solchen Aktionsplan vorzulegen. Das ist besonders bit- den Bereich, noch nicht. Bei der Analyse aller Handlun- ter, wenn man bedenkt, dass sie seit Anfang 2011 als gen, die in Deutschland für die Gleichberechtigung be- nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten reits veranlasst wurden, stellt sich dem Betrachter nicht ist und so ihren Einfluss geltend machen könnte. Sie darf mehr die Frage, ob Frauen in Deutschland unterstützt sich da auch nicht hinter der EU verstecken, indem sie werden. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Deutschland (B) sich darauf beruft, dass dort die Defizite bei der Umset- zusätzlich einen nationalen Aktionsplan benötigt. Einen (D) zung der Resolution ursächlich zu suchen sind. Viel- solchen nationalen Aktionsplan erarbeitet die Bundesre- leicht ist es Ihnen entfallen, aber auch die EU hatte die gierung bereits. Dies ist nicht zuletzt auf die stetig Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, Aktionspläne vorzu- zunehmende Zahl von Staaten mit einem solchen Plan legen. zurückzuführen. Die Erwartungen seitens einiger unse- rer Partner werden immer nachdrücklicher. So zum Bei- Nach der ersten Beratung unseres Antrages im Deut- spiel in der Ratsarbeitsgruppe Vereinte Nationen. Aber schen Bundestag hatten wir uns darum bemüht, mit den auch die NATO und einige NATO-Partner haben eine Parteien der Regierungskoalition einen gemeinsamen entsprechende Erwartung zuletzt deutlich vorgetragen. Antrag zu formulieren. Danach entstand auch der Ein- druck, dass es keine generellen Vorbehalte gegen einen Wir beobachten zufrieden, dass sich der Umgang der solchen Mechanismus gibt. Wie wir feststellen mussten, Staaten mit der Resolution 1325 allmählich von allge- scheut sich die Regierungskoalition jedoch, mehr Ver- mein-politischer Unterstützung zu operativer Umset- bindlichkeit und Nachprüfbarkeit in der Frage Förde- zung wandelt. Selbst die USA, die wir als Skeptiker der rung und Gleichberechtigung von Frauen bei Friedens- Vereinten Nationen kennen, erstellen nun einen nationa- sicherung und Wiederaufbau einzugehen. Das spiegelt len Aktionsplan. Diese Entscheidung ist daher für uns in etwa auch das Regierungsgebaren im eigenen Land ein Ereignis mit Referenzwert. Deutschland steht den wider. Der Widerstand gegen eine gesetzliche Quote für Vereinten Nationen sehr aufgeschlossen gegenüber. Frauen in Aufsichtsräten ist ein Hemmschuh auf dem Daher hat die Bundesregierung nicht gezögert, nun Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. ebenfalls mit einem nationalen Aktionsplan zu beginnen. Einer der Haupteinwände der CDU/CSU- und FDP- Somit ist die Kernforderung Nr. 2 des hier diskutierten Vertreter gegen unseren Antrag ist, in Deutschland gebe Antrags bereits erfüllt und wird dementsprechend unnö- es keinen Handlungsbedarf in unserem Sinne. Unser tig. Ich persönlich bin der Meinung, dieser deutsche Einwand dagegen ist: Ein solcher Evaluierungsmecha- Aktionsplan muss jetzt richtig gut werden, um zu zeigen, nismus wäre gerade unschätzbar für die Menschen in dass Deutschland ihn braucht. Denn in Deutschland gibt den Ländern, in denen Frauen besonders häufig Opfer es bereits zwei Aktionspläne. Deren Wirkungen sollten von Gewalt werden und in denen sie durch einen Be- nicht unterschätzt werden. Noch 2007 nannte die dama- richtsmechanismus gegenüber dem UN-Sicherheitsrat lige rot-grüne Regierung den Aktionsplan „Zivile solidarischen Schutz erhalten würden. Es ist zutiefst be- Krisenprävention“ mit integriertem Genderansatz als dauerlich, dass die Parteien CDU/CSU und FDP diesen bestes Beispiel für Deutschlands Vorreiterrolle in der solidarischen Schutz verweigern. zivilen Konfliktprävention. Dass dieser Aktionsplan

Zu Protokoll gegebene Reden 24016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Bijan Djir-Sarai (A) nicht mehr reicht, seitdem Sie in der Opposition sind, Vereinten Nationen bei der Umsetzung der Resolution (C) empfinde ich als scheinheilig. 1325 ist hinfällig. Ihr wird schon seit vielen Jahren nachgegangen. Die Bundesregierung berücksichtigt die Das Feministische Institut der Heinrich-Böll-Stif- besondere Rolle von Frauen in Fragen der Sicherheits- tung, lässt mit der Kritik, die vom Auswärtigen Amt politik bereits. Genauso verhält es sich mit einem natio- benannten Pläne und Projekte hätten gar nichts mit der nalen Aktionsplan. UN-Resolution 1325 zu tun, erkennen, worum es in dieser Debatte tatsächlich geht. Es geht nicht darum, Bezüglich der Forderung nach der Einbringung eines besonders aktiv und effektiv für die Förderung der Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat, der einen Frauen einzutreten und diese in jeglichen Friedenspro- Rechenschaftsmechanismus fordern soll, erwarte ich ein zessen zahlreicher in Erscheinung treten zu lassen. Es bisschen mehr außenpolitisches Feingefühl. So etwas geht einzig und allein um das Verfassen eines Plans. würden wir zunächst mit unseren internationalen Part- nern abstimmen. Daher lehnt die FDP den hier vorlie- Wie würde ein solcher Plan überhaupt aussehen? genden Antrag ab. Nach Berechnung durch die Vereinigung „Bündnis 1325“ wird ein Etat von 200 Millionen Euro benötigt. Bei einer so schwerwiegenden finanziellen Belastung ist Stefan Liebich (DIE LINKE): es meiner Meinung nach notwendig, sich vorher zu Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung nächste fragen, wie effektiv ein solcher Plan ist und wie gut die- Woche endlich den von den Oppositionsfraktionen in ses Geld Frauen hilft. Schauen wir uns die schon beste- insgesamt fünf Anträgen in dieser Legislatur geforder- henden Aktionspläne an, den bosnischen Plan beispiels- ten nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325, weise, der vom Frauensicherheitsrat für seine Gender- präsentieren wird. Wir freuen uns, weil dieser Nationale Equality-Gesetze gelobt wird. Liest der Betrachter ein Aktionsplan längst überfällig gewesen ist. Vor zwölf bisschen weiter, findet er die Aufforderung des Frauen- Jahren wurde die UN-Resolution 1325 vom Sicherheits- sicherheitsrats, diese tollen Gesetze doch auch bitte um- rat der Vereinten Nationen verabschiedet. Seitdem hat zusetzen, was tatsächlich immer noch nicht der Fall ist. sich die Bundesregierung im Gegensatz zu vielen ande- ren europäischen und außereuropäischen Staaten vor al- Oder ist der Aktionsplan Großbritanniens effektiver? lem dagegen gewehrt, den in der Resolution geforderten Er besticht, so das Heinrich-Böll-Institut, durch Aktionsplan zu verabschieden. Diesen braucht es aber, „schwammige Formulierungen“. Weiter erklärt das wenn man bei den zahlreichen außen- und entwicklungs- Institut: „An einigen Stellen bleibt der Sinn der stich- politischen Aktivitäten Deutschlands endlich für mehr wortartigen Aneinanderreihungen von Punkten verbor- Geschlechtergerechtigkeit sorgen möchte. Als ich im gen.“ Noch viel fragwürdiger wird der Aktionsplan (B) Sommer dieses Jahres in Washington mit der Direktorin (D) dadurch, dass er gar keine Mechanismen zur Evaluation der Organisation Women In International Security, vorsieht. Einen solchen Aktionsplan wollen sie also er- Jolynn Shoemaker, darüber sprach, war die Enttäu- stellen? Für 200 Millionen Euro? Oder habe ich mir schung über die deutsche Zögerlichkeit sehr groß. Aber vielleicht einfach die falschen Aktionspläne ange- besser spät als nie: Die Regierung folgt nun endlich den schaut? Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Links- Vorschlägen der Opposition. Aber wir sind auch befrem- partei erklärten in der letzten Wahlperiode noch, man det, weil nun doch ganz plötzlich ein Aktionsplan aus sollte einen Aktionsplan wie in den skandinavischen der Taufe gehoben wird, aber so ganz anders, als sich Ländern verfassen. Das ist insofern sehr interessant, da das die zahlreichen Institutionen der Zivilgesellschaft, auch der dänische Aktionsplan bereits gründlich durch- die sich seit Jahren für die Umsetzung von 1325 einset- leuchtet wurde. Nach Untersuchungen besteht der Plan zen, fordern. Denn er wird heimlich erstellt, ohne ihre größtenteils aus Ankündigungen. Bereits bestehende Einbeziehung, ohne ihre Expertise und Erfahrung. Und Projekte sollen weiter verfolgt werden. Kompetenzen wir sind befremdet, weil wir seit Wochen im Parlament werden nicht verteilt, sodass gar nicht klar ist, wer den den Haushalt diskutieren und in keinem der Einzelpläne Plan wie umsetzen soll. Der schwedische Aktionsplan ein noch so kleines Budget für 1325 zu finden ist. Wie steht dem dänischen in keiner Weise nach. Zudem ist er soll etwas stattfinden, wenn es nicht auch auf finanzielle zeitlich begrenzt. Auch der Punkt der Finanzierung Füße gestellt wird? bleibt gänzlich unerwähnt. Und wir, insbesondere als Linke, sind besorgt, be- Zusammenfassend lässt sich sagen: Der hier gestell- sorgt, weil wir fürchten, dass der Inhalt dieses Aktions- ten Forderung nach einem Aktionsplan geht das plans wohl eher nicht dem entspricht, was wir uns im Auswärtige Amt bereits nach. Ich möchte mich aber in Umgang mit der Resolution 1325 wünschen. Wir möch- aller Entschiedenheit dafür aussprechen, dass ein sol- ten, dass die UN-Resolution als ein völkerrechtlich legi- cher Plan nicht – wie von der Opposition gewünscht – timiertes Instrument genutzt wird, um Frieden zu schaf- nur nach der Öffentlichkeitswirksamkeit gestaltet wird. fen, um Konflikte zu vermeiden und Frauen und Die Effektivität des Plans muss im Mittelpunkt stehen. Mädchen zu schützen. Dieses Schützen, so glauben wir, Ich habe hier grundsätzlich das Gefühl, dass der An- kann und darf nicht militärisch passieren. tragsteller die Aktionen und Vorgehensweisen der Bun- desregierung nicht ausreichend verfolgt. Ansonsten Die Resolution 1325 bietet leider das Potenzial miss- wäre Folgendes aufgefallen: Die erste Forderung nach braucht zu werden für etwas, das unserem Ziel von einer verstärkter Wahrnehmung der Schlüsselrolle von friedlicheren Welt, in der Konflikte nicht mehr durch Frauen in Konflikten und nach Unterstützung der Kriege gelöst werden, entgegensteht, indem die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24017

Stefan Liebich (A) schlechte Situation von Frauen genutzt wird, um Kriege Diese Einsicht führte im Jahr 2000 mit dazu, dass die (C) zu legitimieren. Das haben wir jetzt schon mehrmals ge- UN-Resolution 1325 unterzeichnet wurde, um die habt, mit schrecklichem Ausgang: In wohl kaum einer Schlüsselrolle von Frauen bei gewalttätigen Konflikten Region der Welt geht es Frauen so schlecht wie in und beim Friedensaufbau zu unterstützen. Das war , dem Land, in das die meisten Hilfsleistun- wichtig. Aber hat sich danach viel bewegt? Die Mit- gen weltweit fließen und wo die seit fast gliedstaaten waren aufgefordert, einen Aktionsplan vor- zwölf Jahren Krieg führt. Afghanistan hat gezeigt, dass zulegen – Rot-Rot-Grün legten 2011 einen Antrag dazu das Projekt zivil-militärischer Zusammenarbeit geschei- vor, der abgelehnt wurde. Dem SPD-Antrag mit dem tert ist. Aber auch die Folgen der Austeritätsprogramme Versuch, einen Rechenschaftsmechanismus zu imple- treffen Frauen besonders. Es gibt Berichte aus Grie- mentieren, droht jetzt ein ähnliches Schicksal durch die chenland, dass Frauen Krankenhäuser mit 1 000 Euro Koalition von CDU/CSU und FDP. bestechen müssen, um dort ihr Kind zur Welt bringen zu Was meinte unser Kollege Jürgen Klimke bei der ers- dürfen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit den ten Beratung am 10. Mai so schön? Dass doch die Kol- wichtigen Frauenorganisationen, die zu 1325 arbeiten, legen von SPD und Grünen – Zitat – „aus lauter Profi- zusammensetzen und sehen, wie ein nationaler Aktions- lierungssucht in UN-Fragen wieder einmal über das plan aussehen kann. Wie echtes Engagement für ein Ziel hinausgeschossen“ seien! Weder sei eine Rechen- Ziel, das wir, glaube ich, hier im Kern ja alle teilen, schaftspflicht durch die Staaten notwendig noch ein Ak- mehr Geschlechtergerechtigkeit hier, in Europa, in der tionsplan, weil diese – Zitat – „bis auf das politische ganzen Welt, gestaltet werden muss. Zeichen keinen entscheidenden Mehrwert erzeugen“ würden. Der hier vorliegende Antrag der SPD leistet zu dieser Diskussion durchaus einen Beitrag. Klar ist ein Rechen- Mit Verlaub, lieber Jürgen Klimke, da haben Sie sich schaftsmechanismus wichtig. Wir werden uns bei der ganz schön vergaloppiert! Denn wenn ich mich nicht Abstimmung aber enthalten, weil wir doch finden, dass täusche, dann arbeitet man jetzt gerade daran, einen man in einem Parlamentsantrag weitergehen muss und solchen Aktionsplan auf den Weg zu bringen. Wenn das dass wir mit unserem gemeinsamen rot-rot-grünen stimmt, dann müsste die schwarz-gelbe Koalition hier Antrag zur Forderung eines nationalen Aktionsplans zu und heute ihre Zustimmung zu diesem Antrag geben und 1325 auch schon mal weiter waren. vor allem sich bei der Opposition dafür bedanken, dass diese so hartnäckig das Thema Aktionsplan und Rechen- Und es kann auch nicht verschwiegen werden, dass schaftsmechanismus für die Resolution 1325 vo- wir Oppositionsfraktionen unterschiedliche Vorstellun- rantreibt. gen von dem haben, wie 1325 umgesetzt werden soll. Wir Grünen finden es ausgesprochen wichtig, dass (B) Für uns ist die Resolution kein Instrument, dafür zu sor- (D) gen, dass mehr Frauen als Soldatinnen in Kriege ziehen. auf der UN-Ebene mehr für Frauen getan wird. Auch Wir wollen es stattdessen als ein Instrument, das mit den deshalb hatten wir diese Woche im Entwicklungsaus- drei P – Partizipation, Prävention und Protektion – schuss bei den Haushaltsberatungen für UN-Women Frieden möglich macht. Dennoch sind wir uns über die 14 Millionen Euro mehr gefordert, was CDU und FDP Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans in der abgelehnt haben. Opposition einig. Und nun endlich folgt die Regierung Die Gründe unseres Engagements für einen Aktions- dem auch. plan führe ich Ihnen gerne noch mal auf – denn die un- geheuerliche Gewalt, die vor allem Frauen und Mäd- Wichtiger jedoch als jeder Aktionsplan dieser Welt ist chen in Konflikten erleben, muss viel intensiver als politischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregie- bisher bekämpft werden. Frauen sind konfrontiert mit rung, dass sie jetzt endlich Frauen mit an die Tische bei Ausbeutung, Unterdrückung, sexueller Kriegsgewalt bis Friedensverhandlungen holt und Sicherheit für Men- hin zu Massen- und Mehrfachvergewaltigungen, sexuel- schen beiden Geschlechts in all den vielen Kriegs- und ler Sklaverei und Zwangsprostitution. Krisenregionen dieser Welt schafft. Soziale Sicherheit und Sicherheit vor Krieg und Zerstörung, nur dann kann Vor diesem Hintergrund ist es unfassbar, dass Frauen auch ein Aktionsplan für die 1325 etwas nutzen. in Friedensverhandlungen kaum gehört und nicht einge- bunden werden. Für Frauen gehen die Probleme im Post-Konflikt-Kontext weiter: Gewalt und Traumatisie- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungen, vermehrte häusliche und öffentliche Gewalt Malala Yousufzai hat einen hohen Preis für ihren Mut sind an der Tagesordnung. Schon daran merkt man, dass gezahlt – religiöse Fanatiker in Pakistan schossen An- der Weg zum Frieden nur über die Unterstützung der fang Oktober auf die 14-Jährige auf ihrem Weg zur Frauen und die Befriedung ihrer Situation führen kann. Schule. Offen und mutig war sie seit Jahren im konflikt- Sonst bleibt es bei den Ursachen, die leicht zu erneutem trächtigen Swat-Tal für das Recht von Mädchen auf Ausbruch von gewalttätigen Konflikten führen können. Schulbildung eingetreten; jetzt liegt sie schwerverletzt im Krankenhaus. Erneut wurde ihr durch die Taliban der Mit der Resolution 1325 wurden zentrale Forderun- Tod angedroht. Ich schicke ihr von hier aus unsere Soli- gen der Geschlechtergerechtigkeit völkerrechtlich ver- darität und die besten Genesungswünsche. bindlich verankert. Die drei Schlagworte dafür heißen: Prävention, Partizipation, Protektion. Dies war der Auf- Malalas Schicksal ist ein Beispiel von vielen dafür, takt für die Verankerung von Gender-Aspekten in Frie- welchen Gefahren Mädchen und Frauen in Kriegs- und densprozessen. Auf der Resolution 1325 aufbauend sind Konfliktgebieten ausgesetzt sind. weitere Resolutionen verabschiedet worden, zum Bei-

Zu Protokoll gegebene Reden 24018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Ute Koczy (A) spiel 2008 die UN-Resolution 1820 – sexuelle Gewalt Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- (C) als Kriegsverbrechen und Gefahr für Frieden und sicherheit hat in seiner Beschlussempfehlung den Antrag Sicherheit – oder 2009 die UN-Resolution 1888 – Präzi- der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9555 mit dem sierung bisheriger Forderungen, Sonderberichterstatter Titel „Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung und Sanktionsmöglichkeiten – sowie die UN-Resolution senken – Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung 1889: Rolle von Frauen in friedensstabilisierenden und Abfallmitverbrennung“ mit einbezogen. Über diese Maßnahmen in Post-Konflikt-Situationen aus dem Jahre Vorlage soll jetzt abschließend beraten werden. Ich sehe, 2009. Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlos- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarz- sen. gelben Koalition, wollen Sie weiterhin dafür sorgen, Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die dass diese wichtige Rolle der Resolution 1325 durch Reden zu Protokoll genommen. deutsche Drückebergerei vor einem Aktionsplan abge- schwächt wird? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Besser wäre es, Sie stimmten heute zu und unterstütz- ten das Anliegen; denn wenn der Aktionsplan jetzt doch Die Umsetzung der Richtlinie für Industrieemissio- käme, dann hätten Sie sich eine Verteidigung Ihrer lah- nen (IE-RL oder auch IED, Industrial Emissions Direc- men Argumentation sparen können. tive) in deutsches Recht ist eines der umfangreichsten Gesetzgebungsvorhaben im Umweltrecht in dieser Legislaturperiode. Die Richtlinie 2010/75/EU stellt das Vizepräsidentin Petra Pau: zentrale europäische Regelwerk für die Zulassung und Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus- den Betrieb von Industrieanlagen und damit für die Luft- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf reinhaltung dar. Der Wirtschaftsstandort Deutschland Drucksache 17/10904, den Antrag der Fraktion der SPD ist davon in besonderer Weise betroffen, schließlich auf Drucksache 17/8777 abzulehnen. Wer stimmt für stehen von den europaweit durch die Richtlinie erfassten diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – circa 52 000 Anlagen rund 9 000 Anlagen in Deutsch- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den land. Es handelt sich zum Beispiel um Anlagen zur Ener- Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge- gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion gieerzeugung, Stahlwerke, Anlagen zum Gießen und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Walzen von Metallen, die Automobilindustrie, indus- Linke angenommen. trielle Chemieanlagen, Mineralölraffinerien und andere mehr. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: (B) Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben wir in (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Deutschland ein im internationalen Vergleich sehr richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz hohes Umweltschutzniveau erreicht. Um dieses hohe und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Umweltschutzniveau sicherzustellen, haben wir ein um- – zu der Verordnung der Bundesregierung fangreiches Regelungswerk, das der Zulassung und dem Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen zugrunde zu Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie legen ist: das Bundes-Immissionsschutzgesetz (BIm- über Industrieemissionen, zur Änderung der SchG) und die dazugehörigen Rechtsverordnungen. In Verordnung zur Begrenzung der Emissionen diesen Regelwerken sind zum Beispiel die technischen flüchtiger organischer Verbindungen beim Anforderungen an eine Anlage definiert und spezifische Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen, Emissionsgrenzwerte vorgeschrieben. Auch wird die Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie Durchführung von Emissionsmessungen verlangt und zur Änderung der Verordnung zur Begren- werden entsprechende Abnahmen und regelmäßige zung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der Überprüfungen auferlegt. Betankung von Kraftfahrzeugen Die europäische Industrieemissionsrichtlinie fußt – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, – wie auch bereits die Vorgängerrichtlinie über die inte- Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abge- grierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt- ordneter und der Fraktion der SPD verschmutzung, IVU-Richtlinie – auf einem Konzept, Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbren- welches die Verminderung und Vermeidung von Ver- nung senken – Gleiche Bedingungen für Müll- schmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie verbrennung und Abfallmitverbrennung die Erreichung einer hohen Energieeffizienz integriert betrachtet. Die IED legt dabei neue, engere Ziele zur – Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3, Verbesserung der Luftqualität und der Emissionsstan- 17/9555, 17/11060 – dards auf EU-Ebene fest. Diese äußern sich insbeson- Berichterstattung: dere in strengeren Genehmigungs- und Grenzwertanfor- Abgeordnete Dr. Michael Paul derungen, der Aufwertung der Merkblätter zur Ute Vogt bestverfügbaren Technologie, BVT, sowie in erweiterten Dr. Lutz Knopek Berichts- und Überwachungspflichten für Betreiber und Ralph Lenkert Behörden. Die Umsetzung der IED in nationales Recht Dorothea Steiner muss bis 7. Januar 2013 erfolgen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24019

Dr. Michael Paul (A) Sowohl aus Umweltsicht als auch aus Sicht des Wirt- einen erheblichen Anteil. Deshalb wurde im Rahmen der (C) schaftsstandorts Deutschland ist es positiv zu bewerten, Umsetzung der IED in der 13. und 17. BImSchV für dass die Verbindlichkeit der besten verfügbaren Technik, diese Anlagen nationale Verschärfungen in Bezug auf BVT, mittels der BVT-Merkblätter in Europa zunehmend Staub- und Stickoxide aufgenommen, die sich an der vereinheitlicht wird. Dass dadurch europaweit ein insge- Leistungsfähigkeit der Anlagen orientieren. samt höherer Umweltschutzniveau gewährleistet wird, kann aus Sicht der Umwelt nur begrüßt werden. Einheit- Auch im Hinblick auf Quecksilber haben wir einen liche Rahmenbedingungen innerhalb der EU stärken neuen Emissionsgrenzwert eingeführt, der so nicht in aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In- der IED vorgesehen ist. Aufgrund der toxischen Eigen- dustrie, da dann gleiche „Spielregeln“ für alle europäi- schaften dieses Schwermetalls halten wir Maßnahmen schen Anlagen gelten. zur gezielten Emissionsminderung bei den Verbren- nungsanlagen für geboten. Der neue im Jahresmittel- Die Umsetzung eines Teils der IED beraten wir heute: wert einzuhaltende Emissionswert für Quecksilber ist die Zweite Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie anspruchsvoll. Bei den Anlagen werden hierfür Nach- über Industrieemissionen, die sich insbesondere mit den rüstungen und zum Teil erhebliche Anpassungsmaßnah- Großfeuerungsanlagen (13. BImSchV) und mit der men erforderlich. Es stellt sich die Frage, ob wir an- Abfallverbrennung und -mitverbrennung (17. BImSchV) spruchsvoll genug sind. Die jetzt eingeführte Regelung befasst. Ein anderer Teil der Umsetzung wird uns in we- ist als wichtiger Zwischenschritt zu sehen im Rahmen ei- nigen Tagen hier beschäftigen, dabei geht es insbeson- ner umfassenden Quecksilberminderungsstrategie. dere um Änderungen des BImSchG. Ein dritter Teil Zusammenfassend möchte ich folgendes Fazit ziehen: schließlich liegt zur Beratung und Beschlussfassung Die Vorgaben der Richtlinie über Industrieemissionen dem Bundesrat vor. Es handelt sich also um ein Rege- heben die Anforderungen an den Betrieb von Großfeue- lungspaket, das vielfältige Auswirkungen auf diese rungsanlagen und Abfallverbrennungsanlagen europa- Industrien hat. weit auf ein hohes Niveau. Um die vorgeschriebenen Dabei ist die Änderung der Großfeuerungsanlagen- Grenzwerte einhalten zu können, müssen die betroffenen verordnung im Kontext der Energiewende zu sehen. Unternehmen meist erhebliche Maßnahmen ergreifen. Auch wenn wir im Jahr 2020 unsere Stromversorgung zu An einigen wichtigen Stellen legen wir die Messlatte 40 Prozent aus erneuerbaren Energien decken, heißt das noch höher als in der europäischen Gesamtschau. Doch im Umkehrschluss, dass 60 Prozent der Stromerzeugung dies halte ich vor dem Hintergrund der Vorsorge für not- dann noch immer aus konventionellen Kraftwerken wendig und gegenüber der Wirtschaft für vertretbar. stammen. Bestehende Anlagen werden weiterbetrieben (B) werden. Für diese bestehenden Anlagen wie auch für Franz Obermeier (CDU/CSU): (D) neue Anlagen gilt es, einen gesetzlichen Rahmen zu Diese EU-Richtlinie ist wie eine Medaille. Sie ist von schaffen, der auf der einen Seite das hohe, nationale zwei Seiten zu betrachten: Die eine ist die Umweltpoli- Umweltschutzniveau erhält, auf der anderen Seite die tik, die andere die Industriepolitik. Unsere Aufgabe ist Möglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus fossilen es, hier einen ausgewogenen Ausgleich zu erzielen. Energien nicht erdrosselt. Gerade wenn wir die Energiewende vernünftig ge- Dies ist auch die Grundlage, auf der wir die IED ins stalten wollen – und das heißt, die Kontinuität bei der deutsche Recht umsetzen: Die Grenzwerte und Vorgaben Stromerzeugung zu bezahlbaren Preisen zu sichern –, aus der IED werden überall dort, wo sie strengere Maß- müssen wir auch die Nutzung bestehender Anlagen und nahmen verlangen, eins zu eins in das nationale Recht den notwendigen Neubau von modernen Kraftwerken im übernommen. War der erreichte Umweltstandard in Auge behalten. Bestandskraftwerke stehen für einen ent- Deutschland bereits höher, so wurde von diesem höheren scheidenden Teil der Energiesicherheit gerade. Sie sind Standard nicht abgewichen. Es gibt also keine Reduzie- zur Netzstabilisierung und Grundlastversorgung neben rung der nationalen Umweltstandards. den erneuerbaren Energien noch immer unverzichtbar. Allerdings gab es auch einige Punkte, an denen wei- Wie oft bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in na- tergehende Maßnahmen über die IED hinaus und auch tionales Recht gibt es Stimmen, die für uns in Deutsch- über den bisherigen nationalen Standard hinaus disku- land gleich „noch eins draufsetzen möchten“ und wei- tiert wurden. Hier sind insbesondere die Grenzwerte für tere Verschärfungen – schärfere Grenzwerte – fordern. Staub und Sickstoffoxide zu nennen. Gerade bei Staub Hiervor kann ich nur warnen. Deutsche Alleingänge und Stickoxiden können mancherorts in Deutschland die sind umweltpolitisch nur ein Tropfen auf den heißen Umweltqualitätsnormen nicht eingehalten werden. Mit Stein, für die Wirtschaft und Verbraucher aber verhee- Blick auf Staub gibt es in manchen Umweltzonen zu viele rend. Tage, an denen die Grenzwerte überschritten werden, Bei der IED-Richtlinie – lndustrieemissionsrichtlinie – und bei den Stickoxiden können zum Teil die Immissions- gibt es vor allem zwei Punkte, bei denen ich Nachbesse- jahresgrenzwerte nicht eingehalten werden. Ursache für rungsbedarf sehe: diese Grenzwertüberschreitungen sind in nahezu gleichen Anteilen der Verkehr, die Heizungsanlagen der Zum Ersten geht es um die Grenzwerte für Gaskraft- privaten Haushalte sowie die Industrie. Bei den indus- werke. Gerade wegen der zunehmenden fluktuierenden triellen Anlagen haben die Großfeuerungsanlagen und Einspeisung erneuerbarer Energien müssen die Kraft- die Müllverbrennungs- und -mitverbrennungsanlagen werke in Zukunft flexibler gefahren werden. An- und

Zu Protokoll gegebene Reden 24020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Franz Obermeier (A) Abfahrvorgänge werden zunehmen, und dies ist ja auch Wirtschaft, unser Wohlstand und unser Sozialstaat hän- (C) gewollt. Deshalb halte ich es für falsch, wenn bei den gen vom Strom ab. Wir brauchen realistische Rahmenbe- Messungen – wie jetzt geplant – auch die An- und Ab- dingungen. Sonst wird es keine Investoren geben. fahrvorgänge mit berücksichtigt werden sollen. Dies ist eine Verschärfung, die über die IED-RL hinausgeht. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, für eine verlässli- Also, das An- und Abfahren der Kraftwerke sollte he- che und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen, rausgenommen werden, dieser Passus ersatzlos entfal- die uns aber nicht die Basis unseres Sozialstaates len. – Wirtschaft und Arbeitsplätze – unter unseren Füßen wegzieht. Zum Zweiten geht es um die Staubemissionswerte für Altanlagen: Ab 2019 soll auch für Bestands- und Altan- Ute Vogt (SPD): lagen nach § 11 Abs. 1 ein Staubjahresmittelgrenzwert von 10 Milligramm pro Normkubikmeter gelten. Diese Ich will mal mit dem Erfreulichen beginnen: Die Bun- Regel würde dazu führen, dass eine Reihe von alten desregierung scheint es mit dieser Vorlage zur Richtlinie Kraftwerken vom Netz genommen werden müssten. Das über Industrieemissionen, der sogenannten IED-Richt- würde genau in die Zeit fallen, wo die letzten Kernkraft- linie, immerhin einmal zu schaffen, die EU-Vorgaben in- werke vom Netz gehen. Mit Blick auf die Netzstabilität nerhalb der vorgegebenen Frist zum 6. Januar 2013 könnte dies negative Folgen haben. Die Einhaltung von in nationales Recht umzusetzen. Die IED ist eine der schärferen Jahresmittelwerten für bestehende Anlagen wichtigsten Richtlinien zur immissionsschutzrechtlichen würde zu entsprechenden Nachrüstungen und Kosten Regelung der Genehmigung und Überwachung von In- führen und am Ende weiter die Verbraucher zusätzlich dustrieanlagen und der Sachverständigenrat der Bun- belasten. Ich plädiere dafür, hier eine Verschiebung des desregierung in Umweltfragen nennt sie zu Recht das Datums zu prüfen. „Grundgesetz des Anlagenlagenrechts“. Sie regelt die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt- Insgesamt rege ich an, diese beiden Punkte nochmals verschmutzung von Luft, Wasser und Boden durch indus- aufzugreifen und entsprechende Anpassungsmöglichkei- trielle Anlagen und bildet damit tatsächlich eine umfas- ten zu prüfen. sende Grundlage, um die Industrie europaweit weiter an Zum Schluss: Ich sage: Wir müssen die Energiewende umweltverträgliches Wirtschaften heranzuführen bzw. sorgfältig, Schritt für Schritt und mit Augenmaß vorneh- dafür zu verpflichten. men. Resultat einer nationalen Verschärfung der Emis- Bereits die Vorgängerrichtlinie, Richtlinie zur in- sionsgrenzwerte bei den Kraftwerken nur bei uns in tegrierten Vermeidung und Verminderung der Um- Deutschland wären geringere Versorgungssicherheit weltverschmutzung, IVU, hatte die Harmonisierung des (B) und mehr Stromimporte aus ausländischen Anlagen. Da Umweltschutzniveaus und die Vermeidung von Wettbe- (D) ausländische Anlagen lediglich die niedrigeren Vor- werbsverzerrungen in der EU zum Ziel. In der Praxis schriften der EU-Richtlinie erfüllen müssen, hätte dies wurde dieses Ziel bisher jedoch nicht erreicht. Geschei- unmittelbare Wettbewerbsnachteile für deutsche Kraft- tert ist es bislang vor allem an der mangelnden Verbind- werksbetreiber. Zudem würden Finanzmittel für aufwen- lichkeit der dort festgelegten Vorgaben. dige Nachrüstmaßnahmen nicht für Investitionen in die Energiewende zur Verfügung stehen – man kann jeden Die IED sorgt nun für eine solche Verbindlichkeit – Euro nur einmal ausgeben. und dies in allen Ländern der EU. Genehmigungsfähig ist demnach nur noch die Technologie, die dem der Die Energiewirtschaft wird durch die laufende Kraft- Stand der Technik entspricht, eine Praxis, die wir aus werkserneuerung zukünftig ohnehin weniger Luftschad- Deutschland bereits über die BVT-Merkblätter kennen, stoffe emittieren. Zusätzlich wird die wachsende Nut- BVT heißt „beste verfügbare Technik“. zung von erneuerbaren Energien dazu führen, dass sämtliche Emissionen aus fossilen Kraftwerken zurück- Durch einzelne Rechtsetzungen wie zum Beispiel die gehen werden, weil sie schlicht weniger eingesetzt wer- Vorgaben aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem den. Wasserhaushaltsgesetz oder auch der TA Luft sind in Deutschland in vielen Bereichen bereits Grenzwerte Gerade in den nächsten Jahren sollte darauf verzich- umgesetzt, die ein hohes Umwelt- und Gesundheits- tet werden, zusätzliche Kraftwerkskapazitäten „aus dem schutzniveau schaffen. Dies hat auch bewirkt, dass der Markt zu regulieren". Dies unterstreicht auch der deutsche Anlagenbau eine gute Positionierung bei der Bericht der Bundesnetzagentur vom Mai 2012, in dem Produktion umweltverträglicher Industrieanlagen erreicht explizit empfohlen wird, keine weiteren Kraftwerke still- hat und sich gegenüber europäischen Mitbewerbern ei- zulegen. nen Wettbewerbsvorsprung verschaffen konnte. Wenn Richtig ist, europäische Gemeinsamkeit zu praktizie- nun der Betrieb von Anlagen europaweit unter gleiche ren und mit allen politischen Möglichkeiten auch welt- Standards gestellt wird, ist dies zum einen eine Anglei- weit Verbesserungen einzufordern. Nur so können Wett- chung der Wettbewerbsbedingungen, birgt zum anderen bewerbsverzerrungen zum Nachteil Deutschlands aber auch die Chance von neuen Absatzmärkten für um- vermieden werden. weltverträgliche Technologien. Deshalb begrüßen wir die grundsätzliche Konzeption zur Umsetzung der IED. Soll die Stromversorgung sicher und vor allem noch bezahlbar bleiben, müssen wir auch an den erforderli- Allerdings bleibt die Bundesregierung mit ihrem Ver- chen Neubau modernster Kraftwerke denken. Unsere ordnungsentwurf hinter den notwendigen Regelungen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24021

Ute Vogt (A) zurück. Denn so erfreulich die europaweiten Verbesse- bende Zeit, unsere Änderungsvorschläge zu prüfen und (C) rungen zu bewerten sind, in Deutschland selbst wird in das Gesetz einfließen zu lassen. sich an der faktischen Lage leider rein gar nichts verän- dern. Nun kann man sich zurücklehnen und sagen, dies Dr. Lutz Knopek (FDP): liegt daran, dass Deutschland bisher bereits strenge Grenzwerte festgelegt hatte, und die anderen ziehen Mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf der Bun- eben nun nach. Aber das ist doch eine mehr als defensive desregierung wird ein wichtiger Teil der europäischen In- Haltung. dustrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Durch die Richtlinie über Industrieemissionen – kurz: Auch unsere Anhörung vergangenen Montag hat be- IED – wird die bisherige Richtlinie über die integrierte stätigt, dass die Vorgaben für die deutsche Industrie al- Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmut- les andere als hart sind. Die Bundesregierung sollte die zung von 1996 überarbeitet und mit sechs sektoralen Chance ergreifen, unsere Vorreiterrolle zu sichern und Richtlinien, die Anforderungen für bestimmte Anlagen- auszubauen. Denn auch künftig überleben am Markt die arten enthalten, zusammengefasst. Insbesondere werden Unternehmen, die am effizientesten und fortschrittlichs- in den Anhängen V und VI die Richtlinien für Großfeue- ten sind. Deshalb brauchen wir – wie bisher – ambitio- rungsanlagen und zur Abfallverbrennung und zur Ab- niertere Ziele, zumindest zur Reduzierung der Quecksil- fallmitverbrennung in die IED integriert. Diese beiden berbelastung und auch bei den Feinstaubwerten. Denn Anhänge werden heute mit einer Novellierung der machen wir uns nichts vor: Freiwilligkeit führt leider in 13. und der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung in den seltensten Fällen zu Verbesserungen. Besonders deutsches Recht umgesetzt. Die Richtlinie stellt zukünf- schwer wiegt ihre Unterlassung in Sachen Quecksilber- tig das zentrale europäische Regelwerk für die Zulas- verschmutzung. Selbst in den USA, die bisher nicht da- sung und den Betrieb von Industrieanlagen dar. Sie er- für bekannt sind, die schärfsten Umweltgesetze zu ha- fasst europaweit circa 52 000 Anlagen, in Deutschland ben, ist man uns weit voraus. Ab dem Jahr 2016 darf circa 9 000 Anlagen. dort kein bestehendes Kraftwerk im Monatsdurchschnitt Zwei Prinzipien haben uns bei der Überarbeitung der mehr als 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Quecksilber beiden Bundesimmissionsschutzverordnungen geleitet. emittieren. Für Neuanlagen ist sogar ein noch weit Zum einen haben CDU/CSU und FDP im Koalitionsver- schärferer Wert, 0,35 Mikrogramm pro Kubikmeter bei trag vereinbart, EU-Vorgaben möglichst ein zu eins in 5 Volumenprozent O , vorgeschlagen. Man muss sich 2 deutsches Recht zu übernehmen. Diesen Willen haben das auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben in die Koalitionspartner im Entschließungsantrag „Markt- Deutschland bisher nach bester verfügbarer Technik wirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Inte- keine Anlage, die über 20 Mikrogramm pro Kubikmeter graler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft“ noch (B) Quecksilber emittiert, nach Umsetzung der IED sollen (D) einmal bekräftigt und beschlossen, „bei der Umsetzung nun jedoch 30 Mikrogramm pro Kubikmeter erlaubt der europäischen Industrieemissionsrichtline auf unbü- sein. Und in den USA ist gleichzeitig die Reduzierung rokratische und praxisnahe Regelungen zu setzen, keine auf ein Zehntel vorgesehen. Dies folgt keiner Logik und national einseitigen Verschärfungen vorzunehmen und schon gar nicht der Vorgabe, die beste verfügbare Tech- die europäischen Vorgaben im Verhältnis ein zu eins in nik einzusetzen. Da überzeugt auch der Bezug auf die nationales Recht zu übernehmen“. Jede Abweichung Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Vorgaben von dieser Vorgehensweise bedarf daher einer überzeu- nicht. Es verbietet uns schließlich niemand, mindestens genden Begründung. Zum anderen hat uns das unge- unsere bisherigen Standards zu halten. Im Gegenteil: schriebene parlamentarische Gesetz, dass die Integra- Die Richtlinie lässt dies sogar ausdrücklich zu. Und bei tion von EU-Vorgaben nicht mit einer Aufweichung uns in Deutschland existiert die dafür notwendige Tech- nationaler Umweltstandards einhergehen darf, geleitet. nik bereits und wird genutzt, um die Emissionen von Quecksilber auf sogar unter 1 Mikrogramm pro Kubik- Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung wird meter zu senken. Das Umweltbundesamt, UBA, schlägt diesen Anforderungen weitestgehend gerecht. In zwei deshalb vor, den deutschen Grenzwert auf zunächst wesentlichen Punkten, namentlich der Einführung eines 3 Mikrogramm zu senken. Und sie sollten dieser Emp- neuen Jahresmittelwertes für die Emissionen von Staub fehlung im Interesse der Gesundheit, der Umwelt, aber und Quecksilber, geht der Regierungsentwurf über die auch der Standortsicherung folgen. Vorgaben der IED hinaus. Diese Abweichung ist jedoch zur Erfüllung der Ziele der Luftqualitätsrichtlinie und Ebenso wenig ambitioniert ist der Umgang mit dem zur Verringerung hochtoxischer Quecksilberimmissio- Thema Feinstaub. Wir sind bereits heute technisch in nen gut begründet und für die deutsche Industrie mit nur der Lage, weit niedrigere Grenzwerte für Feinstaub ein- geringem Aufwand erfüllbar. zuhalten. Und wir sind es den Menschen in Deutschland auch schuldig – denn Feinstaub ist der Hauptverur- Meine Fraktion hätte sich gewünscht, dass die zu- sacher von Luftverschmutzung. Die gesundheitlichen künftig im Rahmen der Energiewende vermehrt notwen- Folgen sind immens – und auch die damit verbundenen digen schnellen An- und Abfahrvorgänge insbesondere Kosten für unser Gesundheitssystem. Vor allem Kinder für Gaskraftwerke zur Stabilisierung der fluktuierenden leiden an den Auswirkungen und gesundheitlichen Fol- Einspeisung erneuerbarer Energien eine stärkere Be- geschäden. Die Verordnung hätte auch hier genutzt rücksichtigung in der Verordnung gefunden hätten. Auf- werden müssen, eine Verbesserung herbeizuführen. Das grund des engen Zeitrahmens zur Umsetzung der IED haben Sie bisher nicht getan. Nutzen Sie die verblei- war eine entsprechende Einigung mit dem Koalitions-

Zu Protokoll gegebene Reden 24022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Dr. Lutz Knopek (A) partner jedoch nicht möglich. Da es die begründete An- Die Linke fordert die Anwendung der Grenzwerte von (C) nahme gibt, dass der Bundestag sich erneut mit dieser Abfallverbrennungsanlagen für die Mitverbrennung von Verordnung nach der Befassung des Bundesrates be- Abfall, egal ob in Zement- oder Stahlwerken. Wenn diese schäftigen wird, werden wir dem Verordnungsentwurf Grenzwerte nicht eingehalten werden, muss die Mitver- heute zunächst zustimmen. brennung verboten werden. Wir unterstützen die SPD bei ihrem entsprechenden Vorschlag. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Wir fordern für Deutschland Grenzwerte für Queck- Schwarz qualmende Schornsteine wecken Ängste vor silber wie in den Vereinigten Staaten. Dass ich das ein- Gefahren, und wir alle werden vorsichtig – was wir mal im Umweltbereich sagen muss, ist traurig. nicht sehen und riechen können, dem können wir nicht Die Linke fordert, dass die Stickoxidgrenzwerte hal- ausweichen. Gerade die Abgase der Industrieproduktion biert werden. enthalten oft schädliche Bestandteile. Die anstehende Verordnungsänderung bot die Chance, bewährte Um- Wir stimmen für die Gesundheit der Bevölkerung, und welttechniken konsequent einzusetzen und zukünftig deshalb stimmt die Linke der Umsetzung der Richtlinie mehr Schwermetalle, Stickoxide und Benzole aus der über Industrieemissionen nicht zu. Luft zu entfernen. Weniger Allergien, weniger Infek- tionskrankheiten, weil die Immunabwehr nicht durch Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Quecksilber geschwächt wird – das wäre doch ein loh- Mit der vorliegenden Verordnung hat die Bundesre- nendes Ziel und würde die gesamte Volkswirtschaft von gierung leider die Chance vertan, eine maßgebliche Ver- Gesundheitskosten entlasten. besserung der Umweltsituation in Deutschland herbei- Leider beschränkt sich diese Koalition auch bei die- zuführen und schädliche Emissionen langfristig zu sem Thema auf Kostensenkung für ihre Klientel, die reduzieren. Die europäische Richtlinie hätte die Mög- Energie-, Chemie-, Zement- und Stahlindustrie. Die lichkeit eröffnet, bei wichtigen Schadstoffen die Grenz- werte zu verschärfen und damit sowohl messbare Ver- verhältnismäßig hohen Schadstoffgrenzwerte bringen besserungen für die Luftqualität zu erreichen als auch diesen Industriebereichen Kosteneinsparungen zulasten Anreize zur Weiterentwicklung neuer Technologien zu unser aller Gesundheit. Dabei opfern sie langfristig ihre setzen. Stattdessen machen Sie nur kleine Schritte bei Wettbewerbsfähigkeit kurzfristigen Renditezielen, weil der Absenkung der Grenzwerte. Sie führen neue Rege- international der Trend zu schadstoffarmer Produktion lungen ein, die weitgehend wirkungslos bleiben werden. zunimmt. Selbst China verweigert inzwischen oft die un- Die formulierten Anforderungen an die Vermeidung und gebremste Schadstoffemission. (B) Verminderung von Industrieemissionen gehen nicht über (D) Zu den Einzelheiten: Während Unternehmen in den den bereits erreichten Stand der Technik hinaus. Verra- USA jetzt im Monatsmittel maximal 3 Mikrogramm ten Sie mir bitte, wie dadurch Anreize zu neuen Innova- Quecksilber pro Kubikmeter Abluft ausstoßen dürfen, tionen gesetzt werden sollen? Wie soll denn so die Belas- soll das deutsche Jahresmittel bei maximal 10 Mikro- tung mit Industrieemissionen maßgeblich verringert gramm liegen. Dass jetzt sogar die USA mehr Wert auf werden, werte Kolleginnen und Kollegen von der Regie- Umweltschutz legen, macht nachdenklich. rungskoalition? Und Sie vergeben auch die deutsche Vorreiterrolle im Auch am Beispiel Stickoxide wird deutlich, dass die Umweltschutz. Es ist ja nahezu peinlich, dass selbst die Bundesregierung je nach Betroffenem Unterschiede in USA, ja die USA, bisher nicht gerade bekannt für pro- den Umweltstandards macht. Während im Verkehrsbe- gressive Umweltpolitik, zukünftig strengere Grenzwerte reich der Ausstoß an Stickoxiden trotz steigenden Ver- für Quecksilber in Großfeuerungskraftwerken haben kehrs sinkt, wächst er in der Industrie seit zwölf Jahren werden als die Bundesrepublik. Im Rahmen dieser Ver- an. Deshalb verfehlt Deutschland die Erfüllung seiner ordnung hätte man die Grenzwerte deutlich senken müs- Verpflichtung zur Senkung des Stickoxidausstoßes um sen, technisch ist das schon lange kein Problem mehr. 25 Prozent. Trotzdem legt diese Verordnung für die In- Und selbst der Referentenentwurf des Umweltministe- dustrie Grenzwerte fest, die mehr als das Doppelte über riums sah strengere Grenzwerte vor. Sie aber sind leider dem technisch leicht Erreichbaren liegen. mal wieder eingeknickt und lassen zu, dass alte Kohle- kraftwerke nicht mal den Stand der Technik erfüllen Aus den Zementöfen emittieren durch Brennstoffe aus müssen. Sie sind eingeknickt vor der Industrielobby, die Abfall Stäube mit gefährlichen Anhaftungen von Fura- ihre alten Kohlekraftwerke, die Dreckschleudern, nicht nen und Dioxinen, die in einer Abfallverbrennunganlage kostenpflichtig modernisieren will. Dabei haben die ge- nicht in die Luft gelangen würden. Bereits 60 Prozent nug Rendite, um das zu finanzieren. Die bekannten Ge- der Energie für einen Zementofen wird aus sogenannten fahren für die Gesundheit durch Quecksilber, insbeson- Ersatzbrennstoffen gewonnen. Dies wird dann auch dere für Kinder, ignorieren Sie dabei gekonnt. Hier geht noch als stoffliches Recycling verkauft. Weil man aber Rücksicht auf die Großindustrie vor verbesserten Ge- die Abgase bei Zementöfen nicht so genau prüfen muss sundheitsschutz von Bürgerinnen und Bürgern. wie in der Müllverbrennungsanlage, merkt keiner, wel- che Schadstoffe aus dem Schornstein quellen. Statt die- Auch in puncto Feinstaub hätte man deutliche Fort- sen bekannten Missstand zu beseitigen, steckt diese Re- schritte erzielen können, wenn man nur gewollt hätte. gierung den Kopf in den Sand. Die Feinstaubbelastung in unseren Städten ist bei un-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24023

Dorothea Steiner (A) günstiger Witterungslage extrem hoch. Allein mit Maß- Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- (C) nahmen im Verkehrssektor, die wir dringend brauchen, fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- werden wir das Feinstaubproblem aber nicht ausrei- tion der SPD auf Drucksache 17/9555. Wer stimmt für chend in den Griff kriegen. Wir müssen auch die perma- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – nente Belastung durch Industrieemissionen verringern. Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Auch hier vergibt die Bundesregierung die Chance, die Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Schadstoffbelastung der Luft maßgeblich zu reduzieren, der Oppositionsfraktionen angenommen. mit allen daraus folgenden Risiken für die Gesundheit vieler Menschen. Ich rufe die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Genau das Gleiche bei den Stickoxiden. Auch hier sind Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei- die vorgeschlagenen Grenzwerte noch immer deutlich zu terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD hoch. Sie wollen weiterhin die Braunkohle bevorzugen, obwohl es keinen Anlass dazu gibt. Die verschiedenen Neue Impulse für die Förderung des Radver- Brennstoffe müssen bezüglich der Stickoxidemissionen kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs- endlich gleichgestellt werden. Wir brauchen sowohl für plan 2020 überarbeiten die Kohlekraftwerke als auch für die Abfallmitverbren- nung strengere Grenzwerte für Stickoxide, die eine sub- – Drucksache 17/11000 – stanzielle Verbesserung der Luftqualität zur Folge ha- Überweisungsvorschlag: ben. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss In Sachen Luftreinhaltung versagt Ihr Verordnungs- Ausschuss für Gesundheit entwurf auf ganzer Linie. Aber auch beim zweiten Teil Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus der Umsetzung der IED-Richtlinie, den wir hier in der Haushaltsausschuss nächsten Woche diskutieren werden, sieht es nicht bes- ser aus. Ich will den Details nicht vorgreifen, aber las- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- sen Sie mich eins doch sagen: Sie, Herr Altmaier, haben gierung sich auf die Energiewende verpflichtet, es ist Ihr großes Projekt. Wir alle wollen, dass die Energiewende klappt, Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad- und wir alle wissen, das der Schlüssel dazu Energieeffi- verkehr gemeinsam weiterentwickeln zienz ist. Die Umsetzung der IED-Richtlinie hätte die – Drucksache 17/10681 – Möglichkeit eröffnet, hier einen großen Schritt voranzu- (B) kommen. Die IED-Richtlinie erlaubt es den Mitglied- Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) staaten, Energieeffizienz als Grundpflicht der Betreiber Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Industrieanlagen festzulegen. Warum haben Sie die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Chance vergeben, hier klare Mindestwirkungsgrade für Ausschuss für Tourismus die Energienutzung bei Industrieanlagen festzulegen? Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto- Das hätte einen wirklichen Fortschritt bei der Energie- koll zu geben.1) – Sie sind damit einverstanden. effizienz im industriellen Bereich gebracht. Warum, frage ich Sie, vergeben Sie auch diese Möglichkeit, einen maß- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf geblichen Beitrag zur Energiewende zu leisten? den Drucksachen 17/11000 und 17/10681 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Mein Fazit kann nur heißen: Diese Verordnung ist – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei- kein Beitrag zu angemessenen Umweltstandards und sungen so beschlossen. kein Beitrag zum verbesserten Umweltschutz. Noch haben Sie die Chance, beim Gesetzentwurf in Sachen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Energieeffizienz nachzubessern. Bitte tun Sie dies, damit die Umsetzung der IED-Richtlinie nicht auch noch zu ei- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nem Reinfall für die Energiewende wird. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- rung eines Zulassungsverfahrens für Bewa- chungsunternehmen auf Seeschiffen Vizepräsidentin Petra Pau: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für – Drucksache 17/10960 – Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt Überweisungsvorschlag: unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Drucksache 17/11060, der Verordnung der Bundesregie- Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss rung auf Drucksache 17/10605 zuzustimmen. Wer Rechtsausschuss stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die die Reden zu Protokoll. Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung der SPD-Fraktion angenommen. 1) Anlage 7 24024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): dem auftretenden Phänomen der Schiffs- und Besat- (C) Lassen Sie mich zu Beginn auf die positive Entwick- zungsentführungen sowie der Lösegelderpressung wirk- lung der rückläufigen Piratenangriffe zu sprechen kom- sam entgegenzutreten. Der Aufbau staatlicher Strukturen men. Schon im Jahr 2011 ist die Zahl der Geiselnahmen als Voraussetzung zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in im Zusammenhang mit Angriffen durch Piraten weltweit Somalia und der damit verbundenen Eindämmung von von 1181 im Jahr 2010 auf 802 zurückgegangen. Das In- Hunger und Armut ist ebenfalls eine wesentliche Maß- ternational Maritime Bureau, IMB, verzeichnete bis nahme, der sich Deutschland verpflichtet fühlt. Die Bun- Ende Mai 2012 rund um das Horn von Afrika 60 Pira- desrepublik leistet hier einen wichtigen Beitrag: Deut- tenangriffe. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier erneut ein sche Soldaten, die Sie durch Ihre Verweigerung bei signifikanter Rückgang zu registrieren. Die Fachpresse Atalanta offenbar nicht weiter beteiligen wollen, partizi- und Experten begründen diese guten Nachrichten unter pieren beispielsweise auch an der EU-geführten Ausbil- anderem mit dem verbesserten Selbstschutz, wie etwa dungsmission Eutm Somalia. Bislang konnten dadurch der Einhaltung der Best-Management-Practices-Verhal- 1 800 Soldaten der somalischen Übergangsregierung in tensregeln der International Maritime Organization, Uganda ausgebildet werden. Bis Dezember dieses Jah- IMO, aber auch mit der effektiven Arbeit der internatio- res sollen es dann 3 000 somalische Soldaten sein. nalen Seestreitkräfte. Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweit Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, steigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventions- es sei an dieser Stelle erinnert, dass Sie vor einigen Mo- zentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Hol- naten in diesem Hohen Hause der deutschen Beteiligung stein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschen am Atalanta-Einsatz ihre Zustimmung versagt haben. Reedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeu- Für Ihr wahlkampfgeleitetes Taktieren setzen Sie die Si- gung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risiko- cherheit der Besatzungen auf deutschen und allen ande- analysen, der Darstellung technischer Präventionsmaß- ren Handelsschiffen aufs Spiel. Sie haben sich offenkun- nahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautische dig nicht nur von der Reformpolitik der Agenda 2010 Manöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsät- des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder ver- zen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden. abschiedet, sondern auch von Zeiten, als sich die SPD Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten, noch um die maritime Wirtschaft bemühte. Ihr nicht die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und die nachzuvollziehendes Abstimmungsverhalten offenbart Umsetzung der Best Management Practices zu gewähr- Ihr Desinteresse an der maritimen Branche. Der Gipfel leisten. Sie sehen, die unionsgeführten Bundesregierun- dieser beschämenden Gleichgültigkeit ist die Charte- gen haben in vielfältiger Weise zu Verbesserungen der rung des unter portugiesischer Flagge fahrenden Kreuz- Gefahrenabwehr auf Handelsschiffen beigetragen. (B) fahrtschiffes MS Princess Daphne durch eine Beteili- (D) Doch lassen Sie mich zum vorliegenden Gesetzent- gungsgesellschaft der SPD. Zulasten der deutschen wurf der Regierungskoalition kommen, die im Gegen- Flagge will sich Ihre Parteiführung im Willy-Brandt- satz zu Ihnen, geschätzte Mitglieder der Opposition, mit Haus die Wahlkampfkasse aufbessern, weil im Madeira- sachlicher Arbeit und im Dialog mit den Betroffenen Lö- Register die arbeits- und sozialrechtlichen Standards sungsvorschläge zur Abwehr von Piraterie vorlegt. Ich weitaus geringer sind als in Deutschland. Ihr Antrag möchte die Gelegenheit daher nutzen, mich bei den be- „Maritimes Bündnis fortentwickeln – Schifffahrtsstand- teiligten Ressorts, dem Bundeswirtschaftsministerium ort“, dessen Forderungen nach einer Stärkung des ma- und dem Bundesministerium des Innern, zu bedanken, ritimen Standortes Deutschland und der Verbesserung dass es ihnen gelungen ist, trotz der schwierigen recht- der Situation von nautischem und technischem Perso- lichen und inhaltlich komplexen Problematik bei der Zu- nals wir hier schon diskutieren durften, ist in diesem Zu- lassung von privaten Sicherheitsunternehmen einen un- sammenhang nicht nur fragwürdig, sondern beschä- bürokratischen und für alle akzeptablen Gesetzentwurf mend. Bevor Sie die Bundesregierung mit Forderungen vorzulegen. Da uns bewusst war, dass die Anwesenheit konfrontieren, sollten Sie in Ihren Reihen zunächst ein- von privaten Sicherheitsunternehmen an Bord von Schif- mal wieder ein Bewusstsein für maritime Fragen entwi- fen bereits Realität ist und auch ein hohes Maß an Si- ckeln. cherheit gewährleistet, bestand die Herausforderung Abgesehen davon, dass Sie mit Ihren aktuellen Forde- nun darin, allen Beteiligten Rechtssicherheit zu ver- rungen nach Transparenz in Fragen von Nebeneinkünf- schaffen. ten der Bundestagsabgeordneten und der Parteienfinan- zierung an dieser Stelle hier Ihr wahres Gesicht Um es noch einmal festzuhalten: Bisher ist der Ein- offenbaren, verprellen Sie die Besatzungen auf den satz privater Sicherheitsunternehmen nicht verboten, Schiffen unter deutscher Flagge. Glaubwürdigkeit in sondern bislang nur nicht geregelt, da wir es hier mit ei- wichtigen Fragen der maritimen Politik sieht anders ner Sondersituation zu tun haben, deren Ausmaß und aus. Konsequenzen erst in den letzten Jahren deutlich wur- den. Der Einsatz von Bewachungsunternehmen auf ho- Die Union hat in dieser Bundesregierung, aber auch her See stellt aus sicherheitstechnischer Perspektive unter der großen Koalition bereits seit 2008 unter- eine Sondersituation dar, zumal, anders als auf dem schiedliche Maßnahmen ergriffen, etwa durch die Betei- Festland, keine hoheitlichen Kräfte angefordert werden ligung der Bundeswehr im Zuge internationaler Ein- können. Insofern müssen die privaten Sicherheitsunter- sätze, um die humanitären Hilfslieferungen für das nehmen höchsten Anforderungen entsprechen. Das Er- afrikanische Krisengebiet zu sichern und um natürlich fordernis von Bewachungsunternehmen wird schnell

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24025

Eckhardt Rehberg (A) sichtbar, denn der Erfolg gibt ihnen Recht: Sofern Bewa- werden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, der (C) chungsunternehmen an Bord von Handelsschiffen wa- besonderen Situation auf den Schiffen angepasste Quali- ren, ließen die Piraten von ihrem geplanten Angriff ab fikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Si- oder die Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt wer- cherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss ne- den. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten in ben den sicherheitstechnischen Anforderungen auch enger Abstimmung mit Verbänden und Koalitionsabge- über maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungen ordneten nun ein Ergebnis präsentiert, das dem An- werden auf hoher See erbracht und bedürfen einer ge- spruch Rechnung trägt, diese Maßnahmen auf ein wissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord eines rechtssicheres Fundament zu stellen. Schiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deut- lich, dem die Bundesregierung nachkommt und sich da- Der Gesetzentwurf wurde mit den Betroffenen disku- bei an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO orien- tiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pirate- tiert. Die Bundesregierung richtet sich dabei auch nach riebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung dar. europäischen Nachbarn, die ebenso Bewachungsunter- Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen der nehmen zertifizieren. Mit der Orientierung an europäi- Branche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigen schen Standards bilden wir vergleichbare und rechtlich auch die Würdigung der deutschen Reeder, die neben verbindliche Normen für internationale Bewachungs- anderen Interessenvertretungen und den Bundesländern unternehmen, die zügig zugelassen werden können. Für im Diskussionsprozess eingebunden waren und auch unsere Seeleute und die deutschen Reeder wird eine not- weiterhin sind. wendige Rahmenbedingung für zusätzliche Sicherheit an Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die He- Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewachungsunterneh- rausforderung zu meistern, der Besatzung den nötigen men über das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- Schutz vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei kontrolle mit Unterstützung der Bundespolizei erfolgen aber die Gefahr zu minimieren, dass Menschen zu Scha- zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfrak- den kommen. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht tion richtig. ausschließlich durch die EU-geführte Atalanta-Mission Die ebenfalls notwendig gewordene Änderung des erfüllt werden. In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist Waffenrechts sowie deren über die Bundesländer zu als Deutschland, ist die Bedrohung für die Schiffsbesat- erfolgende Bearbeitung ist mit dem vorliegenden Ge- zung und den freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es setzentwurf ebenfalls unbürokratisch gelöst: Dank der sei an dieser Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des inter- erfolgreichen Abstimmung zwischen Bund und betroffe- nationalen Warenverkehrs und 90 Prozent der europäi- nen Ländern ist es gelungen, die Erlaubniserteilung schen Güterexporte an Drittstaaten über den Seeweg er- hinsichtlich des Waffenrechts über die Freie und Hanse- folgen. Nach den Krisenjahren 2008 und 2009 hat sich (B) stadt Hamburg abzuwickeln. Den Bewachungsunter- (D) der Welthandel und damit auch die maritime Wirtschaft nehmen wird damit ein föderales und behördliches erholen können. Das führt nun erfreulicherweise dazu, Durcheinander erspart. dass der internationale Seeverkehr seinen Wachstums- prozess fortsetzt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ei- Abschließend möchte ich auf die Notwendigkeit hin- nes Piratenüberfalls unter 1 Prozent liegt und wir 2011 weisen, dass die hierzu parallel ebenfalls erforderliche einen Rückgang von Angriffen durch Piraten verzeich- Rechtsverordnung sobald wie möglich beschlossen wird. nen dürfen, ist der Anlass zur Sorge nach wie vor gege- Diese soll die verschiedenen Verpflichtungen für die Be- ben. Ein wachsender Schiffsverkehr bedeutet einerseits wachungsunternehmen enthalten, etwa das Führen eines wirtschaftlich positive Effekte, allerdings auch zusätz- Prozesshandbuches, das Verfahrensabläufe zur Planung liche Angriffsmöglichkeiten für die Piraten. Insbeson- und Durchführung von Einsätzen auf See beschreibt und dere vor den Küsten Somalias, an denen 236 der 439 Atta- dokumentiert. cken im Jahr 2011 erfasst wurden, muss also weiter aktiv die Pirateriebekämpfung verfolgt werden. Auch wenn Die Koalition unterstreicht erneut, dass sie verläss- die Erfolgsquote der Piraten in den letzten zwei Jahren, licher Partner der maritimen Wirtschaft ist und es auch insgesamt betrachtet, erheblich gesunken ist, besteht bleiben wird. Die Opposition kann im Gesetzgebungs- also kein Grund zum Aufatmen. verfahren beweisen, ob sie der Branche mit über 400 000 Mitarbeitern in Deutschland ähnlich treu zur Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zu Seite steht. einer Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt. Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs be- reits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen inter- Ingo Egloff (SPD): national agierende Bewachungsunternehmen ein, um in Der Gesetzentwurf nimmt die Forderungen aus unse- risikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruch rem Antrag vom April im Wesentlichen auf und geht ins- zu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungs- gesamt in die richtige Richtung. Unsere Forderung, die unternehmen eingesetzt werden, die über die nötige Befugnisse privater Sicherheitsdienste beim Einsatz ge- Professionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Er- gen Piratenangriffe an Bord von Handelsschiffen unter fahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechts- deutscher Flagge gesetzlich zu regeln und die Bestim- sicherheit geboten werden. Dieser Forderung der Ree- mungen der Gewerbeordnung in Bezug auf einen inter- der wird die Bundesregierung nachkommen, indem von nationalen Einsatz privater Sicherheitsdienste anzupas- den Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern sen, ist ebenso berücksichtigt wie die grundsätzliche eindeutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordert Vorgabe, dass die Zertifizierung nach den vorläufigen

Zu Protokoll gegebene Reden 24026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Ingo Egloff (A) Leitlinien für Schiffseigner, Schiffsbetreiber und Schiffs- nur Regelungen treffen, die sich auf Schiffe unter deut- (C) führer der International Maritime Organization, IMO, scher Flagge beziehen. Es wird im Interesse auch der erfolgen soll, damit nur zuverlässige und ausreichend Reeder sein, durch ein gesetzlich und durch Rechtsver- geschulte Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen dürfen. ordnung eindeutig geregeltes Zulassungsverfahren nicht Mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaft nur Sicherheit an Bord, sondern auch Rechtssicherheit und Ausfuhrkontrolle, BAFA, und der Unterstützung zu gewinnen. durch die Bundespolizei wird die Zulassung auf eine so- lide Basis gestellt. Manfred Todtenhausen (FDP): Der Einsatz hoheitlicher Sicherheitskräfte auf und Über 90 Prozent des Welthandels und fast 95 Prozent zum Schutz von Handelsschiffen soll auch in Zukunft des Außenhandels der Europäischen Union werden über nicht der Regelfall werden. Wir fordern aber, dass eine den Seeweg abgewickelt. Die Bundesrepublik Deutsch- unmittelbare Zuständigkeit des Bundeskriminalamts und land, als weltweit zweitgrößte Handelsnation, nutzt für die Einführung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur opti- nahezu 70 Prozent des Im- und Exports maritime Trans- malen Durchführung von Ermittlungsverfahren geprüft portwege. Rund 45 000 Handelsschiffe sind derzeit auf werden. internationalen Gewässern unterwegs und transportie- Zu klären bleibt die Ausgestaltung des Zulassungs- ren mehr als 7 Milliarden Tonnen Güter pro Jahr – mit verfahrens, zu der die konkrete Formulierung der steigender Tendenz. Die Ozeane sind die mit Abstand Rechtsverordnung von der Bundesregierung noch vorge- wichtigsten Verbindungswege unserer zunehmend glo- legt werden muss. Dies muss rasch geschehen: Zwar balisierten Welt. orientieren sich heute bereits die meisten Sicherheits- Doch nicht nur die Industrienationen rund um den dienste und Reeder an den Leitlinien der IMO, aber bis Globus haben die Bedeutung maritimer Handelswege für Handelsschiffe unter deutscher Flagge nach diesem erkannt, sondern auch Piraten. Wie schon in der Antike Gesetzentwurf verbindliche Regeln vorliegen und der wissen diese auch heute um den Gegenwert der wertvol- Einsatz von Bewachungsunternehmen beginnt, die eine len Fracht und die hohe Bedeutung eines möglichst un- Zertifizierung durch die BAFA vorweisen können, wird gehinderten Welthandels. Piraterie ist selbstverständ- wohl mindestens ein weiteres Jahr verstreichen. lich kein neues Phänomen; sie hat aber in Bezug auf ihr Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt die von uns be- Ausmaß eine neue Dimension erreicht. Allein im Jahr reits im April geforderte Festschreibung, dass die Kom- 2011 ereigneten sich weltweit 439 derartige Attacken, mandokette an Bord beim Einsatz privater Sicherheits- mehr als die Hälfte davon am Horn von Afrika. Insbe- kräfte auf der Grundlage der im Seemannsgesetz sondere aufstrebenden und entwickelten Volkswirtschaf- (B) geregelten Stellung des Kapitäns, der Rechtsverhält- ten entstehen durch die weltweit stark gestiegene Zahl (D) nisse der Besatzung und der sonstigen im Rahmen des von Übergriffen erhebliche wirtschaftliche Schäden. Schiffsbetriebs an Bord tätigen Personen vertraglich Aber auch die erhebliche Bedrohung für Leib und Leben klar definiert und sichergestellt wird. Mit anderen Wor- der Seeleute zeigt deutlich, dass die Bekämpfung der Pi- ten: Es muss klar sein, dass Sicherheitskräfte erst auf raterie eine wichtige Aufgabe ist. Dafür müssen zweck- Anweisung des Kapitäns tätig werden dürfen. Bei den mäßige und effiziente Maßnahmen ergriffen werden. Verhaltensregeln für das Sicherheitspersonal muss Erfreulicherweise ging die Anzahl der Überfälle in dabei insbesondere berücksichtigt werden, dass Schiffs- diesem Jahr bisher um rund ein Drittel zurück. Die Ur- führung und Sicherheitskräfte durchaus unterschiedli- sache ist aber nicht etwa das nachlassende Interesse am che Ansichten haben können, ob Maßnahmen notwendig Kapern von Schiffen. Vielmehr zeigen die bisher ergrif- sind oder nicht. fenen Maßnahmen erste Wirkungen. Neben der starken Wir begrüßen, dass durch die Einführung des Zulas- internationalen Militärpräsenz in den besonders betrof- sungserfordernisses den Reedern vorgeschrieben wird, fenen Seegebieten – die Deutsche Marine ist bekannter- nur durch die BAFA zertifizierte Bewachungsunterneh- maßen auch erfolgreich in die EU-geführte Operation men einzusetzen. Im Zuge der für diese Vorschrift benö- Atalanta eingebunden – heuern Reeder zunehmend be- tigten Änderung der See-Eigensicherungsverordnung waffnetes Sicherheitspersonal für ihre Schiffe an. Ge- muss darüber hinaus aber auch sichergestellt werden, rade diese Maßnahme hat sich offenbar als besonders dass die umfassenden Informationsrechte der zuständi- wirksam erwiesen. Allein die abschreckende Wirkung gen Bundesbehörden und beauftragten Stellen auch bewaffneter Sicherheitskräfte und der einsetzende Wi- beim Einsatz privater Sicherheitskräfte gewahrt bleiben derstand haben dazu geführt, dass bisher keines der so und sie von diesen auf Verlangen alle notwendigen Aus- gesicherten Schiffe entführt wurde. künfte und erforderlichen Unterlagen erhalten. Diese Form der Selbsthilfe der Reeder zeigt aber Über die jetzt vorgelegten gesetzlichen Regelungen auch den Handlungsbedarf des Gesetzgebers. Den Be- hinaus bleibt die Bundesregierung aufgefordert, ge- fürchtungen der Branche, durch unangemessenes Han- meinsam mit den Partnern des Maritimen Bündnisses deln des angeworbenen Personals eine unkalkulierbare gegenüber den deutschen Reedereien für eine Rückflag- Eskalation in Konfliktsituationen hervorzurufen, ist ent- gung des Schiffsbestandes unter deutsche Flagge einzu- sprechend zu begegnen. Reedereien brauchen in dieser treten. Dies ist nicht nur Bestandteil der Vereinbarungen Frage Rechtssicherheit und müssen auf die Entschei- im Rahmen der Nationalen Maritimen Konferenzen. Der dungen und Fähigkeiten des von ihnen beauftragten Si- Gesetzgeber kann nach dem Prinzip der Flaggenhoheit cherheitspersonals vertrauen können.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24027

Manfred Todtenhausen (A) Die Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurf tet und für die Abwehr schwerster Verbrechen zuständig (C) vorgelegt, der erstmals ein transparentes und für die sein. Andererseits dürfen sie nur im Rahmen der Jeder- Wirtschaft möglichst unbürokratisches Zulassungsver- mannsrechte wie Notwehr, Notstand und Selbsthilfe han- fahren für private bewaffnete Sicherheitsdienste auf deln. Es ist äußerst fraglich, inwieweit Privatfirmen ein deutschen Schiffen etabliert. Das Verfahren orientiert angemessenes Handeln gewährleisten können und wie sich eng an den Leitlinien der Internationalen Schiff- Vorfällen mit Schusswaffeneinsatz rechtlich aufzuarbei- fahrtsorganisation, IMO. Ziel ist es, dass nur zuverläs- ten sein sollen. Was passiert mit Gefangenen? Haben sige, besonnene und fachkundige Sicherheitskräfte auf Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen die entsprechende deutschen Handelsschiffen zum Einsatz kommen. Zu- Ausbildung und rechtliche Befähigung? Mit dem im Ge- sätzlich sollen aber auch die Bewachungsunternehmen setz vorgeschriebenen Zulassungsprozedere für geeig- hohen Qualitätsstandards und Überwachungsmechanis- nete Mitarbeiter und der Berichtspflicht bei Einsätzen men unterliegen. Zukünftig wird das Bundesamt für ist eine Angemessenheit im Handeln wohl kaum abzusi- Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, als zuständige chern. Behörde zentral für die Zulassung und Überwachung von Sicherheitsunternehmen und deren Personal zustän- Die Bundesregierung gibt an, dass weltweit 160 bis dig sein. Es wird diese Aufgabe in enger Kooperation 180 Unternehmen diese spezielle Art maritimer Sicher- mit der Bundespolizei erfüllen. Ergänzend wird das heitsdienstleistungen anbieten, zehn von ihnen kommen Land Hamburg als zentrale Waffenbehörde einheitlich aus Deutschland. Einige internationale Sicherheits- und transparent die Erteilung und Verwaltung der erfor- firmen waren in den letzten Jahren in den Schlagzeilen, derlichen Waffenberechtigungen vornehmen. Damit weil sie in Gebieten mit kriegerischen Auseinanderset- bleibt das hohe Schutzniveau des Waffenrechts auch bei zungen wie im Irak völlig unverhältnismäßige Gewalt- diesem speziellen Anwendungsfall erhalten. anwendungen zu verantworten hatten. Will die Bundes- Auf Schiffen unter deutscher Flagge ist immer auch regierung sehenden Auges solche Situationen deutsches Recht anzuwenden. Die vorgesehenen Regeln heraufbeschwören? In der Antwort auf die Kleine An- gelten deshalb selbstverständlich auch für im Ausland frage der Grünen zum Zulassungsverfahren für Bewa- niedergelassene Bewachungsunternehmen, sobald sie chungsunternehmen auf Seeschiffen muss die Bundesre- entsprechende Aufträge auf deutschen Schiffen überneh- gierung selbst eingestehen, dass eine Vor-Ort-Kontrolle men. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in von ausländischen Bewachungsunternehmen nicht mög- Deutschland und auch im internationalen Vergleich lich ist. BAFA und Bundespolizei könnten nur die Plau- neue Wege. Unsere einheitlichen und qualitätsorientier- sibilität der zur Zertifizierung eingereichten Dokumente ten Sicherheitsstandards könnten zu einem neuen Güte- überprüfen. Mit solcherlei Zulassungsverfahren will (B) siegel werden, das letztlich auch die deutsche Flagge in man also Unternehmen legitimieren, Aufgaben aus dem (D) der internationalen Handelsschifffahrt stärkt. engsten Kreis hoheitlichen Handelns zu übernehmen? Ein unglaublicher Vorgang! An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, dem Bundeswirtschaftsministerium und insbesondere dem Interessant ist auch der Zeitpunkt, zu dem das Gesetzt Parlamentarischen Staatssekretär und maritimen Koor- verabschiedet werden soll. Laut dem letzten „Piraterie- dinator, Hans-Joachim Otto, zu danken, der mit persön- bericht der Bundespolizei See“ sind die Piraterieaktivi- lichem Einsatz und dem notwendigen Fingerspitzenge- täten am Horn von Afrika um 67 Prozent und weltweit fühl bei sensiblen Fragen Geschick und Kompetenz um 33 Prozent zurückgegangen. Dies ist auf ein Bündel bewiesen hat. von Maßnahmen zurückzuführen, insbesondere auf die Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurf militärisch geschützten Konvoifahrten, die Sicher- zu unterstützen. Lassen Sie uns gemeinsam die Voraus- heitsteams auf Schiffen, die Verfolgung der Geldwäsche setzungen dafür schaffen, dass unsere Schiffe die Welt- von Lösegeldern und auf die Stärkung der somalischen meere ein Stück sicherer passieren können. Zentralgewalt. Man könnte meinen, der Gesetzentwurf aus dem Hause von Minister Rösler soll in letzter „Über den Wind können wir nicht bestimmen, aber Sekunde der Sicherheitsbranche Zugänge zu neuen wir können die Segel richten.“ Märkten eröffnen, genau in dem Moment, wo das Pro- blem seine hohe politische Relevanz verliert. Frank Tempel (DIE LINKE): Die Tatsache, dass noch niemals Schiffe unter deut- Es liegen sinnvolle Vorschläge auf dem Tisch, wie die scher Flagge gekapert worden sind, auf denen sich be- zivile Seefahrt geschützt werden könnte. Der Verband waffnetes Sicherheitspersonal befand, führt nicht Deutscher Reeder fordert hoheitliche Kräfte, konkret die zwangsläufig zu dem Ergebnis, die Sicherheit der Bundespolizei, und kann sich sogar eine Seesicherheits- Seeschiffe privaten Bewachungsunternehmen anzuver- gebühr vorstellen, um die Reedereien an den Kosten zu trauen. Der Schutz vor Kriminalität – also auch vor Pi- beteiligen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Poli- raterie – ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Ge- zei schlägt die Umschulung von Bundeswehrsoldaten rade wenn es sich um schwerste Straftaten wie vor, die durch die Bundeswehrreform freigesetzt werden. Entführung und Erpressung handelt, ist die Abgabe des Über die Eingliederung in eine zu schaffende Struktur hoheitlichen Handelns an private Sicherheitsdienste äu- der Bundespolizei und nach gründlicher rechtlicher und ßerst bedenklich und wird von der Linken strikt abge- fachlicher Ausbildung könnte dann ein Einsatz auf See- lehnt. Die Sicherheitsfirmen sollen militärisch ausgerüs- schiffen erfolgen.

Zu Protokoll gegebene Reden 24028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So antworten Sie auf die Frage, ob für eine Zulassung (C) Die Bundesregierung hat zu Recht erkannt, dass zur Kenntnisse des Sicherheitspersonals zu Menschenrech- Regulierung des Tätigkeitsfeldes privater bewaffneter ten nachzuweisen sind, dass das Sicherheitspersonal die Sicherheitsunternehmen die geltenden Anforderungen Menschenrechte einhalten müsse. der Gewerbeordnung nicht mehr ausreichen. Sie lassen uns im Unklaren, wie Sie bei Ihrem unter- Lassen Sie mich noch einmal aus führen, welche An- nehmensbezogenen Ansatz sicherstellen wollen, dass forderungen dies zur Zeit sind: Wer ein Sicherheits- das von den Unternehmen eingesetzte Bewachungsper- gewerbe eröffnen will, muss nachweisen, dass er zuver- sonal über die erforderlichen Fähigkeiten und Kennt- lässig ist und über die notwendigen Mittel verfügt. nisse verfügt. Die Kriterien der International Maritime Zusätzlich muss er sich von einer Industrie- und Han- Organization, IMO, sind zwar eine gute Grundlage. delskammer 80 Stunden unterrichten lassen, welche Aber durch welche konkreten Unterlagen sollen sie be- rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Vorschriften legt werden? Die Frage stellt sich vor allem bei auslän- für ein solches Gewerbe zu beachten sind. Ob er das al- dischen Unternehmen und vor allem vor dem Hinter- les versteht, ist dabei unerheblich. Eine Prüfung ist nicht grund, dass Sie nicht beabsichtigen, Vor-Ort-Kontrollen vorgesehen. Bei seinen Angestellten ist dann diese Un- durchführen zu lassen. So laufen Sie Gefahr, dass Ihr Zu- terrichtung auf 40 Stunden verkürzt. Auch bei ihnen ist lassungsverfahren zu einem zahnlosen Papiertiger wird. keine Prüfung vorgesehen. Dies sind äußerst niedrige Sie wissen ja, Papier ist geduldig. Oder wollen Sie nur Schwellen. die deutschen Sicherheitsunternehmen kontrollieren? Als Ergebnis würde dieses Arbeitsfeld wohl auslän- Seit Ende des Ost-West-Konflikts hat es im Sicher- dischen Sicherheitsunternehmen überlassen bleiben, die heitsbereich eine ungeahnte Privatisierungswelle gege- sich effektiver Kontrolle entziehen. ben. Die Anzahl von privaten Sicherheitsunternehmen hat sich seit 1994 in Deutschland mehr als verdoppelt. Mir ist daher nicht klar, warum Sie sich bei all unse- In demselben Maße ist der Umsatz der Branche gewach- ren Nachfragen immer wieder weigern, klare Zulas- sen. sungskriterien auf europäischer Ebene zu entwickeln. Dann hätten wir wenigstens auf dem europäischen Wir Bündnisgrüne setzen uns seit Jahren dafür ein, Markt klare Regelungen. Ich möchte an dieser Stelle dass diese Schwellen erhöht werden, um gerade bei den auch auf den International Code of Conduct for Private Sicherheitsunternehmen, deren Angestellte auch Waffen Security Service Providers, ICoC, hinweisen. Auch wenn tragen, stärker als bisher Zuverlässigkeit und Geeignet- sich bei dieser Selbstverpflichtung die Frage stellt, wie heit sowohl der Unternehmensführung als auch der An- ihre Einhaltung überprüft werden kann; sie zeigt jedoch, (B) gestellten sicherzustellen. Hier gibt es schon gute Vor- dass sich die dazugehörigen Unternehmen zumindest (D) schläge der Länder. Das ist ein Ziel, das sowohl im mit wichtigen menschen- und völkerrechtlichen Aspek- Interesse der Öffentlichkeit als auch im Interesse der ten ihrer Arbeit auseinandergesetzt haben. Auftraggeber und der Branche selbst liegt. Und die Län- Wir hoffen, dass Sie uns in den anstehenden Aus- der haben in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf schussberatungen mehr Details zum geplanten Zulas- zu Recht darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht auch sungsverfahren geben werden. klarere gesetzliche Regelungen für deutsches Sicher- heitspersonal auf ausländisch geflaggten Schiffen not- Aber nun zu dem, was man Ihrem Gesetzentwurf be- wendig sind. reits entnehmen kann. Es beruhigt mich, dass Sie immer wieder klarstellen, dass es keine Aufweichung des Waf- Ich finde es daher befremdlich, dass Sie sich gewei- fenrechts geben wird. Weiterhin begrüßen wir, dass Sie gert haben, heute auch über den Antrag meiner Fraktion in dem Gesetzentwurf deutlich machen, dass die zum selben Thema zu debattieren. Ich weiß ja, dass der Bordrechte des Kapitäns unangetastet bleiben. Eine Antrag gut ist – dass er aber so gut ist, dass es Ihnen of- wichtige Klarstellung ist auch, dass die bewaffneten Si- fensichtlich peinlich ist, ihn neben Ihrem Gesetzentwurf cherheitskräfte an Bord bei der Abwehr von Piraten auf aufzusetzen, überrascht mich dann doch. die Jedermannsrechte wie Notwehr, Notstand und Sie begnügen sich in Ihrem Gesetzentwurf damit, ei- Selbsthilfe beschränkt sind. Ich wüsste allerdings gern, nen kleinen Tätigkeitsbereich privater Sicherheitsunter- wie Sie sicherstellen wollen, dass ausländische Sicher- nehmen strenger zu regulieren. Hier sind wir ja im heitskräfte darüber informiert sind, was in Deutschland Grundsatz bei Ihnen, auch wenn der von Ihnen verwen- unter „Jedermannsrechte“ fällt. dete Begriff der Bewachungsunternehmen gegenüber Etliche Fragen bleiben auch weiter noch offen: Wie dem, was diese bewaffneten Sicherheitsteams bei Pira- werden die Waffen des Sicherheitspersonals an Bord tenangriffen an Bord leisten müssen, äußerst vernied- verwahrt? Wie wird verhindert, dass sich das Sicher- lichend ist. Auch wird erst die Rechtsverordnung zum heitspersonal schwere Waffen aus schwimmenden Waf- Gesetz zeigen, wie ernst Sie es mit der Regulierung tat- fendepots besorgt? sächlich meinen. Und da ist es für uns sehr unverständ- lich, dass Sie sich bisher weigern, uns Einzelheiten über Wichtig ist uns auch, dass die Dokumentationspflich- die von Ihnen geplanten Zulassungserfordernisse mitzu- ten ausreichend ausgestaltet werden. Es muss möglich teilen. Die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zum sein, Zwischenfälle hinreichend nachzuverfolgen. Hier Thema grenzen schon hart an eine Missachtung des par- sollte uns der Fall der in Indien verhafteten italieni- lamentarischen Fragerechts. schen Soldaten zu denken geben, die beim Schutz eines

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24029

Katja Keul (A) italienischen Frachters indische Fischer, die sie für Pi- breiten Öffentlichkeit Themen von allgemeinem Inte- (C) raten hielten, erschossen. Ein Austausch dieser Doku- resse vorgestellt. mentationen könnte zudem im Rahmen der International Maritime Organization wichtige Erkenntnisse im Kampf Vor einigen Wochen haben wir an gleicher Stelle den gegen die Piraterie liefern. Jahresbericht 2011 des Petitionsausschusses des Deut- schen Bundestages debattiert. Die Diskussionen der Wir unterstützen jeden Schritt, der dazu führt, dass Abgeordneten belegten eindrucksvoll: Die Bürgerinnen klarere Regeln für die deutsche Sicherheitswirtschaft, und Bürger haben Vertrauen in unsere Arbeit, und ihrem sensiblen Tätigkeitsfeld entsprechend aufgestellt obwohl es eine Vielzahl von Beauftragten in den ver- werden. Wir hoffen, dass die anstehende Rechtsverord- schiedensten Ministerien, Behörden oder Institutionen nung, die die Zulassungskriterien für Bewachungsunter- gibt, ist die Zahl der Petitionen mit 15 000 bis 18 000 in nehmen auf Seeschiffen regeln soll, in diese Richtung den letzten Jahren nahezu gleich geblieben. Im vergan- weist. Wir appellieren aber an Sie, liebe Kolleginnen genen Jahr haben den Deutschen Bundestag 15 191 Ein- und Kollegen der Koalition: Bleiben Sie nicht dabei ste- gaben und Petitionen erreicht, das heißt täglich etwa hen! Nehmen Sie unsere Vorschläge auf! Sorgen Sie für 60 Petitionen als Neueingang. Nimmt man die Massen- mehr Qualität im Sicherheitsgewerbe, indem Sie in der petitionen aus dem im Internetportal veröffentlichten Gewerbeordnung sicherstellen, dass es nicht dem Zufall Petitionen hinzu, so haben sich etwa 500 000 Bürgerin- überlassen bleibt, ob im Sicherheitsgewerbe Zuverläs- nen und Bürger am Petitionswesen im Jahr 2011 betei- sigkeit und Geeignetheit die grundlegenden Maßstäbe ligt. Die Zahlen belegen eindrucksvoll, dass sich das darstellen! Die Vorlage dieses Gesetzentwurfs ist das Petitionsverfahren bewährt hat. Dort, wo die Abgeord- Eingeständnis einer Regelungslücke, die lange geleug- neten Handlungsbedarf sahen, wurde eine Neufassung net wurde. Zur Schließung dieser Regelungslücke bedarf unserer Verfahrensgrundsätze vorgenommen und von ei- es allerdings erheblich mehr, als der heute vorliegende ner breiten Mehrheit im Ausschuss geteilt. Entwurf leistet. Die These der Fraktion Die Linke, dass die Petitionen nicht immer die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen Vizepräsidentin Petra Pau: erreichen, teilen wir nicht. Die Massenpetitionen, die Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- von allgemeinem öffentlichen Interesse sind und im wurfs auf Drucksache 17/10960 an die in der Tagesord- Internetportal des Deutschen Bundestages eine breite nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Unterstützung erfahren, werden in aller Regel auch in dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge Dann ist so beschlossen. begleitet. Die Möglichkeit zur Überweisung in den je- weiligen Fachausschuss gibt uns § 109 der Geschäfts- (B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: (D) ordnung des Deutschen Bundestages. Danach holt der Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Petitionsausschuss eine Stellungnahme der Fachaus- Remmers, Kersten Steinke, Dr. Kirsten schüsse ein, wenn die Petitionen einen Gegenstand der Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Beratung in diesen Fachausschüssen betreffen. Die tion DIE LINKE Empfehlungen der Fachausschüsse fließen dann in die Bürgerbeteiligung stärken – Petitionsrecht Bearbeitung der Petitionen mit ein und helfen uns bei ausbauen den entsprechenden Votierungen. – Drucksache 17/10682 – Das Argument der Fraktion Die Linke in ihrem An- trag, der Grad des öffentlichen Interesses an einem Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Thema kann leicht über die Zahl der Mitzeichnenden ge- Geschäftsordnung (f) messen werden, lehnen wir ab. Bei der hier geführten Rechtsausschuss Diskussion darf der Einzelfall des „kleinen“ Bürgers Petitionsausschuss ohne Unterstützung aus dem Internet nicht ins Hinter- Innenausschuss treffen geraten. Die Mehrzahl der Petitionen eignen sich Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir eben nicht für eine breite öffentliche Diskussion im die Reden zu Protokoll. Internet. Das Grundgesetz mit seinem Grundrecht in Art. 17 verpflichtet uns Mitglieder des Petitionsaus- Günter Baumann (CDU/CSU): schusses, das Anliegen des Einzelnen besonders im Auge zu behalten. Schon jetzt beobachten wir eine zuneh- Das Petitionsrecht hat sich in unserem Land bewährt mende Instrumentalisierung der öffentlichen Petitionen und hilft, Politikverdrossenheit abzubauen. Wir verste- durch Verbände und Lobbyisten. Schon jetzt bietet das hen uns als Anlaufpunkt für viele Bürgerinnen und Bür- Instrument der öffentlichen Petitionen hier den Verbän- ger, die Sorgen und Nöte haben und für die Lösung ihres den ein Podium, der Diskussion politischen Nachdruck Problems Hilfe benötigen. zu verleihen. Dem Ansinnen der Fraktion Die Linke, Die Arbeit des Petitionsausschusses ist gerade im diese Entwicklung noch auszubauen, würde dem Anlie- Hinblick auf die Fortentwicklung im Bereich der öffent- gen des einzelnen Petenten und seinem Grundrecht in lichen Petitionen seit dem Jahr 2005 eine Erfolgs- Art. 17 GG widersprechen. Die Behandlung einer Peti- geschichte. Inzwischen werden monatlich zwischen tion im nichtöffentlichen Petitionsverfahren ist keine 30 und 80 neue Petitionen im Internetportal eingestellt. zweitrangige Bearbeitung. Für mich ist jede Petition, Durch die Veröffentlichung im Internet werden einer jedes Anliegen gleichwertig, und ich möchte bei meiner 24030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Günter Baumann (A) Petitionsbearbeitung keinerlei Unterscheidung zwi- Gerade kehren wir von einer Delegationsreise des (C) schen öffentlicher und nichtöffentlicher Petition ma- Petitionsausschusses aus der Türkei zurück. Auch dort chen. Auch würde eine noch stärkere Bedeutung von zeigte man ein großes Interesse am deutschen Petitions- Quoren aus meiner Sicht das Individualgrundrecht aus system. Ich bin mir sicher, dass auch unsere türkischen dem Grundgesetz noch weiter in den Hintergrund drän- Kollegen zahlreiche Anregungen aus unserem Erfah- gen. Wir als Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion mes- rungsaustausch annehmen und das türkische Petitions- sen auch den Wert einer Petition nicht nach der Anzahl recht weiter verbessern werden. der Unterstützer. Beim Austausch mit unseren internationalen Kolle- Zusammenfassend möchte ich klarstellen: Der Peti- gen, sei es nun im Rahmen der europäischen oder welt- tionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich mit den weiten Ombudsmannkonferenzen, stelle ich immer wie- Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfäl- der fest, dass unser deutsches Petitionssystem für viele len zu beschäftigen und leistet hier eine hervorragende Parlamente dieser Welt Vorbildcharakter besitzt. Das Arbeit. Für diese Arbeit haben wir gute Instrumente mit bestehende Petitionsrecht hat sich in Deutschland be- dem Grundgesetz und unseren Verfahrensregeln. Unser währt. System der Bürgerbeteiligung wird in vielen Ländern Dies hat sich auch bei der Neufassung der Verfah- anerkannt, und bei Auslandsreisen hören wir immer wie- rensgrundsätze des Petitionsausschusses im vergange- der hohe Wertschätzung über unser Petitionswesen. Ich erkenne keinen Grund, unser bewährtes System zu ver- nen November gezeigt, die von einer breiten Mehrheit getragen worden ist. ändern oder ein Petitionsgesetz neu zu schaffen. Des- halb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab. Die Darstellung unseres Petitionssystems im Antrag der Linken ist realitätsfern. So heißt es in der Begrün- Gero Storjohann (CDU/CSU): dung des Antrages, die Petitionsanliegen erreichten nicht die zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpoli- Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein tiker. Dies ist schlichtweg falsch. Für die öffentlichen sehr gutes und bürgernahes Petitionsrecht, das sich in Anhörungen des Petitionsausschusses werden häufig die den letzten Jahrzehnten bewährt hat, weshalb der hier zuständigen Fachpolitiker als stellvertretende Mitglie- vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen der des Petitionsausschusses für ihre Fraktionen be- ist. nannt, um an der Beratung der Petitionen teilzunehmen. Der sukzessive Ausbau des Petitionswesens in Nicht selten werden Petitionsanliegen aufgrund des Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, die weltweit § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- Beachtung findet und auf reges Interesse stößt. Mit der ges an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen, um (B) Einführung der sogenannten Onlinepetitionen im Sep- in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren Berück- (D) tember 2005 haben wir die direkte Bürgerbeteiligung als sichtigung finden zu können. Auch ohne die zwingende Teil des Petitionsrechtes weiter gestärkt. Seitdem kön- Notwendigkeit einer Überweisung nach §109 der Ge- nen die Bürgerinnen und Bürger schnell und unkompli- schäftsordnung überweist der Petitionsausschuss eine ziert über das Internet Petitionen einreichen oder mit- Vielzahl der eingereichten Petitionen zur Mitberatung zeichnen, aber auch im Internet veröffentlichte und Abgabe einer Stellungnahme an die zuständigen Petitionen diskutieren. Mehr als 5 000 Petitionen, das Fachausschüsse. sind rund ein Drittel aller eingereichten Petitionen, wur- Nicht umsonst setzt sich der Petitionsausschuss des den im Jahr 2011 über das Webformular auf der Inter- Deutschen Bundestages aus einer bunten Mischung von netseite des Deutschen Bundestages eingereicht. Auch Fachpolitikern aus jedem Bereich zusammen. Als Be- die rege Beteiligung der Nutzer der Internetplattform richterstatter setze ich mich beispielsweise überwiegend des Deutschen Bundestages in der Diskussion und Mit- mit Petitionen auseinander, die aus meinem Fachgebiet zeichnung veröffentlichter Petitionen zeigt, dass wir Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stammen. Die Kolle- über ein leicht zugängliches und unkompliziertes Peti- gen aus dem Bereich Arbeit und Soziales kümmern sich tionsrecht verfügen, dass einer aktiven Bürgerbeteili- überwiegend um Petitionen, die das SGB betreffen – gung in keiner Weise entgegenwirkt. usw. Bei der Bearbeitung von Petitionen bringt also je- Das System der E-Petitionen wurde daher auch im der von uns seine eigene Fachexpertise ein. Jahr 2010 durch die Aktion Mensch und die Stiftung Di- Oft genug tragen wir als Mitglieder des Petitionsaus- gitale Chancen mit dem Preis „BIENE“ ausgezeichnet. schusses schnell und unbürokratisch Themen in unsere Ich begrüße es sehr, dass nun auch der Thüringer Land- Arbeitsgruppen und Fachausschüsse oder suchen das tag das System der elektronischen Petitionen einführt. persönliche Gespräch mit den zuständigen Kollegen. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ist Diese Praxis hat sich grundsätzlich bewährt, um vielen Vorbild auf nationaler, europäischer und internationaler Bürgerinnen und Bürgern rasch und kompetent zu hel- Ebene. In der vergangenen Sitzungswoche trafen sich fen. Mitglieder des Petitionsausschusses gleich mit zwei De- legationen aus Südafrika und Tadschikistan, die zu Gast Unser Petitionsrecht muss sich auch weiterhin auf die im Deutschen Bundestag waren, um mehr über die Einzelanliegen der Bürgerinnen und Bürger fokussieren. Arbeit des Petitionsausschusses zu erfahren und unsere Es handelt sich hierbei um das Kerngeschäft des Peti- Erfahrungen beim Auf- und Ausbau der eigenen Peti- tionsausschusses. In vielen Fällen kann der Petitions- tionssysteme zu berücksichtigen. ausschuss schon durch das Einholen einer Stellung-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24031

Gero Storjohann (A) nahme bei den zuständigen Behörden Abhilfe schaffen, von Petitionen, die Rechte des Petitionsausschusses, die (C) da die Behörden vor Ort noch einmal genau prüfen, ob Übertragung von Befugnissen auf einzelne Petitionsaus- sie ihren Ermessensspielraum angemessen ausgeschöpft schussmitglieder sowie das Abfassen von Beschlussemp- haben. Der Argumentation des Antrages, der Grad des fehlung und Bericht des Petitionsausschusses geregelt. öffentlichen Interesses an einem Thema könne leicht über die Zahl der Mitzeichnenden gemessen werden, Die Befugnisse des Petitionsausschusses, Akten ein- kann nicht gefolgt werden. Dies war sicherlich auch zusehen, Auskünfte einzufordern und Amtshilfe zu ver- nicht die Intention der Mütter und Väter des Grundge- langen, sind im Gesetz nach Art. 45 c GG, dem soge- setzes, als sie in Art. 17 des Grundgesetzes das Peti- nannten Befugnisgesetz, festgelegt. tionsrecht für jedermann verankerten. Denn grundsätz- Das eigentliche Petitionsverfahren regelt der Aus- lich kann sich jeder in Deutschland mit jedem Thema an schuss selbst, indem er nach § 110 Abs. 1 GO-BT Grund- den Petitionsausschuss des Bundestages wenden, unab- sätze über die Behandlung von Bitten und Beschwerden hängig von seinem Alter, seiner Staatsangehörigkeit und aufstellt. seinem Wohnort. Das Petitionsrecht gilt also für Kinder und für Erwachsene, für Ausländer und für Deutsche. Vor diesem Hintergrund finde ich als Sprecherin für Das Anliegen einer Einzelperson kann von einem sehr Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung der viel größeren öffentlichen Interesse sein als ein Anlie- SPD-Bundestagsfraktion die Aufforderung der Fraktion gen, das eine Vielzahl von Mitzeichnern besitzt. Die Linke an die Bundesregierung, ein Petitionsgesetz vorzulegen, äußerst bedenklich. Die Abgeordneten soll- Einer zunehmenden Instrumentalisierung des Peti- ten die Abläufe des Parlaments auch zukünftig unbe- tionswesens durch große Verbände sollten wir daher im dingt selbst bestimmen – dazu bieten Geschäftsordnung Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihren und Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses ge- zum Teil sehr persönlichen Anliegen an den Petitions- nügend Möglichkeiten. ausschuss des Deutschen Bundestages wenden, durch eine Behandlung von sogenannten Massenpetitionen im Ich begrüße es aber, dass Sie mit Ihrem Antrag dieses Plenum des Deutschen Bundestages nicht weiter Vor- Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. Es gibt schub leisten, zumal durch unsere öffentlichen Aus- viele Stellen, an denen wir das Petitionswesen und den schusssitzungen Petitionen von öffentlichem Interesse Ablauf des Verfahrens noch verbessern könnten. Ein bereits eine geeignete Plattform, um den Gegenstand ei- wichtiger Punkt ist nach wie vor die lange Bearbei- ner Petition darzustellen und zu diskutieren, besitzen. tungszeit. Meine Fraktion hat sich bereits für die Einfüh- rung der gleichzeitigen Berichterstattung eingesetzt. Der Wert einer Petition darf sich nicht allein durch Wir werden sehen, welche Verbesserungen durch dieses die Zahl der Unterstützer bemessen. Verbandsarbeit (B) Instrument in Zukunft erzielt werden. Teilweise werden (D) muss Verbandsarbeit bleiben und darf nicht das bürger- die Berichterstattungen absichtlich verzögert, was je- nahe Petitionswesen unterwandern. doch vertretbar ist, wenn dies im Interesse der Petenten geschieht. Nicht vertretbar ist es, wenn die Verzögerun- Zusammenfassend betrachtet möchte ich noch einmal gen auf Unstimmigkeiten innerhalb einer Fraktion oder betonen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland Koalition bzw. auf die Untätigkeit der Bundesregierung über ein sehr gutes Petitionswesen verfügen, das seiner zurückzuführen ist. Aufgabe, sich den einzelnen Bitten und Beschwerden der Menschen anzunehmen, mehr als gerecht wird. Daher In dieser Woche haben wir in einer öffentlichen Sit- ist der Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. zung endlich das Thema Vorratsdatenspeicherung bera- ten. Bereits letztes Jahr um diese Zeit hatte die dazuge- Sonja Steffen (SPD): hörige öffentliche Petition 64 704 Mitzeichnungen Das Petitionswesen ist ein ganz besonders wichtiger erreicht. Dreimal haben die Oppositionsparteien im Pe- Teil unseres demokratischen Systems. Wir sollten immer titionsausschuss versucht, das Thema auf die Tagesord- wieder darüber nachdenken, wie wir das Petitionswesen nung zu setzen. Sie wurden jedesmal von CDU/CSU und und damit die direkten Einflussmöglichkeiten der Men- FDP blockiert. Die Regierungskoalition wollte eine öf- schen auf unser Parlament und seine Entscheidungen fentliche Debatte so lange wie möglich vermeiden, da stärken können. Leider eignet sich jedoch der von der sie nach wie vor keine gemeinsame Position zu dem Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu nicht. Sie Thema vorweisen kann. Hier brauchen wir Mechanis- fordert die Bundesregierung dazu auf, ein Petitions- men, die sicherstellen, dass eine Beratung zeitnah gesetz vorzulegen, welches die Behandlung von Massen- durchgeführt wird und Themen nicht ausgesessen wer- und Sammelpetitionen im Plenum und in den zuständi- den können. gen Fachausschüssen vorsieht. Unsere Demokratie braucht kritische und strittige öf- Das Recht, Bitten und Beschwerden an den Bundes- fentliche Debatten. Das Einreichen von Onlinepetitio- tag zu richten, ist im Grundgesetz verankert. Für die nen und deren öffentliche Beratung im Parlament ist Frage, wie der Bundestag bestimmte Anliegen und Vor- hierfür ein ausgezeichnetes Instrument, das wir weiter haben bearbeitet und wie er seine Arbeitsabläufe intern ausbauen und verbessern sollten. organisiert, gibt er sich selbst am Anfang jeder Legisla- turperiode eine Geschäftsordnung. In Abschnitt IX der Stephan Thomae (FDP): GO-BT „Behandlung von Petitionen“ werden die Zu- Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich bereits seit ständigkeit des Petitionsausschusses, die Überweisung Jahren für die Einführung direktdemokratischer Ele-

Zu Protokoll gegebene Reden 24032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Stephan Thomae (A) mente auf Bundesebene ein. Auf Länder- und Kommu- In der 16. Legislaturperiode trat der Petitionsaus- (C) nalebene sehen die Verfassungen der Bundesländer Bür- schuss mit der Einrichtung öffentlicher Petitionen etwas gerentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen stärker ins Rampenlicht. Seither können Petitionen auf vor. In der Europäischen Union ist die Einführung der einer eigenen Homepage des Petitionsausschusses un- Europäischen Bürgerinitiative in Vorbereitung. Auf Bun- terstützt werden, in Diskussionsforen können die Bürger desebene fehlt ein vergleichbares plebiszitäres Element. an der Meinungsbildung mitwirken. Die Petitionsseiten Deshalb finde ich jeden Antrag positiv, der mehr Bür- des Bundestages erzielen die höchsten Zugriffszahlen gerbeteiligung fordert. Aber gut gemeint ist nicht immer aller Webseiten des Parlaments. Sechs Petitionen fanden auch gut gemacht. Und das erkennt man bei diesem An- über 100 000 Unterstützer, zahlreiche weitere immerhin trag der Fraktion Die Linke „Bürgerbeteiligung stärken noch über 50 000 Mitzeichner. Findet eine öffentliche – Petitionsrecht ausbauen“, Drucksache 17/10682. Petition bei Einreichung oder innerhalb von drei Wo- chen nach der Einreichung mindestens 50 000 Un- Der Petitionsausschuss wirkt überwiegend im Ver- terstützer, kann eine öffentliche Anhörung des Hauptpe- borgenen. Er ermöglicht es den Bürgerinnen und Bür- tenten im Petitionsausschuss stattfinden, wenn der gern, sich mit ihren Bitten und Beschwerden unmittelbar Ausschuss nicht mit Zweidrittelmehrheit etwas anders und direkt an die Volksvertretung zu wenden. Jedermann beschließt. kann seine Anliegen schriftlich an den Petitionsaus- schuss richten. Das Petitionsverfahren ist in den Die FDP will nun einen weiteren Schritt tun. Nach §§ 108 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes- dem Willen der FDP sollen Petitionen im Rahmen des tages, GO-BT, in den Grundsätzen des Petitionsaus- Bürgerplenarverfahrens, die bei ihrer Einreichung oder schusses über die Behandlung von Bitten und Beschwer- innerhalb von zwei Monaten seit Einreichung von min- den, Verfahrensgrundsätze, und in der Anlage zu destens 100 000 Menschen unterstützt werden, öffentlich Ziffer 7.1 (4) Verfahrensgrundsätze, Richtlinie für die in einer Bürgerstunde im Plenum debattiert und zur Behandlung von öffentlichen Petitionen, öP, geregelt. anschließenden Beratung in die zuständigen Fachaus- schüsse überwiesen werden. Erst nach dieser „Ehren- In dem Antrag der Linken soll ein Entwurf für ein Pe- runde“ sollen diese Petitionen in die öffentliche Anhö- titionsgesetz durch die Bundesregierung vorgelegt wer- rung des Hauptpetenten im Petitionsausschuss münden. den, der unter anderem die Behandlung von Massen- Abschließend werden die Petitionen vom Fachausschuss und Sammelpetitionen im Plenum und in den zustän- zusammen mit einer inhaltlich begründeten Stellung- digen Fachausschüssen vorsieht. Das Parlament soll nahme zurück an den Petitionsausschuss überwiesen, das Petitionsrecht also aus seinen Händen in die Hände wo die Petition gemäß Art. 45 c Grundgesetz abschlie- der Regierung geben. Das unterstützen wir Liberale ßend beraten und behandelt wird. (B) nicht. Das Petitionswesen ist einer der parlamentari- (D) schen Grundpfeiler des Parlaments. Als Seismograph In Zeiten, in denen es Mode geworden ist, sich von der Gesellschaft können Massenpetitionen Fehlentwick- den Parteien, der Politik und sogar der Demokratie lungen anzeigen und politische und mediale Prozesse in selbst abzuwenden, will sich das Parlament mit dieser Gang setzen. Der Petitionsausschuss kann dann auf die Geste den Menschen stärker zuwenden. Die Erweite- Begehren der Petenten und Petentinnen schnell reagie- rung des Petitionsverfahrens durch die Einführung des ren. Das geht aber nur, wenn das Petitionsrecht in der Bürgerplenarverfahrens ermöglicht es Bürgerinnen und Hand des Parlamentes bleibt. Denn nur so kann garan- Bürgern, Themen von öffentlichem Interesse direkt auf tiert werden, dass das Verfahren reibungslos verläuft der Tagesordnung des Plenums zu platzieren. Die Bür- und sich selbstständig an neue Gegebenheiten anpasst. ger sollen stärker in die parlamentarischen Vorgänge eingebunden, ihre Themen unmittelbar den Weg ins Ple- Aber in Ihrem Antrag der Fraktion Die Linke steckt num des Deutschen Bundestages, die Kronkammer unse- auch eine gute Idee. Ich stimme mit Ihnen überein, dass rer parlamentarischen Demokratie, finden können. Es die gegenwärtigen Regelungen zum Petitionsrecht nicht macht in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unter- ausreichen. Weil die Demokratie ein ständiges „Stirb schied, ob eine Bundestagsfraktion oder ob 100 000 und werde“ ist, ist der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung Bürger eine Debatte auf die Tagesordnung einer Sit- in aller Munde. Aufgrund der neuen Medien wird es zungswoche bringen. Die Anliegen der Bürger werden auch immer einfacher und wünschenswerter, die Bürger nicht im Schatten dunkler Ausschusssitzungssäle bera- durch innovative Art und Weise am Staat teilhaben zu ten, sondern unter dem Sonnenlicht der Reichstagskup- lassen. Der Bildungsstand der Menschen, ihre Informa- pel. Diese Änderungen bewirken ein Stück unmittelbarer tions- und Kommunikationsmöglichkeiten, nicht zuletzt Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist schon heute ei- unter Nutzung moderner Medien, erlauben ein vielfa- nes der transparentesten und durchsichtigsten Parla- ches Mehr an Zusammenwirken. 79 Prozent der Deut- mente der Welt – in seiner Architektur und in seinen Ver- schen sind einer aktuellen Umfrage zufolge für mehr fahrensweisen. Er wird jetzt auch permeabler und Mitbestimmung. durchlässiger für die Bitten und Beschwerden der Men- schen. Und dabei ist, wie gezeigt, die Idee so neu nicht: Daher wollen wir Liberalen nicht nur die repräsenta- Der Bundestag kehrt mit diesen Änderungen zu seinen tive parlamentarische Demokratie weiterentwickeln, Wurzeln zurück. sondern auch die direkte Demokratie. Wir wollen nicht einfach nur entweder parlamentarische oder direkte De- Bei unserer Initiative bleibt das ureigene Recht der mokratie, sondern eine Verknüpfung der beiden, wir Petitionen das Recht des Parlamentes. Der vorgeschla- wollen ein Ineinandergreifen, eine Verzahnung. gene Weg erscheint als geeignete Möglichkeit, die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24033

Stephan Thomae (A) Vorzüge der parlamentarischen Demokratie mit den Thema interessiert und engagiert. Schließlich dauert es (C) Vorzügen der direkten Demokratie zu paaren. Das Bür- meistens mehrere Monate bis Jahre, bis der Ausschuss gerplenarverfahren setzt den im Jahr 2005 mit der Ein- nach einer Anhörung die Petition abstimmt und eine führung der öffentlichen Petition beschrittenen Weg Antwort der Regierung dazu vorliegt. konsequent fort und trägt bereits Züge eines Volksinitia- tivrechtes. Die Anregung wird aus der Mitte der Gesell- Stellen Sie sich vor, es gäbe zumindest eine halbe schaft geboren, die Befassung und Beschlussfassung fin- Stunde Aussprache im Plenum zur Kernzeit, in der das det aber auf der parlamentarischen Ebene statt und Anliegen von mehr als 50 000 Unterzeichnenden debat- garantiert jenes Maß an Transparenz und Beteiligung tiert wird. Wäre das nicht ein hervorragender Bestand- der betroffenen Kreise, die sich in der über 60-jährigen teil für mehr direkte Demokratie? Selbst wenn keine der Verfassungswirklichkeit unseres Landes herausgebildet Fraktionen das Petitionsanliegen unterstützen würde, haben. Dabei wird die parlamentarische Behandlung al- dann kann das zumindest in den Reden dazu schlüssig ler anderen Petitionen wie bisher dadurch nicht ver- begründet werden. Was glauben Sie, wie intensiv die schlechtert. Menschen die Anträge der Fraktionen in einem Fach- ausschuss lesen würden, die sich inhaltlich auf eine Der vorliegende Antrag „Bürgerbeteiligung stär- Massenpetition beziehen? Deswegen ärgert es mich so, ken – Petitionsrecht ausbauen“ kann dieses nicht si- dass die guten Absichten bei der Änderung der Verfah- chern. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der rensgrundsätze einfach unter den Tisch gefallen sind. Fraktion Die Linke ab. Der Kollege Thomae hatte per Pressemitteilung noch im Juni 2011 angekündigt, dass die FDP-Fraktion für die Ingrid Remmers (DIE LINKE): Behandlung von Massenpetitionen im Plenum und den Fachausschüssen stimmen wird. In den Obleuteberatun- Es ist keine große Neuigkeit, dass Koalitionsverträge gen war dann plötzlich keine Rede mehr davon. Hat da mitunter nicht eingehalten werden. Schließlich verän- vielleicht der größere Koalitionspartner kalte Füße be- dern sich ja manchmal auch die äußeren Umstände, so- kommen? Das ist mehr als traurig. Ich schlage den bei- dass die Politik schnell reagieren muss. Deswegen be- den Regierungsparteien folgenden Tausch vor: Die FDP grüße ich zum Beispiel auch den Ausstieg aus der gibt ihren Widerstand gegen die Finanztransaktion- Kernenergie. Im Koalitionsvertrag war ja noch die Ver- steuer auf und bekommt dafür die Erweiterung des Peti- längerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke vorgese- tionsrechts. Glauben Sie mir, das würden die Wählerin- hen. Ich frage mich allerdings, warum in der schwarz- nen und Wähler sicher eher honorieren als den gelben Koalition die Angst vor der eigenen Bevölkerung umgekehrten Deal! Und wenn Sie jetzt argumentieren, so schnell zugenommen hat, dass nicht mal die guten dass die Regierung der falsche Adressat für solch einen (B) Absichten zur besseren Bürgerbeteiligung und der Aus- Antrag ist, weil er die Parlamentsrechte berührt, dann (D) weitung des Petitionsrechts umgesetzt werden. Leider kann ich nur antworten: Einem ausformulierten Antrag lesen nicht alle Journalisten und interessierten Bürger der Koalitionsfraktionen zur Änderung der Geschäfts- am Ende einer Legislaturperiode dieses 133 Seiten ordnung mit den genannten Inhalten würden wir ganz si- starke Märchenbuch, um mal zu schauen, wie viele Vor- cher zustimmen. Leider habe ich wenig Hoffnung, dass haben denn still und heimlich begraben worden sind. das in dieser Legislaturperiode noch passiert. Wenn sie Deswegen gibt es auch heute unseren Antrag. nicht mehr Bürgerbeteiligung wollen, dann frage ich Sie haben versprochen, das Petitionsrecht zu erwei- mich nur, warum Sie es vorher in den Koalitionsvertrag tern. Massenpetitionen mit mehreren Tausend Mitzeich- schreiben. Ich nenne das die reine Wählertäuschung. nenden sollen auch im Plenum debattiert und in den Fachausschüssen beraten werden, ein guter Plan. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Manchmal ist die Schwarmintelligenz der Bürgerinnen Petitionen sind heute zu einem unverzichtbaren und und Bürger dem Gespür von uns Politikerinnen und selbstverständlichen Bestandteil zivilgesellschaftlichen Politikern nämlich doch überlegen. Oder welche Frak- Engagements der Bürgerinnen und Bürger geworden. tion hat das Thema Hebammenvergütung vor dem Ein- gang der fast 200 000 Unterschriften in einen der Aus- Rot-Grün hatte zu Beginn seiner Regierungszeit ver- schüsse gebracht? Warum diskutieren wir hier nicht mal sprochen, das Petitionsrecht zu einem echten Instrument fraktionsübergreifend die Ideen für ein Grundeinkom- politischer Mitbeteiligung für die Bürgerinnen und Bür- men? Warum kann sich die Regierung um eine klare ger auszubauen. Und Rot-Grün hat dieses Versprechen Position zur GEMA herumdrücken? Weil es dazu keine selbstverständlich gehalten. Insbesondere die von Rot- ordentliche Aussprache gibt, wo die Parteien und die Grün gegen heftigen Widerspruch von CDU/CSU und Regierung Farbe bekennen müssen und die vielen Tau- FDP eingeführten Instrumente der elektronischen und send Petentinnen und Petenten die Debatte mitverfolgen öffentlichen Petitionen haben zu einer eindrucksvollen können. Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürge- rinnen und Bürger im Petitionsrecht beigetragen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde die öffentli- chen Sitzungen des Petitionsausschusses zu den Massen- Ganz anders die jetzige CDU/CSU-FDP-Koalition. petitionen natürlich richtig. Wir können die Regierung Ginge es nach CDU/CSU und FDP, wäre der Petitions- zu ihren Positionen befragen, aber es wird viel zu oft ab- ausschuss auch heute noch immer ein wenig beachteter gewiegelt, verschoben, verschleppt, und am Ende fühlt Kummerkasten. Es ist peinlich, dass CDU/CSU und sich kein Bürger ernst genommen, der sich für ein FDP an ihr bisher nicht eingelöstes Versprechen erin-

Zu Protokoll gegebene Reden 24034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Memet Kilic (A) nert werden müssen, bei Massenpetitionen eine Behand- tionsrecht ist Instrument zur Kontrolle und Korrektur (C) lung des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundes- der Exekutive durch das Parlament. Das Parlament darf tages unter Beteiligung der zuständigen Ausschüsse zu sich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wie es ermöglichen. Dabei würde dieser Vorschlag auch unsere zu handeln hat. Das Petitionsrecht gehört in die Hand Zustimmung finden. Aber offenbar ist die Regierungsko- der Volksvertretung und nicht in die Finger der Regie- alition selbst zu kleinsten Reformschritten im Petitions- rung. recht nicht fähig. Denn die stärkere Beachtung von Mas- senpetitionen kann nur ein Baustein der Reform des Vizepräsidentin Petra Pau: Petitionsrechts hin zu mehr Offenheit und Bürgerbeteili- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gung sein. Drucksache 17/10682 an die in der Tagesordnung aufge- Grundsätzlich sollten alle Petitionen öffentlich bera- führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- ten werden. Dass Petitionen von einer öffentlichen Be- rung beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und ratung ausgenommen sind, in denen der Petent keine Geschäftsordnung liegen soll. Sind Sie damit einverstan- öffentliche Beratung wünscht, private oder datenschutz- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- rechtliche Belange dem entgegenstehen, ist selbstver- schlossen. ständlich. Heute ist es aber Praxis, dass selbst öffent- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: liche Petitionen nichtöffentlich beraten und beschieden werden. Dies ist absurd und nicht mehr vermittelbar. Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, weite- Bündnis90/Die Grünen sehen die technischen und rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts bei weitem nicht ausgeschöpft. So ist die Frist von vier Wo- Freiheit für Mumia Abu-Jamal chen zur Mitzeichnung zu kurz, ist das Quorum von – Drucksache 17/8916 – 50 000 Mitzeichnern zu hoch. Überweisungsvorschlag: Bündnis 90/Die Grünen streben darüber hinaus einen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) weiteren grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmög- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union lichkeiten und eine umfassende Transparenz des Verfah- rens für die Bürgerinnen und Bürger im Petitionsrecht Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die an. Wir sind der Überzeugung, dass eine Stärkung des Reden zu Protokoll genommen. Petitionsrechts ein richtiger Weg ist, repräsentative und teilnehmende Demokratie auf neuartige Weise miteinan- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): (B) (D) der zu kombinieren. Dem Antrag der Fraktion Die Linke „Freiheit für Wir wollen darum das Instrument der öffentlichen Pe- Mumia Abu-Jamal“ kann die CDU/CSU-Bundestags- tition zu einer wirklich „Offenen Petition“ für die Bür- fraktion nicht zustimmen. Wir möchten juristische Fälle gerinnen und Bürger machen. Petitionen sollten nicht nicht politisch instrumentalisieren. Dies lehnen wir so- nur wie bisher gemeinsam im Onlineangebot des Peti- wohl im konkreten Fall als auch ganz generell ab. Die tionsausschusses diskutiert werden, sondern auch ge- Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das es per- meinsam erarbeitet und eingereicht werden können. manent zu verteidigen gilt. Urteile dürfen nicht politisch Diese Bitten zur Gesetzgebung sollten dann auch eine sein, und genauso wenig dürfen sie von der Politik für angemessene Bearbeitung in den Fachausschüssen und politische Zwecke missbraucht werden. Alle politisch im Plenum finden. Handelnden sollten die Unabhängigkeit der Justiz als Teil der Gewaltenteilung anerkennen und respektieren. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ein Peti- Dies gilt nicht nur für unser eigenes Land, sondern auch tionsgesetz vorzulegen. Dies lehnen wir ab. Das Peti- für andere Länder und selbstverständlich auch für die tionsbehandlungsrecht ist ein Parlamentsrecht. Adressat Vereinigten Staaten. einer Petition ist die Volksvertretung, mit Rechten und Pflichten des Parlamentes. Diese sind im Grundgesetz, Der Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz eines im Befugnisgesetz, in der Geschäftsordnung des Bundes- jeden Landes ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir tages und in den Verfahrensgrundsätzen niedergelegt das Strafverständnis einer jeden Rechtsordnung teilen und konkretisiert. Dieses Regelwerk eröffnet dem Parla- oder jeden Urteilsspruch für angemessen halten. Die ment und dem Petitionsausschuss genau jene Spiel- CDU/CSU lehnt genauso wie jede andere Fraktion des räume und Möglichkeiten, die für flexibles Handeln und Hohen Hauses die Todesstrafe ab. Wir sind froh, dass Agieren und letztlich für eine erfolgreiche Arbeit auch hierüber in Deutschland ein breiter politischer und ge- im Härte- und Ermessensfall günstig sind. Notwendige sellschaftlicher Konsens besteht. Wir werden auch nicht Änderungen können und sollten in diesem Handlungs- müde, diese Rechtsauffassung gegenüber anderen Län- rahmen vorgenommen werden. Ein Petitionsgesetz, das dern kundzutun. Dies zeigt auch unser Verhalten in der diese Handlungsspielräume einengt und dem Ermessen Entwicklungspolitik, wo wir Entwicklungshilfe mitunter Fesseln anlegt, brauchen wir nicht. von der Abschaffung bzw. der Nichtanwendung der Todes- strafe abhängig machen. Ein weiteres Beispiel sind un- Geradezu absurd ist es, die Formulierung eines sol- sere regelmäßigen Proteste gegenüber der Vollstreckung chen Gesetzes und der Regularien der Petitionsbearbei- von Todesurteilen in China oder dem oder unsere tung in die Hände der Regierung zu legen. Das Peti- konsequente Positionierung in dieser Frage gegenüber Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24035

Dr. Egon Jüttner (A) den USA und anderen Verbündeten. Wir stehen auch voll gel, „und da gehört er auch hin“, so der Bezirksstaats- (C) und ganz hinter dem Grundsatz, dass Mitgliedstaat der anwalt weiter. Bei der von mir und meiner Fraktion ge- EU nur sein kann, wer die Todesstrafe abgeschafft hat. forderten Anerkennung der Unabhängigkeit der Justiz nehme ich diese Wertung zur Kenntnis. Eine Beurteilung Diese eindeutige Positionierung gegen die Todes- kann ich mir nicht erlauben. Eine Beurteilung sollte sich strafe ist aber etwas völlig anderes, als einzelne Richter- keiner von uns erlauben, der nicht mit juristischem sprüche zu beurteilen und per Ferndiagnose Freisprü- Sachverstand die Akten sorgfältig geprüft und alle Be- che zu fordern. Der Deutsche Bundestag kann – und teiligten gehört hat. sollte auch nicht – über Schuld und Unschuld von Mumia Abu-Jamal entscheiden. Es verwundert mich deshalb, Worüber ich mir aber sehr wohl ein Urteil erlauben wie man sich anmaßen kann, in diesem juristisch offen- kann, ist die Frage, ob wir eine Person, die von einem sichtlich höchst komplexen Fall über die Ablehnung der zuständigen Staatsanwalt mit diesen Worten einge- Todesstrafe hinaus Position zu beziehen. Es ist nicht be- schätzt worden ist, in einer deutschen Gebietskörper- wiesen, ob es sich im Fall Mumia Abu-Jamal um ein ras- schaft zum Ehrenbürger ernennen sollen. Daran ändert sistisch motiviertes Urteil handelt. Jahrzehntelanges auch nichts die Tatsache, dass die Stadt Paris diesen Schweigen des Angeklagten wurde von widersprüchli- Schritt unternommen hat. Die Frage, ob wir den USA chen Stellungnahmen abgelöst, unterschiedliche Zeu- anbieten sollen, Mumia Abu-Jamal in Deutschland Auf- genaussagen wurden gemacht und später widerrufen. nahme zu gewähren, stellt sich für uns nicht. Mit Ehren- Andere Personen behaupteten, die Mumia Abu-Jamal bürgerschaften sollten wir vorsichtig umgehen. Mumia zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Dies alles Abu-Jamal gehört sicherlich nicht zu den Personen und scheint mir doch ein recht verwirrender juristischer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Taten so Sachverhalt zu sein. Ich kann deshalb den Deutschen unumstritten waren und sind, dass sie die Verleihung ei- Bundestag nur warnen, sich entsprechend zu positionie- ner Ehrenbürgerschaft rechtfertigen. Die Stadt Paris ist ren. Wir sind kein Gericht, uns stehen nicht die Mittel ei- in ihrer Entscheidung frei, wen sie zum Ehrenbürger nes Gerichtes zur Erforschung des Tathergangs zur Ver- macht und wen nicht. Wir respektieren zwar diese Ent- fügung und daher sollten wir uns auch kein Urteil scheidung, nachvollziehen aber können wir sie nicht. anmaßen. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftigt dieser Fall die Gerichte in den Vereinigten Staaten, aber die Es besteht nach unserer Auffassung überhaupt kein Fraktion Die Linke meint, wir könnten ihn per Antrag Grund, den Vereinigten Staaten von Amerika die Auf- hier und heute entscheiden. Mit der CDU/CSU-Fraktion nahme von Mumia Abu-Jamal anzubieten. Die Todes- ist so etwas nicht zu machen. strafe gegen den Verurteilten ist ausgesetzt. Damit ist unsere Hauptforderung erfüllt. Weder Mumia Abu- Wir sollten uns vielmehr darauf beschränken, die (B) Jamal noch sein Opfer noch die Tat als solche oder einer (D) Aussetzung der Todesstrafe durch die Staatsanwalt- der Zeugen stehen in irgendeinem Bezug zu Deutsch- schaft Philadelphia zu begrüßen. Dies ist meines Erach- land. Weshalb wir Mumia Abu-Jamal bei uns aufnehmen tens genauso weit wie ein Parlament gehen darf, ohne sollen, ist für uns als CDU/CSU nicht nachvollziehbar. die Unabhängigkeit der Justiz anzutasten. Die Frage Eine fundierte Begründung hierfür bleiben Sie in Ihrem „Todesstrafe – Ja oder nein?“ hat nichts mit Schuld Antrag schuldig. oder Unschuld zu tun. Sie ist keine Frage der angemes- senen, gebotenen und verhältnismäßigen Anwendung Mit Ihrer Forderung nach Freilassung Mumia Abu- des Strafmaßes. Es geht bei ihren Befürwortern und Jamals und Aufnahme in Deutschland zeigen Sie Ihre Gegnern nie nur um einen konkreten Fall. Diese Frage wahren Absichten. Es geht Ihnen in erster Linie nicht um darf von der Bank des Richters und von der des Staats- Gerechtigkeit bzw. ein gerechtes Urteil im konkreten anwaltes heruntergeholt werden hinein in die Gesell- Fall. Ihnen geht es vor allem um die Diskreditierung des schaft und damit auch hinein in dieses Haus. Es ist eine Rechtssystems der Vereinigten Staaten, und es geht Ih- Wertefrage und eine Frage von verfassungsrechtlichem nen um die Freiheit für eine Ikone der internationalen Ausmaß sowie eine Frage der Menschenrechte und der Linken, losgelöst von der Frage „Schuldig oder un- Menschenwürde. Zum Glück ist es auch eine Frage, die schuldig?“. Wir halten das US-amerikanische Rechts- in unserer deutschen Werte- und Rechtsordnung schon system gerade wegen der Todesstrafe durchaus für nicht seit 1949 entschieden ist. Die Antragsteller darf ich da- perfekt. Aber ein Rechtssystem ändert oder reformiert ran erinnern, dass die DDR erst 38 Jahre später, näm- man nicht, indem man sich Verurteilte herauspickt, mit lich am 17. Juli 1987, so weit war. denen man politisch auf einer Wellenlänge liegt und sie, losgelöst von der Frage, ob schuldig oder nicht schul- Die CDU/CSU-Fraktion tritt weltweit für die Ab- dig, freispricht. Mit einem juristischen Freispruch hat so schaffung der Todesstrafe ein, und die Bundesregierung eine Entscheidung nichts mehr zu tun. Das ist einzig und wird nicht müde, dies gegenüber allen Nationen, seien allein ein politischer Freispruch. Deshalb lehnt die wir eng mit ihnen verbündet oder nicht, zu betonen. Fraktion der CDU/CSU den Antrag der Linken ab. 30 Jahre beschäftigen sich die Gerichte bereits mit dem Fall Mumia Abu-Jamal. Der zuständige Bezirksstaats- anwalt wird, nachdem er die Todesstrafe ausgesetzt Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): hatte, mit folgenden Worten zitiert: „Es gab für mich nie „Wie kann ein Staat, der die gesamte Gesellschaft re- einen Zweifel, dass Mumia Abu-Jamal den Polizisten präsentiert und die Aufgabe hat, die Gesellschaft zu Faulkner erschossen und getötet hat.“ Der Verurteilte schützen, sich selbst auf die gleiche Stufe stellen wie ein bleibe für den Rest seines Lebens hinter Schloss und Rie- Mörder?“ Diese Frage stellte der damalige UN-Gene-

Zu Protokoll gegebene Reden 24036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Angelika Graf (Rosenheim) (A) ralsekretär Kofi Annan vor zwölf Jahren in New York. Besonders bedrückt mich die Tatsache, dass die USA (C) Damals wurde ihm bzw. der UN eine weltweite Petition einerseits in der Spitzengruppe der Todesurteile sind mit 3,2 Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafe und andererseits als Vertreter der sogenannten aufge- überreicht. klärten westlichen Welt global für die Entwicklung von Menschenrechten und Demokratie eintreten wollen. Das Ich kann seinen Worten nur zustimmen: Ein Staat hat macht es auch für uns schwerer, weiterhin glaubwürdig zuvörderst die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu für die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe einzu- schützen, ihr höchstes Gut, das Recht auf Leben, zu wah- treten. ren und die Menschenwürde aller Bürger – dies gilt auch für Verbrecher – zu verteidigen. Dies ist in zahlreichen Zuletzt sorgten die Fälle der zwei in den USA inhaf- internationalen Übereinkommen festgelegt und bei der tierten Afroamerikaner Troy Davis und Mumia Abu- Mehrheit der Staaten Konsens. Und dafür kämpft die Jamal für mediale Aufmerksamkeit und Empörung. In SPD seit langem und wird dies auch weiterhin mit aller beiden Fällen bestehen erhebliche Zweifel an ihrer Kraft tun – zuletzt in unserem gemeinsamen Antrag mit Schuld. den Grünen „Todesstrafe weltweit abschaffen“ aus dem Der hier diskutierte Antrag der Linken widmet sich Jahr 2010. Ich kann übrigens immer noch nicht verste- Mumia Abu-Jamal und fordert die Freilassung des Ver- hen, warum sich die Regierungskoalition damals einem urteilten. 30 Jahre zieht sich nun bereits der Prozess um gemeinsamen Antrag verweigerte. In früheren Legisla- den afroamerikanischen Journalisten hin. 1982 wurde turperioden scheiterten solche Initiativen nicht an der er wegen des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner beschämenden Kleinlichkeit einzelner Unionsabgeord- zum Tode verurteilt. Seit letztem Jahr steht nun fest: neter. Mumia Abu-Jamal wird nicht hingerichtet. Das Todes- 58 Staaten bestrafen derzeit Verbrechen wie Mord, urteil wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewan- Vergewaltigung oder Wirtschaftsdelikte mit dem Tod. delt. Das macht deutlich, wie wichtig internationaler 25 von ihnen haben bis ins letzte Jahr die Todesstrafe Druck in diesen Fragen ist. auch noch vollstreckt. Im Iran steht die Todesstrafe so- Die Schuldfrage ist aber immer noch nicht eindeutig gar auf das „Verbrechen“ der politischen Meinungs- geklärt. Immer wieder wurden neue Zeugen angehört, äußerung. Dort wurden im vergangenen Jahr übrigens alte Zeugen revidierten ihre Aussagen oder behaupteten auch drei Personen hingerichtet, die ihre Straftraten be- im Nachhinein, von der Polizei erpresst worden zu sein. gingen, als sie noch minderjährig waren. Mancherorts Er selber hatte seine Unschuld immer wieder beteuert, gilt die Todesstrafe auch für Drogendelikte, und nicht sich jedoch erst einige Jahre nach dem Vorfall über- vergessen sollten wir die Vielzahl von Todesurteilen haupt dazu geäußert. Unsere Forderung kann nur sein, (B) nach dem Scharia-Recht: wegen Homosexualität, Ehe- endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen. (D) bruchs oder Apostasie, also dem Abfall vom angeblich „wahren“ Glauben. Sicher ist nämlich: Die internationalen Standards für ein faires Gerichtsverfahren wurden nicht eingehalten. Im März dieses Jahres hat sei- Um die mageren Fakten herum entbrannte in den letzten nen Bericht „Todesstrafen und Hinrichtungen 2011“ 30 Jahren ein hochpolitisierter Glaubenskampf entlang veröffentlicht. China belegt den grausamen ersten Platz. ideologischer Fronten. Es wurde von Justizwillkür und Wie viele Menschen jährlich exekutiert werden, ist nicht Rassismus gesprochen. Dabei mag es ja durchaus sein, ganz klar. Amnesty schätzt ihre Zahl auf mehrere Tau- dass dies die treibenden Gründe im Prozess und für die send. Der Iran mit 360 Hinrichtungen, Saudi-Arabien Verurteilung gewesen sind. Das Problem allerdings ist: mit 82 und der Irak mit 68 Hinrichtungen – allein im Es kann bislang anscheinend nicht wirklich nachgewie- vergangenen Jahr – folgen auf den Plätzen danach. sen werden. Und deshalb kann ich Sie, verehrte Kolle- ginnen und Kollegen der Linken, in Ihrer Forderung, die Als einziges westliches Land halten die USA, bzw. 34 Verantwortlichen für rassistisch motivierte Urteile zur ihrer 50 Bundesstaaten, an der Todesstrafe fest. Positiv Rechenschaft zu ziehen, nur ausdrücklich unterstützen. anzuerkennen ist aber, dass Illinois im vergangenen Allerdings wird das ohne einen entsprechenden Nach- Jahr die Todesstrafe abschaffte und der Gouverneur von weis nicht gelingen. Oregon, John Kitzhaber, verkündete, dass er während seiner Amtszeit in seinem Bundesstaat keine weitere Die Umwandlung der Todesstrafe von Mumia Abu- Hinrichtung zulassen werde. Jamal in eine lebenslange Haft ist zu begrüßen – so bit- ter allerdings eine solche Strafe für einen ist, der seine Dennoch belegten die USA mit 43 Hinrichtungen im Schuld bestreitet. Dies eröffnet aber die Chance für die letzten Jahr den fünften Platz der Liste. Nach den Anga- USA, den Fall ehrlich aufzuarbeiten, daraus zu lernen ben des Death Penalty Information Center saßen im Ap- und Konsequenzen zu ziehen. ril 2011 3 222 Personen im Todestrakt. Und dazu kom- men 78 weitere, denn die US-amerikanischen Richter Etwas unlogisch erscheint mir Ihr Antrag bezüglich verhängten in 78 Fällen erneut die Todesstrafe. Viele der der Forderungen zwei und drei. Hier fordern Sie zum ei- Verurteilten sitzen mehrere Jahre, manche jahrzehnte- nen die Freilassung von Mumia Abu-Jamal – Sie gehen lang, im Todestrakt. Die Justiz hält es dabei nicht für nö- also von seiner Unschuld aus. Zum anderen bieten Sie tig, ihnen mitzuteilen, wann die Strafe vollstreckt werden im nächsten Punkt an, Mumia Abu-Jamal in Deutsch- wird. Das ist eine unmenschliche Behandlung und mei- land aufzunehmen – als Verurteilten; hier gehen Sie also ner Meinung nach psychische Folter. von seiner Schuld aus. Diesen Widerspruch sollten Sie

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24037

Angelika Graf (Rosenheim) (A) vielleicht bis zur nächsten Lesung noch einmal intern lich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktive (C) diskutieren. Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese Praxis in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf Ausset- Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia Abu- zung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Zu Jamal macht mir aber Mut. Genauso wie die weltweiten diesen Ländern gehören leider auch die USA, mit denen Stimmen, die seit einigen Jahren verstärkt gegen die To- wir jedoch grundsätzlich sehr eng und freundschaftlich desstrafe laut werden. Vielleicht gibt es ja Hoffnung auf verbunden sind. Die FDP-Bundestagsfraktion erhebt eine aufgeklärte Debatte über diese steinzeitliche Be- daher die Stimme gegenüber sämtlichen Staaten, welche strafungsmethode. Wir können erfreut feststellen, dass die Todesstrafe vollstrecken, seien es nun demokratische sich weltweit immer mehr Politiker, Präsidenten, Minis- Staaten wie die USA oder autoritäre Staaten wie China, ter und Richter gegen diese grausame Form der Bestra- Iran oder Belarus. fung aussprechen und dass die Anzahl der Länder, die die Todesstrafe verhängen und vollstrecken, laut Am- Selbst wenn sie wie im vorliegenden Fall von Mumia nesty-Bericht zurückgeht. Abu-Jamal letztendlich nicht vollstreckt wird, so ist bereits die Verhängung der Todesstrafe unmenschlich, Allerdings – und das ist das Wasser im Wein der wenn wir uns vergegenwärtigen, was schon allein die Freude – nehmen die nackten quantitativen Zahlen eine Verurteilung zum Tode bei den betroffenen Menschen an gegenläufige Entwicklung. Insgesamt ist die Anzahl der Leid und Existenzangst verursacht. So auch im Fall von offiziell registrierten Vollstreckungen angestiegen von Mumia Abu-Jamal, der wegen Polizistenmord 1982 zum 527 in 2010 auf 676 in 2011. Dies ist vor allem auf den Tode verurteilt wurde. Fast 30 Jahre beschäftigte der deutlichen Anstieg von Hinrichtungen im Mittleren Os- Fall die Justiz, bis die Staatsanwaltschaft die Forderung ten, im Irak, im Iran und in Saudi-Arabien zurückzufüh- nach der Todesstrafe im Dezember 2011 endlich fallen ren. Die Zahlen aus China – geschätzte mehrere Tausend ließ. Dies war ein überfälliger Schritt, der weltweit be- im Jahr – sind da allerdings nicht dabei. grüßt wurde. Ich möchte noch einmal mein Eingangszitat von Kofi Ihr nun vorliegender Antrag, liebe Kolleginnen und Annan in Erinnerung rufen: Ein Staat, der die Todes- Kollegen der Linken, geht jedoch einen Schritt weiter strafe durchführt, stellt sich auf die gleiche Stufe wie und damit zu weit. Nicht nur fordern Sie darin die Bun- ein Mörder. – Daher appelliere ich an die Bundesregie- desregierung unnötigerweise auf, etwas zu tun, was sie rung, sich in kommenden Gesprächen mit der US-Re- bereits umsetzt, nämlich die weltweite Ächtung und gierung – wie immer sie nach dem 6. November ausse- Abschaffung der Todesstrafe einzufordern und aktiv da- hen mag – dafür einzusetzen, dass die Todesstrafe in für einzutreten. Unter Punkt 2 fordern Sie außerdem die allen US-amerikanischen Bundesstaaten abgeschafft (B) Bundesregierung auf, sich gegenüber der US-Regierung (D) wird, und darauf zu drängen, das alle zum Tode Verur- für die Freilassung von Mumia Abu-Jamal einzusetzen. teilten begnadigt werden. Außerdem fordere ich die Bun- Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Einschätzung, desregierung dazu auf, in bilateralen Gesprächen mit dass die Verurteilung von Mumia Abu-Jamal den rechts- allen Ländern, die den Internationalen Pakt über bür- staatlichen Erwartungen, die wir an die USA stellen, gerliche und politische Rechte noch nicht ratifiziert ha- nicht voll entsprochen hat. Namhafte und unabhängige ben, für eine schnelle Ratifizierung zu werben. Ein wei- Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights terer wichtiger Schritt wäre wegen der Vorbildfunktion Watch und Amnesty International hatten wiederholt Europas allerdings auch, wenn auch Polen als letztes darauf hingewiesen, dass juristische Standards in Bezug Mitglied der EU das Protokoll Nr. 13 zur Europäischen auf faire Verfahren während seines Prozesses nicht ein- Menschenrechtskonvention endlich verabschieden gehalten wurden. Natürlich ist das Justizsystem der USA würde. in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Angeklagten nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und frei von jegli- Pascal Kober (FDP): cher Diskriminierung behandelt werden. Als Freund der Wir befassen uns heute in erster Beratung mit einem USA ist es auch unsere Pflicht, unsere amerikanischen Antrag der Linken zum Fall von Mumia Abu-Jamal. Zu- Partner bei gegebenem Anlass darauf hinzuweisen. nächst möchte ich betonen, dass die FDP die Todes- Als Bundestagsabgeordnete ist es von hier aus jedoch strafe unter allen Umständen ablehnt, und zwar völlig nicht möglich, eine Entscheidung anstelle des Justiz- unabhängig von der Frage der Schuld oder Unschuld systems der USA über die Schuld oder Unschuld von der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen dieses Mumia Abu-Jamal zu treffen. Ich möchte die zustän- Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die Todesstrafe digen Behörden der USA jedoch auffordern, die seitens ist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletzt vieler Nichtregierungsorganisationen bestehenden das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durch Zweifel am rechtsstaatlichen Verfahren ernst zu nehmen nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie eine abschre- und auszuräumen. ckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung, noch kann sie aus dem Motiv der Sühne oder der Gerechtig- Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, darauf keit heraus begründet werden. Darum ist die weltweite hinzuweisen, dass dank breiten zivilgesellschaftlichen Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ein erklärtes Engagements die Todesstrafe in den USA auf dem Ziel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeits- Rückzug ist. In den vergangenen fünf Jahren haben vier schwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unser US-Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, zuletzt Koalitionsvertrag hält dieses Ziel auf Seite 126 schrift- Connecticut Ende April dieses Jahres; dem waren Ore-

Zu Protokoll gegebene Reden 24038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Pascal Kober (A) gon und Illinois vorausgegangen. Im November werden als 20 Jahren aktiv unterstützt und sich in vielen Anträ- (C) die Bürger Kaliforniens in einer Volksabstimmung ent- gen hier im Deutschen Bundestag für seine Freilassung scheiden, ob die Todesstrafe auch in dem bevölkerungs- eingesetzt. reichsten US-Bundesstaat abgeschafft werden soll. Ich hoffe inständig, dass sie dem Beispiel der genannten Die Todesstrafe ist eine barbarische Strafe, die mit Staaten folgen, und werde die Abschaffung der Todes- humanitären und aufklärerischen Grundüberzeugungen strafe im Gespräch mit unseren amerikanischen Part- in keiner Weise vereinbar ist. Staaten nehmen sich das nern weiter mit Nachdruck thematisieren. Recht, Menschen legal zu töten, und negieren damit das individuelle Menschenrecht auf Leben. Staaten, die die Todesstrafe noch immer praktizieren, können nicht als Annette Groth (DIE LINKE): moderne Rechtsstaaten angesehen werden. Die Todes- Seit fast 30 Jahren setzen sich weltweit viele Zehntau- strafe ist eine Siegerjustiz, die auf Rache aufbaut. Rache sende Menschen für das Leben von Mumia Abu-Jamal als Grundmotiv von juristischen Entscheidungen ist je- ein. Immer wieder war sein Hinrichtungstermin geplant, doch mit einem modernen Rechtsstaat nicht vereinbar. konnte aber durch die bewundernswerte weltweite Soli- darität verhindert werden. Der Einsatz für Mumia Abu- Die Fraktion Die Linke wird ihren Einsatz gegen die Jamal in der weltweiten Solidaritätsbewegung ist immer Todesstrafe so lange fortsetzen, bis diese weltweit ge- auch ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen die Todes- ächtet und verboten ist. Als Fraktion haben wir immer strafe. Tausende von Institutionen, Organisationen und die Anträge gegen die Todesstrafe in China, im Iran Einzelpersonen haben sich für das Leben von Mumia oder in anderen Staaten begrüßt und unterstützt, selbst Abu-Jamal und gegen die Todesstrafe eingesetzt. Ihnen wenn wir bei interfraktionellen Anträgen ausgegrenzt allen gilt unser Respekt und Dank. wurden. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dass 2003 wurde Mumia Abu-Jamal in Paris zum Ehren- die Regierungsfraktionen, aber auch die SPD gegen die bürger ernannt. Angela Davis, selbst eine prominente Anträge der Fraktion Die Linke, die gegen die Todes- ehemalige politische Gefangene in den USA, hatte stell- strafe in den USA gerichtet waren, gestimmt haben. Es vertretend für Mumia Abu-Jamal die Auszeichnung in macht die menschenrechtspolitische Arbeit der anderen Paris entgegengenommen. Erst vor wenigen Tagen hat Fraktionen nicht glaubwürdig, wenn sie bei ihrem „Ver- die französische Stadt Bobigny eine Straße nach Mumia bündeten“ USA keine klaren Worte gegen die Todes- Abu-Jamal benannt. Dies sind Beispiele, wie auch Kom- strafe finden, aber bei Staaten wie Iran oder China munen und Parlamente ihre Solidarität zeigen können. schon. Die Fraktion Die Linke lehnt die Todesstrafe ab, Ich hoffe, dass auch in Deutschland viele Städte und gleich in welchem Land sie verhängt wird. Die gleiche Kommunen diesem Beispiel folgen. Klarheit wünschen wir uns auch von den anderen Frak- (B) tionen. (D) Ein wichtiger Schritt in Deutschland waren der Be- schluss der Bremischen Bürgerschaft „Einsatz für die In den Todestrakten der USA sitzen in der Regel keine Abschaffung der Todesstrafe und ihrer Vollstreckung“ Reichen, sondern die Armen, Ausgegrenzten und Opfer und ihre Solidarität mit der bundesweiten Kampagne zur des ungerechten rassistisch geprägten Justizsystems der Abwendung der Vollstreckung des Todesurteils an USA. Fast die Hälfte sind Afroamerikaner. Dazu kom- Mumia Abu-Jamal. Einen solchen Beschluss hätten wir men überdurchschnittlich viele Angehörige anderer eth- uns auch hier im Deutschen Bundestag gewünscht. Es nischer Minderheiten. Weiße US-Amerikaner werden in war jedoch auch in der Zeit von Rot-Grün nicht möglich, den USA viel seltener zum Tode verurteilt. Das liegt einen solchen Beschluss zu fassen, da sich auch die rot- nicht zuletzt daran, dass sie aufgrund der Geschichte grüne Bundesregierung einem solchen Signal verwei- von Sklaverei und Kolonialismus in der Mehrheit über gert hat. mehr materiellen Wohlstand verfügen und daher häufig in der Lage sind, eine angemessene Verteidigung vor Jetzt ist Mumia Abu-Jamal nach 30 Jahren endlich Gericht zu organisieren. Aber auch in den USA wird der aus der Todeszelle in den „normalen Vollzug“ verlegt Widerstand gegen die Todesstrafe immer stärker. Viele worden. Mit seiner Verlegung hat Mumia Abu-Jamal Menschen verstehen die Zusammenhänge zwischen Ras- endlich die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen, sismus und dieser Form der Klassenjustiz. ohne mit einer Hinrichtung rechnen zu müssen. Dies ist ein wichtiger Schritt. Trotzdem bleiben wir bei unsere Mumia Abu-Jamal hat diese Tatsachen als Journalist Forderung: „Lasst Mumia Abu-Jamal endlich frei!“ immer klar benannt. Daher wird er von vielen auch als „Stimme der Unterdrückten“ bezeichnet. Er spricht Wir bitten alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, nicht nur für Gefangene oder für die Marginalisierten in unseren Antrag zu unterstützen, damit diese Forderung den USA, sondern für uns alle, die gegen die Todesstrafe endlich auch von der Bundesregierung gegenüber den USA vorgetragen wird. kämpfen. Die Forderungen von Mumia Abu-Jamal werden von vielen verstanden und weitergetragen. Sie Durch seine aufrechte Haltung und seinen immer- motivieren Menschen in vielen Ländern der Welt, die be- währenden Einsatz gegen die Todesstrafe ist Mumia stehenden Verhältnisse zu hinterfragen und kämpferisch Abu-Jamal zum Sinnbild für den Kampf gegen die dazu beizutragen, diese Verhältnisse zu ändern. Mumia Todesstrafe geworden. Für viele Menschen wurde er Abu-Jamal ist ein Symbol für den Kampf um Gerechtig- Vorbild und Hoffnung zugleich. Auch die Fraktion Die keit und gegen eine rassistisch motivierte Politik gegen Linke hat seinen Kampf gegen die Todesstrafe seit mehr Minderheiten.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24039

Annette Groth (A) In unserem Antrag fordern wir die weltweite Ächtung Recht verlieren, weiterzuleben. Nein! Kein Staat hat das (C) und Abschaffung der Todesstrafe. Wir fordern die Recht, über Leben oder Tod seiner Bürger zu entschei- Bundesregierung auf, sich nachdrücklich gegenüber der den. Das Recht auf Leben erwirbt jeder Mensch mit der Regierung der USA für die Freilassung von Mumia Abu- Geburt. Niemand darf es ihm nehmen, egal was er oder Jamal einzusetzen. Dies wollen wir mit einem Angebot sie getan hat. an die USA verbinden, Mumia Abu-Jamal in Deutsch- Diese Universalität des Rechts auf Leben gebietet es land Aufnahme zu gewähren. Mumia Abu-Jamal sitzt jedem politischen Akteur, jeder Regierung, auch der seit 30 Jahren unschuldig im Gefängnis. Jetzt ist es an Bundesregierung, sich gegenüber allen Staaten, in de- der Zeit, dass er endlich in Freiheit leben kann. Bitte nen die Todesstrafe praktiziert wird, mit der gleichen unterstützen Sie dieses Anliegen. Intensität für deren Abschaffung einzusetzen. Wirt- schaftliche oder machtpolitische Interessen sollten dem Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Engagement für Menschenrechte und Menschenwürde Seitdem ich das letzte Mal im Bundestag eine Rede nicht im Wege stehen. Länder wie Deutschland verlieren zum Thema Todesstrafe gehalten habe, sind eineinhalb ihr Gesicht, wenn ihre Regierungen bei Gesprächen mit Jahre vergangen. Heute stelle ich mit Bedauern fest, den USA oder China nicht immer wieder und bei jeder dass sich die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu Gelegenheit ihren Standpunkt und ihre menschenrechtli- befassen, seitdem keineswegs verringert hat. Nach wie chen Errungenschaften betonen, nämlich den unbeding- vor gilt es für Deutschland, sich auf bilateraler Ebene, ten Schutz der menschlichen Würde und des Lebens. Ge- auf der Ebene der Europäischen Union und auf der rade stolze Nationen wie die USA und China, die auf Ebene der Vereinten Nationen mit größten Anstrengun- Gesichtswahrung großen Wert legen, sollten für dieses gen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzu- Interesse Verständnis haben. setzen. In diesem Sinne stimmt meine Fraktion dem An- trag der Linken zu. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Vor ein paar Tagen konnte man in der Presse einen Drucksache 17/8916 an die in der Tagesordnung aufge- von Guido Westerwelle und anderen europäischen Au- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ßenministern verfassten Artikel lesen, der sich ebenfalls verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung mit dem Thema befasst. Darin ist von ermutigenden so beschlossen. Zahlen die Rede: In den vergangenen 20 Jahren hätten über 50 Staaten der Todesstrafe „den Rücken gekehrt“. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Ich freue mich über jeden Staat mehr, der dies tut; je- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- doch gibt es auch andere Zahlen: Im Jahr 2011 wurden (B) richts des Ausschusses für Menschenrechte und (D) mindestens 680 Personen hingerichtet, während es im Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag Jahr 2010 noch 527 waren; des Weiteren wurden annä- der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, hernd 2 000 Todesurteile ausgesprochen, und mehr als Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und 18 000 Menschen warteten auf die Vollstreckung ihres der Fraktion DIE LINKE Todesurteils. Diese Zahlen sind eher ernüchternd als ermutigend. Unterm Strich zeigen sie nämlich zwei Menschenrechte und Demokratie in den Staa- Tendenzen. Die positive Tendenz wird in Herrn ten des Südkaukasus fördern Westerwelles Artikel hervorgehoben: Immer mehr Staa- – Drucksachen 17/7645, 17/8681 – ten schaffen die Todesstrafe ab. Die negative ist die, die meiner Meinung weitaus mehr ins Gewicht fällt: Die Berichterstattung: Zahl der Hingerichteten nimmt zu. Abgeordnete Erika Steinbach Ullrich Meßmer Jede Person, die durch die Todesstrafe ihr Leben ver- Marina Schuster liert, erinnert uns daran, dass es der Menschheit seit Katrin Werner Hunderten von Jahren nicht gelungen ist, diesen men- Volker Beck (Köln) schenverachtenden Akt des Strafvollzugs abzuschaffen. Die Todesstrafe gehört zu den ältesten Strafmaßnahmen Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die der Menschheit und scheint leider jede Gesellschafts- Reden zu Protokoll genommen. form, auch wenn sie sich für noch so aufgeklärt hält, zu überleben. Wie das Beispiel einiger Bundesstaaten in Erika Steinbach (CDU/CSU): den USA zeigt, gilt das auch für die Demokratie. Und ein „Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Blick auf China, das weltweit die meisten Todesurteile Südkaukasus fördern“, so lautet der Titel des Antrags, vollstreckt, reicht, um zu erkennen, dass es sich mit dem den wir heute abschließend beraten. Wie unterschiedlich Kommunismus genauso verhält. das Verständnis dessen ist, was unter einer solchen Überschrift gefasst werden kann, wird klar, wenn man Aber ganz gleich, von welchem Land oder welcher diesen Antrag liest. Den Verfassern rate ich, die ideolo- Staatsform gesprochen wird – was ihnen allen gemein- gische Brille einmal beiseite zu legen, das klärt den sam ist, ist, dass die Verantwortlichen meinen, dass sie Blick. andere Menschen aufgrund eines begangenen Verbre- chens mit dem Tod bestrafen müssten, dass Personen, So wird behauptet, es erfolgte mithilfe der EU- die gegen Gesetze und Sittlichkeit verstoßen haben, das Aktionspläne der Europäischen Nachbarschaftpolitik 24040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Erika Steinbach (A) eine Unterordnung der Menschenrechte unter einen neo- Menschenrechtspolitik Deutschlands in seiner Außen- (C) liberalen Wirtschaftsumbau mit der Folge der Zementie- und Entwicklungspolitik darauf ausgerichtet, auch den rung von Massenarmut. Mit einer solchen Aussage leiten WSK-Rechten zur Umsetzung zu verhelfen. Tenor des An- die Verfasser ihren Antrag ein. trags ist jedoch, die WSK-Rechte den bürgerlichen und politischen Rechten voranzustellen. Diesem Ansinnen Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Projekt der Östli- widerspreche ich vehement. chen Partnerschaft wird das Hauptziel verfolgt, die EU und die Partnerländer unter dem Dach der Europäischen Die Europäische Union nutzt das Instrument des Men- Nachbarschaftspolitik politisch und wirtschaftlich einan- schenrechtsdialogs mit ihren Partnerländern Armenien der anzunähern. Beziehungen sollen in den Bereichen und Georgien. Die Bundesregierung thematisiert die Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur intensiviert Menschenrechtslage in bilateralen Gesprächen mit allen werden. Es geht auch darum, Kontakte zwischen den drei Südkaukasus-Staaten regelmäßig und mahnt die Ein- Menschen in der EU und den Partnerländern zu fördern. haltung der entsprechenden internationalen Verpflich- tungen an. Flankiert wird dies durch die Unterstützung im Das ist für die Länder, denen keine Beitrittsperspek- Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Schwer- tive in die EU eröffnet wird, ein wichtiges Projekt. Denn punktprogramm „Demokratie, Kommunalentwicklung hier entsteht durch Austausch eine Annäherung an euro- und Rechtsstaat“ durch die Rechts- und Justizberatung in päische Werte. Dabei spielen die Menschenrechte eine den drei Südkaukasus-Staaten. wesentliche Rolle. Der Anstoß politischer Reformen in diesen Ländern, die dringend notwendig sind, rangiert Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des weit vor wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Beispiel Südkaukasus fördern Deutschland und die Europäische im Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist der wich- Union bereits vielfältig. Den vorliegenden Antrag lehnen tigste Handelspartner für die drei Südkaukasus-Staaten. wir ab, da er in bekannter Tradition der Verfasser ein un- Das steht dem Engagement der EU im Bereich der Men- realistisches Bild zeichnet und unterstellt, dass dem nicht schenrechte in der Region nicht entgegen, sondern beför- so sei. dert es. Dieser Tage wurde der Europäischen Union der Frie- Ullrich Meßmer (SPD): densnobelpreis für das Jahr 2012 verliehen. Das Nobel- Die Staaten des Südkaukasus, Georgien, Armenien preiskomitee begründete seine Entscheidung mit dem und Aserbaidschan, haben seit ihrer Unabhängigkeit Beitrag der Europäischen Union zu Frieden, Verständi- 1991 schwierige Prozesse im Zuge der Konsolidierung gung, Demokratie und Menschenrechten in den vergan- ihrer Staatlichkeit durchlaufen. Zwischenstaatliche Aus- genen 60 Jahren. Dieser Beitrag ist nicht hoch genug zu einandersetzungen und Nationalitätenkonflikte spielten (B) schätzen. hierbei ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Not, (D) Flüchtlingselend und innenpolitische Instabilität. Und So enthält auch der Aktionsplan, der im Rahmen der auch wenn alle drei Länder mittlerweile ihre Staatlich- Europäischen Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschan keit konsolidiert haben und Mitglied im Europarat und im Jahr 2006 vereinbart wurde, wichtige Reformforde- Partnerländer der Europäischen Nachbarschaftsinitia- rungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürger- tive geworden sind, ist es richtig, sich auch weiterhin in- rechte und demokratische Standards. tensiv mit diesen Länder zu beschäftigen und Hilfe bei der Weiterentwicklung von Demokratie und Menschen- Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgen- rechten anzubieten. Denn nach wie vor ist die Men- den staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren haben schenrechtslage in allen drei Ländern problematisch. Armenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungen Insofern ist der Antrag zu begrüßen. durchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und wirt- schaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren. Kriege Lassen Sie uns die einzelnen Länder ein wenig ge- und Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen zählten nauer betrachten. In Armenien harrt die gewaltsame dazu. Es ist dringend notwendig, die Menschenrechts- Niederschlagung der Massenproteste gegen die umstrit- lage in den drei Südkaukasus-Staaten zu verbessern. Ge- tene Präsidentenwahl 2008 weiterhin der Aufklärung. rade weil die menschenrechtsverachtende Zeit vor der Der regierungskritische Sender „Gala TV“ hat unlängst Unabhängigkeit immer noch nachwirkt, ist das so seine Sendelizenz verloren. Auch wird das Recht auf schwer. Im vorliegenden Antrag werden jedoch Ursache Kriegsdienstverweigerung nicht eingehalten, obwohl es und Wirkung verwechselt. in der Verfassung verankert ist. Besonders die Situation der WSK-Rechte hat sich in Armenien verschärft. 34 Sie erheben gern und immer wieder die Forderung, Prozent der armenischen Bevölkerung leben in Armut, die Bundesregierung müsse die wirtschaftlichen, sozia- weitere 20 Prozent gelten als unmittelbar armutsgefähr- len und kulturellen Menschenrechte den bürgerlichen det. Ein weiteres gravierendes Problem stellt die ge- und politischen Menschenrechten gleichstellen. Die schlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dar. Häusli- Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte bekräftigte che Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor stark 1993, dass die WSK-Rechte untrennbarer und gleichran- verbreitet, wobei es für betroffene Frauen kaum Schutz- giger Teil der allgemeinen Menschenrechte sind und in räume gibt. einem unauflöslichen Zusammenhang mit den bürgerli- chen und politischen Rechten stehen. Die Bundesregie- In Georgien hat sich die Menschenrechtslage nach rung bekennt sich zur Gleichrangigkeit sowie zur Inter- dem Kaukasuskrieg 2008 weiter verschlechtert. Auch dependenz aller Menschenrechte. Deshalb ist die hier gibt es bislang keine Aufklärung zu der Gewaltan-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24041

Ullrich Meßmer (A) wendung durch Sicherheitskräfte während der Proteste ihrer Gesamtheit verwirklicht werden, da sie einander (C) gegen Präsident Saakaschwili. Auch die Aufklärung unmittelbar bedingen und unmittelbar voneinander ab- möglicher Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht wäh- hängen. rend des Kaukasuskrieges ist bislang unterblieben. Umso mehr erfreut es, dass in Georgien mit den Präsi- Die Darstellung der Situation in Aserbaidschan ist dentschaftswahlen 2012 ein demokratischer Wechsel an daher im Antrag eindeutig zu positiv und teilweise der Spitze geglückt scheint: Der Herausforderer falsch, auch wenn – und das möchte ich hier ausdrück- Saakaschwilis, der Milliardär Iwanischwili, hat die Prä- lich betonen – eine Verminderung von Armut natürlich sidentschaftswahlen vom Oktober 2012 nicht nur klar immer zu begrüßen ist. Ein ausschließliches Fokussieren für sich entschieden, sondern er wurde auch durch den auf staatliche Umverteilung und Sozialprogramme und unterlegenen amtierenden Präsidenten anerkannt, der die generelle Absage an Privatisierungen helfen nicht in damit gleichzeitig seine Niederlage einräumte. Der neue allen Situationen weiter. Häufig benötigen Länder zur Präsident sieht sich allerdings großen Erwartungen und Verbesserung der Durchsetzung der WSK-Rechte ein Herausforderungen gegenüber. Das Land benötigt drin- Bündel von Maßnahmen, und hierbei können Privat- gend Sozialprogramme, besonders die medizinische Ver- investitionen und private Initiativen durchaus ihren Bei- sorgung muss verbessert werden. Auch die Versorgung trag leisten. In diesem Sinne ist der Antrag, der teilweise der Bevölkerung, von der 40 Prozent in Armut lebt, gilt richtige Analysen und Forderungen enthält, nicht mitzu- als große und entscheidende Herausforderung für den tragen. Die Unterstützung der einzelnen Länder selber neuen Präsidenten. Dabei gilt es auch die besonders ist aber gleichwohl selbstverständlich wie auch politisch schlechte Situation der Binnenflüchtlinge im Auge zu be- geboten. halten. Des Weiteren müssen der Minderheitenschutz verbessert und die Korruptionsbekämpfung vorange- Marina Schuster (FDP): bracht werden. Auch die Medienfreiheit muss weiter ver- Es ist unbestreitbar, dass wir uns für eine Förderung bessert werden, damit regierungskritische Journalisten der Menschenrechte und der Demokratie in den Staaten nicht weiter Repressalien oder wirtschaftlichen Schika- des Südkaukasus einsetzen müssen. Insofern kann ich nen ausgesetzt werden. dem Titel – allerdings nur dem Titel – des vorliegenden Antrags der Linken zustimmen. Inhaltlich zeigt sich je- In Aserbaidschan bleibt vor allem die Lage bei den doch eine Perspektive von Menschenrechten, die nicht bürgerlichen und politischen Menschenrechten weiter falscher sein könnte. Sie ist schlicht selektiv. angespannt. Noch immer werden Demonstrationen der Opposition in der Hauptstadt Baku verboten, werden re- Die Linke hat bereits an anderer Stelle – ich erinnere gierungskritische Medien stark eingeschränkt und regie- an die Debatten zu Kuba – ihre Auffassung gezeigt, die (B) rungskritische Journalisten und Blogger verfolgt und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen- (D) mit Haftstrafen bedroht. Daneben ist die Korruption rechte gegen bürgerliche und politische Rechte auszu- weit verbreitet. Von den 200 000 Kriegsflüchtlingen aus spielen. Dieser Ansatz ist falsch. Wir unterscheiden eben Armenien und den 800 000 Binnenvertriebenen als nicht nach Wertigkeit unterschiedlicher Menschenrechts- Folge des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um formen. Schutz und Wahrung aller Menschenrechte sind Berg-Karabach leben noch etwa 20 Prozent in unzurei- und bleiben Priorität der Bundesregierung. Dabei sind chenden Wohnverhältnissen und es gibt insgesamt Pro- die WSK-Rechte untrennbarer und gleichrangiger Teil bleme mit ihrer Integration. Positiv lässt sich die Tole- der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und ranz gegenüber Minderheiten und die religiöse Toleranz stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den hervorheben. Anders als in Armenien und Georgien sind bürgerlichen und politischen Menschenrechten. Erfolge bei der Armutsbekämpfung in Aserbaidschan er- kennbar: Der Armutsanteil konnte von knapp 50 Prozent Der Antrag führt an, dass sich die Situation der WSK- 2001 auf nunmehr 9 Prozent gesenkt werden. Die wirt- Rechte im Südkaukasus aufgrund von Privatisierungs- schaftliche Dynamik des Landes, die vor allem von der politik verschlechtert habe. Diese Annahme stellt Ursache Erdöl- und Gasindustrie getragen wird, machte Sozial- und Wirkung in einen völlig falschen Zusammenhang. programme möglich, die zusammen mit staatlicher Um- Weiterhin fordert die Linke die Bundesregierung auf, verteilungspolitik den Armutsanteil senken konnten. einer weiteren Privatisierung in den Ländern des Süd- Dies ist – auch im Sinne der WSK-Rechte – zu begrüßen. kaukasus vorzubeugen, weil die Linken ihr Mantra wie- Es darf jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass die derholen, jede Privatisierung sei des Teufels. Das ist Menschenrechtslage allein dadurch in Aserbaidschan falsch, und es widerspricht nicht nur dem liberalen Geist um ein Vielfaches besser sei als in den anderen Ländern der Freiheit, für den wir als FDP-Fraktion engagiert des Südkaukasus. Gerade mit Blick auf die bürgerlichen eintreten, sondern auch den Grundsätzen von wirt- und politischen Rechte ist die Lage in Aserbaidschan si- schaftlichem Freihandel, auf die sich zum Beispiel die cherlich schlechter als in Georgien, wo zum ersten Mal Europäische Union gründet. Wahlen nach demokratischen Standards stattgefunden und damit zu einem demokratisch legitimierten Wechsel In dem Antrag wird außerdem übersehen, dass eine an der Staatsspitze geführt haben. Auch wäre der positive wirtschaftliche Entwicklung und eine positive Schluss falsch, die WSK-Rechte höher als die bürgerli- Menschenrechtsentwicklung, gerade der WSK-Rechte, chen und politischen Rechte anzusetzen. Ebenso ist es häufig einhergehen. Außerdem fehlt die historische Ein- falsch, die bürgerlichen und politischen den WSK-Rech- bettung komplett: Der schlechte Zustand der WSK- ten vorzuziehen. Menschenrechte können immer nur in Rechte im Südkaukasus ist natürlich auch auf den zum

Zu Protokoll gegebene Reden 24042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Marina Schuster (A) Teil desolaten Zustand der Wirtschaft zurückzuführen. Westens für die vermeintlichen Demokratiefortschritte (C) Dieser ergibt sich aber auch aus den postsowjetischen in Georgien offenbar verfrüht und politisch unzutreffend Rahmenbedingungen und den Strukturen, die damals gewesen sind. Vor allem die deutsche Bundesregierung aufgebaut wurden. hat die Menschenrechtsbilanz und den neoautoritären Politikstil unter Präsident Saakaschwili stets beschö- Für besonders gefährlich halte ich den selektiven nigt, da Georgien der engste Partner der USA, NATO Blick des Antrags auf Aserbaidschan. Liebe Kollegen und EU in der Region ist. Das kennen wir schon zur und Kolleginnen von der Linken, bis heute ist mir nicht Genüge mit Blick auf die Menschenrechtsdefizite im ei- klar, warum Sie die interfraktionelle Erklärung des genen Land und in anderen Ländern mit prowestlich Menschenrechtsauschusses zu Aserbaidschan nicht mit- orientierten, autoritären Regimen. Wer sich gegenüber getragen haben. Schlimmer, in Ihrem Antrag loben Sie dem Westen kooperativ verhält, wird hofiert, und wer die Innenpolitik des Landes. In keinem Wort wird er- sich dazu eine in Widerspruch stehende, eigenständige wähnt, dass Aserbaidschan bis heute seinen Verpflich- Politik leistet, wird häufig sanktioniert. Die Linke wird tungen aus der Europäischen Menschrechtskonvention nicht müde werden, die Bundesregierung aufzufordern: nicht voll nachkommt. Das Auftreten Aserbaidschans in Beenden Sie endlich ihre Politik der Doppelstandards Straßburg hat eindrücklich bewiesen, dass wir auch in bei Menschenrechten! Zukunft nicht auf große Veränderungen und demokrati- sche Fortschritte hoffen dürfen. Immerhin – und dies stimmt mich vorsichtig optimis- Voraussetzung für den Beitritt Aserbaidschans war tisch – ist die Aufarbeitung des Folterskandals in Geor- unter anderem die Freilassung von politischen Gefange- gien selbst in vollem Gang. Mehrere Minister mussten nen. Diese Verpflichtung hat das Land bisher nicht er- bereits ihren Hut nehmen und ein Großteil der Gefäng- füllt. Trotz mehrmaliger Aufforderungen hat sich Aser- nisleitungen und des Wachpersonals soll ausgetauscht baidschan geweigert, dem Sonderberichterstatter bei werden. Zumindest scheinen die Zeiten, in denen ein der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, solcher Skandal ohne nennenswerte Folgen blieb, end- Christoph Strässer, ein Visum zur Einreise nach Aser- gültig vorüber zu sein. Hierzu gehört auch der von den baidschan auszustellen. Nachdem vor wenigen Wochen georgischen Wählerinnen und Wählern herbeigeführte entsprechend einem aus Baku geäußerten Wunsch die politische Wechsel bei den Parlamentswahlen am 1. Ok- Beschränkung des Mandates allein auf politische Gefan- tober 2012. Sofern der friedliche Machtwechsel gelingt, gene in Aserbaidschan fallen gelassen wurde, hat Aser- kann dies als starkes Signal für die Demokratie mit baidschan dem Sonderberichterstatter für politische Ge- überregionaler Bedeutung verstanden werden. Auch fangene dennoch kein Visum ausgestellt, sodass eine wenn zuletzt der Folterskandal viel Wasser auf die Müh- Reise abermals abgesagt werden musste. Das Verhalten len des siegreichen Oppositionsbündnisses „Georgi- (B) (D) Aserbaidschans ist nicht akzeptabel. scher Traum“ gelenkt hat, bleibt die soziale Frage das größte innenpolitische Problem Georgiens. Über die Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt einge- Hälfte der georgischen Bevölkerung lebt seit der Un- hen: Der Antrag versäumt eine grundsätzliche politische abhängigkeit vor über zwanzig Jahren in Armut. und sicherheitspolitische Einbettung. Nach wie vor gibt es schwelende Konflikte zwischen den Staaten des Süd- Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt in unserem kaukasus. Auch das erlebe ich immer wieder in der Par- Antrag. Wie in der Beschlussempfehlung des federfüh- lamentarischen Versammlung des Europarates. Natür- renden Ausschusses steht, meinten einige Kolleginnen lich spielt der Berg-Karabach-Konflikt hier eine große und Kollegen aus anderen Fraktionen, wir würden in Rolle. Sicherheitspolitische Aspekte gehören aber zur unserem Antrag die WSK-Rechte einseitig in den Vor- Diskussion der Entwicklung der betreffenden Länder dergrund stellen. Dazu kann ich nur sagen: Entweder dazu. Und eine wichtige Prämisse der EU-Nachbar- haben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen oder schaftspolitik ist ja gerade die Konfliktprävention. Auch nicht richtig verstanden. Die Linke fordert in dem hierauf geht der vorliegende Antrag nicht ein. Antrag die Bundesregierung wörtlich auf, „in der Men- schenrechts-, Entwicklungs- und Außenpolitik Deutsch- Selbstverständlich wird sich die Bundesregierung lands grundsätzlich den wirtschaftlichen, sozialen und auch weiterhin energisch für eine Förderung der Men- kulturellen Menschenrechten den GLEICHEN Stellen- schenrechte in Armenien, Aserbaidschan und Georgien wert einzuräumen wie den bürgerlichen und politischen einsetzen. Der Antrag der Linken ist hierzu jedoch nicht Menschenrechten“. Von einer Besserstellung der WSK- der richtige Ansatz und ist deshalb schlichtweg abzuleh- Rechte gegenüber den bürgerlichen und politischen nen. Rechten kann folglich keine Rede sein. Die jeweiligen Rechte ergänzen sich vielmehr gegenseitig und hängen Katrin Werner (DIE LINKE): voneinander ab. Gerade deshalb müssen aber die Der jüngste Folterskandal in georgischen Gefängnis- Aktionspläne der EU-Nachbarschaftspolitik mit den sen unterstreicht die Aktualität unseres Antrags. Der Südkaukasus-Staaten dringend ergänzt werden, weil sie Menschenrechtslage in den Staaten des Südkaukasus bislang die wirtschaftlichen und sozialen Rechte stark muss dringend größere Aufmerksamkeit geschenkt wer- vernachlässigen und sich vornehmlich auf gute Regie- den. Die Bilder und Videos der misshandelten, gefolter- rungsführung, Korruptionsbekämpfung und neolibera- ten, vergewaltigten und gedemütigten Häftlinge haben len Wirtschaftsumbau konzentrieren. Es ist jedoch in mich tief erschüttert. Der Folterskandal zeigt exempla- diesen Ländern, vor allem in Georgien und Armenien, risch, dass die jahrelangen Vorschusslorbeeren des eine stärkere staatliche Sozialpolitik erforderlich, um

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24043

Katrin Werner (A) die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölke- Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für (C) rungsmehrheit zu stabilisieren und zu verbessern. Wenn eine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Südkau- Sie dies ablehnen, dokumentieren sie damit nur, dass Sie kasus einzusetzen und hierfür in den verantwortlichen an der Ideologie des ungehemmten Marktradikalismus Gremien wie der Minsker Gruppe der OSZE deutlich festhalten wollen und dass Ihnen die Lebensbedingun- aktiver mitzuarbeiten und zu diesem Zweck auch enger gen der Bevölkerung egal sind. Das sollten Sie dann an mit Russland zu kooperieren. Zivile Konfliktlösungen dieser Stelle auch ehrlicherweise zugeben. wären für die Situation der Menschen und die Demokra- tieentwicklung im Südkaukasus weitaus wichtiger als Ähnlich absurd ist die Behauptung, wir würden die neue Freihandelsabkommen mit der EU, von denen nur Situation bei den bürgerlichen und politischen Men- europäische Großkonzerne und die politischen Eliten schenrechten in Aserbaidschan schönreden. In unserem profitieren. Aus diesem Grund werben wir um Zustim- Antrag steht unmissverständlich, dass in allen drei Süd- mung zu unserem Antrag und lehnen die Beschlussemp- kaukasus-Republiken jegliche Formen repressiver fehlung des federführenden Ausschusses ab. Gewaltausübung durch die dortigen Regierungen unter- bleiben sollen, freie und faire Wahlen durchgeführt und Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE die Versammlungs-, Meinungs-, Medien- und Pressefrei- GRÜNEN): heit uneingeschränkt garantiert werden müssen. Ge- Am 15. Dezember des letzten Jahres hielt ich die erste nauso müssen selbstverständlich in allen drei Ländern Rede zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke. umgehend alle gewaltlosen politischen Gefangenen frei- Meine Kritik an Ihrem Antrag zielte vor allem auf die ne- gelassen werden. Aserbaidschan bildet dabei keine Aus- gative Einschätzung der Europäischen Nachbarschafts- nahme. politik in Bezug auf die südkaukasischen Staaten ab, wo- gegen die Lage in Aserbaidschan deutlich zu unkritisch Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene dargestellt wurde. Deshalb werden und können wir dem es gibt und nach welchen Kriterien jemand als ein poli- Antrag nicht zustimmen. tischer Gefangener gilt, müssen aber stimmen. Ich bedauere es sehr, dass der Europarat in dieser Frage Heute möchte ich vor dem Hintergrund der aktuellen zutiefst gespalten ist. Dass es bei der Zahl von politi- Entwicklungen meine Thesen aus dem Vorjahr überprü- schen Gefangenen erhebliche Unterschiede zwischen fen. Ich beginne mit Georgien. Meine Fraktion hat in ei- den drei Ländern gibt, ist eine Tatsache, die von interna- nem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache 17/8778, tionalen Menschenrechtsorganisationen bestätigt wird. im Februar 2012 für eine engere Kooperation mit Geor- Menschenrechtsverletzungen und politische Strafjustiz gien plädiert. Zugleich haben wir aber auch auf die de- mokratischen und menschenrechtlichen Defizite im (B) gibt es auch in christlichen Ländern. (D) Land hingewiesen, darunter unter anderem die prekäre Ein wichtiger Grund für ausbleibende Fortschritte Lage in den georgischen Gefängnissen. Genau diese bei Menschenrechten und Demokratie sind die schwe- Missstände, dazu noch die dort stattfindende Folter, wa- lenden Konflikte in der Südkaukasus-Region. Sie dienen ren ein entscheidender Grund für die Abwahl der Regie- den dortigen Regierungen häufig als Rechtfertigung rungspartei von Präsident Saakaschwili. Deshalb tut die dafür, dass die Verteidigungs- und Abwehrbereitschaft neue Regierung gut daran, nun – wie angekündigt – gegen äußere Gegner zunächst wichtiger sei als die glaubwürdige Reformen im Strafvollzug anzugehen. Die Demokratieentwicklung in den Staaten selbst. Das Wahlen in Georgien haben zu einem Regierungswechsel Gegenteil dessen wäre aber richtig: Fortschritte bei geführt. Am Mittwoch konstituiert sich das neue Parla- Demokratie und Menschenrechten würden die Vertrau- ment, danach wird der Ministerpräsident gewählt. Erst- ensbildung zwischen den verfeindeten Konfliktparteien mals seit der Unabhängigkeit steht Georgien vor der fördern und die Erfolgsaussichten für friedliche Lösun- Herausforderung, eine Kohabitation zu gestalten, das gen der ethnoterritorialen Konflikte erhöhen. Die inner- heißt, Präsident und Ministerpräsident gehören unter- staatlichen Konflikte in Georgien um die abtrünnigen schiedlichen Parteien an. Mit der ersten Benennung von Provinzen Abchasien und Südossetien sowie der zwi- Kabinettsposten setzte der künftige Ministerpräsident schenstaatliche Konflikt Armeniens und Aserbaidschans Iwanischwili positive Signale. Er macht keine Zuge- um Berg-Karabach können nur nach den völkerrechtli- ständnisse an die nationalkonservativen Kräfte, denen chen Prinzipien der Gewaltfreiheit, der territorialen In- er im Wahlkampf an einigen Stellen auf seiner Liste be- tegrität, der Staatensouveränität und dem inneren dauerlicherweise Unterschlupf geboten hatte. Ebenso Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten beigelegt positiv hervorzuheben ist, dass sich die zukünftige Re- werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht gleichbe- gierung im Parlament auf eine Dreifraktionenkoalition deutend mit einem Anspruch auf einen eigenen Staat. stützen wird. Von den Konfliktparteien ist zu verlangen, dass sie alles Der Wahlgewinner hat mehrfach betont, am Ziel der unterlassen, was diesbezügliche Spannungen unter ih- euroatlantischen Integration Georgiens festzuhalten. nen anheizt und Vertrauen zerstört. Die Glorifizierung Daran muss man ihn messen. Seine erste Auslandsreise von Mördern als Nationalhelden und die Tötung von ist nach Washington geplant. Interessant erscheint mir Zivilisten durch Heckenschützen, darunter selbst min- ferner, wie genau eine pragmatische Neugestaltung der derjährige Kinder, sind klarer Ausdruck von fortbeste- georgisch-russischen Beziehungen aussehen wird. Auf hendem Feinddenken, das Versöhnungsfortschritte und jeden Fall sollte Deutschland diesen Annäherungspro- Friedenslösungen massiv erschwert. zess an Russland aktiv unterstützen. Erst nach einer Neu-

Zu Protokoll gegebene Reden 24044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

Viola von Cramon-Taubadel (A) gestaltung der Russland-Politik wird auch wieder Bewe- politische Oppositionelle sollte ebenso einen Vorrang in (C) gung in die festgefahrenen Konflikte um Abchasien und der Zusammenarbeit mit Aserbaidschan haben. Bei mei- Südossetien kommen. Einen konstruktiven Beitrag kann nem letzten Besuch hörte ich von Oppositionspolitikern, hier sicherlich der neue Minister Paata Zakareischwili wie insbesondere der Druck auf die eigene Familie von der Republikanischen Partei leisten. Wie kaum ein wächst. Viele sind diesem nicht gewachsen und haben anderer hat er sich seit dem Ausbruch der Konflikte zu häufig den Wunsch, für eine bestimmte Zeit das Land zu Beginn der 1990er-Jahre immer wieder für eine Aussöh- verlassen. nung eingesetzt und genießt auf beiden Seiten Vertrauen. Deutschland und die EU müssen Georgien mit glaub- Ein besonders unschönes Beispiel für die Abschaf- würdigen Ansätzen für eine Einbindung der Sezessions- fung der Pressefreiheit ist der staatlich gesteuerte Bank- gebiete in die Östliche Partnerschaft zur Seite stehen. rott der beiden Oppositionszeitungen „Azadliq“ und „Müsavat“. Mit einem sogenannten Stadtverschöne- Berichte über das tatsächliche Ausmaß der Wahlfäl- rungsprogramm in Baku sorgt die Stadtverwaltung da- schung zugunsten der bisherigen Regierungspartei lie- für, dass die alten bisherigen Zeitungskioske abgerissen gen vor. Noch ist allerdings unsicher, wie mit diesen werden und an gleicher Stelle neue Verkaufsstände ent- Auswertungen umgegangen wird. Zusammenfassend stehen. Die Krux besteht jedoch nun darin, dass der muss man konstatieren, dass der Machtwechsel bislang Eigentümer der neuen Kioske – ein enger Freund des vergleichsweise friedlich verlaufen ist, unter anderem Präsidenten – den Pächtern „empfohlen“ hat, die bei- auch weil Saakaschwili bereits vor der Bekanntgabe der den einzigen Oppositionszeitungen nicht mehr in das Endergebnisse die Niederlage seiner Partei eingeräumt Programm aufzunehmen. Damit bricht diesen faktisch hat. Das hat auf jeden Fall Respekt verdient, unabhän- ihre gesamte wirtschaftliche Grundlage weg. Sie können gig davon, welche Motive ausschlaggebend für seine bereits jetzt ihre ausstehenden Schulden nicht beglei- Entscheidung gewesen sein mögen. chen und müssen Redakteure entlassen. An Werbung und Kommen wir zu Aserbaidschan. Dieses Land bleibt Anzeigen von Unternehmen ist nicht zu denken, denn seit für Deutschland ein schwieriger Partner. Wir beschäfti- langem werden aus Angst vor staatlichem Druck keine gen uns seit geraumer Zeit sehr intensiv mit den Verhält- kommerziellen Anzeigen mehr in Oppositionszeitungen nissen in Baku, und das nicht nur, weil Aserbaidschan geschaltet. Wenn der Straßenverkauf tatsächlich weg- als Gewinner im Eurovision Songcontest den Wettbe- bricht, ist auch die letzte wirtschaftliche Grundlage ver- werb im eigenen Land austragen durfte. Aufgrund des loren. Mit diesem Politikstil belastet Aserbaidschan die Songcontests stand Aserbaidschan mehrere Monate lang bilateralen Beziehungen, die auch besonders zur Lösung im Licht der Weltöffentlichkeit. Kurzfristig hat das eini- des sich verschärfenden Konflikts um Berg-Karabach von Bedeutung sind. (B) gen Menschen im Land sicherlich geholfen, die mittel- (D) und langfristigen Folgen dürften kaum zu einer verbes- serten Menschenrechtssituation in dem ölreichen Süd- Ich möchte hier nicht lange auf den in Ungarn verur- kaukasus-Staat führen. Im Gegenteil. Nach Abreise der teilten Mörder eingehen, der überstellt nach Aserbai- internationalen Journalisten geht das Regime des Präsi- dschan trotz eines völkerrechtlichen Vertrags nicht wei- denten Alijew härter denn je gegen Oppositionelle vor. ter inhaftiert, sondern als Held gefeiert und befördert Im Zuge der Vorbereitung für den Wettbewerb ging die wurde. Ein solches Verhalten Aserbaidschans ist aus un- Regierung unter anderem auch resolut gegen Haus- serer Sicht vollkommen inakzeptabel. eigentümer vor, Zwangsenteignungen wurden vorge- In diesem Zusammenhang hat sicherlich auch die ar- nommen und Menschen aus ihren Häusern getrieben. menische Seite reagiert, indem sie aus innenpolitischen Immer härtere Bandagen werden gegenüber der opposi- Erwägungen umgehend die diplomatischen Beziehun- tionellen Presse angelegt. Die bekannte kritische Jour- gen zu Ungarn abbrach und Teilnehmer aus internatio- nalistin Khadija Ismailowa sah sich sogar einer nalen Schulungen abberief. Die Bundesregierung sollte Schmierkampagne ausgesetzt, weil sie wiederholt über auch auf die armenische Seite einwirken, ihre ver- Korruption in großem Stil in Aserbaidschan geschrieben schärfte Kriegsrhetorik zu beenden, die gerade den Ein- hat. In jedem der größeren Korruptionsfälle war eine druck erweckt, als habe sie nur darauf gewartet, die Es- Beteiligung des Präsidenten Alijew und seiner Familie kalation voranzutreiben. Armenien steht nach wie vor in auszumachen. Investigativer Journalismus kann in Aser- der Pflicht, seine Truppen aus den besetzten Gebieten baidschan tödlich oder im Gefängnis enden. Auf der rund um Berg-Karabach abzuziehen. Ein erster Schritt Rangliste der Pressefreiheit 2011 liegt das Land derzeit in diese Richtung könnte einen Großteil des Konflikt- auf Platz 162 von insgesamt 178 betrachteten Ländern. staus lösen. Stattdessen wird aber der Nationalismus Von einer Verbesserung im Jahr 2012 ist kaum auszuge- auch von den moderaten Politikern in Armenien weiter hen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die wenigen un- befeuert. Deshalb muss diesem auf beiden Seiten unbe- abhängigen Nichtregierungsorganisationen zu unter- dingt Einhalt geboten werden. Wenn es zu einer Lösung stützen. In diesem Zusammenhang sollte auch darüber im Karabach-Konflikt kommen soll, dann sind vor allem nachgedacht werden, den aus politischen Gründen Kompromissfähigkeit und Vertragstreue gefragt. zwangsweise exmatrikulierten Studentinnen und Studen- ten schnell und unbürokratisch einen Studienplatz in Die Madrider Prinzipien stellten an dieser Stelle eine Deutschland oder in der Europäischen Union anzubie- wichtige Etappe dar. Nun muss die OSZE-Minsk-Gruppe ten. Ein ähnliches Verfahren ist bislang schon mit aufpassen, dass die Verhandlungsbereitschaft der betei- Zwangsexmatrikulierten aus Belarus üblich. Schutz für ligten Staaten nicht gänzlich versiegt. Derzeit laufen alle

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24045

Viola von Cramon-Taubadel (A) internationalen Bemühungen ins Leere, weil die Kon- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) fliktparteien kein echtes Interesse an einer Kooperation Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für haben, sie gefangen sind in ihrer jahrelangen Kriegsrhe- Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei- torik und jegliche Kompromisse als innenpolitische ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8681, den Schwäche ausgelegt werden. Das einzige Mittel, das Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7645 langfristig helfen wird, sind die Step-step-Maßnahmen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- der zivilen Konfliktlösung. Wir fordern daher die Bun- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die desregierung auf, diese Maßnahmen im Südkaukasus si- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- gnifikant zu erhöhen. tionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Auch im Bundestag können wir mit unserem IPS-Pro- Die Linke angenommen. gramm einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung ei- ner demokratischen Kultur leisten. Ich habe im Oktober Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am jeweils fünf hochqualifizierte und motivierte junge Men- Schluss der heutigen Tagesordnung. schen aus Georgien und Aserbaidschan für das Prakti- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- kum im Bundestag ausgewählt. Herr Börnsen wählte destages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 2012, drei Stipendiaten aus Armenien aus. Lassen wir diese 9 Uhr, ein. jungen Menschen im nächsten Jahr teilhaben an unseren Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch Entscheidungsprozessen, die sie zu Multiplikatoren für einen schönen Abend. Offenheit und Kompromissfähigkeit in beiden Staaten werden lassen können. (Schluss: 22.03 Uhr)

(B) (D)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24047

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

 entschuldigt bis  entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bär, Dorothee CDU/CSU 18.10.2012 Schmidt (Eisleben), SPD 18.10.2012 Silvia Beck (Reutlingen), CDU/CSU 18.10.2012* Ernst-Reinhard Dr. Schwanholz, Martin SPD 18.10.2012

Becker, Dirk SPD 18.10.2012 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 18.10.2012

Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ 18.10.2012 Simmling, Werner FDP 18.10.2012 DIE GRÜNEN Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 18.10.2012 Brinkmann (Hildesheim), SPD 18.10.2012 Bernhard Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 18.10.2012 Beate DIE GRÜNEN Dagdelen, Sevim DIE LINKE 18.10.2012 Weinberg, Harald DIE LINKE 18.10.2012 Ernst, Klaus DIE LINKE 18.10.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 18.10.2012 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 18.10.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 18.10.2012 Funk, Alexander CDU/CSU 18.10.2012 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 18.10.2012 Gerdes, Michael SPD 18.10.2012 DIE GRÜNEN (B) (D) Hahn, Florian CDU/CSU 18.10.2012 Ziegler, Dagmar SPD 18.10.2012

Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 18.10.2012 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 18.10.2012 sammlung der NATO

Hintze, Peter CDU/CSU 18.10.2012 Anlage 2 Dr. Kaufmann, Stefan CDU/CSU 18.10.2012 Zu Protokoll gegebene Reden Krichbaum, Gunther CDU/CSU 18.10.2012 zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (Ta- Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 18.10.2012 gesordnungspunkt 14) DIE GRÜNEN

Lanfermann, Heinz FDP 18.10.2012 Monika Grütters (CDU/CSU): Heute legt die Bun- desregierung ihren Entwurf zur Änderung des Grundge- Mißfelder, Philipp CDU/CSU 18.10.2012 setzes im Bildungsbereich vor. Lassen Sie uns noch ein- mal vergegenwärtigen, warum wir über diese Änderung Möller, Kornelia DIE LINKE 18.10.2012 beraten. Natürlich geht es zum einen darum, neue Mög- lichkeiten für bildungspolitische Kooperationen zwi- Nink, Manfred SPD 18.10.2012 schen Bund und Ländern zu ermöglichen. Im Zentrum steht aber heute vielmehr der Ehrgeiz, zukünftig wenigs- Ploetz, Yvonne DIE LINKE 18.10.2012 tens nicht wieder hinter das aktuelle Kooperationsniveau zurückzufallen. Wir sollten in der Debatte nie vergessen, Rawert, Mechthild SPD 18.10.2012 dass Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Qualitäts- Remmers, Ingrid DIE LINKE 18.10.2012 pakt für die Lehre in der verfassungsrechtlichen Istsitua- tion nur zeitlich begrenzte Umwege um die grundgesetz- Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 18.10.2012 lichen Kooperationsgrenzen sind. Ob sie einer Klage in DIE GRÜNEN Karlsruhe standhalten würden, ist nicht geklärt, und an eine einfache, generelle Entfristung ist angesichts der 24048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) klaren Vorgaben des Grundgesetzes nicht zu denken. ten. Wenn wir nicht gemeinsam in der Lage sind, eine (C) Bund, Länder und Vertreter aller Parteien haben am Zu- solche Kooperationskultur sensibel zu beschreiben und standekommen dieser Pakte mitgewirkt, weil ihnen be- gesetzlich zu regeln, sind die Länder zu einer Verfas- wusst war und ist, dass die Länder mit der Herausforde- sungsänderung hier zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit. rung der doppelten Abiturjahrgänge, mit den Folgen der Wer also das eine ultimativ mit dem anderen einfordert, Aussetzung der Wehrpflicht und mit der ohnehin gestie- verhindert beides. So gelingt weder eine Verbesserung genen Zahl der Studierwilligen echt überfordert sind. Es der Hochschulsituation noch eine bessere Kooperations- war und bleibt richtig, dass den Herausforderungen einer kultur in der Schulbildung. wissensbasierten Gesellschaft nur mit einer gesamtstaat- lichen Antwort begegnet werden kann. Der Hochschul- Das hat die SPD noch nicht verstanden. Ihr Vorschlag pakt ist deshalb ein Ergebnis politischer Vernunft und stellt eher ein kleines trojanisches Pferd dar. Wo außen Zeichen eines verantwortungsvollen Umgangs mit dem „Schulbereich“ draufsteht, ist ein kleiner Länderfinanz- Zukunftsfeld Bildung, an dem alle politischen Akteure ausgleich drin. Sie glauben doch tatsächlich, die födera- im Bund und in den Ländern ihren verdienten Anteil ha- listischen Probleme im Schulbereich wären dann gelöst, ben. wenn der Bund Mehrwertsteuerpunkte an die Länder ab- tritt. Damit wäre das Bildungsproblem aber gerade nicht Heute wissen wir, dass der Hochschulpakt aber auch gelöst. Eine bedingungslose Zuweisung finanzieller ein Signal war, das tief in die Gesellschaft hineingewirkt Mittel wird ja nicht die KMK revolutionieren und das hat. Die gemeinsame Anstrengung von Bund und Län- schaffen, worauf wir seit Jahrzehnten warten: die Bil- dern und der Konsens über Parteigrenzen hinweg haben dungssysteme und -leistungen der Länder endlich ver- gerade den jungen Menschen in unserem Land deutlich gleichbar zu machen. Vielmehr fürchten wir, dass derart gemacht, welche Bedeutung und welcher Wert einer aka- unspezifisch vom Bund an die Länder durchgereichte demischen Ausbildung zukommt. Mehr als 46 Prozent Mittel in erster Linie von den Länderfinanzministern zur eines Jahrgangs studieren heute schon. Mittlerweile Finanzierung der Lehrerpensionen verwendet würden. kommen jedes Jahr mehr als 550 000 neue Studienan- Das aber ist sicher nicht der Sinn der Bildungspolitik – fänger an die Universitäten. Das sind gute Nachrichten, und schon gar nicht der Bildungspolitik des Bundes. aber auch große Herausforderungen, die über die Aus- wirkungen von G 8 hinausgehen. Hoffen wir, dass dieser Abgesehen davon muss ein Parlament, ein Haushälter Trend noch lange anhalten wird! natürlich eine Mitverantwortung übernehmen können für die Vergabe der Mittel und ihre Verwendung. Eine sim- Aber – das wissen wir hier alle – der Hochschulpakt ple Abtretung erheblicher Mittel über Mehrwertsteuer- als Voraussetzung dieser Erfolge ist endlich. Die zweite punkte bedeutet auch einen Verzicht auf Mitwirkung – (B) Programmphase läuft 2015 aus, und eine beliebige Ver- was für ein politisches Ethos steckt dahinter? Einen sol- (D) längerung dieses Instrumentes würde die Grenzen eines chen Umgang mit Steuergeldern kann ich als Abgeord- unveränderten Grundgesetzes sprengen. Es geht also tat- nete gegenüber meinen Wählerinnen und Wählern nicht sächlich darum, dass wir die Erfolge sichern, die wir in verantworten – zumal er die Probleme der föderalen Ver- Bund und Ländern gemeinsam erreicht haben. Nicht nur gleichbarkeit und Mobilität im Schulbereich überhaupt wir Politiker, sondern auch die Unis, die dort Beschäftig- nicht löst. ten und vor allem die Studierenden – wir alle haben viel zu verlieren, wenn wir es nicht schaffen, uns auf eine Ich bin mir sicher, dass auch der Großteil meiner Aus- Änderung des Grundgesetzes zu einigen. Diese Einsicht schusskolleginnen und Kollegen – auch die Damen und liegt dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugrunde, Herren der SPD – das so sehen. Deshalb appelliere ich der heute eingebracht wird. Er beschränkt sich zunächst an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den bereits beschritte- nen Weg der verstärkten Kooperation im Bund-Länder- darauf, die Weichen für die dauerhafte Sicherung des be- Bereich und die bereits sichtbaren gemeinsamen Erfolge reits Erreichten zu stellen. In dieser Hinsicht verändert zumindest im Hochschulbereich sichern! Hier gibt es be- der Entwurf den Status quo nicht, er macht ihn nur end- reits jetzt einen Konsens mit allen Ländern, der so für lich verfassungssicher und damit zukunftsfest. Aber lei- den Schulbereich noch nicht besteht. Deshalb bitte ich der, leider können manche Kollegen ihrem Oppositions- Sie, auf Ihre Ländervertreter einzuwirken, damit diese reflex nicht widerstehen. Gerade der SPD gehen diese die Einladung von Bundesministerin Annette Schavan Änderungen nicht weit genug. Sie will die Kooperati- für Ende Oktober ernst nehmen und dort nicht um Län- onsmöglichkeiten auch auf den Schulbereich ausweiten. derfinanzfragen zocken, sondern sich um die Sicherung Und in der Tat: Auch und gerade im Schulbereich macht der gemeinsamen Erfolge in der Hochschulpolitik und die fehlende Kooperation große Probleme; das wissen der künftigen Perspektiven für die Bildungsbereiche be- wir natürlich auch. Ein Kind, dessen Eltern von Berlin mühen. Es ist vielleicht die letzte Chance, dieses Thema nach Bayern umziehen, leidet, und es verliert nicht sel- von überragender Bedeutung für die Zukunft unseres ten ganze Schuljahre dabei. Das ist vollkommen inak- Landes zu einem Erfolg zu führen. zeptabel. Wenn wir mit einer Grundgesetzänderung hier Abhilfe schaffen könnten, wäre ich dazu sofort bereit. Aber – und das wissen wir und Sie natürlich ebenso gut – Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Bundesregie- eine solche Regelung wird an den Ländern scheitern, so- rung hat einen Gesetzentwurf eingebracht – aber die lange sie fürchten, dass die Länder bei einer Mitwirkung Koalition will ihn offenbar nicht im Plenum des Deut- des Bundes im Bereich Bildung den Kernbereich ihrer schen Bundestages debattieren, hat ihn weit hinten auf Kompetenzen zumindest teilweise einschränken müss- der Tagesordnung versteckt und letztlich die Debatte nur Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24049

(A) zu Protokoll gegeben. Hält die Koalition den eigenen Schavan immer so tut, als sei der Regierungsvorschlag (C) Vorschlag selbst für so schlecht? Zumindest sieht sie ein, der einzig realisierbare. dass er keine Chance auf eine Umsetzung hat, weil schlicht und einfach die Mehrheit fehlt, weil er nicht Wir sind offen für eine Einigung. Sie muss nicht exakt überzeugend ist. unseren Vorschlag abbilden. Aber sie muss der Bildung, sie muss den Kitakindern, Schülerinnen und Schülern, Im Konsens aller Fraktionen hatten wir eine Sachver- den Auszubildenden und Studierenden helfen. ständigenanhörung zu diesem Thema angesetzt. Dort gab es viele interessante und überzeugende Argumente Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wir brau- für mehr Kooperation von Bund und Ländern in der chen ganz dringend mehr Kooperation zwischen dem Bildung. Doch die Regierungskoalition reduziert ihren Bund und den Ländern, was das Feld der Bildungspolitik Vorschlag auf die Erweiterung der bestehenden Koope- betrifft! Das mit der Föderalismusreform im Grundge- rationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich setz verankerte Kooperationsverbot muss beseitigt wer- der Wissenschaft einzig und allein für eine Handvoll den. Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung sieht besonderer Einrichtungen. Wir haben es in den vergan- das so. Dies hat nun auch die Bundesregierung erkannt, genen Monaten immer wieder gesagt: Nach der Methode wie der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, den wir heute „Friss, Vogel, oder stirb“ wird diese Teilmaßnahme, für erstmalig diskutieren. Aber das was vorliegt ist sicher- die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in unserer lich nur ein ganz kleiner Wurf und nicht geeignet, die Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und machbare Aufgabe zu lösen. Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkommen außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine solche Teil- Der Weg zu einer umfassenden und gewinnbringen- lösung die Gesamtbalance zerstört und alles zum Schei- den Kooperation ist aus meiner Sicht vergleichbar mit tern bringt. Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemein- einem Marathon. Um mit diesem Bild ein bisschen wei- samen Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir ter zu arbeiten, möchte ich einmal den vorliegenden Ge- dann“ sieht nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges setzentwurf dort einordnen. Dann erscheint der vorge- realpolitisches Vorgehen aus. legte Gesetzentwurf nämlich in einem ganz anderen Der Bundesrat hat den Regierungsvorschlag bereits Licht, als man ihn derzeit verkaufen will. Er würde maxi- abgelehnt. Zu Recht! Denn für diesen Bereich hatte die mal dazu nützen, die ersten beiden Kilometer zu schaf- SPD-Fraktion bereits Möglichkeiten der Kooperation fen. Dann geht dem Kooperationswillen der Bundes- durchgesetzt. Auf dieser Basis werden etwa die Exzel- regierung leider die Puste aus. Der vorliegende lenzinitiative und der Hochschulpakt realisiert. Gesetzentwurf ist maximal ein kurzer Spurt in die rich- tige Richtung, doch fehlt ihm tatsächlich die Ausdauer, (B) Die Hauptprobleme, vor denen wir heute stehen, sind um grundlegend etwas zu verbessern. (D) jedoch andere und benötigen dringend die Zusammenar- beit von Bund und Ländern – und darum eben eine Wenn man sich die Stellungnahme des Bundesrates durchgreifende Änderung des Grundgesetzes. Es geht ansieht, so wird dieser Eindruck verstärkt. Selbst unions- doch wohl nicht an, dass die Bundesregierung einige geführte Bundesländer haben mit dem Gesetzentwurf ein wenige Einrichtungen vom Bund finanzieren und For- Problem, wie man zum Beispiel auch an der Reaktion scherstellen schaffen will, während sie nicht einmal da- aus Bayern sehen kann. So will Bayerns Wissenschafts- rüber nachdenkt, wie Ganztagsschulen eingerichtet oder minister Wolfgang Heubisch, dass nicht nur bei der Spit- mehr Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt zenforschung kooperiert werden darf, sondern bei der werden können. Auch die Bildung an den Hochschulen, Grundfinanzierung der Hochschulen insgesamt ange- ihre Grundfinanzierung und die Lehre würde außen vor setzt werden muss. Das wäre schon erfreulich, doch gelassen. würde auch eine solche Reform kaum für die ersten zehn Kilometer reichen, um wieder auf den Vergleich mit dem Mehr Kooperation ist für Wissenschaft sinnvoll. Für Marathon zurück zu greifen. Denn Bildung wird nicht die Bildung, für die Lehre an den Hochschulen und ins- allein an den Hochschulen vermittelt. besondere für die Schulen ist sie jedoch vordringlich und zwingend nötig: Wir müssen endlich überhaupt damit Was ist mit den Schulen? Unabhängig von der Schul- anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das das Ganztags- struktur gibt es in allen Bundesländern den dringenden schulprogramm der Regierung Schröder heute noch für Wunsch nach einem Ausbau der Schulsozialarbeit oder schlecht hält. Die einzige – und berechtigte – Kritik ist, der Ganztagsbetreuung. Wo bleibt die außerschulische dass es auf bauliche Investitionen beschränkt war. Doch und informelle Bildung? Die Bildungslandschaft in anders ging es damals nicht. Darum muss ein ganz neuer Deutschland ist sehr breit aufgestellt. Wissen wird an un- Kooperationsartikel ins Grundgesetz, der die Bildung in terschiedlichsten Orten und auf vielfältige Weise vermit- ihrer gesamten Breite im Blick behält. Die von der telt. Bildung ist seit jeher eine der wichtigsten Ressourcen, Koalition geforderte Teillösung aber würde eine solche die unser Land hat. Wer ernsthaft eine Bildungsrepublik Verbesserung für die Bildung auf den Sankt-Nimmer- will, der muss mehr tun, als nur Spitzenforschung bzw. leins-Tag verschieben. Hochschulen in den Blick zu nehmen, wenn es um Kooperation zwischen Bund und Ländern geht. Nach der Ablehnung des Regierungsvorschlages im Bundesrat hat Bundesministerin Schavan die Länder zu Ich möchte nochmals einen Blick auf Bayern werfen, einem Gespräch eingeladen. Es ist die Frage, was dabei um zu verdeutlichen, warum es nicht ausreicht, nur im herauskommen soll, wenn doch andererseits Frau Bereich der Hochschulen das Kooperationsverbot zu än- 24050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) dern, selbst wenn man die Mitfinanzierung aller Hoch- Darüber hinaus hätte unser Vorschlag den Vorteil, (C) schulen durch den Bund ermöglichen würde. dass er bereits von den SPD-geführten Bundesländern mitgetragen wird und so eine breite Zustimmung im Bayern ist zwar bei verschiedensten Bildungstests Bundesrat gegeben ist. Um zu meinem Bild des Mara- sehr gut. Aber deswegen ist die Welt an Bayerns Schulen thons vom Anfang zurückzukommen: Unser Antrag keineswegs in Ordnung. In keinem anderen Bundesland führt zum Ziel. Er ist dazu angelegt, die gesamte Strecke sind zum Beispiel die Bildungsperspektiven in derart ho- des föderalen Langstreckenlaufes im Bereich der Bil- hem Maß vom Geldbeutel der Eltern abhängig wie im dung zu schaffen. Das Ziel heißt mehr Bildungsgerech- Freistaat, ein Zeichen dafür, dass es dringend der Nach- tigkeit und eine Bildungskooperation, die breiten Teilen besserung bedarf, um durch das staatliche System mög- der Bevölkerung nutzt. Nehmen Sie die Bildung in lichst allen Kindern sehr gute Chancen zu ermöglichen. Gänze in den Blick, und gehen Sie mit uns den Weg über Ähnlich sieht es mit der Ganztagesbetreuung aus. einen neuen Art. 104 c! Gerade Bayern wäre geholfen, wenn es endlich ein bundesweites Ganztagsschulprogramm geben würde, Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Deutschlands mit dem nicht nur in Infrastruktur, sondern auch in Hochschullandschaft steht in Zeiten des Bologna- Personal investiert werden könnte, ein Programm, mit Reformprozesses, angesichts steigender Studierenden- dem vor allem auch die Qualität an den Ganztagsschulen zahlen – ob nun durch die seit Jahren anwachsende Stu- und nicht nur die Quantität gefördert werden könnte. Es dienanfängerquote, die doppelten Abiturjahrgänge oder gäbe eine Möglichkeit, an den Mittelschulen flächende- die Aussetzung der Wehrpflicht – und durch die haus- ckend Schulsozialarbeit und gebundene Ganztagsbetreu- halts- und finanzpolitischen Zwänge – Stichwort Schul- ung anzubieten und den dort herrschenden Lehrermangel denbremsen – vor nie da gewesenen Herausforderungen. zu bekämpfen, und zwar nicht nur mit geschönten Zah- Seit Jahren unternimmt der Bund massive Anstrengun- len, bei denen man so tut, als wären Teilzeitstellen oder gen, damit diese Entwicklung nicht zulasten von Studie- befristete Verträge gleichzusetzen mit Vollzeitlehrerstel- renden und Lehrenden verläuft. Die christlich-liberale len. Koalition hat mit ihren zahlreichen Initiativen wie dem Weiter geht es mit der frühkindlichen Bildung. Auch Hochschulpakt, dem Qualitätspakt „Lehre“, der Exzel- hier könnten mit einer umfassenden Öffnung des Koope- lenzinitiative oder dem Deutschland-Stipendium – um rationsverbots gemeinsam die Angebote verbessert und nur wenige zu nennen – in erheblichem Maße dazu bei- ausgebaut werden. Die CSU könnte endlich das unsin- getragen, dass die für die Hochschulen verantwortlichen nige Betreuungsgeld fallen lassen, wenn Bund und Länder Länder mit diesen großen Herausforderungen nicht al- umfassend im Bereich der Bildung kooperieren würden. lein gelassen werden. Leider gehen einige Länder nicht (B) Dann müsste man nicht mit fragwürdigen Ersatzangebo- so verantwortungsvoll mit diesen Bundesmitteln um, (D) ten darüber hinwegtäuschen, dass Bayern seine Hausauf- wie es eigentlich im Interesse der Hochschulen sein gaben in der frühkindlichen Bildung noch nicht gemacht sollte. Und so verstärkt der Bund auf der einen Seite be- hat. ständig sein Engagement für die Hochschullandschaft, und auf der anderen Seite fahren Länder wie Berlin ihre Neben der Hochschule, den allgemeinbildenden Mittel im gleichen Maße zurück. Der Tagesspiegel Schulen und der beruflichen Ausbildung gibt es unzäh- drückt es ganz treffend aus: Den Hauptstadthochschulen lige Akteure, die im Bereich der informellen Bildung ak- bleibt nichts anderes, als die „Suppe mit Bundesgeld zu tiv sind. Auch hier könnten vonseiten des Bundes unter strecken“. Der Senat stiehlt sich aus seiner Verantwor- Wahrung der Kultushoheit der Länder wertvolle Impulse tung. Eine Schande! Die Regierungsfraktionen sind sich gesetzt werden, angesichts der Tatsache von Schulden- einig, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu- bremse, knappen kommunalen Haushalten und unzurei- nehmend von der Leistungsfähigkeit des Wissenschafts- chenden Bildungsbudgets der Länder eine sinnvolle systems abhängen wird. Im Bereich der universitären Form der Zusammenarbeit. Doch auch dafür braucht es Forschung hat sich – nicht zuletzt wegen des enormen eine umfassende Änderung des Kooperationsverbotes, Engagements des Bundes – enorm viel getan. Für den das neben Wissenschaft und Forschung vor allem die Bereich der Hochschullehre gilt es, ein ähnliches Auf- Zusammenarbeit im Bereich der Bildung erlaubt. bauprogramm zu entwickeln. Es darf nicht hingenom- Eine Grundgesetzänderung kann man nicht alle Tage men werden, dass diese wichtige Aufgabe zunehmend neu diskutieren. Wenn wir nun das Projekt schon in An- unter die Räder gerät. Wir müssen Hochschullehre at- griff nehmen und wenn Sie ernsthaft eine Bildungsrepu- traktiver gestalten, Betreuungsrelationen und -intensität blik wollen, dann haben Sie Mut und bringen Sie mit uns deutlich verbessern, innovativere Formen des Austau- eine Grundgesetzänderung auf den Weg, die mehr er- sches zwischen Lehrenden und Lernenden auf den Weg laubt, als ein bisschen Spitzenforschungsförderung. bringen und die Brücke zwischen der Vermittlung von Wissen und Kompetenzen und der Erfahrbarkeit von Mit unserem Vorschlag, einen neuen Art. 104 c in das Forschung schlagen. Das lässt sich nicht zum Nulltarif Grundgesetz aufzunehmen, würde Bildung insgesamt haben. profitieren. Unter Wahrung der Bildungshoheit der Län- der könnte das gesamte Bildungssystem in Deutschland Nicht zuletzt deswegen legt die Bundesregierung ei- gestärkt werden: Hochschulen, Schulen und die unter- nen Gesetzentwurf vor, mit dem eine Änderung des schiedlichsten Arten der informellen sowie außerschuli- Grundgesetzes in Art. 91 b auf den Weg gebracht wird. schen Bildung. Ziel ist es, dass der Bund künftig im Hochschulbereich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24051

(A) stärker mit den Ländern kooperieren kann. Denn spätes- glaubwürdig an, wenn, wie derzeit im Deutschen Bun- (C) tens seit dem in Zeiten der Großen Koalition im Jahr destag, die Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes 2006 eingeführten Kooperationsverbot im Bildungsbe- mit dem Hinweis, sie sei nicht weitreichend genug, ab- reich sind die Möglichkeiten des Bundes extrem einge- gelehnt wird und man zeitgleich im Bundesrat verkün- schränkt, sich sinnvoll an der Finanzierung von Bil- det, dass eine weiterreichende Lockerung des Koopera- dungsvorhaben zu beteiligen. Heute wissen wir, dass die tionsverbotes nicht infrage kommt. Mit dieser Einführung dieses Kooperationsverbotes – um es mit unsinnigen Haltung zementiert die Opposition das Ko- den Worten Hans-Dietrich Genschers zu sagen – „zu den operationsverbot auf lange Sicht – und die Hochschul- größten Fehlleistungen der schwarz-roten Koalition“ ge- verbände, Studierenden und Bevölkerung sind keines- hörte. Die FDP hat sich damals wie heute massiv gegen wegs so naiv, dies nicht zu erkennen. In der dieses Kooperationsverbot ausgesprochen. Insoweit ist Öffentlichkeit wird man sehr schnell erkennen, wer die es nur konsequent, dass wir gemeinsam mit unserem Ko- historische Chance verbockt hat. Und es ist doch klar, alitionspartner heute eine Regelung auf den Weg bringen dass wir die Gelegenheit nutzen werden, darauf auf- wollen, um das Kooperationsverbot im Wissenschaftsbe- merksam zu machen, wer die Saboteure einer Verfas- reich zu lockern. sungsänderung waren. Ich würde mir jedoch für unsere Hochschulen in Deutschland wünschen, dass Sie uns In den Sonntagsreden von Vertretern von SPD, Bünd- diesen Wahlkampfschlager aus den Händen nehmen und nis 90/Die Grünen und der Linken wird die Regelung Vernunft walten lassen. von 2006 verteufelt. Gleichzeitig gibt man sich Fantaste- reien hin, malt sich aus, was wäre, wenn der Bund die Während nahezu alle wichtigen Institutionen im Wis- Zügel in der Hand hielte. Dass der Realisierungsgehalt senschaftsbereich – von den Forschungsgemeinschaften dieser nebulösen Vorstellungen jedoch gegen null ten- über die Hochschulverbände und den Wissenschaftsrat diert, klammert man dagegen allzu gerne aus. Bezeich- bis hin zu den Sachverständigen in unserer öffentlichen nend war die Reaktion der Kollegin Krista Sager auf den Anhörung am 19. März 2012 im Ausschuss für Bildung, Hinweis, dass der grüne Ministerpräsident Baden-Würt- Forschung und Technikfolgenabschätzung – unseren Ge- tembergs öffentlich erklärt habe, man werde die Länder- setzesvorschlag einhellig begrüßen, legen die Opposi- hoheit im Schulbereich vehement verteidigen. Es mag tionsfraktionen aus rein wahltaktischem Kalkül unüber- zwar sein, dass Herr Kretschmann nur ein einzelner Grü- brückbare Steine in den Weg. Da ist es nur bezeichnend, ner ist, doch es drängt sich die Frage auf, wie die grüne dass es mit Dr. Wolfgang Heubisch ein FDP-Wissen- Bundestagsfraktion angesichts der konträren Haltung ei- schaftsminister ist, der angesichts dieser Gefechtslage gener Führungspersönlichkeiten – mögen diese noch so einen Kompromissvorschlag formuliert, um doch noch verschroben sein – sich als seriöser Verhandlungspartner eine Grundgesetzänderung zum Wohle der Hochschulen (B) gerieren will. Jedenfalls erschwert das elende Hickhack und damit der Studierenden zu ermöglichen. Mich ver- (D) die dringend erforderliche Konsensfindung – schließlich wundert es nicht, dass aus den Reihen der Oppositions- benötigen wir nicht nur auf Bundesebene eine Zweidrit- fraktionen hierzu keinerlei Verlautbarung zu vernehmen telmehrheit, auch die Länder müssen in gleichem Um- ist. Einzig der sozialdemokratische Politikrentner Jürgen fang mitziehen. Und wer solche Verhandlungen mit Ma- Zöllner hat die Zeichen der Zeit erkannt, nur wird dieser ximalforderungen überlastet, seine unabgestimmten in seinen eigenen Reihen schon lange nicht mehr erhört. Positionen in den Raum wirft, gefährdet auf unverant- wortliche Weise ein für alle tragfähiges Ergebnis. Es Mich erreichen fast täglich Zuschriften von Hoch- geht hier um die Zukunft unseres Hochschulsystems und schulpräsidenten aus ganz Deutschland, die Mut ma- nicht um die Ausgestaltung eines Krötenwanderweges. chen, an dem Ziel festzuhalten, eine Mitwirkung des Hier sind die kleinkrämerischen Zänkereien entschieden Bundes bei der Hochschulfinanzierung durch die Ände- fehl am Platze. rung von Art. 91 b Grundgesetz zu ermöglichen. Ich be- zweifle, dass diese Briefe nicht auch die Vertreter der Kurzum: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, Oppositionsfraktionen erreichen, und frage mich, ob basierend auf dem Vorstoß des bayerischen FDP-Wis- diese noch mit gutem Gewissen den Vertretern der senschaftsministers Dr. Wolfgang Heubisch, bietet die Hochschulen gegenübertreten können, sollten sie sich Chance, die wirklich drängenden Fragen zu lösen. Na- unserem Gesetzesvorschlag verweigern und auf lange türlich bleiben Wünsche unerfüllt. Mit Lob aus den Op- Zeit das Kooperationsverbot zementieren. Mit diesem positionsfraktionen war nicht zu rechnen. Aber im Inte- fahrlässigen Handeln verpassen Sie die einmalige resse der deutschen Hochschulen und Hunderttausender Chance für Hochschulen und Wissenschaftseinrichtun- Studierender wäre es angebracht, sich aus dem Schmoll- gen und fügen unserem Land Schaden zu, da Sie die in- winkel herauszubegeben und endlich die Ärmel aufzu- ternationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissen- krempeln und ernsthaft zu verhandeln. Forderungen mit schaftssystems auf lange Zeit gefährden. Wiederholen Blick auf den Schulbereich, auch wenn die FDP-Bun- Sie Ihre Fehler aus dem Jahre 2006 nicht! Lassen Sie destagsfraktion diese grundsätzlich für sinnvoll hält, diesmal Vernunft walten! sind aufgrund der Gemengelage – man denke an die Worte des grünen Ministerpräsidenten – derzeit nicht realisierbar. Unser Vorschlag lautet: Konzentrieren wir Nicole Gohlke (DIE LINKE): Im letzten Winterse- uns auf das Machbare. mester fehlten mehr als 100 000 Studienplätze im Bundesgebiet, Tausende Studienbewerber gingen leer Die Oppositionsfraktionen tun sich mit ihrer Verwei- aus – trotz Studienberechtigung in der Tasche. In Baden- gerungshaltung auch keinen Gefallen. Es mutet nicht Württemberg fehlen ab 2013 mindestens 7 000 Master- 24052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) studienplätze pro Jahr, an der Hochschule Offenburg er- wurf nicht berücksichtigt; denn Sie kümmern sich einzig (C) hält nur jeder zehnte Bewerber eine Zulassung zu einem und allein um die Spitzenforschung. Statt des Umsteu- Masterstudiengang. Das Studentenwerk fordert den Bau erns weg vom gescheiterten Wettbewerbsföderalismus von mindestens 25 000 Wohnheimplätzen, da viele hin zur politisch gewollten Kooperation von Bund und Studierende gerade jetzt zu Semesterbeginn keine finan- Ländern im Sinne der Bildung, statt sich der Verantwor- zierbare Wohnung finden. In Hannover kommen bei- tung zu stellen, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung spielsweise auf 760 freie Wohnheimplätze mittlerweile die Qualität des gesamten Bildungs- und Wissenschafts- 2 650 Bewerber. In München sind derzeit mindestens systems zu verbessern und endlich die Gleichheit von 6 000 junge Menschen ohne Unterkunft. Und in den Bildungschancen – unabhängig von regionalen, sozialen Ländern werden ab 2014 mindestens 700 Millionen Euro oder herkunftsbedingten Unterschieden – politisch zu im Jahr für den Hochschulbau fehlen. gewährleisten, setzen Sie weiter auf die Förderung eini- ger Leuchtturmprojekte in der Forschung. Ende 2011 stellte der Deutsche Philologenverband fest, dass in der Bundesrepublik jede Woche rund 1 Mil- Noch nicht einmal die grundlegenden Probleme der lion Unterrichtsstunden ausfallen. Die durchschnittliche Hochschulfinanzierung würden mit Ihrem Gesetz gelöst. Klassengröße liegt laut Statistischem Bundesamt bei Wir brauchen dauerhaft ein gemeinsames Engagement 27 Schülern an Gymnasien und bei 26 an Realschulen von Bund und Ländern für mehr Studienplätze, wenn und integrierten Gesamtschulen. Eine 2009 von wir die unerträglichen Zustände bei der Hochschulzulas- Klaus Klemm veröffentlichte Studie schätzt den Einstel- sung überwinden wollen. Wir brauchen gemeinsame Ini- lungsbedarf von Lehrerinnen und Lehrern bis zum Jahr tiativen von Bund und Ländern zur Öffnung der Hoch- 2015/16 bei konstanter Schüler-Lehrer-Relation auf schulen. Wir haben bereits eine Fernuniversität, die 195 921. Diese Liste wäre leicht zu erweitern, sie bundesweit arbeitet und die für viele die einzige Chance beschreibt lediglich einen Ausschnitt der bildungspoliti- auf ein Hochschulstudium ist – aber der Bund gibt hier- schen Missstände und Leerstellen in der Bundesrepu- für keinen Cent, und die Fern-Uni Hagen pfeift finan- blik. ziell aus dem letzten Loch. Mit Ihrem Gesetzentwurf würde sich hieran nicht das Geringste ändern, ganz zu Während die Presse voll ist von solchen Nachrichten, schweigen von den Problemen in der allgemeinen Bil- verharrt die Bundesregierung im Aussitzmodus und hält dung: weder wäre ein neues Ganztagsschulprogramm an ihrem völlig unzureichenden und vielfach kritisierten noch eine umfassende Verwirklichung von Inklusion mit Gesetzentwurf zur Lockerung des Kooperationsverbotes vereinten Kräften möglich. Wenn Sie diese Probleme fest. Seit der Bekanntmachung des Gesetzentwurfs im noch nicht einmal interessieren, sollten Sie von der Bil- März dieses Jahres wurde von den Oppositionsparteien, dungsrepublik schweigen! von Gewerkschaften und vielen bildungspolitischen (B) (D) Akteuren Kritik geübt. Im Bildungsausschuss gab es Die föderalen Strukturen sind für diese Regierung eine Anhörung, in der die Sachverständigen fast einhel- schon längst nur noch das Abschieben von Verantwor- lig die Position vertreten haben, dass das Verbot der tung und die Ausrede für unterlassene Finanzierungen Kooperation abgeschafft und die Zusammenarbeit von und politische Steuerung. Der Föderalismus entlässt Sie Bund und Ländern endlich verfassungsrechtlich veran- aber nicht aus Ihrer bildungspolitischen Verantwortung. kert gehört. Dabei müsse vor allem sichergestellt wer- Wenn Sie keine Verantwortung tragen wollen, dann den, dass sich die Zusammenarbeit auf die gesamte Bil- treten Sie ab, statt Notwendiges zu verhindern. dung erstreckt und eben nicht nur auf „Einrichtungen und Vorhaben an einigen Hochschulen von überregiona- Die Linke fordert weiterhin die sofortige Abschaffung ler Bedeutung“, wie das der schwarz-gelbe Entwurf vor- des Kooperationsverbotes, die Verankerung einer Ge- sieht. Trotz dieser Kritik brachte die Bundesregierung meinschaftsaufgabe Bildung, eine gemeinsame Bil- ihre Grundgesetzänderung völlig unverändert im Sep- dungsplanung von Bund und Ländern und eine kontinu- tember zur Beratung in den Bundesrat ein und erhielt ierliche institutionelle Mitfinanzierung der Hochschulen dort das absehbare Ergebnis: noch nicht einmal die ein- durch den Bund in der Fläche. fache Mehrheit der Stimmen. Manche Niederlagen scheinen fast gewollt zu sein. Die Bundesregierung legt Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Endlich einen sehr dürftigen Gesetzentwurf vor, verändert – trotz findet nun die erste Lesung des Vorschlags der Koalition großer Kritik – keinen Satz und stellt sich dann als poli- zur Änderung des Grundgesetzes statt. Was Sie uns hier tisch gescheiterter Veränderer des Kooperationsverbotes leider nicht vorlegen, ist ein substanzieller Antrag zur dar. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Aufhebung des Kooperationsverbots. das ist scheinheilig. Wenn Sie wirklich den politischen Willen hätten, das Kooperationsverbot zu lockern, dann Der zuständigen Bundesbildungsministerin ist es bis- stellten Sie sich der Kritik, nähmen Sie die Aufforderung her nicht gelungen, einen einigungsfähigen Vorschlag des Bundesrates ernst, über einen neuen Entwurf ge- vorzulegen. Stattdessen hat die Bundesregierung ihren meinsam zu beraten, überarbeiteten Sie Ihren Vorschlag schwarz-gelben Entwurf auf den Weg gebracht, ohne und weiteten Sie die Möglichkeiten der Kooperation Gespräche mit den Oppositionsfraktionen und den Län- endlich auf die gesamte Bildung aus. Sie sind weiterhin dern zu suchen. Wer die benötigte Zweidrittelmehrheit am Zug, Damen und Herren von der Regierung! für mehr Kooperation erreichen möchte, sollte schon im Verfahren und im eigenen Handeln kooperativ sein und Die derzeitigen Probleme in allen Bildungsbereichen nicht einfach einen Konsens suggerieren, der bislang sind gravierend und werden in dem schwarz-gelben Ent- nicht hergestellt wurde. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24053

(A) Der Koalitionsvorschlag ist aber vor allem inhaltlich Bundesländer, im Einvernehmen mit ihnen und auf der (C) nicht zielführend. Anstatt der allgemeinen Erkenntnis zu Basis fester Bund-Länder-Vereinbarungen, und das mit folgen, dass die Einführung des Kooperationsverbots ein dem klaren Ziel, kein Kind zurückzulassen und die Bil- riesiger Fehler war, legen Sie uns hier eine Verfassungs- dungschancen aller Kinder und Jugendlichen zu verbes- änderung vor, die nur auf den Bereich Wissenschaft un- sern. Denn Bildung ist präventive Sozialpolitik, ermög- zureichend eingeht. Völlig unberücksichtigt lassen Sie licht Inklusion, Integration und Teilhabe, legt die Basis die Aufhebung des Kooperationsverbots im Bildungsbe- für wirtschaftliche Entwicklung und Innovationsfähig- reich. Deswegen hat ihr Vorschlag zu Recht im Bundes- keit. rat keine Mehrheit gefunden! Jedem und jeder ist offensichtlich, wie sehr die beste- Wir Grüne waren von Anfang an gegen das Koopera- hende Verfassungslage sinnvolle Lösungen blockiert. tionsverbot. Wir sind daher weiter sehr an einer Eini- Bestes Beispiel sind die Verrenkungen des sogenannten gung interessiert. Denn es geht uns dabei um die bil- Bildungs- und Teilhabepakets. Anstatt die Bildungsein- dungspolitischen Zukunftschancen aller Kinder und richtungen für alle Kinder und Jugendlichen zu stärken, Jugendlichen in diesem Land. Auch die Koalition muss wurde hier ein Bürokratiemonster erschaffen, das eigent- doch erkennen, dass viele Bundesländer finanziell kaum lich alle Beteiligten gern wieder verjagen würden. Dies in der Lage sind, ihr Bildungssystem angemessen auszu- ist nur möglich, wenn wir die Verfassung entsprechend finanzieren, vor allem wenn sie zugleich die Schulden- ändern! bremse einhalten sollen. Auch deswegen brauchen wir eine Ermöglichungsverfassung für bessere Bildung und Wir begrüßen, dass Frau Ministerin Schavan nun end- bessere Wissenschaft und ein Aufbrechen verfassungs- lich auf die Länder zugeht, um im Dialog zu der für eine rechtlicher Bildungsblockaden. Es ist im gemeinsamen Grundgesetzänderung benötigten Zweidrittelmehrheit zu Interesse aller staatlichen Ebenen, die Leistungsfähigkeit kommen. Das war überfällig. Schade, dass sie unsere und Qualität der Bildung zu steigern; denn die immensen ständig wiederholten Aufforderungen zu einem Reform- Folgekosten unterlassener Bildungsinvestitionen und konvent für eine Verfassungsänderung monatelang igno- unzureichender Qualifizierung tragen die Sozialkassen riert haben. Dies wäre nicht nur der effektivere Weg ge- aller Ebenen. wesen, sondern hätte der Sache sicher gedient. Nun müssen wir das immer enger werdende Zeitfenster auf Wir setzen uns daher für einen kooperativen Bil- dem Weg zur Kooperationskultur endlich nutzen! dungsföderalismus ein. Es ist eine gesamtstaatliche Auf- gabe, für gute Bildungsinstitutionen zu sorgen – von der Jetzt ist es an der Zeit, Vorwürfe beiseitezulassen und frühkindlichen Bildung über Ganztagsschulen bis hin zu nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist bitter den Hochschulen. Dies muss sich auch in der Verfassung nötig, endlich von den bildungs- und gesellschaftspoliti- (B) (D) widerspiegeln. Bildung muss in der Breite und von Be- schen Notwendigkeiten auszugehen. Diese bestehen in ginn an besser werden. Wir Grüne wollen daher eine erster Linie darin, die Spaltungen im deutschen Bil- Verantwortungspartnerschaft und Vertrauenskultur mit dungssystem zu überwinden. Die Finanzierung von In- Ländern und Kommunen eingehen. klusion und besserer individueller Förderung wird nur gemeinsam gelingen. Man kann es gar nicht oft genug Wir sind es leid, dass hier Scheindebatten geführt wiederholen: Kindeswohl muss vor Kooperationsverbot werden, für die jetzt wirklich keine Zeit mehr ist: Es ist gehen. schlicht falsch, dass die Opposition die Hochschulen in „Geiselhaft“ nehmen würde – uns Grünen geht es viel- Die Bürgerinnen und Bürger, die Schülerinnen und mehr um eine Lösung, die verbesserte Kooperation im Schüler und die Eltern wünschen – ebenso wie ein gesamten Bildungswesen ermöglicht. Nur wenn dies flä- Großteil der Praktiker und Wissenschaft, der Städtetag, chendeckend gelingt, nützt dies auch nachhaltig der die Gewerkschaften und Kirchen sowie Wirtschaftsver- Hochschulbildung. bände –, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird. Ein Blockieren dieses Ziels nützt niemandem, sondern Selbst wenn man für einen Moment den Aspekt der schadet der Politik insgesamt. Zu Recht würde Bund und Schulen ausblendet: Auch für die Wissenschaft ist der Ländern Reformunfähigkeit vorgeworfen und der Föde- vorliegende Vorschlag doch völlig unzureichend, weil ralismus blamiert. Das dürfen wir alle nicht zulassen. Ich damit lediglich wenigen Spitzenuniversitäten oder ein- hoffe und bleibe optimistisch, dass wir gemeinsam mehr zelnen exzellenten Einrichtungen vage Mittel in Aus- erreichen können als den jetzt vorliegenden Koalitions- sicht gestellt würden. Auch den Hochschulen wird der vorschlag. Wir halten unsere ausformulierten Vorschläge Regierungsvorschlag so kaum gerecht. Wir wollen das und Anträge für konkrete Änderungen der Art. 91 b und Maximum für eine bessere Bildung erreichen und sind 104 c weiterhin für gute und machbare Lösungen. Dazu für dieses Ziel immer gesprächs- und handlungsbereit. muss sich die Koalition bewegen und endlich für einen Und noch eine Scheindebatte sollten wir beenden: Es echten Konsens offen sein. Ihr Koalitionskonsens reicht ist völlig verfehlt, unseren Vorschlägen zu unterstellen, inhaltlich nicht aus. wir wollten den Ländern die Zuständigkeit für die Schu- len nehmen. Niemand – egal auf welcher Ebene, egal in Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung welcher Partei – braucht den Popanz aufzubauen, dass es und Forschung: Am 30. Mai haben wir im Kabinett den uns Grünen oder der SPD um ein Hineinregieren in die Ihnen vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Ände- Schulen vor Ort ginge. Als Grüne wollen wir Koopera- rung des Art. 91b des Grundgesetzes beschlossen. Wir tion ermöglichen – unter Wahrung der Kulturhoheit der wollen ermöglichen, dass Bund und Länder in Zukunft 24054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) auch bei der institutionellen Förderung unserer Hoch- Ich wiederhole hier gerne noch einmal, was ich be- (C) schulen dauerhaft zusammenarbeiten können. Diese reits in der Debatte im Bundesrat gesagt habe: Herzlich Kooperation zielt auf zwei große Herausforderungen für gerne, gerne können wir über zweite und dritte Schritte die Zukunft: Deutschlands Position im internationalen reden, aber zunächst einmal lassen Sie uns gemeinsam Wettbewerb um Ideen und künftigen Wohlstand zu ver- jetzt diesen ersten Schritt tun. bessern und die Anzahl und Qualität der Fachkräfte von morgen zu erhöhen. Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, mit den Ländern in Gespräche einzutreten. Deshalb habe In der Wirtschaft und in der Wissenschaft nimmt der ich nun die Kultus- und Wissenschaftsminister der Län- internationale Wettbewerb zu. Internationale Rankings der für den 25. Oktober 2012 zu einem Gespräch einge- sprechen hier eine deutliche Sprache: Um zur Spitzen- laden. Ich frage aber: Gibt es einen Konsens der Länder gruppe der Welt aufzuschließen, müssen deutsche Hoch- untereinander? Ich sehe nicht, dass die Länder wissen, schulen noch besser werden. Wir dürfen nicht nur an den welche Änderungen sie wollen und wie weit diese gehen Wettbewerb zwischen einzelnen Bundesländern bei uns sollen. denken – auch der ist wichtig – sondern eben auch an die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt. Zum Im Übrigen habe ich bereits mehrfach vorgeschlagen, Beispiel in Asien wird massiv in die dortigen Hoch- entsprechend der Empfehlung von renommierten schulsysteme investiert. Dies ist die eine Herausforde- Bildungspolitikern und Experten – wie zuletzt von der rung, vor der wir stehen und die wir nur gemeinsam Robert-Bosch-Stiftung – einen Bildungsrat einzurichten, meistern können. der analog zum Wissenschaftsrat mit Experten und Ver- tretern der Politik von Bund und Ländern besetzt sein Es gibt aber eine zweite Herausforderung, die min- soll. destens ebenso wichtig ist: Wir müssen die Ressourcen zur Verfügung stellen, die für die Aus- und Weiterbil- Ein großer gemeinsamer Erfolg ist, dass wir das ver- dung der künftigen Fachkräfte auf höchstem Niveau in einbarte 10-Prozent-Ziel fast erreicht haben. Der Anteil Deutschland notwendig sind. von Bildung und Forschung am Bruttoinlandsprodukt lag 2008 bei 8,6 Prozent und ist in den Jahren 2009 und Die Zielrichtung meiner Intention lässt sich an den 2010 trotz einer Steigerung des BIP um 5,2 Prozent mit Initiativen ablesen, die Bund und Länder in den vergan- 9,5 Prozent auf hohem Niveau konstant geblieben. Ins- genen Jahren gemeinsam für einen befristeten Zeitraum gesamt betrugen 2010 die Bildungsausgaben 172,3 Mil- gestartet haben und mit denen wir die Hochschulen in liarden Euro. Damit ist das vereinbarte 10-Prozent-Ziel unserem Land erfolgreich vorangebracht haben. Hiervon in greifbarer Nähe. (B) profitieren die Studierenden genauso wie die Forschung. (D) Nun hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme des Beispielhaft nenne ich den Hochschulpakt 2020, mit Weiteren gefordert, dass der Bund die Länderhaushalte dem wir neue Studienmöglichkeiten für die zu erwarten- zur Erreichung der bildungspolitischen Zielsetzungen den 327 000 zusätzlichen Studienanfänger schaffen. mit zusätzlichen Umsatzsteuerpunkten unterstützt. Ich nenne weiter den Qualitätspakt Lehre, an dem ge- Diese Forderung lehne ich ab. Denn da machen es genwärtig 186 Hochschulen aus allen 16 Ländern betei- sich die Länder zu einfach. Der Bund ist nicht die Spar- ligt sind. kasse der Länder. Auch für den Bund gilt die Schulden- bremse, und zudem ist die Finanzausstattung des Bundes Ich nenne schließlich die Exzellenzinitiative, mit der – dieser Hinweis sei erlaubt – deutlich ungünstiger als wir die internationale Sichtbarkeit unserer Hochschulen die der Länder. Vielmehr geht es um zusätzliche Mittel – vor allem in der Forschung entscheidend verbessern und nicht um schlichte Umverteilung. nach vorne bringen. Darüber hinaus halte ich eine solche Übertragung Die Resonanz auf diese milliardenschweren auch nicht für zweckmäßig, da die übertragenen Mittel Programme zeigt: Es gibt in allen Ländern einen Bedarf der Gestaltungsund Kontrollmöglichkeit des Bundes ent- dafür. Es gibt ein immenses Interesse der Hochschulen. zogen wären. Ich denke, hier haben wir in diesem Hause Mit Blick auf die Studierenden und die Wett- einen Konsens. Es kann schließlich nicht sein, dass der bewerbsfähigkeit unserer Hochschulen muss ich auch Bund das Geld gibt, aber inhaltlich dann nicht mitspre- sagen: Es gibt schlicht die gesamtstaatliche Notwendig- chen darf. keit, dass wir gemeinsam handeln. Sie alle wissen: Die Zeit drängt. Sie alle wissen: Die Die angestrebte Änderung des Grundgesetzes trägt Hochschulen brauchen diese Änderung jetzt. Sie alle wesentlich zur Bewältigung beider Herausforderungen kennen die Appelle der Allianz der Wissenschaftsorgani- bei. sationen, der Hochschulrektorenkonferenz und der TU9. In den Reden, die anlässlich der Befassung mit dem Deshalb bitte ich Sie: Helfen Sie den Hochschulen Gesetzentwurf im Bundesrat gehalten wurden, war von jetzt. Nehmen Sie nicht die Hochschulen und Studenten den Länderkollegen zu hören, dass der Entwurf nicht als Geiseln. Gerne können wir über weitere Schritte re- weit genug gehe, dass man auch den Bildungsbereich den, aber lassen Sie uns die Zeit nutzen und jetzt diesen mit einbeziehen müsse. wichtigen Schritt gemeinsam tun. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24055

(A) Anlage 3 kum – Kompositionen, Theaterstücke – oder halt neue (C) Besitzer – bildende Kunst – findet. Zu Protokoll gegebene Reden Die soziale Absicherung aller (!) Künstlerinnen und zur Beratung des Antrags: Rechtliche und fi- Künstler in Deutschland unterstützen wir mit der Künst- nanzielle Voraussetzungen für die Zahlung lersozialkasse – eine große und übrigens weltweit in die- einer Ausstellungsvergütung für bildende ser Form einzigartige Anerkennung, die die Gesellschaft Künstlerinnen und Künstler schaffen (Tages- den besonderen Erfordernissen diesem uns so wichtigen ordnungspunkt 15) Berufsstand zollt. Viele Befürworter einer Ausstellungsvergütung bli- Monika Grütters (CDU/CSU): Zum wiederholten cken hoffnungsvoll auf das schwedische Modell, das Mal – das letzte Mal war es im vergangenen Jahr am 2009 in Kraft trat. Aber hat das schwedische Modell die 7. Juli auf Antrag der Grünen – diskutieren wir heute das ökonomischen Verhältnisse der Künstler oder deren Für und Wider einer Ausstellungsvergütung. Jetzt ist es Möglichkeit, ihre Werke auszustellen, tatsächlich signi- die Linke, die sich einer Forderung des BBK anschlie- fikant verbessert? Nicht, dass wir wüssten. Zu bedenken ßen will – es ist zwar alles schon mehrfach gesagt, aber ist aber sehr wohl, was für dramatische Konsequenzen es eben nicht von allen. Sie wollen einen „unverzichtbaren gerade finanziell für die Museen hätte: Solange es die Anspruch auf eine angemessene Vergütung für die Ver- Forderungen nach einem Vergütungsanspruch für die öf- wertung ihrer Werke im Rahmen von öffentlichen Aus- fentliche Ausstellung bildender Kunst gibt, werden sie stellungen sichern“. Zugleich soll dafür gesorgt werden, von fast allen im Kunstbetrieb Verantwortlichen abge- dass „Institutionen, die zeitgenössische Kunst ausstellen lehnt. (…), nicht über Gebühr belastet werden.“ Also muss der Steuerzahler wieder einmal in die Tasche greifen, denn Die Museen haben ja ein großes Interesse an Ausstel- Museen, die heute kaum noch einen Ankauf- oder Aus- lungen zeitgenössischer Kunst. Sie verleihen den Häu- stellungsetat haben, müssten ja hier noch einmal draufle- sern Lebendigkeit und Aktualität. Umgekehrt wissen na- gen, und das geht eben aus den vorhandenen Haushalten türlich auch die Künstler um die Vorteile einer kaum. Ausstellung in diesen Institutionen. Gerade Ausstellun- gen ihrer Werke in öffentlichen Museen sind für die Eine „Gerechtigkeitslücke“ gerade gegenüber bilden- Künstler wie ein Ritterschlag, die Arbeiten erfahren so ja den Künstlern im Vergleich zu Künstlern anderer Spar- auch eine enorme Wertsteigerung. ten, wie sie damals von den Grünen hier ausgemacht Die Schattenseite: Durch Ausstellungsvergütungen wurde, kann ich nicht erkennen – wir alle wissen, dass es werden Ausstellungen für die Veranstalter erheblich teu- (B) sehr erfolgreiche Maler und Bildhauer gibt, ebenso wie (D) rer, in der Folge planen die Museen weniger Ausstellun- arme Poeten, und nur wenige wohlhabende Musiker. gen, oder man greift gleich auf die – freien – Werke zu- Richtig ist: Der bildende Künstler lebt im Gegensatz zu rück, für die keine Gebühr bezahlt werden muss – und anderen Künstlern vom Verkauf seiner Werke, der Autor das geht dann endgültig zulasten derjenigen Künstler, vom Vertrieb, der Musiker von Aufführungen. Erfolg- die Sie doch begünstigen wollen. Nur die bekommen reich verkaufen kann ein Künstler dann, wenn er zuvor dann noch weniger Präsentationsmöglichkeiten. In fast bekannt gemacht wurde – zum Beispiel durch Ausstel- allen Fällen werden schon heute Ausstellungen nicht lungen in Museen, Kunstvereinen, Galerien etc. Das einmal kostendeckend durchgeführt. Künstler an Aus- bringt dem bildenden Künstler eine große Öffentlichkeit stellungseinnahmen zu beteiligen, würde in vielen Fällen und bestenfalls Anerkennung seines Werkes. den finanziellen Ruin der Veranstalter bedeuten, und das Während die einen bei Lesung, die anderen bei Kon- wäre dann das endgültige Aus einer wirksamen Kunst- zerten eine direkte Vergütung erhalten, lebt der bildende und Künstlerförderung. Künstler vom direkten Verkauf seiner Werke oder auch Die meisten Museen verfügen ohnehin kaum noch zum Beispiel von der Nutzung der Abbildungen. Die über große Ausstellungsetats. Ihr Budget für Ausstellun- nun erneut geforderte Ausstellungsvergütung soll dazu gen müsste also entsprechend erhöht werden. Wer, bitte, dienen, bildenden Künstlern auch aus der Ausstellung will das bezahlen? BKM? Oder der Aufrichtigkeit und ihrer Werke einen wirtschaftlichen Nutzen zukommen Wahrheit halber dann doch lieber das Sozialministe- zu lassen – auf dass sich ihre wirtschaftliche und damit rium? soziale Lage verbessere. Als eine Stiftungschefin, die beinahe jährlich Ausstel- Abgesehen davon, dass auch eine Ausstellungsvergü- lungen erarbeitet, kann ich Ihnen aus langjähriger, per- tung die in vielen Fällen sicher schwierige wirtschaft- sönlicher Erfahrung berichten, dass die Mehrzahl der liche Situation der Künstler mitnichten auffangen würde, (Kunst-)Museumsbesucher nicht an Werken zeitgenössi- wäre die Ausstellungsvergütung so nur eine verkappte scher Künstler, sondern eher an Werken der klassischen zusätzliche Sozialleistung. Aber mit welcher Berechti- Moderne oder der aIten Kunst interessiert ist. Diese fal- gung eigentlich? Wenn auch in verschiedenen Systemen, len ohnehin nicht unter die Ausstellungsvergütung. Für so arbeiten und leben doch alle Künstler von demselben Werke zeitgenössischer Künstler müssen wir das Publi- Prinzip: vom „Verkauf“, von der Verwertung, von der kum zunächst mühsam begeistern. Kuratierung der Aus- Nutzung ihrer kreativen Arbeit – eben indem sie sie auf- stellung, Transport der Werke, Schreiner-, Maler- und führen – Bühne, Musik – oder ihr Kunstwerk sein Publi- Reinigungsarbeiten, Restaurierung, Beschriftung, Be- 24056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) leuchtung, Bewachung, Heizung und Klimatisierung, Ankaufetats für die Museen – und hier sind vor allem die (C) Herstellung von Katalogen, Plakaten, Einladungskarten, Länder und Kommunen gefragt. deren Versand, Kosten für die Eröffnung etc. All diese Kosten übernehmen wir als Aussteller bereits. Und dann Christoph Poland (CDU/CSU): Die Förderung von auch noch eine Vergütung an die Künstler zahlen als Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland hat einen „Belohnung“ dafür, dass wir sie bekannt machen? guten Ruf – und das zu Recht. Die Kultur hat in Natürlich könnte man die Künstler an dem Gewinn, Deutschland schon immer eine wichtige Rolle gespielt, der mit der Präsentation ihrer Kunstwerke erwirtschaftet und der föderale Staat Bundesrepublik Deutschland wird, beteiligen, wenn es denn überhaupt einen gäbe. braucht und fördert diese kulturelle Klammer zwischen Doch wer am Erlös beteiligt wird, müsste auch einen Bund und Ländern in besonderer Weise. Der deutsche Teil der Kosten übernehmen – und diese übertreffen be- Staat fördert seine Kultur mit „nur“ 1,67 Prozent aller kanntlich in fast allen Fällen die Einnahmen aus den öffentlichen Haushalte, aber das sind circa 9,6 Milliar- Ausstellungsprojekten. Hinzu kommt, dass der Kunst- den Euro jährlich. Das hat einen positiven Effekt und markt genau dieses Geschäft betreibt, in Galerien und eine nachhaltige Wirkung! auf Messen. Museen haben einen anderen Auftrag. Die Im föderalen Bundesstaat Bundesrepublik liegt die Auswirkungen auf die private Kunstförderung und Aus- Hoheit über Bildung und Kultur bei den Ländern. Sie fi- stellungstätigkeit wären verheerend, weil sich solche nanzieren den Großteil der öffentlich geförderten Kultur Kosten nicht über die Eintrittsgelder auf die Besucher mit über 43 Prozent, die Kommunen sogar noch mehr, verlagern lassen. mit 44,4 Prozent. 113 Millionen Menschen besuchten 2009 deutsche Museen – eine Steigerung von circa Die Enquete-Kommission hat dem Deutschen Bun- 2,2 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Das sind zehnmal destag und der Bundesregierung empfohlen, erneut zu mal so viele Gäste, wie alle Bundesligaspiele einer Sai- prüfen, „mit welchen Regelungen und Maßnahmen im son Besucher hatten. Urhebervertragsrecht eine angemessene, an die wirt- schaftlichen Verhältnisse angepasste Vergütung für alle Vor diesem Hintergrund kann ich nur feststellen: Der Urheber und ausübenden Künstler erreicht werden kann, Antrag der Linken ist populistisch. Ihn von den Grünen da die bisherigen Regelungen im Urhebervertragsgesetz fast wortwörtlich zu übernehmen, macht ihn und die unzureichend sind“. gute Absicht nicht besser! Die bildende Kunst wird über den Verkauf verwertet. Was würde eine Ausstellungsvergütung in Deutsch- Glauben Sie wirklich, dass ein Künstler, dessen Werke land bewirken? nicht gekauft werden, gegen Vergütung ausgestellt (B) Die ausstellenden Institutionen verzichten aus Kos- (D) würde? Sicher nicht. Eine Ausstellungsvergütung nach tengründen gänzlich oder teilweise auf die Ausstellung. dem von Ihnen vorgeschlagenen Modus käme vor allem Das kann uns nicht recht sein. Wir sind zu Recht stolz einem kleinen Kreis längst etablierter Künstler zugute. auf eine breite Kulturszene. Österreich jedenfalls hat die Ausstellungsvergütung Sie von den Linken nehmen bitte die Fakten zur zurückgenommen – 1996 eingeführt, 2000 wieder abge- Kenntnis: Die Forderung nach einer Ausstellungsvergü- schafft –: Dort gibt es keine Ausstellungsvergütung für tung geht von falschen Voraussetzungen aus. Denn nur urheberrechtlich geschützte Werke der bildenden Kunst 10 Prozent der Museen in Deutschland sind reine Kunst- mehr. Die Ausstellungsvergütung bewirkte nämlich museen. Überwiegend werden Kunstwerke zu Illustra- prompt eine Benachteiligung lebender Künstler und tionszwecken ausgestellt, und mit einer Ausstellungsge- wirkte sich am Ende sogar nachteilig für den ganzen bühr würden diese Werke aus dem Ausstellungskonzept Kunststandort Österreich aus. herausgenommen und als verzichtbar angesehen. Die Positiv an Ihrem Antrag ist, dass wir einmal mehr das Mehrzahl der Museen in Deutschland sind klein und wichtige Thema Soziale Lage der Künstler besprechen, Einrichtungen mit geringen Besucherzahlen und wenig und das werden wir in einer der nächsten Ausschusssit- Personal. Auch solche kleinen Museen würden auf zeit- zungen dann ja auch noch einmal tun. Es ist uns allen genössische Künstler verzichten, da der Verwaltungsauf- wichtig, dass unsere Künstler für ihre Arbeit – gut – be- wand für die Abrechnung der Ausstellungsvergütung in zahlt werden. Aber eine pauschalierte Ausstellungszah- keinem Verhältnis zu den Kosten steht. lung für Einrichtungen des BKM, für Institutionen, die Entscheiden sich die Aussteller für die Umlage der überwiegend mit etablierten und auf dem Kunstmarkt Kosten, würde das automatisch zu einer Erhöhung der bereits eingeführten Künstlern arbeiten? Das jedenfalls Eintrittspreise führen. Das können wir nicht wollen. führt nicht zu mehr – sozialer oder wirtschaftlicher – Ge- Über 30 Prozent der Museen erheben keinen Eintritt, rechtigkeit. und 33 Prozent haben einen Eintrittspreis bei maximal 2 Euro. Wichtiger ist es, die Chancen für Künstler zu verbes- sern, überhaupt ausstellen zu können, nicht, sie gesondert Der Jahresverdienst von Künstlerinnen und Künstlern zu vergüten. Es braucht mehr Ausstellungsmöglichkeiten ist nicht hoch. Das ist beklagenswert, aber auch den für jüngere bildende Künstler, weitere Fördermöglichkei- meisten Künstlerinnen und Künstlern bei Aufnahme ten, Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien – Stiftung ihres Berufs klar. Daher unterstützen wir mit Bundesmit- Kunstfonds, Künstlerstipendien der Villa Massimo etc. – und teln die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland über Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24057

(A) die Künstlersozialkasse. Es ist für uns in Regierungsver- nöte bringen. Von den über 6 500 Museen und Ausstel- (C) antwortung eine bürgerliche Tugend, die Kunst und Frei- lungshäusern in Deutschland sind nach Angaben des In- heit zu fördern. Das sage ich deutlich in Richtung der stituts für Museumsforschung nur knapp 60 in der Linken bei so populistischen Anträgen wie diesem. Trägerschaft des Bundes; der allergrößte Anteil öffentli- cher Museen ist in kommunaler Trägerschaft. Gleich- Und nehmen Sie bitte auch aus der Diskussion schon wohl sieht die SPD-Bundestagsfraktion den Bund in der um den Antrag der Grünen zur Kenntnis: Das schwedi- Verantwortung. Orientiert an pragmatischen Lösungen, sche Modell einer Ausstellungsgebühr ist nicht übertrag- wie in Berlin, könnten und sollten erste Schritte hin zu bar, und das österreichische Modell wurde wieder abge- einer angemessenen Vergütung von bildenden Künstle- schafft! rinnen und Künstlern erfolgen. Meine Erfahrung als Ausstellungsmacher war immer, Damit wären wir beim zweiten Kernpunkt des Antra- dass es darum geht, Künstlern eine Plattform zu bieten ges. Die Linke versucht nämlich, schlauer als die Grünen und Besuchern die Schwellenangst beim Ausstellungs- zu sein, und fordert zunächst eine urheberrechtliche besuch zu nehmen. Der Antrag der Linken ist kein Weg Ausstellungsvergütung. Solange es diese aber nicht gibt, dahin. soll es eine Ausstellungszahlung bzw. ein Ausstellungs- honorar geben. Die Linke weiß also selbst, dass es neben Siegmund Ehrmann (SPD): Vor knapp anderthalb vielen Argumenten für eine Ausstellungsvergütung, die Jahren haben wir an gleicher Stelle einen Antrag der wir als Kulturpolitiker allesamt teilen, auch eine Menge Grünen debattiert, die ein Ausstellungshonorar bzw. eine von Argumenten dagegen gibt. Diese sollte man nicht Ausstellungszahlung fordern. Dieser Vorschlag orientiert unterschätzen, zumal diese insbesondere von kommuna- sich am schwedischen Modell einer Künstlervergütung. ler Seite und dem Deutschen Museumsbund, also den Dazu hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2010 Akteuren, die eine solche Vergütung finanziell zu schul- eine Studie vorgestellt und am 25. November 2010 ein tern hätten, vorgetragen werden. Sie argumentieren, dass Expertengespräch durchgeführt. diese Zusatzkosten dazu führen könnten, dass im Ergeb- nis weniger Ausstellungen durchgeführt werden und am Ich habe schon damals deutlich gemacht, dass das Ende nur die bekannten und etablierten Künstler profi- schwedische Modell nicht direkt auf Deutschland über- tieren. Derartige Erfahrungen in Österreich haben dazu tragbar ist. Im Vergleich zu Schweden, wo auch nur eine geführt, dass man sich dort von einer entsprechenden geringe Zahl von Ausstellungshäusern und staatlichen Regelung wieder verabschiedet hat. Museen unter diese Regelung fallen, sind es in Deutsch- land deutlich mehr öffentliche Einrichtungen, die von ei- Ich will die Argumente für und gegen eine urheber- (B) ner solchen Regelung erfasst werden müssten, und diese rechtliche Ausstellungsvergütung nicht alle einzeln noch (D) Einrichtungen befinden sich überwiegend in der kultur- einmal vortragen. Für die SPD will ich an dieser Stelle politischen Verantwortung von Ländern und Kommu- deutlich sagen, dass wir diese nun schon mehr als nen. Die Forderung nach einer verpflichtenden Ausstel- 30 Jahre alte Forderung maßgeblicher Verbände im Be- lungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler reich der bildenden Kunst, eine Ausstellungsvergütung greift zu kurz, wenn damit nur der Bund angesprochen einzuführen, immer positiv begleitet haben. Mit einem wird. Es wäre nach einer Regelung zu suchen, die die Sondervotum hat sich die SPD in der Enquete-Kommis- Länder und Kommunen und natürlich auch deren ak- sion „Kultur in Deutschland“ für eine Ausstellungsver- tuelle finanzielle Lage berücksichtigt. Was nützt eine gütung ausgesprochen. Eine parlamentarische Initiative Forderung, wenn sie auch bei bestem Willen nicht erfüllt der SPD-Kulturpolitiker 2005 war nicht erfolgreich, werden kann. auch weil die Verbände der bildenden Künstlerinnen und Künstler unterschiedliche Vorstellungen hatten, wie ge- Dass es Lösungen gibt, zeigt das Land Berlin. Hier nau eine Ausstellungsvergütung rechtlich ausgestaltet wurden erstmals im Sommer 2011 für eine vom Land or- sein soll. ganisierte Ausstellung – „based in berlin“, Gesamtetat: 1,2 Millionen Euro – Honorare gezahlt. Kritik gab es na- Wir halten das Anliegen einer gerechten und fairen türlich sofort an der Höhe hier: 500 Euro. Berlin hat aber Vergütung von bildenden Künstlerinnen und Künstlern auch andere Wege gesucht und gefunden, die bildende für mehr als berechtigt. Wir wollen, dass Kultur- und Kunst zu unterstützen. Über ein Atelierprogramm bei- Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler und spielsweise wird die Möglichkeit zur Präsentation von Kreative von ihrer Arbeit leben können. In unserem Pro- Kunst ebenfalls gefördert. jekt Kreativpakt haben wir deutlich gemacht, dass eine öffentliche Förderung auch daran geknüpft sein sollte, Ich meine, dass es sich die Linke etwas zu leicht dass Tarifverträge und soziale Mindeststandards einge- macht, wenn sie fordert, der Bund möge seinen Einfluss halten werden. Die Forderung nach einer Ausstellungs- geltend machen, dass auch die Länder und Kommunen vergütung, unabhängig von der Frage nach der konkre- ein verpflichtendes Ausstellungshonorar zahlen mögen. ten Ausgestaltung, gehört dazu. Sie sollten schon auch sagen, wie genau das gehen soll angesichts der finanziellen Lage vieler Kommunen. Wir halten es für wichtig, zu umfassenden und tragfä- Wenn der Bund eine Ausstellungszahlung in seinen Ein- higen Lösungen zu kommen. Unser Ziel ist es, dass die richtungen ermöglichen würde, was vielleicht sogar fi- Künstler und Kreative durch ihr Schaffen und ihr Werk nanziell überschaubar ist, würde er damit Länder und auch ein angemessenes Einkommen erzielen können. Kommunen in erhebliche Erklärungs- und Handlungs- Die Vor- und Nachteile der vorgestellten Ansätze für 24058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Ausstellungszahlungen, -honorare bzw. Ausstellungs- fern nützte die Ausstellungsvergütung vor allem denen, (C) vergütung müssen sorgfältig abgewogen werden. Nur die sie gar nicht bräuchten. mit einer sinnvollen und belastbaren Lösung ist den Kul- turschaffenden auch wirklich geholfen. Dabei sollten al- Es droht sogar, was der Kollege Siegmund Ehrmann ternative Lösungen zur Förderung der bildenden Kunst in einer ähnlich gelagerten Debatte zu einem Antrag der ebenfalls bedacht werden. Grünen so treffend als Bärendienst an den Künstlern be- schrieben hat. Der Deutsche Museumsbund und Vertre- ter der Kommunen und Länder, in deren Verantwortung Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Das Thema besonders viele kleinere Museen und Ausstellungsräume Ausstellungsvergütung ist im Deutschen Bundestag ein stehen, weisen immer wieder auf den Effekt von Zusatz- wohlbekanntes. Bereits in der letzten Wahlperiode kosten hin: weniger Ausstellungen! Dies wäre aber ge- wurde dieses Thema in der Enquete-Kommission „Kul- rade für die von den Linken fokussierte Zielgruppe fatal. tur in Deutschland“ ausführlich beraten und kontrovers Gerade junge und unbekannte Künstlerinnen und Künst- debattiert. Die Enquete-Berichte sowie die Sondervoten ler profitieren unmittelbar von der Ausstellung ihrer spiegelten die Debatte wider; der Antrag der Fraktion Werke, weil sie ihre Bekanntheit steigert und ihnen Kon- Die Linke wiederholt sie nun. takte zu Galeristen und Sammlern verschafft. Da es schlechterdings nicht vorstellbar ist, dass ein Künstler Zweifellos ist der Beteiligungsgrundsatz, nach dem keine Werke verkauft und keine Aufträge erhält, aber so der Urheber oder Leistungsschutzberechtigte an jeder oft ausgestellt wird, dass er davon leben könnte, könnte wirtschaftlichen Nutzung seiner Werke oder Leistungen sich die Lage bildender Künstlerinnen und Künstler also angemessen zu beteiligen ist, einer der tragenden Leitge- sogar verschlechtern. danken des Urheberrechts. Nach unserem liberalen Ver- ständnis realisiert sich darin die Verwertungsfreiheit des Schließlich sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Einzelnen, die wir schützen und gewährleisten müssen. Ausstellungsmacher schon aus wirtschaftlichen Gründen Für uns ist und bleibt die Einführung einer Ausstellungs- die Ausstellungsvergütung einpreisen müssten. Letztlich vergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler aber würde sie sich also in höheren Eintritts- oder Verzehr- der falsche Weg, um ihre – teilweise auch für uns unbe- güterpreisen und sinkenden Besucherzahlen niederschla- friedigende – soziale Lage zu verbessern. gen. Wenn die Linken, wie Sie in Ihrem Antrag ebenfalls schreiben, die Zugänglichkeit zu den Ausstellungen für Der Antrag moniert die Ungleichbehandlung bilden- alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten wollen, ist der Künstlerinnen und Künstler. Für uns war diese Un- dies sicherlich der falsche Weg. gleichbehandlung ein Grund, genauer hinzusehen, und (B) wir stellten bereits in den Beratungen der Enquete fest: Mein Kollege Reiner Deutschmann hat in der bereits (D) Ungleiches wird richtigerweise und dem verfassungsmä- erwähnten Debatte darauf verwiesen, dass wir struktu- ßigen Gleichheitssatz entsprechend ungleich behandelt. relle Unterstützungsmöglichkeiten suchen sollten. Wie Insofern drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Lin- lassen sich zum Beispiel durch Zwischennutzungen ken Symbolpolitik betreiben. Nach dem Motto „Gut ge- günstige Atelier- oder Ausstellungsflächen gewinnen? meint ist manchmal das Gegenteil von gut“ muss ich Welche Maßnahmen entlasten den allgemeinen Kunst- dringend davor warnen, ungleich mit ungerecht gleich- handel nach der auf zwingendem EU-Recht beruhenden zusetzen und die besonderen Verhältnisse im Ausstel- Anpassung des Mehrwertsteuersatzes? Staatsminister lungswesen zu verkennen. Neumann und Staatssekretär Otto prüfen derzeit unter anderem die Möglichkeit einer Margenbesteuerung und Bei reinen Verkaufsausstellungen dürfte die Notwen- eine Anhebung des Bundeszuschusses zur KSK. Alle digkeit einer weiteren Beteiligung selbst von der Links- diese Maßnahmen wirken strukturell und wären aus un- fraktion verneint werden. Mit Blick auf die zahlreichen serer Sicht geeigneter als die von der Linken geforderte Ausnahmen, die der Antrag für kleinere Vereine und Mehrbelastung des Ausstellungswesens. Projekte, Eigentümer und Galeristen vorsieht, blieben daneben nur große Ausstellungsformate vergütungs- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Als läh- pflichtig. Unter diesen gibt es selbstverständlich Leucht- menden Stillstand könnte man die Situation beschreiben, türme wie die Documenta in Kassel oder den MOMA- mit der wir uns heute auseinanderzusetzen haben: Seit Besuch in Berlin, die sich gewinnbringend vermarkten 30 Jahren debattieren bildende Künstlerinnen und lassen. Hier werden in der Regel aber bereits etablierte Künstler, die sie vertretenden Organisationen und Politi- Künstler gezeigt. Bei allen Bemühungen um eine leben- kerinnen und Politiker über „rechtliche und finanzielle dige deutsche Kunstszene gebe ich mich nicht der Hoff- Voraussetzungen für die Zahlung einer Ausstellungsver- nung hin, dass diese Formate die Regel werden könnten. gütung“, wie es in unserem Antrag heißt. Es geht darum, Regelmäßig betroffen wären also die übrigen Ausstel- eine seit langem bestehende Gerechtigkeitslücke im gel- lungen: kleinere Ausstellungen in Museen und Kunst- tenden Urheberrecht zu schließen. Einen ersten Schritt in vereinen. Ausgerechnet diese engagierten Ausstellungs- diese Richtung haben die Grünen mit ihrem Antrag „Für macher würden also zusätzlich unter wirtschaftlichen eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen Erfolgsdruck gesetzt. Für uns wäre es nur allzu verständ- und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei lich, wenn sie als Konsequenz vorrangig auf bekannte durch den Bund geförderten Ausstellungen“, Druck- und etablierte Künstlerinnen und Künstler setzen wür- sache 17/6346, im letzten Jahr gemacht. Diesen Antrag den, um das wirtschaftliche Risiko zu minimieren. Inso- haben wir unterstützt. Er wurde leider im mitberatenden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24059

(A) Haushaltsausschuss abgelehnt. Seitdem wieder: lähmen- gen dafür zu schaffen, dass die Länder und Kommunen (C) der Stillstand. ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge auch im kulturellen Bereich leisten können. Uns geht es um eine Lösung, die Aber nun kommt Bewegung in die Geschichte. Am zum einen die Benachteiligung bildender Künstlerinnen 12. Dezember gibt es im Kulturausschuss ein Fachge- und Künstler im geltenden Recht beendet und darüber spräch zur bildenden Kunst unter anderem auch zum hinaus sichert, dass die Vergütung auch wirklich den Ur- Thema Ausstellungsvergütung. Der Antrag der Grünen heberinnen und Urhebern zugutekommt. Der Vergü- und unserer vom heutigen Tag stehen dann zur Diskus- tungsanspruch soll deshalb unverzichtbar sein, im Vo- sion. raus nur an eine Verwertungsgesellschaft abgetreten und Schweden hat 2009 eine Ausstellungsvergütung ein- nur durch diese geltend gemacht werden können. Klei- geführt, deren Regelungen durch die Zusammenarbeit nere Vereine und Projekte, die zeitgenössische Kunst von Künstlerorganisationen und dem schwedischen Kul- ausstellen, sollen nicht über Gebühr belastet werden. turrat erarbeitet wurden. Seitdem sind alle staatlichen Hier sind Ausnahmeregelungen sinnvoll. Der Kunsthan- Museen verpflichtet, für alle Werke im Eigentum eines del soll davon gänzlich ausgenommen werden. in Schweden lebenden Künstlers eine Ausstellungsver- Die konkrete Ausgestaltung der rechtlichen Regelung gütung zu zahlen. 109 Kunsteinrichtungen haben sich sowie die Höhe und Kriterien einer Ausstellungsvergü- dieser Regelung inzwischen angeschlossen. Schritt für tung sollen in einem Gremium mit den Vertreterinnen Schritt verbessert sich so die Situation der schwedischen und Vertretern der betroffenen Verbände und Institutio- Künstlerinnen und Künstler. Außerdem ist diese Rege- nen sowie ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern lung Ausdruck für die Anerkennung künstlerischer Leis- und Rechtsexperten beraten werden. Es geht ja nicht um tungen durch den Staat, durch die Gesellschaft. Ich Millionen oder Milliarden an finanziellem Mehrbedarf. frage: Warum ist es eigentlich bei uns nicht möglich, Nehmen wir Berlin als Beispiel. endlich eine Ausstellungsvergütung im Urheberrecht zu verankern? Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland Schon mit circa 400 000 Euro jährlich ließe sich hier als Kulturstaat versteht und das Schaffen von Künstle- laut einer Berechnung des BBK Berlin der Bedarf für die rinnen und Künstlern für unverzichtbar hält, dann muss Ausstellungen in den sechs größeren Landeseinrichtun- sie auch die Konsequenzen daraus ziehen und dafür sor- gen sowie den Ausstellungsflächen der Kunstvereine gen, dass Kreative von ihrer Arbeit leben können. decken. Unsere Kolleginnen und Kollegen in der Links- fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin haben in ih- Museen, Kunstvereine und Kommunalverbände haben rem Antrag vom Februar dieses Jahres zur Zahlung von in der Vergangenheit vor der Einführung der Ausstel- Ausstellungsvergütungen in öffentlichen Einrichtungen lungsvergütung gewarnt. Sie machten deutlich, dass be- (B) des Landes Berlin im vergangenen Jahr als ersten Schritt (D) reits jetzt die Etats für Ausstellungen so knapp bemessen einen Ausstellungsfonds für die kommunalen Galerien seien, dass die Einführung letztlich zu weniger Ausstel- in Höhe von 200 000 Euro im Jahr gefordert. Nehmen lungen und damit auch zu weniger Präsentationsmög- wir an: Jeder Bezirk hat mindestens eine kommunale lichkeiten für Künstler führen würde. Dieser Argumenta- Galerie. Dann wären dies ungefähr 18 000 Euro pro tion haben sich leider viele Politiker – namentlich aus Haus und pro Jahr. Und dies hieße um die 3 000 Euro den Reihen der Koalition – angeschlossen. Sie alle ha- pro Ausstellung bei sechs bis sieben Ausstellungen. ben gegen die Einführung einer Ausstellungsvergütung Diese Summen kämen Künstlern zugute – einzeln oder argumentiert. Koalition und auch SPD werden nicht in der ausstellenden Gruppe. Ist das zu viel? Zu viel ver- müde, davor zu warnen, eine solche Vergütung würde langt? Bricht damit unser öffentliches Finanzsystem zu- eventuell mehr schaden als nutzen. Hier gilt: Immer sammen? wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen und Menschen zu einem besseren Anteil an ih- Es ist uns klar, dass wir mit diesen Forderungen die rer Arbeit zu verhelfen, kommt dieses Totschlagargu- finanzielle Situation von bildenden Künstlerinnen und ment. Das war bei der Diskussion um den Mindestlohn Künstlern nicht von Grund auf verbessern können. Es so. Das war beim Folgerecht so. Gerade der Fall Folge- geht dabei auch um Anerkennung ihres Schaffens und recht zeigt, dass sich nichts von der Schwarzmalerei, die um Gerechtigkeit. Vergessen wir bitte nicht, wie viel ge- jedem Vergütungsanspruch entgegengehalten wird, in rade Kunstausstellungen wert sind für eine Stadt, eine der Realität bewahrheitet hat. Anke Schierholz von der Region, wie viel sie beitragen, für deren Ausstrahlungs- VG Bild-Kunst hat belegt, dass zum Beispiel in Groß- kraft und Faszination. Und alles ohne einen Euro Hono- britannien nach der Einführung des Folgerechts das Auk- rar für die ausstellenden Künstler? Das kann doch unser tionswesen genauso blüht wie zuvor. politischer Wille nicht sein. Dass die finanzielle Situation der Museen und anderer Kulturstätten äußerst schwierig ist, ist auch uns bekannt. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Frage ist nur, welche Konsequenzen wir aus dieser Wir begrüßen, dass nach unserem Grünen-Antrag zur Tatsache ziehen. Finden wir uns damit ab, dass wir ein Ausstellungszahlung jetzt auch die Linken einen Antrag kulturelles Prekariat haben? Halten wir das für normal, mit derselben Intention vorlegen. Darin übernehmen die oder tun wir etwas dagegen? Wir als Linke sind nicht be- Linken unter anderem unsere zentrale Forderung, dass reit, diese Unterfinanzierung weiter hinzunehmen. Des- der Bund eine verpflichtende Ausstellungszahlung an halb fordern wir in unserem Antrag auch ein Umsteuern bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografin- in der Finanzpolitik des Bundes, um die Voraussetzun- nen und Fotografen in seine Förderkriterien mit aufneh- 24060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) men soll. Wir sind überzeugt: Dies wäre ein erster stellungen und somit die Möglichkeit zur Teilhabe an (C) Schritt von Bundesseite mit Signalwirkung an Länder Kunstwerken für alle Bürgerinnen und Bürger nicht be- und Kommunen, um die bestehende Gerechtigkeitslücke einträchtigt werden, ist gegen diesen Vorschlag aus un- im Bereich bildende Kunst zu schließen. Interpretinnen serer Sicht nichts einzuwenden. Wir begrüßen in diesem und Interpreten erhalten für ihre öffentlichen künstleri- Zusammenhang auch, dass die Linken in ihrem Antrag schen Darbietungen in der Regel eine Gage. Bildende die Verantwortung des Bundes für eine bessere Finanz- Künstlerinnen und Künstler müssen zumindest für die ausstattung der Länder und Kommunen nicht außer Acht öffentliche Ausstellung ihrer Werke vergütet werden. lassen. Die Linken schließen bei dieser Forderung zu Recht den Kunsthandel aus. In Galerien oder bei Kunstauktionen Auch ein Rechtsanspruch auf eine Ausstellungsvergü- besteht für Künstlerinnen und Künstler die Option, dass tung als Ergänzung im Urheberrecht wird jedoch ohne ihre Werke verkauft werden und sie eine Gewinnbeteili- grundlegende Reformen beim Urhebervertragsrecht in gung erhalten, ganz im Gegensatz zu Ausstellungen in der Praxis – auch darauf gehen die Linken in ihrem Museen. Zwar werden Leihgebühren entrichtet, wenn Antrag ein – nur wenig bewirken. Schöpferinnen von Kunstwerke eines Museums temporär in ein anderes künstlerischen Werken müssen eine stärkere Verhand- wandern. Aber die Schöpferinnen und Schöpfer selbst lungsposition gegenüber den Verwertern ihrer Werke er- erhalten keinen Cent für das Ausleihen ihrer Werke bei halten, damit wirtschaftliche Gewinne der öffentlichen nicht kommerziellen, öffentlichen Ausstellungen. Eine Verbreitung nicht überproportional bei marktstarken Ausstellungsvergütung wäre keineswegs mit immensen Verwertern und Vermittlern liegen. Die Bundesregierung Kosten verbunden. Gerade einmal 2 bis 3 Prozent eines sollte diesbezüglich schleunigst einen Gesetzentwurf Ausstellungsetats betreffen die Ausstellungsvergütung vorlegen – Künstlerinnen und Künstler in Deutschland an Künstlerinnen und Künstler, wie wir am Beispiel sind darauf angewiesen, dass die Politik endlich Schweden sehen können. maßgebliche Entscheidungen trifft, um ihre soziale und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Seit 30 Jahren appellieren Kunstverbände gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi an die Politik, die Ungleich- behandlung im Bereich bildende Kunst zu beenden. Dass es höchste Zeit ist für ein entschlossenes politi- Anlage 4 sches Handeln zur Verbesserung der sozialen und wirt- Zu Protokoll gegebene Reden schaftlichen Situation insbesondere von bildenden Künstlerinnen und Künstlern, belegen zahlreiche Statis- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu tiken. Laut einer Studie des BBK – des Bundesverbands den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des (B) der Bildenden Künstlerinnen und Künstler – nehmen Römischen Statuts des Internationalen Strafge- (D) über 50 Prozent der befragten Künstlerinnen und Künst- richtshofs vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungs- ler durchschnittlich lediglich 5 000 Euro pro Jahr durch punkt 16) den Verkauf ihrer Werke ein. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Frauen im Bereich bildende Kunst ein Drittel weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen und Michael Frieser (CDU/CSU): Was bereits viel zu das, obwohl Frauen mit 60 Prozent an Kunstakademien lange währt, wird nun hoffentlich gut. In dem Gesetzent- eindeutig in der Mehrheit sind. Werke von Künstlerinnen wurf zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des sind wesentlich seltener in Galerien und Museen zu fin- Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom den; unter den ersten zehn der bedeutendsten und somit 17. Juli 1998 wird nun das Verbrechen der Aggression bestverdienenden Künstlerinnen und Künstler der Ge- definiert. Dies ist ein wesentlicher Schritt, damit in Zu- genwart befinden sich laut Manager-Magazin gerade kunft die Strafandrohung durch den Internationalen einmal drei Frauen. Was die Gleichstellung von Frauen Strafgerichtshof nicht nur eine leere Drohung ist. Der In- auch im Kulturbetrieb betrifft, haben wir Grünen ja in ternationale Strafgerichtshof muss als permanentes inter- dieser Legislaturperiode bereits einen Antrag vorgelegt; nationales Gericht in die Lage versetzt werden, die Ver- auf die Umsetzung unserer Forderungen durch die Bun- antwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. desregierung warten wir bis heute vergeblich. Um die Tragweite der geplanten Änderungen des Rö- Während die Ausstellung von Kunstwerken im analo- mischen Statuts zu erfassen, muss zunächst die histori- gen Raum den Künstlerinnen und Künstlern keinerlei sche Entwicklung, die zu diesen Änderungen führte, be- Vergütung einbringt, ist beispielsweise die öffentliche trachtet werden. Am 30. September und 1. Oktober 1946 Abbildung von Kunstwerken im Internet gemäß § 15 verkündete das Internationale Militärtribunal in Nürnberg Abs. 2 UrhG vergütungspflichtig. Das heißt, die Schöp- die Urteile gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten ferinnen und Schöpfer erhalten entsprechend Weltkrieges. Das Urteil von Nürnberg stellte einen Aus- Ausschüttungen über die VG Bildkunst. Im bestehenden gangspunkt für weitere Bemühungen der Staatengemein- Urheberrecht existiert eine rechtliche Lücke für eine schaft um einen internationalen Strafgerichtshof dar. Ausstellungsvergütung von künstlerischen Werken im Nachfolgend bekräftigte die UN-Vollversammlung aus- analogen Raum, welche die Linken in ihrem Antrag drücklich die Rechtsprinzipien, die in Nürnberg zur An- ebenso wie der BBK durch die Forderung einer entspre- wendung gekommen waren, als sogenannte Nürnberger chenden Ergänzung eines Rechtsanspruchs füllen Prinzipien. Was in Nürnberg seinen Anfang nahm, wollen. Soweit dadurch der Zugang zu öffentlichen Aus- wurde stetig weiterentwickelt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24061

(A) Bereits 1950 legte die Völkerrechtskommission der Rom verabschiedet wurde, besitzt der Gerichtshof die (C) UNO sieben Prinzipien vor, die den Anspruch darauf er- sachliche Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggres- hoben, dass schwere Verstöße gegen die internationale sion. Da aber keine Definition der Aggression beschlos- Werteordnung geahndet werden. Diese Nürnberger Prin- sen werden konnte, bleibt die Norm eine leere Hülle, und zipien haben im Römischen Statut des Internationalen zwar so lange, bis eine Definition in das Statut eingefügt Gerichtshofs eine Weiterentwicklung erfahren. Das Sta- wird. Dies ist angesichts der herausragenden Bedeutung tut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der das Völkerstraf- des Aggressionstatbestands, dessen Zweck es ist, die Ge- recht kodifiziert, damit in internationalen Beziehungen waltanwendung als solche auf internationaler Ebene zu keine rechtsfreien Räume verbleiben, in denen Men- pönalisieren, ein unhaltbarer Zustand. schen schutzlos den Gräueltaten von Kriegsverbrechern ausgesetzt sind. Jede Person, die eine Tat begeht, die Vom 31. Mai bis 11. Juni 2010 fand in Kampala die nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde, erste Überprüfungskonferenz des Römischen Statuts des ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zuge- Internationalen Strafgerichtshofs statt, in deren Mittel- führt, auch wenn das nationale Recht keine Strafe für punkt die Bemühungen um eine Einigung in Bezug auf eine Tat vorsieht. das Verbrechen der Aggression standen. Mit den Ände- rungen des Römischen Statuts des Internationalen Straf- Um diese Prinzipien durchzusetzen, wurde mit dem gerichtshofs werden nun eine Definition des Verbrechens am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Römischen Statut der der Aggression und die Bedingungen der Ausübung der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet. Gerichtsbarkeit in das Römische Statut eingefügt. Auch Der IStGH will die nationale Strafgerichtsbarkeit der wird der Einsatz bestimmter Waffen und Geschosse, de- Staaten nicht ersetzen und ist auch kein letztinstanzliches ren Verwendung in internationalen bewaffneten Konflik- Rechtsmittelgericht, welches Verfahren der nationalen ten bereits ein Kriegsverbrechen darstellt, auch im nicht Strafgerichtsbarkeit überprüfen könnte. Der IStGH er- internationalen bewaffneten Konflikt unter Strafe ge- gänzt vielmehr die innerstaatliche Gerichtsbarkeit bei stellt. Diese Änderungen sind die Früchte eines langwie- der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, deren Vor- rigen Prozesses, in dem das Völkerstrafrecht geschaffen rang im Statut vielfach verankert ist. Der Internationale und weiter ausgestaltet wurde. Einzelne Staaten sind in Strafgerichtshof ist damit Ausdruck des gemeinsamen mühsamen Verhandlungen Kompromisse eingegangen, Wunsches der Staatengemeinschaft, für Frieden und Ge- um das gemeinsame, höhere Ziel voranzubringen: ein rechtigkeit auch außerhalb der nationalen Grenzen ein- umfassendes System internationaler Strafgerichtsbarkeit, zustehen. die die nationale Strafverfolgung wirksam ergänzt. Die Normierung des Aggressionstatbestandes ist dabei von Das erste Urteil sprach der Internationale Strafge- herausragender Bedeutung. Nur durch diesen kann eine (B) richtshof am 14. März 2012 im Verfahren gegen den frü- wesentliche Lücke der völkerrechtlichen Strafbarkeit ge- (D) heren kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, schlossen werden. der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kin- dersoldaten für schuldig befunden wurde. Er wurde da- Der nun verabschiedete Tatbestand des Aggressions- für am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jah- verbrechens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar ren verurteilt. Dieses Urteil zeigt, dass die Nürnberger und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Delikt im Prinzipien kein theoretisches Konstrukt sind, sondern Vergleich zu den anderen im Römischen Statut aufge- auch in die Praxis umgesetzt werden können. führten Verbrechen durch die Kriminalisierung staatlicher Angriffshandlungen und als Führungsverbrechen einen Doch die Entwicklung des Völkerstrafrechts ist durch besonderen Charakter hat. Die individuellen Tathandlun- die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshof 2002 gen wurden fast wörtlich den Vorgaben des Statuts des nicht zu einem Abschluss gekommen. Jetzt gilt es zu be- Nürnberger Militärgerichtshofs zum „Verbrechen gegen weisen, dass Deutschland aus seiner dunklen Vergangen- den Frieden“ entnommen. heit gelernt hat und seiner völkerrechtlichen Verpflich- tung nachkommt. Das Völkerstrafrecht muss zu einem Von einem Verbrechen der Aggression wird ausge- wirksamen Instrument der Friedenssicherung aufgebaut gangen, wenn eine Person, die tatsächlich in der Lage werden. Bereits die Strafandrohung muss Aggressoren in ist, das politische oder militärische Handeln eines Staa- ihre Schranken weisen. Dazu ist die stetige Optimierung tes zu kontrollieren oder zu lenken, eine Angriffshand- und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts notwen- lung plant, vorbereitet oder ausführt, die ihrer Art, ihrer dig, die mit der vorliegenden Änderung unterstützt wer- Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige den muss. Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt. Die Formulierung stellt klar, dass es sich um ein soge- Obwohl bereits im ursprünglichen Statut das Verbre- nanntes Führungsverbrechen handelt, das hohe Anforde- chen der Aggression als Straftatbestand angelegt gewesen rungen an die individuelle Täterqualität stellt. Es betrifft war, hatten sich die Vertragsstaaten auf der Gründungs- nicht die kleinen Befehlsempfänger, sondern zieht die konferenz weder auf eine Definition des Verbrechens der Täter zur Rechenschaft, die tatsächlich für den Angriff Aggression einigen können noch auf die vorzusehende auf den Frieden verantwortlich sind. Regierungsober- Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Eine häupter dürfen nicht über dem Gesetz stehen. Kodifikation des Tatbestands scheiterte auch an umstrit- tenen Fragen wie dem Umfang des Rechts auf Selbstver- Eine Angriffshandlung stellt jede mit der Charta der teidigung und die Zulässigkeit humanitärer Intervention. Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waf- Nach Art. 5 des Statuts, wie es auf der Konferenz in fengewalt durch einen anderen Staat dar, so zum Bei- 24062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) spiel die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder nalen Strafgerichtshof vom 17. Juli 1998 ist dabei ein (C) der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines ande- wichtiger und wirksamer Schritt, um Verbrechen gegen ren Staates. Auch eine militärische Besetzung, die sich den Frieden und die Sicherheit der Menschheit der Straf- aus einer solchen Invasion ergibt, sowie die Bombardie- barkeit zuzuführen. rung oder Beschießung des Hoheitsgebiets sind umfasst. Neben der Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates Christoph Strässer (SPD): Ich begrüße den Gesetz- ist auch der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die entwurf der Bundesregierung zu den Änderungen des Rö- sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen mischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß gegen die in der vom 10. und 11. Juni 2010 in Kampala. Das nicht zuletzt entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorge- deshalb, weil ich in der ugandischen Hauptstadt an der sehenen Bedingungen strafbar. Damit ist nicht jede völ- parlamentarischen Begleitung zur Konferenz der Ver- kerrechtswidrige staatliche Gewaltanwendung zugleich tragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes, IStGH, ein Aggressionsverbrechen. Rechtlich umstrittene Ein- teilnehmen durfte und so den schwierigen, aber auch be- sätze, die im Rahmen humanitärer Interventionen durch- eindruckenden Einigungsprozess begleiten konnte. Es geführt werden, um das Leid von Menschen zu lindern gäbe vieles über diese Konferenz zu berichten. Vor allem und weitere Gewalt zu verhindern, werden so nicht er- der Wille der meisten Beteiligten, eine tragfähige Eini- fasst. Auch Fälle von nicht hinreichender Intensität sol- gung unbedingt zu erreichen, war und ist für mich immer len gerade nicht berücksichtigt werden. noch unvergesslich. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbre- chen der Aggression wird in den Änderungen geregelt. Die Konferenz war von der internationalen Vereini- Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur bei Ver- gung „Parliamentarians for global Action“, PGA, in Zu- brechen der Aggression ausüben, die ein Jahr nach Rati- sammenarbeit mit der Protokollabteilung des Parlamen- fikation oder Annahme der Änderungen durch 30 Ver- tes von Uganda organisiert worden. Insgesamt nahmen tragsstaaten begangen werden. Eine weitere wichtige an der Veranstaltung neben den Organisatoren und wei- Änderung betrifft die Strafbarkeit gewisser verbotener teren offiziellen Vertretern 117 Parlamentarierinnen und Waffen in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten. Parlamentarier aus mehr als 30 Ländern teil. Die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen, die Das sichtbarste Ergebnis war die trotz großer Skepsis Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger erkennbare Zustimmung der großen Mehrheit der Kolle- Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten, Stoffe oder ginnen und Kollegen aus afrikanischen Ländern zur Ar- Vorrichtungen, die Verwendung von Geschossen, die sich beit des IStGH. im Körper des Menschen leicht ausdehnen oder flach- (B) drücken, sind in internationalen bewaffneten Konflikten Eine vor Beginn der Konferenz befürchtete Tendenz, (D) bereits strafbar. Der Zustand, dass der Einsatz von Gift- die beklagte „Afrika-Lastigkeit“ der bisher bekannten gasen zwar in internationalen Konflikten bereits als Ermittlungen könne auch auf der Review-Konferenz zu Kriegsverbrechen geahndet werden kann, Machthaber einer Austritts- bzw. Kündigungswelle gerade afrikani- aber ihr eigenes Volk mit diesen Waffen konsequenzlos scher Staaten führen, wurde eindrucksvoll widerlegt. angreifen können, ist unerträglich. Hier kommt es nun zu einer Angleichung, da eine grundsätzliche Unterschei- Im Gegenteil, es wurde ein sehr deutliches und klares dung zwischen den Konfliktformen auf humanitär völ- Engagement zur Unterstützung der Tätigkeit des Ge- kerrechtlicher Ebene heute nicht mehr angemessen ist. richtshofes erkennbar. In der Abschlusserklärung wur- Das Leiden und die Verletzungswirkung, die durch diese den in insgesamt 12 Punkten noch einmal die weitge- Waffen ausgelöst werden, sind verurteilenswert, gleich henden Übereinstimmungen des Treffens niedergelegt. in welcher Art von Konflikt sie eingesetzt werden. Insbesondere wurde Wert darauf gelegt, gemeinsam in den jeweiligen Regionen für eine weitere Verbreitung Diese Änderungen liegen mir als in Nürnberg direkt des Statuts zu sorgen und das Statut in den nationalen gewähltem Abgeordneten besonders am Herzen. In Gesetzeswerken vollständig zu implementieren. Nürnberg entsteht ein Institut für die Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht. Es soll als Einer der Hauptschwerpunkte der damaligen Konfe- Expertenforum dazu beitragen, Frieden mit den Mitteln renz und Thema des hier zu beratenden Gesetzentwurfes des Rechts zu sichern, indem es interdisziplinäre For- der Bundesregierung war die Frage, ob der Internatio- schung betreibt und zielgruppenspezifisches Training zu nale Strafgerichtshof auch über Aggressionsverbrechen völkerstrafrechtlichen Themen sowie Menschenrechts- urteilen sollte. bildung anbietet. Ziel der Akademie ist es, die Akzep- tanz des Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzi- Für mich stand schon damals fest, dass sich gerade pien international zu fördern. die deutsche Bundesregierung aufgrund unserer Ge- schichte dafür einsetzen musste, dass der Internationale Die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbei- Strafgerichtshof auch über Angriffskriege urteilen kön- tung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. Wir müs- nen soll. Zweimal hat Deutschland die Welt in einen sen uns weiterhin aktiv dafür einsetzen, dass der Inter- Weltkrieg gestürzt, indem es Angriffskriege gegen seine nationale Strafgerichtshof möglichst effektiv arbeiten Nachbarn führte, Kriegsverbrechen von bis dahin nicht kann und breite Unterstützung in der Staatengemein- gekanntem Ausmaß verübte und versuchte, die jüdische schaft findet. Das Gesetz zu den Änderungen vom 10. Bevölkerung Europas auszulöschen. Das Nürnberger und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internatio- Kriegsverbrechertribunal hat nach der Befreiung vom Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24063

(A) Faschismus erstmals in der Rechtsgeschichte über einen Zweitens. Der Chefankläger selbst darf ein Verfahren (C) Angriffskrieg und Völkermord gerichtet. einleiten, wenn er der Meinung ist, dass ein „Verbrechen der Aggression“ stattgefunden hat, der Sicherheitsrat je- Dabei wäre es 2010 in Kampala durchaus möglich ge- doch sechs Monate untätig bleibt. wesen, dass dieser Straftatbestand aus dem Rom-Statut gestrichen werden würde. Dahinter steckte seinerzeit vor Drittens. Ein Vertragsstaat bittet den Chefankläger, allem die Befürchtung, der Streit über eine Definition ein Verfahren einzuleiten. von Aggressionsverbrechen könnte den IStGH insge- Natürlich gibt es auch Anlass zu Kritik. Denn den samt schwächen. Vertragsstaaten wird die Möglichkeit eingeräumt, ihre Der SPD-Bundestagsfraktion und mir war es hierbei Entscheidungsträger vor Strafverfolgung durch eine so- wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof seine Ar- genannte Opting-out-Erklärung zu schützen. Drittstaa- beit nicht nur fortsetzen konnte, sondern dass er weitere ten, zum Beispiel USA, Russland und China, fallen per se nicht unter die Aggressionszuständigkeit des IStGH. Rechte erhalten musste. Denn der IStGH und seine Arbeit Das hat die unerfreuliche Folge, dass der IStGH nicht bedeuten einen wichtigen Fortschritt, ja einen Quanten- tätig werden darf, wenn ein Vertragsstaat, der die Ag- sprung für die Wahrung und Durchsetzung der individu- gressionszuständigkeit des Gerichts anerkannt hat, von ellen Menschenrechte. In Kampala unterstützten wir inso- einem Drittstaat oder einem ausoptierten Vertragsstaat fern alle Anstrengungen, die zwei Ziele befördern sollten: angegriffen wird. die Definition des Straftatbestands „Aggressionsverbre- chen“ in der Zuständigkeit des Internationalen Strafge- Obwohl die Gerichtsbarkeit des IStGH in Bezug auf richtshofes und die Stärkung der Arbeitsfähigkeit und die das „Verbrechen der Aggression“ frühestens am 1. Ja- Erweiterung der Kompetenzen des IStGH. nuar 2017 und nur, nachdem mindestens 30 Vertrags- staaten die in Kampala formulierten Regelungen ratifi- Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein Beleg für den Er- ziert haben, beginnt, sollten wir alle glücklich über die folg dieser Konferenz. Denn wir verpflichten uns hiermit, Möglichkeit der Verabschiedung dieses Gesetzes sein die Ergebnisse von Kampala in nationales Recht umzu- und dafür werben, wo immer es möglich ist, auch andere setzen. Danach liegt ein Verbrechen der Aggression vor, Vertragsstaaten von der Notwendigkeit und Nützlichkeit wenn die Planung, Initiierung oder Durchführung eines der Ratifizierung zu überzeugen. bewaffneten Angriffs gegen einen anderen Staat vorliegt. Dieses Verbrechen kann nur von politischen und militäri- Dass angesichts dieser Konflikte eine Einigung er- schen Entscheidungsträgern eines Staates begangen wer- reicht wurde, ist nämlich nichts weniger als ein histori- den. Durch die Änderung des Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e scher Erfolg – zumal vor dem Hintergrund der seit Jahr- (B) des Römischen Statuts wird außerdem der Einsatz be- zehnten festgefahrenen Absichten, den Sicherheitsrat (D) stimmter Waffen und Geschosse im Einklang mit dem und die UNO insgesamt zu reformieren. Die Annahme Völkergewohnheitsrecht und dem deutschen Völker- der Aggressionsbestimmung in Kampala und die Über- strafgesetzbuch auch im nichtinternationalen bewaffne- nahme in deutsches Recht stellt deshalb einen riesigen ten Konflikt unter Strafe gestellt. Die USA, die dem Schritt für die internationale Strafjustiz dar. In Anbe- IStGH bislang ferngeblieben sind und in Kampala nur tracht der mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden mit Beobachterstatus vertreten waren, scheiterten glück- Bemühungen zur Kodifikation des Aggressionsverbre- licherweise mit ihrem Versuch, den Streit um die Defini- chens kann man das Ergebnis aus Kampala mit Fug und tion neu zu entfachen. Recht als Erfolg bezeichnen. Damit der IStGH seine gegenwärtigen und künftigen Große Diskussionen entbrannten über die Frage, wie Aufgaben erfüllen kann, braucht er die volle Unterstüt- sich diese Definition auf das Verhältnis zwischen dem zung der Vertragsstaaten. Die zahlenmäßig gestiegenen IStGH und dem Sicherheitsrat der VN auswirken wird, und meist sehr aufwendigen Untersuchungen und Ver- welcher laut Kap. VII der VN-Charta einen Akt der Ag- fahren erfordern ausreichende finanzielle und personelle gression in den internationalen Beziehungen bis dato als Mittel. Schon jetzt stößt der Gerichtshof an die Grenzen einziger feststellen konnte. Hier kollidierten die Interes- seiner Arbeitsfähigkeit. Die seit letztem Jahr laufenden sen der fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates Untersuchungen in Libyen und in der Elfenbeinküste – USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich – sind finanziell bereits nicht mehr gedeckt. Deshalb sollte mit jenen von Kanada, Australien und vor allem der süd- Deutschland beispielgebend für andere Vertragsstaaten amerikanischen und afrikanischen Vertragsstaaten. Wäh- seinen freiwilligen Beitrag an den Gerichtshof deutlich rend die Mitglieder des Sicherheitsrates ihr alleiniges erhöhen. Recht auf die Feststellung einer Aggression erhalten wollten, fürchtete die andere Gruppe eine Politisierung Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala werden und zunehmende Abhängigkeit des IStGH. Am Ende der den IStGH langfristig stärken, was einerseits eine große Diskussion stand schließlich ein Kompromiss, der meh- Verantwortung und Herausforderung bedeutet, anderer- rere Wege offenlässt, ein „Verbrechen der Aggression“ seits aber auch eine große Chance ist. Treten die Rege- festzustellen und strafrechtlich zu verfolgen: lungen von Kampala 2017 wirklich in Kraft, kann jede Gewaltanwendung gegenüber einem anderen Staat vor Erstens. Der Sicherheitsrat stellt ein „Verbrechen der dem IStGH angeklagt werden. Dies wäre ein großer Aggression“ fest und beauftragt den Chefankläger des Schritt in Richtung einer starken und effizienten Ver- IStGH, ein Verfahren einzuleiten. rechtlichung der internationalen Beziehungen. 24064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Deshalb werden wir voraussichtlich nach den Aus- bunal für das ehemalige Jugoslawien begonnen. Goran (C) schussberatungen diesem Gesetz zustimmen. Hadzic steht wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Er soll an Mord, Marina Schuster (FDP): „Ein historischer Durch- Folter und Vertreibungen beteiligt gewesen sein. bruch für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts“ – In mühseliger Detailarbeit arbeitet das Tribunal für eindeutiger könnte die Denkschrift zum Gesetzentwurf, Ruanda den grausamen Völkermord an Tutsi und Hutu den wir heute debattieren, nicht sein. Die Einigung in auf. Und mit der Verurteilung des ehemaligen liberiani- Kampala, den Tatbestand der Aggression unter die Ge- schen Präsidenten Charles Taylor vor dem Sondergericht richtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshof zu stel- für Sierra Leone konnte ein großer Erfolg im Kampf ge- len, schließt eine große Lücke des Völkerstrafrechts. Sie gen die Straflosigkeit erreicht werden. ist ein Meilenstein im internationalen Kampf gegen die Straflosigkeit. Leider gibt es aber auch Beispiele, die zeigen, dass An dieser Stelle möchte ich mich bei Markus Löning, Vergangenheitsbewältigung und Strafverfolgung nach dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschen- dem Ende von Unrechtsregimen oder Völkerrechtsver- rechtspolitik und Humanitäre Hilfe, bedanken. Er war brechen häufig unbefriedigend sind. So geht die Aufar- Delegationsleiter in Kampala. Dabei wurde er maßgeb- beitung der Schreckensherrschaft der Roten Khmer nur lich durch die juristische Expertise von Professor Dr. schleppend voran. Auch wenn der hauptverantwortliche Claus Kreß und der Völkerrechtsberaterin der Bundesre- Folterer „Duch“ verurteilt werden konnte, behindert die gierung, Dr. Susanne Wasum-Rainer, unterstützt. Es ist Regierung in Phnom Penh die Ermittlungen derart, dass dem Einsatz des Teams zu verdanken, dass bei dieser bereits zwei anerkannte Richter aus Deutschland und der Konferenz die Ziele Deutschlands vollständig erreicht Schweiz ihr Amt niedergelegt haben. wurden. Kambodscha ist kein Einzelfall. Diesen Sommer hatte Und auch ich stehe hier nicht ohne Stolz. Deutschland ich die Gelegenheit, mich auf einer Reise nach Kenia di- ist nach San Marino und Liechtenstein das dritte Land, rekt vor Ort über den Versöhnungsprozess im Anschluss das die Änderungen des Römischen Statuts ratifiziert. an die blutigen Ausschreitungen nach den Wahlen 2007 Als Menschenrechtspolitikerin bin ich stolz, dass und 2008 zu informieren. Es hat mich sehr beunruhigt, Deutschland hier eine Vorbildrolle übernommen hat und zu hören, dass keiner der Täter bisher verurteilt wurde. ein entscheidendes Signal an andere Länder sendet. Viele Opfer fühlen sich alleingelassen. Dies zeigt, welch Ebenso kann ich selbstbewusst sagen, dass unsere christ- große Bedeutung der Arbeit des Internationalen Strafge- lich-liberale Koalition heute ein wichtiges Ziel – wort- richtshofs zukommt, welcher seit 2009 diese Vorfälle (B) wörtlich aus dem Koalitionsvertrag – erreicht hat. Die untersucht. Das Verfahren gegen vier hochrangige (D) FDP-Fraktion kann damit auf eine erfolgreiche Men- Staatsbeamte ist für 2013 geplant. William Samoei Ruto, schenrechtsbilanz zurückblicken, und auch das Gesetz Joshua arap Sang, Francis Kirimi Muthaura und Uhuru zu den Änderungen des Römischen Statuts geht auf eine Muigai Kenyatta werden Verbrechen gegen die Mensch- Initiative von uns Liberalen zurück. lichkeit vorgeworfen. Die Ermittlungen des IStGH sind die große Hoffnung der kenianischen Zivilgesellschaft, Gleichzeitig mit der Definition des Tatbestands der die sich nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit Aggression wurde in Kampala eine weitere wichtige Än- sehnt. derung des Römischen Statuts erreicht. Deutschland war maßgeblich daran beteiligt, dass der Einsatz bestimmter Wir sehen also immer wieder, wie wichtig die Grün- besonders grausamer Waffen und Geschosse auch in dung des Internationalen Strafgerichthofs war. Das nicht internationalen bewaffneten Konflikten in Zukunft „Wunder von Rom“, wie der renommierte Völker- als Kriegsverbrechen eingestuft wird. rechtsprofessor Christian Tomuschat die diplomatische Bevollmächtigtenkonferenz von 1998 kürzlich nannte, Mit dem Tatbestand der Aggression knüpft das Rom- bestätigte die Universalität des Gedankens von Nürn- Statut direkt an die Nürnberger Prozesse an. Bereits im berg. Völkermörder, Kriegsverbrecher und Verbrecher Statut des Internationalen Militärgerichtshofs wurde die- gegen die Menschlichkeit müssen nun grundsätzlich da- ser als „Verbrechen gegen den Frieden“ als zentraler An- von ausgehen, dass sie sich für ihre Taten verantworten klagepunkt aufgeführt. Die Nürnberger und Tokioter müssen, und zwar vor einem zentralen, überparteilichen, Prozesse legten den Grundstein für das Ende der Straf- objektiven Gericht – ohne zeitliche Begrenzung! losigkeit und damit für eine der größten kulturellen Er- rungenschaften der modernen Menschheitsgeschichte. Der Beschluss von Kampala stärkt die Rolle der indi- Die Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugosla- viduellen Verantwortung. Die Definition sieht vor, dass wien, für Ruanda, Sierra Leone und Kambodscha führen das Verbrechen der Aggression nur von einer Person be- dieses Vermächtnis seit den 1990er- und 2000er-Jahren gangen werden kann, die tatsächlich in der Lage ist, das fort. politische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. Man spricht hier auch vom „Führungsverbre- Sicher ist Ihnen allen das Verfahren gegen den frühe- chen“. Mit seinem Haftbefehl gegen den sudanesischen ren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic wegen Präsidenten Umar al-Bahir hat der Internationale Straf- Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtshof bereits bewiesen, dass er auch nicht vor Ver- noch in Erinnerung. In Den Haag hat nun gerade der fahren gegen amtierende Staatsoberhäupter zurück- Prozess gegen den letzten Angeklagten vor dem VN-Tri- schreckt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24065

(A) Bis jetzt sind 121 Staaten dem Römischen Statut bei- Kolumbien, Südkorea, Georgien und in den palästinen- (C) getreten; damit hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten seit sischen Gebieten und bestätigt damit den universellen dem Inkrafttreten des Vertrags verdoppelt. Wenn wir al- Fokus des Römischen Statuts. lerdings das Ende das Straflosigkeit als ernsthaftes Ziel verfolgen, reicht dies noch lange nicht. Bis jetzt sind we- Deutschland steht fest hinter dem Internationalen der China noch Russland oder die USA Mitglieder des Strafgerichtshof. Mit dem heute vorliegenden Gesetzent- Römischen Statuts; das sind drei von fünf ständigen Mit- wurf bekennen wir uns klar zu seiner Arbeit, und wir gliedern des VN-Sicherheitsrates. Während diese Auf- werden das Gericht auf seinem vielversprechenden Weg zählung oft und prominent erwähnt wird, werden viele mit großem Engagement begleiten. andere Staaten vergessen, die sich bisher auch noch nicht zum Internationalen Strafgerichtshof bekannt haben: In- Stefan Liebich (DIE LINKE): Am 25. April 2002 dien, Indonesien, und Irak. Tunesien ist erst kürz- debattierte der Deutsche Bundestag die Ratifizierung des lich und als einziger Staat der arabischen Welt beigetre- Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtsho- ten. fes vom 17. Juli 1998 und stimmte schließlich einstim- mig zu. Die Fraktion der PDS hatte dazu, zum Entwurf Weitere große Herausforderungen des Gerichts sind eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbu- die Beschleunigung der Verfahren und eine langfristige ches, einen Entschließungsantrag eingebracht, der zwar Finanzierung. Nach Japan ist Deutschland der zweit- abgelehnt wurde, dessen teilweise Umsetzung wir aber größte Geldgeber des IStGH. Wir steuern knappe 12 Pro- nun nach zehn Jahren erleben. Wir forderten damals die zent des 110-Millionen-Euro-Budgets bei. Um den sehr Bundesregierung auf, die Definition eines Verbrechens hohen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu wer- der Aggression, die Aufnahme eines Verbrechenstatbe- den, ist es unabdingbar, dass das Gericht ausreichend mit standes des internationales Terrorismus, die Strafbarkeit Ressourcen ausgestattet ist. Dies gilt insbesondere für des Einsatzes von Atomwaffen und anderer grausamer qualifiziertes Personal. Die Richter des IStGH müssen Waffen und die Festlegung einer Altersgrenze von 18 nicht nur über solide Kenntnisse des humanitären Völ- Jahren für den Einsatz als Soldat in den internationalen kerrechts und der Menschenrechte verfügen, sondern Gremien anzumahnen und dafür tätig zu werden. brauchen auch praktische Erfahrungen in strafrechtli- chen Prozessen. Deutschland stellt mit Hans-Peter Kaul Jetzt liegt uns ein Gesetzentwurf der Bundesregierung einen der 18 Richter. vor, ein Gesetzentwurf, der die Resolutionen der ersten Überprüfungskonferenz des Rom-Statuts, die 2010 in Mit dem Institut zur Durchsetzung der Nürnberger Kampala, Uganda statt fand, umsetzt und die Verände- Prinzipien zum Völkerstrafrecht, das unsere christlich- rungen des Rom-Statuts ratifizieren soll. Er regelt die (B) liberale Koalition ins Leben gerufen hat, haben wir ein Definition eines Verbrechens der Aggression, die Straf- (D) weiteres wichtiges Zeichen gesetzt. 2012 wurden bereits barkeit der Verwendung von – im weiteren Sinne – che- mehrere Modellprojekte durchgeführt: unter anderem mischen Waffen, obwohl die Definition der Chemiewaf- eine Summer School zum Thema „From Nuremberg to fenkonvention da sicher besser ist, und die Strafbarkeit The Hague“ mit amerikanischen und zwei kenianischen grausamer Waffen – hier im Sinne von zum Beispiel Studenten im Juni. Teilmantelgeschossen –; beides nicht nur in zwischen- Immer wieder bemängeln Kritiker, dass es in der zehn- staatlichen Konflikten. jährigen Tätigkeit des IStGH lediglich ein einziges Urteil All das ist zu begrüßen. Immerhin, zwei von fünf For- gab. Im März wurde der kongolesische Milizenführer derungen unseres damaligen Entschließungsantrages Thomas Lubanga wegen der Rekrutierung von Kinder- sind umgesetzt. soldaten schuldig gesprochen. Selten wird hingegen von den Schwierigkeiten gesprochen, die die Ermittler des Und es gilt festzuhalten: Der Internationale Strafge- Gerichts bei ihren Untersuchungen bewältigen müssen. richtshof in Den Haag hat trotz erheblichen Widerstan- Bei ihrer Arbeit ist die Anklagebehörde auf Zeugenaus- des der Regierung der Vereinigten Staaten seine Arbeit sagen und vor allem auf die Kooperation der Behörden aufnehmen können. 121 Staaten haben mittlerweile das vor Ort angewiesen. Ein Großteil der Ermittlungsarbeit Rom-Statut ratifiziert. Mit der Verurteilung von Thomas muss in Den Haag, dem Sitz des Gerichts, stattfinden. Lubanga im Juli dieses Jahres wurde das erste Verfahren Im Ergebnis wird hier auch von „remote justice“ – Ge- zum Abschluss gebracht. Lubanga war der Versklavung rechtigkeit aus der Ferne – gesprochen und die entste- von Kindern als Soldaten in Hunderten Fällen schuldig hende emotionale Distanz kritisiert. gesprochen worden. Sehr ähnlich ist der Vorwurf, dass es sich beim IStGH Im Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über um eine koloniale Institution handele. Kurz vor ihrem An- die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von tritt als neue Chefanklägerin widerlegte Fatou Bensouda Kindern an bewaffneten Konflikten, von der Bundes- dies sehr energisch: „Als Frau, als stellvertretende Chef- republik unterzeichnet, aber mit einem Vorbehalt verse- anklägerin, als Afrikanerin bin ich wirklich bestürzt, hen, ist geregelt, keine Heranwachsenden unter 18 zum wenn gesagt wird, dass der Internationale Strafgerichts- Dienst in Streitkräften heranzuziehen. Auch im Sinne in- hof immer nur Afrikaner ins Visier nimmt. Das tut er ternationaler Glaubwürdigkeit kann ich Sie nur auffor- nicht. Der IStGH kooperiert mit Afrika. Und er versucht, dern: Ziehen Sie diesen Vorbehalt zurück! Auch in die Opfer in Afrika zu beschützen.“ Zurzeit führt das Deutschland – und da müssen wir Vorbild sein – darf der Gericht Vorermittlungen zu Fällen in Afghanistan, Dienst in Streitkräften erst ab 18 möglich sein. 24066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Festzuhalten bleibt auch: „Erste Pflicht der deutschen In Kampala wurde ein Kompromiss in letzter Minute (C) Politik ist es, auf die Durchsetzung eines internationalen gefunden. Der IStGH kann ab 2017 nun einerseits Ag- Rechts zu drängen, das für alle Staaten verbindlich ist. gressionsverbrechen auch dann behandeln, wenn der Si- Ohne eine solche Rechtsordnung kann es keinen Frieden cherheitsrat untätig bleibt – obgleich die Chefanklägerin geben. Auch international gilt: Die Freiheit des Stärke- und die von einem Angriff betroffenen Staaten erst hohe ren führt zur Unterdrückung. Das Recht schützt die Hürden zu überwinden haben, ehe sie ein Verfahren ein- Freiheit der Schwächeren.“ Das schrieb unser späterer leiten können. Andererseits darf der IStGH nicht gegen Parteivorsitzender im Jahr 2005, und Angehörige von Staaten ermitteln, die dem Statut fern- ich stimme dem aus vollem Herzen zu. geblieben sind, zum Beispiel die USA, China und Russ- land. Ihre Führer müssen daher nicht befürchten, wegen Deshalb muss die Bundesregierung auf allen Ebenen möglicher Aggressionen – etwa in Afghanistan, Tibet dafür wirken, dass die USA und Russland ihren Wider- oder Georgien – belangt zu werden. Mit dem universel- stand gegen den Internationalen Strafgerichtshof auf- len Anspruch des Gerichts ist dieser Kompromiss nach geben. Gut, dass die Tschechische Republik 2009 als Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen nur bedingt verein- letzter EU-Mitgliedsstaat die Ratifizierungsurkunde hin- bar. Mehr als bedauerlich ist zudem die vorgesehene Op- terlegt hat. Bei den Beitrittsverhandlungen zur EU sollte tionslösung, wonach die Vertragstaaten erklären können, die Ratifizierung des Rom-Statuts und damit die Aner- dass der IStGH nicht für Aggressionen zuständig sein kennung eines wichtigen Teils des Völkerrechts Bedin- soll, die durch ihre Staatsangehörigen begangen wurden gung sein, meine ich. oder von ihrem Staatsgebiet ausgehen. Historisch ist die Definition eines Verbrechens der Darüber, dass wir Grünen und vermutlich auch die Aggression gar nicht hoch genug zu bewerten, bei allen Bundesregierung sich ein noch schöneres Ergebnis ge- Abstrichen und vielen Kompromissen. Nach den Kriegs- wünscht hätten, brauchen wir uns jedoch nicht lange zu verbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio und der unterhalten. In erster Linie sollten wir uns über den in UN-Resolution 3314 von 1974 ist es gelungen, eine breit Kampala erzielten Durchbruch freuen – Minimalkonsens getragene Definition zu erarbeiten, die dem Gericht hin oder her. Der Sinn der neuen Einigung besteht vor al- Raum zu eigenem Handeln lässt. lem darin, eine gefährliche Lücke im Recht der Staaten- welt zu schließen. Zwar können bislang Verbrechen in- Deshalb werden wir unsere Kritik im parlamentari- nerhalb des Kriegs verfolgt werden, auch Verbrechen schen Beratungsverfahren benennen, dem Gesetzent- gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Nur beim wurf jedoch zustimmen. Hausaufgaben – nicht nur der Angriffskrieg selbst war das bisher nicht möglich. Dabei Bundesregierung; sie ist aber hier unser Adressat – blei- gilt er seit den Nürnberger Prozessen gegen die NS-Füh- (B) ben: ein Tatbestand des internationalen Terrorismus und rung als „das schwerste internationale Verbrechen“. (D) die Strafbarkeit des Einsatzes von Atomwaffen und aller Massenvernichtungswaffen. Die deutsche Delegation hat in Kampala – genauso wie übrigens schon bei der Schaffung des Römischen Statuts – einen sehr wichtigen und konstruktiven Beitrag Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geleistet, um eine Einigung zu erzielen, und hat gemein- Der Internationale Strafgerichtshof, IStGH, soll künftig sam mit den Niederlanden eine Gruppe der Gleichge- auch über das Verbrechen des Angriffskrieges urteilen. sinnten organisiert, um auf einen Kompromiss hinzuar- Das beschlossen in der Nacht zum 12. Juni 2010 die da- beiten. Und auch wenn Menschenrechtsorganisationen mals 111 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts bei ei- wie etwa Amnesty International zu Recht kritisieren, ner Konferenz in Ugandas Hauptstadt Kampala und füg- dass man den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates ten einen neuen Art. 8bis in das Römische Statut des zu sehr entgegengekommen sei, so muss ich doch kon- IStGH ein. Demnach können der Sicherheitsrat der Ver- statieren, dass eine nicht ganz perfekte Regelung des einten Nationen, die Vertragstaaten des Römischen Sta- Tatbestandes des Aggressionsverbrechens immer noch tuts sowie die Chefanklägerin in Zukunft Ermittlungen deutlich besser ist als gar keine Regelung. Dennoch hat wegen Aggressionsverbrechen einleiten. Nun müssen auch die Beharrlichkeit von Amnesty International, Hu- Präsidenten oder Armeeführer damit rechnen, wegen man Rights Watch und anderen NGOs insgesamt eine völkerrechtswidriger Invasionen, Bombardements oder sehr wichtige und positive Rolle gespielt: Ohne deren Blockaden anderer Länder persönlich zur Verantwortung Forderungen wären insbesondere Großbritannien und gezogen zu werden. Dies ist gerade für uns Deutsche ein Frankreich nicht unter jenen enormen Druck geraten, un- wesentlicher Meilenstein in der völkerrechtlichen Ent- ter dem sie zuletzt standen. Auch Maximalforderungen wicklung. Es geht beim Verbrechen der Aggression um zu erheben, ist in Verhandlungsrunden legitim und von nicht weniger als um das Erbe der Nürnberger Kriegs- großer Bedeutung. Wer den gefundenen Konsens nun für verbrecherprozesse. Wir Grüne hatten die deutsche De- zu schmalbrüstig erachtet, der sollte bedenken, dass die legation in Kampala durch einen Antrag unterstützt Völkerrechtsentwicklung sich eher in Dekaden als in (Bundestagsdrucksache 17/1767). Im Nachhinein ist es Jahren vollzieht. Eine Erweiterung des Aggressionstat- umso bedauerlicher und unverständlicher, dass sowohl bestandes ist wohl im steten Prozess weiterhin möglich. die schwarz-gelbe Koalition als auch die SPD diesen Antrag einst abgelehnt haben. 28 Monate nach Kampala Die große Aufgabe, die in naher Zukunft zu bewälti- ist es aber nun doch ein gutes Zeichen, dass die Bundes- gen sein wird, ist die Implementierung des Tatbestands regierung die dort gefundenen Beschlüsse ratifizieren des Aggressionsverbrechens in die deutsche Rechtsord- möchte. nung. Für die Umsetzung des Art. 8bis des Römischen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24067

(A) Statuts ins deutsche Recht gibt es verschiedene denkbare Gerichten verhandelt werden müsste, wäre jedoch eine (C) Varianten. strafprozessuale Einschränkung über § 153 f StPO zwin- gend erforderlich. Die vermeintlich einfachste, zugleich aber auch un- ambitionierteste Möglichkeit ist wohl, keine Änderun- Wir müssen uns daher fragen, ob wir so eine weite gen im deutschen Recht vorzunehmen und mit dem Regelung im materiellen Strafrecht tatsächlich haben bestehenden § 80 StGB weiter zu operieren. Die Mate- möchten. Ob es wirklich sinnvoll wäre, den Anschein ei- rialien zu Art. 8bis des Römischen Statuts könnten dann nes weltweit für alle Aggressionsverbrechen zuständigen als reine Auslegungshilfe herangezogen werden. Dafür materiellen Strafrechts zu erwecken, wenn doch klar ist, spricht, dass es keine völkerrechtliche Pflicht gibt, das dass die Ermittlungsbehörden und auch die Gerichte in Verbrechen der Aggression ins deutsche Recht zu imple- der Vielzahl dieser Fälle an ihre Grenzen stoßen würden. mentieren. Gegen diese Variante ist jedoch einzuwen- Die große Mehrzahl der Strafanzeigen nach einem den, dass die Bundesrepublik ihrer Vorreiterrolle im neuen, auf dem Weltrechtsprinzip basierenden Tatbe- Völkerstrafrecht, die sie in Kampala erneut unter Beweis stand des Aggressionsverbrechens würde aufgrund be- gestellt hat, und auch ihrer historischen Verpflichtung rechtigter strafprozessualer Erwägungen eingestellt. nur unzureichend Rechnung tragen würde. Dies würde in erster Linie Enttäuschung hervorrufen und das Bestreben um eine Stärkung des Völkerstrafrechts Die zweite, genau gegensätzliche Lösung wäre wohl, vermutlich eher behindern als fördern. Art. 8bis des Römischen Statuts vollumfänglich in einer ins Deutsche übersetzten Form im deutschen Recht abzu- Es ist daher notwendig, den neuen Tatbestand realis- bilden. Hier stellt sich jedoch die Frage des Bestimmt- tisch und auch pragmatisch zu fassen. Der Bezug zur Bun- heitsgrundsatzes im deutschen Recht, im Strafrecht zu- desrepublik Deutschland – ähnlich wie er derzeit in § 80 mal. Dem wird Art. 8bis nicht gerecht. Insbesondere die StGB steht – sollte daher nicht pauschal aufgegeben wer- soeben dargestellte Entstehungsgeschichte des Kompro- den. Denn neben dem Argument, dass die mögliche Über- misses zum Tatbestand des Aggressionsverbrechens hatte frachtung der Gerichte und Ermittlungsbehörden Enttäu- es erforderlich gemacht, auf Formulierungen zurückzu- schung produzieren würde, stellt sich zusätzlich die greifen, die wohl erst im Zuge der Rechtsauslegung und Frage, ob ein Weltrechtsprinzip im Falle der Aggression -anwendung näher definiert werden. Ein Umstand zwar, völkerrechtlich überhaupt möglich wäre. Im Gegensatz der in vielen nationalen Gesetzgebungsverfahren eben- zu anderen Völkerrechtsverbrechen gibt es im Hinblick falls vorkommt. Dort aber wird im Regelfall mit bereits auf die Aggression keine diesbezügliche Staatenpraxis. bekannten Rechtsbegriffen jongliert, die die Verfas- Mit diesem Argument das Weltrechtsprinzip beim Ag- sungsmäßigkeit zumindest in der Regel nicht überstrapa- gressionsverbrechen aber nun abzulehnen, wäre zu vor- (B) zieren. schnell. Jede Form des Völkergewohnheitsrechts nimmt (D) aus irgendeinem Anlass und durch irgendeine Norm ihren So bleibt als dritte Möglichkeit wohl nur ein Mittel- Anfang. Das Völkerstrafrecht weiter voranbringen zu weg. Aufbauend auf § 80 StGB müsste Art. 8bis des Rö- wollen, hieße also, bei der Umsetzung des Aggressions- mischen Statuts in modifizierter Form ins deutsche verbrechens ins deutsche Recht nicht gänzlich auf einen Recht übernommen werden, wenn auch nicht unbedingt weltrechtlichen Anspruch zu verzichten. Zumal andern- im StGB. § 80 StGB ist anerkannt verfassungsgemäß falls eine nicht zu erklärende Ungleichbehandlung zwi- und hinreichend bestimmt, auch im Hinblick auf die De- schen den einzelnen Völkerrechtsverbrechen die Folge finition des Tatbestandsmerkmals des Angriffskrieges. wäre. Eine vermittelnde Lösung wäre also auch hier an- Natürlich müsste die Norm jedoch verändert werden. gebracht. Nicht alle Aggressionsverbrechen sind per se Zum einen im Hinblick auf den Täterkreis; denn klar ist, vom Weltrechtsprinzip erfasst. dass das Aggressionsverbrechen im Römischen Statut ein Führungsdelikt, nach deutscher Wertung also ein ab- Nichtstaatliche Akteure schließt beispielsweise auch solutes Sonderdelikt, darstellt. Insbesondere aber ist die Art. 8bis des Römischen Statuts aus. Zwar muss bei der Klärung der Frage notwendig, ob der Bezug zu Deutsch- Fassung des Tatbestandes der Gefahr entgegengewirkt land in der Norm erhalten bleiben solle. werden, dass Angriffskriege in zwei Kategorien unter- teilt würden: in solche, die von deutschen Behörden ver- Ob der Bezug zu Deutschland, wie ihn derzeit § 80 folgt oder nicht verfolgt werden. Doch dies kann durch StGB vorsieht, aufrechterhalten bleiben oder zugunsten eine geschickte, sich am Sinn und Zweck der Norm eines echten Weltrechtsprinzips aufgehoben werden soll, orientierende Formulierung des Tatbestandes und der ist eine der beiden schwierigsten Fragen bei der Imple- Tathandlung vermieden werden. mentierung des Verbrechens der Aggression in die deut- sche Rechtsordnung. Der Ständige Internationale Ge- Dies leitet zu der zweiten aus meiner Sicht wesentli- richtshof hatte im Jahr 1927 im Lotus-Fall geurteilt, dass chen Frage bei der Implementierung des Verbrechens der die Ausdehnung nationaler Strafgerichtsbarkeit nur dann Aggression in die deutsche Rechtsordnung über, der unzulässig sei, wenn ein ausdrückliches völkerrechtli- Frage nach der Definition des Angriffskrieges. Es er- ches Verbot nachweisbar wäre. Dieses wegweisende Ur- scheint charmant, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2 des teil hat das Weltrechtsprinzip begründet und gilt bis Römischen Statuts zu übernehmen. Dies hieße jedoch heute. Diese Lotus-Entscheidung konsequent umzusetzen, zum einen, sich erneut an bislang im deutschen Recht hieße, den Deutschland-Bezug aus dem neu zu schaffen- undefinierte Rechtsbegriffe heranwagen zu müssen – mit den Tatbestand zu streichen. Damit infolgedessen jedoch allen Schwierigkeiten im Hinblick auf das Bestimmt- nicht wegen jeder weltweiten Aggression vor deutschen heitsgebot und die Verfassungsmäßigkeit, und zum an- 24068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) deren, den in Art. 8bis enthaltenen Verweis auf die Reso- kreieren, die die wesentlichen Problemfälle dann auf den (C) lution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der IStGH verlagern. Der IStGH ist ein Gericht nur für jenen Vereinten Nationen zu übernehmen. Zu Recht wird der Notfall, in dem die nationalen Gerichte und Rechtsord- in Kampala gefundene Kompromiss für den Tatbestand nungen versagen. Daher plädiere ich für eine mutige Lö- des Aggressionsverbrechens für diesen Verweis kriti- sung und die Schaffung eines neuen Tatbestandes im siert. Denn die Bezugnahme auf die Resolution 3314 VStGB. Ein Beharren auf § 80 StGB in einer modifizier- (XXIX) kontaminiert den Aggressionsbegriff mit politi- ten Form wäre der Größe des Projektes nicht angemessen. schen Erwägungen der Sicherheitsratsmitglieder. Im deutschen Strafrecht wäre es ein einmaliger Fremdkör- Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zur prozessualen per, würde die Einschätzung des UN-Sicherheitsrates zur Flankierung. Jede noch so gute neue Regelung würde an Tatbestandsvoraussetzung einer strafbaren Handlung. Einfluss und Macht verlieren, wenn § 153 f StPO weiter- Zur Lösung dieses Problems böte es sich an, die An- hin so restriktiv angewandt würde wie bislang. Er muss griffshandlung im deutschen Recht gesondert und ohne reformiert werden. Das Wort „insbesondere“ im zweiten eine Bezugnahme auf die Resolution zu definieren. Absatz suggeriert in meinen Augen, dass es sich im Ver- Art. 3 der Resolution könnte hierfür aus seinem Kontext gleich zum ersten Absatz eher um eine Soll- als um eine herausgehoben und verwendet werden. Er ist progressiv Kann-Vorschrift handelt. Zudem wird – etwa in der und wird international besonders von den kleineren Staa- zweiten Rumsfeld-Entscheidung – in der Rechtspraxis ten begrüßt. regelmäßig geprüft, ob angesichts der Möglichkeiten der Beweissicherung in einem fernen Staat oder der antizi- Auch angesichts anderer Probleme bietet es sich aus pierten Rechtshilfe ein Verfahren denn überhaupt zu ei- meiner Sicht nicht an, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2 ner Anklage führen könne. Dieser Ansatz, so nachvoll- des Römischen Statuts einfach zu übernehmen. Etwa die ziehbar und menschlich er auch erscheint, muss sehr aus unserer Sicht unscharf formulierte Tathandlung der kritisch hinterfragt werden. Er steht so nicht im Gesetz. Anwendung von Waffengewalt. Oder den Buchstaben f, Wer Enttäuschungen bei der Umsetzung des Tatbestan- der Handlungen unter Strafe stellt, durch die ein Staat er- des des Aggressionsverbrechens ins deutsche Recht vor- laubt, dass sein Hoheitsgebiet mit Erlaubnis von einem beugen will, der sollte auch hier ansetzen. anderen Staat dazu genutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen. Die Flugbasen der USA in der Bundesrepublik sind hierfür ein klassisches Anlage 5 Beispiel. Wann immer ein von den USA geführter Krieg, bei dem in Deutschland stationierte amerikanische Sol- Zu Protokoll gegebene Reden daten eingreifen, mit dem Vorwurf der Aggression be- (B) legt wird, würden vermutlich sogleich zahlreiche Straf- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des (D) anzeigen gegen deutsche Verantwortliche eingehen, die Berichts zu dem Antrag: Für wirksamen die Stationierung US-amerikanischer Truppen gestatten. Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequen- Und zwar unabhängig von der Frage, ob der Bezug zu zen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs Deutschland im Aggressionsverbrechen aufrechterhalten der Europäischen Union und des Europäischen bleibt oder nicht. Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Ta- gesordnungspunkt 17) Angesichts dieser und vermutlich noch vieler weiterer Fallstricke sollte sich der Gesetzgeber daher die Mühe Helmut Brandt (CDU/CSU): In ihrem Antrag, den machen, den Angriffskrieg selber zu definieren. Unbe- wir heute in zweiter Lesung beraten, kritisiert die Frak- nommen davon bleibt ja die Möglichkeit, in der Begrün- tion Bündnis 90/Die Grünen, dass entgegen einer Grund- dung des Gesetzentwurfs darauf zu verweisen, dass satzentscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Art. 8bis des Römischen Statuts zur weiteren Auslegung Menschenrechte in Deutschland keine Möglichkeit eines des Begriffs herangezogen werden sollte. effektiven Rechtsschutzes gegen die Überstellung in ei- nen anderen EU-Mitgliedstaat auf Basis der Dublin-Ver- Angesichts der bereits angesprochenen Vorreiterrolle, ordnung bestehe. Nach der Entscheidung des Gerichts- die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahr- hofes vom 21. Januar 2011 müssen Behörden und zehnten im Völkerstrafrecht eingenommen hat und auch Gerichte eine Beschwerde, mit der geltend gemacht weiterhin einnehmen sollte, bin ich der Meinung, dass wird, durch die Abschiebung in ein anderes Land einer eine Platzierung des neuen Tatbestandes des Aggressi- gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonven- onsverbrechens im StGB unzureichend wäre. Anstatt § 80 tion verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, gründ- StGB neu zu fassen, sollte eine neue Norm im Völker- lich untersuchen. Die zuständige Instanz muss die Kom- strafgesetzbuch geschaffen werden. Nur so könnte petenz haben, die Beschwerde in der Sache zu prüfen. Deutschland eine international mustergültige Regelung schaffen. Die Bundesrepublik würde hierdurch ihren Wil- Der Deutsche Bundestag soll daher die Bundesregie- len sichtbar bekräftigen, das Aggressionsverbrechen zu rung auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit ächten. Denn bei aller notwendigen Begrenzung des dem der in den §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG Weltrechtsprinzips und bei allem verständlichen Wunsch, vorgesehene Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes die deutschen Gerichte nicht zu überfrachten, müssen wir gegen Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verord- doch auch zugleich die Stärkung des IStGH als Institution nung aufgehoben wird und stattdessen das Recht auf ei- im Blick behalten. Es hilft dem Gerichtshof nicht, wenn nen effektiven Rechtsschutz mit aufschiebender Wir- wir verhältnismäßig unambitionierte nationale Normen kung festgeschrieben wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24069

(A) Hintergrund des vorliegenden Antrags ist neben einer schenunwürdige Zustände. Die griechische Regierung (C) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men- ist nach wie vor nicht in der Lage und wohl auch nicht schenrechte vom 21. Januar 2011 ein Urteil des Europäi- willens, sich für eine deutliche Verbesserung der Lage schen Gerichtshofes vom 21. Dezember 2011. In dem der Flüchtlinge einzusetzen. Verfahren von Asylbewerbern aus Afghanistan, dem Iran und Algerien gegen das Vereinigte Königreich und Aufgrund der vollständigen Aussetzung von Über- die Republik Irland hat der Europäische Gerichtshof ent- stellungen nach Griechenland gibt es derzeit keine Ge- schieden, dass ein Asylbewerber nicht an einen Mit- richtsverfahren, bei denen es auf die Frage vorläufigen gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, Rechtsschutzes gegen Überstellungen dorthin ankommt. unmenschlich behandelt zu werden; das Unionsrecht Ich versichere Ihnen, dass über eine mögliche Verlän- lasse keine unwiderlegbare Vermutung zu, dass die Mit- gerung der Aussetzung von Überstellungen nach Grie- gliedstaaten die Grundrechte der Asylbewerber beach- chenland auf Basis der Dublin-Verordnung rechtzeitig ten. entschieden wird. Einen akuten Bedarf für eine generelle Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grü- Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz kann nen damit, dass ein Schutzsuchender grundsätzlich vor ich deshalb nicht erkennen. einer Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat In Bezug auf Überstellungen in andere Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprü- sind derzeit keine Konsequenzen veranlasst. Die deutli- fung mit aufschiebender Wirkung haben müsse: dass che Verurteilung von Griechenland zeigt, dass es sich um viele Verwaltungsgerichte bereits dementsprechend ent- eine ganz außergewöhnliche und einzigartige Situation schieden, reiche nicht aus. handelt: Der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte stützt seine Entscheidung auf übereinstimmende Ihren Antrag lehnen wir ab. Die Regelungen des und über einen längeren Zeitraum verfestigte Berichte Asylverfahrensgesetzes zum sicheren Drittstaat wurden zahlreicher europäischer Institutionen und unabhängiger 1996 vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich ge- internationaler Organisationen über massive strukturelle billigt. Und auch der Europäische Gerichtshof hat in sei- Mängel im Griechenland-Asylsystem, die im Ergebnis nem Urteil vom 21. Dezember 2011 festgestellt, dass eine Schutzverweigerung bedeuten. Eine solche Situation eine Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Eu- besteht in Bezug auf andere Mitgliedstaaten nach derzei- ropäische Asylsystem bilden, die Annahme zulasse, dass tigem Kenntnisstand nicht. alle an diesem System beteiligten Staaten die Grund- rechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Soweit Verwaltungsgerichte gleichwohl Überstellun- Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie in gen in andere Mitgliedstaaten im Wege des vorläufigen (B) der Europäischen Menschenrechtskonvention haben. Rechtsschutzes untersagen, was zum Beispiel in Bezug (D) Die Mitgliedstaaten dürfen einander insoweit Vertrauen auf Italien teilweise der Fall ist, teilen wir die darin zu- entgegenbringen. grunde liegende Einschätzung nicht: Weder für Italien noch für andere Mitgliedstaaten gibt es konkrete An- Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eng um- haltspunkte für sogenannte systemische Mängel des grenzte Ausnahmen festgelegt, in denen die von der Ver- Asylsystems, die zu einer generellen Aussetzung von fassung beziehungsweise dem Gesetzgeber getroffene Überstellungen veranlassen. Festlegung von Staaten als sicher und damit auch der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 34 a Eine Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensge- Asylverfahrensgesetz nicht gilt. Und auch der Europäi- setz kommt überdies zum jetzigen Zeitpunkt für uns sche Gerichtshof hat entschieden, dass von einer Rück- auch deshalb nicht in Betracht, da aktuell auf europäi- überstellung abzusehen sei, wenn ernsthafte und durch scher Ebene Verhandlungen über eine Neufassung der Tatsachen bestätigte Gründe die Annahme nahelegen, Dublin-Verordnung stattfinden. Im Zuge dieser Gesprä- dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen che wird auch über die Möglichkeit eines einstweiligen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemi- Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung im sche Mängel aufweisen. Rahmen des Dublin-Verfahrens verhandelt. Ich bitte um Verständnis, dass wir schon aus Gründen einer einheitli- Was Rücküberstellungen nach Griechenland anbe- chen europäischen Regelung zunächst den Ausgang die- langt, hat der damalige Bundesinnenminister, Thomas de ser Gespräche abwarten. Maizière, mit der bereits Anfang Januar 2011 zunächst auf ein Jahr befristeten und zwischenzeitlich um ein wei- Ich warne jedoch ausdrücklich davor, das Dublin-Sys- teres Jahr bis Januar 2013 verlängerten vollständigen tem als solches infrage stellen. Denn die auf dem Verant- Aussetzung von Überstellungen von Deutschland nach wortungsgrundsatz basierenden Zuständigkeitsregelungen Griechenland die entscheidende Konsequenz aus der der Dublin-Verordnung und ihres Vorgängerabkommens Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Men- haben sich in den über zehn Jahren ihrer Anwendung be- schenrechte gezogen. Hintergrund der Entscheidung des währt. Das Dublin-II-Abkommen war und ist der Garant Bundesinnenministers waren Berichte von Delegations- dafür, dass wir keinen unkontrollierten und auch von uns teilnehmern sowie Nichtregierungsorganisationen und nicht mehr zu bewältigenden Asylbewerberstrom haben. dem Hohen Flüchtlingskommissariat, die immer wieder Und das Dublin-System bietet die Garantie dafür, dass auf die unhaltbaren Zustände in Griechenland hinwie- das europäische Asylsystem nicht dadurch ins Stocken sen. Trotz der geleisteten oder angebotenen Hilfe gerät, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge herrschten und herrschen in den Flüchtlingslagern men- desselben Antragstellers bearbeiten müssen. 24070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Einen Alleingang dahin gehend, den in den §§ 27 a, Mitgliedstaat … Gründe für die Annahme darstellen, (C) 34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG vorgesehenen Ausschluss dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer un- des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen menschlichen … Behandlung … ausgesetzt zu werden“. nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verord- Vielleicht wundern Sie sich, warum ich die Entschei- nung generell aufzuheben, wird es deshalb mit uns nicht dungen des EGMR und des EuGH hier noch einmal so geben. ausführlich darlege, sind sie doch auch hinreichend in Wichtig erscheint mir außerdem, dass wir auf euro- dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen päischer Ebene darüber nachdenken, die Visumsfreiheit genannt. Ich tue dies vor allem im Hinblick auf die Kol- für Länder wie Serbien und Mazedonien schnellstmög- leginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Nach lich auszusetzen. Die Zahlen der Asylbewerber des Mo- dem Bericht des Innenausschusses zu dem vorliegenden nats September 2012 zeigen insbesondere einen sprung- Antrag hatten sie die Ablehnung des Antrags empfohlen, haften Anstieg von Asylanträgen durch serbische und da er auf einer „fehlgehenden Interpretation einzelner mazedonische Staatsangehörige. Das liegt zum einen an Entscheidungen des … EuGH und des … EGMR“ der Abschaffung der Visapflicht für diese Länder, zum beruhe; mit diesen falschen Interpretationen der Recht- anderen aber auch an der Rechtsprechung des Bundes- sprechung der höchsten europäischen Gerichte wolle die verfassungsgerichts, das Asylbewerbern die volle Sozi- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Asylkompromiss alhilfe zuerkannte. So etwas spricht sich natürlich auch von 1992/1993 „zu Fall bringen“. in Staaten wie Serbien und Mazedonien, die ein beson- Was ich zuvor zu den Entscheidungen des EGMR und ders großes Wohlstandsgefälle zum EU-Raum aufwei- des EuGH berichtet habe, habe ich nicht interpretiert, sen, rasend schnell herum. Diese Menschen kommen sondern zitiert. Die Entscheidungen dieser beiden nach Deutschland, um hier ein besseres Leben führen zu Gerichte sind eindeutig, klar verständlich und bedürfen können. Das mag menschlich verständlich sein; aber da- insofern keiner Interpretation mehr. Ich bin mir auch si- für ist das Asylrecht nicht geschaffen worden. cher, dass EGMR und EuGH bei ihren Entscheidungen nicht im Sinn hatten, den deutschen Asylkompromiss Rüdiger Veit (SPD): In seinem Urteil vom 21. Ja- auszuhöhlen. Das erscheint abwegig. EuGH und EGMR nuar 2011, MSS. gegen Belgien und Griechenland (Be- sind die für die Mitgliedstaaten maßgebenden Oberge- schwerde-Nr. 3096/09), hat der Europäische Gerichtshof richte. Sie haben entschieden, dass im Verfahren gegen für Menschenrechte, EGMR, entschieden, dass die Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verordnung Rücküberstellung in dem konkreten Fall nach Griechen- ein effektiver einstweiliger Rechtsschutz möglich sein land aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingun- muss und dass es keine unwiderlegliche Vermutung für die Einhaltung und Gewährung der durch die EMRK ge- (B) gen eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Men- (D) schenrechtskonvention, EMRK, darstellt; zudem liege schützten Rechte in den Mitgliedstaaten gibt. eine Verletzung von Art. 13 EMRK, dem Recht auf eine Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehre- wirksame Beschwerde vor, da der Beschwerdeführer ren Eilentscheidungen, in denen es die aufschiebende keine Möglichkeit hatte, vor der Überstellung nach Grie- Wirkung eingelegter Rechtsmittel gegen Rückführungen chenland gegen diese Rücküberstellung wirksame nach Griechenland aufgrund einer „grundrechtskonfor- Rechtsmittel einzulegen. Mit anderen Worten: Aus die- men Auslegung“ des § 34 a Abs. 2 AsylVfG bejaht hat, ser Entscheidung des EGMR folgt unzweideutig, dass es so entschieden. Ebenso urteilten verschiedene Verwal- Flüchtlingen, die rücküberstellt werden sollen, möglich tungsgerichte quer durch die gesamte Republik. Nach sein muss, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Griechenland wird derzeit – wie wir alle wissen – über- Das geltende deutsche Recht schließt in § 34 a Abs. 2 haupt nicht mehr rücküberstellt. AsylVfG die Möglichkeit eines einstweiligen Rechts- Diese Entscheidungspraxis deutscher Gerichte kann schutzes gegen Abschiebungen in einen sogenannten aber nicht dazu führen – wie die Kolleginnen und Kolle- sicheren Drittstaat aus. Damit entspricht es nicht der gen der Unionsfraktion jedoch meinen –, dass in Rechtsprechung des EGMR. Deutschland kein Handlungsbedarf bestehe. Zudem kann es nicht richtig sein, das Bundesverfassungsgericht Ende des Jahres 2011 folgte die Große Kammer des jeweils im Einzelfall mit der Frage zu bemühen, ob ein Gerichtshofs der Europäischen Union, EuGH, der Linie einstweiliger Rechtsschutz gegen eine Überstellung an- des EGMR. In seiner Entscheidung vom 21. Dezember gezeigt sei, wenn der EGMR deutlich sagt, dass dies ein 2011 stellte sie fest, „dass das Unionsrecht der Geltung Recht ist, das grundsätzlich gegeben sein muss. Es ist einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass eine Fragestellung, die der Gesetzgeber zu entscheiden der im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 – Dublin-II- hat und wohl auch demnächst wird entscheiden müssen; Verordnung – „als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die denn am 19. September 2012 hat der Innenausschuss des Unionsgrundrechte beachtet“. Der EuGH führte weiter EPs die geänderte Dublin-II-VO verabschiedet, auf die aus, „dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der na- sich EP, Rat und Kommission zuvor in Trilogverhand- tionalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an lungen in erster Lesung geeinigt hatten. In dieser Neu- den „zuständigen Mitgliedstaat, im Sinne der Verord- fassung ist ein einstweiliger genereller Rechtsschutz ge- nung Nr. 343/2003 – Dublin-II-Verordnung – zu über- gen Rücküberstellungen vorgesehen. stellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systematischen Mängel des Asylverfahrens und der Vor diesem Hintergrund begrüßen wir auch ausdrück- Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem lich die Entscheidung des EGMR von Anfang dieses Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24071

(A) Jahres. Der EGMR hatte einen Fall zu entscheiden, in Deutschland bricht, darüber hat Karlsruhe sich bislang (C) dem Italien eine Gruppe von auf hoher See aufgegriffe- nicht so eindeutig geäußert. Als Parlamentarier finde ich, nen Menschen an libysche Sicherheitskräfte zurücküber- dass Recht, das direkt aus einer demokratisch-parlamen- stellte (Urteil vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u. a. tarischen Willensbildung entsteht, grundsätzlich Vorrang gegen Italien, Nr. 27765/09). Damit verstieß Italien ge- vor intergouvernementalen Vereinbarungen haben sollte. gen die Europäische Konvention für Menschenrechte, Da ist der demokratische Einfluss mir denn doch zu indi- EMRK: Wenn Vertreter eines EGMR-Vertragsstaates rekt. Insofern sind Reformen zur Stärkung der parlamen- effektive Kontrolle über eine Person, ein Gebiet oder ein tarischen Demokratie auf europäischer Ebene geboten. Schiff ausüben, dann sind sie an die EMRK – insbeson- dere das Non-Refoulement-Gebot – auch außerhalb des Das Bundesministerium des Inneren hat voriges Jahr eigenen Hoheitsgebiets gebunden. alle Überstellungen nach der Dublin-II-VO nach Grie- chenland ausgesetzt. Hier hat der Bundesinnenminister Bei einer Überarbeitung der Frontex-Verordnung die volle Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. müssen wir darauf drängen, dass die EU-Menschen- Damit wird die schwierige Situation berücksichtigt, die rechte bei Einsätzen der Grenzschutzagentur gewahrt in Griechenland für Asylbewerber besteht. werden. Bereits im Jahr 2010 war nur ein kleiner Anteil von Die Entwicklungen an den EU-Außengrenzen – ins- Personen überhaupt nach Griechenland überstellt wor- besondere zum Beispiel in Griechenland aber auch in den; in den restlichen Fällen hatte die Bundesrepublik jüngster Zeit in Ungarn – haben deutlich gemacht, dass Deutschland bereits von ihrem Selbsteintrittsrecht Ge- wir in Europa dringend eine Verantwortungsteilung brauch gemacht. brauchen. Ich halte das für die derzeit dringendste politi- sche Aufgabe im Rahmen des europäischen Flüchtlings- Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion auf die rechts. Eine solche ist im Dublin-II-System nicht vor- Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendmachung gesehen. Das ist ungerecht. Es ist ungerecht gegenüber einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren, einge- den Mitgliedstaaten, die EU-Außengrenzen haben; sie stellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstweiligen müssen die Hauptlast tragen, und es ist ungerecht gegen- Rechtsschutzes also nicht entschieden worden. über den Flüchtlingen, weil die auf dem Papier verein- Man kann ja grundsätzlich der Auffassung sein, dass heitlichten Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungs- Deutschland angesichts der bisherigen Situation des bedingungen weit davon entfernt sind, in der Praxis Rechtsschutzes bei Dublin-II-Verfahren noch Nachhol- tatsächlich EU-weit gleich angewandt zu werden. bedarf hat. Die Bundesregierung geht aber sehr verant- Gleichzeitig sollten wir darüber nachdenken, legale wortungsvoll mit dem Rückführungsmechanismus um: (B) Wege nach Europa zu öffnen. Eine Möglichkeit ist die Rückführungen sind nun ausgesetzt; bereits im vergan- (D) Vergabe von sogenannten Schutzvisa. Außerdem sind genen Jahr wurden nur 50 Personen nach Griechenland wir für den Aufbau von langfristigen Resettlement- zurückgeführt; beim Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Programmen mit einem bestimmten Kontingent. Die be- Gebrauch gemacht. stehenden Programme sollten dementsprechend ausge- Gleichzeitig können auch Staaten wie Griechenland baut werden. Ich könnte mir zum Beispiel die Aufnahme nicht bevorzugt werden, wenn sie die Standards nicht von 100 000 Personen pro Jahr EU-weit vorstellen, um einhalten: Der Druck muss aufrechterhalten bleiben. Kon- mal konkret eine Hausnummer zu nennen. krete Hilfe hat die Bundesregierung für die griechischen Um ein wirksames europäisches Asylsystem zu Behörden auch angeboten – hinsichtlich der menschen- haben, müssen wir an vielen Stellen Änderungen vor- würdigen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren nehmen. Die von den europäischen Gerichten eingefor- und der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso derte Möglichkeit der Gewährung einstweiligen Schut- wie zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten. zes gegen Rücküberstellungen in Erstaufnahmeländer ist Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohes ein notwendiger Schritt in diese Richtung. Gut. Die FDP wird daher in der Koalition mit der CDU/ Wir stimmen dem Antrag zu. CSU die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv begleiten. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Über das euro- päische Asylsystem muss weiter beraten und nachge- dacht werden, und das muss auch bei den anstehenden Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir behandeln heute ab- Verhandlungen zum Ausdruck gebracht werden. Eine schließend einen Antrag der Grünen, in dem die volle Nachjustierung erscheint in mancher Hinsicht sinnvoll – Wiederherstellung des Eilrechtsschutzes bei Abschie- auch beim Rechtsschutz, allerdings ist es völlig überzo- bungen im Rahmen des Dublin-Systems gefordert wird. gen, in diesem Zusammenhang plakativ von „menschen- Innerhalb der EU ist im Regelfall der Staat für die und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den eine Rechts“ zu sprechen, wie die Antragssteller das zum Person zuerst eingereist ist. Wenn Asylsuchende den- wiederholten Male tun. noch nach Deutschland weiterreisen, wird ihr Asylantrag nicht inhaltlich geprüft und sie müssen in das Erstein- Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Eu- reiseland zurückkehren, um dort ihr Asylverfahren zu roparecht, wie die Grünen das mutig behaupten, das Ver- betreiben. Im Zuge dessen erhalten sie einen Überstel- fassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates in lungsbescheid. Eine Klage gegen diesen Bescheid hat al- 24072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) lerdings keine aufschiebende Wirkung – dies wird nach das Bundesamt durch seine Vorgaben in der Praxis tat- (C) geltendem Recht sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Ein sächlich effektiven Rechtsschutz bewusst verhindert hat. solches Verfahren widerspricht dem EU-Grundrecht auf In der Weisung aus Nordrhein-Westfalen heißt es – ich effektiven Rechtsschutz. Der Europäische Gerichtshof zitiere –: „Das Bundesamt übermittelte die Rücküber- hat entschieden, dass die Behörden der Mitgliedstaaten stellungsbescheide in der Praxis an die Ausländerbehör- nicht einfach automatisch von einer „Sicherheit“ in an- den bislang mit der Bitte diese – möglichst am Überstel- deren Mitgliedstaaten ausgehen dürfen. Ernstliche Zwei- lungstag – … zuzustellen.“ Nun sendet das Bundesamt fel an der Funktionsfähigkeit des Asylsystems und den den Dublin-Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde Aufnahmebedingungen des Staates, in den überstellt zwei Wochen vor Termin zu, lässt aber fatalerweise werden soll, müssen grundsätzlich überprüft werden komplett offen, wann er zugestellt werden soll. können. Die unerträglichen Zustände in Griechenland, aber zum Beispiel auch in Italien und Ungarn, führen das Ich halte also fest, dass die Bundesregierung zur klar vor Augen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben rechtsstaatswidrigen Praxis des Bundesamtes bewusst deshalb in mittlerweile Hunderten Fällen entgegen dem unzureichende Antworten gegeben hat. Nun hat das klaren Wortlaut des Asylverfahrensgesetzes einstweili- Bundesamt den Schwarzen Peter den Ländern zugescho- gen Rechtsschutz verfügt. ben. Wann die Ausländerbehörden die Bescheide nun zustellen, bleibt ganz ihnen überlassen. Zu befürchten ist Doch in der Bundesrepublik wird der Rechtsschutz daher, dass viele an der gängigen Praxis festhalten. Es nicht allein durch die Rechtslage ausgehebelt, sondern kann aber nicht angehen, dass die Zustellung des Be- auch durch eine zutiefst rechtsstaatswidrige Behörden- scheids aus rein taktischen Erwägungen bis zur letzten praxis. Im Mai dieses Jahres hat die Abschiebebeobach- Minute herausgezögert wird. Die Effizienz des Behör- tung am Flughafen Frankfurt/Main ihren Tätigkeits- denhandelns wird mit einem solchen Vorgehen über den bericht für das Jahr 2011 vorgelegt. Darin wird der Fall Rechtsstaat gestellt. Die Bundesregierung ist gefordert, eines 18-jährigen Jugendlichen aus dem Sudan dar- hier endlich für eine einheitliche und rechtsstaatliche gestellt. Gemäß der Dublin-Verordnung ist Italien der Praxis zu sorgen. Sobald feststeht, dass ein Asylbewer- zuständige EU-Staat. Der Jugendliche ist schwer trauma- ber in einen anderen Staat überstellt werden soll, muss tisiert, durch das stabile Umfeld einer Jugendhilfeein- das den Betroffenen auch rechtzeitig mitgeteilt werden. richtung befindet er sich auf dem Weg der Besserung. Doch dann wird er nachts aus der Einrichtung abgeholt In der ersten Debatte dieses Antrags haben Sie von und zum Flughafen gebracht. Weder die Einrichtung der CDU/CSU geäußert, die Einführung eines effektiven noch sein Anwalt werden vorher informiert. Anschlie- Rechtsschutzes sei überflüssig. Denn es gebe ja bereits ßende Recherchen des Forums Abschiebebeobachtung das Selbsteintrittsrecht der EU-Staaten, von dem die (B) ergeben, dass das Bundesamt für Migration und Flücht- Bundesrepublik im Falle Griechenlands auch Gebrauch (D) linge die zuständige Ausländerbehörde aufgefordert hat, mache. Da dort kein effektives Asylverfahren garantiert den Bescheid über die Überstellung erst zu übergeben, ist, werden auch keine Asylsuchenden nach Griechen- wenn die Überstellung selbst stattfindet. Damit hat der land zurückgeschoben. Ich darf Sie daran erinnern, dass Betroffene keine Möglichkeit mehr, sich wirksam gegen es zwei Jahre gedauert hat, bis sich diese Einsicht in der seine Überstellung zur Wehr zu setzen. Bundesregierung durchgesetzt hat – zwei Jahre, in denen Asylsuchende in Not und Elend abgeschoben wurden. Ein neueres Beispiel stammt aus dem August dieses Jahres. Da sollte ein Asylbewerber nach Italien zurück- Außerdem geht dieses Argument an der Sache voll- geschoben werden. Das Verwaltungsgericht entschied kommen vorbei. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, jedoch, die Abschiebung dürfe nicht stattfinden, und er- den individuellen Rechtsschutz von Asylsuchenden zu ließ eine einstweilige Verfügung. Der Betroffene wurde stärken. Dafür sollen Überstellungsentscheidungen ge- da gerade zum Flieger gebracht. Die Bundespolizei richtlich überprüfbar gemacht werden. Das ist etwas wollte nicht auf den von der Ausländerbehörde telefo- vollkommen anderes als das Recht des Staates, von einer nisch bereits angekündigten Beschluss warten und voll- Überstellung im Einzelfall oder in bestimmte Länder ab- zog die Abschiebung in Kenntnis des Urteilsspruchs. zusehen. Das ist ein reines Gnadenrecht. Wir wollen Eine Minute nachdem das Flugzeug seine Parkposition aber kein Gnadenrecht, sondern garantierte individuelle verlassen hatte, traf die richterliche Verfügung dann Grundrechte, deren Einhaltung von Gerichten überprüft auch per Fax ein – zu spät. Inzwischen hat die Bundesre- werden kann. Die Linke stimmt dem Antrag der Grünen gierung den Asylbewerber auf Staatskosten zurückholen deshalb zu. müssen. Aber das Verfahren war eine unglaubliche Belastung und Zumutung für den Betroffenen, der in Europa Schutz vor Verfolgung sucht. Hätten seine Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rechtsmittel gegen die geplante Überstellung aufschie- Noch immer haben bei Überstellungen nach der Dublin- bende Wirkung gehabt, wäre allen Beteiligten eine II-Verordnung Schutzsuchende im Asylverfahren nach Menge erspart geblieben. deutschem Recht keinen Anspruch auf effektiven einst- weiligen Rechtsschutz. Das ist eines Rechtsstaates un- Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, mir auf würdig. Denn wie sollen Asylsuchende die Gründe für meine zahlreichen parlamentarischen Fragen zu dieser einen Verbleib in Deutschland und damit den sogenann- Zustellungspraxis auch nur einmal klar zu antworten. ten Selbsteintritt zur Durchführung des Asylverfahrens Erst eine neue Weisung des NRW-Innenministeriums an hier wirksam vorbringen? Krankheiten, familiäre Bin- die Ausländerbehörden aus dem Juli hat bestätigt, dass dungen, aber auch gravierende Mängel im Asylsystem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24073

(A) des Staates, in den zurücküberstellt werden soll, können für den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, gegen die (C) die Durchführung eines nationalen Asylverfahrens be- Entscheidung, ihn in einen anderen Mitgliedstaat zu gründen. Nur wie soll dies durchgesetzt werden können, überstellen, wirksame Rechtsmittel einzulegen. wenn aufgrund der Inhaftierung der allermeisten Dublin- Asylfälle – Rücküberstellungshaft – es nur wenigen ge- Das bedeutet im Klartext: Eine automatische Rück- lingt, aus der Haft heraus einen Anwalt zu finden, der überstellung eines Asylbewerbers, ohne dass sich ein den entsprechenden Rechtsschutzantrag auf den Weg Gericht mit den Verhältnissen in dem anderen Mitglieds- bringt? land befasst, ist nicht im Einklang mit EU-Recht. Der deutsche Gesetzgeber muss nunmehr endlich den Weg Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz frei machen und durch eine Gesetzesänderung gewähr- 2007 eingeführten Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2 leisten, dass Schutzsuchenden ein effektiver Rechts- AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz gegen Entschei- schutz gegen eine Abschiebung in einen anderen EU- dungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung ge- Mitgliedstaat gewährt wird. nerell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effek- tiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten Um auch dies klarzustellen: Die Entscheidung des aber nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann wirk- EuGH bezieht sich auf alle Mitgliedstaaten der Europäi- sam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofor- schen Union – nicht nur auf Griechenland. Wenn nun tige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren also die Bundesregierung, wie im Innenausschuss vorge- gerichtlichen Überprüfung eintreten können, so weit als tragen, sich in ihrer Haltung bestätigt fühlt, weil sie möglich ausgeschlossen werden können. keine Asylbewerber mehr im Rahmen des Dublin-II- Verfahrens nach Griechenland zurücküberstellt, dann ist Der Gesetzgeber ist hier zeitnah gefordert, die men- dies viel zu kurz gegriffen, was die Dimension der Ent- schen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des scheidung des EuGH angeht. Es geht also auch um sys- deutschen Rechts aufzuheben und im deutschen Recht temische Missstände in den Asylverfahren und der Aner- effektiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Men- kennungspraxis in anderen EU-Mitgliedstaaten, wie zum schenrechtskonvention und unionsrechtlichen Vorgaben Beispiel in Ungarn, wo ein diktatorischer Folterstaat wie festzuschreiben. Dies fordert der vorliegende Antrag. Syrien noch bis Anfang des Jahres als „sicheres Her- kunftsland“ eingestuft war. Das ist schlichtweg unfass- Die Koalition hat in den Innenausschussberatungen bar. Oder zu nennen in Bulgarien auch, wo Asylsu- hingegen weiter auf Verzögerung und Abwiegeln ge- chende unter unwürdigen Bedingungen inhaftiert setzt – und dies, obwohl inzwischen neben den deutli- werden, bloß weil sie einen Asylantrag stellen wollen. chen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch im Für den deutschen Gesetzgeber ergibt sich aus den (B) Entwurf der Kommission zur Reform der Dublin-II-Ver- Urteilen des EuGH und des EGMR ein klarer Auftrag: (D) ordnung ein wirksamer Rechtsschutz bei Rücküberstel- § 34 a des Asylverfahrensgesetzes ist zu streichen. lungen vorgesehen werden soll. In einem Urteil vom 21. Dezember 2011 in den ver- bundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 hat der Anlage 6 Gerichtshof der Europäischen Union unmissverständlich Zu Protokoll gegebene Reden klargestellt, dass ein Asylbewerber nicht in einen Mit- gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, zur Beratung: unmenschlich behandelt zu werden. Der EuGH hat ferner – Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des entschieden: Das Unionsrecht lässt keine unwiderleg- Strafgesetzbuchs (... Strafrechtsänderungs- bare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grund- gesetz - ... StRÄndG) rechte der Asylbewerber beachten. Der Gerichtshof stellte fest, eine Anwendung der Dublin-II-Verordnung – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem (EG 343/2003) auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Antrag: Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers im zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, ist mit der – Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen verfolgen Auslegung und Anwendung der Verordnung unverein- (Tagesordnungspunkt 20 a und b) bar. Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof für Ansgar Heveling (CDU/CSU): Zweifellos machen Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung vom uns gerade die Straftaten besonders betroffen, bei denen 21. Januar 2011 im Verfahren M.S.S. (Beschwerde-Nr. Hass die Triebfeder ihrer Begehung ist. Was sind das für 3096/09) aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 13 der Euro- Menschen, die anderen Menschen Gewalt antun, nur päischen Menschenrechtskonvention die Verpflichtung weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Herkunft oder der Vertragsstaaten abgeleitet, vor einer Überstellung an Weltanschauung haben oder weil sie Behinderungen ha- den zuständigen Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzel- ben? Natürlich denken wir dabei unmittelbar an die ak- fallprüfung die Einhaltung der aus Art. 3 EMRK folgen- tuellen Fälle rechtsextremistischer Täter, die über den den Verpflichtungen durch den zuständigen Mitglied- Zeitraum eines Jahrzehnts Geschäftsleute griechischer staat zu prüfen. Art. 13, in Verbindung mit Art. 3, und türkischer Abstammung ermordet haben, aber auch EMRK sei dann verletzt, wenn es vor einer Überstellung an die Übergriffe brutalster Art in U- und S-Bahnen 24074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) sowie auf öffentlichen Plätzen, die in jüngster Zeit ins- die auf eine verfestigte rechtsfeindliche oder gleichgül- (C) besondere von jugendlichen Tätern begangen worden tige Haltung zurückgehen. Als weiterer Strafschärfungs- sind. Sicherlich haben wir noch die schrecklichen Bilder, grund ist die Gesinnung, die aus der Tat spricht, zu be- von Überwachungskameras aufgezeichnet, vor Augen: werten, wie etwa eine rohe, böswillige, gewissenlose, Wehrlose Menschen werden verprügelt und zu Boden grausame und/oder rücksichtslose Gesinnung. Das gel- getreten. Und auch dann noch, wenn sie schon am Boden tende Recht gibt also bereits jetzt die Möglichkeit, die in liegen, wird zielgerichtet weiter auf den Kopf eingetre- den Gesetzentwürfen als Regelbeispiel ausgestalteten ten. Aber uns sind darüberhinaus auch die vielen ande- Strafzumessungsründe bei der Strafzumessung zu be- ren Vorfälle präsent: Hetzjagden auf Ausländer, Brände, rücksichtigen, ohne dass diese ausdrücklich festge- die in Asylbewerberheimen gelegt werden, Menschen, schrieben sind. Das heißt zunächst einmal: Eine zu die wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf brutalste schließende rechtliche Lücke gibt es nicht. Das, was und menschenverachtende Weise gequält und misshan- durch den Gesetzentwurf geregelt werden soll, ist bereits delt, ja getötet werden. geltendes Recht. Damit käme der Regelung nur eines zu: Symbolcharakter. Es handelt sich dabei um schlimmste Übergriffe, und alle diese Taten werden von uns allen gleichermaßen Symbolische Gesetze mögen gelegentlich auch ihre verurteilt. Sie sind gerade auch deshalb von besonderer Berechtigung haben, insbesondere dann, wenn dadurch Bedeutung, weil sie durch einen besonderen Unrechtsge- Werte und Einstellungen bekräftigt werden. Gleichwohl halt gekennzeichnet sind. Denn es geht bei diesen Straf- sollte man aber mit symbolischen Gesetzen sehr vorsich- taten nicht um eine individuelle, persönliche Auseinan- tig und zurückhaltend umgehen. Sonst sieht man irgend- dersetzung zwischen Täter und Opfer. Das Opfer ist wann vor lauter Symbolen das Wesentliche nicht mehr. vielmehr gerade nicht deshalb Opfer, weil es ein Indivi- Und genau dieser Frage, wo die wesentlichen Defizite an duum ist, sondern weil es Teil einer Gruppe ist, die vom dieser Stelle sind, sollten wir uns viel eher widmen. Im Täter als „anders“ abgestempelt wird. rechtlichen, gesetzlichen Rahmen liegen sie jedenfalls Dem besonderen Unrechtsgehalt solcher Hasstaten offenkundig nicht. möchten der Bundesrat und die SPD-Fraktion durch die zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfe Rechnung Tatsache ist zunächst, dass gesicherte rechtstatsächli- tragen. Sie haben dabei zum Ziel, eine Ergänzung in § 46 che Erkenntnisse sowohl im Hinblick auf Art und Umfang Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufzunehmen und damit die des Vorkommens von Straftaten, die durch rassistische, Berücksichtigung des besonderen Unrechtsgehaltes bei fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende der Strafzumessung ausdrücklich zu verankern. Vorge- Beweggründe motiviert sind, als auch auf den Umgang schlagen wird, strafschärfende Regelbeispiele in die der Strafverfolgungsbehörden in sämtlichen Stadien des (B) (D) Strafzumessungsregeln zur Motivation oder Zielsetzung Verfahrens fehlen. Darauf hat in der Anhörung insbeson- des Täters aufzunehmen. Besonders menschenverach- dere der Sachverständige Professor Radtke hingewiesen. tende, rassistische oder fremdenfeindliche Motive für die Hier kann ein Ansatzpunkt sein, sich die Sache noch ein- Tat sollen damit bei der Strafzumessung strafschärfend mal genau anzuschauen. Insofern verweise ich in dieser zu berücksichtigen sein. Ohne Frage ist dem Anliegen Hinsicht auch gerne, weil es ein wirklich sinnvoller von Bundesrat und SPD-Fraktion in der Sache insoweit Punkt ist, auf die entsprechende Forderung im Antrag zuzustimmen, als dass die von mir eingangs angespro- von Bündnis 90/Die Grünen. Das ist eine Anregung, der chenen Taten zu Recht die Frage aufwerfen, ob unser wir uns nicht verschließen sollten. Mit einer vertieften Strafrecht in ausreichendem Maße Instrumente bereit- Untersuchung lässt sich möglicherweise das herausfin- hält, diese besonderen Umstände im Verfahren und vor den, wo wir momentan noch im Nebel stochern. Denn allem schlussendlich im Urteil im entsprechenden Maße mangels rechtstatsächlicher Erkenntnisse können wir zu berücksichtigen. In den Beratungen zu den Gesetzent- derzeit nicht beurteilen, ob es Defizite gibt oder nicht. würfen und zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, Ferner können wir nicht beurteilen, wo diese Defizite, der noch einmal einen ganz anderen Akzent setzt, haben wenn es sie denn geben sollte, liegen: beim „Erstkon- wir uns mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. takt“ mit einem möglicherweise strafrechtlich relevanten Insbesondere die Sachverständigenanhörung hat dazu ei- Vorfall, bei der staatsanwaltschaftlichen Ermittlung und nen besonderen Beitrag geleistet. Anklagevorbereitung oder in der gerichtlichen Haupt- verhandlung mit anschließender Urteilsfindung? Unser Fazit ist: Einer gesetzlichen Ergänzung in § 46 Abs. 2 StGB bedarf es nicht. Der Strafrahmen, also das Angesichts der fehlenden Untersuchungserkennt- gesetzliche Höchst- und Mindestmaß, wird durch den nisse lässt sich dementsprechend auch ein etwaiger ge- konkreten Gesetzesverstoß festgestellt, mit all seinen setzgeberischer Handlungsbedarf nicht klar erkennen. Tatmodalitäten und Tatumständen, die den Strafrahmen Wir sollten das Thema aus den genannten Gründen nicht erhöhen oder mildern können. In diesem festgestellten aus dem Blick lassen. Und möglicherweise ist das Bun- Strafrahmen sind sämtliche Umstände, die zugunsten, desjustizministerium ja auch auf Bitten bereit, eine ent- aber auch zuungunsten des Täter sprechen, abzuwägen. sprechende rechtstatsächliche Untersuchung in Gang zu Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabei jetzt setzen. Wenn eine solche dann vorliegt, mag das Anlass schon, derartige Hassmotivationslagen und Zielsetzun- sein, das Problem noch einmal anzugehen. Unmittelba- gen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dazu ren Anpassungsbedarf bei § 46 StGB sehen wir indessen gehören, sofern dies nicht bereits Tatbestandsmerkmal nicht. Wir werden die Gesetzentwürfe und den Antrag ist, die Beweggründe und Tatziele, beispielsweise Taten, dementsprechend ablehnen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24075

(A) Burkhard Lischka (SPD): Es ist jetzt knapp ein Jahr Ländern auch. Deshalb unser Antrag, rassistische, frem- (C) her, da stockte uns allen gemeinsam der Atem, als wir denfeindliche und menschenverachtende Motive von erfuhren, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe elf Gewalttaten strafschärfend zu berücksichtigen. Wenn Jahre lang durch dieses Land zog, mindestens zehn der Gesetzgeber angesichts brutalster Übergriffe die schreckliche Morde verübte, Banküberfalle und Spreng- Rechtslage hier klipp und klar verdeutlicht, dann sind stoffanschläge durchführte. Am Anfang war Erschre- wir das den Opfern, aber auch unserem Rechtsstaat cken, Empörung, Wut und Trauer über diese fürchterli- schuldig! Es wird deshalb Zeit, höchste Zeit, dass wir che Mordserie – und Scham, Scham darüber, dass dies in endlich ein klares Zeichen setzen. unserem Land, ausgerechnet in unserem Land, 60 Jahre nach der nationalsozialistischen Barbarei möglich war. Sönke Rix (SPD): Die Zahl der rechtextremistischen Und diese Scham empfinden wir noch heute. Erstaunlich Straf- und Gewalttaten ist in der zweiten Hälfte des letz- war allerdings das Erstaunen, das in mancher öffentli- ten Jahrzehnts nach einem vorübergehenden Rückgang chen Äußerung zum Ausdruck kam. Nein, erstaunt und wieder gestiegen. Bereits nach der Wende 1989/90 nahm überrascht konnte eigentlich niemand sein. Denn in den in Deutschland die Anzahl rechtsextremistischer Straf- 20 Jahren zuvor waren bereits weit über 150 Menschen und Gewalttaten drastisch zu. Im Jahr 2010 erfasste das durch braune Gewalt in unserem Land ums Leben ge- Bundeskriminalamt 15 905 rechtsextremistische Strafta- kommen. Die braune Gewalt- und Blutspur hatte sich ten, darunter 762 Gewalttaten. Damit kommt es in bereits längst durch unser Land gelegt, spätestens seit Deutschland täglich zu durchschnittlich zwei bis drei ge- den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock-Lichten- waltsamen rechtsextremistischen Übergriffen. Dies kann hagen, Mölln und Solingen. Und auch diese schreck- und darf in unserem Land nicht nur nicht toleriert lichen Vorfalle waren nur die sichtbare Spitze alltägli- werden, vielmehr brauchen wir ein starkes Signal, das cher neonazistischer Gewalttaten überall in unserem wir dieser Motivation zur Gewaltausübung entgegenset- Land: Kinderwagen, die in Hausfluren angezündet wer- zen. Wir brauchen eine Regelung im Strafgesetzbuch, den, geschändete jüdische Friedhöfe, abgefackelte die rechten Gewalttätern klar verdeutlicht, welche Stra- Dönerbuden, Behinderte, Ausländer und Jugendliche, fen sie erwarten, wenn sie Menschen aufgrund rassisti- die mit Baseballschlägern niedergeschlagen wurden, scher, antisemitischer Motive, aufgrund ihrer Woh- Menschen, die sich nicht mehr in bestimmte Stadtteile nungslosigkeit oder anderer sozialdarwinistischer trauen. Das alles gehört zum Alltag in unserem Land. Beweggründe oder aufgrund ihrer sexuellen Orientie- Und hieran hat sich trotz aller Appelle nichts geändert, rung und/oder Geschlechtsidentität sowie aufgrund ihrer bis zum heutigen Tag. Und damit werden wir uns nicht Behinderung, ihrer nicht rechten Einstellung oder ihres abfinden. Niemals! Engagements gegen Neonazis angreifen. (B) Rechtsextreme Gewalt wird seit vielen Jahren immer (D) Ich bestreite nicht, dass die vorgeschlagene gesetz- wieder bagatellisiert und verharmlost. Auch das gehört liche Verankerung auch Symbolpolitik ist. Es ist ein zum Alltag. Opfer brauner Gewalt berichten immer wie- Symbol an die betroffenen Minderheiten, dass Staat und der und übereinstimmend, sie würden häufig nicht ernst Gesellschaft rechte Gewalt nicht hinnehmen. Wir setzen genommen. Zeugenaussagen werden zum Teil gar nicht ein Zeichen, dass solche Taten ganz besonders geahndet oder unvollständig aufgenommen. In manchen Fällen werden, da sie als Botschaftsverbrechen geeignet sind, wird den Opfern eine Mitschuld suggeriert. Rechtsextre- Angst und Unruhe zu schüren und demokratische Werte mistische und rassistische Hintergründe einer Tat wer- an und für sich infrage zu stellen. Aber es handelt sich den nicht erkannt oder beiseite geschoben. Da sind die nicht nur um Symbolpolitik. Wir wollen mit dieser Re- Ermittlungen bei der NSU-Mordserie überhaupt keine gelung auch derzeit bestehende Defizite bei den Straf- Besonderheit, wo ja auch über viele Jahre ein fremden- verfolgungsbehörden und Gerichten beheben. Viele Ver- feindlicher Hintergrund ausgeblendet wurde. Wie eine und Verbände, die sich für Demokratie und gegen schrieb die FAZ Anfang des Jahres: „Im gerichtlichen Rechtsextremismus und Rassismus engagieren, und Alltag spielt die rassistische und fremdenfeindliche Mo- ganz besonders die Opferberatungsstellen sagen mir im- tivation von Straftaten nahezu keine Rolle“. Die feh- mer wieder, dass vorurteilsmotivierte Straftaten im Rah- lende Aufklärung und unzureichende Aburteilung men der Strafverfolgung durch die Polizei und die rechtsradikaler Straftaten sind verheerend, zuallerst für Staatsanwaltschaften, aber auch bei der Strafzumessung die betroffenen Opfer, aber auch für die Angehörigen schlichtweg nicht erkannt werden. und schließlich für unsere gesamte Gesellschaft. Denn wenn die Opfer das Gefühl haben, im Stich gelassen zu Möglicherweise sollten wir den Begriff „Hasskrimi- werden, wenn sie den Eindruck haben, es werde nicht nalität“ noch einmal überdenken. „Hass“ reduziert die genau hingeschaut und verurteilt, dann ist das nicht we- Tat auf ein emotionales, individuelles Problem des niger als eine Krise für unseren Rechtsstaat. Täters und verbirgt die zugrunde liegenden, gesellschaft- Da, wo Menschen durch Straßen gejagt, misshandelt, lich relevanten Vorurteile. Aus Respekt vor den Opfern geschlagen und getreten werden, da, wo sie um ihr Le- sollte man klar benennen, was Ziele und Beweggründe ben fürchten, da müssen diese Taten auch strafrechtlich waren – Rassismus, Antisemitismus, Homo-/Transpho- als das behandelt werden, was sie sind: ein Anschlag auf bie, Sozialdarwinismus oder der Wille, ein extrem rech- die Menschenwürde, ein Anschlag auf uns alle. tes Weltbild umzusetzen und all jenen Gruppen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben abzusprechen, Und das sollte, das muss auch in unserem Strafgesetz- die als Feinde einer imaginierten Volksgemeinschaft gel- buch Niederschlag finden, wie in vielen vielen anderen ten. 24076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Die Beratungsstellen selbst sprechen von rechter Ge- über eine falsche oder unzureichende Strafzumessung (C) walt, um in der politischen Sphäre deutlich zu machen, bezüglich rechtsradikaler Straftaten noch keinerlei Vor- welche ideologische Basis den Taten zugrunde liegt. würfe mitbekommen. Ich kann ganz im Gegenteil aus Rechtsextremismus kann nicht nur mit Gesetzen, Polizei meiner Tätigkeit als Staatsanwalt in einer Staatsschutz- und Verfassungsschutz erfolgreich bekämpft werden. abteilung nur feststellen, dass vorurteilsmotivierte Straf- Viel wichtiger ist die Prävention. Wir müssen die gesell- taten stets zutreffend und mit notwendig hohen Strafen schaftlichen Bindekräfte stärken und den Rechtsextre- seitens der Gerichte gewürdigt wurden. men keine Räume überlassen, in die sie mit ihrer Menschenfeindlichkeit eindringen können. Die Stärkung Es bedarf keiner Änderung des § 46 des Strafgesetz- der demokratischen Zivilgesellschaft muss im Zentrum buchs, da die Berücksichtigung solcher Motive immer unserer Bemühungen stehen. Die Programme gegen Gegenstand der Rechtsprechung in unserem Land gewe- Rechtsextremismus müssen dauerhaft und verlässlich sen ist. Zu Recht berücksichtigen die Gerichte, welche unterstützt werden. Sie haben zum Aufbau lokaler Struk- Beweggründe den Täter zu seiner Tat veranlasst haben. turen beigetragen und zeigen Wirkung. Bürgerinnen und Im Rahmen der Strafzumessung werden alle Beweg- Bürger verteidigen die Demokratie gegen Neonazis: Im gründe zugunsten und zulasten des Täters gegeneinander persönlichen Gespräch, in Bildungseinrichtungen, am abgewogen, sodass vorurteilsmotivierte Hassdelikte in Arbeitsplatz, in den Kommunalparlamenten und nicht diese Abwägung ebenfalls miteinbezogen werden. Mir zuletzt auch zunehmend bei Demonstrationen und ist kein Fall bekannt geworden, dass sich diese bewährte Blockaden gegen Naziaufmärsche. Ohne die Opferbera- Gerichtspraxis geändert haben sollte. tungen, mobilen Beratungsteams und die vielen Initiati- Die Grünen führen in ihrem Antrag selber aus, dass in ven vor Ort stünde der Kampf gegen Rechtsextremismus der deutschen Gerichtspraxis anerkannt ist, dass rassisti- in vielen Regionen auf verlorenem Posten. Viele Träger sche oder fremdenfeindliche Beweggründe nach § 46 leiden allerdings unter der Kurzfristigkeit und Prekarität Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind und regelmäßig zu ihrer Finanzierung. Gelungene Modellprojekte können einer Strafschärfung führen. deshalb oft nicht langfristig etabliert werden, Organisa- tionswissen geht verloren, und qualifiziertes Personal Es ist nicht fördernd, wenn wir einige wenige Dinge wandert ab. Das wollen wir ändern. Die dreijährige Be- bzw. Motive in der Strafzumessung hervorheben. An- fristung der Projekte muss aufgehoben werden. Gute dere Taten, die übrigens auch von Rechtsradikalen bzw. Projekte dürfen auch länger dauern. von Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung begangen werden, sind in gleicher Weise verachtenswert und erfor- Nicht zuletzt ist es eine zentrale Aufgabe, den sozia- dern eine entsprechende strafrechtliche Konsequenz. Vor len Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken diesem Hintergrund ist eine generalisierende gesetzliche (B) und allen jungen Menschen gute Zukunftschancen zu ge- Regelung bestimmter strafschärfender Motive in § 46 (D) ben. Dazu gehört, unsere Städte und Gemeinden finan- StGB der falsche Weg. Strafzumessung ist stets eine Ein- ziell gut auszustatten, sodass sie Kultur, Sport, Jugend- zelfallentscheidung der Gerichte, denen man vertrauen arbeit und Sozialarbeit wieder ausbauen können. muss und kann. Staat und Gesellschaft müssen ein klares Zeichen set- Wir müssen daher Überlegungen anstellen, wie wir zen: Rechtsextreme, Rassisten und verfassungsfeindli- auf anderem Weg mit diesem Problem besser fertig wer- che Parteien haben in einem demokratischen Deutsch- den. Zu verbessern wäre zum einen die frühzeitige land keinen Platz. Wir sind überzeugt: Die Stärkung der Berücksichtigung solcher vorurteilsmotivierten Hand- Demokratie und der engagierten Demokratinnen und lungen im Ermittlungsverfahren, um eine bessere Auf- Demokraten sind der beste Verfassungsschutz. klärung der Tatmotive und der Gesinnung des Täters zu Darum möchte ich am Ende festhalten: Es ist wichtig, ermöglichen. Zum anderen sollten die Verfahren be- dass die Opfer rassistischer, rechtsextremer und men- schleunigt werden, um eine klare, schnelle und eindeu- schenverachtender Gewalt als solche anerkannt werden. tige Antwort der Gerichte auf dieses Fehlverhalten zu Und es folgt daraus für mich auch eine stärkere Bestra- geben. Dadurch wird dem Täter deutlich gemacht, dass fung der Täter. Aber noch mehr wünsche ich mir, dass wir nicht bereit sind, ein solches Verhalten zu akzeptie- solche Straftaten gar nicht erst passieren. Und das geht ren. nur mit einer Zivilgesellschaft, die mit beiden Beinen Wir sollten den Weg der Veränderung des § 46 StGB fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht. nicht gehen. Es ist nicht ersichtlich, was als Konsequenz für die Justiz aus dieser Änderung zu erwarten ist. Wir Jörg van Essen (FDP): Ich denke, die bisherige sollten uns in diesem Zusammenhang vor Augen halten, Debatte hat gezeigt, dass sich insgesamt das Gefühl ver- dass die Justiz bzw. die Gerichte unabhängig und daher breitet, dass es in Deutschland keine Situation geben die Auswirkungen einer Änderung des § 46 StGB nicht darf, in der rechtsradikale Straftäter ihre Taten ohne abzuschätzen sind. Konsequenzen begehen dürfen. Gerade der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wie Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir debattieren auch der Gesetzentwurf der SPD zu einer Änderung des hier eine Änderung des Strafgesetzbuches, bei der es da- § 46 StGB könnten den Eindruck entstehen lassen, dass rum gehen soll, dass menschenverachtende Tatmotive es Defizite in der wirksamen Strafverfolgung oder Straf- als besondere Umstände in der Strafzumessung Anwen- zumessung bei Hassdelikten geben könnte. Ich habe aber dung finden sollen. Es geht um sogenannte Hassdelikte, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24077

(A) denen, da sind wir uns wohl alle einig, ein erhöhter schreiben. Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir hier (C) Unrechtsgehalt innewohnt. und überall sagen: Gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen. Im Kern geht es darum, rassistische, fremdenfeindli- che und sonstige menschenverachtende Beweggründe Wenn wir das erreicht haben, dann werden Richterin- und Ziele der Täter strafschärfend im Rahmen der Straf- nen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, zumessung zu berücksichtigen. aber auch Behörden und Polizistinnen und Polizisten Wir verstehen die Motive, die hinter den vorgeschla- von sich aus die Motive von Hasskriminalität bei der genen Gesetzesänderungen stehen, wir halten sie aber Strafzumessung und bei der Aufnahme von Straftaten für den falschen Weg. Bereits jetzt – die Gesetzesent- berücksichtigen. Eine Gesetzesänderung brauchen wir würfe des Bundesrates und der SPD weisen explizit dafür nicht. darauf hin, und unter den Sachverständigen herrschte Wir haben im Rechtsausschuss eine Anhörung zum diesbezüglich Einigkeit – können hassgeleitete Motive Thema Hasskriminalität durchgeführt. Die Sachverstän- der Täter strafverschärfend berücksichtigt werden. Es digen waren hinsichtlich einer Änderung des Strafge- fehlt also nicht an einer Rechtsgrundlage. Es fehlt an ei- setzbuches unterschiedlicher Meinung. Ich will dennoch nem dem erhöhten Unrechtsgehalt von Hasskriminalität auch auf ein methodisches Problem der Gesetzentwürfe angemessenen Umgang. eingehen. Sie schaffen mit dem Begriff „menschenver- Wir sind nicht davon überzeugt, dass es hilfreich ist, achtende Bewegründe" in Abgrenzung zu fremdenfeind- das Strafgesetzbuch zu ändern, um die Gerichte zu sensi- lich und rassistisch eine Formulierung, die Spielraum für bilisieren und der Rechtsprechung einen Anhaltspunkt Ungenauigkeiten lässt. Wir sind uns sicherlich einig: zu geben, wie es im Gesetzentwurf des Bundesrates Auch Homophobie und Antisemitismus sind menschen- heißt. Wir glauben, dass das Problem viel früher anfängt. verachtend, auch Straftaten gegen Obdachlose oder so- Bei den Behörden, bei den Straftaten aufnehmenden zial benachteiligte Personen. Korrekt wäre es dann aber, Polizeidienststellen und bei der Handhabung der öffent- genau das auch in den Gesetzentwürfen aufzuschreiben. lichen Statistiken. Sie wissen genauso gut wie wir, dass Obwohl wir das hinter den Gesetzentwürfen stehende die Opferberatungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt Ansinnen teilen, können wir ihnen aus den genannten stets höhere Zahlen ausweisen als zum Beispiel die Gründen nicht zustimmen. Wir sollten aber alle gemein- polizeiliche Kriminalstatistik. Hieran kann der Gesetzes- sam dafür Sorge tragen, dass Hasskriminalität in diesem vorschlag nichts ändern, sondern hier muss eine gesell- Land keine Chance hat. schaftliche Sensibilisierung her. Sensibilisierung mittels einer Änderung des Strafge- (B) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo- (D) setzbuches ist eine Scheinlösung. Natürlich weist diese rüber herrscht zwischen uns Einigkeit? Ja, es gibt Straf- Regelung Richterinnen und Richter noch einmal geson- täter, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder dert auf die Möglichkeit hin, die Motive der Tat bei der menschenverachtenden Motiven heraus handeln. Ja, wir Strafzumessung zu berücksichtigen. Aber der Hinweis wollen, dass diese Motive aufgedeckt und bei der Straf- im Gesetz ändert noch lange nicht die Handhabung des zumessung berücksichtigt werden, selbstverständlich Gesetzes. strafschärfend. Aber gibt es einen objektiven Befund, Sensibilisierung setzt Aufklärung voraus und Präven- dass dies in unseren Strafgerichten nicht geschieht? tion. Wir leben in einer Zeit, in der sich ein Untersu- chungsausschuss mit einer ganzen Mordserie beschäfti- An Gesetzen mangelt es nicht. § 46 Strafgesetzbuch gen muss, weil offensichtlich niemand sich vorstellen erlaubt und fordert die Erhebung und Berücksichtigung konnte, dass Nazis ihre Art von Hasskriminalität derart aller Motive, also auch der rassistischen, fremdenfeindli- ausleben. Wir leben in einer Zeit, in der wir immer wie- chen oder menschenverachtenden. Deshalb hat der Sach- der mit Nachrichten überrascht werden, dass V-Leute verständige Graf, Richter am BGH, die Vorschläge des des Verfassungsschutzes in Naziaktivitäten verwickelt Bundesrates und der SPD als überflüssig und reine Sym- waren und sind, diese teilweise sogar gefördert haben. bolhandlung bezeichnet. Wir leben in einer Zeit, in der der Innenminister ganz Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen ungeniert fordern kann, Asylbewerbern und Asylbewer- über die Praxis an den Gerichten sprechen eher gegen berinnen die Leistungen zu kürzen – obwohl ein anders- die These, dass rassistische, fremdenfeindliche oder lautendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt. menschenverachtende Motive in großer Zahl unbeachtet Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg campen gerade bleiben. Flüchtlinge und Asylbewerber und Asylbewerberinnen, Und doch: Wir sollten auch diejenigen ernst nehmen, um unter anderem gegen die Residenzpflicht zu protes- die vor Ort Opferbetreuung betreiben, die die Neonazi- tieren. Wenn wir anfangen, Flüchtlinge und und Rechtsradikalenszene beobachten, die die Strafver- Asylbewerber und Asylbewerberinnen nicht weiter zu fahren verfolgen und die berichten, dass allzu oft rassis- diskriminieren, dann schaffen wir Sensibilität. tische, fremdenfeindliche oder menschenverachtende Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir Projekte, die Motive unausgesprochen und ungesühnt bleiben. Des- sich um Aufklärung und Prävention kümmern, endlich halb muss etwas gemacht werden, aber nicht irgendet- einer Regelfinanzierung zuführen, statt ihnen alle drei was, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sondern oder vier Jahre aufzubürden, neue Projektanträge zu das Richtige: 24078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) Einige gewichtige Gründe sprechen gegen die Vor- Viertens. Wir kennen ausschließliche Strafschär- (C) schläge der SPD und des Bundesrates. fungsgründe – und der Bundesrat und die SPD wollen doch wohl rassistische, fremdenfeindliche oder men- Erstens. Sie setzen am Ende und nicht am Anfang an. schenverachtende Motive ausschließlich strafschärfend Die Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB richtet in die Strafzumessung einfließen lassen – nur als Regel- sich an das Gericht, welches am Ende das Urteil spricht. beispiele im materiellen Strafrecht mit der Folge erhöh- Man muss aber bei der Polizei und der Staatsanwalt- ter Strafrahmen. Die Beweggründe eines Täters können, schaft ansetzen. Dort werden die ersten Ermittlungen ge- angesiedelt im Allgemeinen Teil des StGB in § 46 im- führt, dort werden die ersten Beweise gesichert und die mer nur strafschärfend wie auch strafmildernd sein. Zeugen verhört. Hier muss nach rassistischen, fremden- Aber genau das wollen weder der Bundesrat noch die feindlichen oder menschenverachtenden Motiven ge- SPD. Darauf hat der Sachverständige Professor Radtke sucht und müssen Beweise hierfür gesichert werden. ausdrücklich warnend hingewiesen. Der Sachverständige Professor Radtke erklärte Wir Grünen haben schon 2010 in unserem Antrag hierzu: Man kann nicht die Strafzumessung ändern wol- „Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinander- len, damit das Ermittlungsverfahren besser läuft. Des- setzung mit rassistischen, antisemitischen und men- halb muss man die Ausbildung der Polizei darauf aus- schenverachtenden Haltungen gesamtgesellschaftlich richten, dass rassistischen, fremdenfeindlichen oder angehen und die Förderprogramme des Bundes danach menschenverachtenden Motiven nachzugehen ist und ausrichten“, Drucksache 17/2482, 15 Punkte zum Vorge- Beweise dafür zu sichern sind. Man muss die Richtlinien hen gegen rassistischen, fremdenfeindlichen oder men- für das Strafverfahren ändern und festlegen, dass bei schenverachtenden Hass benannt. Wir wählen nicht die Vorliegen rassistischer, fremdenfeindlicher oder men- verengte Sichtweise auf das Strafrecht, sondern schlagen schenverachtender Motive das öffentliche Interesse an ein gesamtgesellschaftliches Vorgehen vor. einer Strafverfolgung in der Regel zu bejahen ist. Das ist nicht so spektakulär wie Gesetzesänderungsinitiativen, Mit unserem heutigen Antrag komplettieren wir unse- aber es ist viel wirksamer. ren Handlungskatalog um die Ausbildung der Ermitt- Zweitens. Es wird die Gefahr von Fehlurteilen wegen lungsbeamten und klare Regeln in den Richtlinien für verbotener Doppelverwertung geschürt. Am Beispiel des das Strafverfahren. Wir gehen einen besseren und erfolg- Strafverfahrens gegen den NSU ist dies deutlich zu ma- versprechenderen Weg. Den kontraproduktiven Vor- chen. Im kommenden Prozess vor dem OLG München schlägen der SPD und des Bundesrates können wir trotz wird es um die Frage gehen, ob die Morde an neun Tür- ihrer guten Absichten nicht folgen. ken und einem Griechen „aus niederen Beweggründen“, (B) also zum Beispiel aus rassistischen oder fremdenfeind- (D) lichen Beweggründen erfolgten. Bejaht das Gericht dies, Anlage 7 dann bleibt kein Raum mehr, etwaige rassistische, frem- Zu Protokoll gegebene Reden denfeindliche oder menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Geschieht dies Zur Beratung: Antrag: Neue Impulse für die trotzdem, hätten wir es mit einem Fehlurteil zu tun. Förderung des Radverkehrs setzen Auch in allen Verfahren wegen Volksverhetzung nach – Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 § 130 StGB haben wir mit dem Problem der verbotenen überarbeiten Doppelverwertung zu tun, wenn § 46 nach den Vorstel- lungen der SPD geändert wird. Der Sachverständige – Unterrichtung: Nationaler Radverkehrsplan Graf, Richter am BGH, hat davor ausdrücklich gewarnt. 2020 – Den Radverkehr gemeinsam weiter- entwickeln Drittens. Bei der Strafzumessung nach § 46 StGB sind die „Beweggründe und Ziele des Täters“ und/oder (Zusatztagesordnungspunkt 7) seine „Gesinnung, die aus der Tat spricht“ in den Blick zu nehmen. Die Gesetzentwürfe wollen die Worte „ras- sistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachten- Gero Storjohann (CDU/CSU): Das Fahrrad als Ver- den“ an die Beweggründe und Ziele hängen, nicht an die kehrsmittel nimmt einen wichtigen und stetig wachsen- Gesinnung, die aus der Tat spricht. Dies würde Fehl- den Teil am Gesamtverkehrsaufkommen in Deutschland urteile provozieren, wenn die Beachtung rassistischer, ein. Radfahren schont die Umwelt; denn das Fahrrad ist fremdenfeindlicher oder menschenverachtender Motive ein vollkommen emissionsfreies Verkehrsmittel. Rad- losgelöst von ihrer Bindung an die Tat in die Strafzumes- fahren entlastet das motorisierte Verkehrsaufkommen in sung Eingang finden könnte. Dies wäre aber Gesin- unseren belebten Innenstädten. Radfahren ist gesund und nungsjustiz, die aus rechtsstaatlichen Gründen auch bei hält fit. Und nicht zuletzt: Radfahren macht Spaß. rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverach- Sicherlich hat jeder von uns schon Fahrradtouren mit tende Motivlagen untragbar wäre. Freunden und Familie erlebt, an die er sich noch lange gerne zurückerinnert. Das Fahrrad als Verkehrsmittel hat Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich viele Vorteile für den Einzelnen, für die Gesellschaft und weiß, dass sie dies nicht wollen. Aber durch die Fehl- die Umwelt. Es gibt also viele gute Gründe, den Radver- lokation ihres Vorschlags provozieren sie falsche Urteile kehr weiter zu fördern. Deshalb hat die Bundesregierung und damit eine Beschädigung des Rechtsstaats. den Nationalen Radverkehrsplan 2020 vorgelegt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24079

(A) Mit diesem neuen Nationalen Radverkehrsplan setzt von weniger als fünf Kilometer absolviert. Hier liegt ein (C) die christlich-liberale Koalition wichtige Impulse an die besonderes Potenzial des Radverkehrs. Innerstädtisch zuständigen Länder und Kommunen. Die Aufgabe des kann der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrs- Bundes ist es, die Rahmenbedingungen für die weitere aufkommen noch weiter gesteigert werden. Dazu muss Entwicklung des Radverkehrs zu schaffen. Der Bund es gelingen, die Hürden zur Nutzung des Fahrrads auf fördert den Radverkehr in seiner Zuständigkeit als Ge- solchen Wegen zu senken – durch gute Fahrradinfra- setzgeber und in seiner Verantwortung für den Bau von struktur oder beispielsweise durch solche öffentlichen Radwegen an Bundesstraßen und Bundeswasserstraßen. Verleihsysteme. Es muss auch gelingen, das Fahrrad in Mit dem Nationalen Radverkehrsplan möchte der Bund ein Verkehrskonzept bestehend aus Radverkehr, ÖPNV Förderer, Impulsgeber, Moderator und Koordinator sein. und Fußgängerverkehr zu integrieren – als Alternative Es werden grundsätzliche Leitlinien für die örtliche Rad- zum motorisierten Individualverkehr. verkehrsförderung in den kommenden Jahren formuliert. Ziel ist es, den Radverkehr in Deutschland noch attrakti- Die Kommunen sind bei der Schaffung solcher Struk- ver und sicherer zu machen. Deutschland soll noch fahr- turen unterschiedlich weit fortgeschritten. Deshalb gibt radfreundlicher werden. der Nationale Radverkehrsplan den Kommunen die Möglichkeit, sich selbst hinsichtlich ihres Entwicklungs- Aber der Hauptadressat des Plans sind die Länder und stadiums bei der Radverkehrsförderung zu kategorisie- Kommunen. Sie sind es, die für die einzelnen Maßnah- ren. Das Konzept unterscheidet zwischen Einsteigern, men der Radverkehrsförderung vor Ort zuständig sind. Aufsteigern und Vorreitern. Einsteiger sind diejenigen So will es unsere föderale Ordnung. Und es dient auch Kommunen, die noch am Anfang der Radverkehrsförde- der Sache, dass diese Aufgabe bei den Ländern und rung stehen. Der Anteil des Radverkehrs liegt in diesen Kommunen angesiedelt ist. Denn es sind die Entschei- Kommunen in der Regel deutlich unter 10 Prozent. Die dungsträger vor Ort, die am besten beurteilen können, organisatorischen Strukturen der Radverkehrsförderung welche Maßnahmen in den Städten und Gemeinden Sinn sind entweder nicht vorhanden oder erst in den Anfän- ergeben. Die kommunalen Entscheidungsträger wissen gen – in kleinen Kommunen auch durch begrenzte per- am besten, wie weit ihre Kommune in der Radverkehrs- sonelle Ressourcen. Als Aufsteiger werden diejenigen förderung vorangeschritten ist und wie die nächsten Kommunen bezeichnet, die in der Radverkehrsförderung Schritte individuell aussehen können. Der Nationale fortgeschritten sind. Hier existieren ambitionierte Ziel- Radverkehrsplan ist deshalb kein verbindliches werte, Förderstrategien und umfangreiche Maßnahmen Programm für die Kommunen, in dem der Bund den der Radverkehrsförderung. Der Radverkehrsanteil liegt Ländern und Kommunen vorschreibt, wie gute Radver- zwischen 10 und 25 Prozent. Mindestens eine Basisinf- kehrsförderung auszusehen hat. Stattdessen sammelt der rastruktur für den Radverkehr ist vorhanden. Vorreiter (B) Nationale Radverkehrsplan Ideen einer guten Radver- sind schließlich jene Kommunen, die ein hohes Niveau (D) kehrsförderung. Er analysiert die aktuellen Entwicklun- der Radverkehrsförderung erreicht haben. Der Radver- gen des Radverkehrs und formuliert Empfehlungen an kehrsanteil liegt bei über 25 Prozent. Die Radverkehrs- die Kommunen. förderung stellt eine breit getragene gesellschaftliche und politische Selbstverständlichkeit dar. Die Vorreiter Wie sehen diese aktuellen Entwicklungen im deut- haben zudem eine besondere Vorbildfunktion für andere schen Radverkehr aus? Hierzu möchte ich einige Zahlen Kommunen und tragen ihre Erfahrungen und ihr Fach- nennen. Derzeit gibt es in Deutschland 70 Millionen wissen nach außen. Paradebeispiele für solche Vorreiter- Fahrräder. Die Branche verkauft jedes Jahr 4 Millionen kommunen sind Münster mit einem Radverkehrsanteil Räder und macht 5 Milliarden Euro Umsatz. Der Rad- von 38 Prozent, Oldenburg mit 43 Prozent oder Greifs- verkehr ist somit auch ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor. wald mit 44 Prozent. In etwas mehr als 80 Prozent aller deutschen Haushalte ist mindestens ein Fahrrad vorhanden. Jeder vierte Haus- Der Nationale Radverkehrsplan bündelt die Erfahrun- halt verfügt sogar über drei oder mehr Räder. Derzeit gen dieser unterschiedlich kategorisierten Städte. Eines wird jeder zehnte Weg in Deutschland mit dem Rad zu- der vorrangigen Ziele des Nationalen Radverkehrsplans rückgelegt – Tendenz steigend. Unser Ziel ist es, diesen ist es, dass die Gemeinden voneinander lernen und ihre Anteil in den kommenden Jahren auf 15 Prozent zu erhö- unterschiedlichen Erfahrungen austauschen. Maßnah- hen. men zur Förderung des Radverkehrs sind dabei auf viel- Eine Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, liegt fältige Weise möglich und können durch Bund, Länder beispielsweise im weiteren Ausbau von öffentlichen und Kommunen gemäß des jeweiligen Kompetenzberei- Fahrradverleihsystemen. In einigen Städten gibt es sol- ches durchgeführt werden. che Systeme bereits. Das Bundesverkehrsministerium Ich möchte einige wichtige Handlungsfelder der zu- hat hierzu einen Modellversuch „Öffentliche Fahrrad- künftigen Förderung des Radverkehrs erwähnen. verleihsysteme“ durchgeführt. Durch solche Systeme stehen den Bürgerinnen und Bürgern auch dann Fahrrä- Wesentliche Grundvoraussetzung des Radverkehrs der als Verkehrsmittel zur Verfügung, wenn sie kein sind durchgängige und vor allem alltagstaugliche Rad- eigenes Fahrrad besitzen. Solche Angebote sind für die verkehrsnetze. Diese müssen alle wesentlichen regiona- Bürgerinnen und Bürger attraktiv, weil das Fahrrad ge- len Punkte verbinden. Aufgabe des Bundes ist hierbei rade innerstädtisch bei kurzen Strecken oftmals das der Bau von Radwegen an Bundesstraßen und Bundes- schnellste Verkehrsmittel ist. Neun von zehn Fahrten mit wasserstraßen. Gerade an den Bundesstraßen mit ihrem dem Fahrrad werden für die Bewältigung einer Strecke schnellen Kfz-Verkehr sind gut ausgebaute Radwege 24080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) notwendig, um Radverkehr und motorisierten Verkehr darüber hinaus zielgerichtete Verkehrssicherheitskampa- (C) zu entflechten und so zur Verkehrssicherheit beizutra- gnen. Zu nennen ist hier die Kampagne „Runter vom gen. Der Ausbaustand von Radwegen an Bundesstraßen Gas“ des Bundesverkehrsministeriums und des Deut- ist bereits sehr hoch. Entlang der rund 40 000 Bundes- schen Verkehrssicherheitsrates. Darüber hinaus ist es der straßenkilometer finden sich rund 19 000 Kilometer Koalition ein besonderes Anliegen, die freiwillige Helm- Radwege. Dieser Ausbaustand ist auch vor dem Hinter- tragequote weiter zu erhöhen. Fahrradhelme können ver- grund bereits beachtlich, dass sich manche Bundesstra- hindern, dass es im Falle eines Unfalls zu schwersten ßen aufgrund ihrer topografischen Verhältnisse nicht Kopfverletzungen kommt. In Zusammenarbeit mit der zum Bau von Radwegen eignen. Der weitere Bau von Deutschen Verkehrswacht hat das Bundesverkehrsminis- Radwegen wird gleichwohl mit jährlich 60 Millionen terium hierzu die Kampagne „Ich trag’ Helm“ gestartet. Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert. Der Bund prüft zudem derzeit mit den Ländern, ob und inwieweit das Sanktionsniveau im Bereich des Radver- Für die Land- und Kreisstraßen sind die Länder und kehrs erhöht werden soll. Es geht dabei nicht nur um Kommunen verantwortlich. 25 000 Kilometer Radwege Verstöße von Radfahrern, sondern auch um solche von an Landstraßen und 16 000 Kilometer Radwege an Autofahrern, die sich negativ auf den Radverkehr aus- Kreisstraßen sind vorhanden. Hier sind Länder und wirken können, wie zum Beispiel unzulässiges Parken Kommunen aufgefordert, in ihren Ausbaubemühungen oder Halten auf Radwegen. ebenfalls weiter fortzufahren. Gute Erfahrungen haben einige Kommunen damit gemacht, die Förderung des Länder und Kommunen sind im Bereich der Ver- Radverkehrs als Teil einer integrierten Stadtentwick- kehrssicherheit dazu aufgerufen, Analysen der Unfall- lungspolitik zu begreifen: Durch Fördermaßnahmen schwerpunkte vor Ort durchzuführen und davon abgelei- können Stadtteile aufgewertet werden. Es lassen sich tet Strategien und Maßnahmenbündel zu entwickeln. Konzepte einer „Stadt der kurzen Wege“ entwickeln. Zu- Wichtig sind auf Länderebene Verkehrssicherheitsnetz- dem unterstützt der Radverkehr die Lärmreduktions- und werke, die die Kompetenzen von Verwaltungen, Polizei, Luftreinhaltepläne der Kommunen. Durch aktive und Verbänden, Schulen und Verkehrsunternehmen bündeln innovative Radverkehrspolitik steigern die Kommunen und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das somit direkt ihre Lebensqualität und Attraktivität. Thema erhöhen. Zudem sind die Länder und Kommunen dazu aufgerufen, beim Bau von Radinfrastruktur die Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld, um das Fahr- Empfehlungen des technischen Regelwerks für die rad in den Kommunen noch populärer zu machen, ist die grundlegenden Anforderungen und Dimensionierungen Schaffung sicherer und ausreichender Abstellmöglich- solcher Infrastruktur konsequent anzuwenden. Besonde- keiten an Bahnhöfen, an zentralen Anlaufpunkten in den rer Aufmerksamkeit der Kommunen bedarf zudem die (B) Städten und an touristischen Attraktionen. Erfahrungen Verkehrssicherheit von Kindern auf dem Weg zur (D) zeigen, dass ein Mangel an Abstellanlagen ein zentrales Schule. Tempo 30 vor Schulen trägt zu einem sichereren Hindernis für die Fahrradnutzung sein kann. Hier sind Schulweg bei. Durch die Polizei und die Verkehrswach- die zuständigen Kommunen aufgefordert, Abhilfe zu ten kann Mobilitäts- und Verkehrserziehung in den schaffen. Um den Kommunen hierbei unterstützend un- Schulen und Kindertageseinrichtungen sichergestellt ter die Arme zu greifen, wird der Bund gute Beispiele werden. Die Kommunen sollten dieses Engagement un- sammeln und veröffentlichen, innovative Lösungen an- bedingt weiter anerkennen und weiter ausbauen. stoßen und den Kontakt und Erfahrungsaustausch zwi- schen den Kommunen anregen. Wie ich beschrieben habe, sind jedoch nicht nur Kin- der besonders gefährdet, sondern gerade auch ältere Der Radverkehr wird zudem dann weiter wachsen, Menschen. Deshalb sollte ein zukünftiger Schwerpunkt wenn es uns gelingt, die Verkehrssicherheit von Radfah- auch auf die Mobilitätsbildung von Erwachsenen gelegt rern zu erhöhen. Auch wenn im Jahr 2011 die Zahl der werden. Die Kommunen sollten entsprechende Ange- getöteten und schwerverletzten Radfahrer gestiegen ist, bote, wie zum Beispiel das Radverkehrstraining für sind die Zahlen in der langfristigen Betrachtung rückläu- ältere Menschen oder für Menschen mit Migrationshin- fig. Hier bleibt aber noch viel zu tun. Neun von zehn tergrund, stärker in ihre Aktivitäten zur Radverkehrsför- Fahrradunfällen ereignen sich innerorts. Besonders ge- derung integrieren. Der Bund wird bei Bedarf ergänzend fährdet sind Kinder und ältere Bürgerinnen und Bürger und unterstützend die Lehrinhalte der Fahrschulausbil- über 65 Jahre. Bei diesen Gruppen sind die Unfallfolgen dung und der Fahrerlaubnisprüfung sowie in Abstim- auch meist besonders schwer. Die Hälfte der 2011 im mung mit den Ländern auch der Fahrlehrerausbildung Straßenverkehr getöteten Radfahrer war über 65 Jahre kontinuierlich überprüfen und anpassen. alt. Ein gesteigerter Bedarf nach mehr Verkehrssicher- heit entsteht auch aus der zunehmenden Verbreitung von Als letztes Beispiel möchte ich erwähnen, dass es für Elektrofahrrädern, die deutlich höhere Endgeschwindig- den weiteren Erfolg der Fahrradverkehrsförderung be- keiten erreichen als herkömmliche Fahrräder. Um die sonders wichtig ist, dass es uns gelingt, die verschiede- Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen, ist ein gemeinsa- nen Verkehrsmittel besser miteinander zu verknüpfen. mes Handeln von Bund, Ländern und Kommunen zwin- Auf lokaler Ebene sollten die Aufgabenträger des ÖPNV gend erforderlich. die Fahrradmitnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln flächendeckend ermöglichen und für sichere Abstell- Die Bundesregierung hat mit ihrem Verkehrssicher- möglichkeiten an Bahnhöfen und Haltestellen sorgen. heitsprogramm bereits einen wichtigen Baustein zur Zudem freut es mich außerordentlich, dass die Deutsche Stärkung der Verkehrssicherheit vorgelegt. Wichtig sind Bahn AG zugesichert hat, dass es möglich sein wird, in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24081

(A) den zukünftigen ICx-Schnellzügen ab 2016 Fahrräder zu Haushaltstitels für Bau und Erhaltung von Radwegen in (C) transportieren. Hierdurch werden weitere Hürden der der Baulast des Bundes wurden die Ausgaben für Rad- Fahrradnutzung, beispielsweise bei der Fahrt in den Ur- wege an Bundesstraßen verdoppelt. Seit 2003 konnten laub, abgebaut. so jährlich deutlich mehr Radwege gebaut werden. Es wurde ein weiterer Haushaltstitel zum „Ausbau von Der Nationale Radverkehrsplan ist ein überzeugendes Betriebswegen an Bundeswasserstraßen“ mit einem Programm für die Radverkehrsförderung auf allen politi- Anfangsfördervolumen von 10 Millionen Euro einge- schen Ebenen in den kommenden Jahren. Die christlich- richtet, um den Ausbau und den Erhalt von Freizeitrad- liberale Koalition misst dem Radverkehr einen besonde- wegen im Verlauf von Bundeswasserstraßen zu fördern. ren Stellenwert zu. Der Fahrradverkehr ist im Zentrum Weiterhin wurde das Fahrradportal www.nationalerrad- der Verkehrspolitik angekommen. verkehrsplan.de“ und der Bund-Länder-Arbeitskreis Noch einige Worte zu dem vorliegenden SPD-Antrag. „Fahrradverkehr“, BLAK, eingerichtet, um die Umset- Der Antrag der SPD wiederholt vieles, was bereits Inhalt zung und Weiterentwicklung des NRVP zu fördern. Zu- des Nationalen Radverkehrsplans ist. Einen darüber hi- dem wurden jährlich 2 Millionen für nichtinvestive nausgehenden Mehrwert des Antrags vermisse ich. Ei- Maßnahmen zur Umsetzung und Koordination des nige Aussagen des Antrags sind zudem schlicht falsch. NRVP zur Verfügung gestellt. Als Erfolg können wir zu- So wird behauptet, dass der Bundesverkehrsminister In- dem den Aufbau der Fahrradakademie und einer Fahr- vestitionen in die Aufklärung über die Wichtigkeit der radkommunalkonferenz für die bundesweite Vernetzung freiwilligen Helmnutzung unterlasse. Hier empfehle ich der Kommunen verbuchen. nochmals die Internetseite www.ich-trag-helm.de des Noch einmal: Fahrradfahren ist umweltfreundlich, ge- Bundesverkehrsministeriums und der Deutschen Ver- sund und hält mobil. Daher muss es unser gemeinsames kehrswacht. Es handelt sich genau um eine solche Auf- Ziel sein, den Radverkehrsanteil in Deutschland weiter klärungskampagne, wie sie von der SPD gefordert wird. deutlich zu steigern. Das Verkehrsmittel Fahrrad muss Offensichtlich haben sich die Kollegen der SPD nicht neben dem öffentlichen Verkehr und dem motorisierten ausreichend informiert, als sie ihren Antrag geschrieben Individualverkehr als gleichwertiges Verkehrsmittel ei- haben. Darüber hinaus verkennt der SPD-Antrag die ner nachhaltigen integrierten Verkehrspolitik verstanden vorrangige Kompetenz der Länder und der Kommunen werden und bei allen Konzepten für Verkehr, Stadtent- für die Radverkehrsförderung. An mehreren Stellen wicklung und Raumordnung berücksichtigt werden. werden umfangreiche finanzielle Förderprogramme des Bundes für den Radverkehr gefordert. Es scheint, als Nun haben wir den am 5. September 2012 von der wolle die SPD die Kompetenz der Radverkehrsförde- Bundesregierung beschlossenen neuen „Nationalen Rad- verkehrsplan 2020“ vorliegen. Auf 88 Seiten finden wir (B) rung beim Bund bündeln. (D) eine umfassende Bestandsaufnahme und eine Analyse Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion hingegen set- der aktuellen Situation. Es sind gute Ansätze enthalten, zen hier auf die Verantwortung der Entscheidungsträger und ich bedanke mich ausdrücklich bei den wenigen von Ländern und Kommunen. Das föderale Verantwor- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in diesem großen tungssystem hat den Radverkehr primär dort angesiedelt. Ministerium überhaupt noch für Radverkehr zuständig Vor Ort kann sachgerechter entschieden werden, welche sind. Dies ist auch schon einer meiner Kritikpunkte. Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs sinnvoll Wenn der Radverkehr wirklich ein gleichwertiges Ver- sind. Der Bund bekennt sich hingegen zu seiner Verant- kehrsmittel werden soll, muss sich dies auch beim Perso- wortung für den Bau von Radwegen an Bundesstraßen nal im Ministerium widerspiegeln. Aber leider ist das und Bundeswasserstraßen und zu seiner Rolle als Mode- Gegenteil der Fall. Wie aus der Antwort zu meiner Klei- rator und Koordinator. Hier leistet der Nationale Radver- nen Anfrage hervorgeht, sind nur 6 Mitarbeiterinnen und kehrsplan einen wichtigen Dienst. Der Nationale Radver- Mitarbeiter für Radverkehr zuständig und davon haben kehrsplan wird dazu beitragen, Deutschland in den 2 befristete Arbeitsverträge, die zum 31. Dezember 2012 kommenden Jahren noch fahrradfreundlicher zu gestalten. auslaufen. Wie die Bundesregierung dann mit nur noch vier Personen die notwendigen Aufgaben zur Förderung Ulrike Gottschalck (SPD): Fahrradfahren ist ge- des Radverkehrs erfüllen will, bleibt offen. sund, umweltfreundlich und kostengünstig. Der Ausbau Dieser Widerspruch zwischen Ankündigung und des Fahrradverkehrs erhöht die Lebensqualität, senkt Realität zieht sich leider wie ein roter – oder besser: den CO -Ausstoß und macht Städte und Gemeinden 2 schwarzer – Faden durch den NRVP. Die Wünsche und lebendiger. Wir haben also sehr gute Gründe, den Pläne des NRVP passen nicht zu der politischen Realität, Fahrradverkehr zu fördern; dies haben sozialdemokrati- und ich befürchte, das liegt an der Hausspitze. sche Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitiker früh erkannt. Die Radverkehrspolitik von Bundesverkehrsminister Ramsauer ist unglaubwürdig. Die Bundesregierung will Der erste Radverkehrsplan war ein Quantensprung, den Anteil des Fahrradverkehrs erhöhen, kürzt aber die weil sich sozialdemokratische Bundesverkehrsminister Mittel. 2010 waren noch 100 Millionen Euro im Haus- zu einer aktiven Rolle bei der Förderung des Fahrradver- halt, für 2013 sind nur noch 60 Millionen Euro vorgese- kehrs bekannt haben. Es wurden Umsetzungsstrategien hen. zur Radverkehrsförderung initiiert, ein fahrradfreundli- ches Klima angestoßen und wichtige Maßnahmen auf Nur wenige Empfehlungen der vom Minister eigens den Weg gebracht. Mit der Einrichtung eines eigenen eingesetzten Expertenkommission zur Fortentwicklung 24082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) des NRVP 2020 wurden aufgenommen, und, wenn über- Niemand wird bestreiten, dass Fahrradfahren eine ge- (C) haupt, sind sie nur sehr vage formuliert. sunde und umweltfreundliche Alternative zum Auto dar- stellt. Doch Forderungen, die das Thema Fahrrad auf den Anstatt sich als Impulsgeber für Fahrradverkehr zu Olymp aller Verkehrsträger setzen, fahren weit über die profilieren, verweist die Bundesregierung immer wieder Ziellinie hinaus und sind den anderen Verkehrsträgern auf die Zuständigkeit der Länder und Kommunen und gegenüber maßlos übertrieben hoch, zumal ja im Antrag spielt Schwarzer Peter. der Sozialdemokraten von der Gleichwertigkeit der Ver- Populistisch bedient der Minister mit öffentlichen Äu- kehrsträger die Rede ist. Insofern kann ja auch nicht der ßerungen über sogenannte Kampfradler negative Vorur- Radverkehr Sonderregelungen, wohl aber die gleiche teile. Er verleugnet, dass das Auto immer noch der Aufmerksamkeit wie andere Verkehrsträger erwarten. Hauptverursacher von Unfällen im Straßenverkehr ist. Damit stelle ich erst einmal grundsätzlich Widersprüche Der Bundesverkehrsminister sollte sich lieber bei den im Antrag fest. Länderministern dafür einsetzen, dass genug Polizei- Völlig zu viel in die Pedale des Antrages getreten beamte zur Überwachung bestehender Gesetze für alle wird zum Beispiel in folgendem Punkt: Forderung eines Verkehrsteilnehmer zur Verfügung stehen. Verkehrsrow- eigenen Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundes- dys müssen bestraft werden, keine Frage – aber die fin- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit der det man leider bei allen Verkehrsteilnehmern. Funktion des Fahrradbeauftragten der Bundesregierung. Ein Manko ist auch, dass der Autoverkehr weitest- Dann können wir auch gleich aktuell einen Parlamentari- gehend ausgespart wird; damit umschifft Minister schen Staatssekretär für den Wiederaufbau des Schlosses Ramsauer geschickt die Diskussion um den Platz im oder für Wassersportler einsetzen. Straßenraum. Mehr Fahrradfahrer brauchen auch mehr Platz, um sicher radeln zu können. Anderer Kritikpunkt: Es soll eine neue Promille- grenze für Radfahrerinnen und Radfahrer eingeführt Im NRVP fehlen konkrete ambitionierte Ziele und die werden. Andererseits – Zitat – „muss die Bundesregie- verbindliche Finanzierung einer engagierten Fahrrad- rung auf die Länder einwirken, dass die Kontrolldichte politik des Bundes. Wir Sozialdemokraten fordern daher von Fahrradfahrern durch die Landespolizeien erhöht mit unserem aktuell vorliegenden Antrag die Bundes- wird“. regierung auf, das Fahrradfahren in Deutschland weiter ernsthaft zu fördern und starke Impulse zu setzen. Bezieht sich das auf mehr Promillekontrollen, liebe Antragsteller, oder etwa auf die Raser, die die Verkehrs- Wir fordern unter anderem die Finanzausstattung für sicherheit im Radverkehr nun wirklich gefährden, oder den Bau von Radwegen an Bundesfernstraßen in einer warum sollen Radfahrer häufiger kontrolliert werden? (B) Höhe von 100 Millionen Euro in der mittelfristigen Fi- Das hätte ich gern erläutert bekommen. Abgesehen da- (D) nanzplanung festzuschreiben. Dies haben wir auch mit von freuen sich sicherlich die Landespolizeien über den einem Haushaltsantrag untermauert. Aufwuchs an Arbeit. Eine Steigerung des Radverkehrs in Deutschland Nächster Kritikpunkt: Der Bau von Radwegen soll als durchschnittlich auf 20 Prozent am Modal Split der Ver- Teil von städtebaulichen Konzepten zur Umgestaltung kehrsträger bis 2020. des öffentlichen Raumes im Rahmen von Städtebauför- Die Beauftragung eines Parlamentarischen Staats- derung gefördert werden. Interessanter Versuch, über sekretärs beim Bundesminister für Verkehr, Bau und den Radverkehr das Thema Städtebauförderung mit zu- Stadtentwicklung mit der Funktion des Fahrradbeauf- sätzlichen Hunderten von Millionen Euro zu beglücken! tragten und eine personelle Aufwertung des Ressorts. Andererseits ist im Antrag die Rede davon, dass die Eine verlässliche Förderung mit Kontinuität. Förderung des Radverkehrs im ländlichen Raum als ei- genständiges Themenfeld im Nationalen Radverkehrs- Ein eigenständiges Themenfeld „Radverkehr im länd- plan 2020 verankert und mit eigenen Maßnahmen unter- lichen Raum“. legt werden soll. Wir haben also die Forderung, den Wir haben also gute Konzepte, damit das Fahrrad Radverkehr bei der Städtebauförderung zu fördern, und wichtiger Bestandteil einer integrierten Verkehrs- und das Gleiche soll im ländlichen Raum erfolgen, also auf Mobilitätspolitik wird. Grundvoraussetzung ist jedoch, dem Lande und in der Stadt. Sicher, es blieben nur noch dass man es politisch will. Wir Sozialdemokratinnen und die Luft und das Wasser, aber die Fahrräder mit denen Sozialdemokraten stehen bereit, die vagen Ankündigun- man über das Wasser fahren und in der Luft fliegen gen im NRVP in konkrete Politik umzusetzen. kann, wird es wohl erst in der Zukunft geben. Auszu- schließen ist das natürlich nicht, wenn die SPD weiterhin solche Anträge stellt. Torsten Staffeldt (FDP): Vorab: Als täglicher Fahr- radnutzer habe ich ein großes Eigeninteresse daran, den Nächster Punkt: An anderer Stelle im Antrag heißt es, Radverkehr zu fördern. Doch der vorliegende Antrag der dass das Radfahren „in allen Bevölkerungsschichten Sozialdemokraten ist, wie leider häufig, ein klassischer eine breite Zustimmung und Akzeptanz“ verzeichnet. Es Schaufensterantrag. Er bedient die Wünsche der Klien- ist von einem positiven Imagewandel die Rede. Anderer- tel, zeigt, dass die Sozialdemokraten vermeintlich han- seits wird der Regierung „populistische Pflege von Vor- deln, ist aber letztlich fernab der Realität, insbesondere urteilen“ vorgeworfen. Nach dieser Theorie bremst also was den Forderungsteil betrifft. die Regierungskoalition das Fahrrad populistisch so sehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24083

(A) aus, dass das Radeln immer beliebter wird? Meine Da- Wir müssen das positive Image des Radfahrens för- (C) men und Herren, hier wird in Bezug auf das Fahrrad dern. Dazu passt es überhaupt nicht, wenn der Bundes- vonseiten der SPD gegen die Regierung getreten, was verkehrsminister in seinen Äußerungen über aggressive das Zeug hält. Radfahrer in seiner Rhetorik nicht minder aggressiv da- herkommt. Sie sollten an dieser Stelle einen Gang runterschalten, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Diese an die Wir müssen den Städten und Gemeinden Anregungen Regierung gerichteten Unterstellungen haben nichts in geben, wie der Fahrradverkehr nachhaltig in das inner- einem ernst gemeinten Antrag zu suchen. Allein schon städtische Verkehrssystem eingebaut werden kann. Das deshalb lehnen wir den Antrag ab. klappt nicht mit Projekten, die nach dem Projektende wieder verschwinden. Es müssen gemeinsam mit den Fachverbänden Handlungsempfehlungen und Rezepte Herbert Behrens (DIE LINKE): Kleine Kinder da- entwickelt werden, die in den Kommunen direkt umge- bei zu beobachten, mit welcher Lust und welchem Ent- setzt werden können. deckergeist sie auf ihren kleinen Fahrrädern unterwegs sind, macht uns großen Spaß. Kinder erleben die neu ge- Die höhere Bedeutung von Fahrradverkehr muss auch wonnene Freiheit durch das Fahrrad ganz unmittelbar. im Verkehrsministerium erkennbar sein. Wir wissen um Stück um Stück erweitern sie ihren Erfahrungshorizont das Schattendasein der Radverkehrspolitik im Ministe- und erobern sich ihre Welt. Alles spricht dafür, diese rium. Impulsgeber und Ratgeber kann man aber nur sein, Lust am Fahrradfahren zu erhalten und zu fördern. Das wenn dafür Personalkapazitäten vorhanden sind. können wir tun, indem wir das Fahrradfahren so sicher Noch eine weitere Anregung der Fachverbände hat und so angenehm wie möglich machen. Das muss auch die SPD in ihrem Antrag aufgenommen, den die Linke das Ziel eines Nationalen Radverkehrsplans sein. ausdrücklich unterstützt. Der Verkehrsminister geht Der Radverkehrsplan 2020 der Bundesregierung wird halbherzig an die Frage heran, wo wir eigentlich nach dieser Anforderung nicht in vollem Umfang gerecht. Er acht Jahren Radverkehrsplan stehen wollen. 15 Prozent liefert uns zwar eine gute Beschreibung der Situation der aller zurückgelegten Wege sollen mit dem Fahrrad ge- Radfahrerinnen und Radfahrer auf den Straßen. Er liefert macht werden. Das ist keine einfach nur gegriffene Zahl. uns auch eine ganze Reihe von Handlungserfordernis- Erhebungen und Prognosen mehrerer Instituten haben sen. Wenn wir uns aber die Lösungsstrategien an- diese Zahl ausgeworfen. schauen, dann wird es mit einem Mal ganz übersichtlich. Berechnungen von Potenzialen, Szenariobeobachtun- Da bleibt es bei Appellen und Vorschlägen. Formulie- gen und Variationsrechnungen, wie sie im Radverkehrs- rungen wie: „Der Bund engagiert sich weiterhin …“, (B) plan genannt werden, sind jedoch keine politischen (D) „Die Bundesregierung unterstützt das Ziel …“, sind Ab- Ziele. sichtserklärungen, nicht mehr. Die Linke sagt, ein Radverkehrsanteil von 20 Prozent Der Antrag der SPD-Fraktion kritisiert das zu Recht an den zurückgelegten Wegen ist erreichbar, wenn man und fordert eine Reihe von Verbesserungen, damit das neben dem politischen Willen auch die Unterstützung Fahrradfahren in Deutschland attraktiver und sicherer für die derjenigen sicherstellt, die mitmachen sollen, das wird und mehr Leute mit dem Fahrrad fahren als heute. zu erreichen. Das sind die Fachverbände, das Ministe- Sie übernehmen dabei Forderungen des Allgemeinen rium, die Länder und Kommunen. Deutschen Fahrrad-Clubs, ADFC, und des Ver- kehrsclubs Deutschlands, VCD. Die Linke unterstützt Der Radverkehrsplan bietet ein ordentliches Funda- diese viel ehrgeizigeren Ziele der Clubs und wird dem ment für eine Überarbeitung. Die Arbeit der vielen enga- Antrag der SPD zustimmen. gierten Fahrradfreunde, die an diesem Plan der Bundes- regierung beteiligt waren, ist keinesfalls umsonst. Wir Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der wissen, einige von ihnen hätten gerne mehr konkrete SPD-Fraktion, taugt der Hinweis auf den sozialdemokra- Ziele dringehabt. Jetzt besteht die Chance, durch eine tischen Verkehrsminister, der mit dem Radverkehrsplan Überarbeitung den Plan besser zu machen. Die Lust am 2012 eine breite Akzeptanz und Zustimmung des Fahrra- Fahrradfahren, die wir bei Kindern sehen, werden sie des initiiert habe, nicht wirklich. Ich glaube, das Fahr- sich so als Heranwachsende erhalten können. Und auch radfahren hat eine erfolgreiche Geschichte, die schon als Erwachsene werden wir das Fahrrad als selbstver- vor 2002 begonnen hat. ständliches, gleichberechtigtes und attraktives Verkehrs- mittel akzeptieren und nutzen. Das ist jetzt Schnee von gestern. Wir können ja dazu- lernen und künftig eine bessere Verkehrspolitik und Fahrradverkehrspolitik machen. Was gehört unserer Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Meinung nach dazu? beraten heute in erster Lesung den neuen Nationalen Radverkehrsplan 2020. Bundesverkehrsminister Dr. Peter Das Fahrrad muss als selbstverständliches Verkehrs- Ramsauer hat am 5. September den Kabinettsbeschluss mittel wahrgenommen werden. Dafür müssen die spe- zum Nationalen Radverkehrsplan 2020 medienwirksam ziellen Verkehrswege für Radfahrer mindestens in einem in die Kameras gehalten und sich plötzlich und unerwar- genauso guten Zustand sein wie die für die Autofahrer. tet als Förderer des Radverkehrs inszeniert. Sehr glaub- Auf den Straßen brauchen die Radfahrer eigene Fahrspu- würdig ist dies allerdings nicht, denn zuvor hat er sich in ren. Für Autofahrer ist das schließlich völlig normal. seiner Amtszeit vor allem mit stigmatisierenden Äuße- 24084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012

(A) rungen über sogenannte Kampfradler hervorgetan und Besondere Bedeutung muss dem Thema Verkehrssi- (C) den Radverkehrsetat fast halbiert. Standen im Jahr 2010 cherheit beigemessen werden. Diese ist in hohem Maße noch 100 Millionen Euro für Radwegebau an Bundes- abhängig vom Zustand der Infrastruktur und dem örtli- straßen und Wasserstraßen zur Verfügung, sind es im chen Geschwindigkeitsniveau. Rund 75 Prozent der Zu- Etatentwurf 2013 nur noch 60 Millionen Euro. Dazu sammenstöße zwischen Radfahrenden und Kraftfahrzeu- passt auch, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung als gen werden durch Autofahrerinnen und Autofahrer erste Amtshandlung das Radverkehrsreferat im Bundes- verursacht. Die überwiegend Geschädigten sind Fahr- verkehrsministerium aufgelöst und mit reduziertem Per- radfahrerinnen und Fahrradfahrer. Betroffen sind bei sonal einer anderen Abteilung im Ministerium zugeord- steigenden Unfallzahlen besonders ältere Menschen über net hat. 65 Jahre. Trotzdem unterlässt es die Bundesregierung, die Restriktionen in der StVO abzuschaffen, die verhin- Schauen wir also genauer hin, was uns die Bundesre- dern, dass Kommunen Tempo 30 als Regelgeschwindig- gierung als nationale Radverkehrsstrategie für die nächs- keit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit einführen kön- ten Jahre präsentiert, um dafür zu sorgen, dass sich bis nen. Stattdessen lädt der Nationale Radverkehrplan 2020 zum Jahr 2020 wesentlich mehr Menschen gesund und die Verantwortung für die Sicherheit vor allem wieder umweltfreundlich mit dem Fahrrad fortbewegen können. bei den Radfahrenden ab, die fluoreszierende Radhelme Schließlich hatte Verkehrsminister Ramsauer eigens tragen und bei Regelverstößen mit höheren Bußgeldern dazu ein Expertengremium zurate gezogen und mit Ver- bestraft werden sollen. tretern von Fachverbänden, Ländern und Kommunen umfangreiche Abstimmungsprozesse durchgeführt. Was Wir fordern die Bundesregierung daher auf, den vom wir bekommen haben, ist ein fachlich fundierter und na- Kabinett beschlossenen Nationalen Radverkehrsplan hezu umfassender Sachstandsbericht zur Situation des 2020 zu überarbeiten. Radverkehrs in Deutschland, der zahlreiche Maßnahmen und kreative Ansätze zur Radverkehrsförderung auflistet Erstens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss und den Trend zu einer neuen Fahrradkultur sehr gut be- verbindliche Lang- und Mittelfristziele festlegen und schreibt. Einen ambitionierten Aktionsplan mit einer konkret benennen, welche Maßnahmen dazu bis wann eindeutigen Strategie, wie sich die Bundesregierung von welcher Akteursebene – Bund, Länder, Gemeinden, Deutschland zu einem fahrradfreundlichen Land entwi- Verbände – ergriffen werden sollen. Der Erfolg dieser ckeln will, legt die Bundesregierung allerdings nicht vor, Maßnahmen muss evaluiert werden. zumal sie grundlegende Empfehlungen der Experten nur Zweitens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss halbherzig umsetzt oder ignoriert. So fehlen im Nationa- als Ziel formulieren, dass der Radverkehrsanteil an allen len Radverkehrsplan 2020 klare Ziele und Fristen, bis Wegen in Deutschland bis 2020 auf mindestens 20 Pro- (B) wann die Bundesregierung welche Maßnahmen zur Rad- (D) zent ansteigen soll. verkehrsförderung umsetzen will, insbesondere dazu, wie der Radverkehrsanteil bis zum Jahr 2020 deutlich Drittens. Die Bundeshaushaltsmittel für den Bau von gesteigert werden soll. Radwegen entlang von Bundesstraßen müssen auf min- Der Nationale Radverkehrsplan 2020 enthält keinerlei destens das Niveau 100 Millionen Euro pro Jahr erhöht Aussagen zur Finanzierung der vorgeschlagenen Maß- und verstetigt werden. nahmen zur Radverkehrsförderung. Die Bundesregie- Viertens. Die Bundesregierung muss sich eindeutig rung überlässt die Finanzierung der meisten Maßnahmen zur Schaffung eines flächendeckenden integrierten Rad- den Ländern und den klammen Kommunen, während verkehrsnetzes in Deutschland bekennen. Der Bund ist der Bund nicht mal ausreichend Mittel für die Instand- aufgefordert, die Länder und Gemeinden beim Ausbau haltung und den Ausbau von Radwegen an Bundesstra- der Radverkehrsinfrastruktur durch die kontinuierliche ßen und Bundeswasserstraßen zur Verfügung stellt. Wie Finanzierung von innovativen Modellprojekten, soge- wenig ambitioniert die für möglich gehaltene Steigerung nannte Leuchtturmprojekte, zu unterstützen. Darunter des Radverkehrsanteil auf 15 Prozent bis zum Jahr 2020 verstehen wir beispielsweise Radschnellwege, Fahr- ist, zeigen aktuelle Zahlen des Deutschen Mobilitätspa- radabstellanlagen und Ortsdurchfahrten sowie bundes- nels von 2011, das im Auftrag des Bundesministeriums weite Imagekampagnen. für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung jährlich erhoben wird. Danach lag der Radverkehrsanteil am Verkehrs- Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine(n) Radver- aufkommen im Jahr 2011 bereits bei 14,7 Prozent. Das kehrsbeauftragte(n) auf Staatssekretärsebene benennen. Bundesverkehrsministerium erklärt also zum möglichen Zur Koordinierung der bundesweiten Aktivitäten zur Anteil in 2020, was im Jahr der Erarbeitung des Nationa- Stärkung des Radverkehrs sollte im Bundesministerium len Radverkehrsplans schon längst Realität in Deutsch- für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ein eigenständi- land ist. Nicht jeder zehnte, sondern jeder siebte Weg ges Radverkehrsreferat eingerichtet und angemessen wird aktuell bereits mit dem Rad zurückgelegt. personell ausgestattet werden.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980